Rosa Luxemburg Stiftung Rosa Luxembu M aul r wu r g I associazione de associazione nitiative Br fsa PA r emen (H emen P beit beit ll E e ta R r lp sg.) III S e/ associazione delle talpe / Rosa Luxemburg Initiative Bremen (Hrsg.):

Maulwurfsarbeit III IMPRESSUM PAPERS 8/2015 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und erscheint unregelmäßig. V.i.s.d.P.: Martin Beck Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2194-0916 Redaktionsschluss: Juli 2015 Herstellung: Mediaservice GmbH Druck und Kommunikation Gedruckt auf Circleofset Premium White, 100% Recycling

2 INHALTSVERZEICHNIS

MORITZ ZEILER / TOBIAS SCHWEIGER: Vorwort ...... 4 FRANK APUNKT SCHNEIDER: Deutschpop halt´s Maul! Für eine Ästhetik der Verkrampfung ...... 6 CLAUDIA BARTH: Esoterische Selbsthilfe zwischen Selbstoptimierung und Selbstaufgabe ...... 12 PETER BIERL: Der braune Geist der Waldorfpädagogik - Vom rassistischen und elitären Charakter der Anthroposophie ...... 17 PETER BIERL: Regionalgeld und Sozialdarwinismus - Oder: Die Attraktivität der einfachen falschen Lösungen ...... 28 INGO ELBE: Der Zweck des Politischen - Carl Schmitts faschistischer Begrif der ernsthaften Existenz ...... 39 VOLKER WEISS: Deutsche Untergänge ...... 52 ANDREAS PEHAM: Die erste Lüge. Eine psychoanalytischorientierte Kritik des Antisemitismus ...... 61 RAINER TRAMPERT: Die Herren der Zinsen - Antisemitismus in Deutschland und anderen Staaten der Europäischen Union ...... 74 THOMAS EBERMANN: Geschichte der antinationalen Linken ...... 78 PETER BIERL: Making Anarchism a Treat again? Eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen anarchistischen Debatten ...... 87 INGO ELBE: Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen - Lesarten der Marxschen Teorie ...... 97 BARBARA UMRATH: Jenseits von Vereinnahmung und eindimensionalem Feminismus. Perspektiven feministischer Gesellschaftskritik heute ...... 111 BARBARA UMRATH: Zur Konvergenz und Diskrepanz zwischen feministischen Perspektiven und Kritischer Teorie. Eine Analyse der Entwicklung bürgerlicher Familien- und Geschlechterverhältnisse ...... 119 ASSOCIAZIONE DELLE TALPE: Veranstaltungschronik ...... 131

3 Moritz Zeiler / Tobias Schweiger Vorwort

In unserer mittlerweile zehnjährigen Gruppengeschichte hatten zustands vor. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Ansicht, dass wir viele interessante Referentinnen und Referenten zu Gast. Es das Verhältnis von Carl Schmitt und dem Nationalsozialismus ist uns eine Freude, wieder einige unserer Diskussionsveranstal- höchstens opportunistischen Charakter hatte, zeigt der Autor tungen mit dieser Textsammlung dokumentieren zu können. den genuin faschistischen Gehalt von Schmitts Staats– und Po- 2010 haben wir die Textsammlung Maulwurfsarbeit. Aufklärung litikverständnis auf. Eine gründliche Lektüre lässt eigentlich und Debatte, Kritik und Subversion veröfentlicht. Im Vorwort kaum Interpretationsspielraum ofen, so dass eine linke Schmitt- haben wir damals versucht, einige Gedanken zu unserer Veran- Rezeption wie von Chantal Moufe und Ernesto Laclau zu kri- staltungs– und Publikationspraxis zu formulieren1. Inzwischen tisieren ist. sind wir dabei, die dritte Nummer der Maulwurfsarbeit zu ver- In seinem Beitrag Deutsche Untergänge widmet sich Volker Weiß öfentlichen. An unseren grundlegenden Motiven hat sich da- mit Edgar Julius Jung und Oswald Spengler zwei weiteren Ver- bei wenig geändert, daher belassen wir bei einigen einleitenden tretern der konservativen Revolution und rechten Kritikern des Worten und lassen anschließend unsere Autorinnen und Auto- Republikanismus. Ihre Werke Die Herrschaft der Minderwertigen ren selbst zu Wort kommen. und Der Untergang des Abendlandes dienen neben den Werken Die ersten Beiträge widmen sich der Kritik verschiedener anti- von Friedrich Sieburg, José Ortega y Gasset und Arnold Gehlen emanzipatorischer Denkformen und Praxen. als Beispiele für elitäre Demokratiefeindlichkeit. Tilo Sarrazin Frank Apunkt Schneider fordert: Deutschpop, halts Maul! und ist mit seinem Buch Deutschland schaft sich ab nicht nur in die- hält ein Plädoyer für eine Ästhetik der Verkrampfung, denn sem Punkt weniger innovativ als behauptet, sondern lediglich ein vom entfremdenden Dualismus Pop und deutsch ist heute nichts zeitgenössischer “Untergangster des Abendlandes” (Karl Kraus). mehr übrig geblieben. Aus der Reeducation ist die Reaktion mit Andreas Peham gibt in seinem Aufsatz Die erste Lüge einen ein- neuem Selbstbewusstsein geworden. führenden Überblick zu psychoanalytischen Deutungen von Ju- Mit anderen Formen der regressiven Seelsorge befasst sich Claudia denfeindschaft. Dabei stellt er unter anderem die Arbeiten von Barth in ihrem Beitrag Esoterische Selbsthilfe zwischen Selbstopti- Sigmund Freud, Ernst Simmel und Teodor W. Adorno vor und mierung und Selbstaufgabe. Sie zeigt darin, wie Subjekte an den diskutiert deren Beiträge zu einer kritischen Teorie des Antise- aktuellen Anforderungen scheitern und Zufucht in der Esoterik mitismus. fnden. Dabei kann für die Autorin der kritische Gestus nicht da- Über dessen aktuelle Formen und Variationen in Deutschland rüber hinwegtäuschen, dass Esoterik keineswegs links, sondern und Europa informiert Rainer Trampert mit seinem Text Die allzuoft mit reaktionären Menschenbildern verbunden ist. Herren der Zinsen. Seine Ausführungen sind ein Ausschnitt sei- Peter Bierl illustriert wie esoterische Vorstellungen von Rudolph ner Tesen aus seinem aktuell erschienenen Buch Europa zwi- Steiner in der Anthroposophie zu einem pädagogischen Konzept schen Weltmacht und Zerfall. ausbuchstabiert und in den Waldorfschulen umgesetzt wurden. Die folgenden Beiträge von Tomas Ebermann und Peter Bierl Entgegen dem alternativen Chic, den diese Schulen vor allem beschäftigen sich mit Geschichte und Debatte zweier linker Strö- in grünen und liberalen Milieus genießen, fußt die Pädagogik mungen. Ebermann skizziert die Geschichte der antinationalen von Steiner in weiten Teilen auf antisemitischen und rassisti- Linken in Deutschland seit der Wiedervereinigung. Im Zentrum schen Ressentiments, obskuren Vorstellungen von Erzengeln seiner Ausführungen stehen die Erfahrung von Niederlagen und und Wurzelrassen. daraus resultierender Selbstrefexion sowie Brüche mit bisherigen Mit Silvio Gesell portraitiert Peter Bierl eine weitere dubiose linken Selbstverständlichkeiten. Figur, welcher trotz seiner sozialdarwinistischen Ansichten in Peter Bierl gibt in seinem Beitrag Making Anarchism a Treat manchen Teilen der Linken weiterhin großes Ansehen genießt. again? einen Überblick über aktuelle anarchistische Debatten. Seine zinskritischen Konzepte von Schwundgeld und Tauschrin- Unter anderem werden die Tesen von David Graeber, Cri- gen sind in der Globalisierungskritik und Alternativökonomie methInc und dem Unsichtbaren Komitee kritisch diskutiert. Bei weltweit beliebt. Dem Autor zufolge taugen Gesells Konzepte aller Sympathie für Herrschaftskritik, Basisdemokratie und di- aufgrund seines Sozialdarwinismus, Antifeminismus und seines rekte Aktion vermisst der Autor jedoch profunde Ökonomiekri- problematischen Ökonomieverständnis nicht für eine emazipa- tik und eine Abgrenzung zu reaktionären Tendenzen. torische Kritik der Verhältnisse. Der folgende Beitrag bietet eine Einführung in verschiedene Lag der Fokus des letzten Beitrags auf ökonomischen Aspekten, Lesarten der Marxschen Teorie. In Zwischen Marx, Marxismus richtet Ingo Elbe den Blick auf die politische Sphäre und stellt und Marxismen stellt Ingo Elbe zentrale Begrife und Tesen von mit Carl Schmitt einen vielrezipierten Denker des Ausnahme- traditionellem Marxismus, Westlichem Marxismus und Neuer Marx Lektüre vor. Die Textsammlung endet mit zwei Artikeln von Barbara Um- 1 Jan Sparsam/Moritz Zeiler: Maulwurfsarbeit. Aufklärung und De- rath. In ihrem ersten Beitrag Jenseits von Vereinnahmung und batte, Kritik und Subversion, in: associazione delle talpe/Rosa Luxem- eindimensionalem Feminismus stellt sie verschiedene Teoreti- burg Initiative Bremen (Hrsg.): Maulwurfsarbeit. Aufklärung und De- kerinnen vor, die sich in weiterem Sinne an Kritischer Teorie batte, Kritik und Subversion, Berlin 2010.

4 orientieren. Sie kontrastiert Nancy Fraser und ihren Bezug zur späten Kritischen Teorie à la Habermas mit Arbeiten von Nina Power und Andrea Trumann, die stärker von früher Kritischer Teorie beeinfusst sind. In ihrem zweiten Text Zur Konvergenz und Diskrepanz zwischen feministischen Perspektiven und der Kri- tischen Teorie analysiert sie die Arbeiten des Instituts für So- zialforschung zu Familie und Geschlechterverhältnissen. Die Autorin plädiert für eine Relektüre dieser frühen Studien, deren Überlegungen Anknüpfungsmöglichkeiten für einen kritischen Femininismus bieten. Die Veranstaltungschronik von associazione delle talpe von 2007- 2015 bildet den Abschluss der Textsammlung. Da einige Bei- träge bereits an anderer Stelle erschienen sind, gibt es keine ein- heitliche Schreibweise in puncto Geschlechterverhältnisse sowie keine durchgängige Zitierweise. Wir danken allen Autorinnen und Autoren recht herzlich für ihre Beiträge. Ausserdem möchten wir uns für die freundliche Er- laubnis zum Nachdruck bereits erschienener Texte bei folgenden Initiativen, Verlagen und Zeitschriften bedanken: Ventil Verlag, Redaktion testcard, evangelische Zentralstelle für Weltanschauungs- fragen, Unrast Verlag, Schönigh Verlag, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Schmetterling Verlag, jungle world, Rote Ruhr Uni, Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Zu guter Letzt sei der Rosa-Luxemburg-Stiftung – im speziellen Martin Beck – und der Rosa-Luxemburg-Initiative Bremen für die angenehme und unkomplizierte Kooperation und die Reali- sierung der Veröfentlichung gedankt.

Tobias Schweiger und Moritz Zeiler sind Mitglieder der Gruppe associazione delle talpe. Moritz Zeiler ist zudem Mitarbeiter des Bremer Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

5 Frank Apunkt Schneider Deutschpop halt´s Maul! Für eine Ästhetik der Verkrampfung

Popkultur ist in der Lage, Orte herzustellen, in denen das Subjekt die hinter verschlossener Türe genossen oder als Geste, Stil, Frisur, verschwinden und in eine andere Welt eintreten kann, als die, die später als Walkman, durch die Stadt getragen werden konnte. Pop- ihm per Herkunft und „Identität“ verordnet wurde. Diese Orte songs oder Hollywoodflme waren undeutsche Enklaven in der können auch Nichtorte sein; Orte, die es nicht gibt, die implodiert laufenden Kollektivpsychose, ein Volksverrat im Snack-Format, sind oder die sich aus der kulturellen Geographie ihrer Umgebung eine willkommene Entfremdungsmöglichkeit von den Eltern. herausgesprengt haben. Imaginäre Räume, isolierte Nischen oder Die spielten mit und ließen sich ordnungsgemäß „befremden“. Fluchtlinien, die von den örtlichen Realitäten wegführen. Ein sol- In Begrifen wie „Negermusik“ platzte ihre demokratisch gentri- cher Nichtort war Popkultur im Nachkriegsdeutschland, wichtig fzierte Oberfäche auf, und das mühsam gebändigte „Deutsche“ vor allem, weil Jugendliche in ihr „dem Deutschen“ entkommen quoll hervor. konnten, jenem klebrigen Generationenvertrag mit Stamm, Kul- Solche „Generationskonfikte“ waren zwar auch anderswo zu ha- tur und Volk. ben, aber nirgends war ihr halbbewusst exekutierter Antifaschis- Nach dem Krieg ist aber bekanntlich immer vor dem Krieg. Als mus so nötig wie hier, vor allem weil Popkultur den Bruch sinnlich die alte BRD nach 1989 abgeschaft wurde – und mit ihr der deut- aufud. Das Nichtdeutsche sah einfach besser aus, es fühlte sich sche Nachkrieg – veränderte sich auch die Stellung der Popkultur besser an, es stand mit der sich aufbäumenden Sexualität in Ver- in Deutschland und vor allem: zu Deutschland. Im neuen Vor- bindung, war Energie, streifte Verbotenes und stand im Einklang kriegsdeutschland wurde Pop endlich deutsch: Im „Deutschpop“ mit der Gegenwart. von Wir sind Helden, Tomte oder Sportfreunde Stiller hat es sich Es hörte sich auch besser an. Das nur in Bruchstücken verstande- die Popidentität verpasst, die es verdient. Um zu einer Popidenti- ne, geheimnisvolle Englisch der Poptexte wurde zum Sound der tät zu kommen, die mit sich selbst identisch und im Reinen ist, „Entdeutschung“3. Seine konkreten Botschaften mussten nicht musste allerdings alles, was an deutschem Pop einmal sperrig war, verstanden werden, um die abstrakte zu kapieren: Dies war eine überschrieben werden. Wo „Pop“ einmal die Nichtidentität junger „Ausweichsprache“4, ein Zufuchtsort vor repressiver Heimat. Deutscher unterstützte und symbolisierte, hat sich heute deutscher Die weiche Sprache der BesatzerInnen drang an so gut wie allen Gemütspop breit gemacht, der im Prinzip nichts will, außer eben: relevanten Nachkriegsfronten (Wirtschaft, Politik, Kino, Wer- kein Problem mit seiner Identität haben. Daran, was dafür aufge- bung usw.) in das Deutsche ein, löste es auf, gab ihm einen ande- geben werden musste, möchte dieser Text erinnern…1 ren Sound und enthärtete es. Englische Brocken waren eine der größten kulturellen Errungenschaften des deutschen Nachkriegs. Reedutainment: Eine Kultur, die Ausland heißt Dass sie heute nur noch als „Anglizismen(fut)“ benennbar sind, „Wir tun unser Geld in die Plattenläden/Die einzige Art, sich zu weh- sagt viel über jene Kultur gewordene Xenophobie, die gegenwärtig ren“ (Family 5) wieder zu sich selbst zurückzukehren wünscht. Anglizismen bereicherten Wortschatz und Denken (sie hatten zum Popkultur war prominent im Lieferumfang der Reeducation ent- Beispiel keinen Sinn, sondern machten ihn einfach, implementier- halten, die Teile der deutschen durch anglo-amerikanische Kultur ten also einen in Deutschland bis dato unbekannten, nicht-essen- überschrieb. Als „Fremdes“ bot sie deutschen Kids die Möglich- tialistischen Sinnbegrif). In ihnen konnte in der „eigenen“ Spra- keit, jenes „Eigene“ zu verlassen, das sie mit ihren Eltern verband, che fremdgegangen werden, um Sprechen überhaupt erst wieder das deren Verbrechen legitimiert hatte und das sich am 8.Mai zu erlernen, wie Teweleit schreibt.5 In Versatzstücken des Frem- 1945 ja nicht einfach verfüchtigte, sondern von einer Kultur der den ließ sich „der eingegrenzten Hölle […], die der Deutsche/das Tat in eine der Leugnung überging. Deutsche für sich allein genommen ist“6 entkommen. Teweleit hat eindrücklich beschrieben, wie sich die Schuldab- Popkultur zeigte der deutschen Jugend, dass es etwas Besseres gab, wehr in „das Deutsche“ eingeschrieben hat: Als Sprache wurde es als FlakhelferInnen der Schuldabwehr zu werden. Sie war „sym- Verschweigen, als Kultur unwirklich, als Körper fühlte es sich an bolische Entnazifzierung“7 und leistete mehr als demokratische wie gelähmt.2 In diese Situation kam Popkultur als Aufösungsvertrag mit „dem 3 Klaus Teweleit: „Bonbonglas. Sprechen und Gewalt im ‚Land, Eigenen“. Sie sprach von fremden Orten und Körpern, die nicht das Ausland heißt’ – eine autobiographische Notiz“, in: Ders.: Das ruiniert waren. Die waren zwar nicht hier, aber die kulturindu- Land, das Ausland heißt. Essays, Reden, Interviews zu Politik und Kunst, strielle Form der Popartefakte war eine kompakte kleine Fremde, München: dtv 1995, S. 155 4 Teweleit, Ghosts, S. 17 1 Natürlich gibt es noch zahlreiche deutsche Bands, die sich bewusst 5 Vgl. dazu Teweleit, „Bonbonglas“, S. 155 oder unbewusst gegen eine solche Entwicklung stellen; sie wären an 6 Ebd, S. 156 anderer Stelle ausführlich zu behandeln. 7 Martin Büsser: „Made in Germany. Pop im Dienste der 2 Vgl. Klaus Teweleit: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt Nationalisierung“, in: Holger Adam u. a. (Hg.): Pop Kultur Diskurs. am Main/Basel: Stroemfeld 1998, S. 77f. Zum Verhältnis von Gesellschaft, Kulturindustrie und Wissenschaft.

6 Umschulungsmaßnahmen, weil sie nicht versuchte, postbarbari- ein paar Stücke auf Deutsch einsangen, ging gerade noch als Vor- sche Politikformen einzubläuen, und stattdessen der Sprache und leistung für spätere Raritärencompilations durch, Clif Richards dem Körper das Deutschsein austrieb. Beide waren so nicht länger deutsche Platten waren hingegen bereits Schlager: Sie klangen ge- volkseigenes Gut. Sie wurden Orte individuellen Lustgewinns, nuin deutsch. statt kollektivierten Sinns. Das musste niemandem voll bewusst Die „erste Rockband mit deutschen Texten“ – Ihre Kinder aus sein, um die Vorzüge einer anderen z. B. swingenden Körperpoli- Nürnberg – stand von daher von vorneherein unter enormem tik genießen zu können. Rechtfertigungsdruck: „Merken Sie was? Das ist nicht ‚deutsch’. Trotzdem vollzog sich dieser Ablösungsprozess längst nicht so ein- Das ist was anderes“, behaupteten die Linernotes ihrer ersten Plat- fach, wie es „die deutsche Popgeschichte“ Glauben machen will, te. Aber das war natürlich Wunschdenken. Ein paar Zeilen weiter der zufolge Pop die nachrückende Generation einmal kurz durch- unten heißt es über das Catering beim Produzenten Dieter Dierks lüftete, um damit ein neues deutsches Körpergefühl vorzubereiten: (das noch gar keines war, sondern utopielose „Bewirtung“): „man das der schwarz-rot-goldenen Love Parade. aß die Strammen Mäxe seiner Mutti, die unser aller Mutti wurde“. Und: „Wir sind die Kinder unserer Eltern. Eltern und Kinder be- Flowertime in San Franzisko dingen sich gegenseitig“. Vermischung mit angloamerikanischer Popkultur bedeutete näm- Ungefähr so klang die Platte dann auch. Ihre Radikalmisslungen- lich noch längst nicht deren Annexion für deutsche Zwecke. Zu- heit schuf aber nur eine letzte abschreckungspolitische Galgenfrist nächst verlief die Einverleibung ohnehin mehr als schleppend. Erst von ein, zwei Jahren, bis weitere Deutschrockgruppen nachrück- mit der „British Invasion“ des Beat entstand Mitte der 1960er bei ten. Die ersten, die konsequent deutsch sangen, waren Politrock- jungen Deutschen der Wunsch, diese Musik nicht nur zu hören, bands wie Floh de Cologne, Panther und Hotzenplotz (später sondern selbst zu machen. Im Prinzip war das die nächste Eska- umbenannt in Volks-Musik!). Sie glaubten keine englischen Texte lationsstufe ihrer Selbstentfremdung: junge BritInnen zu werden, mehr zu brauchen, ihre linken „Inhalte“ wären gewissermaßen na- eine Mimikry an deren Sprache und Körperlichkeit zu versuchen. turwüchsig gegen Deutschland (verstanden als generationaler Zu- Deutsche Beatbands der 1960er redeten in fremden Zungen und sammenhang mit den Nazis). Was natürlich falsch gedacht war, sie waren von fremden Geistern besessen („Prae Kraut Pandemo- wie die (krypto-)nationalistische Geschichte der BRD-Linken von nium“ heißt nicht von ungefähr die wichtigste Retrospektivreihe Dutschke über die RAF in die Linkspartei zeigt. zum Tema). Ihre Texte stammten aus dem Wörterbuch, und Allerdings erreichten die wenigsten von ihnen überhaupt irgend- auch sonst erlaubten sie sich kaum Eigenmächtigkeiten. wen. Mit einer Ausnahme: Ton Steine Scherben. Die hatten aller- Dass sich Deutsch nicht als Poptextsprache eigne, war lange Zeit dings begrifen, dass eine Zurückweisung der deutschen Wirklich- Konsens (selbst heute fnden nicht wenige Pop auf Deutsch grund- keit sowohl material- als auch präsenzästhetisch gezeigt werden sätzlich unsäglich). Wo es versucht wurde, entstand zunächst auch musste. Und das bekam Rio Reiser als einziger Deutschrocksänger kein Pop, sondern nur deutsches Sonderformat: der „Schlager“. tatsächlich auch hin. Er sang deutsch auf eine Weise, in der etwas In ihm wurde das Popfremde zu Fake-Akzenten und Fernweh ver- vom alten Popfremden erhalten blieb, vielleicht weil er als Schwu- bogen, in dem das alte Expansionsprogramm kleinlaut nachhallte. ler ohnehin aus dem Volkskörper gefallen war. Der Bildvorrat sei- Im Begehren des Fremden blieben der und die Schlagerdeutsche ner Texte schien eher aus dem Alten Testament zu stammen, ent- immer TouristIn: hielt also auch einen (vermutlich unbewussten) jüdischen Subtext, etwa wenn er den Exodus predigte: „Flowertime in San Franzisko/Ich seh’ Blumen blüh’n in Deinem Haar/Ich träum’ mit Dir in San Franzisko/Von einer Welt so hell „Gibt es ein Land auf der Erde/Wo der Traum Wirklichkeit ist/ und klar“, Ich weiß es wirklich nicht/Ich weiß nur eins und da bin ich sicher/ Dieses Land ist es nicht“. sang Bernd Spier in der deutschen Version von Scott McKenzies „If you’re going to San Francisco“. Deren leiernde Züchtigkeit war ein – „Land“ konnte in diesem Zusammenhang natürlich alles Mögli- Afront, eine Veruntreuung des geheimnisumwitterten Fremden che meinen: „die Scholle“ oder doch nur den „Staat“… Reiser ver- als verdruckstes Eigenes. Die Diskrepanz, das Dünne, Unwirk- fügte recht virtuos über jene Vagheit, die „Lebensgefühl“ aufneh- liche und Substantiell-Behämmerte, das den deutschen Schlager men und erzeugen konnte. Seine Verhaftung als „Volkssänger“8 lange Zeit ausmachte, war der Beweis dafür, dass „deutscher Pop“ zeigt, dass sich solche Zeilen ebenso gut als Kapitelüberschrift in nicht ging. Die Germanisierung zombiefzierte alle Popzeichen, der grünalternativen Niedergangsbiographie gebrauchen lassen, derer sie sich bemächtigte. Sie schläferte sie euthanasisch ein, wie wie sie in den Sehnsuchtshorizont der NPD passen, bei deren Ver- sich gut in Spiers weggetreten-sediertem Gesang hören lässt. Und: anstaltungen Scherben-Songs längst zum festen Repertoire gehö- Er sprach die Welthauptstadt der zeitgenössischen Poperwartung ren.9 tatsächlich deutsch aus, einen Auraverlust den der vorgetäuschte Anglizismus von der „Flowertime“ nur unzureichend kaschierte. Bundesrepublikanische Zusammengesetztheit Das Deutsche entstellte die Popcodes bis zur Vernichtung; der alte Bis Ende der 1970er ließ sich das Deutsche als Popsprache trotz- Horror kehrte als Incredibly-Strange-Music-Farce zurück. dem so gut wie gar nicht benutzen. Real existierende Deutschrock- Für spätere Popgenerationen war das Nichtauthentisch-Hohle des bands wie Franz K. sorgten eher dafür, dass deutsche Rocktexte als Schlagers eine Fundgruppe für Verfremdungsstrategien; für Po- pafzierte der Originalzeit blieb er der Feind, weil Pop keine Kom- promisse mit dem Deutschen eingehen durfte: Dass die Beatles 8 Vgl. dazu Hartwig Vens: „‚Unsere Lieder sind einfach, damit viele sie mitsingen können’“, in: Wolfgang Seidel (Hg.): Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben. Mainz: Ventil 20005 Mainz: Ventil 2010, S. 98 9 Vgl. Ebd. S. 109

7 eine Leerstelle stehen blieben, als ein Unort und schwere popästhe- Aber der gehörte zu jenen Ex-LiedermacherInnen, die in der Nach- tische Verfehlung. Was sie von sich gaben, war unglaublich seltsa- NDW-Zeit zu grünalternativem Deutschpop umgetopft wurden. mer Quatsch. Die Novalis-Textpassage, die üblicherweise hierfür als Und der Sentimentalitätstyp, den sie verzapften, war sowieso ver- Beleg angeführt wird, zeigt, wie unwohl sich der deutsche „Sinn“ dächtig. Ihre gnadenlose Verachtung war identitätsbildende Maß- in „Poptexten“ fühlte: „Wer Schmetterlinge lachen hört/Weiß wie nahme fast aller BRD-Subkulturen. Sie übten ja bereits den „Sei Wolken schmecken“. Das war genau so bescheuert, wie es sich auch du selbst!“-Befehl ein, jenen Jargon der Eigentlichkeit, der nach anhörte – und auf keinen Fall eine funktionierende Popbehauptung 1989 sofort mit nationalem Selbst aufgefüllt werden konnte. Ih- à la „Clouds taste metallic“ (Flaming Lips, 1995). Zudem gab der rer Drei-Bier-Identität, die sie auf Platten spazieren führten, die „Deutschrock“ durch regelmäßige Backlashs in die Finsternisse des „Schweißperlen“ oder „Bochum“ hießen, wurde von deutschen Eigenen (wie „Dialektrock“) zu erkennen, wo er hingehörte: in die Postpunkgruppen ein künstliches, ironisch-distanziertes Pop- Trostlosigkeit einer dumpfen Gegend. deutsch entgegengewuchtet, das das Nicht-Identische zu genießen Erst mit dem deutschen Punk und New Wave wurde „Deutschsein“, und zu beschützen schien: „Jede Welle ist eine tote Welle/Was im- wo es ihm nicht zu dummdreister Afrmation verunglückte – oder mer lebt ist die Dt. Scham/Die Dt. Scham sitzt euch im Nacken/ zur blöden Weinerlichkeit darüber, etwas nicht zu dürfen (wie in Denkt immer daran/Die Dt. Scham stirbt niemals“, skandierten „Ein deutsches Lied“ von Nichts) – als Entfremdungszeichen im Mutterfunk 1981, und sie klangen gar nicht traurig dabei. Sinne der neuen Ästhetik benutzbar. Die Unverwandtheit der NDW-Texte ahmte die fremde Sprache englischer Popstücke auf Deutsch nach. In ihnen fand sich etwas „Das Beste an bundesdeutscher Popmusik war ihre Sekundarität: von dem, was Gilles Deleuze und Félix Guattari über das Prager- ihr Bezugnehmen, Imitieren, Fixiertsein auf angloamerikanische deutsch bei Kafka gesagt hatten: ein „Fremdwerden in der eigenen Vorbilder“,10 Sprache“12. Kafka selbst hatte von der deutschsprachigen jüdis- chen Literatur in Prag einmal als „kleine Literatur” gesprochen. schrieb Diedrich Diederichsen 1990 in den Linernotes für den Für Deleuze/Guattari war sie die „einer Minderheit, die sich einer Sampler „Geräusche für die 90er“. Und der agierte in einem mehr- großen Sprache bedient.”13 Als minoritäre Praxis stünde sie im per- fach von Geschichte aufgewühlten Raum: 10 Jahre nach „Geräusche formativen Widerspruch zur Identität, die in der Muttersprache für die 80er“, einem frühen Überblick über die entstehende deutsche verbrieft wäre. Sie sei nicht „Literatur der großen Meister”14, als Punk- und New-Wave-Szene, und ein Jahr nach dem Ausfall jener die die deutsche tradtionell inszeniert wird, sondern eine, die ein Spaltung, die „bundesrepublikanische Kultur“ erst ermöglicht hatte. „anderes Bewußtsein und eine andere Sensibilität”15 herstellt. Sie Zu deren Vorzügen gehörte: „weniger Nationalismus als in anderen repräsentierte eine Subkultur, und keine Kultur. Staaten“(Ebd.). Und weniger Identität im afrmativen Sinne. Eher Deswegen tendierte sie zur Unverständlichkeit, die aber nicht ihr gab es eine nicht unspannende Form der Nichtidentität, aus der her- Problem, sondern ihr Freiheitsmoment ist. Deleuze/Guattari ent- aus deutsche Texte fabriziert werden konnten: als Aneignung dieses werfen so einen neuen Kafka, dessen Texte nicht mehr Ausdruck Nichtidentischen und als „Anerkennen der Künstlichkeit, des Zu- psychischer oder kultureller Notlagen waren. Sie ringen nicht mit sammengesetztsein, des Kolonisiertseins, der westdeutschen Nach- einer aufgrund von Familienkonstellation und den negativen Fol- kriegspsyche und -kultur“(Ebd.). Diese Möglichkeit sah sich 1990 gen der Moderne unmöglich gewordenen Identität, sondern sind aber bereits einer veränderten kulturpolitischen Situation gegenüber, bejahte Nichtidentität, ein: „Ausweg für die Sprache, für die Musik, „die die Lüge von ‚deutschen Roots’ wiederaufbereiten wird“(Ebd.). für das Schreiben. Was man gemeinhin Pop nennt – Popmusik, Vermutlich war „die alte BRD“ die beste Zeit, die es in Deutschland Popphilosophie, Popliteratur: Wörterfucht. [im Original deutsch!]. seit dessen Erfndung gegeben hat: ein beinahe-utopischer Nichtort Vielsprachigkeit in der eigenen Sprache verwenden“16. der Bindungslosigkeit und der hedonistisch besetzbaren Entwurze- Die Zurückweisung ästhetisch gestalteter Harmonie von Volk, lung, der Dekollektivierung. Selbst die Nationalmannschaft spielte Kultur und Sprache, wie sie „große Literatur“ verbürgt, zeigt sich wohltuend schlecht, mitreißend an ihr war lediglich, dass sie das vor allem in Dissonanzen und einem generellen Missklang, sie Mitsingen der Hymne demonstrativ verweigerte und damit klar- äußert sich in einem „ganz nüchternen und strengen Schrei; in ihm machte: Auf dem Platz standen keine völkischen Mandatsträger, das Hundegebell, den Affenhusten, das Käfergesumm freisetzen; sondern abgezockte Profs, denen „ihr Land“ scheißegal war. eine Synthax des Schreis machen […] bis zu einer Deterritorialis- Beinahe hätte von hieraus also arrogant auf den Nationalfarben- ierung, die nicht mehr durch die Kultur oder den Mythos kom- schwachsinn der Nachbarländer geblickt werden können. Stolz auf pensiert wird”17. Das NDW-Deutsch verdoppelte in seinen besten den eigenen Unstolz zu sein, verbat sich natürlich angesichts der Momenten die alte Popentfremdung: Gründe für diese einmalige Chance, nichts mit Land, Volk und Fahne (die Staatsbegräbnissen vorbehalten blieb) zu tun haben zu „NDW-Bands versuchten englisch zu singen, diesmal aber auf müssen. Deutsch. Ihre Texte klangen in der vertrauten Sprache der eigenen Aber sie ließ sich nutzen. Die „Verkrampfung“ war Entspannungs- technik und Bewusstseinserweiterung in einem. Ein Luxus, der Städte sehen aus wie schlafende Hunde“, WEA (1984) als Freiraum verteidigt werden musste gegen alle, die ihr im Ge- 12 Vgl. Frank Apunkt Schneider: Als die Welt noch unterging. Von Punk schichtsgully verschwundenes Deutschland zurück wollten, wie zu NDW, Mainz: Ventil 2007, S. 232 Heinz Rudolf Kunze, der schon 1984 nölte: „Deutschland, ich ver- 13 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, miss Dich“.11 Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 24 14 Ebd. S. 26 10 Diederich Diederichsen: Deutschland – Noiseland. Linernotes zu 15 Ebd. „Geräusche für die 90er“, What’s so Funny About.. (1990) 16 Ebd. S. 38f. 11 In „Deutschland (Verlassen von allen guten Geistern)“ auf: „Die 17 Ebd. S. 37

8 Umgebung fremd, anders, neu, seltsam, ungehört, unverständlich, der Kolossalen Jugend mit dem Aufdruck: „Halt’s Maul, Deutsch- schizoid, eben so, wie die ersten englischen Poptexte damals in den land“). Es reichte, die kommunikativen Grundlagen des Kollektivs Kinderohren derjenigen geklungen hatten, die sie nun mit dem zu verweigern: die Verständlichkeit, in der seine Befehlsstrukturen Vokabular der deutschen Sprache nachbauten.“18 aufgehängt waren (und die oft in Befehlsform von den betrefen- den Bands eingefordert wurde). Nach dem Niedergang der NDW waren deutsche Texte aber erst Als Gattungsbegrif für diese neue Musik bot sich zweierlei an: einmal verbrannt. Ein weiteres deutsches Popsonderformat: die 1. „Hamburger Schule“ und 2. „Diskursrock“. Natürlich wurde BlödelbardInnen hatten ihren Antisinn öfentlich zu feuchtfröhli- beides von den Beteiligten vehement zurückgewiesen, schließlich chem Unsinn degradiert, der grünalternative Deutschpop machte waren die ja MusikerInnen, deren je Eigenes (schon aus markt- wenig später öfentlich-rechtlichen Sinn daraus. Für ein paar Jah- strategischen Gründen) nicht mit Fremdem zusammen in eine re nahmen die meisten Bands wieder zur Sekundarität des Eng- „Schublade“ gehört. Aber das war refexhaftes, antrainiertes Ge- lischen Zufucht und begnügten sich damit, kopierverlustreiche wäsch, denn die Vorteile dieser Begrife lagen klar auf der Hand: Versionen des Angloamerikanischen zu sein. Mit Schule war gesagt, dass der in Hamburg als „Szene“ konzen- trierte Ansatz prinzipiell in andere Städte übertragbar war. Und Lebenslange Reeducation: Die Hamburger Schule dass es um Lernprozesse ging, und Arbeit, anstatt Bohemekli- „Geräusche für die 90er“ leitete aber bereits eine zweite Welle anti- schees zu erfüllen, wie es die traditionelle Stellenbeschreibung des identitärer deutschsprachiger Popmusik ein. Die Option, in einem Kunstsubjekts ja vorsieht. Außerdem hieß es, dass Musiker- Andreas-Dorau-Sinne bundesrepublikanisch zu sein, war ihr ver- Innen nicht nur über eine bestimmte Bandbreite an Intelligenz- baut, denn die „gute alte BRD“ war längst dabei, neues Deutsch- typen verfügen mussten: die soziale und die ästhetische, serviert land zu werden. Ihre alten Vorzüge wurden genauso gnadenlos mit einer Brise Streetwiseness. Sie sollten auch Intellektuelle sein abgewickelt wie DDR-Betriebe. (dürfen): buchklug und belesen, ja eventuell sogar über Begrife Also verstärkten Cpt. Kirk &., Kolossale Jugend und andere die verfügen. „Die Hamburger Schule entstand dadurch, dass sich un- Dissonanz. Dazu mussten sie allerdings deutsch singen. Denn intellektuelle Punks (wie die Zitronen und ich) auf die Intellektu- nur so ließ sich eine produktiv missverständliche deutsche Pop- ellen einließen. Das hat lange gedauert, und es gab viele Momente, kommunikation herstellen, ein „Pop gegen Biographie“19 (so der wo wir es aufgeben wollten“, meint Knarf Rellöm rückblickend.21 Titel von Kristof Schreufs Rückblick auf seine Zeit mit Kolossale Und doch hat es eine Zeit lang funktioniert. Jugend). Ihr Ringen um Ausdruck misslang als Ausdruck, aber als Diskursrock distanzierte sich wiederum von rockistischen Leitwer- Ausdruck des Misslingens setzte es ungeahnte Textenergien frei, ten wie (ungeflterte) Selbstaussprache, Unmittelbarkeit und der die auf verquere (oder sogar: queere) Weise wie Popbotschaften Pficht zur intellektuellen Verwahrlosung. An deren Stelle traten funktionierten: als aufgewühltes Sprechschreien, das vom Körper Aushandlungsprozesse, in denen Positionierungen erarbeitet und kam und auf ihn eindrosch. politisch notwendige Umerfndungen vorgenommen wurden, wie die, mit der Die Goldenen Zitronen 1994 auf die wiedervereinigte „In diesem zum Getöse angeschwollenen Missverständnis des deutsche Pogrombereitschaft reagierten. Fremden, Auferlegten, Anderen lässt sich, wenn [es] gelungen mis- Dazu mussten Textaussagen allerdings überproportional wichtig slingt, erkennen, was vom Hiesigen aufbewahrt und erinnert zu genommen und in legendären Diskussionen (die meist Die Sterne werden wert ist“20, trafen) kritisiert werden, woran sich auch Magazine beteiligten, die selbst Bestandteil von „Diskurssrock“ werden konnten. Alte fand Diedrich Diederichsen. Was gesungen wurde, ergab keinen Arbeitsteilungen wurden über Bord geworfen, und das nicht nur zusammenhängen Sinn, aber einen schnellen Wechsel zwischen aufgrund von Doppelbegabungen: MusikerInnen äußerten sich manieriertem Schwachsinn und scharfzackigen Erkenntnisblitzen schriftlich, und gaben dabei ganz passable Figuren ab. Man/ (v. a. beim frühen Distelmeyer, der konsequent zwischen Pennä- frau konnte dazugehören, einfach nur, indem man/frau darüber lerlyrik und Präzision zu pendeln verstand). Die neue Sprechweise schrieb. Dieses Gefühl lag jedenfalls eine Weile in der Luft. Es war sperrig, kaputt und voller Sprünge, ungelungener Wendun- wurde u. a. dadurch getriggert, dass es plötzlich Bandinfos gab, gen und hilfoser Abstraktheit. Sie berührte in manche Fällen als die nicht generisch uninteressant waren, sondern Bestandteile ei- sprachliche Ohnmachtausübung, in anderen nervte sie, in wieder nes Gesamtaussagesystems. anderen wollte sie genau das. Sie war zusammengebaut, und oft Live kamen nicht mehr unbedingt Bands auf die Bühne, sondern fog sie auch gleich wieder auseinander. Jedenfalls war das keine Diskussionsangebote, die sich natürlich sofort den Vorwurf ein- Meistererzählung (auch wenn Distelmeyer sich das später vom handelten, zu viel zu reden, also sich nicht wie IndiemusikerInnen Feuilleton einreden ließ, um in letzter Minute noch ein deutscher zu benehmen, verdammt noch mal! Vor der Folie in Deutschland Dichter zu werden). valider Kunstbegrife war das eine Zumutung, und die gehörte So wie „Geräusche für die 80er“ ein Gründungsdokument der zum Programm einer „Ästhetik der Zumutung“. Zumutung (von NDW gewesen war, wurde „Geräusche für die 90er“ eines für den Kommunikation und Auseinandersetzung) war es z. B., wenn Jo- neuen Underground, der auf Deutsch gegen das Deutsche ansang. chen Distelmeyer sich in der alten Blumfeld-Phase von der Bühne Und das ging, ohne sich inhaltlich zu positionieren (was er na- herunter für eine sexistische Äußerung entschuldigte oder jeman- türlich trotzdem tat: als Wohlfahrtsausschuss oder als Bandshirt den, der angesichts seiner Running-Gag-artigen Gitarrensaiten- probleme „Geld zurück!“ gerufen hatte, 20 Mark in die Hand drückte. Wer den neuen Distlemeyer auf seiner Solotournee erlebt 18 Schneider: Als die Welt noch unterging, S. 232 19 Vgl. Kristof Schreuf: „Pop gegen Biographie“, in: Jörg Sundermeier/ Werner Labisch (Hg.): Hamburgbuch, Berlin: Verbrecher Verlag 2004 21 In einem persönlichen Gespräch vom November 2010, das einen 20 Diederichsen: Deutschland – Noiseland der Ausgangspunkte für diesen Text bildete.

9 hat, wird sich das kaum vorstellen können; Auseinandersetzung falls nicht in dessen alten Sinne als der materialisierte Beweis, dass fand hier nur noch in den Grenzen von 2009 statt. Dass er sich funktionierende Popmusik auf Deutsch nicht zu haben war. Denn irgendwann einmal geweigert hatte, dem Spiegel ein Interview zu es funktionierte ja: ob im Radio oder in den Intro-Jahrescharts. geben, wirkte da wie eine Nachricht aus einer anderen Welt. Das So gut wie alle Bands waren strukturell bieder und kulturell an- Stilmittel der Kommunikation (mit der Konsequenz des Kommu- gepasst, glatt, unkompliziert und mit Gott und der Welt (feat. nikationsabbruchs) steht ihm heute leider nicht mehr zur Verfü- „Deutschland“) versöhnt. Damit ruinierten sie Popkultur als Um- gung. erziehungsmaßnahme. (Das hatte der Schlager sich vielleicht vor- In einer weiteren Kommunikationsdimension trat dann noch der genommen, aber niemals wirklich eingelöst.) Kontext, der schon immer ein fxer Bestandteil des Popkunstwerks Mit ihnen hatte sich „das Deutsche“ Pop anverwandelt und „die gewesen war, als sozialer Vollzug ofen auf, z. B. indem Hambur- Deutschen“ konnten endlich so tun, als ginge es ihnen ganz ger MusikerInnen sich bis etwa 1998 nicht damit begnügten, Mu- marktwirtschaftsstumpf nur um Standortfaktoren und Marktan- sik zu machen, sondern eine bewegliche Infrastruktur waren, die teile. Zu erobern war mit diesen Bands ohnehin nichts: Auf dem Schreiben, Denken, Diskutieren, Labelarbeit, Kneipengründun- Auslandsmarkt waren sie unverkäufiches Mehrdesselben an der gen, Parties, ofene Bandgrenzen, gescheiterte Beziehungen und Unterkante eines hofungslos überbelegten Durchschnitts. gegenseitige Hilfe umfasste. Tomte, Kettcar oder Wir sind Helden (die lange wie eine Die Braut haut ins Auge-Coverband klangen) bezogen sich zwar noch auf die Skill the nation with a groove alte Hamburger Schule, aber sie wollten von deren Diskursrock nur den hinteren Wortbestanteil haben. Sie waren gewissermaßen eine „England hat eine Pop-Kultur, die doofen Deutschen wollten Mu- Reformuniversion davon, und ihr „Diskurs“ erschöpfte sich darin, sik und die haben sie dann zu Genüge bekommen. Mögen sie da- hin und wieder zu zeigen, dass sie die ungefähr richtige Meinung ran ersticken!“22, hatten. Wo sie politisch auftraten, achteten sie genau darauf, den Konsensradius niemals zu überschreiten, traten also möglicherwei- schrieb Diedrich Diederichsen 1983. Ähnlich sah es 1999 aus: se noch für Attac auf, aber nicht mehr gegen Abschiebung. Plötzlich gab es nur noch Musik, die ohne mitgelieferte Probleme- Reste der alten Hamburger Bewegung sammeln sich heute eher bene sie selbst und folglich auch irgendwie „deutsch“ sein wollte. auf den Pudelsamplern, bei denen deutsche Texte (und damit die Bands wie Tomte, Wolke, Virginia Jetzt!, Silbermond, Juni, Enno nur durch sie möglichen Distanzierungsmerkmale) keine allzu Bunger (ad infnitum) waren von einem Tag auf den anderen vor- große Rolle mehr spielen. Und das vielleicht aus gutem Grund. stellbar. Und materialisierten sich dann auch gleich. Das unter Für den Relaunch des deutschen Nationalismus war es entschei- Rotgrün eingeweihte Popdeutschland schluckte sie anstandslos in dend, einen mit Deutschland ausgesöhnten Pop präsentieren zu einer schier endlosen Fresswelle, leider ohne Diederichsens from- können. Das neue Nationalgefühl kam ja nicht von dessen altein- men Wunsch zu erfüllen. gesessenen Ventilationssystemen, sondern von Popsozialisierten, Bei vielen Beteiligten klappten die alten Ansprüche einfach zu- die ihre eigene Popgeschichte als Humankapitalposten aus der Be- sammen, meist aus im Einzelnen stets nachvollziehbaren ökono- werbungsmappe (zu der sie ihr Leben gemacht hatten) zogen, um mischen Erwägungen. Tilmann Rossmy löste 1995 Die Regierung zu beweisen, dass sie irgendwann einmal die Generalentnazifzie- auf und nahm unter eigenem Namen Platten auf, die es ganz of- rung „Pop“ durchlaufen hatten, und dadurch Vergangenheit hin- fensichtlich auf die Reviewsparten von „TV Spielflm“ und „Bri- reichend bewältigt, um jetzt wieder alles Erdenkliche (und auch gitte“ abgesehen hatten. Die erste hieß „Willkommen zuhause“ das Undenkbare) zu dürfen. Außerdem gab es ja noch die NPD und bot Refrains auf wie: „Ich geh’ den Herzweg/Ich verschließ als Selbstvergewisserungsmedium: Sie wurde zur Sondermüllde- mein Herz nicht“. ponie für das Hässliche-Deutsche. In ihr konnte sich jede/r versi- Tocotronic inspirierten ab 1996 ein Heer völlig unnötiger Indie- chern, der/die das wollte, dass er/sie selbst ganz anders war als die bands, ebenfalls deutsch zu singen. Obwohl das Schlimmste noch redeungewandten, schlecht angezogenen Ewiggestrigen, die sich bevorstand, geben die CD-Beilagen von Heften wie „Komm Küs- bevorzugt in Regionalparlamenten lächerlich machten. Man/frau sen“ einen ersten Ausblick auf „deutschen Indiepop“, der um 2000 selbst saß immerhin regelmäßig beim Italiener. zum endlosen Schwall wurde, bei dem nur eines gewiss ist: Die Wichtig war also vor allem, dass sich der staatstragende deutsche nächste Newcomerband ist immer die schlimmste. Pop vom Dumpfbackensound des Rechtsrock und -folk unter- Musikalisch handelte es sich dabei um „deutschen Britpop“, mate- schied, wie er parallel auf obskuren Schulhof-CDs zirkulierte. rialästhetisch komplett uninteressant, aber um eine entscheidende Die neue Lockerheit immunisierte ja bereits in ihrem Begrif gegen Verschiebung herum gebaut: Die Beteiligten hatten in ihrer Sozia- „krampfge“ Kritik, was Kunze, Grönemeyer und Purple Schulz so lisation soviel Popkompetenz akkumuliert (wenigstens in einem nie geschaft hatten, weil man/frau sich in ihnen hervorragend für Bachelor-Sinne), dass sie Pop weder als etwas Sekundäres noch Deutschland schämen konnte. als etwas Fremdes spielen mussten. Sie machten ihn zu etwas Ei- Und sowieso musste niemand pro-deutsch rumpöbeln, es reichte, genem, das nie wirklich daneben war, sondern – viel schlimmer: kein Problem damit zu haben, wenn andere (die wie Sammy De- mit sich selbst identisch. Das war eine ästhetische Katastrophe und Luxe oder Fler besser geeignet waren) das taten. nicht bloß, wie Martin Büsser gemeint hat, „Schlager“23. Jeden- Wer die medial aufgedruckte Spaßbrille noch runterbekam, konn- te in den EM- und WM-Phasen mit jedem Fensterblick auf das Testosteronüberschwemmungsgebiet feststellen, dass die neue Un- 22 Diedrich Diederichsen: „Sounds. Plaudereien über das Ende des verkrampftheit nur ein Romeroflm-Zitat war (alles was es darüber Musikjournalismus“, in: Daniel Hitzig/Markus Kenner/Aneth Spiess zu sagen gibt, fndet sich in Eric Essers „Dawn of the Dorks“24) (Hg.): Tonmodern. Texte, Fotos und Comics aus der aktuellen Rockszene, Zürich: Rote Fabrik 1983, S. 12 23 Büsser: „Made in Germany“, S. 104 24 …der hier runtergeladen werden kann: http://underdogflmfest.

10 und dass die Versuche, eine neue Unverkrampftheit herbeizure- tigen Haltung). Es sagt soviel wie: Verkrampfung ist funky und den, sich ganz schön verkrampften. „das Ungesunde“ ein „Popschönes“ (wie bei Lou Reed). Nur fel das fast niemandem mehr auf, abgesehen von denen, die Damit wären noch einmal ästhetische Strategien von „Pop“ gegen über den Luxus eines geschlossen linksradikalen Weltbildes ver- die Pficht zum richtigen Verhältnis zum eigenen Land in Stel- fügten (und manchmal noch nicht mal denen). lung gebracht. Und daran erinnert, dass Popgeschichte auch davon Die Marschkapellen in die neue Unverkrampftheit waren stim- erzählt, wie sich „richtige Haltungen“ (als körperdisziplinarische mungstechnisch versiert genug, um mit der brodelnden Volksseele Maßnahmen) überwinden lassen, um den Körper als Einschreibe- zu wallen. Dafür war es nur notwendig, alles was an deutschem fäche von Ideologie zu befreien. Pop einmal sperrig oder schräg gewesen war, mit postideologisie- Möglicherweise bedarf es genau dieser Resignifzierung von render Subjektivität zu überschreiben, die ihre kleinbürgerliche Verkrampfung, statt bloß zu versuchen, mit dem entkrampften Gefühlswelt immerhin perfekt kommunizieren konnte, anstatt sie Deutschland in eine Debatte einzutreten, die schon mangels me- – wie Novalis 30 Jahre früher – durch Pantomimen des Bedeu- dialer Repräsentierbarkeit von Gegenpositionen zu Schwarz-Rot- tungsvollen zu verstellen. Gold nicht gewonnen werden kann. Dass linke Kritik der Renationalisierung sich meist im Modus der Wir ist ein anderer: Die Schönheit der Verkrampfung Klage oder als Warnung (vor dem vierten Reich, das ein Pop- reich sein wird) vorträgt, ist verständlich. Unter strategischer Per- „Wie viele Stile, literarische Gattungen oder Bewegungen, auch ganz spektive wäre sie aber vielleicht sogar zu begrüßen: als Möglich- kleine, haben nur den einen Traum: eine sprachliche Großfunktion zu keit, wieder eine „unrichtige Haltung“ einnehmen zu können. Der erfüllen, Dienste zu leisten als ofzielle, als Staatssprache […]. Doch deutsch versaute Pop ist schließlich eine Chance, zu zeigen, was an es geht um den entgegengestezten Traum: klein werden können.”25 seiner statt „vom Hiesigen“ bewahrenswert wäre: Das Verkrampf- te, Komplizierte, die Identitätsverweigerung, die eine andere, Wo der beutedeutsche Pop Staatsraison geworden ist, muss es „kleine“ Identität bereitstellt. darum gehen, alte Errungenschaften zu bewahren, zumindest im Bestand nicht „deutsche Popidentität“ lange gerade darin, keine Gedächtnis, und damit sich selbst als sein zu können…? – Aus diskursstrategischen Gründen empfehlt es sich zwar, normativ zu behaupten, genuin deutschen Pop habe „jemand, der durch den Verlust des eigenen Sprechens zur Sprache es nie gegeben. Deskriptiv wäre allerdings zu ergänzen, dass deut- gekommen ist, zu mehreren Sprachen, Fremdsprachen, entfremdet scher Pop zumindest eine genuine Identität des Nichtidentischen vom vorherrschenden O-Ton um einen herum“26. zur Verfügung stellte, die denen entgegengehalten werden kann, die sich unter Popidentität nichts anders vorstellen können als ei- In dem Song „AKD“ (für „Arme kleine Deutsche“) der Knarf nen starken Selbstbezug und das Ineinsfallen von Subjekt, Nation Rellöm Trinity gibt es ein fngiertes Telefongespräch, bei dem und Pop. Rellöm von einer Jan-Delay-isierenden Stimme angerufen wird Das wäre natürlich viel zu kompliziert, um von den Popidentitäts- (Delay hatte zuvor ein ähnliches Stück herausgebracht und redete zombies verstanden werden zu können, aber das Komplizierte und ohnehin gerne ähnlich dumm daher): Verkrampfte wäre immerhin als Diskurswafengattung wiederein- geführt. Und Deutschpop könnte sich vielleicht nicht in derselben „Ja, ich wollte mal sagen: Endlich haben wir Deutschen wieder ein Weise mit deutscher Popgeschichte im Einklang fühlen, wie er es unverkrampftes positives Verhältnis zu unserem eigenen Land und gegenwärtig tut. Er wäre vielleicht sogar als der Verlust erfahrbar, zum Patriotismus!“ der er immerhin ja auch wirklich ist.

Rellöm antwortet darauf: „Ich muss sagen, ich fand die Verkramp- (Schönen Dank an Knarf Rellöm für seine Mitwirkung an diesem fung schöner…“ Text) Dem Patriotismusspam wird hier kein argumentativer Widerspruch entgegengesetzt, sondern der Angerufene macht sich selbst klein vor dem aufgeblähten Wir. Seine Ichaussage unterläuft es und ver- Frank Apunkt Schneider (Bamberg) hat am 7. November 2014 weist auf das, was in ihm verloren geht. in Bremen einen Vortrag zum Tema „Deutschpop, halts Maul!“ Damit verweigert er sich einer Logik, die „Verkrampfung“ immer gehalten. Siehe: schon als Missstand markiert hat. Den Gegenbeweis zu führen, https://associazione.wordpress.com/2014/06/05/frank-apunkt- benötigte mehr Worte, als der gesinnungsterroristische Anschlag schneider-bamberg-deutschpop-halts-maul-fur-eine-asthetik-der- sie zulässt. Stattdessen wird Verkrampfung resignifziert: als et- verkrampfung/ was Schönes. Dem Entkrampfungsbefehl wird sein Kampfbegrif Der Text ist ursprünglich in Testcard # 20 Access denied - Ortsver- entwendet und damit auch die Ebene der Auseinandersetzung ge- schiebungen in der realen und virtuellen Gegenwart erschienen. Wir wechselt. Die Antwort erfolgt nicht in einer moralischen Dimen- danken der Redaktion der Testcard für die Erlaubnis zum Nach- sion, sondern in der ästhetischen: Das „Schöne“ verweist auf „das druck. 2015 ist vom Autor im Ventil Verlag erschienen: Kunstschöne“ (als Opposition zur schwarz-rot-goldenen Verhässli- Deutschpop halt‘s Maul! Für eine Ästhetik der Verkrampfung. Deut- chung) und auf eine popspezifsche Ästhetik des schönen Krampfs sche Popmusik und die Hässlichkeit des Unverkrampften. (als Opposition zur natürlichen oder emotionsorthopädisch rich- org/2007/uploads/media/dawn_of_the_dorks.ogg 25 Deleuze/Guattari: Kafka, S. 40 26 Teweleit: „Bonbonglas“, S. 155

11 Claudia Barth Esoterische Selbsthilfe zwischen Selbstoptimierung und Selbstaufgabe

Praktizieren Sie Quantrum Entrainment und machen Sie blikationen weitere Bücher und CDs, mit zum verwechseln ähn- mit Ihrem Leben ganz unschuldig weiter. Das ist das einzige lichen Titeln und Inhalten, veröfentlicht haben. Beide Bücher Mantra, die einzige Friedenspredigt. Es ist so einfach. können stellvertretend für den esoterischen Lebenshilfemarkt Dr. Frank Kinslow, „Quantenheilung erleben“, S.86 gesehen werden. Die Grundlinien des dargebotenen Weltbildes liegen in nahezu identischer Weise jedem beliebigen esoterischen Bestseller zugrunde. Ein Blick auf die Titel esoterischer Ratgeberliteratur legt nahe, dass es sich um Selbsthilfekonzepte handelt, in denen verspro- Der kosmische Bestellservice. chen wird, ohne große Mühe Glück, Gesundheit und Reichtum Eine Anleitung zur Reaktivierung von Wundern. zu erhalten, also optimal durchs Leben zu kommen. Auch wenn Bärbel Mohr am Ende ihres Bestsellers keinen einzi- Doch der Esoteriker selbst würden widersprechen. „Was zählt ge Literaturverweis angibt, so wird dem esoterisch einigermaßen der Plunder der Welt? Ich suche eine andere Art von Glück. Kei- vorgebildeten Leser schnell deutlich, dass sie ihre Ideen aus wei- nen äußeren, sondern innern Reichtum, Ruhe und Harmonie.“ thin bekannten esoterischen Quellen übernimmt. Allen voran ist Von Selbstoptimierung fühlen sie sich weit entfernt. Sie sprechen hier der „Kurs in Wundern“ der US-Amerikanerin Eva Schuc- von Selbsterkenntnis, einer bewussten Hinwendung zum Selbst, man zu nennen (siehe Materialdienst der EZW 9/1996; 10/1999; den eigenen unterdrückten Gefühlen, Bedürfnissen und Sehn- 10/2000; 5/2002). süchten. Um dem Widerspruch zwischen Selbstbild und Außen- Kurz zusammengefasst lässt sich das Buch folgendermaßen be- wahrnehmung von Esoterikern auf die Spur zu kommen, soll die schreiben: „sei kreativ, nutze deine Möglichkeiten, lass` dich auf esoterische Selbsthilfeliteratur anhand zweier Beispiele selbst zu Neues ein. Alles ist möglich.“ Trotz versprochener umfassender Wort kommen. Diese werden ergänzt durch Aussagen esoterisch Lebensänderung sind die konkreten Beispiele für gelingendes Praktizierender, die sich für eine Studie zu esoterischer Lebens- Leben am Ende des Buches spartanisch. So wird dort beispiels- führung zur Verfügung gestellt haben. (Barth 2012) weise ausgiebig erläutert, wie trotz achtstündigen Büroalltags die Esoterik ist eine Selbsthilfeform, zu der Menschen vornehmlich Sehnsucht nach einem Sonnenbad im Freien erfüllt werden kön- dann greifen, wenn sie im berufichen oder privaten Lebensweg ne. Esoterische Lösung: den Chef um eine verlängerte Mittags- gescheitert sind. Wenn sich ihre bisherigen Verhaltensmuster pause bitten. Ernüchternd. (S.184) zum Umgang mit Problemen als nachhaltig untauglich erwiesen Trotzdem sich also im realen Leben der Person, die den „kos- haben und sie bereit sind, sich innerlich umzustrukturieren, um mischen Bestellservice“ als Lebensratgeber nutzt, äußerlich nicht wieder Erfolg zu haben. Esoterik ist dementsprechend eine Dies- viel verändern wird, sondern das Glück eher im Kleinen in Aus- seits-Religion. Es geht darum, für sich selbst und die Welt neue sicht gestellt wird, wurden Bärbel Mohrs Universums-Bücher Erklärungsmuster zu fnden, mit denen ein erfolgreiches Leben nach Angaben des Verlages über eine Million Mal verkauft. im Bestehenden möglich wird. Eine Interviewte, die am Leis- Die Begeisterung für Mohrs Ausführungen liegt wohl weniger tungsdruck ihres Jobs in guter Position in der freien Wirtschaft an den angeführten Alltagsverschönerungen, als vielmehr an der gescheitert ist, im Privaten unglücklich ist und mittels Esoterik ungeheuren Empowerment-Rhetorik, die das Buch trägt. Sie zu neuen Wegen fnden will, erhoft sich durch Esoterik Auf- verspricht jedem, die Realität kreieren zu können, in der der Ein- schluss auf die „Frage hinter allem: Warum ist es so, wie es ist? zelne leben möchte (S.38). Durch die eigenen Gedanken habe Einfach mit dem Hintergrund. Wie kann ich’s besser machen?“ man die Macht, das gesamte Leben zu ändern (S.52). Dabei geht Es geht um Sinnfndung für unverstandene Lebensereignisse, es niemals darum, die faktisch eingerichtete Umgebungswelt zu darum, inneren Frieden zu fnden sowie um neue Handlungs- verändern, sondern darum, ein solcher „Glückspilz“ zu werden, strategien, um künftig erfolgreicher zu sein. Die Interviewte dass man in den eingerichteten Zuständen genau die Sonnen- möchte, „nicht mehr diese Leidensform“ haben. Dies sei „eigent- seite erheischt. Dass etwa die S-Bahn nicht mehr vor der Nase lich der Hintergrund, warum ich mich (mit Esoterik) beschäfti- davon fährt, sondern man durch eine innere Verbindung zum ge“ (Barth, S.155). Universum exakt zur richtigen Zeit am richtigen Ort stehen Esoterik dient als Lebenshilfe. Innerhalb einer hochgradig wird, wie Mohr ausführt (S.39). Wie man selbst zu einem „Hans marktwirtschaftlich strukturierten Masse an Techniken und im Glück“ werden kann, will Mohr den Lesern in ihrem Buch Anbietern, deren Qualität von keiner Institution überprüft wird, eröfnen. Dabei holt sie zu einem umfassenden Esoterik-Rund- können Menschen sich individuell ihre religiöse Synthese zu- schlag aus. sammenbasteln. Dabei ähneln sich die feilgebotenen Techniken stark. Im Folgenden werden anhand zweier sehr beliebter Bücher Quantenheilung erleben die Grundzüge esoterischer Lebenshilfe dargestellt. Es handelt Frank Kinslow verspricht uns in seinem Bestseller ebenso, durch sich um Bärbel Mohrs „Der kosmische Bestellservice“ und Dr. die von ihm entwickelte Methode „Quantum Entrainment Frank Kinslows „Quantenheilung erleben“. Bei beiden handelt es (QE)“ „Wunder erleben“ zu können und Frieden, Glück und Er- sich um Bestsellerautoren der letzten Jahre, die neben diesen Pu- füllung zu fnden. Seine Methode sei sanft und entspannend in

12 der Anwendung, sie benötige lediglich eine „subtile Veränderung tional die Einschätzung einer Situation erlaube und einen gewis- der Wahrnehmung“ (S.11). Mittels Abkehr der Gedanken von sen Handlungsimpuls nahe legt). In diesem „wahren“, auch „hö- äußeren Eindrücken sollten wir uns auf unser reines Gewahrsein her“ genannten Selbst liegt Mohrs wie Kinslows Gottesbegrif. einstimmen. Diese Bewusstheit unseres Selbst, jenseits der ma- Dieser wahre Teil in uns verbinde uns mit dem Universum, in teriellen Verhaftung der Welt durch das eigene Ego, führe uns ihm trügen wir Gott in uns bzw. seien selbst göttlich, es sei unser zur Erleuchtung und erzeuge automatisch Glücksgefühle. Damit „Gottselbst“ (Mohr S.87, 99, 111). Im Selbst seien wir grenzenlos lässt sich der Alltag zwar nicht verändern, aber bedeutend leich- und ewig, da wir durch das selbst mit der „impliziten Ordnung“, ter durchleben. Kinslow geht es ebenso wie Mohr weniger um also der kosmischen Göttlichkeit und damit mit der Vollkom- eine Veränderung der äußeren Realität, sondern in der Haupt- menheit verbunden seien. „Indem sie ihr Selbst entdecken, (...) sache um eine Verbesserung der eigenen Gefühlslage. Heilung erfahren Sie Gott. Ihr Selbst als Gott (S.86).1 im Sinne medizinischer Veränderung könne QE nicht bewirken, aber das Leiden an den vorhandenen Zuständen könnte beendet 1 Mohr ist sich zunächst nicht sicher, ob die universelle Energie, die werden, womit, wie Kinslow es ausdrückt „alle Probleme“ besei- göttliche Schöpferkraft, außerhalb des Menschen liege oder in ihm. Sie tigt wären (S.227). fndet schließlich ebenfalls zur Synthese, indem sie es eine „Einheit“ Kinslow vertritt seine Tesen mit der Attitüde vollkommener nennt. In dem Moment, indem wir uns bewusstseinsmäßig in unse- Gewissheit. Das „Selbst“, eine angeblich übernatürliche Instanz rem wahren Selbst befänden, sei man selbst und Gott „eins“. In diesem im Menschen, das er zum Dreh- und Angelpunkt seiner psycho- Moment könne man über die gesamte Schöpferkraft des Universums logischen Ausführungen macht, sei eine naturwissenschaftlich verfügen (S.99). „Inzwischen bin ich drauf gekommen, was es bedeutet, bewiesene Tatsache. Es sei durch die Quantenphysik identifziert dass der göttliche Wille und meiner eins sind. Es bedeutet (...), dass worden (S.59). Gott sich meinem Willen beugt.“ (S.99) Hier schießt Mohr über das esoterisch als Common sense vertretene

Ziel hinaus. Für ihre Anpreisung esoterischer Weisheiten zum Zwecke Das „Selbst“ als goldenes Kalb der esoterischen Psychologie zugespitzter egomanischer Ziele erhielt sie denn auch harsche Kritik Mohr benennt als Kernpunkt ihrer esoterischen Unterweisung aus esoterischen Kreisen, bis hin zur Behauptung, ihr Tod durch Krebs die Psyche des Einzelnen und den vermeintlich „richtigen“ Um- (2010) sei in diesem falsch verstandenen esoterischen Weg zu suchen. gang damit, den es auf esoterischen Pfaden zu erlernen gelte. Die Ihre Beweggründe seien „niemals spiritueller Natur gewesen“, sondern Psyche eines jeden von uns bestünde aus zwei Elementen. Eines verfolgten das Ziel , „sich selbst irgendwelche eigenen Wünsche zu er- davon sei authentisch, echt und göttlich. Sie nennt es das „wah- füllen“ (Zeiten Schrift, S.56f). Üblicherweise wird eine austaxierte Ba- re Selbst“. Das andere Element der Psyche sei problembehaftet, lance vertreten zwischen der Unterwürfgkeit unter kosmisch göttliche materiell, der Außenwelt verpfichtet, korrumpiert. Sie nennt es Gesetze und der daraus ermöglichten Meisterung weltlicher Anforde- rungen. („Unterstelle dich den kosmischen Gesetzen“ und erhebe dich, das „niedere Ego“ (S.99). Das „niedere Ego“ bilde sich im zwi- mache dich so zum „Meister“ über die Gesetze der materiellen Welt). schenmenschlichen Zusammenleben heraus. Wir seien täglich Die drastische Selbstermächtigung „Gott beugt sich meinem Willen“ mit dem Erwartungsdruck anderer konfrontiert, den wir zu er- entspricht nicht dem üblichen esoterischen Verhältnis von Selbster- füllen versuchten, und vergäßen dabei unsere eigenen Wünsche mächtigung versus Unterstellen des eigenen Willens unter den Willen (S.208). Wir interagierten in Folge dessen nicht mehr frei, unge- des Kosmos. Wobei dieses Verhältnis generell eines ist, dass zwischen zwungen und lustvoll entsprechend unserer unmittelbaren Be- totaler Unterwerfung (Erkenne, dass die kosmischen Gesetzmäßigkei- fndlichkeit, sondern reagierten vornehmlich nach eingespielten ten gut sind und unterstelle dich ihnen freiwillig) und Allmachtsphan- Mustern, deren Grundlage die Angst sei (S.99). tasien mäandert. Ebenso ist nach Kinslow die Bewusstwerdung unseres „Selbst“ Esoterisch bewegte Menschen fühlen sich zumeist als Elite der Umwelt, als Vorboten einer neuen Zeit (des New-Age bzw. Wassermann-Zeital- die „Grundlage für ein produktives, erfolgreiches und freudvol- ters) und behaupten etwa, durch ihre Hände fössen heilende Energien, les Leben und der Kern, um den Quantum Entrainment kreist“ die andere von schweren Krankheiten bis hin zu Krebs kurieren könn- (S.65). Es sei unsere „Pficht“, dass Selbst zu erkennen. Das Selbst ten. Genauer nachgefragt sind es jedoch niemals sie selbst, die heilen, sei nicht wirklich verstehbar, sondern nur erfahrbar. Trotzdem sondern sie sind lediglich “das Gefäß“, durch das die kosmisch-göttli- bemüht Kinslow sich an einer Vielzahl von Beispielen, es näher che Heilerenergie wirke. Durch ihre Sonderstellung, quasi als „Medi- zu umreißen. Das Selbst wird als durch und durch positiver, mit um“ zwischen dem Kosmos und den Menschen zu frmieren und als Glück besetzter, ursprünglicher und bester Teil des Menschen Kanal für Wunder zu dienen, erhalten sie gefühlte Selbstüberhöhung beschrieben. Es sei die „Seele“, die „Lebenskraft“, ein „ursprüng- und Zugang zu übernatürlichen Kräften. liches Eu-Gefühl“ (Glücks-Gefühl). Es sei der Teil, in dem der Es mag sich drastisch anhören, jedoch ist die Logik dieser Selbststilisie- rung am ehesten vergleichbar mit dem „autoritären Charakter“ (Hork- Mensch „er selbst“ sei. Derzeit sei es überlagert von den Einfüs- heimer/Adorno), der an die unumstößliche, unumschränkte Weisheit sen des Ego-Ichs, das dem Spiel der Alltagswelt verhaftet, von und Allmacht des Führers glaubt, aber auf der anderen Seite (nach Meinungen anderer beeinfusst ist und uns am erfolgreichen und unten gerichtet) sich selbst als Erleuchteten ansieht, da ein Abglanz glücklichen Leben hindert. QE fußt auf der schrofen Gegen- der omnipotenten Macht durch ihn auf die niedere Umwelt einwirken überstellung dieser beiden Ich-Anteile, weshalb Kinslow mahnt: kann. „Wenn wir Quantum Entrainment praktizieren, werden wir uns In der Esoterik sind es in der Regel nicht die Menschen, welche Wun- schon bald ‚aufspalten“ (S.57). derheilungen oder ähnliches vollbringen können, sondern es ist die er- Das „Selbst“ solle hervorgekehrt und zum ausschlaggebenden reichte Einheit mit den Zielen des Kosmos, die ihnen Macht verleihe, Maßstab für das eigene Fühlen und Handeln erhoben werden die sie Siege und Triumphe feiern lässt. In so fern sehen es esoterische gläubige Menschen durchaus auch als eigene Leistung an, sich der (Mohr S.30). Im wahren Selbst fühlten wir uns glücklich, sicher, Macht des Kosmos und seiner vermeintlichen Gesetze so selbstlos zu frei von Angst. Kinslow benennt das Selbst als „die einzige Mani- unterstellen, dass sie durch den Pakt mit der Macht selbst zum Sieger festation (der Schöpfung), die völlig gefahrlos und zutiefst näh- über die Verhältnisse werden können. Bärbel Mohr überspitzt diese Lo- rend ist“ (S.64). Es sei durch „Intuition“ wahrnehmbar (betrefe gik in ihren Büchern, und trift damit trotzdem den Kern vieler esote- also etwas, das rational – noch – nicht benennbar ist, aber emo- risch ausgelebter Allmachtsphantasien.

13 Auch die Interviewten meiner Studie über esoterische Lebens- Entsteht dieses Bild in gesellschaftlichen Verhältnissen, deren führung sind als Lösung ihrer Probleme auf der Suche nach ih- zwischenmenschliche Beziehungen von Angst- und Ohnmacht- rem „eigentlichen Selbst“, wie sie es nennen. Sie machen darin gefühlen, Ausgrenzung und Entfremdung geprägt sind, so spie- authentische Gefühle aus, die sie in ihrem harten Streben, die geln sich im gesellschaftlich induzierten Selbstbild diese perma- täglichen Rollenanforderungen zu erfüllen, unterdrückten und nente Unsicherheit und Fremdheit wieder. Im Innern wird dieser sich schließlich unglücklich und sich selbst entfremdet fühlten. Ich-Anteil infolgedessen als negativ und bedrohlich empfunden, Die bewusste Hinwendung zu den eigenen Gefühlen und die als belastender Teil, in dem man sich selbst fremd fühlt. Dies Abkehr von äußeren Verhaltensanforderungen ist der Grund, sind sozialpsychologische Ursachen für das Gefühl, eine Instanz weshalb sich Esoteriker selbst als unangepasste Opponenten des eigenen Ich sei gesellschaftlich überformt, fremdbestimmt gegen den Druck der Welt fühlen, als Widerständler. Esoterik und unecht. bedeutet für die befragten Menschen: „Befreiung. Also, schon Ebenso wird in modernen Gesellschaften von der unverbrüchli- das Gefühl, jetzt irgendwie, mit meinem Gefühl nicht ganz auf- chen Individualität und inneren Freiheit eines jeden Menschen ’m Holzweg zu sein.“ Die eigenen Gefühle und Sichtweisen, die ausgegangen. Ein individueller Kern wird unterstellt, mit dem im „eigentlichen Selbst“ verortet werden, werden hervorgekehrt, Menschen fähig zu eigener Meinungsbildung, Persönlichkeits- und gesellschaftlich überformte Anteile des eigenen Ichs abge- entwicklung und Einzigartigkeit seien. Oft wird dieser Kern des lehnt. Für einen anderen Interviewten bedeutet Esoterik heraus- Menschen als „Seele“ bezeichnet und damit letztgültig, weil me- zufnden, „wer man eigentlich selber ist. Selbstfndung. Und dass taphysisch abgesichert. man vor allen Dingen die Fremdeinfüsse mal los wird.“ Esoterik Die Herausbildung eines inneren Selbstbildes, dass den hier skiz- sei „der Weg, sich mit dem eigenen Innenleben zu beschäftigen zierten Anforderungen genügt, ist keine leichte. Doch haben wir mit dem Ziel, sich von den Spuren und übernommenen Bedeu- sie in modernen Gesellschaften alle zu leisten. Eines der huma- tungen dieser gesellschaftlichen Welt zu befreien.“ nistischsten philosophischen Konzepte zur Selbsterkenntnis hat Ob die esoterische Berufung auf diese vermeintliche Innerlich- in diesem Zusammenhang Foucault (auf Grundlage des altgrie- keit hält, was sie verspricht, sei im Folgenden untersucht. chischen Philosophen Sokrates) entwickelt. Er sprach von der Notwendigkeit der „Selbstsorge“, mit der jeder Mensch seinen Das psychische Dilemma des modernen Menschen als individuellen Kern herausarbeiten sollte. Dies könne nur in der Grundlage esoterischer Lebenshilfe Auseinandersetzung mit seiner gesellschaftlichen Gewordenheit Mit dieser Aufteilung der Psyche des Menschen in zwei Teile gelingen. Es geht um eine sorgsame Auseinanderdiferenzierung – einem „authentischen“ inneren versus einem von außen beein- dessen, was uns aufgrund gesellschaftlicher Rollenzuschreibung fussten, aufoktroyierten – ist die esoterische Menschenkunde zukommt und dessen, was wir Kraft unserer eigenen Sichtweisen der gängigen etablierten Psychologie noch recht nahe. Auch die- als Individualität davon absetzen. Der Weg zur Erkenntnis des se vertritt seit ihrem Bestehen die Teorie, dass einander ent- eigenen Selbst, der „Seele“ und der gesellschaftlich geformten gegengesetzte Zentrifugalkräfte auf die Psyche des Menschen Seite in uns verlaufe über einen Prozess des „Wahr-Sprechens“. einwirken, und der Einzelne die Leistung der Selbstregulierung Jeder solle sich darin üben, die Wahrheit über seine eigene, rein vollbringen müsse, die Antriebskräfte in eine ausbalancierte persönliche Befndlichkeit und sein Bestreben zu sprechen, um Identität münden zu lassen. So etwa Freuds Konzept, indem das seine Individualität herauszubilden. Davon abgetrennt sollte je- „Es“ (innere archaischen Triebe) gegen das „Ich“ (übernommene der Mensch seine Seite als „zoon politikon“, als gesellschaftliches gesellschaftliche Verhaltenserwartungen) kämpfe. Spätere sozial- Wesen begreifen. Ein Jeder solle die Abhängigkeit der eigenen wissenschaftliche Schulen diferenzierten dies aus, wie etwa der Existenz, des eigenen Gewordensein durch den Platz, an den Symbolische Interaktionismus nach G.H. Mead. Dieser sprach man geboren ist, entschlüsseln und eine gesellschaftliche Re- von einem inneren „Ich“, eigenen Antrieben und ausformulier- fexionsfähigkeit herausbilden. Diese solle schließlich zum poli- ten Wünschen, das im Spannungsfeld zum gesellschaftlich ge- tischen Handeln mit Blick auf alle führen. Nur durch die sorgsa- formten „Selbst“ stünde, das die Erwartungen der Gesellschaft me Herausdiferenzierung des privaten Teils des Menschen und an die eigene Person, an die eigene Rolle permanent taxiert und eines refektierten gesellschaftlichen Anteils der eigenen Person neu justiert. sei der Mensch fähig, als demokratischer Bürger zu leben (vgl. Das Entstehen einer inneren Instanz, die die eigene Person stän- Böhme, S.51f.). dig anhand der Erwartungen der äußeren Gesellschaft über- Die esoterische Lebenshilfe dreht sich um die Schwierigkeit, mit prüft, sich selbst in der jeweils angenommenen Rolle (Schüler, diesen Ansprüchen an die innere Selbststrukturierung des mo- Arbeitnehmer etc.) verortet ist in der modernen Gesellschaft zur dernen Menschen zurechtzukommen. Dabei überspitzt sie die unausweichlichen Aufgabe der Individuen geworden. Die ver- beiden Anteile des Menschen und setzt sie diametral einander bindliche Einschätzung und selbstdisziplinierte Erfüllung der gegenüber, anstatt ihre gegenseitige Bedingtheit anzuerkennen. eigenen Rolle ist in einer vertraglich organisierten demokrati- schen Gesellschaft der freien Bürger zu einer existentiellen Frage Esoterische Lösungswege geworden, die über Teilnahme oder Ausschluss aus dem gesell- Die Übung des „Wahrheit-Sprechen“, sich über sich selbst klar schaftlichen Leben entscheidet. Deshalb sind Probleme wie die werden, führt auch Mohr in „Der kosmische Bestellservice“ zu der Anerkennung durch Dritte, die Bedeutung der Meinung an- Beginn ihres Buches als philosophischen Einstieg an. (S.28) derer über die eigene Person, heutzutage in einem anderen Maße Wahrheit sprechen lernen über die eigene Befndlichkeit, biogra- von Bedeutung, als dies z.B. in historischen Gesellschaften mit fsche Verletzungen, Wünsche und Hofnungen – diese thera- fest zugewiesenen Plätzen durch einen Gewaltherrscher war. Die peutische Leistung kann sich esoterische Lebenshilfe durchaus Herausbildung einer psychischen Instanz, die das wahrgenom- anheften. In vielerlei Techniken geht es darum, lange unter- mene Bild der anderen über mich in mein Selbstbild einfügt, ist drückte Ängste und Träume vor Dritten (im geschützten Rah- in der modernen Gesellschaft von zentraler Notwendigkeit. men esoterischer Zirkel) aussprechen zu lernen. Es kostet Mut,

14 dies zu tun, gerade auch für Menschen, die in ihrem bisherigen daran hindern, dies zu erkennen. Die Einsicht in die kosmische Leben wenig Chancen hatten, neben Pfichterfüllung auch eigene Berechtigung aller weltlichen Erscheinungen beruhige hingegen Vorstellungen ofen artikulieren und ausleben zu können. unsere Seele (S.72). Im Folgenden wird dieser vermeintlich ureigene Teil des eigenen So schaft es esoterische Selbsthilfe, dass die Dinge, die den Ein- Ich als feststehende Größe verabsolutiert und zur einzig wahr- zelnen vorher Leiden verursachten, bedingungslos akzeptiert wer- haftigen Instanz des Menschen erhoben. Kinslow nennt ihn den den und ihnen eine neue Sinnhaftigkeit unterstellt wird. „Völlige „Tron“ des Menschen, den wir verloren haben und den es zurück- Akzeptanz bringt sie dahin, wo das Schwert des Leidens sie nicht zugewinnen gelte, um reich und glücklich zu leben (S.89). trefen kann (Kinslow, S.86). Esoterik dient in diesem Sinne der Hierin schließt Esoterik an die übermäßigen Anforderungen an, modernen Herausforderung an den Arbeitnehmer: Bereitwillig mit denen ein innerer, privater Antrieb heute von den Einzelnen jede gestellte Aufgabe anzunehmen, sie authentisch mit Sinn auf- für den Arbeitsalltag gefordert wird. Die Veränderung der Arbeits- zuladen und gesellschaftlichen Nutzen oder Schaden des eigenen welt hat eine Vielzahl von Berufsbildern hervorgebracht, in denen Tuns nicht weiter zu überdenken. es nicht mehr genügt, Dienst nach Vorschrift zu tun. Gefragt sind Für die meisten Menschen ist das Leben in den vergangenen Jah- heute Menschentypen, die ihre Kreativität, ihre innere Motiva- ren immer weniger planbar geworden. Befristete Arbeitsverträge, tion, ihre Eigenheiten bewusst einbringen und selbstmotiviert die erzwungene Ortswechsel, die Neuorientierung in der eigenen Bio- vorgegebenen Zielvorgaben erreichen. Die Mobilisierung innerer grafe erfordern, sind Teil des Alltags. Die Welt bietet uns weni- Antriebskräfte, der persönliche Bezug zum Arbeitsprojekt, sind ger feste, vorgefügte Lebensentwürfe, als vielmehr eine Fülle von gefordert. Gleichzeitig wird den Einzelnen immer weniger fester Optionen, unter denen wir trotz schwer absehbarer Konsequenzen Boden geboten, auf dem sie ihre inneren Anschauungen reifen las- entscheiden müssen. sen können. Es wird allseitige Flexibilität gefordert, sich auf heute Um nicht dem Gefühl von Verunsicherung und Ohnmacht über das, morgen jenes Projekt „ganz authentisch“ einzulassen und sich den eigenen Lebensweg zu erliegen, stellt die Esoterik Techniken selbst permanent neu zu erfnden. Das um sich greifende Krank- bereit, solch beständig abverlangte Entscheidungen mit einer gro- heitsbild des Burn-outs ist Folge dieser Strapazen. Das Selbst, so ßen Portion Gewissheit als richtigen, eigenen Weg akzeptieren zu der französische Soziologe Alain Ehrenberg, sei durch diese perma- können und sich dadurch nicht als Spielball fremder Kräfte, son- nente Anforderung erschöpft und ziehe sich in Depression zurück. dern als „an seinem richtigen Platz im Leben eingebunden“ zu füh- Mit Esoterik erhalten die von der gestiegenen Anforderung, ihr len. Ein Student, den ich im Rahmen der Studie über esoterische Inneres zu vermarkten geplagten Mitmenschen nun eine Selbsthil- Lebensführung interviewte, beschrieb ausführlich seine Verunsi- fetechnik an die Hand, um diese gefragte „authentische“ menschli- cherung zur Zeit seines Studienbeginnes. Der anstehende Orts- che Antriebskraft des „Selbst“ zu polieren und erhalten. Das Selbst wechsel für einen Studienplatz machte ihm zu schafen, da er auf muss im esoterischen Kontext nicht mühsam hergestellt werden, es die deutschlandweit zentrale Vergabe der Studienplätze angewiesen ist einfach da, als Geschenk des Kosmos. Und es soll dazu einge- war und sein zukünftiges Leben spontan und fexibel auf die ange- setzt werden, das tägliche Leben zu meistern. botenen Möglichkeiten umstellen musste. Dass er sich schließlich Die Anforderungen des Alltags werden durch die Esoteriker zwar in einer Stadt und an einer Universität wiederfand, in der er sich als belastend empfunden, erhalten aber in der esoterischen Metae- am richtigen Platz fühlte, erklärt er damit, dass seine esoterische rzählung eine neue Sinnunterlegung, durch die sie bereitwilliger Praxis ihm dazu nützte, seinen Lebensweg in „die richtigen Bah- angenommen werden können. Das übernatürlich-göttliche Selbst, nen“ zu bringen. Er geht davon aus, dass er über sein „eigentliches mit dem der Mensch in dieses materielle Leben eingetreten sei, Selbst“ Kontakt zu den impliziten Ordnungen des Kosmos habe. habe in Wahrheit das individuelle Leben des betrefenden Men- Diese verhülfen dazu, dass sein Leben gelingen würden. Er denkt, schen für ihn speziell kreiert, um darin zu spielen (Kinslow, S.64). dass Mohr greift auf den esoterischen Grundsatz von Karma und Rein- karnation zurück, wonach wir uns innerhalb unseres Erdenlebens „unsere Interaktionen mit der Welt, nicht nur auf dieser phy- lediglich in einem „Spiel“ befänden, dass vorgeburtlich von uns sischen Ebene laufen, sondern dass es ’ne astrale oder spirituelle selbst ausgesucht sei, um unsere Seele durch die Erfahrungen zu oder Sonst-was-Ebene gibt. (...) Wir sind nicht nur die physische vervollkommnen (S.63, S.180). Dementsprechend sei es „egal“, Struktur, sondern es gibt auch noch ’ne Art energetische Struktur welche Erfahrung man durchlaufe, wie das reale Leben eingerich- mit höherem Schwingungsgrad (...). Und wenn ich mit den ener- tet sei, da jegliche Erfahrung zur Entwicklung der Seele beitrage. getischen Ebenen arbeite und da was gerichtet wird, werden meine Auch vermeintlich schlechte, unmoralische Dinge seien ein Teil Bahnen und Bewegungen in dieser Welt wieder ’n Stück (...) zu- des großen Ganzen und nach esoterischer Sicht gleichwertig mit recht gerückt.“ ethisch guten Handlungen. So konstatiert Mohr, das man auch ein Bordell eröfnen könne (S.104), ohne sich dabei schlecht fühlen zu Dadurch ergebe sich der selbe Efekt, von dem auch Bärbel Mohr müssen. Jegliche Anforderung kann angenommen werden, denn sprach: Das Glück, „dass ich zur rechten Zeit am rechten Ort bin“. die Tätigkeit muss fürderhin nicht mehr in ihrem gesellschaftli- (Barth, S.238) Es handelt sich im Fall des interviewten Studenten chen Zusammenhang nach ethisch gut oder richtig bewertet wer- um eine nachträgliche Ausdeutung seines Lebensweges, die ihm den. Esoterik entkleidet alle gesellschaftlichen Zustände ihrer all- suggeriert, sein guter Kontakt zu einer höheren Macht habe da- gemeingültigen Bedeutung und suggeriert, sie hätten einzig und für gesorgt, dass es ihm trotz unsicherer Verhältnisse gut ergangen alleine einen personalisierten Sinn für das Individuum: Sich daran sei. Ebenso prophezeit Kinslow seinen Lesern, dass sie mit seiner karmisch zu verwirklichen, gleich, worum es sich handele. Kinslow Methode für sich selbst immer das optimale herausholen könnten. versucht, moralische Skrupel zu zerstreuen, indem er alle Ereig- nisse, gut oder böse, als Teil der Vollkommenheit des Universums „Wie werden sie handeln, wenn Sie Ihres Selbst gewahr sind? (...) einordnet, gegen die der Einzelne sich nicht aufzubäumen habe. Sie werden – und das ist der Knüller – spontan richtig handeln. Ja, Lediglich unsere eingeschränkte weltliche Sichtweise würde uns Sie können nichts mehr falsch machen“! (S.67)

15 Die Begründung liegt darin, dass wir über unser Selbst mit der Glück zu kümmern. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ (S.217) Göttlichkeit verbunden seien. Harmonisierten wir uns mit den und solle mit den Erwartungen an das Glück, dass er durch die Gesetzen des göttlichen Universums, so entstünde eine Reso- Methode der „kosmischen Bestellservice“ erhalten kann, nicht nanz, die dafür sorge, dass unser Leben gelinge. Gleiches steckt kleinlich sein (S.199). So, wie das „eigene Wohlbefnden (...) der im Wort „Entrainment“, das Kinslow seiner Methode als Titel allein ausschlaggebende Maßstab“ beim Bestellvorgang mit dem gab. Entrainment bedeutet die Synchronisation innerer Vor- Universum sein sollte (S.195), so erhielten wir vom Universum gänge mit externen Einfussfaktoren, also die Harmonisierung als Zeichen, dass es unseren eingeschlagenen Weg für „richtig“ unseres Inneren mit der sogenannten impliziten Ordnung des befnde, ein Wohlgefühl in unser Leben gesendet (S.205). Es Kosmos. ist ein einfacher Zirkelschluss: Die Bestätigung dafür, dass der Wie gut ein Mensch die spirituelle Meisterschaft der Einheit esoterische Weg richtig ist, zeigt sich darin, dass unser Leben mit dem Kosmos beherrsche ist laut Mohr daran erkennbar, wie gelingt. „Das Maß der Wirksamkeit ist das Maß der Wahrheit!“ gut sein Leben funktioniere. Ziel ist es, dass „sich deine innere „Hauptsache, es hilft.“ (S.92) Kurzfristig wirksam sind eine Verfassung klar erkennbar in einer reibungslos funktionierenden Menge Techniken. Das „Maß der Wirksamkeit“ gibt keinen äußeren Wirklichkeit widerspiegelt“ (S.40). Besser kann der Ef- Aufschluss über die zugrundeliegenden Fehlannahmen einer fekt der Anpassung an das Bestehende durch esoterische Lebens- Technik, geschweige denn über langfristige schädigende Auswir- ratgeber kaum ausgedrückt werden (– obwohl doch seitens der kungen. Wenn wie im esoterischen Menschenbild, die Wirksam- Esoteriker vordergründig beständig mit einer Abkehr von gesell- keit sich daran misst, dass sich „innere Verfassung klar erkennbar schaftlichem Erwartungsdruck argumentiert wurde). in einer reibungslos funktionierenden äußeren Wirklichkeit wi- derspiegelt“ (S.40), so bedeutet dies, dass es sich um eine Technik Fazit handelt, in der es um Anpassung und Optimierung der eigenen Ein bewusstes, planend-gestaltendes Eingreifen und Verändern Innerlichkeit an die Anforderungen der Umwelt geht. Der Preis der Welt als Wesen der polis, also in Absprache und Aushand- dafür ist ein hoher. Es ist die Selbstaufgabe eines Teils im Indivi- lung mit anderen gesellschaftlichen Mitbürgern, kommt in der duum, das den Menschen zum gesellschaftlich verantwortlichen, esoterischen Selbstdefnition nicht mehr zum tragen. Esoterische zum demokratischen Menschen macht. Es ist die Preisgabe sich Selbstsuche hat nichts zu tun mit der oben zitierten Selbstsorge, selbst als gesellschaftliches Subjekt und die Bereitstellung der also der bewussten Herausbildung beider Teile des demokrati- Innerlichkeit zum Ausverkauf auf dem Markt gesellschaftlicher schen Ichs. Es geht um eine Negierung des gesellschaftlichen Verwertbarkeit. Anteils. Das authentische Selbst, die Seele, wird hingegen als einzig Wahres gesetzt. In ihr soll schließlich auch die Verbin- Literatur dung zum großen Kosmos, damit zur All-Einheit mit jedem und Barth, Claudia: Die Suche nach dem Selbst. Sozialpsychologi- allem erreichbar sein. Diese ermögliche in esoterischem Denken sche Studien zu einer Form moderner Religiosität; transcript nicht die Veränderung der Welt, aber die positive Gestaltung Bielefeld 2012 des eigenen Lebensweges durch hilfreiche Informationen aus der Böhme, Gernot: Der Typ Sokrates; Suhrkamp; Frankfurt a.M. großen „impliziten Ordnung“. „Ganz klar, das Universum kann 1988 sich nichts Besseres vorstellen, als dass DU ganz persönlich so Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesell- glücklich wirst, dass dich kein Problem der Welt mehr schrecken schaft in der Gegenwart; Suhrkamp; Frankfurt a.M. 2008 kann“ (Mohr, S.197). Die große Veränderung der Welt zum Bes- Kinslow, Frank: Quantenheilung erleben. Wie die Methode seren käme ganz von selbst, wenn jeder nur nach seinem persön- konkret funktioniert – in jeder Situation; VAK Verlags GmbH; lichen Seelenheil strebe. Kirchzarten bei Freiburg 2010 Bärbel Mohr legt besonderen Wert auf die Macht positiver Ge- Mohr, Bärbel: Der kosmische Bestellservice. Eine Anleitung zur danken und darauf, Glücksgefühle als wichtigen Marker für spi- Reaktivierung von Wundern; Omega-Verlag; Düsseldorf 1999 rituelles Bewusstsein hervorzuheben. Dadurch, dass man nur an Zeiten Schrift 2011/2; Nr.69; S.56f: Seiler, Ursula: Wenn Be- das Schöne und Erstrebenswerte denke und alles Negative aus stellungen beim Universum zum Bumerang werden; http:// seinen Gedanken entferne, könne die Realität schneller in die www.zeitenschrift.com/artikel/baerbel-mohr-wenn-bestellun- gewünschte Weise zurechtgerückt werden. Das Nachdenken, gar gen-beim-universum-zum-bumerang-werden#.Us3e6PutFck Zweifeln, sollten Menschen sich abgewöhnen. Laut Mohr „zer- (08.01.2014) stört Zweifel jede Energie“ die geeignet sei, spirituelle Wohltaten zu erhalten (S.41). Nur an das denken, was man selbst erreichen möchte, ohne dabei nach rechts und links zu sehen. „Die Welt gehört denen, die nicht nach links oder rechts denken, sondern Claudia Barth (München) hat am 22. Februar 2013 in Bremen nach vorn“, so wirbt derzeit auch die Tageszeitung „Die Welt“ zum Tema „Über alles in der Welt – Esoterik und Leitkultur. für sich und bestätigt damit den gesellschaftlichen Trend, ge- Einführung in die Kritik der Esoterik“ referiert. Siehe: https:// sellschaftlich etablierte politische Denktraditionen ungeprüft associazione.wordpress.com/2012/12/10/claudia-barth-mun- zu ignorieren und stattdessen durch zielorientiertes Verhalten chen-uber-alles-in-der-welt-esoterik-und-leitkultur-einfuh- im Alleingang die Welt erobern zu wollen. Der Austausch mit rung-in-die-kritik-der-esoterik/ anderen, Kritik und Diskussion gehören nicht zum Konzept Wir danken der Autorin und der Evangelischen Zentralstelle für der Esoterik. „Es ist nicht meine Aufgabe, den Lebensweg an- Weltanschauungsfragen für die Erlaubnis zum Nachdruck. derer Menschen zu kritisieren oder zu beurteilen. Meine Aufga- be ist es nur, meinen Weg zu erkennen.“ (Mohr, S.108). Es geht hierbei weniger darum, andere nicht abzuurteilen, sondern um Mohrs beständige Auforderung, sich zuforderst um sein eigenes

16 Peter Bierl Der braune Geist der Waldorfpädagogik - Vom rassistischen und elitären Charakter der Anthroposophie

In der Öfentlichkeit ist Anthroposophie durch biologisch-dy- Anthroposophen fest, auch wenn sie von Kulturen und Kultur- namische Lebensmittel von Demeter oder Kosmetika von We- epochen sprechen und den Begrif Rasse vermeiden.3 leda, Wala und Hauschka bekannt. Die Waldorfschule wird in Wie Steiners Lehre immer noch auf aktuelle Ereignisse ange- der grün orientierten akademischen Mittel- und Oberschicht wandt wird, zeigen zwei Beiträge in der Zeitschrift , als Alternative zur öfentlichen Schule geschätzt, weil es viel gewissermaßen dem Zentralorgan der Anthroposophischen Zeit für musische Fächer und weniger Stress gibt.1 Anthropo- Bewegung. Unmittelbar nach dem Erdbeben, dem Tsunami, sophen werben damit, dass Schauspieler, Künstler, Wirtschafts- und der Atomkatastrophe von Fukushima, schrieb ein Autor, führer und Politiker, oder deren Kindern Waldorfschulen be- es handele sich um „dreifache ahrimanische Kräfte“, also Dä- sucht haben. Darunter fnden sich die Sprösslinge von Silvio monen, denen die Menschen ausgesetzt würden. Er wertete die Berlusconi, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher oder von Katastrophe als Folge des „Gesamt-Menschheits-Karma“. Die Monika Hohlmaier, Strauß-Tochter und ehemalige bayerische Opfer seien „über die Schwelle zur geistigen Welt gegangen“. Für Kultusministerin. Nicht erwähnt werden in der Regel Ulrike sie gelte, was Steiner über Menschen sagte, die durch Naturka- Meinhof oder Sigmund Rascher, der als Arzt im KZ Dachau tastrophen umgekommen sind, dass „dadurch die Erinnerung an grausame Menschenversuche veranstaltete. alles dasjenige gestärkt wird, was in ihrem Karma enthalten ist“. Die Anthroposophie ist eine Subkultur mit Unternehmen, ei- Die Opfer von Tsunami und GAU büßen, weil das Karmakonto ner Bank (GLS), Altenheimen, Einrichtungen für Behinderte, der Menschheit und insbesondere Japans nach anthroposophi- Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Auch im politischen scher Buchhaltung rote Zahlen aufweist. Bereich sind Anthroposophen aktiv: Sie waren ein Gründungs- zweig der Grünen, sind aktiv in der Umweltbewegung, kämpfen „Japan ist das einzige Land, in dem Atomwafen abgeworfen gegen Stuttgart 21 und für Volksentscheide und wollen die Bil- werden. Dasselbe Volk ist jetzt `ziviler´ radioaktiver Strahlung dung privatisieren. Die Debatte um ein Grundeinkommen wird ausgesetzt. Das ist das Schicksal Japans. Die materialistische maßgeblich von dem Anthroposophen Götz Werner, Gründer Einstellung des Landes verursacht diese Situation. Was wir er- und Aufsichtsrat der Drogeriemarktkette DM, geprägt. Werner leben, ist ein apokalyptisches Ereignis, das zugleich ein Zeichen will einen staatlich subventionierten Niedriglohnsektor etablie- zur Verstärkung der Bewusstseinsseele bedeutet“, ren, ausdrücklich Arbeitskosten und Steuern für das deutsche Kapital senken, um die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt heißt es in dem Artikel weiter.4 Japaner gelten in Steiners Anth- zu steigern, aber dafür die Mehrwertsteuer auf fünfzig Prozent roposophie als dekadente Mongolen, die nicht kreativ und spi- erhöhen, um das Grundeinkommen zu fnanzieren.2 rituell nicht entwicklungsfähig sind. Insbesondere mangelt es Weniger bekannt ist die Weltanschauung, die alle diese Projekte ihnen an einer „Bewusstseinsseele“, die gemäß der Wurzelras- fundiert. Ihr Begründer (1861-1925) predigte den senlehre von den Mitteleuropäern entwickelt werden muss. Glauben an Karma und Reinkarnation, Engel und Dämonen. Der zweite Text greift diesen Aspekt auf und verbindet eine alt- Seine Anhänger glauben, dass er ein Hellseher war, der mit hö- backene Völker- und Rassenpsychologie mit Anthroposophie. heren Mächten im Bunde stand und Millionen Jahre in die Ver- Der Autor beschreibt einen japanischen Volkscharakter folgen- gangenheit und in die Zukunft blicken konnte. dermaßen: „Nach außen scheu und zart wie die Reispfanze, Das Motto „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ fndet nach innen unberechenbar feurig wie ein Vulkan.“ Eine Renais- sich bei Steiner in einer esoterischen Variante. Er verkündete, sance im europäischen Sinne habe es in Japan nicht gegeben, dass die Deutschen in der Gegenwart und in den kommenden darum könnten die Japaner nicht selbständig denken, sondern rund 1500 Jahren spirituell führend seien, weil sie „am Geist nur den westlichen Materialismus kopieren.5 schafen“ und den Rest der Menschheit damit beglücken. Alle anderen Menschen difamierte er als Angehörige von dekaden- ten oder kindlich-naiven Rassen. Die Juden galten Steiner als 3 Es gibt keine menschlichen Rassen, selbst moderne Biologen und Genetiker lehnen den Rassenbegrif als falsch ab. Diese Einteilung ist erstarrt und entwicklungsunfähig, weil sie Jesus Christus nicht selbst schon rassistisch, ein ideologisches Konstrukt, das auf den eu- als Messias akzeptieren. An dieser Geschichtsaufassung halten ropäischen Kolonialismus sowie Verfechter der Sklaverei zurückgeht. Aus Gründen der Lesbarkeit wird in diesem Text darauf verzichtet, sich jeweils sprachlich oder durch das Schriftbild vom Rassenbegrif zu dis- 1 Weltweit gibt es über tausend Waldorfschulen und fast dreimal so tanzieren, wenn anthroposophische Texte zitiert oder wiedergegeben viele Kindergärten (Henning Kullak-Ublick, Der gesellschaftliche Auf- werden. trag der Waldorfschulen, Erziehungskunst, Heft 5, 2014, S.5). 4 Yuji Agematsu, Große Prüfung Japans. Die Schwarze Welle, Das 2 Götz W. Werner, Benediktus Hardorp, Bedingungsloses Grun- Goetheanum, Heft 11/12, März 2011, S.1f. deinkommen, Reihe Gesundheit aktiv, Anthroposophische Heilkunst 5 Daniel Moreau, Kontextualisierung: Gefährliche Gegensätze, Das e.V., Heft 10, Bad Liebenzell 2006, S.5f. Goetheanum, Heft 11/12, März 2011, S.3f. Eine Haltung fndet sich

17 Die Autoren knüpfen direkt an Steiner an. In einem Vortrag Wissenschaft beruht aber nicht auf Hellsehererei und Medita- 1920 in Stuttgart hatte dieser Asiaten als „senil und greisenhaft“ tion, sondern darauf, dass ihre Ergebnisse intersubjektiv nach- bezeichnet, sie könnten nicht selbständig denken.6 Zum Beweis prüfbar sind. Entsprechende Vorschläge sind Steiner schon zu erzählte er drei Jahre später eine Anekdote über Japaner, die angeb- Lebzeiten gemacht worden, er hat stets abgelehnt. lich ohne englische Ingenieure mit einem Dampfer nur im Kreis Zu den Früchten von Steiners Geheimwissenschaft zählt die Vor- fahren würden. „Die Japaner werden daher alle europäischen Er- stellung, dass in jedem Menschen ein göttlicher Funke steckt, fndungen ausbilden; aber selbst etwas ausdenken, das werden die der schuldhaft mit der Materie verstrickt ist. Der Ausgangs- Japaner nicht“, behauptete Steiner.7 punkt der Anthroposophie ist nicht originell, sondern fndet sich Beide Artikel vom März 2011 zeigen, wie akut der spezifsche in vielen Varianten der Esoterik und geht auf antike gnostische anthroposophische Rassismus bis heute ist. Etwas anderes ist von Vorstellungen zurück: Demnach ist der Mensch vom Göttlichen Menschen kaum zu erwarten, die sich gegen Refexion und Kri- abgefallen, hat aber die Chance, in der Auseinandersetzung mit tik abschotten, wenn sie die Hellsehereien eines Guru akzeptieren der Materie die eigene göttliche Natur zu begreifen und spirituell und als Geisteswissenschaft verehren. erleuchtet zu werden. Denn im Gegensatz zu mancher Selbstdarstellung ist Anthropo- Diese Entwicklung fndet nach Steiner auf sieben Planeten statt, sophie keine Wissenschaft sondern eine religiöse Weltanschauung, die jeweils Reinkarnationen sind. Auf dem ersten Planeten, dem die der Esoterik zuzurechnen ist. Ihre okkulten Ideen prägen die Saturn, inkarnieren die göttlichen Funken in Minerale, auf der Waldorfpädagogik. Wenn Anthroposophen von Wissenschaft, Sonne, die als zweiter Planet gilt, fahren sie in Pfanzen, auf dem Freiheit oder kindergerechter Pädagogik sprechen, ist das für Mond werden sie zu Tieren und erst auf dem vierten Planeten, Nicht-Eingeweihte irreführend, weil sie diesen Begrifen einen der Erde, verkörpern sie sich in menschlicher Gestalt. Wer wäh- ganz anderen Inhalt zumessen. rend der unzähligen Reinkarnationen auf der Erde zu einem spi- Die okkult-esoterische Grundlage aller anthroposophischen Pro- rituell Erleuchteten, also einem Anthroposophen wird, der rein- jekte wird allzu selten unter die Lupe genommen. Im Folgenden karniert auf dem fünften Planeten, dem Jupiter, als Engel. Wer werfen wir deshalb einen Blick hinter die Fassade der heilen Welt sich dieser Erleuchtung verweigert, kehrt als Tiermensch wieder. der Steiner-Jünger. Eine zentrale Komponente der Anthroposophie ist die Lehre von Karma und Reinkarnation, die westliche Esoteriker im 19. Jahr- Inhalt und Selbstverständnis hundert aus dem Hinduismus und Buddhismus importierten. Steiner defniert Anthroposophie als „Geheimwissenschaft“ oder Karma meint ein universelles Gesetz, wonach das Leben jedes okkulte Wissenschaft, Menschen von seinen Handlungen in früheren Leben geprägt ist, ebenso wie die Taten in diesem Leben künftige Wiederver- „welche sich auf das in den Welterscheinungen für die gewöhnliche körperungen beeinfussen. Erkenntnisart Unofenbare, Geheime bezieht, eine Wissenschaft Steiner behauptete, die seelischen Anlagen, das körperliche Aus- von dem Geheimen, von dem ofenbaren Geheimnis.“8 sehen und Befnden, das Geschlecht und die soziale Position eines Menschen sowie sein Lebensweg seien durch das Karma Anthroposophie sei „eine wissenschaftliche Erforschung der geis- bestimmt. Er sprach von einem „Karmakonto“.11 Wer eine Lun- tigen Welt“, eine „Geisteswissenschaft“.9 Der Mann sprach von genentzündung bekommt, hat im früheren Leben ausschweifend einem „Geisterland“, von Seelenwanderung und höheren geisti- gelebt und müsse jetzt gegen Luzifer kämpfen, lehrte Steiner.12 gen Wesen. Ein „Geheimschüler“ kann durch Meditations- und Menschen mit „schwachem Ich-Gefühl“ würden sich bei der Konzentrationsübungen in Kontakt mit „höheren Welten“ treten, nächsten Inkarnation Gegenden aussuchen, in denen Cholera behauptete Steiner. Dabei müsse der Schüler von einem „Geheim- auftritt, um ihr Selbstgefühl an „derbsten Widerständen“ zu lehrer“ angeleitet werden. Steiner forderte Demut, Unterwerfung kräftigen. Dagegen würden Menschen mit starkem Selbstgefühl und Hingabe, nur so könne der Novize die ewigen Gesetze des in der kommenden Erdenrunde Regionen bevorzugen, in denen Geisterlandes erfahren.10 Auf der siebten Stufe der Erleuchtung er- die Malaria grassiert.13 langt der Geheimschüler die Fähigkeit des Hellsehens („geistiges Nach anthroposophischer Lehre ist der Mensch durch sein Kar- Schauen“). Er begegnet den beiden „Hütern der Schwelle“ - einer ma sowie den kosmisch vorgegebenen Lauf der Welt vollständig sieht wie ein Monster aus und verkörpert die karmische Schuld, determiniert. Seine Freiheit, ein zentraler Begrif der Anthropo- der andere ist eine Lichtgestalt und fordert den jungen Eingeweih- sophie, der sich in vielen Namensgebungen ausdrückt (Freie ten auf, an der Entwicklung der Menschheit mitzuarbeiten. Waldorfschule), beschränkt sich darauf, diese Zusammenhänge und seine göttliche Natur zu begreifen, sein Karma zu erkennen und daran zu arbeiten, um als höheres Wesen zu inkarnieren und gegenüber China (Gerd Weidenhausen, Das Reich als Abbild des Him- an der Überwindung der Materie durch den Geist mitzuwirken. mels, in: Die Drei, Heft 6, 2005, S.6f., S.10; Johannes W. Schneider, Dabei wird der Mensch einerseits von Dämonen, von Ahriman China hat eine alte Kultur – hat es auch eine Zukunft, in: Die Drei, und Luzifer, in Versuchung geführt, andererseits von guten Geis- Heft 6, 2005, S.44, S.49). tern, Götterboten, Engeln und spirituellen Führern geleitet. 6 Rudolf Steiner, Gegensätze in der Menschheitsentwicklung, GA 197, Luzifer verkörpert den Intellektualismus und Ahriman den S.164. Materialismus. Insofern gehört Anthroposophie zu den kultur- 7 Steiner, Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des konservativen und pessimistischen Strömungen des fn de siécle. Christentums, GA 349, S.59. 8 Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, Dornach 1962, S.35 9 Steiner, Geheimwissenschaft, S.46. 11 Steiner, Vorträge 1907, GA 100, S.90. 10 Steiner, Wie erlangt man die Erkenntnisse der höheren Welten, Dor- 12 Steiner, Die Ofenbarungen des Karma, GA 120, S.87. nach 1961, S.19, S.21, S.36. 13 Steiner, GA 120, S.80f..

18 Steiner sah in der Elektrizität eine ahrimanische Kraft, weswegen So beschreibt die ehemalige Waldorfschülerin Charlotte Rudolph elektronische Musik oder Instrumente wie die E-Gitarre verpönt wie ihr im Sozialkundeunterricht die Marxsche Teorie auf der sind, ebenso anfangs der Computer. Steiner prophezeite einen Grundlage der Karmalehre erklärt wurde. Demnach hat Karl Angrif der dämonischen Mächte kurz vor der Jahrtausendwen- Marx im frühen Mittelalter als Adeliger und Raubritter in Nord- de.14 frankreich gelebt.18 Als er einmal von einem Kriegszug heim- Nach anthroposophischem Verständnis war Steiner, der als rein- kehrte, hatte ein anderer seine Burg besetzt. Der Usurpator war karnierter Aristoteles gilt, der einzige Mensch, der diese Zusam- stärker, er hatte mehr Krieger um sich, deshalb unterwarf sich menhänge begrif. Seine Lehre sei der einzige Weg zum Heil und Marx und diente fortan „wie ein Leibeigener“ auf seinem früheren zur Erlösung. Seine Anhänger, so lehrte Steiner, seien eine auser- Besitz. Marx hasste den neuen Herrn und entwickelte eine „dem wählte Schar, die unterstützt von den Engeln und Erzengeln unter Herrschaftsprinzip abträgliche Gesinnung“. Aber die Expropria- Führung Michaels gegen die Mächte der Finsternis kämpft und tion des Expropriateurs blieb ein Wunschtraum. Die Geschichte die spirituelle Entwicklung der Menschheit vorantreibt. Dieses hatte karmische Folgen: Im neunzehnten Jahrhundert erschien Selbstverständnis schmeichelt dem Ego der Gläubigen, zugleich der, der seine Burg verloren hatte und zu einem Diener degradiert drückt sich darin schon der elitäre Charakter dieser Lehre aus. worden war, als Karl Marx wieder, und der andere, der ihm die Burg abgenommen hatte, als sein Freund Friedrich Engels. Grundlagen der Waldorfpädagogik Bekanntlich arbeitete Engels in der Fabrik seines Vaters in Man- Anthroposophie bestimmt die Konzeption der Waldorfschule. Sie chester. Er klagte über den „hündischen Kommerz“, dem er aus- wird den Kindern und Jugendlichen aber nicht direkt gelehrt. Sie geliefert sei, trug damit aber zum Unterhalt der Familie Marx in soll vom Waldorfehrer wie eine Nahrung verdaut und in eine London bei, so dass Marx am „Kapital“ arbeiten konnte. Nach Kraft verwandelt werden, die in den Unterricht einfießt.15 anthroposophischer Ansicht haben beide damit ihr Soll und Ha- Dennoch können keine generalisierenden Aussagen über die Pra- ben auf dem Karmakonto ausgeglichen. xis in den Schulen gemacht werden. Erstens hängt der Unterricht Diese Phantasie-Story, die Rudolph als echt vorgestellt bekam, vom jeweiligen Lehrer und die Atmosphäre an jeder Schule vom stammt von Steiner selbst. Es gibt selbstverständlich keine Quel- jeweiligen Lehrerkollegium ab. Nicht alle Waldorfehrer sind len, auf die sich solcher Nonsens stützen könnte. Anthroposophen, vor allem seit dieser Schultyp in Deutschland Es gibt eine Reihe von Märchen, Fabeln und Sagen mit denen stark expandiert. Die Steiner-Schulen nehmen auch Pädagogen Waldorfpädagogen ihre religiöse Sicht in Schulen und Kindergär- von staatlichen Universitäten oder Menschen mit ganz ande- ten vermitteln, etwa die Fabel von der Maus, die von der Katze ren berufichen Erfahrungen. Sie bekommen in Seminaren das gefressen werden muss, um zum Mäusegeist in den Himmel zu Nötigste an Ideologie und Methode vermittelt. Zweitens gibt es kommen und wiedergeboren zu werden.19 bisher keine unabhängige empirische Studie über den Waldorf- Die Geschichten von Marx und den Mäusen illustrieren, wie unterricht und seine Wirkung. Es gibt lediglich eine Unzahl von Anthroposophie in die Waldorfpädagogik einfießen kann. Die positiven Selbstdarstellungen von anthroposophischer Seite. Lehre von Karma und Reinkarnation wird mit solchen Geschich- Die gern zitierte Studie von Heiner Barz und Dirk Randoll ten subtil vermittelt. Die Methode ist zugleich hinterhältig und (2007) schließt diese Forschungslücke nicht, weil sie sich auf das manipulativ, wenn die Doktrin, die dahinter steht, nicht als sol- Bildungsniveau und den Lebensweg ehemaliger Waldorfschüler che nachvollziehbar und zur Diskussion gestellt wird. konzentriert. Herausgekommen ist bei der Befragung von über Zugleich gilt diese Lehre als „Grundlage allen wahrhaften Er- 1100 früheren Schülern, dass die meisten mangelnde Kenntnisse ziehens“, wie Stefan Leber (1997), ein führender Funktionär der in Fremdsprachen, Naturwissenschaften und Rechtschreibung Waldorfbewegung, erklärte.20 Waldorfpädagogik geht aus einem beklagen. Das anthroposophische Weltbild scheint an den meis- ten abgeperlt zu sein.16 Zweifelhaft ist, ob man diese Studie als „durch geisteswissenschaftliche Forschung gewonnenen Men- unabhängig bezeichnen kann. Randoll ist Professor an der anth- schenbild hervor, für das Reinkarnation und Karma geistige Er- roposophischen Alanus-Hochschule, im wissenschaftlichen Bei- fahrungstatsachen sind, nicht aber Glaubensartikel oder Resulta- rat saßen führende Vertreter der Waldorfbewegung.17 te visisonsartiger Schauungen“, schrieb Valentin Wember (2004). Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht deshalb nicht Darum sei „die gesamte Waldorfpädagogik in ihrem Kern auf die Praxis, sondern die Konzeption der Waldorfpädagogik. Ich einem Menschenbild (aufgebaut), für das Karma und Reinkarna- stütze mich dabei auf Waldorfiteratur, insbesondere die Zeit- tion zentrale Tatsachen sind“.21 schrift Erziehungskunst, die vom Bund der Freie Waldorfschulen herausgegeben wird und angeblich in einer Aufage von 70.000 Exemplaren erscheint. Zur Illustration zitiere ich aus kritischen 18 Charlotte Rudolph, Waldorf-Erziehung – Wege zur Versteinerung, vierte Aufage, Darmstadt 1988, S.187; Steiner, Esoterische Betrach- Arbeiten von ehemaligen Schülern, Eltern und Lehrern. Sie schil- tung karmischer Zusammenhänge, Band 2, GA 236, S.20f. dern ihre Erfahrungen, die man als Einzelfälle deuten kann, die 19 Irene Johanson, Ihr dürft auf eurer Wanderung den unsterblichen aber auch Folgen eines bestimmten pädagogischen Konzepts sind. Wald erleben, Stuttgart 1986. 20 Stefan Leber, Reinkarnation und Karma – Grundlage allen wahrhaften Erziehens, in: Heinz Zimmermann, Hrsg., Reinkarnation 14 Frank Berger u.a., Ahriman. Profl einer Weltmacht, zweite Aufage, und Karma in der Erziehung, Dornach 1998, S.9. In einem Nachruf Stuttgart 1997, S.16f., S.178f. über Leber, der im Februar 2015 starb heißt es, „er prägte die Waldorf- 15 Dieter Centmayer, Waldorfschule ohne Steiner? Erziehungskunst, schulbewegung zwischen den 1970er Jahren bis über die Jahrtausend- Nr.10, 2007, S.1142f. schwelle wie kein Zweiter“ (http://www.erziehungskunst.de/nach- 16 Heiner Barz, Dirk Randoll, Absolventen von Waldorfschulen. Eine richten/inland/stefan-leber-gestorben/, Abfrage 5.6.2015). empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung, Wiesbaden 2007. 21 Valentin Wember, Reinkarnation und Pädagogik, Erziehungskunst 17 Barz, Randoll, 2007, S.21. 2004, S.402f.

19 Über frühere Erdenleben anderer zu spekulieren gilt unter Anth- Für jedes Temperament gibt es spezielle Erzähl- und Darstel- roposophen als taktlos und als Eindringen in die Privatsphäre, ist lungsweisen, bestimmte Übungen. Sogar die vier Grundrechen- gleichwohl sehr beliebt und für Waldorfehrer gibt es eine Aus- arten gelten als temperamentspezifsch: Addieren sei dem Phleg- nahme. Ihnen ist „behutsames Spekulieren“ erlaubt.22 Ansatz- matischen verwandt, Subtrahieren dem Melancholischen. Stei- punkt ist der Glaube, dass der Körper eines Kindes von Kräften ner riet, der Lehrer solle sich Cholerikern gegenüber nie eine geformt werde, die auf frühere Erdenleben zurückgehen. Wer Blöße geben und vor Phlegmatikern ab und zu kräftig mit dem in einem früheren Leben gelogen habe, dessen Leib sei in der Schlüsselbund auf das Pult hauen, damit sie aufwachen. Ein wei- nächsten Verkörperung davon geprägt, die Individualität werde terer Tipp lautete: „Melancholiker behandeln mit Biographien als geistig Behinderter wieder geboren. „Jetzt kann der Mensch großer Persönlichkeiten.“28 Caroline von Heydebrand (1896- die Wahrheit nicht mehr richtig erfassen, er wird schwachsin- 1938), eine Pionierin der Waldorfschule, rät, das melancholische nig“, schreibt Wember.23 Dieser Zusammenhang sei „eine spiri- Kind nie kalt abzuwaschen, ihm Salat und leichtes Gemüse zu tuelle Gesetzmäßigkeit, die der Geistesforscher Rudolf Steiner geben, der Choleriker solle Holz hacken, Nägel einschlagen und entdeckt hat“.24 Steine schleppen und einem Phlegmatiker dürfe man morgens Der Erzieher solle sich vorstellen, dass er derjenige war, der nicht erlauben, „sich aus reiner Genußsucht noch lange in den im früheren Leben belogen wurde. Er müsse dem behinderten warmen Federn halb schlafend und dösend zu räkeln“. Der San- Kind verzeihen und ihm die „Wahrheiten des geistigen Lebens“ guiniker brauche Abwechslung.29 beibringen. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Waldorfschu- Welches Temperament einen Menschen prägt, ist karmisch be- le eine „Schicksalsgemeinschaft“, weil das Karma jeden Lehrer stimmt. Steiner behauptete, der Melancholiker war im vorigen oder Schüler in eine bestimmte Einrichtung gebracht hat.25 Der Leben allein, während der Choleriker viel erlebt hat. Wer ein an- Erzieher arbeitet auch karmische Schuld von Kindern ab.26 genehmes und oberfächliches Leben führt, wird beim nächsten Nach antiker Vorstellung entsprachen den vier Elementen Erde, Erdenaufenthalt Phlegmatiker oder Sanguiniker.30 Feuer, Luft und Wasser vier Temperamente des menschlichen Weil Waldorfehrer im Regelfall keine großen Eingeweihten sind Wesens. Anthroposophen glauben, jedes Individuum würde von und nicht Hellsehen können, wird auf Phrenologie und Physio- einem Temperament dominiert. Der Choleriker ist demnach gnomik zurückgegrifen, um Charakter und Reinkarnationen feurig und willensstark, der Sanguiniker lebhaft, zutraulich und von Kindern zu bestimmen. Die Schädel- und Gesichtsdeutung unruhig, der Melancholiker scheu und schwermütig, ein kleiner entstand Ende des 18. Jahrhunderts als Mittel der neuen Wis- Egoist und Eigenbrödler, der Phlegmatiker behäbig, träumt mit senschaft Anthropologie. Sie verband empirische Methoden mit ofenem Mund und zieht möglichst bald das Pausebrot aus dem subjektiven ästhetischen Kriterien, die aus Schönheitsidealen des Schulranzen. Jedes Temperament gilt als spezifsche Form des antiken Griechenland abgeleitet wurden, zu scheinbar objekti- Egozentrischen, der Mensch müsse lernen, sein Temperament zu ven wissenschaftlichen Urteilen über Charakter und Wesen eines beherrschen, statt von ihm unterdrückt zu werden.27 Menschen. Die Absicht war, Menschen in verschiedene Rassen Der Klassenlehrer bestimmt das Temperament eines Kindes sowie höher- und minderwertige Wesen einzuteilen. Die Natio- und verfügt danach die Sitzordnung: links vor ihm sitzen die nalsozialisten grifen auf diese Technik gerne zurück. Phlegmatiker, dann die Melancholiker und die Sanguiniker und Um 1900 war die Phrenologie enorm populär. Ihre Anhänger rechts die Choleriker. Kinder des gleichen Temperaments wer- glaubten, genetische Wertigkeit, rassische Zugehörigkeit, Cha- den zusammengesetzt, damit sie sich „spiegeln“ und die Tempe- rakter und Eigenschaften eines Menschen nach dessen Äußerem ramente gleichsam abschleifen. Die gleiche Funktion hat die Re- bestimmen zu können. Der Gerichtsmediziner Cesare Lombro- gel, Phlegmatiker-Choleriker sowie Melancholiker-Sanguiniker so behauptete, eine bestimmte Schädelform oder zusammenge- „polarisch“ gegenüber zu setzen. wachsene Augenbrauen würden auf einen Gewalttäter schließen lassen. Steiner grif diese Lehre auf und sagte einmal über einen Waldorfschüler, man könne an ihm eine „ausgesprochene Anlage 22 Wember, S.407. zum Verbrechertypus“ ausmachen, der Junge könne Schriftfäl- 23 Wember, S.407. scher werden.31 24 Wember, S.407. Phrenologie und Physiognomik sind längst widerlegt, was Anth- 25 Johannes Kiersch spricht davon, dass sich Studenten der Waldorf- roposophen nicht stört. Sie glauben, Choleriker hätten einen pädagogik „in der geistigen Welt vor der Geburt verabredet haben“ und kurzen Hals und kurze Beine, Sanguiniker seien zart und wohl- ihre Ausbildung als „karmische Gruppe“ absolvieren (Kiersch, „Wir proportioniert, Melancholiker hoch gewachsen, schmal, hager leben in einer Phase der Umstülpung“, in: Novalis, Nr.11/1998, S.44). und mit vorgebeugter Körperhaltung, Phlegmatiker rund und

26 Erich Gabert, Die Strafe in der Selbsterziehung und in der Erzie- wohlgenährt.32 Der Kopf eines Kindes gilt als „Ofenbarung von hung des Kindes, 9. Aufage, Stuttgart 1985, S.117. 27 Caroline von Heydebrand, Die Temperamente und ihre Behand- lung, Erziehungskunst, Heft 4, 1948, S.255f.; Heft 5, 1948, S.316f.; 28 Gabert, Verzeichnis der Äusserungen Rudolf Steiners über den Ge- Hildegart Gebert, Begabung, Auslese und soziale Gemeinschaft, Er- schichts-Unterricht, Stuttgart 1969, Aufage 1989, S.51. ziehungskunst, Heft 3, 1948, S.199; Adolf Baumann, Wörterbuch der 29 Heydebrand, 1948, S.255f., S.316f. Anthroposophie, Bern 1986, S.201; Norbert Glas, Das Antlitz ofen- 30 Ernst-Michael Kranich, Menschenerkenntnis unter dem Gesichts- bart den Menschen, Band 2, Die Temperamente, vierte Aufage, Stutt- punkt von Reinkarnation, in: Zimmermann, 1998, S.45f. gart 1990; Martina Kayser, Paul-Albert Wagemann, Wie frei ist die Waldorfschule. Geschichte und Praxis einer pädagogischen Utopie, 31 Steiner, Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule München 1996, S.18f.; Wember, 2004, S.405; Bernd Kalwitz, Das 1919-1924, Band 1, GA 300/1, S.151. großköpfge und das kleinköpfge Kind, Erziehungskunst, Heft 1, 32 Heydebrand, 1948, S.255f., S.316f., Gebert, 1948, S.199, Glas, 2005, S.39f.; Helmut Eller, Die vier Temperamente. Anregungen für 1990, Baumann, 1986, S.201; Kayser, Wagemann, 1996, S.18f.; Wem- die Pädagogik, dritte Aufage, Stuttgart 2007. ber, 2004, S.405.

20 Ich und Seele“, in dessen Form sich dessen „inneres Wesen aus „Gift für die Seele“. Erst zwischen dem 14. und 21 Lebensjahr, dem vergangenen Erdenleben“ ausdrücke.33 auf der Tierstufe, dürfen Jugendliche denken, aber mit Herz und Der anthroposophische Klassiker zu Phrenologie und Physiog- Gemüt. Denn Intellektualismus lehnte Steiner als „entartet“ ab. nomik war der Arzt Norbert Glas (1897-1986), der beschrieb, Als richtige Menschen gelten Jugendliche erst mit 21 Jahren. wie das Gesicht die Temperamente, die Füße den Willen, die Dann dürfen sie selbständig sein, eine Individualität entwickeln Ohren den Charakter und die Hände den ganzen Menschen ent- und an Sex denken, ginge es nach Steiner. hüllen. Musiker, Maler und Priester haben laut Glas große Na- Neben der sichtbaren gibt es laut Steiner eine unsichtbare Welt, sen, Feldherren, Boxer und geschickte Metzger eine ausgeprägte erfüllt von unsichtbaren Wesen. Über dem Menschen stünden Mund-Kinn-Partie.34 Sein achtbändiges Werk über Physiogno- Engel und Erzengel, Volks- und Rassengeister und Dämonen wie mik wurde von 1961 bis 1994 mehrfach aufgelegt. Wie viele Ahriman und Luzifer. Dazu gibt es Elementarwesen, unsichtba- Waldorfpädagogen seine abstrusen Schemata benutzt haben, um re Naturgeister, die uns überall umgeben.37 Es gibt Wasserwesen, Kinder zu sortieren, ist nicht bekannt. Feuerwesen, Luftwesen, Gnome, mittelgroße Elementarwesen Eine weitere Komponente sind die sieben bzw. neun Wesensglie- als „feißige Arbeiter“ und Faune als leitende Ober-Elementarwe- der aus denen nach anthroposophischer Lehre der Mensch be- sen, die jeden Baum umschwirren. Noch weiter oben in der Hie- steht und die sich im Rhythmus von sieben Jahren entfalten. Ge- rarchie sitzen regionale Baumwesen und über allen thront Pan, boren wird nur der physische Leib, mit dem siebten Lebensjahr der König der Naturwesen, heißt in Erziehungskunst im April kommt der Ätherleib hinzu, ein feinstofiches Gebilde, das etwa 2011 in einem Heft, dessen Schwerpunkt den Elementarwesen für die Temperamente zuständig ist. Zum 14. Lebensjahr bringt gewidmet ist. Auch in Wohnungen sitzen demnach Elementar- ein Astralleib das Bewusstsein und erst mit dem 21. Lebensjahr wesen wie Zwerge, als Leitung aller Geister einer Wohnung fun- entwickelt sich das Ich. Erst damit hat sich der göttliche Funke giert ein Wohnungswesen.38 komplett reinkarniert. Das Ich wiederum splittet sich in Empfn- Laut Steiner handelt es sich um „verzauberte Wesen“, die in die dungs-, eine Verstandes- und eine Bewusstseinsseele. Dazu gibt Natur gebannt sind, weil sie sich für den Menschen und den es ein Geistselbst, einen Lebensgeist und einen Geistesmensch, Fortgang der Evolution opfern. Ein Mensch, der achtsam gegen- das sind Wesensglieder, die in grauer Vorzeit, als die Menschen über der Natur sei, würde von den Elementarwesen wahrgenom- noch Kontakt zu höheren Wesen hatten, automatisch entstan- men und belebt, behauptete er. Wenn ein Mensch die Außenwelt den. Heute bilden sich diese Wesensglieder nur durch spirituelle geistig betrachte und verarbeite, nicht intellektuell und materia- Betätigung aus und werden in der sechsten und siebten Kulture- listisch, wenn er feißig und zufrieden sei, helfe er die Elemen- poche wieder bei allen Menschen anzutrefen sein.35 tarwesen zu erlösen. Unter diesem Aspekt seien in der Pädago- Die Ausprägung einzelner Seelenglieder ist die Mission be- gik die Hausaufgaben aber auch Fleiß und Strebsamkeit, Pficht stimmter Völker oder Unterrassen. Die Ägypter entwickeln die und Engagement zu sehen, heißt es in der zitierten Ausgabe der Empfndungs-, die Griechen und Römer die Verstandes- und die Erziehungskunst. Wenn in Waldorfkindergärten und Schulen Germanen/Deutschen die Bewusstseinsseele.36 Jedes Individu- gebastelt, geflzt und gemalt wird, geht es also keineswegs bloß um muss diese Entwicklung wiederholen. Diese Idee geht auf um Kreativität und handwerkliches Geschick, sondern auch dar- den Zoologen Ernst Haeckel zurück, der behauptete, dass jedes um, die Stimmung der Elementarwesen zu trefen, damit sie sich Lebewesen in seiner Entwicklung (Ontogenese) vom frühesten wohlfühlen und erlöst werden.39 Embryonalstadium an die Stammesgeschichte der Arten (Phy- Wenn es in Selbstdarstellungen heißt, die Waldorfpädagogik sei logenese) wiederhole. In der strikten Haeckelschen Version gilt „kindgerecht“ und individuell, so bezieht sich das auf solche ok- diese „biogenetische Grundregel“ heute als überholt. kult-religiösen Schablonen, in die Kinder sortiert werden: Wel- Steiner übernahm dessen Aufassung und führte sie in die ches Karma haben sie, welche Reinkarnation haben sie durch- Waldorfpädagogik ein. Demnach wiederholt ein Kind bis zum lebt, welches Temperament dominiert? Der Glaube an Karma siebten Lebensjahr die Mineral-Stufe auf den Saturn und ist ein und Reinkarnation, Temperamente und Phrenologie, Zahlen- ausschließlich nachahmendes Wesen. Zwar machen kleine Kin- magie und Geisterglaube ergibt die anthroposophische „Men- der vieles nach, was Erwachsene tun, sie haben aber sehr wohl schenkunde“, auf der die gesamte Waldorfpädagogik basiert. einen eigenen Willen, eigene Wünsche und Vorstellungen, was Diese Menschenkunde „bietet die Gewähr, daß ein einheitliches jedoch in der Waldorfpädagogik als Symptom für eine fehlerhaf- Element die verschiedenen Lehrerpersönlichkeiten verbindet te Entwicklung gilt. Ein Kind, das einen eigenen Willen zeige, und zu einer verantwortungsvollen Führung der Schule verei- in dem es Nutella zum Frühstück verlange, wird in der Zeit- nigt.“ Sie gilt als Erkenntnis und „moralische Gesinnung“ und schrift Erziehungskunst (2007) als Wesen mit verfrühtem Ego für Lehrer als ein „Mittel der Selbsterziehung“, ihr sind alle geschmäht. Zwischen dem siebten und 14. Lebensjahr, auf der Waldorfschulen verpfichtet. Die „Treue zur erkannten Wahr- Pfanzenstufe, sollen Kinder ihren Lehrer als selbstverständliche heit verbindet die Lehrerkonferenz zur Schicksals- und Lebens- Autorität akzeptieren, der die Temperamente ausgleicht. Kriti- gemeinschaft“, erklärte Heinz Zimmermann (1989), Leiter der sches Denken in diesem Lebensabschnitt bezeichnete Steiner als Pädagogischen Sektion am Goetheanum. Der Lehrer soll in diesem Sinn „Repräsentant des freien Geisteslebens“ sein, also

33 Kranich, 1998, S.30, S.41. 34 Glas, Das Antlitz ofenbart den Menschen, Bd.1, sechste Aufage, Stuttgart 1992, S.18f., S.32f.; 37 Baumann, 1986, S.63f. 35 Baumann, 1986, S.274f. 38 Tomas Mayer, Ohne Elementarwesen läuft nichts, Erziehung- 36 Steiner, Teosophie, GA 9; Die Geheimwissenschaft im Umriss, GA skunst, April 2011, S.14f. 13, Geisteswissenschaftliche Menschenkunde, GA 107; Der Mensch 39 Michael Birnthaler, Elementarwesen brauchen Menschen, Erzie- im Lichte von Okkultismus, Teosophie und Philosophie, GA 137. hungskunst, April 2011, S.5f.

21 idealerweise Anthroposoph.40 Die Waldorfschule wird ausdrück- mistisch und verbreite sich deshalb bevorzugt in „ausgedörrten lich als „Weltanschauungsschule“ verstanden, die ohne den Be- Wüstenregionen“.46 Der Asiate sei dekadent, ein cholerischer zug auf die Anthroposophie verwässern würde.41 Mongole oder ein phlegmatischer Malaie.47 Der Japaner läche- le immer und unergründlich, dahinter verberge sich mitleidlose Die Wurzelrassen und die Mission der Deutschen Härte. Er lebt angeblich in leichten Holzhäusern mit Strohdä- In den Niederlanden protestierte 1994 eine Frau, weil ihr Kind chern, heißt es in einem Buch aus dem Jahr 1960, was bereits in der Waldorfschule von Zutphen lernte, „Neger haben dicke damals ziemlicher Quatsch gewesen ist.48 Lippen und viel Gefühl für Rhythmik“ und „das immerwäh- Solche Skandale werden von Anthroposophen als Einzelfälle ab- rende Lächeln des gelben Menschen verbirgt seine Emotionen“. getan. Sie sind aber keine Zufälle, so wenig wie das Coming out In einem Schulheft aus dem Fach „Rassenkunde“, das es damals von Holocaustleugnern wie Bernhard Schaub (1993) oder Nazi- noch an niederländischen Waldorfschulen gab, fand sie eine Ein- funktionären wie Andreas Molau (2004) unter den Waldorfeh- teilung der Menschheit, wonach eine schwarze Rasse kindlich, rern. Sie sind vielmehr die Spitze des Eisberges, das Ergebnis einer eine gelbe Rasse heranwachsend, eine weiße Rasse erwachsen Doktrin, die Steiner verkündet hat. und eine rote Rasse veraltert und vergreist sei. Der Mutter wurde Als Kind und später als Student in Wien bewegte sich Steiner in von der Waldorfschule vorgeworfen, sie habe Steiner nicht richtig einem nationalistisch-antisemitischen Milieu, arbeitete für eine verstanden. Eine Reaktion, die wir aus den Debatten hierzulande deutschnationale Zeitschrift und verfasste antisemitische und kennen. Die Frau ließ sich nicht beirren und nicht einschüchtern nationalistische Texte. Er war überzeugt von einer besonderen und informierte die Presse. Mission der Deutschen und ihrer kulturellen Überlegenheit ge- Das ARD-Magazin Report berichtete im Sommer 2000 über das genüber den Slawen. Er war Anhänger der deutschen idealisti- Buch „Atlantis und die Rätsel der Eiszeitkunst“ von Ernst Uehli schen Philosophie, insbesondere des Nationalisten und Antise- (1875-1959), einem Waldorfehrer und engen Mitarbeiter Stei- miten Johann Gottlieb Fichte, er verehrte Friedrich Nietzsche, ners. Uehli schrieb darin: „Der Keim zum Genie ist der arischen den Propagandisten des Herrenmenschentums, sowie den Ras- Rasse bereits in ihre atlantische Wiege gelegt worden.“ Dagegen sisten Ernst Haeckel. Allerdings lehnte Steiner damals Esoterik sei „der heutige Neger“ kindlich und ein „nachahmendes We- als „Gehirnerweichung“ noch strikt ab. sen geblieben“, während der „heutige aussterbende Indianer“ im Mit seiner Wende zur Esoterik um 1901 übernahm Steiner die Denken „greisenhaft“ sei.42 Das Buch wurde 1936 publiziert und Lehre von den Wurzelrassen von Helena P. Blavatsky, der Be- war in der unveränderten Neuaufage von 1980 in der Broschüre gründerin der Teosophie, und verbreitete diese als Ergebnis ei- „Literaturangaben für die Arbeit des Klassenlehrers in einer Frei- gener Hellsichtigkeit. Sie gab seinen Vorurteilen eine verquere en Waldorfschule“ enthalten, die die Pädagogischen Forschungs- aber systematische Basis. stelle des Bundes der Freien Waldorfschulen 1998 veröfentlicht So behauptete Steiner, dass auf dem Planeten Erde nacheinander hatte. Dieses Heft enthält eine Übersicht über die Literatur, „die sieben Wurzelrassen mit je sieben Unterrassen auftreten. Viele bei der Vorbereitung der Hauptunterrichtsepochen der Klassen dieser Rassen hätten in bestimmten Epochen bestimmte Aufga- 1-8 herangezogen werden kann“.43 ben zu erfüllen. Ist ihre Mission erfüllt, würden ihre Nachkom- Die Literaturliste enthält fast ausschließlich anthroposophische men entwicklungsunfähig und dekadent, wie etwa Franzosen Werke, keine seriösen Fachbücher etwa zu Sprachen, Mathe- und Italiener, weil das Zeitalter der Romanen als vierter arischer matik oder Geschichte. In Dutzenden von Büchern fnden sich Unterrasse nach seiner Berechnung 1415 endete. Ihre Nachfolger nationalistische, rassistische und antisemitische Stereotypen: seien die Germanen bzw. die Deutschen als fünfte arische Un- Der Italiener sei heiter und impulsiv und lüge aus Höfichkeit, terrasse. Ihre Aufgabe ist im Steinerschen Weltenplan bis 3573 der Brite wäre kühl und materialistisch.44 Der Araber sei hart, das göttliche Ich im Menschen wieder zu entdecken und die Re- leidenschaftlich, kalt und berechnend.45 Der Islam gilt extre- Spiritualisierung einzuleiten. Slawen gelten als unreife Wesen, die der Belehrung durch die kul- turell höher stehenden Deutschen bedürfen. Diese Vorstellung 40 Zimmermann, Individuelle Selbsterziehung kollegialer Schul- hatte Steiner schon als deutschnationaler Student in der Donau- führung, in: Anthroposophische Pädagogik, Dritte Welt-Lehrertagung monarchie. Ihre Nachkommen werden einst von den Deutschen am Goetheanum, Ostern 1989, Beilage Das Goetheanum, Nr.11, März die Stafette der spirituellen Missionen übernehmen, verkündete 1989, S.6f. er als Anthroposoph. Sergej Prokofef, von 2001 bis 2013 einer 41 Centmayer, 2007, S.1142; Richard Landl, Waldorfschule – ein En- von fünf Vorständen der internationalen Anthroposophischen twicklungsprozess über 12 Jahre?, in: Erziehungskunst, Heft 10, 2007, S.1102; Sebastian Gronbach, Warum Spiritualität jetzt eine Chance Gesellschaft, hielt die Russen für prädestiniert, in der sechsten hat. Waldorfschulen sind mehr als Reform-Schulen, in: Info 3, Info- Kulturepoche die spirituelle Führung zu übernehmen, weil in 49 seiten Anthroposophie, Herbst 2007, S.5 . ihren Adern dank der Normannen germanisches Blut fieße. 42 Ernst Uehli, Atlantis und die Rätsel der Eiszeitkunst, zweite Au- fage, Stuttgart 1956, S.60. 43 Ursula Kilthau, Literaturangaben für die Arbeit des Klassenlehrers 46 Christoph Göpfert, Landschaften und Menschen in anderen Erd- an einer Freien Waldorfschule, herausgegeben von der Pädagogischen teilen: Asien. Geographie in der siebten Klasse, in: Helmut Neufer, Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart, Hrsg., Zum Unterricht des Klassenlehrers an der Waldorfschule. Ein 1998, S.5. Kompendium, Stuttgart 1997, S.712. 44 , Vom Genius Europas, Wesensbilder von zwölf eu- 47 Göpfert, 1997, S.715. ropäischen Völkern, Ländern, Sprachen. Skizze einer anthroposophis- 48 Niederhäuser, 1960, S.113, S.121. chen Völkerpsychologie, Band 1, Stuttgart 1963, S.64, S.411. 49 Sergej Prokofef, Die geistigen Quellen Osteuropas und die Mys- 45 Hans Rudolf Niederhäuser, Fremde Länder, fremde Völker, Stutt- terien des Heiligen Gral, zweite verbesserte Aufage, Dornach 1995, gart 1960, S.166. S.39f., S.327f.

22 Im Kontext der NATO-Osterweiterung behaupteten Anthropo- ähnelt dem der Nationalsozialisten. Diferenzen gab es, weil sophen, damit wollten die USA das deutsche Mitteleuropa und viele Völkische das ebenso mystische Tule im Nordmeer als Russland entzweien und verhindern, dass die Deutschen ihre Heimat der Germanen ansahen. Mission an den Slawen erfüllen. Es gibt jedoch auch einen ernsthaften und fundamentalen Un- Antiamerikanismus drückt sich darin aus, dass die USA als terschied zwischen NS-Rassismus und anthroposophischen Hort eines kindischen Materialismus, als Geistkontinent, den Rassismus. Das Ziel der Nationalsozialisten ist, ideologisch Ahriman beherrscht, als Heimat einer fnsteren Saturnrasse ge- und praktisch, als minderwertig defnierte Rassen zu verskla- schmäht werden. Die USA gelten als künstliche, nicht organi- ven und zu vernichten. Das erklärte Ziel der Anthroposophie sche Nation und Gründung von Freimaurern. Das zeigt, wie tief ist die Höherentwicklung des Geistes. Dazu zählen auch jene Anthroposophen in der deutsch-völkischen Gedankenwelt ver- „göttlichen Funken“, die als Angehörige von als minderwer- sumpft sind, wonach ein richtiger Staat auf den gemeinsamen tig, dekadent oder erstarrt defnierten Rassen reinkarnieren, Blutsbanden eines Volkes basieren muss.50 Das geht soweit, dass weil sie sich nicht spirituell weiterentwickelt haben. Insofern den USA vorgeworfen wird, durch die Weltkriege den Geist Mit- ist anthroposophischer Rassismus karmische Entwicklungshil- teleuropas ausgeschaltet und dessen Mission blockiert zu haben. fe, faktisch Anmaßung und (kolonialistische) Bevormundung. Das ist die verschwurbelte esoterische Variante einer Rechtferti- Daraus erklären sich die (wenigen) Waldorf-Schulen in Re- gung der beiden Versuche Deutschlands, mit Gewalt und Terror servaten nordamerikanischer Ureinwohner, in Afrika oder die die Weltherrschaft zu erobern, die im rassistischen Eroberungs- Plantage Sekem in Ägypten, die von Anthroposophen gerne als und Vernichtungskrieg des Nationalsozialismus gipfelte.51 Ausweis eines Antirassismus verkauft werden. Japaner gelten wie Chinesen und Tibeter als Nachkommen der In Sekem müssen Kinder auf Feldern arbeiten und werden nach mongolischen sechsten Unterrasse der vierten atlantischen Wur- Waldorfprinzipien unterrichtet. In einem internen Lehrerrund- zelrasse. Sie leisten keinen positiven Beitrag zur Weltgeschichte brief (1997), der im Auftrag des Bundes der Waldorfschulen und gelten als dekadent und entwicklungsunfähig. Darauf spie- herausgegeben wurde, heißt es dazu, die Ägypter lebten ganz in len die eingangs zitierten Artikel über Fukushima an. der „Empfndungsseelenzeit“, wie fast alle Völker und Kulturen Günther Wachsmuth, jahrelang Generalsekretär der Allgemeinen im Sonnengürtel der Erde. Sie ließen sich treiben, lebten nicht Anthroposophischen Gesellschaft, der Zoologe Hermann Poppel- zielgerichtet, deswegen sei der Autoverkehr in Kairo chaotisch baum, Vorsitzender der deutschen Anthroposophischen Gesell- und überall sei es unglaublich dreckig. Im Unterschied dazu schaft bis 1935, später Vorstand der internationalen Organisation, sei es in Sekem ordentlich und sauber, es herrsche eine arbeit- sowie viele andere Anthroposophen und Waldorfpädagogen ha- same sinnerfüllte Atmosphäre. Der Verfasser führt dies darauf ben diese Rassenkunde übernommen und mit Liebe zum Detail zurück, dass die Führungsstruktur einer der Empfndungssee- ausgeschmückt. Wachsmuth (1953) fertigte Zeichnungen über le angemessenen „pharaonischen Hierarchie“ gleiche und die Atlantis und Lemuria, den Kontinent der dritten Wurzelrasse an. „meist europäischen Mitarbeiter die Verhältnisse aus der Be- Poppelbaum (1929) verknüpfte Phrenologie und Rassismus und wusstseinsseele heraus zielvoll führen.“53 bestimmte fünf „Hauptrassen“ und ihre Eigenschaften anhand Selten kommt die Herrenmenschenattitüde so unverblümt zum der Gesichtszüge „typischer“ Vertreter.52 Ausdruck, die sich hinter dem ätherischen Gutmenschentum Der sagenhafte Kontinent Atlantis spielt eine zentrale Rolle. Ob- verbirgt. Der anthroposophische Rassismus konserviert die wohl es sich um einen Mythos handelt und alle Lokalisierungs- kolonialistische Haltung seiner Entstehungszeit um 1900, als versuche gescheitert sind, glauben Anthroposophen an das Mär- Europäer bis weit hinein in die Sozialdemokratie behaupteten, chen von Steiner, dass auf Atlantis über zehntausende von Jahren die Aufteilung der Welt, ihre Beherrschung und Ausplünde- eine Hochkultur existierte. Hinweise auf Atlantis fnden sich rung, geschehe nur zum Wohle der „Wilden“ und „Barbaren“, immer wieder in der Waldorfschule. Als dieser Kontinent in den denen man die Segnungen der „Kulturvölker“ bringe. Das sei Fluten versank, sei eine Gruppe von Überlebenden nach Osten die „Bürde des weißen Mannes“ lautete das Schlagwort damals. bis zum Himalaya ausgewandert, behauptete Steiner. Von die- Besonders diskriminierend ist die Darstellung von Schwarzen. sen Migranten soll die fünfte arische Wurzelrasse abstammen, Steiner kennzeichnet Schwarze im Stil des Stammtisch-Rassis- die auf dem Weg zurück nach Westen sämtliche Hochkulturen mus als triebgesteuerte, infantile Wesen, was er damit erklärte, der alten Welt gründeten. Der Ariermythos der Anthroposophen dass sie die Sonne Afrikas in sich aufnähmen und von innen gekocht würden.54 Im Gegensatz dazu schrieb Steiner über die Weißen: „Die blonden Haare geben eigentlich Gescheitheit. 50 Lorenzo Ravagli, Gespaltenes Antlitz, in: Das Goetheanum, Nr.8, Geradeso wie sie wenig in das Auge hineinschicken, so bleiben 2008, S.5; Ralf Sonnenberg, Von Winnern und Losern, in: die Drei, sie im Gehirn mit ihren Nahrungssäften, geben sie ihrem Ge- Heft 8/9, 2006, S.5f.; Gerd Weidenhausen, America: Jekyll & Hyde? hirn die Gescheitheit.“55 Für Steiner stand jedenfalls fest: „Die Die selbstvergessene Kritik am „Neuen Imperium“, in: die Drei, Heft weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schafende 8/9, 2006, S.13f.; Ravagli, Die Gemeinschaft von Philadelphia. Ameri- Rasse.“56 kanische Mythen und Rudolf Steiners Amerika-Mythos, in: die Drei, Heft 8/9, 2006,, S.63f.; Ruth Ewertowski, Die amerikanische Zukunft. Spiritualität aus dem Materialismus, in: die Drei, Heft 8/9, 2006, S.105f. 53 Lehrerrundbrief Nr.61, November 1997, herausgegeben im Auftrag des Bundes der Freien Waldorfschulen e.V., S.60f. 51 Andreas Bracher, Te West. Die USA und Europa im Konfikt der Identitäten, in: die Drei, Heft 8/9, 2006, S.12. 54 Steiner, GA 349, S.55; Steiner, Über Gesundheit und Krankheit, Grundlagen einer geisteswissenschaftlichen Sinneslehre, Vorträge 52 Hermann Poppelbaum, Zur Metamorphose der Menschengestalt, 1922/23, GA 348, S.186. in: Gäa-Sophia, Jahrbuch der naturwissenschaftlichen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Band III, 55 Steiner, GA 348, S.101. Völkerkunde, Dornach 1929. 56 Steiner, GA 349, S.52f.

23 Die übelsten Tiraden hielt Steiner während der Ruhrbesetzung gik.62 Er verwies „auf die Leiblichkeit und die darin eingebundenen 1923, als sich die gesamte deutsche Rechte darüber echauferte, seelischen Eigenschaften“ und meint, es gebe dass Belgien und Frankreich Soldaten aus den Kolonien einsetz- ten. „Die Negerrasse gehört nicht zu Europa, und es ist natürlich „vom evolutiven Gesichtspunkt Merkmale, die einem früheren oder nur ein Unfug, daß sie jetzt in Europa eine so große Rolle spielt“, späteren Entwicklungsstadium angehören; in dieser Hinsicht gibt erklärte er.57 Steiner warnte weiße Frauen, „Negerromane“ zu es dann auch eine Wertigkeit von höher oder niedriger, von fortge- lesen, gemeint ist Literatur mit schwarzen Protagonisten, denn schritten und zurückgeblieben.“63 dann würden diese Frauen Mischlinge zur Welt bringen. Anth- roposophen argwöhnten, dass der Jazz als „Negermusik“ das Blut Leber ließ keinen Zweifel, was mit „niedriger“ und „zurückgeblie- der Deutschen vergifte.58 ben“ gemeint ist. So verteidigt er die Ansicht Steiners, die Indianer An solchen Wertungen hielten führende Anthroposophen nach seien eine „Rasse des Alters“, der „gedämpften Vitalität und kon- Steiners Tod fest.59 Als sich die Vorwürfe des Rassismus nicht templativen Bewußtseinsanlage“.64 mehr ignorieren ließen, versuchte Stefan Leber 1997 diesen sinn- In einer Broschüre von Info 3, einer Zeitschrift, die innerhalb der stiftend zu veredeln. Szene als liberal und ofen gilt, hieß es 2007 über die anthroposo- phische Weltanschauung: „Grundlage ihres Weltverständnisses ist „Das `Triebleben` des Schwarzen mit seiner stofwechsel- die Vorstellung einer immerwährenden Höherentwicklung.“ Dar- haften, bewegungsfähigen Natur wird nur scheinbar ab- um sei Anthroposophie nach Steiner eine „evolutionäre Spirituali- schätzig beurteilt; in Wirklichkeit erweist es sich als Über- tät“, das bedeute, „dass es ein Vorne, eine Mitte und ein Hinten gibt, legenheit und Vorzug, nämlich als Schutz vor dem Fall in ein Oben und Unten, fortschrittliche und rückständige Zustände“ den Materialismus dem der Weiße leicht erliegt“, Alle diese Zustände hätten ihren eigenen Wert: „Sie sind jeweils Bedingung für den nächsten Zustand.“ Entwicklung bedeute nicht schrieb der Waldorfunktionär.60 Auch in Büchern, die in den nur, Literaturempfehlungen für Klassenlehrer von 1998 angegeben wurden, werden Schwarze als unreife Kinder beschrieben. „dass die Menschheit vom Einfachen und Grundlegenden zum Spe- ziellen und Bedeutsamen fortschreitet. Es bedeutet auch, dass viele „Sie sind noch nicht angekommen auf der Erde. Sie leben der Entwicklungsstadien gleichzeitig existieren können. Nicht die noch immer in dem Kindheitszustand eines Volkes, das ganze Menschheit und alle Menschen entwickeln sich im Gleich- noch nicht zur vollen Erdenreife herangewachsen ist“, schritt.“65

schreibt Andreas Suchantke. Er stützt sich auf phrenologische Das ist eine Formulierung, die ohne den Begrif der „Rasse“ aus- Vorstellungen: kommt, aber das Gleiche impliziert und damit vertuscht und ver- harmlost: Selbstverständlich bewegt sich die Menschheit nicht im „Die Gesichter der Erwachsenen sind so pausbäckig und Gleichschritt, sondern jeder und jede ist ein gesellschaftliches, histo- weich wie die ihrer Kinder und in gleicher Weise ein ofe- risch und sozial geprägtes Wesen, gleichwohl ein unverwechselbares ner Spiegel unrefektierter, starker Gemüthaftigkeit. Dieses Individuum. Die Autoren von Info 3 hingegen meinen, man könne kindlich Ursprüngliche im Wesen des Afrikaners begegnet Menschen in klar abgrenzbare Gruppen sortieren, die verschiedene einem auf Schritt und Tritt.“61 Stufen der Fähigkeiten und des Bewusstseins erreicht hätten. Die göttlichen Funken aus dem Jenseits würden sich jeweils die passen- Das Buch wurde zur Unterrichtsvorbereitung für Geographie in den Gefäße aussuchen: Fortgeschrittene Seelen inkarnieren in fort- der siebten Klasse empfohlen. Anthroposophen sind immun ge- geschrittenen, rückschrittliche Seelen in rückschrittlichen Rassen. gen Aufklärung. Sie sind überzeugt, dass sich Menschen in Ras- sen sortieren lassen: Esoterik und Judenhass Die Entwicklung Steiners lässt sich anhand der veröfentlichten „Daß es verschiedene konstitutionelle Merkmale einerseits Briefe, Zeitungsartikel, Vorträge und Bücher gut nachvollziehen. zwischen den Rassen gibt, andererseits dann aber auch in- So zeigt sich, dass er sich in einer kurzen Phase zwischen etwa 1898 nerhalb der einzelnen Rassen, lehrt die schlichte Anschau- und 1901 gegen Antisemitismus wandte. In einem entscheidenden ung“, Punkt blieb sich Steiner aber stets treu. Er war wie viele Liberale und Linke der Meinung, dass die Juden sich assimilieren sollten, und das schrieb Leber (1993) in einem Standardwerk der Waldorfpädago- bedeutete, dass jede eigenständige jüdische Identität verschwinden müsse. Daraus resultierte seine scharfe Abneigung gegen den Zi- onismus. 57 Steiner, GA 349, S.53. 58 Friedrich Rittelmeyer, Christus, Stuttgart 1936, S.137f.; Michael Klußmann, Zum Rassismus-Streit, Teil II, in: Das Goetheanum, 1996, 62 Leber, Die Menschenkunde der Waldorfpädagogik. Anthropologis- S.356. che Grundlagen der Erziehung des Kindes und Jugendlichen, Stuttgart 59 Günther Wachsmuth, Afrika als Organ der Erde, Kindheitsstadien 1993, S.312. der Menschheit, in: Gäa-Sophia, 1929, S.43. 63 Leber, 1993, S.32. 60 Leber, Anthroposophie und Waldorfpädagogik in den Kulturen der 64 Leber, Anthroposophie und die Verschiedenheit des Menschenge- Welt, Stuttgart 1997, S.252. schlechts, in: Die Drei, Heft 3, März 1998, S.40. 61 Andreas Suchantke, Sonnensavannen und Nebelwälder. Pfanzen, 65 Info 3 Verlag, Infoseiten Anthroposophie Herbst 2007, Warum es Tiere und Menschen in Ostafrika, Stuttgart 1972, S.23f., S.25. immer aufwärts geht, S.8f.

24 Als Student schrieb Steiner, die Juden gehörten einen Volk an, das antisemitische Bild von Ahasver zurück, den ewigen Juden, „dessen Religion keine Freiheit des Geistes kennt“ und das die der verfucht ist, weil er Jesus auf dem Kreuzweg eine Ruhepause deutsche Sprache mit jüdischen Wendungen verhöhne.66 1888 verweigerte. Am Beispiel der Juden erklärte Steiner 1908 seinen rezensierte Steiner den Roman Homunculus des völkischen Zuhörern den vermeintlichen Zusammenhang zwischen spiritu- Schriftstellers Robert Hamerling (1830-1889). Er schrieb, es sei eller Entwicklung und rassischer Höherentwicklung: nicht zu leugnen, dass das Judentum „Das ist die tiefere Idee des Ahasver, der immer in derselben Ge- „noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und als solches stalt wiederkehren muß, weil er die Hand des größten Führers, in die Entwickelung unserer Zustände vielfach eingegrifen hat, des Christus, von sich gewiesen hat. So ist die Möglichkeit für und das in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen den Menschen vorhanden, mit dem Wesen einer Inkarnation nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat zu verwachsen, den Menschheitsführer von sich zu stoßen, oder sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des aber die Wandlung durchzumachen zu höheren Rassen, zu im- modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, mer höherer Vervollkommnung. Rassen würden gar nicht deka- ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben dent werden, gar nicht untergehen, wenn es nicht Seelen gäbe, konnten.“ die nicht weiterrücken können und nicht weiterrücken wollen zu einer höheren Rassenform. Schauen Sie hin auf Rassen, die sich Steiner ließ auch keinen Zweifel daran, dass er ähnlich wie den erhalten haben aus früherer Zeit: Sie sind bloß deshalb da, weil völkischen Antisemiten keineswegs nur um das Judentum als Re- da Seelen nicht höhersteigen konnten.“73 ligion ablehnte. „Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, Steiner klagte über das „Zersetzungsferment“ des „semitischen die jüdische Denkweise“, betonte er.67 Einschlags“. Dieses materialistisch-analytische „Zersetzungsfer- Unter dem Einfuss des jüdischen Dichter Ludwig Jacobowski ment“ zeige sich bei den Juden Marx und Lassalle ganz deutlich, engagierte sich Steiner später in Berlin kurze Zeit im Verein zur ebenso destruktiv sei Abwehr des Antisemitismus, allerdings mit bedenklichen Argumen- ten. So behauptete er, die zionistische Bewegung sei schuld am „das rein analysierende Denken in der Zoologie, Botanik und Antisemitismus. Er bescheinigte nicht den Antisemiten, sondern Medizin; Wundt und seine Anhänger in der Psychologie; die So- den Zionisten eine „überreizte Phantasie“ sowie ein „gekränktes zialdemokratie und der Liberalismus in der Politik. Alle unsere Gemüt“, das ihnen „den Verstand umnebelt.“ Die Antisemiten sei- Teologie, Jurisprudenz, Pädagogik sind von Zersetzungsgiften en ungefährlich „wie Kinder“ und „viel schlimmer“ seien „die herz- angefüllt. Die Zersetzung ist ja schon zum Kindergift pädago- losen Führer der europaweiten Juden“ wie Teodor Herzl. Nun gisch in den Kindergärten geworden.“74 kann man sagen, als Seher war Steiner eine Niete, entscheidend ist, dass er die Propaganda und Stärke der Antisemiten verharmloste. Den Ersten Weltkrieg erklärten Steiner und andere Anthropo- Nachdem Steiner sich der Teosophie zugewandt hatte, sortierte er sophen als Folge einer Einkreisungs- und Verschwörungspolitik die Juden in das Wurzelrassen-Schema ein. Demnach hätten die gegen Deutschland, hinter der Freimaurer, Jesuiten und Juden Juden zwei Missionen zu erfüllen: Sie sollten den Monotheismus steckten. Diese Tesen grif Renate Riemeck, die Lichtgestalt samt einem menschenähnlichen Ich-Gott erfnden und für die der Ostermarschbewegung, wieder auf. Sie behauptete, die An- Reinkarnation des Sonnengeistes, gemeint ist Christus, die leib- gelsachsen hätten anstelle der Deutschen und Österreicher die liche Hülle bereitstellen.68 Allerdings hätten die Juden den Mo- Lehrmeister des Slawen werden wollen. Darum hätten gehei- notheismus überspannt.69 Aus einer angeblich besonders starken me englische Zirkel die Donaumonarchie und das Zarenreich Blutsbindung der Juden schlussfolgerte Steiner abstrakte Strenge zerschlagen und Deutschland teilen wollen, was ihnen aber erst und Unerbittlichkeit.70 Er leitete daraus allerlei Klischees ab: Mo- im Zweiten Weltkrieg vollständig gelungen sei. Riemeck, Anth- notheimus gleich geistige Erstarrung, die Juden lebten nach einem roposophin und vormals Mitglied der NSDAP, widersprach „unfruchtbaren Gesetz“, seien ausgedörrt und versteinert.71 damit der Tatsache, dass Deutschland der Hauptschuldige am Steiner nutzte christliche Motive des jüdischen Gottesmörders Ausbruch des Ersten Weltkrieges war und entlastete den National- und Gottesleugners und erklärte seinen Zuhörern, dass die Ju- sozialismus.75 den darum rassisch nicht aufsteigen könnten.72 Dabei grif er auf Marie von Sivers, Steiners zweite Ehefrau, glaubte an eine jü- disch-bolschewistische Weltverschwörung.76 Der Gründer der anthroposophischen Christengemeinschaft, „Erzoberlenker“ Frie- 66 Steiner, Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884-1902, GA 32, drich Rittelmeyer, hetzte gegen Internationalismus und Pazi- S.119, Steiner, Gesammelte Aufsätze zur Dramaturgie, GA 29, S.36. fsmus, sie seien abstrakte und blutlose Produkte des jüdischen 67 Steiner, Robert Hamerling - Homunkulus, GA 32, S.145f. 68 Steiner, Welt, Erde, Mensch, GA 105, S.159; Monika Neve, New Age als Ablenkung? Raisdorf bei Kiel 1989, S.23; Udi Levy, Messiaser- 73 Steiner, Das Hereinwirken geistiger Wesenheiten in den Menschen, wartung und Judentum, in: Die Christengemeinschaft, 1996, Heft 2, GA 102, S.174. S.63. 74 Steiner, Marie Steiner, Briefwechsel und Dokumente 1901-1925, GA 69 Steiner, GA 105, S.159. 262, S.62f. 70 Steiner, Die Mission einzelner Volksseelen, TB 613, S.114, S.125. 75 Renate Riemeck, Mitteleuropa – Bilanz eines Jahrhunderts, Frei- 71 George L. Mosse, Die völkische Revolution, Frankfurt am Main burg 1958, S.28, S.30. 1991, S.47, S.68. 76 Marie Steiner, Der Wiener Kongress der Anthroposophischen Ge- 72 Steiner, Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis, GA sellschaft und sein Geistdurchleuchter, in: Das Goetheanum, Heft 6, 100, S.187. 1927, S.44.

25 Geistes.77 Er verlangte wie die nationalsozialistischen Deutschen „... so etwas Ähnliches mußte wieder geschehen, es war sozusa- Christen eine „Reinigung“ des Christentums vom „semitischen gen eingeschrieben in das Menschheitskarma. Und so wenig wir Wesenscharakter“.78 Rittelmeyer predigte ein „germanisches auch heute begreifen können, was das gewesen ist, dieser Verrat Christentum“, das seinen „semitischen Wesenscharakter“ ab- des Judas, so wenig begreifen wir dasjenige, was sich in unserem streift79 Der heroische Christus sei ein Kämpfer gewesen, ohne Jahrhundert vollzogen hat“, jüdisch-katholische Weichheit. Steiners Variante des Antisemitismus wird in vielen Waldorf- sagte König. In diesem Sinne forderte er Verfolger und Verfolgte, schulen alljährlich zelebriert, wenn die Kinder die sogenannten also Nazis und ihre Opfer auf, zu verstehen, „was gespielt hat und Weihnachtsspiele auführen. Diese Spiele, in denen die Vertrei- noch immer spielt“.85 Die Taten der Nazis, so schreibt König, bung aus dem Paradies, Jesu Geburt und die Ankunft der hei- könnten nicht durch Gerichte gesühnt werden. Das ist insofern ligen drei Könige dargestellt werden, soll dessen Mentor Karl richtig als angesichts der Dimension dieser Verbrechen keine Julius Schröer in Ungarn bei Nachfahren deutscher Kolonisten Strafe wirklich gerecht wäre, andererseits haben gerade deutsche entdeckt haben. Steiner und Schröer glaubten, die Stücke seien Gerichte kaum versucht, die Täter zu richten. Aber darauf kam vom deutschen Volksgeist inspiriert und würden das „Deutsch- es König nicht an, ihm ging es um den karmischen Ausgleich: tum“ der Zuhörer beleben.80 Steiner bearbeitete die Stücke. Im Dreikönigsspiel treten drei „Denn es sind Taten, gleich der des Judas; Taten die geschehen Juden auf, Kaifas, Pilatus und Jonas, hohe Priester, die König mußten. Und der, der sie tat, ist ja viel schlimmer dran als dieje- Herodes die Geburt des Kindes in Bethlehem deuten, worauf- nigen, die sie erleiden mußten.“86 hin dieser den biblischen Knabenmord anordnet. Den Regie- anweisungen Steiners zufolge werden die Juden stereotyp, servil Auschwitz wird in diesem Vortrag mit der Karmalehre relativiert, und schmeichlerisch dargestellt.81 die jüdischen Opfer mit den deutschen Tätern auf eine Stufe gestellt, in dem die Verbrechen der Nazis mit dem angeblichen „Ihre Aussprache ist jüdisch, ihre Gebärden ungemein lebhaft; Gottesmord der Juden verrechnet werden. Diese Vorstellung ist alle drei sind in steter Bewegung, küssen sich, nach rechts und in der Esoterik-Szene verbreitet, was es nicht besser macht. links springend, in gebeugter Stellung auf die Schultern, küssen einander gegenseitig, schlagen die Hände zusammen und spre- Aufklärung ist geboten chen dem König mit karikierter, dem Gesagten immer entspre- Man kann und soll sich über Hokuspokus lustig machen, aber chender Gebärde das letzte Wort im Chore nach.“82 nicht übersehen, welches gefährliche Potential solche Lehren ha- ben. Die Anthroposophie mag heute in der Öfentlichkeit sanft 2006 kritisierte Sebastian Gronebach die Spiele und die Auf- auftreten, sie ist und bleibt jedoch eine fundamentalistische und führungspraxis an den Waldorfschulen als völlig inakzeptabel. autoritäre Ideologie, geeignet neue Formen theokratischer und Es handele sich um eine „stereotypische, antisemitische Dar- faschistischer Herrschaft hervorzubringen und zu legitimieren. stellung von Juden“, wie sie heutzutage „außerhalb des anth- Die Anthroposophie unterscheidet wie alle esoterischen Rich- roposophischen Zusammenhangs höchstens noch Applaus im tungen Eingeweihte und Erleuchtete, die himmelweit über der Lande von Ahmadinedschad bekommen hätte“.83 Masse der Menschen thronen. Daraus ergeben sich Strukturen von Abhängigkeit und Herrschaft, von Führer und Gefolgschaft. Der Holocaust als karmischer Ausgleich Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Steiner von seinen Anhän- Der Anthroposoph Karl König hielt im November und Dezem- gern als „Menschheitsführer“ bezeichnet. ber 1965 drei Vorträge über „Geschichte und Schicksal des jüdi- Mit der NS-Zeit haben sich Anthroposophen nicht ernsthaft schen Volkes“. 84 Zunächst referierte er die Aufassung, die Juden auseinandergesetzt. Der Faschismus wurde als Werk fnsterer hätten ihre Mission erfüllt und weigerten sich, Christus anzuer- Dämonen, reinkarnierter brutaler Azteken oder mongolischer kennen. Dann erklärte er, durch den Verrat des Judas habe ein Krieger aus der Zeit Dschingis Khans erklärt oder als Resul- „Drama“ begonnen, das zur Kreuzigung Christi führte. tat eines westlichen Materialismus, der die Deutschen verführt habe. Das diente der Schuldabwehr. Der eigene Beitrag – Ernst Bloch sprach davon, dass die Anthroposophie zur Faschisierung 77 Friedrich Rittelmeyer, Der Deutsche in seiner Weltaufgabe zwischen des Bürgertums beigetragen habe - wurde nie kritisch refektiert. Rußland und Amerika, Stuttgart 1932, S.4. Anthroposophische Rassismus ist kein historisches Problem, 78 Rittelmeyer, 1932, S.4, S.29; ders. Christus, Stuttgart, 1936, S.38f., nicht begrenzt auf Steiner und die Anfangsphase seiner Bewe- S.42 bis 46; ders., Impulse der Gegenwart, Stuttgart 1940, S.11, S.17. gung, sondern existiert weiter, als Teil des Weltbildes, der Evolu- 79 Rittelmeyer, Aus meinem Leben, 1937, S.345, auch S.274, S.283. tions- und Geschichtsaufassung, in der Regel sprachlich moder- 80 Steiner, Gesammelte Aufsätze, GA 31, 85f. nisiert. Lorenzo Ravagli, Redakteur der Erziehungskunst, spricht 81 Steiner, Weihnachtsspiele aus altem Volkstum. Die Oberuferer von Ethnopluralismus. Damit greift er einen Begrif der Neuen Spiele, Dornach 1990, S.81, S.84, S.96. Rechten auf, die bereits in den 1970er-Jahren so schlau waren, 82 Steiner, Weihnachtsspiele, S.81. ihr rassistisches Weltbild durch unverfängliche Begrife wie Kul- 83 Sebastian Gronebach, „Unheimlich gruselig war das Sprechen der Juden“, in: Info 3, Heft 10, 2006, S.49. 84 König musste 1938 wegen seiner jüdischen Herkunft aus Wien em- 85 Karl König, Geschichte und Schicksal des jüdischen Volkes, 3 Vor- igrieren und gehörte in England zu den Gründern der Camphill-Bewe- träge im Advent 1965, S.3, unveröfentlichtes Manuskript. Der Text gung (Uwe Werner, Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozial- wird in der Bibliothek in Dornach aufbewahrt, es soll sich um eine vom ismus, Oldenburg, 1999, S.16, S.161, S.181, S.350; Bodo von Plato, Vortragenden nicht durchgesehene Nachschrift handeln. Anthroposophie im 20. Jahrhundert, Dornach 2003, S.386f., S.1007). 86 König, 1965, S.29.

26 tur zu tarnen. Bis heute sind Anthroposophen überzeugt, die Deutschen bzw. Mitteleuropa hätten eine besondere spirituelle Mission für die Menschheit. Darum ist Aufklärung geboten, über die Abgründe der Anth- roposophie, auf die sich die Waldorfpädagogik stützt. Auch wenn diese Schule richtige Elemente enthalten mag – keine No- ten, kein Sitzenbleiben – sollten wir dafür sorgen, dass diese in öfentlichen Schulen übernommen werden, ohne esoterisches Brimborium. Die Waldorfschule ist nicht kindgerecht, sondern anmaßend, sie sortiert und behandelt Kinder nach abstrusen, okkulten Schemata. Das sollten wir Kindern ersparen.

Peter Bierl (Oberbayern) hat am 10. Dezember 2013 in Bremen sein Buch „Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister: Die An- troposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik“ vorge- stellt. Siehe: https://associazione.wordpress.com/2013/10/23/peter-bierl- schulen-fur-arier-zur-kritik-an-waldorfpadagogik-und-anthropo- sophie/

27 Peter Bierl Regionalgeld und Sozialdarwinismus - Oder: Die Attraktivität der einfachen falschen Lösungen

In Krisenzeiten haben Heilslehren Konjunktur, das gilt auch für Zur Teorie Silvio Gesells ökonomische Ansätze wie die Freiwirtschaftslehre, die auf den Der Inspirator von Regionalgeld und Tauschringen wurde 1862 deutschen Kaufmann Silvio Gesell zurückgeht. Die organisier- geboren. Gesell absolvierte eine kaufmännische Lehre in Ber- ten Anhänger dieser Lehre sind eine verschwindende Minderheit. lin, arbeitete als kaufmännischer Angestellter in Braunschweig, Angesichts der globalen sozialen und ökologischen Krise fnden Hamburg und Malaga bevor er 1887 nach Buenos Aires ging, Gesellianer mit ihrer Zinskritik jedoch in verschiedenen politi- wo er sich als Kaufmann selbständig machte. Er verkaufte Zu- schen Spektren Gehör: Bei Attac und Occupy, in Sozialforen, in behör für Zahnarztpraxen und Spirituskocher und eröfnete eine der Umwelt- und der Friedensbewegung, unter Anarchisten, in Kartonfabrik. Seine Familie wurde später in Argentinien mit Be- Teilen der AfD wie der Piraten-Partei und in der Neonazi-Szene. darfsartikeln für Kleinkinder berühmt. 1890 erlebte Gesell in Besonders stark ist der Einfuss auf die Postwachstums-Debatte, Argentinien eine schwere Wirtschaftskrise, die ihn bewog, sich weil deren prominentester Vertreter, Niko Paech, sich auf Ele- mit Ökonomie zu beschäftigen. Im folgenden Jahr erschien in mente der Freiwirtschaft bezieht, in dem er Zins und Zinseszins Buenos Aires seine erste Schrift, in der Gesell erstmals die „Idee als maßgebliche Ursachen für Wirtschaftswachstum und Um- des rostenden Geldes“ formulierte.1 weltzerstörung anprangert. Er empfehlt, wie Gesell, „rostende Der Grundgedanke war für einen Kaufmann naheliegend, der Banknoten“ einzuführen, in Gestalt von Regionalgeld. In der seine Waren möglichst reibungslos verkaufen möchte. Haben die Debatte hat Paech verschiedentlich versucht, die rassenhygie- Leute nicht genügend Geld in der Tasche oder wollen sie es nicht nischen und sozialdarwinistischen Grundlagen der Gesellschen ausgeben, geht es der Wirtschaft schlecht. Soweit könnte man Lehre zu verharmlosen. Die Idee des Regionalgeldes fndet sich ihm noch folgen. Bloß presste Gesell diese Binsenweisheit in auch in der Gemeinwohlökonomie von Christian Felber, dem ein Schema mit zwei Grundvoraussetzungen, die in der Realität Begründer von Attac Österreich, wobei sie in seinem Konzept nicht existieren. Erstens glaubte er, Geld sei wertbeständig. Im eine Nebenrolle spielt, sowie in der Transition-Town-Bewegung, Regelfall schwankt der Wert des Geldes jedoch. Manchmal gibt die verschiedentlich mit Regionalgeld-Gruppen kooperiert. es Defation, dann steigt der Wert, oft herrscht Infation, dann Gesellianer können an einem Alltagsverständnis anknüpfen, an bekommt man weniger für sein Geld. Zweitens meinte Gesell, einem notwendig falschen Bewusstsein, das sich aus nicht re- Bargeld sei das entscheidende Element der Wirtschaft. Das dürf- fektierten Erfahrungen speist, aber auch aus pseudokritischen te schon zu seinen Lebzeiten ein Irrtum gewesen sein, ist aber Stellungnahmen von Politikern und Journalisten, die über die spätestens in der Gegenwart selbst für die Endverbraucher dank Massenmedien verbreitet werden. Demnach wird Kapitalis- Kreditkarten, Internet-Handel und Online-Banking eine völlig mus nicht als umfassendes System aus Produktion, Handel und abstruse Vorstellung.2 Finanzsystem, aus Fabrik, Büro, Labor, Bank, Börse, Super- Aus diesen beiden falschen Voraussetzungen leitete Gesell seine markt, Tante-Emma-Laden und Wochenmarkt verstanden, als Tese ab, dass „Geldbesitzer“ ihr wertstabiles Bargeld zu Hause eine Wirtschaftsform, in der die Akkumulation von Kapital ein horten, wenn es nicht genügend Zinsen abwirft.3 Die Geldbe- Selbstzweck ist und die Maximierung von Proft ist darum eine sitzer würden in einen „Geldstreik“ treten, damit den Umlauf Notwendigkeit jenseits moralischer Haltungen in einer Gesell- des Zahlungsmittels behindern und Wirtschaftskrisen auslösen, schaft, in der wir alle ständig miteinander konkurrieren. Stattdessen wird Kapitalismus reduziert auf Monopole und Kar- 1 Werner Onken, Silvio Gesell und die Natürliche Wirtschaftsord- telle, Zinsen und Schulden oder die Globalisierung. Weit ver- nung. Eine Einführung in Leben und Werk, Lütjenburg 1999. breitet ist die Klage über gierige Banker und Spekulanten, über 2 Helmut Creutz räumt ein, dass die Bargeldmenge bezogen auf die skrupellose Börsianer und Zocker oder Heuschrecken, vorzugs- gesamten Geldguthaben bei den Banken nur einem Anteil von drei Pro- weise aus den USA. Dagegen erscheint eine Marktwirtschaft zent entspricht, dass es einen Trend zum bargeldlosen Zahlungsverkehr als überschaubares Idyll aus Familienbetrieben, Handwerkern, gibt, behauptet aber, für die Konjunktur entscheidend sei nur die End- Bauern und Händlern, lokal und regional verankert, in der es nachfrage und die werde zu zwei Drittel in bar bezahlt (Creutz, Die 29 nachhaltig, ökologisch und fair zugeht. Irrtümer rund ums Geld, Wien 2008, S.33f., S.38). Die Gesellianer- In diesem Beitrag wird zunächst die Freiwirtschaftslehre, an- Zeitschrift Fairconomy räumt zwar ein, dass der größte Teil des Gel- schließend aktuelle Projekte wie Tauschringe und Regionalgeld des in Form von Giralgeld verwendet wird, verweist aber darauf, dass untersucht. Seit den 1990er-Jahren versuchen Gesellianer damit 58 Prozent der Endnachfrage in bar bezahlt würden. Allerdings ist die Gesamtnachfrage nach Gütern und Dienstleistungen wesentlich größer eine gewisse Breitenwirkung zu erzielen. Zwar konnten sie auf (Fairconomy, Nr.3, September 2012, S.14f.). diese Weise mehr Menschen ansprechen als mit der direkten Pro- 3 Gesell unterstellt einen „Urzins“, zu dessen Höhe er unterschiedliche paganda ihrer sektiererischen Organisationen, allerdings haben Angaben macht, während Creutz eine Spanne zwischen vier und sechs sich ihre Versprechen, eine alternative Wirtschaft aufzubauen, Prozent angibt (Gesell, Die natürliche Wirtschaftsordnung [NWO], 4. inzwischen blamiert. Tauschringe und Regionalgeld sind ge- überarbeitete Aufage, 1920, GW 11, S.201; Creutz, Das Geldsyndrom. scheitert. Wege zu einer krisenfreien Wirtschaftsordnung, fünfte unveränderte Aufage, Aachen 2003, S.543).

28 bis sie wieder höhere Zinsen einstreichen könnten. Die übrigen nach Einbrüchen und Diebstählen, oder als Geldbestände in aus- Wirtschaftsteilnehmer, Unternehmer und Arbeiter, müssten die- ländischen Währungen, schrieb Margrit Kennedy.8 se höheren Zinsen bezahlen, wenn sie nicht verhungern wollten. Wäre es so, wie die Gesellianer unterstellen, dass die Hortung von Diese zentrale Tese Gesells fndet sich schon in seinen ersten Bargeld solche Ausmaße annimmt, dass dadurch Wirtschaftskri- Schriften. Er behauptete: sen ausgelöst werden, so müsste es sich um gewaltige Mengen an Scheinen und Münzen handeln. Dann müssten auf unserem Pla- „Das Geld kann dem Verkehr entzogen und demselben wieder neten hunderte von Geldspeichern stehen, so wie jene, in denen zugeführt werden, wie es dem Besitzer desselben passt, ohne be- Dagobert Duck seine Fantastilliarden aufbewahrt. Solche Spei- fürchten zu müssen, dass es faule oder verderbe.“4 cher gibt es im real existierenden Kapitalismus nicht, und selbst im fktiven Kapitalismus von Entenhausen horten Dagobert Duck Hermann Benjes, Helmut Creutz und Margrit Kennedy haben und sein Konkurrent Klaas Klever keineswegs Taler um Zinsen zu diese Idee immer wieder mit folgendem Bild illustriert: Geld- erpressen, sondern betätigen sich als rührige Unternehmer in allen scheine werden in einen Tresor, Obst in einen Schrank und denkbaren Branchen, um Kapital zu akkumulieren. Anscheinend Menschen in ein Zimmer gesperrt. Wenn nach zwei Wochen verstand Walt Disney mehr vom Kapitalismus als Silvio Gesell. der Schrank und der Raum geöfnet werden, sind die Menschen An einem richtigen Experten arbeitete sich Gesell sein Leben lang tot, die Früchte verfault, aber das Geld formschön wie zuvor. 5 vergeblich ab. Er versuchte, die Werttheorie von Karl Marx als Das Bild ist selbst nach den Maßstäben der Freiwirtschaft un- Hirngespinst zu entlarven.9 Marx zufolge sind die menschliche vollständig und falsch: Man müsste die Geldbesitzer samt ihrem Arbeitskraft und die Natur die einzigen Quellen gesellschaftlichen Geld einsperren, sie würden ebenfalls sterben und schon damit Reichtums. Der Mensch vermag mehr Güter herzustellen, als zu ist die Vorstellung vom Geldstreik als Unfug widerlegt. seiner physischen Reproduktion notwendig sind. Dieses Mehrpro- In der Regel wird weder ein privater Sparer, noch ein Unter- dukt ist die Grundlage jeder gesellschaftlichen Entwicklung, jeder nehmer oder eine Bank, Geld vergraben, in einen Sparstrumpf Zivilisation, aber auch der Spaltung der Gesellschaft in Klassen, stopfen oder unter der Matratze verstecken, sondern versuchen, wobei die herrschende Klasse sich dieses Mehrprodukt (oder je- eine Anlagemöglichkeit zu fnden. Selbst niedrige Gewinne oder denfalls den größten Teil) aneignet. Zinsen sind besser als gar keine. Niedrige Zinsen bedeuten für Unter kapitalistischen Bedingungen erhalten die Arbeiter einen Investoren und Privatleute billiges Geld, um neue Fabriken oder Lohn, sagt Marx, der im Prinzip durch den Wert der Güter und Häuser bauen zu lassen, Maschinen, Rohstofe, Arbeitskraft oder Dienstleistungen bestimmt ist, die notwendig sind, um ihre Ar- Autos zu kaufen. Inzwischen gibt es sogar das Phänomen des beitskraft zu erhalten. Im Arbeitsprozess schafen sie jedoch einen Negativ-Zinses für deutsche und Schweizer Bundesanleihen.6 Überschuss, Produkte, deren Wert höher ist als dieser Lohn. Die Dennoch ist die Annahme, Bargeld werde zuhause gehortet (in Diferenz zwischen dem Lohn und dem Wert der Waren ist der einigen neueren Ansätzen allenfalls noch auf dem Girokonto), Mehrwert, den das Kapital akkumuliert, vorausgesetzt die Waren wenn nicht ein bestimmter Zinssatz gilt, bis heute die Grundan- lassen sich auf dem Markt verkaufen, das heißt der Mehrwert aus nahme der Freiwirtschaft, der Kern ihrer Lehre.7 Immer noch der Waren- in die Geldform umwandeln. Es ist dieser Vorgang, werde Geld gehortet, von Privatleuten „unter der Matratze“, oder den Marx als Ausbeutung bezeichnet und zwar unabhängig da- von, ob die Löhne niedrig oder hoch sind.10 Dagegen meint Ausbeutung bei Gesell, dass die „Geldbesitzer“ 4 Gesell, Nervus Rerum – Fortsetzung zur Reformation im Münzwe- die Besitzer von Waren, Dienstleistungen oder Arbeitskraft er- sen, GW 1, S.106; ähnlich: NWO, GW 11, S.43, S.241. pressen. Mehrwert bedeutet für Gesell nur Zinsen und Renten.11 5 Creutz, 2003, S.32; Margrit Kennedy, Regio ergänzt Euro – Ein neu- Entsprechend unterscheidet sich die Defnition des Proletariers er Weg zu Nachhaltigem Wohlstand, in: Zukünfte – Zeitschrift für oder Arbeiters. Bei Marx ist das ein Mensch, der über keine Pro- Zukunftsgestaltung und vernetztes Denken, 2004, http://kennedy- duktionsmittel verfügt, der gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu bibliothek.info/data/bibo/media/ZeitschriftZukuenfte.pdf (Abfrage verkaufen, also Lohnarbeit zu verrichten, wenn er leben will. Für 2.6.2015). Gesell dagegen ist Arbeiter 6 Die INWO kritisierte im Zusammenhang mit den Schweizer Nega- tivzinsen eine Politik der Geldausweitung und Geldhortung, die damit „...jeder, der vom Ertrag seiner Arbeit lebt, Bauern, Handwerker, unterstützt werde. Negativzinsen für Spareinlagen würden die Hortung Lohnarbeiter, Künstler, Geistliche, Soldaten, Ofziere, Könige in Form von Bar- und Giralgeld fördern. Im gleichen Text wird aller- dings berichtet, dass die Staatsanleihen in Höhe von 600 Millionen sind Arbeiter in unserem Sinne. Einen Gegensatz zu all diesen Franken der Schweizer Nationalbank „quasi aus den Händen gerissen“ Arbeitern bilden in unserer Volkswirtschaft einzig und allein die worden seien, also keineswegs Geld gehortet wurde (Klaus Willemsen, Beate Bocking, Schweizer Banken führen Negativ-Zinsen ein, Fairco- nomy, September 2011, S.3). 8 Kennedy, Geld ohne Zinsen und Infation. Ein Tauschmittel das je- 7 Willemsen, Bockting, Wachstum, Wachstum, Fairconomy, Heft 2, dem dient, München 1991, S.111 f. Juni 2012, S.4f.; Bockting, Umlaufmpuls auf Zahlungsmittel, Fairco- 9 Onken, 1999, S.111, S.122 f., S.124. nomy, Heft 3, September 2012, S.14f.; Eberhard Knöller, Wesen und Ziel der freiwirtschaftlichen Geldreform, Fairconomy, Heft 4, De- 10 Karl Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S.192f.; Michael Hein- zember 2012, S.4f.; Creutz, 2003, S.36, S.39f., S.116f., S.124; Onken, rich, Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart Marktwirtschaft ohne Kapitalismus, in: Infobrief des Netzwerks ge- 2004, S.90f. gen Konzernherrschaft, Nr.14, Dezember 2003, S.24-29; Bernd Senf, 11 Er stellt sich ausdrücklich in die Tradition von Pierre Joseph Proud- Die blinden Flecken der Ökonomie: Wirtschaftstheorien in der Krise, hon. Der hatte schon behauptet, das Problem des Kapitalismus liege München, 2001; Senf, Fließendes Geld und Heilung des sozialen Or- in der Zirkulation, knappes Geld lähme Produktion und Austausch. ganismus, in: Tattva Viveka, Forum für Wissenschaft, Philosophie und Schuld seien die Geldbesitzer, die dieses Tauschmittel horten, um Zin- spirituelle Kultur, Nr.9, Juli 1998, S.9. sen zu kassieren (NWO, GW 11, S.3f.).

29 Rentner, denn ihr Einkommen fießt ihnen völlig unabhängig von „eine Wirtschaftsordnung, bei der alle wirtschaftlichen Vor- jeder Arbeit zu.“12 gänge, also Produktionen, Preise und Austauschbedingungen, alleine von Angebot und Nachfrage bestimmt werden, während Mit Rentner meinte er Geldbesitzer, die von Zinsen leben, so- Kapitalismus (...) ein monopolartiges Herrschaftsinstrument wie Grundeigentümer, die eine Bodenrente einstreichen. Sie ist“.15 würden ein arbeitsloses Einkommen beziehen, rügte er und verlangte stattdessen das Recht aller Arbeiter (gemäß seiner Monopolartig deshalb, weil laut Creutz die Geldbesitzer einen Defnition also aller industrieller Kapitalisten und Lohnabhän- „Geldstreik“ veranstalten, wenn der Zins unter vier Prozent gigen) am „gemeinsamen vollen Arbeitsertrag“, also ohne Ab- fällt.16 Eine „unverfälschte Marktwirtschaft“ sei im Unterschied zug von Zinsen oder Renten. zu diesem Kapitalismus, „das gerechteste und efektivste System Gesell stellte sich die Gesellschaft als eine Ansammlung von der Güterversorgung und –verteilung dar, das auf Gegenseitig- lauter unabhängigen Warenproduzenten vor. Dieses Ideal war keit und Gleichberechtigung aufbaut.“17 anscheinend so stark, dass er die Realität ignorierte. So elimi- In einer kapitalistischen Ökonomie fungiert der Zins, abgese- nierte er die Lohnarbeit per Defnition, indem er behauptete, hen von Konsumentenkrediten, als Preis für Geld, das investiert, der Fabrikant würde den Proletariern die Fabrik leihen und als Kapital eingesetzt wird. Der Schuldner leiht Geld, um es diese würden die dort erzeugten Waren an ihn verkaufen. als Kapital zu verwerten, um Mehrwert produzieren zu lassen. Bei Marx ist der Zins ein Teil des Mehrwerts bzw. Profts, jene „Lohn, das ist der Preis den der Käufer (Unternehmer, Kauf- Geldsumme, die der industrielle Kapitalist an den Geldkapita- mann, Fabrikant) für die ihm vom Erzeuger (Arbeiter) geliefer- listen zahlen muss, um dessen Kapital einsetzen zu dürfen. 18 Er ten Waren zahlt... Waren kaufen heißt aber Waren tauschen; die nannte das zinstragende Kapital die „fetischartigste Form“ von ganze Volkswirtschaft löst sich so in einzelne Tauschgeschäfte Kapital, weil der Zusammenhang mit der Produktion unsichtbar auf, und alle meine Begrife: Lohn, Wert, Arbeit enthüllen sich wird.19 Vielen Menschen scheine es so, schrieb Marx, als habe das als vollkommen zwecklose Umschreibungen der beiden Begrif- zinstragende Kapital nichts mit der Produktion zu tun, sondern fe Ware und Tausch“, schrieb Gesell.13 erpresse vom industriellen Kapital einen Tribut. Der industriel- le Kapitalist wiederum erscheine als Arbeiter, der bloß für seine Gestützt auf diese eigenwillige Defnition des Arbeiters und besondere Unternehmertätigkeit entlohnt werde. der Wirtschaft konnte Gesell die Produktion aus seinen weite- Genau an diese falsche Vorstellung knüpfen die Zins-Lehren ren Überlegungen ausblenden und die Zirkulation von Waren sowohl von Gesell als auch von Pierre-Joseph Proudhon, ei- zum Wesen der Ökonomie erklären. Seine Teorie ist basiert nem Klassiker des Anarchismus, und Gottfried Feder an. Feder auf Wunschvorstellungen, er deklariert die eigene ebenso be- war bis 1933 einer der wichtigsten Ideologen der NSDAP, von schränkte wie unrefektierte Position als Kaufmann zum Nabel dem die Nazi-Parole von der „Brechung der Zinsknechtschaft“ der Welt. stammt. Hingegen verstand Marx Kapitalismus als Gesamtprozess, zu dem Produktion, Handel und Kreditsystem gehören, mit dem Schwundgeld als Lösung Zweck Mehrwert zu schafen, der in der Produktion entsteht Um die vermeintliche Wertbeständigkeit des Geldes aufzuheben und auf dem Markt realisiert wird. Dieser Mehrwert darf nicht ist laut Gesell ein „stoficher Umlaufzwang“ notwendig.20 konsumiert, sondern muss reinvestiert werden (zumindest zum größten Teil), um diesen Prozess auf erweiterter Stufe zu wie- „Unsere Waren faulen, vergehen, brechen, rosten und nur wenn derholen. Andernfalls riskiert der einzelne Kapitalist von Kon- das Geld körperliche Eigenschaften besitzt, die jene unangeneh- kurrenten überholt und ruiniert zu werden. Wachse oder wei- men, verlustbringenden Eigenschaften der Waren aufwiegen, che lautet das Prinzip. kann es den Austausch schnell, sicher und billig vermitteln“, Dagegen unterscheiden Gesellianer einen Kapitalismus, der durch Zins defniert ist, und den sie überwinden wollen, von schrieb er.21 „Wir müssen also das Geld als Ware verschlechtern, einer Marktwirtschaft ohne Zins, die ihr Ideal ist. Nachzule- wenn wir es als Tauschmittel verbessern wollen.“22 sen ist das bei Helmut Creutz, dem wichtigsten Teoretiker der Dieses verschlechterte Geld, das in bestimmten regelmäßi- Gesellianer seit den 1980er-Jahren. gen Abständen an Wert verlieren sollte, bezeichnete Gesell als Schwundgeld oder Freigeld – daher der Name Freiwirtschaft – „Kapital ist also zinstragendes Eigentum, Kapitalist ist derje- oder er sprach von rostenden Banknoten. Er schlug vor, dieses nige, der über solches Eigentum verfügt, und Kapitalismus ein Wirtschaftssystem, in dem die Zinserfüllung Voraussetzung aller wirtschaftlichen Vorgänge ist“, sich die beim Geldkapital erzielbare Zinsrendite auf diese Produktions- mittel, dieses Sachkapital, übertrage (Creutz, 2003, S.495). schreibt Creutz.14 Marktwirtschaft sei 15 Creutz, 2003, S.493. 16 Creutz, 2003, S.496, 508, 543. 17 Creutz, 2003, S.493. 12 NWO, GW 11, S.10. 18 Marx, Das Kapital, Bd.3, MEW 25, S.351f. 13 NWO, GW 11, S.310. 19 Marx, Das Kapital, Bd.3, MEW 25, S.404. 14 Creutz, 2003, S.496. Creutz versteht unter Kapital „alle jene Ver- 20 NWO, GW 11, S.198. mögenswerte ..., die dem Eigentümer ein leistungsloses Einkommen abwerfen“, also Geldkapital, das Zinsen bringt, aber auch Sachinvesti- 21 NWO, GW 11, S.240. tionen, die nur mit Finanzierungen mit Geld zustande kommen, weil 22 NWO, GW 11, S.241.

30 Freigeld in Zetteln auszugeben, im Wert von einer bis 1.000 Entscheidend ist, dass der Gemeinderat 1932 und 1933 einen Be- Mark, dazu Kleingeldzettel wie Briefmarkenbogen. Dieses Frei- trag von rund 180.000 Schilling investierte. Die Mittel setzten geld solle wöchentlich ein Tausendstel seines Wertes verlieren. sich aus den Arbeitsscheinen und regulärer Währung zusammen, Durch Abreißen von Kleingeldzetteln und Aufkleben müsse der die aus einem Kredit des Landes Tirol sowie einem Zuschuss Inhaber den Wert der großen Zettel immer vervollständigen. aus der Arbeitslosenversicherung bestanden. Es entstanden etwa Jeweils am Jahresende würden aller Scheine gegen neue umge- 100 neue Arbeitsplätze, allerdings wurden in dem Ort ansonsten tauscht. weiter Jobs abgebaut. Heute schlagen Gesellianer eine Umtausch- oder Geldumlauf- Insgesamt ist Wörgl keine Bestätigung für die Gesellsche Teo- gebühr vor. Kennedy sprach von einer „Nutzungsgebühr“ für rie, sondern für keynesianische Wirtschaftspolitik im Westen- Geld. Regionalgeld-Gruppen und Tauschringe nennen es Um- taschenformat. Die Kommune bekam durch die Ausgabe von laufsicherungsgebühr. Trefen soll es in jedem Fall nicht die Schwundgeld statt Schilling so etwas wie einen zinslosen Kredit Geldvermögen, sondern lediglich Bargeldbestände und – etwa von ihren Bürgern, der Schwund wirkte wie eine nichtprogres- bei Vorschlägen der INWO - Girokonten.23 Eine Variante der sive Steuer.26 Das Geld sowie die Mittel vom Land und aus der Initiative für eine Natürliche Wirtschaftsordnung (INWO) sah Arbeitslosenversicherung verwandte die Gemeinde im Sinne ei- vor, dass die Europäische Zentralbank regelmäßig bestimmte ner nachfrageorientierten Politik, in dem sie Straßen und Kana- Geldscheine zum Umtausch aufruft und eine Gebühr verlangt. lisationen sowie ein Skisprungschanze für den Tourismus bauen Die Gebühr solle sechs Prozent für Bargeld und fünf Prozent für ließ. Girokonten betragen. Die Gebühr funktioniere wie „Strafzettel Im Mai 1933 verboten übergeordnete Behörden die Ausgabe wei- für falsches Parken“: Wer aus spekulativen Gründen Bargeld zu- terer Notgeld-Scheine in Wörgl, weil das Monopol der staatli- rückhalte, werde bestraft.24 chen Währung verletzt werde, zum Glück für die Gesellianer, die sich als Märtyrer präsentieren durften. Das Wunder von Wörgl Wann immer über Freiwirtschaft diskutiert wird, kann man sicher Tauschringe sein, dass ein Anhänger auf das „Wunder von Wörgl“ verweist. Anhänger Gesells gründeten ab 1994 in Deutschland so genan- Der Ort nahe Innsbruck hatte Anfang der 1930er Jahre etwa nte Tauschringe. Das sind Gruppen von Menschen, die Dien- 4.000 Einwohner, davon waren 350 erwerbslos. Bürgermeister stleistungen und Güter untereinander kaufen und verkaufen. Sie und Gemeinderat beschlossen im Frühjahr 1932, Arbeitsscheine benutzen als Zahlungsmittel eine Phantasiewährung (oft lautet im Wert von 32.000 Schilling auszugeben, die in der Kommu- die Bezeichnung „Talente“), meist als Verrechnungseinheit. ne neben der nationalen Währung als Zahlungsmittel kursieren Bei jedem Tauschvorgang wird auf dem Tauschring-Konto des sollten. Die Arbeitsscheine verloren jeden Monat ein Prozent ih- Käufers ein Minus und auf dem des Verkäufers ein Plus gebucht. res Wertes gemäß dem Schwundgeldprinzip. Maßeinheit für Soll und Haben ist in der Regel die Arbeitszeit, Die Kommune brachte die Scheine in Umlauf, in dem sie ihre die für ein Produkte aufgewandt werden muss, wobei theoretisch Arbeiter und Angestellten damit bezahlte, einige Gewerbebetrie- jede Arbeitsstunde gleichviel wert sein soll. be akzeptierten sie als Zahlungsmittel. Sie konnten damit ihre Soweit handelt es sich um normale Tauschakte, vermittelt durch Steuern bei der Gemeinde begleichen. Geld, wenngleich in einer virtuellen Währung Marke Eigenbau. Außerdem wechselte die Gemeinde die Arbeitsscheine jederzeit Allerdings gibt es einige Besonderheiten: Es handelt es sich nicht gegen Schilling ein, allerdings gegen eine Gebühr von zwei Pro- um einen ofenen Markt, die Teilnehmer müssen einem Tausch- zent. Ein Drittel der Arbeitsscheine wurde als Sammlerobjekte ring beitreten. Sie zahlen eine Gebühr, meist in harten Devisen, und Souvenirs aus dem Verkehr gezogen. Die Sammler handel- um eine Zentrale zu fnanzieren, die Angebot und Nachfrage ten gegen Gesells Intention, die Scheine möglichst rasch wieder vermittelt, etwa über eine Marktzeitung oder eine Internetseite, auszugeben. Ökonomisch gesehen horteten sie die Scheine trotz für jeden Teilnehmer ein Konto führt und wie ein Vereinsvor- Wertschwund. stand agiert.27 Die Gemeinde proftierte davon, weil sie den Gegenwert der Sou- Die Verfechter behaupteten, dass es sich um eine Form gegen- venirs ebenso wie den aus dem Schwund und der Rücktausch- seitiger Hilfe handelt, um Selbsthilfe, die neue soziale Netze gebühr einfach einstreichen konnte. Der schlaue und undogma- schafe, ein Gegengewicht auf lokaler Ebene zur „Globalisierung tische Bürgermeister legte diese Beträge in Schillinge bei einer der Geldwirtschaft“.28 Dieser geldvermittelte Tausch bedeute Bank zu sechs Prozent Zinsen an.25 Dass die übrigen Arbeitsscheine aufgrund des Schwundes schnel- ler umliefen, ist logisch. Insgesamt wurde aber nicht einmal zehn 26 Annette Richter, Das Wirtschaftswunder von Wörgl, in: ÖGB- Prozent des Umsatzes damit bestritten. Trotzdem hat dieser An- Monatszeitschrift Arbeit & Wirtschaft, März 1983, abgedruckt als In- teil sicher in Zeiten der Defation zu einer gewissen Belebung formationsblatt der INWO, Experiment Wörgl, in: Bartsch, Schmitt, 1989, S.258. beigetragen. 27 So verlangte der DöMak-Tauschring in Halle eine Kontoführungs- gebühr von zehn Mark im Jahr (döInfo 97, Dezember 1997, S.8), der Tauschring Fünf-Seen-Land im Landkreis Starnberg eine Aufnahme- 23 Kennedy, Frauen tragen die größte Last, Teil 2, in: Der Gesundheits- gebühr von zehn Euro plus fünf Euro Jahresbeitrag (Marktzeitung, berater, September 1989, S.21; Kennedy, Regio ergänzt Euro, 2004. November 2001, S.8), der Tauschring Westerwald für jedes Konto im 24 INWO-Deutschland, Infoblatt 1, Knöllchen für Spekulanten, un- Jahr eine Organisationsgebühr von 60 DM und 60 Talenten (Flugblatt datiert. des Tauschrings Westerwald, Grundsätze, Spielregeln, Gebühren und 25 Alex von Muralt, Der Wörgler Versuch mit Schwundgeld, in: Gün- Dienstleistungen). ther Bartsch, Klaus Schmitt, Hrsg., Silvio Gesell - der Marx der Anar- 28 Klaus Reichenbach, Der tiefere Sinn des Tauschens, in: Tausch-Sy- chisten, Berlin 1989, S.275f. stem-Nachrichten, TSN-Online, Herausgeber Klaus Klefmann, Nr.17,

31 Selbstverwirklichung und Selbstbetätigung, fördere Gemein- zwei Vorläufer. 1993 kursierte in Berlin im Stadtviertel Prenz- schaft und Solidarität und hole Menschen aus der sozialen Iso- lauer Berg zwei Monate lang der Knochen, der in Kneipen, Cafes lation.29 Tauschringe seien Teil einer „gesamtgesellschaftlichen und Szeneläden angenommen wurde. Insgesamt sollen Scheine Umorientierung“ und „Experimentierfelder für Gemeinwesenar- im Wert von knapp 110.000 Mark gedruckt worden sein, aber beit, lokale, soziale und nachhaltige Ökonomie“.30 Kennedy fei- nur knapp 15.000 zirkuliert haben. Das Design der Scheine ent- erte die Tauschringe als „erste Antwort auf die Übermacht der warfen Künstler, darunter der Sozialdemokrat Klaus Staeck. Der Großkonzerne“.31 Witz daran war, dass jeder, der „Knochen“ eintauschte, hofte, Die Wirklichkeit sah anders aus. Der Talente-Kreis in Graubün- ein Schnäppchen zu machen, nämlich einen Schein zu ergattern, den in der Schweiz meldete schon 1996 Stagnation: Angeschlosse- den ein halbwegs prominenter Künstler entworfen hatte oder ne Bauern hätten sich geweigert, Nahrungsmittel gegen Massage einer, der irgendwann groß rauskommen würde. Kunst- und und Esoterikangebote wie Reiki abzuliefern.32 Creutz rügte, die Geldscheinsammler sollen druckfrische Bündel zum Preis von Nachfrage sei aufgrund des begrenzten Sortiments geringer als 1.050 Mark gekauft haben.37 Ähnlich wie zuvor in Wörgl wurde das Angebot. Häufg würde ein gleiches oder ähnliches Spektrum also ein großer Teil der Scheine gleich wieder aus dem Verkehr von einfachen Leistungen angeboten, und darum nur geringe gezogen, von Kunstliebhabern oder zum Zweck der Spekulation Umsätze von maximal 20 Euro je Mitglied und Monat erzielt.33 auf denm Kunstmarkt. Auch prinzipiell gilt: Die Tauschringe der Gesellianer haben In Köln teilten Künstler 1995 die Welkenden Blüten aus. Das nichts mit Solidarität oder Nachbarschaftshilfe zu tun. Im Ge- Schwundprinzip steckt bereits im Namen, die Scheine wurden genteil: Im Kleinformat gelten die Prinzipien des Manchester-Ka- wie in Berlin in Szene-Kneipen und Läden akzeptiert und verlo- pitalismus. Wer keine Arbeit, keine Dienstleistungen oder Güter ren jede Woche an Wert. Im Projektpapier der Künstler-Gruppe einbringen kann, etwa Kranke, Behinderte und Alte, ist prinzip- Herzgehirn hieß es gemäß Gesells falscher Doktrin: iell ausgeschlossen. Im Sommer 2002 existierten in Deutschland etwa 350 Tausch- „Geld bleibt ewig jung, es rostet in keinem Tresor und verfault ringe mit 25.000 Mitgliedern.34 Damit war der Gipfel der Expan- unter keinem Kopfkissen. Geld ist der Gott, es macht alles neu.“38 sion erreicht. 2009 gab es etwa 200 Tauschringe, die vor sich hin dümpelten, aufgrund des begrenzten Angebotes.35 Derzeit fnden Das erste dauerhafte Regionalgeld-System war 2001 der „Roland“ sich in diversen Verzeichnissen die Adressen von maximal 220 in Bremen, der inzwischen als elektronische Rechnungseinheit Tauschringen, in dem Verbund Tauschen ohne Geld waren 71 kursiert. Derzeit existieren in Deutschland etwa zwei Dutzend Tauschringe gelistet, wobei solche Angaben nichts über Aktivitä- Initiativen, die in ihrer Region ein System aufgebaut haben, mit ten und Umsätze sagen. Vereinen und Satzungen, eigenen Scheinen und Umtauschstel- Kennedy gelangte zu der Erkenntnis, dass über Tauschringe allen- len sowie Unternehmen, die das alternative Zahlungsmittel ak- falls ein bis zwei Prozent des täglichen Bedarfs abgedeckt werden zeptieren. Mindestens 14 Initiativen sind in Deutschland wieder können.36 Lutz Jaintner stellte 2013 fest, dass Tauschringe nur er- eingegangen: Gerade abgewickelt wurden der Zschopautaler, der gänzenden Charakter haben, nur ein kleiner Teil der Bedürfnisse Rössle in Baden Württemberg und der Grabfelder in Franken. ließe sich so abdecken. Zunehmend würden Tauschringe immer Der Umtauschkurs zum Euro ist meistens 1:1 (in seltenen Fäl- tiefer in die roten Zahlen rutschen, weil sich Teilnehmer abmel- len bekommt man für einen Euro auch zwei Regios). Der Clou den, die noch ein Minus auf ihren Konten haben. ist der automatische Wertverlust der Scheine, genannt Umlauf- sicherung, der bei allen Regionalgeldwährungen gilt. Manche Regionalgeld verlangen eine Rücktauschgebühr am Jahresende.39 Andere ha- Nachdem die Tauschringe gescheitert waren, starteten eini- ben einen regelmäßigen Schwund, wie der Chiemgauer, der jedes ge Gesellianer zusammen mit Anthroposophen, einen zweiten Vierteljahr zwei Prozent verliert. Wer den Schein zum Quartal- Versuch, das so genannte Regionalgeld. Als PR-Aktionen gab es sende in der Tasche hat, muss eine Marke kaufen, die zwei Pro- zent des Wertes kostet, und aufkleben. Wer Chiemgauer zurück- tauschen will, muss fünf Prozent abgeben, zwei Prozent für den September 2002, S.33-35. Verein Chiemgauer Regional – Verein für nachhaltiges Wirtschaf- 29 Christine Weiß, Bedeutung der Tauschringe, Teil 4, in: Angebot ten, den die Initiatoren des Chiemgauer gegründet haben, drei & Nachfrage, Herausgeber Michael Wünstel, Nr. 26, März 1998, S.6. Prozent fießen an örtliche Vereine.40 30 BAG Arbeitsgemeinschaft bundesdeutsche Tauschsysteme, Positi- Die Begründung entspricht der Lehre Gesells: Geld solle nicht onspapier, Stand Anfang 2000, S.1. gehortet werden, sondern möglichst oft umlaufen. Für Regional- 31 Kennedy, 1991, S.191. geld gilt, dass diejenigen, die die Scheine zum Verfallsdatum in 32 Tomas Wendel, Talentprobe, Süddeutsche Zeitung-Magazin, den Händen haben, in harten Euro-Devisen ausgleichen müssen. Nr.16, 19.4.1996, S.27. Britische LETS-Leute berechneten Mitte der Wie bei einem Schneeballsystem zahlt also der Letzte die Rech- 1990er Jahre, dass in den dortigen Ringen durchschnittlich im Monat nung.41 je Teilnehmer nur 40 Mark umgesetzt wurden (Wendel, 1996, S.24). 33 Creutz, 2008, S.270f.; Creutz, Möglichkeiten und Grenzen prak- tischer Geldexperimente, in: Zeitschrift für Sozialökonomie, Nr.144, 37 Die Tageszeitung (Taz), 12.11.1993. März 2005, S.30; Creutz, 2003, S.587f. 38 Stadtrevue Köln, Nr.10/1995, S.20. 34 Die Zeit, Nr.28/2002. 39 www.havelblueten.de, 7.12.07. 35 http://www.tauschringservice.de/Tauschringportal/indexi.html, bei 40 Faltblatt Chiemgauer.info, April 2005. dieser Liste heißt es zu manchen Gruppen: „gestorben“ oder „wahr- 41 Gerhard Rösl, Regionalwährungen in Deutschland – Lokale scheinlich gestorben“ (Stand 14.10.2009). Konkurrenz für den Euro?, Reihe 1: Volkswirtschaftliche Studien, 36 Kennedy, Interview, Frankfurter Rundschau, 15.10.2004. Nr.43/2006, Hrsg. Deutsche Bank, S.16

32 Regionalgeld-Verfechter betonen einerseits die Wirkung des Für den Vorwurf, eine Spielerei für wohlhabende Leute zu sein, Schwundprinzips, andererseits, um neue Mitglieder und Betriebe spricht auch die Branchenverteilung der Betriebe, die Regional- zu gewinnen, beschwichtigen sie, Wertverlust und Rücktauschge- geld akzeptieren. Produzierendes Gewerbe ist praktisch nicht zu bühren wären zu vernachlässigen.42 Die Rücktauschgebühr, die fnden. Der Chiemgauer deckt immerhin ein großes Spektrum zwischen drei bis fünf Prozent beträgt, würde „unter den durch- des Einzelhandels ab, während die meisten anderen Gruppen schnittlichen Werbekosten des Handels“ rangieren.43 Kennedy überwiegend Restaurants und Cafes, Naturkostläden, Musiker versicherte, Kaufeute könnten Regionalgeld mit geringem Verlust und Künstler sowie Computerläden angeben. Kennzeichnend zurücktauschen, an andere Geschäfte oder ihre Angestellten wei- ist der hohe Anteil von Geschäften aus dem Gesundheits- und tergeben, dann erlitten sie gar keinen Verlust.44 Wellnessbereich sowie der Esoterikszene mit Angeboten wie Rei- Der Chiemgauer, der im Januar 2003 eingeführt wurde, dient auf- ki und Fengshui. Der „Regio München“ hatte eine Aura-Leserin grund seines relativen Erfolges als Vorbild. Oberfächlich betrach- und Schamanen im Angebot.48 tet wirken die vom Chiemgauer e.V. publizierten Zahlen imposant. 2013 hatte der Chiemgauer demnach 2769 Verbraucher und 627 Die Creditos in Argentinien Akzeptanzstellen, also Vereine, Verbände, Institutionen und Un- In Argentinien eröfneten drei Anhänger Gesells 1995 den ersten ternehmer, die diesen Regio als Zahlungsmittel annahmen. Der Tauschring (spanisch Club de Trueque) in der Provinz Buenos Umtausch von Euro in Chiemgauer wurde mit über zwei Millionen Aires. Diese Tauschringe konstituierten sich als Netzwerk mit Euro angegeben, der Umlauf belief sich auf rund 520.000 Euro, Knotenpunkten oder „Clubs“ vor Ort mit richtigen Marktplät- der Umsatz aller beteiligten Unternehmen auf über 7,1 Millionen zen, für die man Eintritt bezahlen musste. Dazu führten sie eine Euro.45 Das sind Zahlen, von denen alle anderen Regiogeld-Grup- eigene Währung, den „Credito“, ein. Im Jahr 2000 soll es etwa pen in Deutschland und Österreich nur träumen können. 450 Tauschvereine mit über 370.000 Mitgliedern gegeben ha- Allerdings muss man diese Daten in ihrem Kontext bewerten.Das ben. 49 Chiemgau im südöstlichen Oberbayern besteht aus den Landkrei- Wie auf jedem Markt bestimmten Angebot und Nachfrage die sen Rosenheim und Traunstein sowie der kreisfreien Stadt Rosen- Preise. Angeboten und verkauft wurden im wesentlichen ge- heim, die 2014 zusammen eine Kaufkraft von weit über zehn Mil- brauchte Kleidung und Möbel, Bücher, gelegentlich fabrikneue liarden Euro hatten. Dagegen nimmt sich ein Chiemgauer-Umsatz Produkte, etwa wenn Arbeiter in Naturalien „entlohnt“ wurden, von 7,1 Millionen bescheiden aus.46 dazu Dienstleistungen wie Haareschneiden und viel zu wenige Es ist kein Zufall, dass der Chiemgauer in einer der reichsten Re- Lebensmittel.50 gionen Deutschlands so erfolgreich ist. Aufällig ist, dass von 24 Schätzungen und Umfragen zufolge lebten im Sommer 2002 Regionalgeldsystemen 14 in den reicheren Bundesländern Bayern etwa zehn von 36 Millionen Argentiniern völlig oder teilweise und Baden-Württemberg arbeiten, aber nur insgesamt vier in den von dem Tauschring-Credito-System.51 Im September 2002 wur- fünf ärmeren östlichen Bundesländern sowie Berlin. Dabei haben den neue, rostende Creditos ausgegeben, gemäß der Schwund- sämtliche Regios in Ostdeutschland, sofern sie nicht eingegangen geld-Lehre Gesells. Die Hälfte der Erwerbsbevölkerung war zu sind, die Euro-Deckung aufgegeben, haben sich also in Tauschrin- diesem Zeitpunkt nach ofziellen Angaben erwerbslos oder unt- ge zurückverwandelt. erbeschäftigt, die Hälfte der Argentinier vegetierte unterhalb der Eine Studie über den Waldviertler, die größte österreichische Regio- Armutsgrenze. 52 nalwährung, kommt zu dem Ergebnis, dass Regionalgeld in einem Die argentinischen Clubs und Creditos wurden von der hiesigen Gebiet mit hoher Erwerbslosigkeit „nicht optimal“ sei, weil die Gesellianer-Szene gefeiert. Wieder einmal zeige sich am Credi- „Liquiditätsprobleme“ nicht beseitigt werden könnten, zumindest in der Anfangsphase. Geld, ob als Euro oder Waldviertler, müsse schon vor dem Tauschakt vorhanden sein, was bei Erwerbslosigkeit 48 http://urstromtaler.de/akzeptanzpartner, (Abfragen 13.12.2007, „nur eingeschränkt der Fall“ sei. Obendrein könnten sich Erwerbs- 13.10.2008). 47 lose teurer produzierte regionale Produkte oft nicht leisten. 49 Revolutionäre Situation in Argentinien?, in: Wildcat-Zirkular, Nr.65, Februar 2003, S.35f; Rubén Ravera, Los clubes de trueque en la Argentina, 28.1.2003, www.autosufciencia.com.ar/shop/detallenot. 42 Bundestrefen der Tauschringe in Bad Aibling, 3.-5. Oktober 2003, asp?notid=52 ; Günter Hofmann, Nicht für Pesos und Dollars – son- Workshop „Vom Ringtransfer zur regionalen Währung - Eine Antwort dern für Creditos, in: Tauschring-System-Nachrichten, TSN-Online, auf die Globalisierung“. Nr.17/September 2002, S.7f., Andres Perez, Die argentinische Krise 43 Siglinde Bode, Regionale Währungen für entwicklungsschwache und mögliche Ansteckungsefekte, in: Context XXI, Wien, Nr.3-4, Regionen – Möglichkeiten für eine regionale Ökonomie, in: Zeitschrift 2002, S.19f., Gerhard Margreiter, Der argentinische Schuldentango für Sozialökonomie, Nr.144, März 2005, S.6f. führt zu Freigeld, in: r-evolution, Zeitschrift der INWO, Nr.5, Janu- 44 Kennedy, Regio ergänzt Euro, 2004; dies., Geld und Spiritualität - ar/Februar 2002, Argentinien: Durchwursteln auf Pump, Financial Vom Tabu zur Lösung, zusammen mit Stefan Brunnhuber, www.mar- Times Deutschland, 15.11.2001, Das neue Geld der Armen, Frankfur- gritkennedy.de (November 2005). ter Rundschau, 2.8.2000. 45 http://www.chiemgauer.info/fleadmin/user_upload/Dateien_Ver- 50 Besser Monopoly-Geld als gar keines, Neue Luzerner Zeitung, ein/Chiemgauer-Statistik.pdf (Abfrage 22.5.2015). 20.12.2001. 46 http://www.mb-research.de/_download/MBR-Kaufkraft- 51 Ravera, 2003. 2014-Kreise.pdf (Abfrage 22.5.2015). 52 Colectivo Situaciones, Über den Tausch zu einer neuen Ökonomie. 47 Andrea Visotschnig, Die Regionalwährung Waldviertler. Auswir- Praxis und Probleme der Tauschnetzwerke in Argentinien, in: dies., kungen eines Projektes solidarischer Ökonomie auf die Regional- Que se vayan todos. Krise und Widerstand in Argentinien, Berlin, entwicklung, Wien 2010, S.137, http://www.waldviertler-regional.at/ 2003, S.152-154, Stefan Timmel, Tauschbörsen: Gescheitertes Experi- downloads/Diplomarbeit_Waldviertler_OnlineVersion.pdf (Abfrage ment oder Erfahrung für die Zukunft, in: Colectivo Situaciones, 2003, 2.6.2015). S.161; Das neue Geld der Armen, Frankfurter Rundschau, 2.8.2000.

33 to, das „schuldenfreies Geld (Freigeld) besser funktioniert als die von den Prosumenten unterstellt, Waren auf einem Markt anzu- schuldenbelasteten Pesos und Dollars“, und das „wohl sehr zum bieten, sondern zuallererst etwas herzustellen - Nahrungsmittel, Ärger aller Finanzmagnaten“, schwärmte die INWO-Zeitschrift Kleider oder Medikamente. Dazu braucht man Kapital, Pro- r-evolution Anfang 2002. Die Tauschring-System-Nachrichten duktionsmittel, Land, Rohstofe. Die Armen und die Proletarier berichteten von über 7.000 Tauschmärkten und einem Umsatz müssen Fabriken und Land besetzen, was in Argentinien ja auch von umgerechnet rund einer Milliarde Dollar 2001. Schätzungs- geschah, um zu prosumieren. weise 150 Millionen Creditos seien im Umlauf.53 Der Gründer Interessant ist die Einschätzung der Journalistin Gaby Weber, des ersten Clubs, Ruben Ravera, habe keine Angst vor gefälsch- die im Sommer 2002, also auf dem Höhepunkt der Entwick- ten Scheinen: „Wer Creditos nachmachen will, fördert am Ende lung, mit Sympathie berichtete. „Wenn sich die Menschen nicht doch nur den Handel.“54 mehr über die Tauschklubs ernähren könnten würden sie alle auf Die argentinischen Clubs prägten den Begrif Prosumenten, eine die Barrikaden steigen“, erklärte ihr ein Geschäftsmann. Kombination aus Konsument und Produzent, getreu ihrer ideo- logischen Vorgabe, der Credito würde die Nachfrage stimulie- „Deshalb sehen es die argentinische Regierung und die inter- ren.55 nationalen Finanzorganisationen mit Wohlwollen, daß sich die Armen selbst über die Runden bringen und nicht länger dem „Ein Mitglied muss prosumieren. Das heißt: produzieren und Staatshaushalt zur Last fallen“, konsumieren zugleich. Jeder muss im Klub etwas anbieten, um Creditos zu erhalten, mit denen er Waren erwerben kann.“56 schreibt Weber. So sei eine „informelle Wirtschaft“ entstanden,

Zunächst brachte das System durchaus Verbesserung der Ver- „mit privaten Tausch-Tickets, wo keine Steuern erhoben werden sorgungslage vor allem für die Mittelklasse, die noch Güter und und wo vom Staat nichts erwartet wird, keine Krankenkassen, Dienstleistungen auf den Märkten einbringen konnte. Dann Renten und die Förderung von sozial Benachteiligten. So kann brach das System zusammen. Denn der massenhafte Zulauf und sich der Staat aus der Sozialarbeit herausziehen, können Finanz- die vermehrte Ausgabe von Creditos führten nicht - wie nach mittel und Beamte eingespart werden.“59 der Teorie der Gesellianer erwartet - zu einem Anstieg der pro- duktiven Aktivitäten. Stattdessen spekulierten Teilnehmer mit Dass sich Geldpfuschereien wie der Credito und die Tauschclubs knappen Gütern.57 in Argentinien, wo schon der Mittelstand verarmte, ausbreiteten, Im Modell war eine Parität von 1:1 zwischen Peso und Credito überrascht nicht. Habseligkeiten, einfache Dienstleistungen, Ge- vorgesehen, allerdings waren die Preise auf den Credito-Märkten müse und Obst aus dem Garten gegen Nahrungsmittel, Kleider von Anfang an stets um 50 bis 200 Prozent höher. Die Ursachen oder Schuhe zu tauschen ist eine Überlebensstrategie.60 Dadurch dafür waren das begrenzte Angebot. Es gab ein Überangebot an können Menschen ihr tägliches bescheidenes Auskommen fn- gebrauchter Kleidung, es fehlte aber an Nahrungsmitteln. Das den, sie bleiben damit Teil der kapitalistischen Ökonomie. Flohmarkt-Sortiment erwies sich als völlig inadäquat in einer Si- tuation, in der es für viele um das Überleben ging. Freiwirtschaft als Marktradikalismus Knappheit führt in jedem marktwirtschaftlichen System zu Ver- Wer keine Dienstleistungen oder Güter einbringen konnte, wer teuerung und Geldentwertung. Mitte 2002 tauchten gefälschte über kein Kapital in Form von Geld, Maschinen, Rohstofen oder Scheine im Wert von insgesamt 260 Millionen Creditos auf, die Land verfügte, war auch aus dem Credito-System prinzipiell aus- die Infation weiter anheizte, die schließlich deutlich über 500 geschlossen. Ähnlich funktionieren Tauschringe und Regional- Prozent lag. Eine Tasse Kafee kostete etwa 1500 Creditos. Im geld überall, ohne jegliche soziale Absicherung, ganz wie Gesell Herbst 2002 brach das System zusammen, im März 2003 waren es immer wollte. nur noch 200.000 Menschen beteiligt.58 Denn Freiwirtschaft ist radikaler Marktliberalismus. Zwar ver- Das argentinische Credito-System hat die Gesellianische Teo- spricht der Kaufmann, ohne Zinsen und Renten würden sich alle rie auch im Großversuch empirisch widerlegt, die abstruse An- Einkommen erhöhen. Verteilt werden solle aber „nach den Geset- nahme, man müsse lediglich Schwundgeld einführen, um alle zen des Wettbewerbs“ gemäß dem Prinzip: „Dem Tüchtigsten der ökonomischen Probleme zu beheben und alle soziale Not zu lin- höchste Arbeitsertrag.“61 Gesell redete denn auch von einer Rück- dern. Denn Produktion bedeutet nicht, wie in dem Geschwätz kehr zu einem Manchester-Kapitalismus, allerdings ohne Rentiers und Grundeigentümer. Ausgegrenzt werden alle Menschen, deren Arbeitskraft nicht proftabel verwertet werden kann. 53 Hofmann, 2002, S.7f. Gesell sprach von „Arbeitsscheuen“ und „Bummelanten“. In der 54 Hofmann, 2002, S.11. Gesellschen Utopie wären diese Menschen auf Almosen ange- 55 Gaby Weber, Prosumieren statt Konsumieren. Tauschhandel in Ar- wiesen, denn ein Sozialstaat ist nicht vorgesehen. Der Berliner gentinien, Deutschlandradio, 23.7.2002, Manuskript. 56 Weber, 2002. 57 Colectivo Situaciones, 2003, S.158f. 59 Weber, Eine reale Alternative, Die Gazette, München, August 2002. 58 Barbara Roßmeißl, Tauschhandel in Argentinien. Überlebensstrate- 60 Nach dem Zweiten Weltkrieg eröfnete in München eine „Ober- gie in Zeiten der Wirtschaftskrise, in: Zeitschrift für sozialökonomie, bayerische Tauschzentrale“, ein Verbund von Geschäften. Die Kunden Nr.141, juni 2004, S.25f.; Roßmeißl, Tauschhandel in Argentinien konnten in diesen Geschäften Produkte verkaufen und erhielten dafür – Möglichkeiten und Grenzen einer Parallelökonomie in Zeiten der einen Berechtigungsschein, mit dem sie ein halbes Jahr lang in einem Wirtschaftskrise, http://www.sozialoekonomie.info/Forschung/Di- anderen Geschäft des Ringes einkaufen konnten (Süddeutsche Zei- plomarbeiten/DiPA_Rossmeissl_ue/dipa_rossmeissl_ue.html (Abfrage tung, 23.11.1945). 1.6.2015); Timmel, in: Colectivo Situaciones, 2003, S.163f. 61 NWO, GW 11, S.10 f.

34 Gesellianer Klaus Schmitt spricht von einer Wirtschaftsordnung, Das ist insofern unlogisch, als diese Menschen ja nicht einfach die das zu Grundeigentümern werden, wenn sie in einem Land mit pri- vatem Grundeigentum einwandern. „eigennützige Streben der Menschen nutzt und die tüchtigen Bezeichnend ist die rassistische Haltung Gesells, die in diesem Produzenten belohnt und nicht die unproduktiven Geldverleiher, Zitat zum Ausdruck kommt, in Gestalt des Antiziganismus, Grundeigentümer und andere Parasiten bereichert“.62 also der Difamierung von Sinti und Roma. In seinen Schrif- ten fnden sich außerdem immer wieder diskriminierende Äu- In einer Broschüre der INWO-Schweiz fordert Werner Rosenber- ßerungen gegen Schwarze, in Gestalt der so genannten Hotten- ger die „Soziallasten bei den Arbeitskosten“ zu senken, gemeint sind totten, Menschen aus dem südlichen Afrika, die er als faul und Beiträge zur Renten-, Kranken-, Unfall- oder Arbeitslosenversiche- schlampig charakterisiert (bis heute gibt es das Sprichwort von rung.63 der Hottentottenwirtschaft), gegen Afroamerikaner (er warnt vor Rosenberger fndet eine Marktwirtschaft „gerecht“, wenn jeder der Herrschaft der Neger in den USA, wenn diese keine Italiener nach eigenem Ermessen produzieren und konsumieren könne. Jede und Osteuropäer einwandern ließen)67 sowie Warnungen vor der Arbeitsleistung solle zu einem gleichwertigen Kauf berechtigen, „gelben Gefahr“ gegen die sich die Weißen zusammenschließen was der Vorstellung Proudhons und Gesells vom gerechten Tausch müssten. entspräche, der sich einstelle, wenn nicht Zins oder Grundrente als Während des Ersten Weltkriegs propagierte Gesell Freiland arbeitslose Einkommen abgezogen würden. als Belohnung für deutsche Soldaten. Diese Aussicht würde Rosenberger schreibt: „Arbeitsfähige Menschen sollen in der Regel die Soldaten motivieren, und Deutschland damit unbesiegbar kein Einkommen ohne eigene Arbeitsleistung erlangen können“. machen.68 Dagegen sei Privatgrundbesitz eine „Entweihung des Irgendwelche Ausnahmen von seiner Regel nennt er nicht. durch den Krieg geläuterten und geheiligten Begrifes Vaterland“ und obendrein „Quelle völkischen Verfalls“.69 Sozialdarwinismus und Rassenhygiene Zentral für sein Denken und durchgängig zu fnden in seinen Was Gesell von anderen Propagandisten der Marktwirtschaft posi- Schriften war das Hirngespinst der Degeneration der Mensch- tiv abhebt, ist sein unverblümtes Bekenntnis zum Sozial-darwinis- heit durch die moderne Zivilisation und insbesondere die Zins- mus. Seine natürliche Wirtschaftsordnung meint eine Ökonomie, wirtschaft.70 Diese Degenerations-Ängste waren um 1900 in in der der Kampf ums Dasein ungehemmt ausgefochten wird. Das bürgerlichen Kreisen der führenden kapitalistischen Staaten Ziel Gesells war eine weitgehend staatsfreie Ordnung, in der sogar weit verbreitet, sie motivierten die sozialdarwinistischen und die Rechtsprechung durch Lynchjustiz ersetzt werden sollte, und eugenischen Bewegungen sowie die Lebensreformer und einen die erfolgreichsten Männer mit möglichst vielen verschiedenen Teil der Linken. Die zentrale Annahme war, dass sich genetisch Frauen eine maximale Anzahl von Kindern zeugen sollten, um eine kranke und behinderte sowie „verhaltensaufällige“ und asoziale „Hochzüchtung“ der Menschheit zu erreichen. Menschen stärker verbreiten würden, als die Leistungsträger der Diese rassenhygienische Vision fundierte sowohl seine Vorschläge Gesellschaft. Die Lebensreform-Bewegung verknüpfte Eugenik zur Geld- als auch zur Bodenreform, die er nach der Jahrhundert- und Rassenhygiene mit antiurbanen und antimodernen Afek- wende, nach der Rückkehr aus Argentinien, entwickelte. Ausge- ten, daraus resultierten ihre Siedlungsprojekte, wie die Obst- hend von der zutrefenden Beobachtung, dass der Boden begrenzt baugenossenschaft Eden, eine Hochburg der Gesellianer.71 Die ist, folgerte Gesell, dass das Land wie das Geld dazu genutzt werde, Nationalsozialisten grifen diese weit verbreitete Haltung auf arbeitsloses Einkommen zu erzielen: So wie der Geldbesitzer Zins und zogen die mörderischen Konsequenzen aus den Kampagnen erpresse, streiche der Grundeigentümer eine Bodenrente ein. gegen „lebensunwertes“ Leben und „Ballastexistenzen“.72 Gesell wollte deshalb das Privateigentum an Boden abschafen, die Gesell konstruierte einen Zusammenhang zwischen Arbeit, Grundeigentümer sollten mit Schwundgeld entschädigt werden. Leistung und biologischer Wertigkeit von Menschen. In einer Grund und Boden sollten zu Freiland werden, jeder sollte überall so Gesellschaft ohne staatliche Eingrife, ohne sozialstaatlichen viel Boden pachten, wie er bebauen könnte.64 Dieses Recht ist aller- Schutz, ohne Zins und Grundrente, würden alle in einer völlig dings bürgerlich-formal: Verpachtet wird an den Meistbietenden.65 Gesell unterstellte, dass sich das Freiland-Prinzip dank seiner öko- 67 NWO, GW 11, S.63. nomischen Vorzüge weltweit ausbreiten würde. Staaten, die sich weigern und weiter Monopolgewinne ermöglichen, würden, so 68 Gesell, Deutsches Freiland, Flugblatt 1915, GW 8, S.243f., S.250. schreibt er, 69 Deutscher Verein Freiland, Entwurf zum Werbeprospekt, GW 8, S.332f. „die Arbeitsscheuen der ganzen Welt ins Land ziehen... Alle Bumm- 70 Gesell, Freihandel oder Schutzzoll? GW 7, S.125, Gesell, Die Auslese ler, Sonnenbrüder und Zigeuner würden dorthin ziehen, wo man durch das Christentum, den Krieg und den physiokratischen Frieden,

die Bodenschätze an das Ausland mit Renten belastet abgibt.“66 Teil 1, GW 7, S.203f. 71 Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene, Frankfurt am Main 1992, Michael Schwartz: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der 62 Schmitt, 1989, S.219. deutschen Sozialdemokratie 1890-1933, Berlin 1995; Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internatio- 63 Werner Rosenberger, Die Welt im Umbruch, Entwurf einer nachka- nalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, pitalistischen Wirtschaftsordnung, zweite Aufage, Aarau 1994, heraus- Frankfurt am Main 1997. gegeben von der INWO Schweiz, S.16, S.33f. 72 Jochen-Christoph Kaiser, Kurt Nowak, Michael Schwartz: Euge- 64 NWO, GW 11, S.72, S.99. nik, Sterilisation, „Euthanasie“. Politische Biologie in Deutschland 65 NWO, GW 11, S.72. 1895-1945, Berlin 1992; Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat. Die 66 NWO, GW 11, S.70. „Vernichtung unwerten Lebens“, Frankfurt am Main 1983.

35 unregulierten, freien Konkurrenz zueinander stehen. Wer in ei- bewältigen. Die ärztliche Kunst kann dann die Hochzucht nur ner solchen Gesellschaft erfolgreich ist, der muss nach Ansicht verlangsamen, nicht aufhalten.“79 Gesells höherwertige Gene haben, während umgekehrt die Ver- lierer genetisch minderwertige Wesen sein müssen. Empfängnisverhütung und Abtreibung lehnte Gesell prinzipiell Stattdessen würde sich in der Gegenwart minderwertiges Erbgut ab: Sie verhinderten die Auslese aus möglichst viel Material und ungebremst verbreiten, weil Menschen, ohne sich im Konkur- widersprechen deshalb den Naturgesetzen.80 renzkampf bewähren zu müssen, ein arbeitsloses Einkommen er- An die männlichen Anhänger richtete er folgenden Aufruf: zielten, und sich fortpfanzen könnten. Geldbesitzer und Grund- besitzer seien dem ökonomischen Kampf ums Dasein und damit „Physiokraten sorgt für die Vermehrung Eurer Art und zwar auf der Auslese entzogen, aber aufgrund ihres Reichtums für Frauen Kosten der anderen. Jagt den Philistern die Frauen ab, so weit ihr attraktiv und setzten deshalb viele Kinder in die Welt. könnt. Macht es wie König August der Starke“.81 Grundlegend für Gesells Vorstellungswelt ist also eine sozialras- sistische Haltung, wie sie heute von Leute wie Tilo Sarrazin ver- Physiokraten lautete die Selbstbezeichnung im Kaiserreich und treten wird. Von Anfang an war Gesells Ziel die Menschenzucht in der Weimarer Republik, abgeleitet vom Begrif der Physio- bzw. eine Hochzucht der Menschheit, so dass die vermeintlich kratie, womit die Gesellianer weniger die Lehre der klassischen Minderwertigen allmählich verschwinden würden.73 französischen Wirtschaftslehre gleichen Namens meinten, als Der Titel seines Hauptwerkes „Natürliche Wirtschaftsordnung“ vielmehr die Herrschaft der Natur, was in ihrer Deutung Kampf hat nichts mit Ökologie oder Umweltschutz zu tun, sondern be- ums Dasein, Auslese der Stärksten und allmähliche Ausmerze zieht sich auf die Vorstellung, dass der Kampf ums Dasein, die der vermeintlich Minderwertigen bedeutete. Als Philister be- Höherentwicklung der Starken und die Ausmerzung der Schwa- zeichnet Gesell Männer, die die Fortpfanzung behindern, in chen Naturgesetze wären, die durch Zins und Bodenrente als dem sie auf Sex verzichten. Friedrich August von Sachsen (1670- leistungslose Einkommen untergraben würden. 74 Sein Wirt- 1733), dem sächsischen Kurfürsten und polnischen König, wur- schaftsmodell sollte die vermeintliche Degeneration der Mensch- den 354 Kinder angedichtet, überliefert und anerkannt waren heit stoppen und umdrehen durch einen, neuen verbesserten, bloß acht Nachkommen. perfekten Manchesterkapitalismus. In dem Roman „Der abgebaute Staat“ (1927) betonte Gesell die Züchtung von „Kraft, Gesundheit, Geist, Schönheit“ als gesell- „Die Auslese durch den freien, von keinerlei Vorrecht mehr ge- schaftliche Ziele. Die Frauen ziehen durch die Welt, wählen ei- fälschtem Wettstreit wird in der Natürlichen Wirtschaftsord- nen Partner aus, von dem sie sich trennen, sobald sie schwanger nung vollständig von der persönlichen Arbeitsleistung geleitet... sind, und tragen die Kinder in Frauenkommunen aus. Nach ei- Denn die Arbeit ist die einzige Wafe des gesitteten Menschen in niger Zeit dort machen sie sich auf die Suche nach dem nächsten seinem Kampfe ums Dasein`. (...) Doch steht es außerhalb jedes Samenspender. Frau Berta, die Heldin seines Romans, hat bereits Zweifels, daß der freie Wettbewerb den Tüchtigen begünstigt sieben Kinder von sieben Männern.82 und seine stärkere Fortpfanzung zur Folge hat“, Solche Ideen werden heute von Gesellianern im Regelfall nicht ofensiv, sondern nur verbrämt vertreten. So bezeichnete Ken- schrieb Gesell im Vorwort.75 nedy, Gesells Konzept als eine Art Lastenausgleich für Kinder- Während die Männer einen ökonomischen Konkurrenzkampf erziehung dar. Gesell habe „nicht nur ein ausreichendes, durch austragen, würde die Pacht für das Freiland „restlos an die Müt- keine Regierung und kein Parlament antastbares Kindergeld“ ter nach der Zahl der Kinder verteilt“, als „Mutterrente“.76 Die verlangt, sondern die Mütter oder Frauen müssten selbst den Bo- „Rückkehr der Frau zur Landwirtschaft“ ist laut Gesell „die den verwalten.83 Regina Schwarz vom Kölner „Netzwerk gegen glücklichste Lösung der Frauenfrage“.77 Die Konzernherrschaft“, einer Mitgliedsorganisation von Attac, und Mitbegründerin des Kölner Sozialforums, behauptete, Gesell „Vorrechte bei den Geschlechtern“ sind aufgehoben, die habe ein „Entgelt für Erziehungsleistungen“ vorgeschlagen, um Grundrente als ökonomische Sicherheit gewährt den Frauen die Frauen aus der ökonomischen Abhängigkeit der Männer zu „das freie Wahlrecht... und zwar nicht das inhaltsleere politische befreien.84 Dass dessen „Lösung der Frauenfrage“ mit Lebens- Wahlrecht, sondern das große Zuchtwahlrecht, dieses wichtigste born und Mutterkreuz kompatibel ist, verschleierte Schwarz. Sieb der Natur.“78 Werner Onken, Herausgeber der Gesammelten Werkte Gesells, schrieb, dank Gesells Bodenreform würde die „freie Liebe“ end- Die Frauen würden den schädlichen Einfuß der Medizin aus- lich verwirklicht, weil alle Mütter nach der Zahl ihrer Kinder gleichen, die die „Erhaltung und Fortpfanzung der fehlerhaft ein Entgelt aus den Pachterträgen bekämen. geborenen Menschen“ bewirkt.

„Soviel Krankhaftes auch der Auslesebetätigung der Natur durch 79 NWO, GW 11, S.XXI. die Fortpfanzung der Fehlerhaften zugeführt wird, sie wird es 80 Gesell, GW 17, S.93, S.294 f. 81 Gesell, GW 17, S.94. 73 Gesell, Nervus Rerum - Fortsetzung, GW 1, S.139f. 82 Gesell, Der abgebaute Staat - Leben und Treiben in einem gesetz- und sittenlosen hochstrebenden Kulturvolk, GW 16, S.252f. 74 Deutscher Verein Freiland, GW 8 S.334f. 83 Kennedy, Die Lösung der Bodenrechtsfrage, Teil 3, in: Der Gesund- 75 NWO, GW 11, S.XX f.; ebenso: Schmitt, 1989, S.214, S.218. heitsberater, Dezember 1989, S.22f. 76 NWO, GW 11, S.72. 84 Regina Schwarz, Tauschen ohne Wachstumswahn - Die Freiwirt- 77 NWO, GW 11, S.92. schaft als humane und ökologische Alternative, in: Netzwerk gegen 78 NWO, GW 11, S.XXI. Konzernherrschaft, Infobrief Nr.10, Oktober 2002, S.41f.

36 „Die vom Kapitalismus körperlich, seelisch und geistig krank rafenden, schachernden, nicht-arbeitenden Juden zu pfegen. gemachte Menschheit (wird) in einer (...) freien, natürlichen 1909 wandte sich Gesell explizit gegen Antisemiten, indem er Wirtschaftsordnung allmählich wieder gesund werden und zu betonte, einen Schachergeist als spezifschen Charakterzug der einer neuen Kulturblüte aufsteigen können“, Juden gebe es nicht, die Reichsbank ziehe den Schacher groß.89 Einige der ersten Anhänger und engsten Mitarbeiter von Ge- fasst Onken die angeblichen Ziele Gesells zusammen.85 Er ver- sell waren dagegen sehr eindeutig überzeugte Antisemiten. meidet historisch belastete Begrife (Degeneration, Hochzucht, Der Mediziner Teophil Christen, Mitgründer des Schweizer minderwertig) und verwendet dafür Chifren. Freiwirtschaftsbundes, agitierte gegen „Rassenmischung“ von Ganz ofen vertritt die Menschenzucht-Perspektive der Berliner Schwarzen und Weißen, weil diese ein „schlechtes Zuchtresul- Anarchist Klaus Schmitt, einer der Vertreter des Knochengeld- tat“ hervorbringe.90 Insbesondere lehnte der Freiwirt „arisch-jü- Experiments in Berlin: dische“ Verbindungen ab. Er unterstellte, es gebe besonders viele uneheliche Kinder, die reiche jüdische Männer mit „arischen“ „Immerhin ist dieser Gedanke einer für die Gesunderhaltung Frauen zeugten. Selbst weitere Kinder solcher Frauen von „ari- des Erbguts und für die Evolution der menschlichen Art vorteil- schen“ Ehemännern würden noch eine „Rassenverwandtschaft“ haften und von den betrofenen Individuen selbstbestimmten mit dem Juden aufweisen, behauptet der Mediziner.91 Dieser Un- Eugenik eine diskutable Alternative zu den auf uns zukommen- fug vereint eine ganze Reihe antisemitischer Stereotypen: Der den, von Staat und Kapital fremdbestimmten Genmanipulati- reiche sexbesessene Jude, der blonde Ariermädchen verführt, onen.“86 schwängert und obendrein „rassisch“ gleichsam imprägniert. Ein weiterer Fall ist Otto Weißleder, ein Bergwerksdirektor aus Wir sollten zur Kenntnis nehmen, schreibt Schmitt, dass Eisleben in Sachsen-Anhalt, der unter dem Pseudonym Frideri- kus die Freiwirtschaft in der völkischen Szene propagierte. Seine „durch den Schutzraum der Kultur (ist) der Ausleseprozeß aus- Broschüre über die „Grundfehler unserer Wirtschaftsordnung“ geschaltet, die weiterwirkenden Mutationen führen jedoch zur war in der Weimarer Zeit eine wichtige Agitationsschrift der Ge- überwiegend negativen Veränderung der menschlichen Natur: sellianer. Weißleder setzte bereits 1917 Juden mit Bazillen gleich zu Domestikationserscheinungen“, und steigerte sich in Gewaltphantasien hinein. Er behauptete, zinstragendes Geld sei eine Erfndung der Juden, zu einer Verhaustierung also. Schmitt übernimmt damit bis in die eine Vorliebe für Gold hätten. Es genüge aber nicht, sie zu die Wortwahl hinein die kruden Lehren von Konrad Lorenz, vertreiben, solange das Geld- und Bodenrecht semitischen Ur- dem Nazibiologen und Redner des Rassenpolitischen Amtes sprungs bliebe. Ihr Einfuss könne nur efektiv bekämpft werden, der NSDAP, dem Schmitt in seinem Buch ausdrücklich dankt.87 indem man das Geldwesen im Sinne Gesells ändere.92

Antisemitismus „Jeder andere Weg, das Judentum zu bekämpfen ist rein mecha- Man kann zu Gunsten Gesells annehmen, dass er subjektiv An- nisch und unbiologisch. Man bekämpft den Typhus nicht in der tisemitismus ablehnte. In einem Text von 1891 spricht sich Ge- Weise, daß man die Typhusbazillen einzeln aufsucht und ver- sell vordergründig gegen Antisemitismus aus. nichtet, und man vertreibt die Sumpfpfanzen in einer Niede- rung nicht dadurch, daß man sie einzeln ausreißt, sondern man „Die Judenhetzerei ist eine colossale Ungerechtigkeit und eine tötet diese feindlichen Lebewesen, in dem man ihnen ihre Da- Folge einer ungerechten Einrichtung, eine Folge des heutigen seinsbedingungen entzieht.“93 Münzwesens (...) Die Münzreform [gemeint ist sein Vorschlag, P.B.] macht es unmöglich, daß jemand erntet ohne zu säen, und Ein wichtiger Vertreter der Gesellschen Lehre war in den 1970er die Juden werden durch dieselbe gezwungen werden, die Ver- und 1980er Jahren der Japaner Yoshito Otani, der sich damals in werthung ihrer großen geistigen Fähigkeiten nicht mehr im Deutschland aufhielt. In seinem Hauptwerk „Untergang eines unfruchtbaren Schacher zu suchen, sondern in ... der ehrlichen Mythos“ (1978/1981) skizziert er die neuzeitliche Geschichte als Industrie.“88 große Verschwörung: mächtige Finanzkreise und Logen aus den USA und Großbritanniens sowie jüdische Bankiers würden die Einerseits spricht sich Gesell gegen die - wie er es nennt - „Ju- Welt regieren, sie hätten den Bolschewismus installiert und die denhetzerei“ aus, andererseits scheint er selbst das Stereotyp des Nazis an die Macht gebracht, um „die Völker“ zu schwächen und selbst zu herrschen. Dazu stützt sich Otani auf die antisemitische Fälschung „Protokolle der Weisen von Zion“.94 85 Onken, 2003, S.26. Onken schreibt, Gesell habe von Darwin Be- grife wie Zuchtwahl und Hochzucht übernommen, aber nicht im Sin- ne des Rassismus. Sondern Gesell habe „ganz besonderes Vertrauen in 89 Gesell/Frankfurth, Aktive Währungspolitik - eine neue Orientie- die Fähigkeit der Frauen, geeignete Partner als Väter für die gemeinsa- rung auf dem Gebiet der Notenemission, GW 5, S.123f. men Kinder auszuwählen“ gehabt. Onken verweist auf Parallelen zur „Einstellung moderner Evolutionstheoretiker wie Irenäus Eibl-Eibes- 90 Teophil Christen, Die menschliche Fortpfanzung. Ihre Gesun- feldt“. Damit erweist Onken seinem Meister einen Bärendienst, denn dung und Veredelung, achte Aufage, München 1926, S.43. Eibl-Eibesfeldt ist ein Vordenker der Neuen Rechten (Onken, Zum 91 Christen, 1926, S.70. Geleit, GW 7, S.12f., S.15). 92 Otto Weißleder (Friderikus), Der undeutsche Ursprung unserer heu- 86 Schmitt, Geldanarchie und Anarchofeminismus, in: Schmitt, tigen Wirtschaftsordnung, in: Neues Leben, Heft 2/3, 1917, S.32f. Bartsch, 1989, S.129. 93 Friderikus, 1917, S.34. 87 Schmitt, 1989, S.241 f., Anmerkung 117. 94 Otani behauptete, die Deutschen wären in die beiden Weltkriege 88 Gesell, Nervus rerum – Fortsetzung, GW 1, S.140f. hineingelockt worden. Am Zweiten Weltkrieg sei die US-Regierung

37 Werbung für Otanis Werke wurde in Publikationen der INWO, geld einführen und alles würde gut. Wer möchte nicht weniger der Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (CGW) sowie Miete zahlen, am Tresen weniger für sein Bier ausgeben und der Zeitschrift Der Dritte Weg der Gesellianer-Partei Freisozi- gleich auch noch die Welt retten wollen. ale Union (FSU) gemacht, sowie auf der Homepage tauschring. Genauso falsch wie diese Teorie des Zinserpressens ist die Rede de und beim Tauschring döMak in Halle, der den „Untergang von gierigen Bankern und Heuschrecken. Solche Vorstellungen eines Mythos“ von Otani empfahl.95 mobilisieren Ressentiments, früher das gesunde Volksempfnden Margrit Kennedy bedankte sich bei Otani und seiner Verle- genannt, ebenso wie Politiker und Medien, die suggerieren, die gerin Gesima Vogel im Vorspann zu ihrem Buch „Geld ohne Griechen seien faul, würden zu wenig arbeiten und „unser“ Geld Zinsen und Infation“ (1988/1991) „für ihre Gesamtschau und verplempern oder Erwerbslose lebten in spätrömischer Deka- Hilfe in praktischen Detailfragen bedankt“.96 Erst nach hefti- denz. ger Kritik von Antifaschisten 2005 distanziert sich Kennedy Solche falschen Analysen knüpfen an ein oberfächliches Alltags- von Otani. verständnis an (Sprichwort Geld regiert die Welt). Dabei sind Die antisemitischen Äußerungen einzelner Vertreter der Frei- Spekulation und Konkurrenzkampf, Ausbeutung und Natur- wirtschaftslehre sind schlimm genug. Für politisch gravieren- zerstörung nicht das Ergebnis einer abgehobenen Finanzsphä- der halte ich jedoch, dass die Zins-Lehre Gesells zumindest re, sondern normale Erscheinungsformen des Kapitalismus, der ofen und anschlussfähig für antisemitische Auslegungen ist. nicht nur in Krisenzeiten sondern auch in Phasen des Konjunk- Ähnlich wie andere Lehren, die, statt den Kapitalismus als Ge- turaufschwungs für Millionen von Menschen eine Katastrophe sellschaftsform zu kritisieren, lediglich bestimmte Phänomene ist. Wer diese Gesellschaftsform überwinden will, darf sich nicht der Kreditsphäre isoliert angreifen. damit begnügen, bloß andere Geldscheine auszuteilen. Die Anknüpfungspunkte liefert Gesell, in dem er wie sein Vorbild Proudhon einen Gegensatz zwischen produzierenden und zinsheckenden Kapital macht, und die Produktionssphäre komplett ausspart. Diese Perspektive fassten die Nazis in der Peter Bierl (Oberbayern) hat am 2. Februar 2013 in Bremen sein Parole vom schafenden versus rafenden Kapital prägnant zu- Buch „Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn. Kapi- sammen. talismuskritik von rechts – Der Fall Silvio Gesell“ vorgestellt. Dabei handelt es sich um kein historisches Problem und inso- Siehe: fern bleibt die Freiwirtschaft gefährlich. Heute sprechen Rech- https://associazione.wordpress.com/2012/12/10/peter-bierl- te, Islamisten und Pseudo-Linke gerne von der Herrschaft der schwundgeld-freiwirtschaft-und-rassenwahn-kapitalismuskritik- Wallstreet oder der amerikanischen Ostküste, wenn sie eigent- von-rechts-der-fall-silvio-gesell/ lich die Juden meinen. Gerade im Zuge der so genannten Euro- Krise sind solche Verschwörungstheorien populär.

Die falschen einfachen Lösungen Die ökonomische Teorie Gesells ist sehr schlicht, absurd und falsch. Attraktivität gewinnt diese Lehre, weil sie dem Bedürf- nis nach einfachen Erklärungen und Lösungen entspricht. So verteilen Freiwirte einen Bierdeckel, auf dem steht zu lesen, dass angeblich 30 Prozent des Bierpreises aus Zinsen bestehen. Creutz rügte, das Wohnungsmieten zu 30 Prozent aus Zinsen bestehen. Kennedy behauptete, dass 40 bis 50 Prozent aller un- serer Ausgaben eigentlich verdeckte Zinszahlungen sind. Auf diese Weise würden 30 bis 50 Prozent des Einkommens als „ar- beitsfreies Einkommen“ an Geldbesitzer fießen, weswegen die Kluft zwischen Arm und Reich sowie die Armut in der Dritten Welt wachse, und die Umwelt zugrunde geht, weil Zinserpres- ser immer mehr Wachstum fordern.97 Die Freiwirte suggerieren damit, man bräuchte bloß Schwund-

schuld, die kein Mitleid mit den Deutschen und Japanern gehabt habe, und sie als Konkurrenten vernichten wollte (Ausweg-Reihe, Heft 2, S.98f.). Er relativierte einerseits die Shoa, in dem er sie mit Hiroshima und Dresden gleichsetzt und stellt den Holocaust grundsätzlich in Fra- ge, wenn er suggeriert, die Gaskammern wären erst nach Kriegsende installiert worden. 95 Wünstel, Das Geld zum Diener des Menschen machen (Stand 3.11.2005); döInfo II, Das Zinsproblem – Texte zum Tema gerechtes Geld, Dezember 1996, S.32f.; döInfo 97, Tipps zum praktischen Um- gang, Dezember 1997, S.17f.. 96 Kennedy, 1991, S.8; ebenso: Der Gesundheitsberater, Teil 1, August 1989, S.7, Teil 3, Dezember 1989, S.23. 97 Rosenberger, 1994, S.19.

38 Ingo Elbe

Der Zweck des Politischen - Carl Schmitts faschistischer Begrif der ernsthaften Existenz

„Es ist nicht gut, dass der Mensch ohne Feind sei“ als „Vorordnung eines […] auf freiem Ermessen […] basierenden (Carl Schmitt)1 Verwaltungsbereichs vor einem nur noch limitierte Bedeutung beanspruchenden rechtsstaatlichen Verfassungsbereich“ cha- Carl Schmitts Denken richtet sich ofensiv gegen die liberale po- rakterisiert, wobei das freie Ermessen „als ‚Wertverwirklichung‘ litische Philosophie und gegen jede Perspektive, die eine solida- defniert“ (Maus 1980, 76) werde.3 Das bedeutet konkret, dass rische Weltgesellschaft ohne Krieg anstrebt. Schmitt lehnt eine bestimmte exekutive Organe (Juristen, Reichspräsident, Reichs- Begründung des Politischen vom Individuum her ab, fürchtet kanzler etc.) eine vermeintliche ‚Verfassungssubstanz‘ entweder sich vor einer Welt ohne Kriege und stellt das Opfer des Ein- gegen den Wortlaut der Verfassung oder gegen legal erlassene zelnen ins Zentrum seiner Betrachtungen, die durchgehend ein parlamentarische Gesetze geltend machen. Bereits hier spielt der normatives Programm der „Bejahung des Natur[zu]standes“ Ernstfall in Gestalt einer „blutige [n] Entscheidungsschlacht“ (Strauss 2001, 235) zwischen irrational konzipierten Kollektiven (Schmitt 2004b, 63) eine Rolle, da Schmitt meint, der sozialisti- enthalten. Hierbei spielt die Idee der ernsthaften menschlichen schen Arbeiterbewegung nur noch mit einer autoritären Lösung Existenz eine wesentliche Rolle. Im Folgenden sollen zunächst gewachsen sein zu können. Den Liberalismus, wie er ihn ver- einige Bemerkungen zu Schmitts Begrif des Politischen gemacht steht, lehnt er ab, weil dieser nicht willens sei, mit einer entspre- und auf dessen deskriptive Unbrauchbarkeit hingewiesen werden chenden extralegalen Gewalt und Entschlossenheit den Kampf (I), um anschließend sein noch fragwürdigeres normatives An- mit den Bewegungen der Linken aufzunehmen.4 Dieser Aspekt liegen herauszuarbeiten (II). Der Begrif des Ernstes wird sich wird bereits in der Politischen Teologie (1922) erkennbar, wenn dabei als normativer Kern seiner politischen Teorie erweisen. In Schmitt den gegenrevolutionären Kulturkritiker Donoso Cortes einem weiteren Schritt (III) soll dieser Begrif mit der aufkläreri- dafür lobt, schen Idee des Ernstes in Friedrich Schillers Schrift Über Anmut und Würde konfrontiert und schließlich sein Zusammenhang „[d]ie Bourgeoisie […] geradezu als eine ‚diskutierende Klasse‘ mit einer autoritär-masochistischen „emotionale[n] Matrix“ [zu defnieren]. Damit ist sie gerichtet, denn darin liegt, daß sie (Fromm 2000, 201) angedeutet werden. der Entscheidung ausweichen will. Eine Klasse, die alle politische Aktivität ins Reden verlegt, in Presse und Parlament, ist einer I. Der deskriptive Gehalt des Begrifs des Politischen Zeit sozialer Kämpfe nicht gewachsen.“ (Schmitt 2004b, 63f.) Schmitts politisches Denken kann in zweifacher Weise als fa- schistisch bezeichnet werden. Zum einen verfolgt er das bona- Im Gegensatz zu traditionellen autoritären Ordnungsregimen partistische Programm2 des Abbaus rechtsstaatlicher und parla- reklamiert Schmitt seit 1923 den Demokratiebegrif von rechts mentarischer Hindernisse für eine antisozialistische Präsidial-, und betrachtet die Programmatik der bonapartistischen Dikta- später Führerdiktatur mit Massenbasis (vgl. Schmitt 1985a, tur als Realisierung des ‚wahren‘ Volkswillens, der sich bezeich- 360; 1994b, 125; 1995a, 77-80; 1996b, 143). Dieses Programm nenderweise nicht als Entscheidung des Bürgers an der Wahlur- wird rechtstheoretisch in Form eines „substanzielle[n] Dezisio- ne, sondern als Akklamation auf Massenveranstaltungen oder nismus“ (Rottleuthner 1983, 20) artikuliert, den Ingeborg Maus als difuse, durch „Methoden der psychotechnischen Behand- lung großer Massen“ (Schmitt 2003, 247) gebildete öfentliche Meinung artikuliere.5 Diese Programmatik Schmitts soll hier 1 Schmitt 1991a, 146. Dieser Text ist die erweiterte Version des 2014 nicht weiter verfolgt werden. Vielmehr soll der ebenfalls als fa- in H. Wallat (Hg.), Gewalt und Moral, Unrast-Verlag Münster, erschie- schistisch zu bezeichnende Gehalt des Schmittschen Denkens im nenen Aufsatzes „Der Zweck des Politischen“. 2 Ausgangspunkt des von Karl Marx so genannten ‚Bonapartismus‘ 3 Vgl. dazu bereits Ernst Fraenkels Doppelstaatsdiagnose von 1941 ist das Problem moderner demokratischer Staaten, durch das allge- (dort u.a. direkt zu Schmitt: Fraenkel 1974, 88f., 96f.). meine Stimmrecht „der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktionier[en], der Bourgeoisie, […] die politischen Garantien dieser 4 Vgl. Paxton 2006, 35: „Mit ihrer ökonomischen laisser-faire-Politik, Macht“ zu entziehen (Marx 1971, 43). Glauben sich Teile des Bürger- ihrem Vertrauen auf ofene Diskussion, ihrem schwachen Einfuss auf tums von sozialistischen Umtrieben gefährdet, so kann ein Verzicht auf die Massenmeinung und ihrer Weigerung, Gewalt einzusetzen, waren parlamentarische Herrschaft zugunsten einer sich verselbständigen- die Liberalen in den Augen der Faschisten schuldhaft unfähige Wächter den Exekutive die Konsequenz sein, die gegen die Arbeiterbewegung der Nation gegen den von den Sozialisten geführten Klassenkampf.“ vorgeht, aber zugleich eine gegenüber den Kapitalinteressen relativ ei- 5 Paxton zufolge „drückte sich für die Faschisten der Bürgerwille durch genständige Dynamik annehmen kann, u.a. weil sie sich auf eine Be- die Teilnahme an Massenveranstaltungen aus.“ (2006, 118) Perma- wegung mit Massenbasis stützt. Zum Begrif des Bonapartismus vgl. nente symbolpolitische Mobilisierung, „einfache Ja/Nein-Plebiszite“ Marx 1960, 123, 154, 197f., Wippermann 1983. Zum Faschismus als und systematische Ausnutzung von „neue[n] Techniken zur Kontrolle Bonapartismus vgl. Wippermann 1997, 65f., 114 sowie detailliert für und Steuerung der ‚Nationalisierung der Massen‘“ (118) seien genuine die Endphase der Weimarer Republik Hofmann 1996, 365-394, 408- Kennzeichen faschistischer Politik, vgl. auch ebd., 210, 242. 410. 39 Mittelpunkt stehen, der vor allem in seinem Werk zum Begrif Die Defnition des Politischen von der Freund-Feind-Unterschei- des Politischen (1927/1932/1933) entwickelt wird. dung her ist allerdings in höchstem Maße fragwürdig, wenn „Der Begrif des Staates“, schreibt Schmitt hier, „setzt den Be- man sie als deskriptiven Beitrag versteht. Es ergeben sich gleich grif des Politischen voraus.“ (Schmitt 2002, 20) Das Politische mehrere Probleme: werde durch die Unterscheidung von Freund und öfentlichem 1) Schmitts Tese, „nur durch das existenzielle Teilhaben und Feind (27) defniert. Diese Unterscheidung sei „selbständig“, Teilnehmen“ (27) sei die Beurteilung von Freund und Feind insofern sie nicht auf ökonomische (nützlich-schädlich, proft- möglich, wird 1933 erneut aufgegrifen und radikalisiert, indem abel-unproftabel), ethische (gut-böse) oder ästhetische Kriterien er behauptet, die „Volks- und Rassenzugehörigkeit“ determiniere (schön-hässlich) zurückgeführt werden könne. Sie eröfne aber die Möglichkeit der Individuen zur Bewertung und Einschät- kein eigenes „Sachgebiet“.6 Stattdessen arbeitet Schmitt mit ei- zung jedweden Sachverhalts: nem Intensitätsbegrif des Politischen, der auf die Freund-Feind- Bestimmung als „äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung „Ein Artfremder mag sich noch so kritisch gebärden und noch so oder Trennung“ (27) von Menschengruppen rekurriert. Steigern scharfsinnig bemühen, mag Bücher lesen und Bücher schreiben, sich Gegensätze aus einem Sachgebiet bis zur „Kampfgruppie- er denkt und versteht anders, weil er anders geartet ist, und bleibt rung nach Freund oder Feind“ (36), so erreichen sie Schmitt zu- in jedem entscheidenden Gedankengang in den existenziellen folge den politischen Intensitätsgrad. Die äußerste Intensität sei Bedingungen seiner eigenen Art. Das ist die objektive Wirklich- gleichbedeutend mit der Möglichkeit des kommunikativ nicht keit der ‚Objektivität‘.“ (Schmitt 1934, 45) zu schlichtenden, bis zur physischen Auseinandersetzung ge- henden Konfikts, der Möglichkeit der physischen Tötung und Alles Recht sei „das Recht eines bestimmten Volkes“, das nur der des Getötet-Werdens. Feind sei die stets „der realen Möglichkeit verstehe, der „existenziell“ zu ihm gehöre (45). Dieser völkische nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensol- Relativismus ist selbstwidersprüchlich – denn ofenbar will die chen Gesamtheit gegenübersteht“ (29). Der Krieg wird damit zur ‚artgerechte‘ Relativierung der Objektivität objektiv sein und de- „äußerste[n] Realisierung der Feindschaft“ (33). Das Politische mentiert damit genau das, was sie behauptet, nämlich die bloße sei dabei aber nicht der Kampf selbst, sondern das durch dessen Relativität allen Denkens – Schmitt selbst unterstellt im Zitat, stets gegebene Möglichkeit bestimmte Verhalten (37). dass es objektiv gültig sei, dass jeder „entscheidende[…] Gedan- Als Feind gilt „der andere, der Fremde“, der „existenziell etwas kengang“ nur subjektiv gültig ist.8 anderes und Fremdes ist“ (27). Dieses Anderssein beinhalte die Die Bedeutung des ‚existenziellen Teilhabens‘ orientiert sich Möglichkeit eines nicht objektiv beurteilbaren oder normierba- möglicherweise an Heideggers Kritik an der kontemplativen ren Konfiktes aufgrund der „Negation der eigenen Art Exis- Subjekt-Objekt-Anordnung einer ‚Ontologie der Vorhandenheit‘ tenz“ durch diesen Fremden. Wer der andere ist und wann „das und an seinem Ausgehen vom primären In-der-Welt-Sein (der Anderssein des Fremden“ die eigene Art der Existenz gefährdet, Verwobenheit von Selbst und Welt). So stellt Heidegger fest, entscheide ausschließlich die souveräne politische Einheit selbst. „daß das Erkennen selbst vorgängig gründet in einem Schon- „Die Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens und da- sein-bei-der-Welt, als welches das Sein von Dasein wesenhaft mit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen ist hier konstituiert. [sic!] Dieses Schon-sein-bei ist zunächst nicht ledig- nämlich nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen lich ein starres Begafen eines puren Vorhandenen“ (Heidegger gegeben“ (27). 1993, 61),

Der Souverän entscheidet also darüber, wann die äußerste Inten- sondern ein Engagiert-sein in der Welt. Schmitt deutet dieses sität, die extremste Möglichkeit, die seinsmäßige Negation – der Engagement als Situiertheit in Freund-Feind-Gegensätzen. Hei- „Ernstfall“ (39) – vorliegt. Der Feind ist dabei buchstäblich iden- deggers Ansatz wird bei Schmitt also nicht nur zur Tese vom titätsstiftend. Es ist, schreibt Schmitt, Sache „der hohen Politik bloß kontextuell gültigen, polemischen Charakter aller politi- […], den Feind zu bestimmen (was immer zugleich Selbstbestim- schen Begrife,9 sondern zur Behauptung des „Menschen als ei- mung ist)“ (Schmitt 1991a, 36 sowie 2006, 87f.). Feindschaft ist nes primär […] politischen und politisch-handelnden Wesens“ bei Schmitt aber nicht auf den außenpolitischen Konfikt be- (Marcuse 1968, 47), die, wenn auch nicht konsequent,10 zur schränkt. Im Zuge der Herstellung politischer Einheit könne es Ablehnung jedes Gedankens an wissenschaftliche Objektivität auch eine innerstaatliche Feinderklärung geben. Der Feind werde damit tendenziell außerhalb des Gesetzes gestellt – für vogelfrei erklärt (Schmitt 2002, 47). Das geschehe nicht nur bei faktisch Strafrechtler wie Günther Jakobs 2004 oder Otto Depenheuer 2008. außerlegalem Handeln, sondern auch im Falle nur vermuteter 8 Aber vielleicht soll diese objektiv gültige Einsicht ja selbst kein ‚ent- staatsfeindlicher Gesinnung bei legalem Verhalten (46f.): „Den scheidender Gedankengang‘ sein. Schmitts unwissenschaftlicher, eben Ketzer“, so zitiert Schmitt zustimmend, „darf man auch dann rein polemischer Sprach- und Denkbrei lässt immer noch ein Hinter- türchen ofen. nicht im Staate dulden, wenn er friedlich ist, denn Menschen wie Ketzer können gar nicht friedlich sein.“ (47)7 9 „alle politischen Begrife, Vorstellungen und Worte [haben] einen po- lemischen Sinn“ (Schmitt 2002, 31). 10 Vgl. Schmitt 1988, 47, wo er sich gegen die Übersetzung von Sitte 6 In der Erstaufage von 1927 wird das Politische hingegen noch eng an mit Noos in Homers Odyssee wendet und statt dessen Nomos lesen den Staat angelehnt und als eigenes Sachgebiet, das der Außenpolitik, will, denn: „Nous ist das Allgemein-Menschliche, das nicht nur vielen, von der Möglichkeit des zwischenstaatlichen Krieges her, bestimmt, sondern allen denkenden Menschen gemeinsam ist, während Einfrie- d.h. von der äußeren Souveränität, dem ius ad bellum, abgeleitet. dung, Hegung und die sakrale Ortung, die in dem Wort Nomos liegt, 7 Die Idee einer Rechtlosstellung des Feindes hat im Zuge der Ter- gerade die einteilenden und unterscheidenden Ordnungen zum Aus- rorismusbekämpfung Konjunktur. Vgl. schmittianische Staats- und druck bringt“.

40 und Distanznahme, an Rationalität schlechthin (vgl. ebd., 46) wig feststellt, „von den dafür Verantwortlichen keineswegs als ausgearbeitet wird. Denken kann dann nur noch aus Freund- Negation der Negation ‚der eigenen Art Existenz‘ angezettelt Feind-Antagonismen heraus und als auf diese hin funktionali- worden, sondern, zum Beispiel, als Kampf um Schlesien oder um siert verstanden werden.11 überseeische Kolonien.“ (Ladwig 2003, 59)12 Die Formel ver- 2) Feindschaft bezieht sich auf eine „der realen Möglichkeit weist eher auf den totalen Krieg und auf den Vernichtungskrieg nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensol- im 20. Jahrhundert.13 Im Jahr 1937 spricht Schmitt denn auch chen Gesamtheit gegenübersteht“ (29). Der Feind soll aber nicht ofen aus, es sei „richtig und sinnvoll […], eine vorher bestehen- privater und psychologischer Feind sein, er müsse nicht gehasst de, unabänderliche, echte und totale Feindschaft zu dem Gotte- werden. Er soll öfentlicher Feind sein, „weil alles, was auf eine surteil eines totalen Krieges“ führen zu lassen (Schmitt 1994a, solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes 273). Unter den Bedeutungen des ‚totalen‘ Krieges taucht explizit Volk Bezug hat, dadurch [!] öfentlich wird.“ (29) Wie entste- die Einwirkung auf den Feind mittels „rücksichtslosen Einsatzes hen aber diese Gesamtheiten und ihr Bezug aufeinander? Wenn vernichtender Kriegsmittel“ (268) und des Einziehens der Un- der Begrif des Staates den Begrif des Politischen voraussetzt, terscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten (270) das Politische aber durch die Unterscheidung von Freund und auf. Völlig unklar bleibt also der Zusammenhang zwischen rela- öfentlichem Feind defniert ist, so stellt sich die Frage, welche tivierter Feindschaft und ihrem doch vermeintlich politischen, Instanz, wenn nicht das Entscheidungsmonopol, die öfentliche dann aber auch existenziellen, um die „Negation der eigenen Gewalt des Staates, die Unterscheidung von öfentlichem und Art Existenz“ (2002, 27) kreisenden Charakter. „Etwas weniger privatem Feind trefen soll. Es muss schon eine Instanz geben, Feindschaft“, so Hans Boldt, die eine spezifsche Menge von Personen („Gesamtheit“) unter sich befasst und für sie verbindliche Entscheidungen trift. Es „die nicht mehr das Existentielle, sondern rechtliche Regeln und existiert also die Tendenz zu einer zirkulären Defnition des allgemein anerkannte Sitten als oberstes Gebot nimmt, ist mit Staates aus dem Politischen und des Politischen aus dem Staat. der ursprünglichen Anlage der Teorie unvereinbar.“ „Was ist – „Schmitts Verständnis des Feindes als öfentlicher hostis“, so stellt wenn Feindschaft die Negation der eigenen Art des Seins bedeu- Christoph Schönberger fest, „bezieht seine Anschaulichkeit ur- tet – eine ‚relativierte’ Negation?“ (Boldt 2005, 111,118) sprünglich vom Krieg zwischen in Staaten geeinten Völkern und damit letztlich doch noch vom Staat her“ (Schönberger 2003, 4) In der Teorie des Partisanen im Jahr 1963 trennt Schmitt sei- 42). Der Staat ist also vorausgesetzt, um in sinnvoller Weise den nen Begrif des Politischen vom Staat ab, wobei der Begrif des öfentlichen Feind zu bestimmen. Ernstes als Unterscheidungskriterium eine wichtige Rolle spielt. 3) Noch im Vorwort der 1963er Ausgabe des Begrifs des Poli- Die dabei vorgenommene Diferenzierung zwischen konventio- tischen reklamiert Schmitt die Identität von Politischem und nellem, wirklichem und absolutem Feind bewirkt allerdings kei- Staatlichem für die Epoche einer „klare[n] Begrenzung des Krie- ne Klärung des Feindbegrifs. Es bleibt unverständlich, wie die ges“ und „Relativierung der Feindschaft“ (Schmitt 2002, 11) im Kategorie des konventionellen Feindes mit dem Begrif des Poli- ius publicum europaeum zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert. tischen vereinbar sein soll: Schmitt zufolge ist der konventionelle Dessen Unterscheidungen zwischen „Innen und Außen, Krieg Feind der Feind im gehegten europäischen Kabinettskrieg des und Frieden, […] Militär und Zivil, Neutralität oder Nicht-Neu- 18. Jahrhunderts. Dieser erscheine im Vergleich zu den totalen tralität“ (11) werden also explizit unter den Begrif des Politi- Kriegen als „nicht viel mehr als ein Duell zwischen satisfakti- schen subsumiert. Die von Schmitt mit dem Politischen verbun- onsfähigen Kavallieren“ (Schmitt 2006, 56).14 Der Krieg werde dene Formel von der „Negation der eigenen Art Existenz“, bzw. hier gar so stark gehegt, „daß er als ein Spiel aufgefasst werden „seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform“ (50) ist konnte“ (90). Schmitt hat also ofenbar bemerkt, dass sein auf damit aber nicht zwangsläufg vereinbar und stellt keine zutref- ‚Existenz‘behauptung fokussiertes Intensitätskriterium des Po- fende Beschreibung der Logik aller zwischenstaatlichen Kriege litischen für viele kriegerische Auseinandersetzungen nicht zu- des 18. oder 19. Jahrhunderts dar. Diese waren, wie Bernd Lad- trift.15 Was im Begrif des Politischen ohne weiteres unter das In-

11 Im linksschmittianischen Diskurs der ‚radikalen Demokratie‘ exist- 12 Vgl. auch Krockow 1990, 105. Dass hier kein Hass auf den Feind im iert Vernunft nur noch als „Schleier“ (Moufe 2013, 106) vor der eigent- Spiel sein musste (vgl. Schmitt 2002, 29), leuchtet bei diesen Kriegen lich partikularen, irrationalen, gewaltbegründeten Wirklichkeit. Chan- noch eher ein. tal Moufe betrachtet jede Form der Erkenntnis und jeden allgemeinen 13 So zeigt Michael Wildt in seiner Studie über die Elite des Reichssi- Wahrheitsanspruch als gewaltkonstituiert, als bloßen Ausschlussakt cherheitshauptamts, einem Brückenkopf des NS-Vernichtungskrieges, und Machtefekt (vgl. ebd., 101, 125f.) und formuliert damit letztlich dass diese sich bis ins Detail Schmitts Vokabular bedient. „Voller Ein- eine „politische Ontologie“, eine „allgemeine“ Gewalt- und Konfikt- satz, höchste Intensität“, so auch Hans Freyer 1929 auf einer Tagung theorie „der Bedeutungsproduktion“ (Marchart 2011, 213), die alle von künftigen Mitgliedern dieser Funktionselite, zeichnet diese Gene- menschlichen Praktiken als politisch begreift. Es gibt dann allerdings ration aus. Man weiß, was das zu bedeuten hatte. Zu den Bezügen der bestenfalls noch pragmatische, aber keine epistemischen Gründe mehr, RSHA-Mitglieder auf Schmitt vgl. Wildt 2008, 115-125, 136, 141f, einer Aussage zuzustimmen (vgl. kritisch dazu: Boghossian 2013, 21). 205, 210f., 853. Demzufolge gibt es auch keine Möglichkeit, den Gegner zu überzeugen – dieser muss konvertieren (vgl. Moufe 2013, 78, 104). Dieser relativ- 14 Vgl. auch Münkler 2010, 110-122 zur Entwicklung von der asym- istische Diskurs, der die Partikularität aller Diskurse feststellt, will aber metrischen Rechtfertigung des Krieges im bellum iustum-Paradigma ofenbar keineswegs partikular sein, er erhebt gerade den Anspruch auf des Mittelalters zur symmetrischen im Paradigma des „Duells oder Tur- sprachspielübergreifende Erkenntnis, den er selbst leugnet. Das ist der niers“ (113) in der europäischen Völkerrechtsordnung. übliche Selbstwiderspruch einer totalisierten Vernunftkritik bzw. eines 15 Natürlich ging es denjenigen, die sich für territoriale oder sonstige relativistischen Sozialkonstruktivismus (vgl. dazu Nagel 1999, 24-27, Interessen ihrer Herren töten und verstümmeln lassen mussten, in der 32f., 37-40 und Boghossian 2013, 58-62). Situation des Kampfes um ihre konkrete Existenz, den Gemeinwesen

41 tensitätskriterium des Politischen fällt, der gehegte Krieg, wird in selbst liege und von keinem Dritten beurteilt oder gerichtet wer- der Teorie des Partisanen zum bloßen Spiel – zu dem, wogegen den könne (Schmitt 2002, 50). Es widerspräche auch wieder der sich, wie noch zu zeigen sein wird, Schmitts ganzes Ressentiment Formel von der höchsten Intensität – dem Partisanen wird ja wendet. Nun soll erst der „spanische Partisan [...] den Ernst des sogar ein „intensiv politische[r] Charakter“ (Schmitt 2006, 21) Krieges wieder her[gestellt]“ haben (91), indem er einen ‚wirkli- bescheinigt, was eigentlich schlecht möglich ist, wenn das Politi- chen‘ Feind bekämpfte und so aus einem unernsten einen erns- sche schon die äußerste Intensität der Trennung/Verbindung von ten, also existenziellen, „wirklichen Krieg“ (91) gemacht habe. Menschengruppen sein soll. Im Spätwerk wird aber nicht nur Den irregulär kämpfenden Partisanen zeichnet Schmitt zufolge plötzlich der gehegte Kabinettskrieg als gar nicht die ‚eigene Art aus, dass er sich „die Entscheidung darüber vorbehält, wer der Existenz‘ betrefendes Spiel erkannt, sondern, wie in Hamlet oder ‚wirkliche Feind’ ist“ (90). In der wirklichen Feindschaft fnde Hekuba, scheinbar der Staat selbst mit dem Spiel gleichgesetzt der Partisan „den Sinn der Sache und den Sinn des Rechts“ im (vgl. Schmitt 1985b, 43, 65f., 72), gegen das „der unkonstru- Gegensatz zur stumpfen oder untergegangenen Legalität des Ge- ierbare, nicht relativierbare [!] Ernst des tragischen Geschehens“ setzes (92). Er sieht in ihm einen Statthalter des Politischen, der (47) geltend gemacht wird – auch hier ist Hegung also nicht vor- Entscheidung unter Bedingungen ofzieller Entscheidungsohn- gesehen. So konstatiert Schmitt, macht, dem Untergang des legalen Souveräns. Es fragt sich aller- dings, ob das noch als öfentliche Feindbestimmung durchgeht. „daß es zum Wesen der Tragik gehört, sich nicht in ein sekun- Ist der Partisan wirklich der Souverän? So stellt Marcus Llanque däres System einbeziehen zu lassen, ebenso wie umgekehrt das fest, dass der Partisan „nicht mehr in Ausführung einer öfent- sekundäre System ein Bereich von Spielregeln ist, die Einbrüche lichen Sache und als regulärer Soldat, sondern als Privatmann“ des tragischen Geschehens ausschließen“ (71). „Vielleicht fndet (Llanque 1990, 70) agiert. Dies widerspreche aber Schmitts Te- sich eines Tages ein Gesetzgeber der – den Zusammenhang von se vom öfentlichen, nicht privaten Charakter der Feindbestim- Spiel und Freiheit, Freiheit und Freizeit realisierend – die einfa- mung. Wichtig ist allerdings, dass der Partisan ofenbar einen che Legaldefnition aufstellt: Spiel ist alles, was ein Mensch im direkten Draht zur Legitimität, zu den von Schmitt proklamier- Rahmen der ihm gesetzlich zustehenden Freizeit zu deren Aus- ten ‚substanzhaften‘ Werten einer Verfassung, schließlich zum füllung oder Gestaltung unternimmt.“ (72) Boden haben soll, weshalb ihm auch ein „tellurische[r]“ (Schmitt 2006, 26) Charakter bescheinigt wird.16 Der Partisan, schreibt Dass Schmitt Hans Freyers ‚sekundäres System‘ erwähnt, des- Llanque, erkenne Schmitt zufolge „den Sinn des Rechts als sen Begrif für die Institutionen der ‚industriellen Gesellschaft‘ Einheit von Ordnung und Ortung“ (Llanque 1990, 76).17 Eine (vgl. Freyer 1955), verdeutlicht, dass er nicht den Staat generell, Möglichkeit, dem Partisanen Souveränität, d.h. eine öfentliche, sondern den technisch-administrativen Apparat der ‚Industrie- verbindliche Entscheidungsgewalt zuzusprechen, besteht dem- gesellschaft‘ mit dem Spiel assoziiert – eine rechte Kritik der ver- nach darin, ihn als Exponent einer relativ homogenen Weltan- meintlich ‚verwalteten Welt‘: schauungsgemeinschaft zu betrachten, die ‚unterhalb‘ des formal bestehenden Staates existiert. „Die Flucht vor der Freiheit“, so Schmitt im Glossarium, „ist in Der absolute Feind hingegen sei der Feind des von Schmitt be- concreto nichts anderes als die Flucht in die Technik.“ (Schmitt fehdeten revolutionären, linken Partisanen, der aufgrund seiner 1991a, 134) ‚Motorisierung‘ (vgl. Schmitt 2006, 78) den Bezug zum Boden verliere und der wegen seiner universalistischen, humanitären Hier wird Freiheit mit dem Politischen, also mit der (in der Regel Ausrichtung den Feind aus dem Menschengeschlecht ausschei- heteronom vom Souverän vorgegebenen) Möglichkeit des Kamp- de, keine Hegungen mehr kenne (vgl. 56, 91f.). Wenn die Re- fes und Todes verknüpft, während Unfreiheit mit physischem lativierung des wirklichen Feindes, die ihn immer noch vom Behagen und rationaler Planung per se assoziiert wird. Es geht absoluten Feind unterscheiden soll, vom defensiven Charakter Schmitt also keineswegs um den Gegensatz von Autonomie und des Partisanen herrührt, so wäre nun das Politische ausschließ- Heteronomie, sondern lediglich darum, zu welchem Zweck sich lich ein Verteidigungskrieg, der die eigenen Landesgrenzen nicht das Individuum in den Dienst nehmen lässt. In der Tat spielt mehr überschreitet (vgl. 93), ‚ernster’ ist als die Kabinettskriege aber, wie gezeigt, im Partisanenkonzept die Haltung des ehe- der Vergangenheit, aber keinesfalls so intensiv wie ein Kampf mals Souveränitätsunterworfenen eine Rolle, die man im Begrif gegen absolute Feinde. Solche Festlegungen widersprächen der des Politischen noch nicht erkennen kann – darf dieser sich der relativistischen (bzw. dezisionistischen) Behauptung, dass das ‚falschen‘ bzw. ‚fremden‘ Souveränität doch nicht mehr fraglos Vorliegen des Ernstfalls, die Defnition von ‚Bedrohung der ei- unterwerfen, sondern muss seine eigene künftige Unterwerfung genen Art Existenz durch den Feind’ – damit auch, worin die unter eine bodenbezogene, wahre Souveränität aktiv betreiben eigene Art Existenz besteht – ausschließlich bei den Beteiligten und vorbereiten. Das Freiheits- und Individualitätspathos ist rei- ner Schein.18 Faschistischen Teoretikern wie Schmitt und seinen Schülern liegt nichts ferner, als die bürokratische Mentalität einer aber nicht unbedingt. nüchternen Bedienung der Staatsapparatur. Immer wieder wird 16 Hier knüpft Schmitt an Motive der Partisanentheorie von Rolf Schroers aus dem Jahr 1961 an (vgl. Grünberger 1990, 53). Aber auch Ernst Jüngers Partisan aus dem Jahr 1951, genannt „Waldgänger“, steht 18 Hinter diesem verbirgt sich, wie Erich Fromm darlegt, der rebelli- Pate, weist doch bereits dieser einen unmittelbaren Bezug zur Legiti- sche Typus des autoritären Charakters, der „Abfall von einer Autorität mität bzw. den „Quellen der Sittlichkeit“ auf, wenn „alle Institutionen unter Beibehaltung der autoritären Charakterstruktur mit ihren spezi- zweifelhaft oder sogar anrüchig werden“ (Jünger 2014, 83). fschen Bedürfnissen und Befriedigungen“. Die Ursache dieses Abfalls 17 Der geschichtsphilosophische Hintergrund dieser Idee eines legiti- liegt darin, dass eine „bestehende Autorität ihre entscheidende Qualität men Rechts als Einheit von Ordnung und Ortung ist Schmitts esoteri- einbüßt, nämlich die der absoluten Macht und Überlegenheit“ (Fromm sche „Nomos“theorie, vgl. Schmitt 1988. 1989, 184f.).

42 die Entwicklung des Staates zum bloßen Mechanismus, „große[n] ius ad bellum das Entscheidungsmonopol des Staates über Krieg Betrieb“ (Schmitt 2004b, 69) oder „bürokratische[n] Apparatur- und Feind darstellt, beinhaltet es staat“ (Forsthof 1933, 11) unter dem „Gesetz der Zweckrationa- lität“ (ebd.) als Verfallsgeschichte interpretiert. Diese ‚Kritik der „die Möglichkeit […] ofen über das Leben von Menschen zu instrumentellen Vernunft‘19 propagiert dagegen das engagierte verfügen […] von Angehörigen des eigenen Volkes Todesbereit- politische Handeln im Geiste ‚substanzieller Werte‘, wenn nö- schaft und Tötungsbereitschaft zu verlangen, und auf der Fein- tig auch gegen die formal zuständigen Instanzen. Bereits 1914 desseite stehende Menschen zu töten“ (46). „Durch diese Macht spricht sich Schmitt denn auch gegen die „‘Pfichtwichte[…]‘“ über das physische Leben der Menschen erhebt sich die politische und deren „Unfähigkeit [sic!] in einer großen Sache aufzugehn“ Gemeinschaft über jede andere Art von Gemeinschaft“ (48). aus. Diese Bürokraten verwechselten das, „was hier Staat und Aufgabe genannt wird, mit der ‚vorgesetzten Behörde‘“ (Schmitt Verlange eine Kirche von ihren Angehörigen das Sterben für den 2004a, 92). Glauben, so nur ihres eigenen Seelenheils wegen. Beziehe sich Ein guter Kandidat für diese Reanimierung des „nicht relativier- die Einforderung der Todes- und Tötungsbereitschaft auf die bare[n] Ernst[es]“ des Tragischen bzw. des Politischen gegen die Kirche als „weltliches Machtgebilde“, mutiere sie hingegen sofort verhasste Sekurität und bürokratische Mentalität, ist also für den „zu einer politischen Größe“ (48). Die diesseitige Ausrichtung späten Schmitt der Partisan. Auch und gerade dieser eignet sich, der Todesbereitschaft, ihre verbindliche Einforderung von einer wie Herfried Münkler betont, für eine existenzielle Kriegsaufas- jenseits des Einzelnen liegenden, öfentlichen Instanz und der sung, „in welcher der Krieg nicht als Mittel der Politik, sondern eigeninteressierte Motive auf öfentliche Belange hin überschrei- als Medium der Konstitution oder Transformation einer politi- tende Inhalt scheinen also das Politische am politischen Verlan- schen Größe begrifen wird“. Diese Figur sei mit dem „arbeitsa- gen des Staates zu sein. Die „Macht über das physische Leben me[n], strebsame[n], fast in allen Entschlüssen am Kosten-Nut- der Menschen“ (48) erweist das Politische als „Status in einem zen-Kalkül orientierte[n] Bürger“ (Münkler 2002, 106) nicht zu absoluten Sinne“ und „relativiert und absorbiert alle anderen vereinbaren. Statusverhältnisse“ (Schmitt 2003, 49). Die nachvollziehbarste Schmitts deskriptiver Begrif des Politischen ist, wie hier nur Bedeutungsschicht des schillernden Begrifs des ‚Existenziellen‘ angedeutet werden konnte, wirr und analytisch unbrauchbar. oder ‚Seinsmäßigen‘ ist hiermit freigelegt. Doch mit den letzten Ausführungen befnden wir uns bereits Die Frage nach dem Verhältnis von Sachgebieten und Autono- mitten in Schmitts normativem Programm. Dieses soll nun nä- mie des Politischen wird hier virulent, denn wofür eigentlich her betrachtet werden. wird die Tötungs-/Todesbereitschaft verlangt? Einerseits be- hauptet Schmitt, dass jeder Gegensatz aus beliebigen Sachgebie- II. Der normative Gehalt des Begrifs des Politischen: Die ten politisch werden könne, wenn er nur den höchsten Intensi- Ermöglichung einer ernsthaften Existenz tätsgrad der Freund-Feind-Gruppierung erreiche (37f.). Das legt Die Entscheidung über Krieg und Feind ist der „entscheidende nahe, dass ökonomische Konkurrenz oder moralische Ableh- […] Punkt des Politischen“ (Schmitt 2002, 39). Die politische nung in Krieg umschlagen können: Das wären Kriege um den Gruppierung orientiert sich am „Ernstfall“, ist für diesen die Zugang zu Ressourcen oder zur Verhinderung der Vernichtung „maßgebende“ Einheit und in diesem Sinne der Entscheidung spezifscher Bevölkerungsteile eines anderen Staates (‚humanitä- über das Vorliegen des Ernstfalls „’souverän’“ (39). Der Kriegs- re Intervention‘), also Kriege aus ökonomischen oder moralischen fall ist der Ausnahmefall, aber von diesem her bestimmt sich für Gründen. Das Politische wäre hier eine Steigerung der Gegensät- Schmitt das Wesen des Politischen, das demgemäß eine Exis- ze von Menschengruppen, „deren Motive religiöser, nationaler tenzform unter der beständigen Möglichkeit des Krieges ist. […], wirtschaftlicher oder anderer Art sein können“ (38), bis zur Staatliche Souveränität besteht also zunächst darin, „kraft eige- Tötungs- und Todesbereitschaft. Solche Motive lehnt Schmitt ner Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämp- aber nur wenige Seiten später in aller Entschiedenheit ab. Jede fen“ (45). Bemerkenswert ist, dass Schmitt hiermit ein höherran- Rechtfertigung von Todes- und Tötungsbereitschaft aus öko- giges „‘Recht auf Selbsterhaltung‘“ (Schmitt 2003, 22) geltend nomischen, religiösen oder ethischen Gründen sei „grauenhaft macht, nämlich das Recht auf „Existenz [,][...] Unabhängigkeit und verrückt“ (49). Ein aus solchen Gründen geführter Krieg [,] Freiheit“ des Volkes, „wobei es kraft eigener Entscheidung be- sei „sinnwidrig“, weil sich aus den spezifschen Gegensätzen der stimmt“, worin diese bestehen (Schmitt 2002, 46).20 Indem das Sachgebiete Feindschaft und Krieg nicht ableiten ließen (36). Der Krieg habe „keinen normativen, sondern nur einen existen- ziellen Sinn, und zwar in der Realität der Situation eines wirk- 21 19 Bereits 1916 entfaltet Schmitt dieses Motiv ausführlich in seinen lichen Kampfes gegen einen wirklichen Feind“ (49). Daher Anmerkungen zu Däublers „Nordlicht“. Dort moniert er den „Betrieb, könne die Bestimmung des Feindes (wer ist zu bekämpfen?) und der den Einzelnen so vernichtet, daß er seine Aufhebung nicht ein- des Ernstfalls (wann tritt der Fall des Krieges ein?) sowie die Be- mal fühlt“ [!!!] (Schmitt 1991b, 59), das ‚mechanische‘ „Zeitalter der stimmung der „eigenen Art Existenz“ (27) nicht moralisch oder Sekurität“ (62), mit seinen „großartig funktionierende[n] Mittel[n] zu ökonomisch oder durch sonst einen „Sachbereich“ bewerkstelligt irgendeinem kläglichen oder sinnlosen Zweck“ (59). Was hier als Kri- tik der verwalteten Welt anhebt, ist pures Ressentiment gegen Planung und irdisches Glück per se, die Furcht vor der Freiheit, die denjenigen iert, ist, juristisch betrachtet, wert, daß es existiert. Daher ist ihr ‚Recht ergreift, der keine transzendenten, ewigen, der Menschheit entzogenen auf Selbsterhaltung‘ die Voraussetzung aller weiteren Erörterungen“. Werte und Instanzen mehr erblicken und ihnen doch nicht entraten Vgl. auch Schmitt 2004b, 18f.: „Im Ausnahmefall suspendiert der Staat kann. das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt.“ 20 Dieses vorpositive Recht wird aber bezeichnenderweise nicht aufs 21 Ein Krieg hat seinen Sinn nicht darin, daß er für Ideale oder Rechts- Individuum, sondern auf Herrschaftsverhältnisse bzw. politische Ein- normen, sondern darin, daß er gegen einen wirklichen Feind geführt heiten bezogen, vgl. Schmitt 2003, 22: „Was als politische Größe exist- wird“ (2002, 50f.).

43 werden. Sowohl die Existenzweise als auch die Bereitschaft, für im Widerspruch zu seiner Feindtheorie aus der Beteiligtenper- deren Verteidigung zu töten, scheinen hier durch eine kriteriell spektive, vor, Kriege nicht aus ökonomischen oder moralischen leere Entscheidung22 hervorgebrachte Gespenster. Sie sind „nur Gründen führen zu dürfen, nur aus politischen. Und damit wird politisch sinnvoll“ (50) – das Politische ist aber wiederum die die Bekämpfung des Feindes, wird das Verlangen von Todes- auf den Kriegsfall bezogene Unterscheidung von Freund und und Tötungsbereitschaft recht verstanden zum Selbstzweck.24 Feind.23 Schmitt scheint hier schlicht den Krieg als Mittel für be- Was Werner Konitzer zufolge „bei allen NS-Ideologen […] auf- stimmte inhaltliche Zwecke zu ignorieren. Der Feind wird zwar taucht“, trift auch auf Schmitt zu: nur bekämpft, weil er ‚unsere Art der Existenz‘ bedroht – was das heißt kann Schmitt zufolge nur die politische Einheit selbst „die grundsätzliche und prinzipielle Bejahung des Krieges. Da- bestimmen. Wäre das aber so, dann könnte ‚der Westen‘ einen mit richten sie sich nicht nur gegen pazifstische Positionen, son- Krieg gegen ‚den Islamismus‘ führen, weil dieser seine morali- dern gegen alle Positionen, für die Krieg überhaupt einer beson- schen und kulturellen Werte negiert, oder gegen ‚den Kommu- deren Begründung bedarf“ (Konitzer 2009, 102).25 nismus‘, weil er seine Eigentumsordnung bedroht. Aber Schmitt leugnet dies nicht nur, er schreibt den Beteiligten plötzlich, ganz Es ist daher kein Zufall, dass Schmitt sich schon früh für „irra- tionalistische Teorien unmittelbarer Gewaltanwendung“ (Sch- mitt 1996a, 77) interessiert und auf Georges Sorel rekurriert. 22 Der Linksschmittianismus der Gegenwart reproduziert dieses de- Was ihn fasziniert, ist folgende Haltung: zisionistische Denken des Politischen als grundloses und nicht zu be- gründendes Konfiktgeschehen, vgl. Moufe 2013, 106 sowie Hetzel „[D]ie diskutierende, transigierende, parlamentierende Verhand- 2009, 236: „Das Politische gründet […] in seinem je konkreten Vollzug; es kennt darüber hinaus keine transzendentalen Bedingungen seiner lung erscheint als ein Verrat am Mythus und an der großen Be- Möglichkeit, keine ihm selbst vorgängigen Vernunft- oder Rechtsgrün- geisterung, auf die alles ankommt. Dem merkantilen Bild von de. […] Das Politische ruht buchstäblich auf nichts“. Es ist bezeich- der Balance tritt ein anderes entgegen, die kriegerische Vorstel- nend, dass dieses politische Denken denn auch buchstäblich nichts lung einer blutigen, defnitiven, vernichtenden Entscheidungs- zum Verständnis von Staat, Ökonomie und politischem Handeln bei- schlacht“ (81). „Die kriegerischen und heroischen Vorstellungen, zutragen hat, mit Ausnahme der Tese, menschliches Handeln sei nicht die sich mit Kampf und Schlacht verbinden, werden von Sorel durch eine Sachgebietslogik determiniert, die aber ins falsche Extrem wieder ernst genommen als die wahren Impulse intensiven Le- der Aussage getrieben wird, es gebe keine historisch-spezifschen, für bens [...]. Was das menschliche Leben an Wert hat, kommt nicht bestimmte Sozialformationen relativ stabilen, tiefenstrukturellen Be- aus einem Räsonnement; es entsteht im Kriegszustande bei Men- dingungen, die menschliches Handeln ermöglichen, begrenzen und motivieren. Das Zauberwort der ‚kontingenten‘ Ordnungen lässt hier schen, die, von großen mythischen Bildern beseelt, am Kampfe 26 jede sozialtheoretisch sinnvolle Unterscheidung verschwinden. Zur Kri- teilnehmen“ (83). tik an Moufe u.a. vgl. Wallat 2010. 27 23 Mit Bezug auf die Tese, der Krieg sei „nicht Ziel und Zweck der Po- Hier verselbständigt sich ein Merkmal von Moral – die Ver- litik“ (Schmitt 2002, 34) versuchen Schmitt-Apologeten wie Böcken- pfichtung des Einzelnen, also die Möglichkeit eines Konfiktes förde (1991, 345), die Tese vom „kriegerischen Kampf“ als „Ziel und mit dem Prinzip der unmittelbaren Selbstliebe – zu einer ent- Inhalt der Politik“ als „Mißverständnis“ abzutun. Wie gezeigt, geht es leerten „Erhabenheit“ (Sorel 1981, 248) als Verherrlichung des beim Politischen aber sehr wohl um die Existenz unter der beständi- Absehens von sich selbst und allen Nutzenerwägungen.28 Wie gen Möglichkeit des Krieges. Der Krieg „muß“, schreibt Schmitt, „als bei Schmitt wird der Krieg dabei von Sorel zum Selbstzweck reale Möglichkeit vorhanden bleiben“, damit „der Begrif des Feindes erkoren und es kommt keineswegs auf eine rational begründ- seinen Sinn hat“ (Schmitt 2002, 33), die Feindunterscheidung wieder- um ist das Kriterium des Politischen (26) und Kriege dürfen zudem Schmitt zufolge nicht „für Ideale oder Rechtsnormen“ (50f.) geführt werden, dies wäre ja „grauenhaft und verrückt“ (49), sondern nur „po- 24 Das verkennen Joas/Knöbl 2008, 222, 224. Vgl. zum Selbstzweck- litisch sinnvoll“ (50) sein, haben ihren Sinn also darin, dass sie „gegen begrif Abschnitt III dieses Beitrags. einen wirklichen Feind“ (51) geführt werden. In der 3. Aufage des Be- 25 Vgl. auch Sternhell u.a. 1999, 90f.: Hier ist „die Gewalt […] nicht grifs des Politischen von 1933 und dem Artikel Politik aus dem Jahr nur Mittel zum Zweck, sondern ein Wert an sich“. 1936 weicht Schmitt scheinbar von dieser Sinngebung des Politischen 26 Ein fast wörtlicher Bezug auf Sorel 1981, 252: Die „hohen moralis- ab. Im Gegensatz zur Aufassung eines „Nichts-als-Kriegertums“ im chen Überzeugungen“ „hängen keineswegs von Vernunfterwägungen heroischen Realismus Ernst Jüngers, werde der Krieg der „politischen oder von einer Erziehung des individuellen Willens ab; vielmehr stehen Ansicht“ gemäß „des Friedens wegen geführt“ (Schmitt 1995b, 137), sie in Abhängigkeit von einem Kriegszustande, an dem die Menschen bzw. zwecks „Herbeiführung von Herrschaft, Ordnung und Frieden“ willig teilnehmen und der sich in scharf umrissenen Mythen aus- (Schmitt 1933, 10). Aber auch hier darf man sich nicht in die Irre füh- drückt“. Sorel bewegt sich dabei in dem (beabsichtigten) Zirkel, die ren lassen, zeigt doch der Hinweis darauf, dass diese politische Ansicht Selbstüberwindung im Krieg/Kampf als Quelle der Erhabenheit zu be- auch der „auf den Frieden gerichteten […] Politik des Führers und trachten, die wiederum nichts anderes als eine kriegerische Tugend ist; Reichskanzlers Adolf Hitler zugrunde liegt“ (1995b, 137), die rein zeit- vgl. Sternhell u.a. 1999, 90. bedingte, politstrategische Ausrichtung dieser Ausführungen. Schmitts Sätze sind genauso lügenhaft wie Hitlers ‚Friedenspolitik‘ Mitte der 27 Schmitt spricht in diesem Zusammenhang auch immer wieder von 30er Jahre. Dass Schmitt im „agonale[n] Prinzip“ Jüngers den Gegner ‚moralischer Entscheidung‘ (vgl. z.B. 2004b, 68f.). Zur faschistischen nur als „‘Antagonist[en]‘, Gegenspieler [!] oder Gegenringer, nicht [als] ‚Moral‘ vgl. Konitzer 2009, Gross 2010. Feind“ (1933, 10) auftreten sieht, deutet an, dass er in Jüngers Haltung 28 Vgl. Sorel 1981, 249. Vgl. Sternhell u.a. (1999, 93), der Sorels Intenti- ofenbar ein gewisses Maß an romantischer Politik identifziert, ihm on wie folgt zusammenfasst: „man muß alle Ideologien und politischen hier zu sehr das den Krieg als Gelegenheit betrachtende Individuum Tendenzen zerschlagen, die sich auf die Idee gründen, das Wohlergehen im Mittelpunkt steht. Es zeigt sich, dass Schmitt ‚wirkliche‘ Feinde, des einzelnen sei der Zweck jeder gesellschaftlichen Organisation.“ Vgl. nämliche Feinde des Politischen, bekämpfen will und nicht eine völlig auch Meuter 1994, 285: „Ernste Moral ist demnach totale Mobilma- inhaltslose Feindbestimmung im Auge hat. chung zu […] fremden Zwecken“.

44 bare Richtigkeit oder Wahrheit des zur Gewalt motivierenden durch zeitweilige „Suspension aller alltäglichen (‚bürgerlichen‘) Mythos an. So verurteilt Sorel beispielsweise den ökonomisch Lebensvollzüge“ mittels einer „Orientierung des Menschen an motivierten Eroberungskrieg. Hier habe „[d]er Krieg […] seine der Möglichkeit des eigenen Untergangs“ (Balke 1990, 49). Im Ziele nicht mehr in sich selbst“ (habe also keinen ‚politischen Gegensatz zum Spiel in Schillers Sinne, das den Menschen eben- Sinn‘), gehe es doch einfach darum, sich „materielle Vorteile zu falls total erfasse,33 aber, wie Schmitt meint, dabei existenziell schafen“ (196). Dem wird der Ruhmeskrieg gegenübergestellt, „entproblematisier[e]“ (Schmitt 1985b, 50), womit es „die grund- der „jegliche soziale Rücksicht der Rücksicht auf den Kampf sätzliche Negation des Ernstfalles“ darstelle (42), könne Schmitt unterordnet“ (197) (höchste Intensität) und „den Menschen, der nur eine ‚Ästhetik des Ernstes‘ tolerieren.34 Balke resümiert, Sch- sich ihm hingibt, an eine Stelle erhebt, die den gewöhnlichen mitt könne „den Wunsch ‚gespaltener‘ Subjekte nach imaginärer Bedingungen des Lebens überlegen ist“ (195)29 (Ernst vs. Spiel; Retotalisierung nur dann akzeptieren, wenn er eine Intensität Ausnahme vs. Normalität). Ebenfalls nimmt Schmitt Sorels entfaltet, die auch noch das zentrale Axiom neuzeitlicher Anth- „Bild [...] vom Bourgeois“ (Schmitt 1996a, 87) auf, einen ‚My- ropologie seit Hobbes außer Kraft setzt, das den Menschen ein thos‘, der den Bourgeois als feigen, unkriegerischen Weichling schlechterdings nicht zu relativierendes Interesse an ihrer conser- beschreibt,30 als Gegenbild zu allen Werten des faschistischen vatio unterstellt.“ (Balke 1990, 50)35 Irrationalismus.31 Schmitt kritisiert lediglich die vermeintliche Wie Leo Strauss bereits 1932 festgestellt hat, zeichnet sich Sch- Halbherzigkeit, mit der Sorel seinen Angrif auf den Rationalis- mitts Darstellung ‚entpolitisierender‘ Tendenzen dabei durch mus durchführt. Er beziehe sich inkonsequenterweise noch auf eine eigentümliche Inkonsistenz aus. Einerseits räume er wenigs- die Begrifichkeit der Klassentheorie von Marx, mit der dieser tens die Möglichkeit ein, dass „die Unterscheidung von Freund „seinem Gegner, dem Bourgeois, auf das ökonomische Gebiet und Feind auch der bloßen Eventualität nach auf[hören]“, es eine gefolgt ist“ (86): „Amerikanische Finanzleute und russische Bol- „politikreine“ Welt geben könne (Schmitt 2002, 54, auch 35f., schewisten“, so Schmitts Variation eines antisemitischen Topos, 56; ebenso 1925, 34, 47). „Ob und wann dieser Zustand der Erde „fnden sich zusammen im Kampf für das ökonomische Denken und der Menschheit eintreten wird“, schreibt Schmitt, „weiß ich […]. In dieser Bundesgenossenschaft steht auch Georges Sorel.“ nicht. Vorläufg ist er nicht da.“ (Schmitt 2002, 54) Zum an- (Schmitt 1925, 19) Dagegen könne nur die „Energie des Natio- deren werfe er der liberalen Idee einer Herrschaft des Gesetzes nalen“ (Schmitt 1996a, 88) vor der Konsequenz einer nicht mehr zum bedingungslosen Kampf motivierenden „rationalistische[n] 32 und mechanistische[n] Mythenlosigkeit“ (86) bewahren. 33 Schiller diagnostiziert „das Opfer ihrer [der Menschen] Totalität“ Genau das ist also der Clou des Schmittschen Begrifs des Poli- im Zuge der modernen klassengespaltenen, arbeitsteiligen Gesell- tischen: das faschistische „’l’art pour l’art auf politischem Gebie- schaft und konstatiert, es müsse „bey uns stehen, diese Totalität in te’“ (Schmitt 1994b, 125), ein „Ästhetizismus […] des Ernstfalls“ unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst (Bürger 1986, 174). Dieser, so Friedrich Balke, habe den An- wieder herzustellen.“ (Schiller 2006b, 28) Es sei „nur das Spiel“, das spruch der totalen Erfassung des Menschen „unter den Bedin- den Menschen wieder „vollständig macht“ (61), d.h. theoretische und gungen einer hochgradig arbeitsteilig organsierten Gesellschaft“ praktische Vernunft sowie Sinnlichkeit in Harmonie vereint: „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (62f.). Am Spiel hebt Schiller hervor, dass es „weder subjektiv noch objektiv zufällig ist, und 29 Vgl. Schmitt 2004b, 21: „In der Ausnahme durchbricht die Kraft doch weder äußerlich noch innerlich nöthigt“ (60). Es ist demnach des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten dem materiellen oder moralischen Zwang genauso enthoben, wie der Mechanik.“ Eine Begeisterung für das In-der-Welt-Sein im Kriegsfall „nichtige[n] Lust“ (63); es neutralisiert die groben sinnlichen Not- im Gegensatz zum punktuellen Selbst, das einer zur leeren Abstraktion wendigkeiten und Bedürfnisse, ohne einer logischen oder moralischen mutierten ‚Umwelt‘ gegenüberstehe, fndet sich auch im Manifest Der Nötigung zu unterliegen (zu Schillers Begrif des Spiels vgl. Matuschek kommende Aufstand (Unsichtbares Komitee 2010, 54): „Diejenigen, 2009, 180-186, 193f., 202, 211f.). Schmitt wendet sich explizit ge- die […] einen Krieg […] bewohnen, haben keine ‚Umwelt‘, sie ent- gen diese Idee: „Erst im Spiel wird der Mensch zum Menschen; hier wickeln sich in einer Welt, die von Gegenständen und Gefahren, von fndet er sich aus der Selbstentfremdung zu seiner eigenen Würde. An Freunden und Feinden, von Lebenspunkten und Todespunkten […] der Hand einer solchen Philosophie muß das Spiel dem Ernst über- bevölkert wird“. legen werden.“ Der Ernst werde so „zum tierischen Ernst“, „‘dreck- 30 Vgl. auch seine Ausführungen zu Hegels „polemisch-politischer De- ichte Wirklichkeit‘“ (Schmitt 1985b, 49), während er doch für Schmitt fnition des Bourgeois“, „der die Sphäre des risikolos-Privaten nicht ver- gerade den Menschen ausmachender Zweck ist. Es wäre interessant, der lassen will“, die Sicherheit des Genusses seiner privaten Güter anstrebt Frage nachzuspüren, inwiefern Schmitt hier partiell in der Tradition und sich darin „als einzelner gegen das Ganze verhält“. Der Bourgeois der Ablehnung des Spiels als eitles Blendwerk steht, die von Platon über sei ein Mensch, der den Staat für seine egoistischen Geschäfte instru- Aristoteles bis hin zu Rousseau reicht. Allerdings sind deren Konzepte mentalisiert, aber „der Gefahr eines gewaltsamen Todes entnommen des Ernstes allesamt substanzieller als das Schmittsche, das unnötiges bleiben will“ (Schmitt 2002, 62). Leid per se in den Rang des Ernstes erhebt. 31 Schmitt teilt diese Werte, bewahrt aber meist den für ihn charak- 34 Mit dieser Ästhetik-Diagnose ist nicht gemeint, dass Schmitt teristischen pseudosachlichen Stil. Zu den Idealen des Faschismus vgl. politische Phänomene nach ästhetischen Kriterien beurteilt, z.B. eine Sternhell u.a. 1999, 17-22, 24-27. Bombenexplosion als ‚schön‘ beschreibt. In diesem Sinne ist Schmitt 32 Sternhell u.a. (1999, 103f., 107) zeigen allerdings, dass dieser gewiss keine Ästhetisierung vorzuwerfen (vgl. auch Schmitt 2002, 27). Marx-Bezug Sorels von Anfang an mit einer irrationalistischen Funda- Vielmehr fnden sich bei ihm bestimmte Analogien zu ästhetischen mentalrevision verbunden war, die am Klassenkampf nur den Kampf Phänomenen. Zu verschiedenen Bedeutungsschichten einer Ästhetisi- schätzte, am Kapitalismus nur einen Mythos vom transigenten Bürger erung des Politischen vgl. Jay 1993, 121f. kritisierte und letztlich in den Nationalismus gemündet habe. Damit 35 Vgl. auch Marcuse 2004, 223: Im „heroische[n] Kult des Staates“ folgten Sorel und seine Schüler dem Schmittschen Wink, weil sie be- und der nationalen „Erhebung“ werde das „Individuum […] völlig merkten: „Dieses Proletariat […] erwies sich als ebenso dem Utilitaris- geopfert“ und „soll jetzt in der Größe des Volkes das Glück des einzel- mus verfallen wie die Bourgeoisie.“ (103) nen verschwinden.“

45 ebenso wie einer „humanitäre[n] Moral“ (Strauss 2001, 235) vor, Schmitt Strauss‘ Diagnose eines Hasses aufs Behagen, auf den mit ihrer Idee einer geeinten Menschheit, mit universalistischen Hedonismus und das individuelle Glück: Normen und der Idee des gerechten Krieges, dem Politischen nicht entkommen, ja es lediglich ins Barbarische steigern zu kön- Strauss „legt […] den Finger auf das Wort Unterhaltung. Mit nen (vgl. Schmitt 2002, 55; 1925, 24, 44, 48).36 „Nun könnte“, Recht. […] Heute würde ich Spiel sagen, um den Gegenbegrif wie Strauss konstatiert, „das Politische nicht bedroht sein, wenn zu Ernst (den Leo Strauß richtig erkannt hat) mit mehr Prägnanz es, wie Schmitt an einer Reihe von Stellen behauptet, schlechter- zum Ausdruck zu bringen. […] In meinem Verlegenheitswort dings unentrinnbar wäre.“ (Strauss 2001, 229) Schmitt diagnos- ‚Unterhaltung‘ sind aber auch Bezugnahmen auf Sport, Frei- tiziere also nicht bloß die Schicksalhaftigkeit des Politischen, zeitgestaltung und die neuen Phänomene einer ‚Überfußgesell- seine Furcht vor der Möglichkeit einer entpolitisierten Welt of- schaft‘ verborgen“ (Schmitt 2002, 120). fenbare sein Denken als „Eintreten für das bedrohte Politische, eine Bejahung des Politischen.“ (229) „Die Bejahung des Politi- Der normative Kern des Begrifs des Politischen ist damit frei- schen“ aber sei „die Bejahung des Naturstandes.“ (235) Schmitt gelegt. hält Strauss zufolge die entpolitisierte Welt nicht für unmöglich, er „verabscheut“ (232) sie, habe einen „Ekel“ (233) vor ihr. Tat- III. Der humanistische und der faschistische Begrif des sächlich zieht Schmitt immer wieder zu Felde gegen bürgerliche Ernstes Sekurität (Schmitt 2002, 62), gegen „vielleicht interessante [...] Wie sehr Schmitts Sinnstiftungsversuch des Krieges aufkläre- Konkurrenzen und Intrigen aller Art“ (35f.), gegen „Unterhal- rischem Denken entgegengesetzt ist und wie sehr der Diskurs tung“ (54), „Konsum“ (83), „Spiel“ (120) und „gemütliche[n] des Opfers sich hier verändert, zeigt ein Vergleich mit Friedrich Bildungsgenuß“ (Schmitt 1985b, 49), gegen ein „paradiesische[s] Schillers Begrif des Ernstes. Schiller unterscheidet Anmut und Diesseits unmittelbaren, natürlichen Lebens und problemloser Würde als Ausdrucksformen des menschlichen Geistes: Anmut ‚Leib’haftigkeit“ (Schmitt 2004b, 68), gegen die „nichtssagen- wird verstanden als Ausdruck einer „schönen Seele“, in der sitt- de Gleichheit“, ja „schlimmste[…] Formlosigkeit[…]“ des Kos- liche Pficht – für Schiller nichts anderes als der kategorische mopolitismus (Schmitt 1996a, 17) und „Verhandeln, abwartende Imperativ Kants – und Neigung harmonisch verbunden sind Halbheit“, die „die blutige Entscheidungsschlacht“ „in parlamen- und die Afekte die „Leitung des Willens“ übernehmen kön- tarische Debatte verwandelt“, „durch eine ewige Diskussion ewig nen, ohne Gefahr zu laufen, mit den Forderungen der Pficht suspendieren“ will (Schmitt 2004b, 67). Dagegen wolle er den „im Widerspruch zu stehen.“ (Schiller 2006a, 111) Die schöne „Ernst des menschlichen Lebens“ (Strauss 2001, 233) bewahren, Seele bezeichnet also eine habitualisierte Form der Moralität, der mit der „spezifsch politische[n] Spannung“, dem „Ernstfall“ die „de[n] ganze[n] Charakter“ umfasst und phänomenal als An- (Schmitt 2002, 35), verbunden sei. Die einzige „Garantie dage- mut erscheint,38 weil Sinnlichkeit der Moral hier nicht unter- gen, daß die Welt nicht eine Welt der Unterhaltung wird, sind worfen, sondern mit ihr „versöhnt[…]“ (107) ist. Der anmutige Politik und Staat“ (Strauss 2001, 233) und damit die Möglich- Mensch „ist einig mit sich selbst“, hat ein Bedürfnis, das Rich- keit des Krieges.37 In der Ausgabe des Begrifs von 1963 bestätigt tige zu tun, seine Moralität äußert sich als „Leichtigkeit“ (102) und trägt Züge „des Spiels“ (105). Schiller betrachtet diese Har- monie von Pficht und Neigung als anzustrebendes Ideal und 36 Schmitt behauptet, die Kriegsfeindschaft oder die universalistische selber wiederum als natürliche „Verpfichtung“, die einfach aus Idee eines gerechten Krieges im Namen der Menschheit führe zur Ent- menschlichung des Feindes und zu einem totalen Vernichtungskrieg bis dem Charakter des Menschen als vernünftiges Sinnenwesen re- zur „äußersten Unmenschlichkeit“ (2002, 55, vgl. auch 1925, 44). Krie- sultiere (107). Er ist sich allerdings bewusst, dass dieses Ideal auf- ge im Namen der Menschheit hätten daher einen „besonders intensiven grund der Naturbedingtheit, Leidensfähigkeit und Endlichkeit politischen Sinn“ (2002, 55). Diese Behauptung, die auch im gegenwär- menschlicher Existenz nicht vollständig zu realisieren ist (vgl. tigen Linksschmittianismus vertreten wird (vgl. Hetzel 2009, 177, 182; 113): „Die Gesetzgebung der Natur durch den Trieb kann mit 2010, 240f., 243 und Moufe 2013, 66, 101) ist unhaltbar: a) Schmitt der Gesetzgebung der Vernunft aus Prinzipien in Streit geraten, nimmt damit gerade einen universalistischen Begrif von Menschheit wenn der Trieb zu seiner Befriedigung eine Handlung fordert, in Anspruch. Welchen Sinn soll sonst der Begrif der Unmenschlichkeit die dem moralischen Grundsatz zuwiderläuft.“ (116) In diesem haben? b) Es ist nicht einsichtig, dass die Bekämpfung von Verbrechen Fall „kann sich die Sittlichkeit des Charakters nicht anders als gegen die ‚Menschheit‘ (verstanden als allen Menschen gleichermaßen zukommender Anspruch auf Achtung ihrer Würde) den Anspruch durch Widerstand ofenbaren“ (118), und unter den Ansprüchen auch der in dieser Weise als ‚Feinde der Menschheit‘ Defnierten auf sittlicher Pfichten „wird sich die Sinnlichkeit in einem Zustand menschliche Würde leugnet. Gefordert wird von ihnen vielmehr die des Zwangs und der Unterdrückung befnden, da besonders, wo Aufgabe der exklusiven Beanspruchung bestimmter Rechte. c) Schmitt sie ein schmerzhaftes Opfer bringt.“ (123) Nun geht „die schöne ignoriert, dass universalistische Kriegslegitimationen auch eine „ge- Seele […] ins Heroische über“, wirkt die reine „Geistesfreiheit“ waltlimitierende Funktion“ (Münkler 2002, 208) aufweisen können, die Totaldenunziation und abstrakte Negation universeller Normen da- gegen regelmäßig zu einer Gewaltenthemmung führt, wie sie im zwei- fall’. Daher ist die Bejahung des Politischen als solchen die Bejahung ten Weltkrieg seitens der Deutschen vollzogen wurde. Schließlich war des Kampfes als solchen“. Es gehe Schmitt um die „Gespanntheit zu es eine Ideologie des selbstbewussten Partikularismus, für den Schmitt gleichgültig welcher Entscheidung“ (ebd., 236), solange sie eine auf die plädiert, mit dem die deutsche Seite den Krieg als Vernichtungskrieg Möglichkeit von Kampf und Krieg bezogene sei. geplant und durchgeführt hat. d) Es stellt sich hier wieder die Frage, 38 „In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, was es bedeuten soll, universalistisch begründete Kriege hätten einen Pficht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der „besonders intensiven politischen Sinn“, wenn das Politische schon den Erscheinung.“ (Schiller 2006a, 111) Schiller bleibt allerdings ganz Kan- „äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung“ (2002, tianer, wenn er feststellt, „daß der Anteil der Neigung an einer freien 27) von Gruppen darstellt. Handlung für die reine Pfichtmäßigkeit dieser Handlung nichts be- 37 „Politisch-sein“, so Strauss, „heißt ausgerichtet-sein auf den ‚Ernst- weist. (106)

46 (119), deren Erscheinungsform als Würde, moralische Größe oder tische, also potentiell einen Feind bekämpfende Einheit. Bereits Erhabenheit bezeichnet wird. Schiller resümiert: in Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914) begründete Schmitt ein Ethos der überpositiven, nicht bloß posi- „Wo also die sittliche Pficht eine Handlung gebietet, die das Sinn- tivrechtlichen Verpfichtung der Einzelnen „unter Streichung […] liche notwendig leiden macht, da ist Ernst und kein Spiel, […] da der persönlichen Entfaltung ebenso wie aller vernünftigen Krite- kann also nicht Anmut, sondern Würde der Ausdruck sein.“ (124) rien“ (Otten 1995, 42) der Verpfichtung, die „in der Forderung an das Individuum“ auftritt, „die eigene subjektiv-empirische Ungeachtet der scheinbaren Naturalisierung dieses Konfikts Wirklichkeit zu negieren“ (43). Das Individuum gewinnt Schmitt („Naturtrieb“ vs. Pficht) impliziert Schillers Idee der Würde eine zufolge Bedeutung und verdient Achtung ausschließlich durch Unterscheidung in unausweichliche Konfikte zwischen Pficht Hingabe an eine heteronom vorgegebene, inhaltlich nahezu be- und Neigung und unsinnige Konfikte. Denn, so Schiller, Würde liebige Aufgabe. Nicht ganz beliebig, denn sie müsse wenigstens könne phänomenal mit Härte verwechselt werden, die sich da- die Eigenschaft aufweisen, keinem individuellen menschlichen durch auszeichne, sinnliche Ansprüche des Individuums nicht Bedürfnis zu dienen, das mit materiellen Interessen, Sekurität den Imperativen der Sittlichkeit, sondern einem anderen verbor- oder Selbstentfaltung verbunden ist – „die empirischen Zufällig- genen sinnlichen Bestimmungsgrund zu opfern: keiten [des] […] persönlichen Lebens“ (Schmitt 2004a, 93) oder die „Hochschätzung des Konkreten und Materiellen“ (90) sind „Würde allein beweist zwar überall, wo wir sie antrefen, eine ge- Schmitt ebenso verhasst wie „Menschen, die neben der Erfül- wisse Einschränkung der Begierden und Neigungen. Ob es aber lung ihrer Pficht außerdem noch etwas bedeuten wollen.“ (90)42 nicht vielmehr Stumpfheit des Empfndungsvermögens (Härte) Pficht ist hier nicht die Kantische Nötigung, die uns das ver- sei, was wir für Beherrschung halten, und ob es wirklich morali- nünftige moralische Gesetz auferlegt. Es geht vielmehr prinzipiell sche Selbsttätigkeit und nicht vielmehr Übergewicht eines andern gegen die kreatürlichen Bedürfnisse, gegen das Einzelne, gegen Afektes, also absichtliche Anspannung sei, was den Ausbruch des die Lust. Zweck ist dabei das Absehen von der Individualität an gegenwärtigen im Zaume hält, das kann nur die damit verbun- sich geworden – ein klassisches Zeichen des Masochismus43 und dene Anmut außer Zweifel setzen.“ (126)39 Die „falsche Würde eine mit Schiller schlicht als „verächtliche Härte“ zu identifzie- […] ist nicht bloß streng gegen die widerstrebende, sondern hart rende Haltung. gegen die unterwürfge Natur und sucht ihre lächerliche Größe in Schmitt verwirft mit der Tese, es gebe „keinen rationalen Zweck, der Unterjochung und, wo dies nicht anders gehen will, in Verber- [...] kein noch so schönes soziales Ideal [...], die es rechtfertigen gung derselben.“ (134) könnte[n], daß Menschen sich gegenseitig dafür töten“ (Schmitt 2002, 49f.), also keineswegs den Krieg. Er lehnt lediglich jede nor- Es ist frappierend, wie Schiller hier das Ideal der Härte, der (An-) mative Rechtfertigung von Kriegen aus anderen als politischen Spannung, des verkehrt Heroischen, des Hasses aufs Materielle Gründen ab.44 Damit besteht zugleich auch keine Möglichkeit und Individuelle, die „lächerliche Größe“40 des Beharrens auf ei- mehr, einen Krieg aus Unrentabilität oder moralischer Verwer- nem sinnlosen Opfer antizipiert, die 140 Jahre später im faschis- fichkeit zu unterlassen. Wie Karl Löwith resümiert, tischen Wertekanon nicht nur eines Carl Schmitt vertreten wird. Die Gegensätze sind damit klar: Bei Schiller ist der Ernst des Le- „bleibt als Wozu der Entscheidung nur übrig der jedes Sachgebiet bens stets bezogen aufs moralische Gesetz des kategorischen Im- übersteigende und es in Frage stellende Krieg, d.h. die Bereit- perativs und dessen Geltendmachung gegen nicht harmonisierte schaft zum Nichts, welches der Tod ist, verstanden als Opfer des oder harmonisierbare Afekte. Ernst ist hier aber kein Selbstzweck Lebens an einem Staat, dessen eigene Voraussetzung schon das oder etwas Anzustrebendes, sondern Ausdruck nichtversöhnter Entscheidend-Politische ist.“ (Löwith 1984, 44) Konfikte, die als solche nichts Gutes sind. Das Ideal bleibt die Versöhnung oder Vermittlung von Empirie/Besonderem und mo- ralischem Gesetz/Allgemeinem. Für Schmitt hingegen ist Ernst 42 Schmitt wird allerdings in dieser Phase aus „Hochschätzung des Konkreten und Materiellen“ (2004a, 90), sprich: aus Furcht vor dem als solcher der höchste Wert, und zwar Ernst im Sinne der tragi- 41 Fronteinsatz, kurzfristig zum ‚Staatskritiker‘. So fnden sich in seinen schen Betätigung des Individuums im Konfikt- und Ausnah- Tagebüchern 1915 folgende Einträge: „Ich war wahnsinnig vor Wut mefall. Die Opferung des Sinnlichen/Besonderen für das Allge- über die Preußen, den Militarismus, hätte die ostentativsten Befehls- meine/die politische Einheit ist Zweck, der wiederum aus einem verweigerungen begehen können. Wie scheußlich, als Individuum in gesellschaftlich konstituierten sinnlichen Motiv heraus entsteht, einem solchen Gefängnis zu sitzen.“ (Schmitt 2005, 77) „Deutschland wie noch erläutert werden soll. Das Allgemeine ist bei Schmitt wird das Land der Gerechtigkeit, der Vernichtung des Einzelnen, es nicht mehr das moralische Gesetz, sondern die kontingente poli- verwirklicht genau das, was ich in meinem Buch über den Staat als Ideal des Staates aufgestellt habe.“ (24) Reinhard Mehring paraphra- siert: „Der Anti-Individualismus des Frühwerks erscheint als negative 39 Die Probleme, die mit Schillers Versuch verbunden sind, ein sinnli- Utopie“ (Mehring 2009, 77). ches Kriterium für die Unterscheidung moralischer von unmoralischen 43 Vgl. Fromm 2000, 114. Günter Meuter bezeichnet dies als „asketis- Handlungen im pfichtethischen Sinn anzugeben, sollen uns hier nicht che Ethik des selbstvernichtenden Selbstseins im Dienst einer transsub- weiter beschäftigen. jektiven Größe“ (Meuter 2000, 20). 40 Vgl. auch Schiller 2006a, 123: „Da die Würde ein Ausdruck des 44 Frappant sind die Übereinstimmungen mit anderen Autoren des Widerstandes ist, den der selbständige Geist dem Naturtriebe leistet, heroischen Realismus, wie Friedrich Georg Jünger, der schreibt: „der dieser also als eine Gewalt muß angesehen werden, welche Wider- Krieg ist kein sittliches Phänomen; es gibt keine ethische Kategorie, in stand nötig macht, so ist sie da, wo keine solche Gewalt zu bekämpfen der er untergebracht werden könnte […], das macht ihn für das herois- ist, lächerlich, und wo keine solche Gewalt zu bekämpfen sein sollte, che Bewußtsein, welches in ihm sein Element und Schicksal ehrt, erst verächtlich.“ bedeutsam. […] Der geborene Krieger“ ist „von der Schicksalhaftigkeit 41 Vgl. dazu vor allem Hamlet oder Hekuba (1985b, 40f., 46). des Krieges ganz und gar durchdrungen.“ (Jünger 1930, 63)

47 Man könnte nun einwenden, es bleibe doch die „eigene[…] Art Gründe reduziert werden.46 Hier wird eine weitere Bedeutung Existenz“ (Schmitt 2002, 27), ihre Bedrohung und Behauptung. von ‚existenziell‘ erkennbar: Es wird verstanden als durch sich Die Formulierung muss aber zur Leerformel erstarren, wenn von selbst legitimiertes Sein, bzw. als behauptete Einheit von Sein allen jenseits des Krieges liegenden normativen oder evaluativen und Sollen (vgl. auch besonders krass und mit esoterischer ‚Mut- Elementen abgesehen wird, also von allem, was eine Art (und ter-Erde‘- und ‚Boden‘rhetorik in Schmitt 1988, 13-51).47 Weise) von Existenz bestimmen könnte. Bernd Ladwig zufolge Wenn der politische Sinn überhaupt noch auf das Individuum ist Schmitts Existenzbegrif daher „eine zeittypische Floskel zur rückbezogen wird – und das muss er, schließlich sind es Indi- Bemäntelung kriterialer Nacktheit“. Wenn sie einen angebbaren viduen mit bestimmten Motivationen, die Krieg führen oder Sinn haben solle, dann verweise sie auf „Standards der Recht- führen lassen, selbst in dem merkwürdigen Sinne von Schmitt fertigung“ (Ladwig 2003, 56), auf Inhalte wie den Wert des –, dann steht er im Rahmen eines Opferungs- und Sinnge- Überlebens einer Gruppe, der territorialen Integrität eines Staa- bungsprozesses, der in faschistischen Bewegungen und Verlaut- tes, der nationalen Autonomie usf. Schmitt konfundiere schlicht barungen anzutrefen ist. Die Idee des Opfers hat dabei zwei die normengeleitete Entscheidung zum Krieg mit der situativen Bedeutungsebenen: a) eine allgemeine, auf der das Individuum Entscheidung und Feinderfahrung im Krieg: Der Soldat müsse vor seiner als Isolation und Ohnmacht erfahrenen gesellschaft- „damit rechnen […], als Feind bekämpft zu werden“ (57), ohne lichen Situation fieht und Befriedigung im Aufgehen in einem dass diese Möglichkeit auf seine Überzeugungen oder Inten- die Qualitäten der Macht, Größe und afektiven Verbundenheit tionen Rücksicht nähme, ohne dass er von den ebenfalls in der aufweisenden Kollektiv erfährt. Hier spielt auch ästhetisierte Po- Kampfsituation stehenden Feinden als „moralischer Scheusal litik eine Rolle, in der der Einzelne die Zugehörigkeit zum Kol- oder als möglicher Konkurrent“ betrachtet werde, „sondern ein- lektiv sinnlich erfährt und anschaulich gemacht bekommt; und fach, weil er als Kämpfender kenntlich ist.“ (58) Betont wird also b) eine besondere, in der das Individuum in der noch gesteigerten die relative Ohnmacht der Kombattanten angesichts des Kugel- Situation des Kampfes für dieses Kollektiv, in der Bejahung des hagels oder „unter dem Eindruck von Streubomben“ (58). Um heteronomen Zwangs eine Pseudoaktivität und ein intensives das Leben unter der Drohung, in eine solche Situation zu gera- Selbstgefühl entfaltet. Die allgemeine Bedeutungsebene (a), die ten, geht es Schmitt.45 Man könnte auch spekulieren, ob bei ihm bereits in Schillers Idee vom „Übergewicht eines […] Afektes“ die völkerrechtliche Symmetrisierung des Krieges in Europa seit im Fall der Härte erahnt wurde, wird in der Teorie des auto- dem 17. Jahrhundert zur Idee der normativ nicht begründbaren ritären Charakters bestätigt, die Erich Fromm seit den 1930er Kriegführung mutiert. In der Symmetrisierung der Kriegfüh- Jahren entwickelte. Er weist die gesellschaftlich konstituierte rung wird die Idee des gerechten Krieges zurückgedrängt:

„Staaten durften sich nun, ohne weitere Prüfung von Grün- 46 Vgl. Hofmann, der feststellt, „daß Schmitt in seinem existenziellen den und Ansprüchen durch einen Dritten, den Krieg erklären“ Begrif des Krieges das sachliche ‚Wofür‘ des Kampfes eliminiert hat.“ (Münkler 2010, 114). (Hofmann 2002, 156) 47 Herbert Marcuse (1968, 29) sieht hierin einen Versuch, „eine rational Wenn die normativen Kriegsgründe als völkerrechtlich nicht nicht mehr zu rechtfertigende Gesellschaft durch irrationale Mächte zu mehr relevant erachtet wurden, bedeutet das aber nicht, dass rechtfertigen“. Gehe dem Bürgertum das Vertrauen in seine rationalen keine normativen Gründe mehr vorlagen. Zwar erinnert Sch- Staats- und Eigentumslegitimationen aus, so ersetze eben ‚die Existenz’ mitt zu Recht an die Tatsache, dass Staaten von ihren Bürgern jedes Argument. Marcuse betont auch die Transformationsleistung des Todes- und Tötungsbereitschaft verlangen können, solange es politischen Existenzialismus Schmitts (und Heideggers), die darin be- stehe, die auf der „unüberholbaren personalen ‚Jemeinigkeit‘“ gegrün- ein „Pluriversum“ (Schmitt 2002, 54) von politischen Einheiten dete „Einzelexistenz“ (51) durch ein ‚jeunsriges‘ politisches Kollektiv gibt. Diese wenig spektakuläre Einsicht nutzt Schmitt aber, um zu ersetzen, das „unter keine außerhalb seiner selbst liegende Norm selbst ein normatives Programm zu verfolgen – die weitgehende gestellt werden kann“, woraus folge, „daß man über einen existenzi- Entkopplung der Legitimation von Politischem und Staat von ellen Sachverhalt überhaupt nicht als ‚unparteiischer Dritter‘ denken, allen nichtbellizistischen Motiven. Er überschreitet damit die im urteilen und entscheiden kann.“ (44) So versucht Schmitt in der Tat, liberalen Staatsdenken noch vorhandene „Rationalitätsgrenze“ seine Tese von der Rechtfertigungsunbedürftigkeit politischer Einheit (Pauly/Heiß 2010, 156) für Opfer- und Tötungsbereitschaft, in- durch eine Analogie zum Individuum zu plausibilisieren: Die politi- dem er die politische Einheit nicht auf wechselseitige Kooperati- sche Einheit sei so wenig einer Legitimation ihrer Existenz bedürftig, onsvorteile egoistischer Warenbesitzer oder auf die Realisierung „wie in der Sphäre des Privatrechts der einzelne lebende Mensch seine Existenz normativ begründen müßte oder könnte.“ (Schmitt 2003, 89). im kantischen Sinne moralitätskonformer sozialer Verhältnisse Eine nichtnatürliche Herrschaftseinheit wird dabei schlicht mit einem rückbezieht, sondern sie zur „höhere[n] und gesteigerte[n], inten- lebendigen Individuum auf eine Stufe gestellt: Die Analogie „schlägt sivere[n] Art Sein“ (Schmitt 2003, 210) verklärt. Eine politische […] insofern fehl“, schreibt Matthias Kaufmann (1988, 295), „als mit Einheit ist es dann erklärtermaßen wert zu existieren, weil sie der Existenz einer staatlichen Herrschaftsordnung die (begründungs- existiert (vgl. Schmitt 2003, 22) und sie ist dadurch defniert, bedürftige) Forderung nach Gehorsam verbunden ist, was für die die Möglichkeit des Krieges aufrecht zu erhalten – diese Mög- Existenz des Individuums nicht gilt.“ Margit Kraft-Fuchs (1930, 530) lichkeit ist für Schmitt in sich sinnvoll und darf nicht auf andere moniert schließlich den Kryptonormativismus dieser Art von „Natur- rechtslehre“, die letztlich nichts anderes darstelle als eine „Teorie des Rechts des Stärkeren, die naturrechtliche Machttheorie.“ (538) Warum Schmitt ausgerechnet die politische Einheit mit der Sein-Sollen-Identi- 45 Auch Jünger gewinnt aus dieser Situation seinen „Maßstab“ einer tät versehe, also durch bloße Existenz legitimiere, bleibe unerfndlich. intrinsischen Sinnerfülltheit des Krieges: „Hier ist der Maßstab, der Teoretiker wie Schmitt, so Kraft-Fuchs, „sollten wenigstens die Frage Gültigkeit besitzt: die Haltung des Menschen in der Schlacht, die beantworten, warum sie mit ihren Schlüssen aus dem Sein auf ein Sol- das Urverhältnis einer schicksalhaft gerichteten Ordnung ist“ (Jünger len immer dann aufhören, wenn ihnen das Sein nicht mehr angenehm, 1930, 62). und folglich seine Existenz auch nicht erstrebenswert erscheint.“ (531)

48 autoritär-masochistische Bedürfnisstruktur auf, die hinter der „zugleich fktive und doch real erlebte und gelebte Präsenz des faschistischen Verherrlichung von nationaler Größe, Krieg und Sinns inmitten der Sinnlosigkeit, [...] gelebte Autonomie in un- Opfer stehe. Die faschistische Idee des Ernstes ist demnach Re- veränderten Verhältnissen der Fremdbestimmtheit [dar], [...] sultat eines erfolglosen Fluchtversuchs der Individuen vor einer erlebte Identität der Zwecksetzungen und Bedürfnisse mit den in ihren Ursachen unbegrifenen Situation gesellschaftlich kon- entfremdeten gesellschaftlichen Formen, in denen sie zugleich stituierter Ohnmacht und einer als bloße Prekarität erfahrenen kompensatorische Verwirklichungsmöglichkeiten fnden“ (21). Privatautonomie – eine Flucht, die zur masochistischen Unter- ordnung unter eine irrationale, Schutz und unverlierbare Teilha- Eine wichtige Rolle spielten dabei „Rituale[...] und Praxisfor- be an kollektiver Macht versprechende Autorität führe48 und zu- men, in denen die fktive Sinnwelt als unmittelbar präsent er- gleich innere Konfikte und Krisenursachen in projektiver Weise lebt wird“ (21).52 Real erlebt wird eine fktive, weil die sozialen auf innere und äußere Feinde projiziere.49 Durch die Art, wie Widersprüche und Krisen nicht aufhebende, harmonische Ge- diese politische Einheit zustande kommt und sich erhält, ist also meinschaft und eine fktive, weil keine rationale Gestaltung der zugleich die Ewigkeit der Feindschaft gesichert. Dass bei dieser eigenen Lebensbedingungen erlaubende, Handlungsfähigkeit. Projektion, wie auch bei Schmitt der Fall, die Juden eine zentrale Eine Moral des ‚Ernstes‘ und der ‚Erhabenheit’ als Bejahung von Rolle als ‚wahre Feinde‘ spielen,50 soll nicht unerwähnt bleiben. Askese, Selbstüberwindung und -opferung, ihre Ästhetisierung Armin Steil bestätigt diese Diagnose und betont dabei auch die von harter Arbeit und Kampf gelten dabei als Kern faschistischer besondere Bedeutungsebene (b). Er charakterisiert einen Grund- imaginärer Sinnproduktion: zug der faschistischen Ideologie als „imaginäre Aufhebung“ der „ökonomische[n], politische[n] und kulturelle[n] Vereinzelung“ „In den Bereichen der Arbeit und vor allen des Krieges schaft (Steil 1984, 13) der Individuen im Kapitalismus, dessen Zwecke sich der Faschismus seine eigene ‚künstliche Welt’, in der die Er- sich vollends von den Bedürfnissen der Einzelnen emanzipiert fahrung der Selbstbestimmung möglich ist – allerdings nur in hätten.51 Das Imaginäre stelle die der Form negativer Selbstbestimmung. Die harte, entbehrungs- reiche Arbeit und – noch mehr – die Todesgefahr im Krieg stel- len die Individuen vor die Entscheidung zur Selbstüberwindung 53 48 Michael Großheim liefert eine ähnliche Deutung des politischen und Selbstopferung“ (47f.). Existentialismus als Versuch einer spezifsch politischen Bewältigung von als Haltlosigkeit und Last erfahrener individueller Freiheit: „Am Es bleibt hier leider kein Raum, dies ausführlicher zu erläutern. Anfang“, so Großheim, „steht die Erfahrung radikalisierter persona- Es konnte lediglich gezeigt werden, dass der faschistische Begrif ler Emanzipation“ (1999, 157) – allerdings, wie zu ergänzen ist, einer, des Ernstes den normativen Kern des Schmittschen Begrifs des die den Bezug zur Welt und zu den anderen Mensch bloß kappt, ei- Politischen darstellt. So ungeheuerlich es klingt, allein die Mög- nen „‘Schrecken vor der Leere‘“ erzeugt. Der politische Existenzialis- lichkeit des Tötens und Getötetwerdens für ein homogenes Kol- mus (von Schmitt, Jünger, Heidegger u.a.) reagiere mit der „Sehnsucht lektiv verleiht der menschlichen Existenz dieser Weltanschau- nach Härte und Schwere […][,] nach Geborgenheit in einem Gehäuse (Gemeinschaft, Staat, Nation etc.).“ (152) nach einer unmittelbaren, ung zufolge einen ernsthaften und damit sinnvollen Charakter. „nicht distanzierbaren“ (136) Verbundenheit und Ergrifenheit. Die- Nichts widert Schmitt ofenbar mehr an, als das Beharren auf se müssen unverrückbar und total sein. (vgl. 154) Eine die subjektive Glücksansprüchen des Individuums gegen eine vollends nicht- Willkür übersteigende, bindende ‚Sache‘, ‚Aufgabe‘ oder das objektive, legitimierbar gewordene Welt politischer und ökonomischer undiskutierbare Kriterium für das eigene Handeln, werden dabei aber Strukturen: „Die, deren reale Ohnmacht andauert, ertragen das Großheim zufolge vom Subjekt willkürlich gewählt, weil es eben kein Bessere nicht einmal als Schein.“ (Adorno 1993, 23)54 Kriterium zwanglos zwingender, vernünftiger Art mehr angeben kann und auch nicht mehr naiv im Glauben an irrationale Mächte steht. Da- her die eigentümliche Inhaltsleere all der verbindlichen Substanzen, Werte, Mythen, Normen, Seinsgründe, Glaubenssätze usf., die be- hingegen sei er „lächerlich oder widerwärtig“ (91). schworen werden. „Der angestrengte Wille zur Bindung“ ist demnach 52 Vgl. Steil 1984, 165: Der Faschismus ermögliche nicht nur in seinen ein wesentliches Kennzeichen des politischen Existentialismus: „Das Massenaufmärschen und Totenkulten „[d]as sinnliche, unmittelbare Problem liegt sozusagen in dem Satz ‚ich will mich binden lassen‘ oder Erlebnis der Volksgemeinschaft“. Walter Benjamin (1992, 44) spricht ‚ich will gebunden werden‘.“ (155) Schmitt versucht dieses Dilemma zu in diesem Zusammenhang 1936 von der „Ästhetisierung der Politik, kaschieren, indem nur der Souverän diese Substanz bestimmen können welche der Faschismus betreibt“. Dass die Massen hier „zu ihrem Aus- soll, an die er vermeintlich selbst gebunden ist und seine Untertanen druck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen“, wie Benjamin meint bindet. Für den Untertanen ist damit die Wahl ausgeschlossen. Der (42), weist darauf hin, dass sie „an der Staatsdarstellung“ mitwirken, vom Souverän ausgerufene Ausnahmezustand und „das Auftauchen von der „Staatsführung (in der Perspektive des Staatsabbaus)“, also von des Feindes“, so Großheim, sind „Gelegenheiten, in denen plötzlich kollektiver Handlungsfähigkeit, aber ausgeschlossen bleiben (Behrens auftretende personale Regression die Tendenz zur endlosen personalen 1980, 106). Emanzipation aufhebt und dem Subjekt wieder ein unverfügbares und 53 Vgl. auch Arendt 1998, 710f., die das Fronterlebnis als „Erfahrung damit gefestigtes Sosein verschaft“ (162f.). einer ständigen, zerstörerischen Aktivität im Rahmen einer durch kei- 49 Vgl. dazu Fromm 1989 und 2000; Adorno 1993 und 2001, Rens- ne Aktion abzuwehrenden Fatalität“ beschreibt. Die weltanschaulichen mann 1998, Elbe 2014. Bewältigungsversuche von „Tod, Schmerz, Angst, Verstümmelung, der 50 Auch bei Schmitt ist das der Fall: Der „Jude ist der wahre Feind.“ mörderischen Gleichheit und der völligen Bedeutungslosigkeit des ein- (Schmitt 1991a, 18); vgl. Gross 2005. zelnen“ im Ersten Weltkrieg rückt auch Michael Wildt in den Blick 51 Das bemerkt und afrmiert Schmitt bereits in seiner Frühschrift (vgl. Wildt 2008, 848). über den Wert des Staates, vgl. 2004a, 90f.: Der Kapitalist, der Produk- 54 Mit ‚Ohnmacht‘ soll die grundlegende gesellschaftliche Situation tion um der Produktion willen betreibe, dem „an seinen persönlichen der Akteure, ihre Subsumiertheit unter den verselbständigten Kapi- Bedürfnissen nichts, an der Vermehrung seines Kapitals alles gelegen“ talprozess, bezeichnet werden. Keineswegs soll damit die Verantwor- sei, sei „groß und imponierend“, als Luxuskonsument und „Genießer“ tung faschistischer Täter geleugnet werden.

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Dieser Text ist die erweiterte Version des 2014 in Hendrik Wallat Ders. (1994b) [1929]: Wesen und Werden des faschistischen Staa- (Hg.): Gewalt und Moral, Unrast-Verlag Münster, erschienenen tes. In: Ders.: Positionen und Begrife im Kampf mit Weimar- Aufsatzes „Der Zweck des Politischen“. Wir danken dem Autor und Genf-Versailles 1923-1939. 3. Auf. Berlin. dem Unrast Verlag für die Genehmigung zum Nachdruck.

51 Volker Weiß Deutsche Untergänge

Die Herrschaft der Minderwertigen: matische Schrift mit dem Titel Die Herrschaft der Minderwertigen. Oswald Spengler, Edgar J. Jung und die Republik Ihr Zerfall und ihre Ablösung, in dem vieles konkret ausformuliert Die ersten Exponate der Untergangsliteratur waren während wurde, was sich in Spenglers erster Publikation noch schemenhaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland in jenem hinter den Schleiern einer meta- physischen Kulturgeschichte ver- Spektrum angesiedelt, das sich mit allen verfügbaren Mitteln ge- borgen hatte. Jungs Buch war einer der zentralen elitentheoreti- gen die Demokratisierung des Reiches stellte. Besonders nach der schen Wegweiser der deutschen Rechten im Kampf gegen die Wei- Kriegsniederlage 1918 erfuhr diese Haltung eine immense Radi- marer Republik. Zum Zeitpunkt der Publikation war Jung kein kalisierung. Der wohl bekannteste hieraus hervorgegangene Titel unbeschriebenes Blatt mehr, sondern hatte sich bereits politisch ist Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, dessen Autor den einschlägig hervorgetan: Der Jurist war 1924 maßgeblich an der Anspruch erhob, Nietzsches Überlegungen zum Zerfall der christ- Ermordung des Pfälzer Politikers Franz Joseph Heinz beteiligt ge- lichen Kultur und die Suche nach dem aristokratischen Element in wesen und anschließend nach Bayern gefüchtet. Der Freistaat war der Geschichte zeit- gemäß weiterzuführen. Allerdings war Speng- durch den Ministerpräsidenten Ritter von Kahr zur »Ordnungs- lers »Morphologie der Weltgeschichte« mit dem Ballast einer uni- zelle« im Reich ausgerufen worden und galt seither als sichere Zu- versalen Geschichtsdeutung befrachtet. Er setzt in der Antike an, fucht für Mörder und Verschwörer der radikalen Rechten in der um sich entlang verschiedener Stationen abendländischer Kultur Weimarer Republik. Der Begrif der Ordnung, so zeigte sich hier dem Rhythmus von Aufstieg und Zerfall anzunähern: Sein Au- bereits, war und ist eben interpretierbar. In seinem Werk von der genmerk gilt der Wissenschaft, der Kunst, den »Rassen« und ihrer Herrschaft der Minderwertigen versucht Jung einen systematischen Psyche sowie den geographischen Räumen. Nachweis, warum die demokratische Gesellschaftsform den Be- Sarrazins einleitender Exkurs in die Antike, von Ägypten über stand des Deutschen Reiches und des deutschen Volkes bedrohe.2 das römische Reich und dessen Teilung und Zerfall bis hin zum Die heute meist nur in wissenschaftlichen Kreisen bekannte Schrift Europäischen Mittelalter, kokettiert mit diesem altphilologischen weist trotz der historisch völlig anders gelagerten Situation und Gestus Spenglers. Er versucht, den Zyklen von Auf- stieg, Deka- unterschiedlichen Herkunft des Autors einige frappierende Ähn- denz und Niedergang in der Kulturgeschichte auf die Schliche zu lichkeiten mit Sarrazins Deutschland schaft sich ab auf. Jung macht kommen, um sie auf heute zu übertragen: sich in der Herrschaft der Minderwertigen ausführlich Gedanken über den demographischen Zustand des Deutschen Reiches. Das »Der Zusammenbruch des Reiches kam nicht von innen, sondern mit Statistiken und grundsätzlichen politischen Erwägungen ge- wurde von außen angestoßen, allerdings unterstützt durch interne füllte Buch, das vor dem Verfall des Reiches warnen sollte, erfuhr Tendenzen – vor allem durch die Dekadenz und Geburtenarmut 1930 eine um weitere empirische Daten ausführlich ergänzte Auf- der ehemals führenden Schichten.«1 lage.3 Dabei trieben seinen Autor besonders die noch recht jun- gen, aber populären »Lehren« der so genannten Rassenhygiene Allerdings blieb Spengler selbst, im Gegensatz zu Sarrazin, ge- um, schienen sie doch einen wissenschaftlich fundierten Weg zur genüber dem prophezeiten Untergang leidenschaftslos. Er erblick- Züchtung der »Höherwertigen« zu weisen. Die kontinuierliche te darin nicht nur eine kulturgeschichtlich notwendige Bewegung Verbesserung der deutschen Erbmasse war seiner Ansicht nach des Weltenzyklus, sondern sah, in fester Erwartung eines deut- eine dringliche Aufgabe der Politik. In seinen programmatisch schen Sieges, zunächst ein äußerst günstiges Zeitalter für das Reich präsentierten »Richtlinien zur inneren und äußeren Erneuerung gekommen. Typisch für den deutschen Radikalnationalismus der deutschen Volkes und deutschen Staates« schreibt Jung: Wilhelminischen Zeit sah er Deutschland nämlich nicht als Teil der abendländischen Zivilisation, deren Zerfall er daher gelassen »Sinn aller Gemeinschaftsarbeit ist die Erhaltung und Stärkung entgegen sah. Die tatsächliche Niederlage erklärte er dann zu einer des Volkskörpers. Nur seine Gesundheit verbürgt die von Staat, Bestätigung seiner Tese, dass die gegenwärtige Epoche sich dem Recht und Kultur. Rassenverschlechterung muß verhindert, Ende zuneige. Spengler setzte auf den Aufstieg eines neuen Cäsari- hochwertige Volksbestandteile müssen gepfegt, minderwertige smus in Deutschland nach dem Vorbild Mussolinis in Italien. Die zu- rückgedrängt werden. Aus- und Einwanderung werden nach Rezeption des Titels als populäre Chifre für den Zusammenbruch diesen Gesichtspunkten geregelt.«4 des Deutschen Reichs nach 1918 erfolg- te daher zumeist nicht wirklich angemessen. Dennoch konnte die Formel vom Untergang In ausführlichen Tabellen wies er nach, wie eine Vernachlässigung des Abendlandes in den folgenden Jahren eine einschneidende Wir- der Pfege des genetischen Erbes der Deutschen zum baldigen Un- kung entfalten. Im Münchener Umfeld Oswald Spenglers bewegte sich auch der Jurist Edgar Julius Jung. 1927 veröfentlichte Jung eine program- 2 Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich. Berlin 1927. 3 Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall 1 Tilo Sarrazin, Deutschland schaft sich ab. Wie wir unser Land aufs und ihre Ablösung durch ein Neues Reich. Berlin 1930. Spiel setzen. München (9. Aufage) 2010, S. 27. 4 Jung 1927, S. 334 f.

52 tergang der deutschen Kultur führen würde. Die »Rassenhygiene« Prägungen nachrangige Faktoren für die Entwicklung individu- dient Jung als Referenz, um seine folgenden Ausführungen zum eller Fähigkeiten und betonen stattdessen die Vererbbarkeit von weiteren Bestand des kulturellen Erbes abzusichern: Begabung. Sarrazin schreibt zu dieser Frage unmissverständlich: »geistige Fähigkeiten unterliegen den Mendelschen Gesetzen«7. »Die Erbmasse ist gleichsam der stofiche Nährboden, auf wel- Aus dieser Grundüberzeugung resultiert auch seine Klage über die chem eine Kultur erwächst, von welchen sie in ihren Grundlagen Kinderlosigkeit von Akademikern. Sie gehört zu den Hauptargu- bestimmt wird und über dessen Möglichkeiten sie nie hinaus- menten seines eugenisch geleiteten Kulturpessimismus und fndet wachsen kann. Würden beispielsweise keine deutschen Kinder bei Jung ihre Entsprechung. Jung vertritt wie auch Sarrazin die mehr geboren werden, und alle deutschen Familien nähmen Chi- Teorie, dass es durch die Ehelosigkeit des gebildeten katholischen nesenkinder an, so könnte sich kraft Sitte und Überlieferung die Klerus im Mittelalter eine negative »Gegenauslese« gegeben habe. deutsche Kultur bestenfalls noch einige Geschlechter lang halten. Auch in der – von Jung natürlich statistisch belegten – Ehe- und Doch würde sie alsdann unrettbar versiegt sein.«5 Kinderlosigkeit der zeitgenössischen Ge- bildeten sieht er eine »Ver- schärfung der Gegenauslese«. Die größte Gefahr für das »völkische Jungs Sorge um die deutsche Kultur war also vor allem eine Sorge Erbgut« macht er vor allem in den Großstädten aus, sie gelten ihm um das deutsche Erbgut als deren Quelle. Staatlichen Maßnah- als Herd »geistig-seelischer Zersetzung« und »Hauptgebiete des 8 men zum Schutz der »Vitalrasse, dem lebendigen Blutstrome, der Geburtenrückgangs«. Die Faktoren des modernen Lebens, durch Träger deutscher Kultur ist«, sollten sich daher seiner Ansicht nach welche die nationale »Elite« zur Kinderlosigkeit animiert werde, an der mendelschen Vererbungslehre orientieren. Diese deutsche Frauenemanzipation, Selbstbestimmung, städtische Kultur, sieht »Vitalrasse« sei systematisch vor zwei Gefahren zu schützen: er ebenso als Stationen zur Selbstabschafung der Deutschen wie die – zu Jungs Zeit noch recht geringe – materielle Unterstützung »der inneren des Rassenverfalls und der äußeren der Rassenvermi- der Unterschichten durch den Staat. schung mit wesensfremden Blute. Um die Maßnahmen, welche Im rassistisch-eugenischen Diskurs seiner Zeit war Jungs Buch der Förderung der Rasse dienen und Schädigungen ausschalten nichts Besonderes. Über die »Unfruchtbarkeit des zivilisierten sollen, würdigen zu können, ist Kenntnis der hauptsächlichsten Menschen« in der Grosstadt klagt bereits Oswald Spengler.9 Auch Vererbungsgesetze erforderlich.«6 die von Jung empfohlenen Maßnahmen zur »Aufartung«, die sich vor allem gegen Arbeiter, Erbkranke und Juden richteten, entspra- Die eugenische Literatur dieser Jahre ist schon für Fachleute kaum chen gewissermaßen nur der üblichen Barbarei des sozialdarwi- zu überschauen. Eine Recherche auf diesem Feld fördert leicht nistischen Denkens. Mittels aufwendiger Statistiken weist er die diese und ähnliche Zitate zutage. Mit seinen Gedanken zur Be- allmähliche Vergreisung und den sukzessiven Schwund des deut- wahrung und Verbesserung des »deutschen Erbgutes« und der schen Volkes nach. In der »Überalterung unseres geburtenschwach Ausmerzung »minderwertiger« Einfüsse darin bewegte sich Jung gewordenen reichsdeutschen Volkes« sieht Jung eine größere Ge- im Rahmen des breiten sozialdarwinistischen Diskurses seiner fahr als in den Kriegsreparationen und allen »Wirtschaftsbehinde- Zeit. Dennoch setzt sich Edgar Julius Jung in mehrerer Hinsicht rungen durch unsere Feinde«. Auch militärisch sei von ähnlich argumentieren- den Zeitgenossen ab: Er ist in einem eindeutigen politischen Umfeld aktiv, was ihn beispielsweise von »die Vergreisung verhängnisvoller als alle Rüstungsbeschränkun- Wissenschaftlern unterscheidet. Diese mögen zum Teil seine gen des Versailler Diktates. Denn in 6 Jahren beginnt die Zeit, Ideen geteilt haben, Jung formuliert sie aber aus einer dezidiert nach deren Ablauf das Reich keinen genügenden Nachwuchs mehr politischen Perspektive. Seine Herrschaft der Minderwertigen ist haben wird, der eine Rüstung tragen könnte – selbst wenn es von eine klare Anleitung zur Überwindung der Demokratie und Er- allen Beschränkungen bis dahin befreit wäre. Hierin liegt die Tra- richtung eines autoritär gegliederten und von der Oberschicht be- gik des reichsdeutschen Nachkriegsgeschlechts.«10 herrschten Staates. Er bewegte sich in einem politischen Umfeld, das von seinen Zeitgenossen als ein Milieu der »Herrenreiter« be- Diesen demographischen Zerfall des Landes sieht er als direkte schrieben wurde. Der von ihn unterstützte Franz von Papen war Folge der demokratischen Bequemlichkeit und fürchtet ihn 1927 die graue Eminenz des »Deutschen Herrenclubs«, eines elitären bereits mehr als jede auswärtige Bedrohung. Die Sorge um die bio- Netzwerkes, in dem sich Personen aus Adel, Wirtschaft und Poli- logische Substanz des deutschen Volkes, hier noch mehr mit seiner tik zur gesellschaftlichen und politischen Einfussnahme organi- militärischen als der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verbun- siert hatten. Man stand also sowohl ideologisch als auch persönlich den, trieb also schon vor der Zeit der Arbeitsmigration aus dem in strengster nationalistisch- antidemokratischer Kontinuität und Orient deutsche Autoren um. Die Parallele zu heutigen, ebenfalls hatte die Weimarer Republik von der ersten Stunde an bekämpft. auf angebliche Dekadenz, Verweichlichung und Bequemlichkeit Ein Vergleich von Jungs Buch über die Herrschaft der Minderwer- abzielenden Argumentationen sticht ins Auge. Folgt man den Pro- tigen und Tilo Sarrazins Deutschland schaft sich ab fördert eini- gnosen Jungs und berücksichtigt dann noch den Blutzoll der kom- ge erstaunliche Parallelen zutage. Diese fnden sich nicht nur in menden Kriegsjahre, so wären die Deutschen bereits im vergan- der Stoßrichtung der Argumente und dem ebenso ausführlichen genen Jahrhundert verschwunden. Der Umstand jedoch, dass er wie selektiven Umgang beider mit empirischen Daten zur Etablie- vor einem völlig anderen historischen Hintergrund argumentiert rung einer Ideologie der Ungleichheit und der Verknüpfung des »Wertes« und der »Erbmasse« des Menschen, sondern erstrecken sich bis in die Details. Beide sehen in den äußeren Einfüssen und 7 Sarrazin 2010, S. 350. 8 Jung 1930, S. 592. 9 Oswald Spengler. Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer 5 Jung 1930, S. 587. Morphologie der Weltgeschichte. München 1988, S. 679. 6 Jung 1930, S. 588. 10 Jung 1927, S. 234 f.

53 und den Deutschen ein weiterer verlorener Weltkrieg mit wesent- Herrschaft der Minderwertigen seine gewissenhaften Vorarbeiten lichen Gebietsverlusten erst noch ins Haus stand, verstärkt den für ihre Diktatur schlecht. Da er als Autor der »Marburger Rede« Eindruck, dass die hier artikulierten Ängste wenig mit der histo- galt, in der Franz von Papen 1934 die Versuche der NSDAP gerügt rischen Situation und viel mit einer nationalistischen politischen hatte, die alleinige Kontrolle im Reich an sich zu ziehen, fel er Grundhaltung zu tun haben. Daher, so ist zu befürchten, können im gleichen Jahr der »Säuberungswelle« vom 30. Juni zum Op- sie und ähnliche Argumentationen auch immer wiederkehren, so- fer. Jung wurde erschossen, was »wirklich unverdient« war, wie der lange die Grundannahme einer angeblich biologisch determinier- konservative Philosoph Aurel Kolnai aus dem Exil den Mord sar- 12 ten mangelnden Kulturfähigkeit bestimmter Menschengruppen kastisch kommentierte. Ohnehin ist es fraglich, was seine Mör- nicht verschwindet. der mit dieser Tat intendierten, da die Parteiführung um Hitler Edgar Julius Jungs sozialdarwinistisches Weltbild führte dazu, und die SS in ihrem Vorgehen gegen innerparteiliche Querulanten dass er die neue republikanische Staatsform des Deutschen Rei- die Konservativen eigentlich auf ihrer Seite hatten. In der zu dieser ches entsprechend vehement bekämpfte. Er wurde zum Mitstrei- Zeit noch streng konservativ dominierten Reichswehr wurde die ter und engen Berater Franz von Papens, der 1932 als diktatorisch Säuberungswelle begrüßt, schafte sie ihr doch den lästig gewor- agierender Reichskanzler die Weimarer Republik Schritt für denen SA-Führer Ernst Röhm vom Hals. Auch Jungs Mitstreiter Schritt auszuschalten half. Papens weitgehend aus Vertretern der Carl Schmitt verteidigte die Mordaktionen mit dem Pamphlet: alten Elite zusammengesetztes »Kabinett der Barone« kam seiner »Der Führer schützt das Recht« und Jungs Witwe erhielt eine 13 Vision einer »Herrschaft der Besten« bereits sehr nahe. Jung war Sonderrente von der SS. Als Beleg für einen aufrechten, gegen grundsätzlich der Ansicht, dass die historisch gewachsene soziale den Nazismus sich wehrenden Konservatismus taugt der Mord an Schichtung Deutschlands eine gute Selektion getrofen habe. Die Jung also kaum, eher als ein Beispiel für die Diadochenkämpfe der Klassengesellschaft, so sein Gedanke, garantiere, dass Herrschaft radikalen deutschen Rechten auf ihrem Weg an die Macht. tatsächlich von denen ausgeübt werde, die am meisten dazu be- fähigt seien. Allerdings ignorierte Jungs Ideal einer elitären Füh- Die Lust am Untergang: rung der Nation, dass es gerade die deutsche Elite gewesen war, Friedrich Sieburgs verlorene Grandezza die den Untergang des wilhelminischen Reiches verursacht hatte. Ebenfalls nicht gänzlich vor solch ungerechtfertigten Verdäch- ti- Jung formuliert sogar noch eine eugenische Begründung für den gungen gefeit, vielleicht und sehr heimlich ein Gegner des Natio- von ihm gewünschten autoritären Ständestaat mit seiner klaren nalsozialismus gewesen zu sein, ist der Essayist Friedrich Sieburg, Klassengliederung: ein weiterer Apologet des Untergangs. Heute fast vergessen, ist sein Name untrennbar mit dem Geistesleben der frühen Bundesrepu- »Vom Standpunkte der Rassenhygiene und einer gesunden Volk- blik verbunden. Sieburg wirkte seit Mitte der fünfziger Jahre als spolitik ist es somit gar nicht erwünscht, daß allen Tüchtigen der Chef des Literaturressorts in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Weg zum sozialen Aufstieg und damit zum Aussterben geebnet und hatte so einen nicht zu unterschätzen- den Einfuss. Wie Mar- wird. Es muß in den breiten unteren Schichten ein gesunder cel Reich-Ranicki in seinen Memoiren schreibt, galt Sieburg zu Nährboden gehalten werden, aus welchem neue Kräfte fießen Lebzeiten als können.«11 »Deutschlands originellster und mächtigster Literaturkritiker – Ofen bleibt in dieser gesellschaftlichen Konstruktion, wohin die- und zugleich, wie in diesem Gewerbe seit eh und je üblich, auch als se neuen Kräfte in der starren Ständeordnung des autoritären Staa- der unzweifelhaft umstrittenste. Ein betont konservativer Schrift- tes fießen sollen. steller und Journalist, war er ein entschiedener Gegner, wenn nicht Die Betrachtung der Politik Jungs stößt zwangsläufg an die Pro- ein Verächter der neuen deutschen Literatur, jener zumal, die lin- blematik, wie ein derart elitäres und massenfeindliches Programm ken Einfuß erkennen ließ.«14 in einer Industriegesellschaft umgesetzt werden soll. Tatsächlich fehlte es Jung, Franz von Papen und den anderen Vertretern eines In Sieburgs Werk entfaltet die hier betrachtete Mischung von neuen Autoritarismus an der Fähigkeit zur politischen Integra- Apokalyptik, Larmoyanz und Kulturpessimismus ihre Wirkung tion der Massen. Dieses Manko wurde aus- geglichen, als man in Form aufagenstarker Essays und Bestseller. Zu dieser Zeit hatte im Januar 1933 die Koalition mit der NSDAP einging und Pa- der Autor bereits eine äußerst erfolgreiche Biographie aufzuweisen: pen Vizekanzler Adolf Hitlers wurde. Vorbild für diese Liaison Nach einem Portrait Joachim Fests hatte Sieburg in seiner Studi- der Elitenherrschaft mit dem charismatischen Massendompteur enzeit Kontakte zu Max Weber und dem George-Kreis, gehörte war Benito Mussolini, den Jung noch im selben Jahr für das Vor- später zum Umfeld Hans Zehrers und der Zeitschrift Die Tat. Er wort seines Buchs Sinndeutungen der deutschen Revolution zu ge- erwarb sich hohes Ansehen als Essayist der Zwischenkriegszeit, winnen versuchte. Dieses Bündnis war konsequent, Jungs Teorie was ihm eine glamouröse Karriere im »Dritten Reich« eröfnete: des »Neuen Staates« als kommissarische Diktatur einer Elite kann Während des Nationalsozialismus war Sieburg im Auswärtigen auch als deutsche Spielart des europäischen Faschismus gelten. Amt tätig, gewissermaßen als Diplomat und Propagandist, dessen Er steht damit für eine einfussreiche deutsche Rechte jenseits der Niveau sich vom Durchschnitt unterschied. Nach der Darstel- NSDAP, die angesichts des Aufstiegs der Nationalsozialisten ins lung des Historikers Peter Longerich stieß Sieburg 1939, kurz vor Hinter- trefen geriet und daher mittlerweile aus dem politischen Kriegsbeginn, zu der neu gegründeten Informationsabteilung des Gedächtnis der Deutschen fast verschwunden ist. Heute wird Jung allerdings zumeist zum konservativen Opfer Hitlers verklärt, denn die nationalsozialistischen Machthaber dankten dem Autor der 12 Aurel Kolnai, Te war against the West. London 1938, S. 617. 13 Vgl. Guido Fehling, Eine Rente für die Witwe Jungs. In: Jahrbuch zur Konservativen Revolution. Köln 1994, S. 307-309. 11 Jung 1930, S. 592 f. 14 Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben. München 2001, S. 396 f.

54 Auswärtigen Amtes, in der namhafte Journalisten den deutschen steigerte Hofnung kennt, individuell einer Vernichtung zu entwi- 15 Interessen das »notwendige publizistische Gewicht« verleihen schen, die wir kollektiv für unvermeidbar halten. Das ist ungefähr sollten. Ab 1940 wurde Sieburg »Sonderbeauftragter für Pressean- der einzige Fall, in dem die zur Masse gewordene Menschheit noch gelegenheiten« des Auswärtigen Amtes in Brüssel, später verlagerte auf Individualität setzt.«18 sich sein Schwerpunkt nach Frankreich. Obwohl der Parteigenosse Sieburg, nach Ansicht Fests, die Nazis verachtet haben soll, gibt es Für Sieburg begann der Niedergang der Deutschen erst mit der einen Konsens darüber, dass die Kulisse des »Dritten Reichs« und zwischen zwei Großmächten eingeklemmten und von ihm als das elitäre diplomatische Umfeld seinem Bedürfnis nach Selbst- »Rumpfdeutschland« geschmähten Nachkriegsdemokratie. Ihre darstellung ausgesprochen entgegenkamen. Tatsächlich war Frie- Bewegungslosigkeit raube der Nation die Mythen und ersticke al- drich Sieburg für die Interessen des Reiches eine hervorragende les in wohlgeordnet bourgeoiser Langeweile: Wahl. Er war ein scharfer Beobachter und exzellenter Stilist, der bereits vor 1933 internationalen Ruhm erlangt hatte. Dabei hatte »Das Tal Josaphat ist mit preiswerten Wochenendhäuschen be- er sogar früh den Antisemitismus der Nationalsozialisten kritisiert siedelt, das Jüngste Gericht hat einen Präsidenten, der den Saal und war Opfer der Zensur geworden. Aufgrund seiner Bekannt- räumen läßt, wenn die Leute sich nicht anständig benehmen, und heit und Weltgewandtheit wäre er in den Reihen der Emigration selbst die Hölle, die ja unter Umständen als Fortsetzung des Vor- äußerst willkommen gewesen. Doch, so wird berichtet, waren es gangs gedacht werden muß, erscheint als eine Kalamität, die durch seine Eitelkeit und die der von ihm gepriesenen Individualität ganz Beziehungen und geschicktes Verhalten erträglich gestaltet werden entgegenstehende Liebe zu Uniformen und dramatischen Insze- kann.« 19 nierungen, die aus Sieburg einen befissenen Diener des Regimes machten und ihn gegenüber dem Ausland zu Bekenntnissen zum Das restaurative Ruhebedürfnis der Adenauerzeit war dem au- »Dritten Reich« trieben. Eine ausgesprochen elitäre Grundhaltung ßer Dienst gestellten Weltmann, der sich einst in Frankreich des gab dann wohl den restlichen Ausschlag für seine Laufbahn. In Sonderstatus eines kulturellen Aushängeschilds des Reichs erfreut Joachim Fests Portrait des Schriftstellers fndet sich die trefende hatte, ein Gräuel. Er litt unter dem provisorischen Charakter der Bemerkung eines Zeitgenossen zitiert, Sieburg sei zwar »kein Nazi, Bundesrepublik, be- klagte den Verlust an Größe und Idealismus aber doch ein hochfeiner Collaborateur« gewesen.16 und machte seinen materialistisch resignierten Landsleuten im Geschadet hat ihm sein Engagement für »Großdeutschland« je- Wirtschaftswunderland heftige Vorwürfe. Die Preisgabe Preußens denfalls kaum. Als einer der führenden Literatur- und Kulturkri- 1945 und die Einbuße des Nationalgefühls führten seiner Ansicht tiker der Nachkriegszeit befasste er sich im Anschluss intensiv mit nach zur Abdankung der Kultur und in den Bonner »Provinzia- 20 dem Selbstmitleid der von Niederlage und Teilung gebeutelten lismus«. Die Bundesrepublik war für ihn ein Land ohne Esprit, deutschen Nation. Ein Kapitel aus Die Lust am Untergang, seiner da mit ihr Deutschland zu einem Land ohne tatsächliche Elite ge- viel beachteten Sammlung von Essays aus der Nachkriegszeit, worden sei. Selbst seine Unzufriedenheit mit der deutschen Nach- trägt den Titel »Die Kunst, Deutscher zu sein«. Gekonnt kriti- kriegsliteratur trug den deutlichen Beigeschmack des ehemaligen sierte er darin die Ängste der Deutschen während der Hochphase Repräsentanten einer gefallenen Großmacht. Der Wegfall Berlins des Kalten Krieges und spielte zugleich virtuos auf der apokalypti- als politisches Zentrum habe die Deutschen zu einer Orientie- schen Klaviatur. Seine Version des »abgeschaften Deutschlands« rungslosigkeit verdammt. Darunter leide nun auch die Substanz war die Klage darüber, dass sich die ehemalige »Herrenrasse« zu der Deutschen, wie sich in der zeitgenössischen Literatur zeige: kleinkarierten Spießern gewandelt habe. Dabei machte er keinen Hehl daraus, dass er in der Bundesrepublik nur äußerlich ange- »Das freiwillige Verharren in den provinziellen Vorstellungen ent- kommen war. In seinem Lamento bediente er sich mitunter bei färbt das Deutsch, das wir sprechen und schreiben, entzieht unse- den Motiven Oswald Spenglers: Die – von Sieburg geliebten und ren Manieren die Unbefangenheit, verengt den Horizont unserer gefürchteten – faustischen Dämonen der Deutschen fand er jetzt außenpolitischen Einbildungskraft, verwischt unseren physischen traurig gezähmt, als sie sich im Kalten Krieg vor »Atompilzen über Typ und ist schließlich an dem verlogenen Durcheinander schuld, 17 Braunschweig und Essen« zu ängstigen begannen. Ihre Versu- das sich die moderne deutsche Literatur nennt. Keine Existenz- che, sich nach 1945 unbemerkt aus dem Fokus der Weltgeschichte form eines großen Volkes kann ohne zentrale Instanz gedeihen, ins Private zu stehlen, verzieh er den Angehörigen des gefallenen die imstande ist, kritische Maßstäbe aufzustellen und Werte zu Imperiums nicht. Die deutsche Angst vor dem Atomkrieg war für fxieren.«21 ihn von einer kleinlichen Sorge um das eigene Leben geleitet: In ihrem Charakter und der nationalen Tragik, so urteilte Sieburg »Eines ist sicher, er [der große Planer] lächelt über uns, denn es in Die Lust am Untergang, seien die Deutschen höchstens den Ju- mag ihn wundern, daß wir soviel Witz und Selbstzufriedenheit an den verwandt. Diese Gleichsetzung mit ihren vormaligen Opfern die Ausmalung der eigenen Vernichtung wenden, er lächelt umso lasen Sieburgs als langweilig geschmähte deutsche Zeitgenossen mehr, als er unsere vernunftwidrige, aber fast zur Gewissheit ge- natürlich gerne. Sieburgs Leser goutierten die Kritik an ihrer Wandlung von kriegerischen Aspiranten auf die Weltherrschaft in die kriecherische Angepasstheit der Adenauerzeit selbst mit einem 15 Peter Longerich, Propagandisten im Krieg. Die Presseabteilung des gewissen Masochismus. Ohnehin dürfte der Umstand, dass Sie- Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop. München 1987, S. 51. 16 Joachim Fest, Friedrich Sieburg. Ein Portrait ohne Anlaß. In: Der- 18 Sieburg 1961, S. 40. selbe, Aufgehobene Vergangenheit. Portraits und Betrachtungen. Stutt- gart 1981, S. 70-95, hier S. 71. 19 Sieburg 1961, S. 40. 17 Friedrich Sieburg, Die Lust am Untergang, Selbstgespräche auf 20 Sieburg 1961, S. 74 f. Bundesebene. Reinbek bei Hamburg 1961, S. 28. 21 Sieburg 1961, S. 78.

55 burgs Tätigkeit im Feuilleton der FAZ ebenso wie seine Essayistik als deren bevorzugte politische Verfasstheit an Gewicht gewonnen. letztendlich selbst jene »Lust am Untergang« repräsentierte, die er Der zunehmenden Organisation und Perfektionierung des moder- so wortgewandt anzuprangern verstand, den Absatzzahlen seiner nen Staatswesens wohne die Tendenz seiner ausufernden Auswei- Bücher nur zuträglich gewesen sein. Die Lust am Untergang wurde tung inne. Das Subjekt, ließe sich Ortega y Gassets Sorge zusam- ein Nachkriegsbestseller. menfassen, drohe in der abstrakten Administration unterzugehen. Dabei ist Ortega y Gasset kein reaktionärer Nostalgiker, er will Der Aufstand der Massen: auf der Zeitachse keinesfalls zurück zu den Gesellschaftsformen Ortega y Gassets Sehnsucht nach Elite vorheriger Jahrhunderte. Er begrüßt die technische und zivilisa- Für Sieburg, der das »Dritte Reich« stets auf der oberen Etage der torische Entwicklung und will deren Früchte nicht missen. Aber Gesellschaft erlebt hatte und der nach 1945 seine Privilegien als in seinen Augen hatte das 19. Jahrhundert die Masse und mit 26 Repräsentant der deutschen Kultur in Frankreich schmerzlich ihr die »aufsässige Menschenkaste« erzeugt, von denen die an- vermisste, bestand die große Sünde der Demokratie – nicht des nehmlichen neuen Errungenschaften bedroht werden. Die bür- Faschismus! – in der Nivellierung von Individualität. Provinzia- gerlich-demokratische Welt des 20. Jahrhunderts sieht er als den lität und Mittelmaß, die seiner Ansicht nach die Bonner Gesell- Endpunkt dieses Prozesses, der aus einem selbstverschuldeten Fall schaft charakterisierten, waren Ausdruck eines modernen libera- der alten Eliten resultiert. Er bietet Hegel, Comte und Nietzsche len Zeitalters, das keine Größe mehr kannte. In der konservativen auf, um mit dem Aufbruch der Masse die Gefahr des Nihilismus Kulturkritik der Nachkriegszeit war diese Argumentation gängig. beschwören zu können. Zwar sei die große Menschenmasse stets Entsprechend empfänglich war die deutsche Öfentlichkeit für vorhanden gewesen, mittlerweile wäre diese aber in eine Position einen weiteren Titel, der das Verschwinden der Elite beklagte: vorgedrungen, die eine Gefährdung der Grundlagen der westli- Der Aufstand der Massen des spanischen Philosophen José Ortega chen Kultur mit sich brächte. Sein Unbehagen versucht Ortega y Gasset. Das bereits 1929 geschriebene Buch zeugt von einem y Gasset mit der Metapher eines Bühnenbildes zu fassen, in dem letzten Aufbäumen des weltweit erhobenen Führungsanspruchs plötzliche Umbauten die Harmonie zerstört haben: 22 europäischer Kultur. Zwar war schon 1931 eine erste Aufage auf Deutsch erschienen, aber die Hochphase seiner Rezeption erlebte »Die Menge ist auf einmal sichtbar geworden und nimmt die bes- es im deutschsprachigen Raum erst nach dem Zweiten Weltkrieg. ten Plätze der Gesellschaft ein. Früher blieb sie, wenn sie vorhan- Wie Spenglers Rede vom »Untergang des Abendlandes« sollte sein den war, unbemerkt; sie stand im Hintergrund der sozialen Szene. Titel zum gefügelten Wort werden. Der Autor beklagt die demo- Jetzt hat sie sich an die Rampe vorgeschoben; sie ist Hauptper- kratische Nivellierung der westlichen Gesellschaften und plädiert, son geworden. Es gibt keine Helden mehr; es gibt nur noch den hierin ebenfalls Spengler ähnlich, für das Gegenkonzept einer Chor.«27 »radikal aristokratische[n] Deutung der Geschichte«23. Auch in diesem Werk ist das Lamento über den Verlust der Führung das Ursächlich für die Misere sei der Umstand, dass die Masse heu- Leitmotiv und wird in verschiedenen Variationen dargeboten. Or- te über materielle Möglichkeiten verfüge, die früher nur der Elite tega y Gassets Moderne ist gekennzeichnet von einem entfesselten, vorbehalten waren. Infolgedessen verweigert sie den wahren Eliten 28 allesverschlingenden Substrat: »Respekt und Gehorsam« und tritt politisch sogar an ihre Stelle. Das Produkt dieses neuartigen durch soziale Sicherheit und den »Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, per- Wohlstand geschafenen »Imperiums der Massen« sei eine »Hyper- 29 sönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht ›wie alle‹ ist, wer demokratie.« In seiner konkreten politischen Vorstellung nähert nicht ›wie alle‹ denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden. Und sich Ortega y Gasset Edgar Julius Jung an, wenn er wehmütig an es ist klar, daß ›alle‹ eben nicht alle sind. ›Alle‹ waren normalerwei- die ersten Formen der bürgerlichen Elitendemokratie erinnert. In se die komplexe Einheit aus Masse und anders- denkenden, beson- dieser habe sich die Masse noch keine programmatischen Kompe- deren Eliten. Heute sind ›alle‹ nur noch die Masse.«24 tenzen angemaßt:

Allerdings gilt ihm, anders als etwa dem staatszentrierten Autor des »Das allgemeine Stimmrecht gab der Masse nicht das Recht, zu Untergangs des Abendlandes, der moderne Staat mit seinen egalitä- entscheiden, sondern die Entscheidung der einen oder anderen Eli- ren Tendenzen als größte Bedrohung für die europäische Kultur. te gutzuheißen.«30 Während Spengler von der strafen Organisation des Gemeinwe- Ortega y Gasset ist sich allerdings bewusst, dass seine Klage über sens und Ausdehnung des Staatsapparates auf alle Bevölkerungs- die stetige Degeneration ein ständig wiederkehrendes Motiv in der schichten träumte, warnte Ortega y Gasset vor dessen Ausufern im Kulturgeschichte darstellt. Der sukzessive Niedergang der Kul- Zuge der bürgerlichen Revolutionen. Vom Adel in seinen Anfän- tur über die Generationen, wie er jetzt wieder von Tilo Sarrazin gen begründet, aber aufgrund der Irrationalität dieser Herrscher- prophezeit wird, hat die Vertreter des Elitendiskurses stets faszi- schicht schnell vernachlässigt, schwamm das »Staatsschif«, wie es niert. In seiner Klage über das Verschwinden des aristokratischen Ortega y Gasset formuliert, seit Ende des 18. Jahrhunderts auf der Menschen im Zeitalter der Massen zitiert der Spanier wiederum wachsenden Schicht des Bürgertums »wie auf einem Meer«25. Mit Horaz’ Klage vom Schrumpfen der Lebens- kraft des römischen dem Machtgewinn dieser Schicht habe auch der bürgerliche Staat Imperiums:

22 José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen. In: Derselbe, Si- 26 Ortega y Gasset 1952, S. 188. gnale unserer Zeit. Essays. Stuttgart u.a. o.D. [um 1952], S. 151-304. 27 Ortega y Gasset 1952, S. 155. 23 Ortega y Gasset 1952, S. 161. 28 Ortega y Gasset 1952, S. 163. 24 Ortega y Gasset 1952, S. 160. 29 Ortega y Gasset 1952, S. 159. 25 Ortega y Gasset 1952, S. 240. 30 Ortega y Gasset 1952, S. 159.

56 »Das Väteralter, schlechter als die Großväter, trug uns, die Gerin- In dieser Konsequenz begeht Ortega y Gasset einen für Konser- geren, die wir bald eine entartete Nachkommenschaft zeugen wer- vative geradezu symptomatischen Fehler, wenn er in seine elitären den.«31 Abgrenzungen den Faschismus als reine Massenbewegung mit einbezieht. Mit dieser Diagnose mag er den Teorien Georges Dabei hatte Ortega y Gasset noch das Verständnis, dass in der An- Sorels gerecht werden, täuscht sich aber hinsichtlich der konkreten tike der Verfall auf Vervollkommnung folgte: »Man vergesse nicht, faschistischen Herrschaft, wenn er schreibt: dieser unserer Zeit ging eine Zeit der Erfüllung voraus.«32 Heu- tigen Niedergangspropheten fehlt dagegen die Gelassenheit, den »Unter den Marken des Syndikalismus und Faschismus erscheint von ihnen beschworenen Untergang als eine Folge jenes »Endes der zum erstenmal in Europa ein Menschentypus, der darauf verzich- Geschichte« zu sehen, das am ausklingenden Jahrhundert allerorts tet, Gründe anzugeben und recht zu haben, der sich schlichtweg siegesgewiss verkündet wurde. Im Unterschied zu einigen frühe- entschlossen zeigt, seine Meinung durchzusetzen. Das ist neu: das ren Propheten fehlt es ihnen an tieferer Refexion. Ortega y Gasset Recht darauf, nicht recht zu haben, Grundlosigkeit als Grund. Die ist immerhin gewillt, im allgemeinen Anstieg des Niveaus eine der neue Einstellung der Masse manifestiert sich nach meiner Mei- wichtigsten Ursachen der gesellschaftlichen Nivellierung zu sehen: nung am sinnfälligsten in ihrem Anspruch, die Gesellschaft zu führen, ohne dazu fähig zu sein.«37 »[D]ie Lebensmöglichkeiten, die heute den Massen ofen stehen, decken sich zum großen Teil mit denen, die früher ausschließlich So trefend die Beobachtung ist, dass der Faschismus vor allem den wenigen vorbehalten schienen.«33 durch seine entschlossene Gewalttätigkeit auf dem politischen Parkett glänzte, so verkehrt doch die Behauptung, unter seinem Gerade in der Anmaßung des daraus resultierenden Überlegen- Namen hätte die Masse die Gesellschaft geführt, die Geschichte heitsgefühls seiner Zeitgenossen sieht er die größte Schwäche der in ihr Gegenteil. Tatsächlich gelangten die faschistischen Bewe- Epoche, da es die Wahrnehmung des Tatsächlichen verhindere. gungen überall durch ein Bündnis mit den konservativen Eliten Daher entbindet Ortega y Gasset auch die Eliten nicht ihrer Ver- an die Macht. Sicher ließ sich der Faschismus dabei von der Mas- antwortung. Da sie vor allem wirtschaftlich vom Prozess der Ver- se tragen und richtete seine Erscheinung nach ihr aus, doch blieb massung proftiert haben, sind sie an ihrer eigenen Proletarisierung seine Struktur strikt hierarchisch. Seine ständische Gliederung ebenso mitschuldig wie an der zunehmenden Geistlosigkeit der bedurfte der Massen als Objekt der Führung, nicht als politisches Gesellschaft: Subjekt. Höchstens kam es innerhalb des faschistischen Establish- ments zu Konkurrenzkämpfen, in denen die traditionellen Eliten »Kein Wunder, daß die Welt heute leer von Plänen, Zielsetzungen Gefahr liefen, den aufgestiegenen Parteikadern zu unterliegen. In und Idealen ist. Niemand befasste sich damit, sie bereitzuhalten. der Betrachtung des Faschismus durch Ortega y Gasset bleibt je- Das ist die Fahnenfucht der Eliten, die immer die Kehrseite zum doch nur die ihn tragende Masse übrig, das Phänomen wird zu Aufstand der Massen darstellt.«34 einer Konsequenz der demokratischen Revolution. Es sind eben diese Feinheiten, die in einer Beschreibung verloren gehen, die nur Vielen Elementen der Zeitdiagnostik Ortega y Gassets kann man die Krise der Kultur sieht, aber nicht mehr zu benennen vermag, sich auch heute nicht entziehen, sie sind brillant formuliert und wessen gesellschaftliche Interessen zu der Krise führten. Andere trefen bei allem Pessimismus neuralgische Punkte der Massenge- sahen die Zusammenhänge klarer. Georges Bataille etwa, wie Or- sellschaft. Teodor W. Adorno sah daher in Ortega y Gassets »ver- tega y Gasset ein Zeitzeuge der faschistischen Morgenröte in Eu- 35 drossenen Vorstellungen« ein gutes Beispiel für die Kurzschlüsse ropa, brachte den Herrschaftsanspruch der Eliten im Faschismus konservativer Kulturkritik und vorgeblich deskriptiv argumentie- wesentlich trefender auf den Punkt. Nicht die Demokratisierung render Elitentheorien. Wie bei anderen Vertretern dieser Strömung der Gesellschaften ist demnach die Quelle des Faschismus, son- sieht Adorno auch im Werk des Spaniers die sozialen Machtver- dern vielmehr der Drang der Eliten, unter den Bedingungen der hältnisse nicht ausreichend in die Betrachtung mit einbezogen. Die Moderne die Masse wieder zum Objekt von Herrschaft zu ma- gesellschaftliche »Genesis« des Kulturverfalls bleibe außer Acht chen. In der Distanz der Führung zur Masse, ihrem Anspruch auf und die Verantwortung für den Prozess werde auf die schwächsten eine erhabene Position, zeigt sich für Bataille der Drang der Eliten Glieder abgewälzt, merkt Adorno an. Ein anderer Einwand lässt nach Distinktion: auch Ortega y Gassets Tese von der »Fahnenfucht« der Eliten in »Die einfache Tatsache der Herrschaft von Menschen über Men- einem anderen Licht erscheinen. Denn, so Adorno, indem schen impliziert die Heterogenität des Herren, wenigstens insoweit er der Herr ist: in dem Maße, in dem er sich zur Rechtfertigung »eine ›strukturelle‹ Angleichung des Bewusstseins an das der unte- seiner Autorität auf seine Natur, auf seine persönliche Qualität be- ren Schichten festgestellt wird, [werde] die Schuld still- schweigend ruft, bezeichnet er diese Natur als das ganz Andere, ohne rational diesen und ihrer angeblichen massendemokratischen Emanzipati- Rechenschaft davon ablegen zu können.«38 on zugeschrieben.«36 Gerade im Faschismus führte sich die Gesellschaft nicht bewusst selber, sondern wurde geführt. Die Eroberung des Politischen 31 Ortega y Gasset 1952, S. 169. 32 Ortega y Gasset 1952, S. 170. 33 Ortega y Gasset 1952, S. 162f. 37 Ortega y Gasset 1952, S. 204. 34 Ortega y Gasset 1952, 182. 38 Georges Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus, in: 35 Teodor W. Adorno, Das Bewusstsein der Wissenssoziologie. In: Derselbe, Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveräni- Derselbe 1977, S. 27-42, hier S. 31. tät. Mit einem Nachwort von Rita Bischof. München 1978, S. 7-43, 36 Ebenda. hier S. 22.

57 40 durch die Massen war daher zwar eine historische Voraussetzung Symptom nationaler Schwäche deutete. Wie bei vielen Vertre- des Faschismus, aber nicht seine hauptsächliche Ursache. Die tern seiner Generation hatte auch Gehlens Positionierung in die- neue Bewegung wurde erst virulent, als man einerseits begann, sen Fragen einen stark biographischen Zug. 1933 war er Assistent die politisierten Massen programmatisch in den Nationalismus Hans Freyers in Leipzig gewesen und stieg dann im wissenschaft- zu integrieren und andererseits innerhalb dieser neu geschafenen lich- militärischen Gefüge des »Dritten Reiches« zielstrebig auf. »Gemeinschaft« wieder eine mythisch legitimierte Führungselite Gegen Ende des Kriegs als Ofzier schwer verwundet, wurde sein zu installieren. Anhand von Carl Schmitt läßt sich der Leitgedan- erneuter Einstieg in den bundesrepublikanischen Wissenschafts- ke dieser Strömung nachzeichnen, der bis heute seine Gültigkeit betrieb zunächst von seiner Vergangenheit blockiert. Seine Karrie- bewahrt hat: re nach 1945 wurde daher vor allem außeruniversitär von Kreisen der deutschen Industrie gefördert. Gehlens politische Vorgeschich- »Das Parlament war einmal ein Mittel, das Bürgertum mit dem te und sein Karriereknick schlagen sich deutlich in seinem Werk monarchischen Staat zu verbinden, und in dieser Kombination mit nieder. Eine der zentralen Tesen in Moral und Hypermoral ist, der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts hatte es sei- dass die neue Ordnung der Bundesrepublik, von den Westalliier- nen Sinn. Das aufkommende Proletariat jedoch läßt sich so nicht ten nach dem Zweiten Welt- krieg installiert und daher ohnehin mehr integrieren. Die Idee des Klassenkampfes droht nun das fremdbestimmt, durch die junge Generation deutscher Intellektu- einheitliche Subjekt des politischen Willens, das homogene Volk, eller unangemessen »moralimpregniert« werde.41 Er verurteilt die- auseinanderzusprengen. Nur ein Gegenmittel scheint in dieser ses Bestreben als eine unzulässige Politisierung der Moral, deren historisch prekären Situation stärker zu sein: die Idee der Nation. Wurzel jedoch lange im Prozess der Aufklärung angelegt gewesen Schmitt schreibt seine Parlamentarismuskritik nicht aus rein theo- sei. Diese Inhalte und Gehlens langjähriges Wirken insbesondere retischem Interesse. Er verfolgt eine klare Option: die Demokratie als Gegner der Kritischen Teorie ließen Moral und Hypermoral zu mit dem Mythos der Nation zu verschmelzen.«39 einer Art Bibel der »Anti-Achtundsechziger« werden. Gehlen ist bis heute Pfichtlektüre in rechtsintellektuellen Kreisen, Karlheinz Damit wurden die egalitären Tendenzen der Nationalstaatsbil- Weißmann, einer der wenigen programmatischen Köpfe in den dung kanalisiert, ein Prozess, der zwar Teil der Moderne war, aber Kreisen der Jungen Freiheit, widmete dem Autor im Jahr 2000 ei- 42 deren emanzipatorischen Gehalt absorbieren konnte. Trotzdem sie gens eine Monographie. Anders als Friedrich Sieburg beschränkt ihre Herrschaft auf die Massen stützte, war sie zutiefst antirepubli- sich Gehlen nicht darauf, die von ihm verabscheuten kulturellen kanisch. Als Gegenbewegung zur Selbstbestimmung des Subjekts Niederungen der bundesdeutschen Demokratie mit spitzer Feder baute gerade die faschistische Herrschaft auf einem Elitenmodell aufzuspießen; er sucht in der Menschheitsgeschichte nach den Ur- auf, wie kaum eine andere in der Moderne. Einige der hier an- sachen des Übels. Im Rahmen seines Lebensprojektes, der Ent- geführten Protagonisten dieser Auseinandersetzung liefern nach wicklung einer anthropologisch fundierten Philosophie, begibt er wie vor die Stichworte für den intellektuellen Teil der deutschen sich auf die Spur des Niedergangs im Laufe der Kulturgeschichte Rechten. und fndet diese grundsätzlich im Glücksversprechen einer huma- nitären Ethik: Die Freiheit, schreibt er, sei stets das beste Mittel 43 Moral und Hypermoral: Arnold Gehlens zweiter Krieg gewesen, »um mächtige Reiche zu zerstören«. Hatte Gehlen den In der deutschen Nachkriegsgesellschaft kam es zu einer um- fas- Gegenstand seiner Betrachtungen im Vergleich zu Sieburg auch senden Kritik der Herrschaftsrationalität der Jahre vor 1945. In wesentlich erweitert, so dürften inhaltliche Anklänge die- ser Ar- den späten sechziger Jahren sollte die Debatte um das historische gumentation an den Essayisten kaum zufällig sein. Auch bei ihm Bündnis konservativer Eliten mit der faschistischen Massenbe- geht der Verlust von Größe mit dem Verzicht auf die Autorität wegung ihren vorläufgen Höhepunkt erreichen. Im Zuge dieser der Institution, ausgelöst durch die Zerschlagung des Deutschen Auseinandersetzung gerieten Vertreter der klassischen Eliten zu- Reiches, einher. Die Überlegungen des Aachener Professors zur nehmend unter Rechtfertigungsdruck gegen- über der jüngeren Entwicklung einer neuen Ethik setzen zwar nach der griechischen Generation, insbesondere den Vertretern des akademischen Nach- Polis an, sind jedoch erkennbar auf die Gegen- wart der späten wuchses. sechziger Jahre gemünzt. Besonders dem kritischen Ethos des Moral und Hypermoral, das 1969 erschienene, letzte Buch des »Humanitarismus« gilt seine gesamte Abneigung. Er schreibt: Aachener Philosophen Arnold Gehlen, ist eine in den ersten zwei Kapiteln durch die historische Kulisse der Antike kaschierte Ab- »In das weite Gefäß des Weltverkehrs und der Großmachtbildun- rechnung mit der zeitgenössischen Intelligenz. Gehlens seit den gen strömte jetzt ein anderes Ethos ein, dessen Wortführer Pazifs- dreißiger Jahren entwickelte, anthropologisch grundierte Sozialp- ten und Weltbürger waren, die den Eindruck zu erwecken verstan- sychologie ging davon aus, dass eine stabile autoritäre Ordnung den, als spräche aus ihrer dünnen Stimme der Weltgeist.«44 wesentlich näher an den menschlichen Realitäten orientiert sei als die von ihm als instabil empfundene Bundesrepublik. De- Die »Glückspostulate« von Freiheit und Gleichheit seien wesent- mentsprechend ablehnend stand er allen Versuchen gegenüber, lich für den Verfall verantwortlich. Seit sie in die Geschichte traten nach 1945 ein neues moralisches System zu entwerfen und emp- fand diese Bemühungen als einen grundlegenden Bruch mit der deutschen Kultur. Carl Schmitts Ausführungen nach Kriegsende 40 Vgl. Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Bonn 1969, S. 29. nicht unähnlich, koppelt Gehlen seinen Ethik-Diskurs eng an die Frage der deutschen Kriegsverbrechen, deren Aufarbeitung er als 41 Gehlen 1969, S. 32. 42 Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Rea- lismus. Bad Vilbel 2000. 39 Kurt Lenk / Gunter Meuter / Henrique Ricardo Otten, Vordenker 43 Gehlen 1969, S. 25. der Neuen Rechten. Frankfurt a.M./New York 1997, S. 95. 44 Gehlen 1969, S. 37.

58 und seitens des Bürgertums unter Berufung auf sie die »Ethisie- mit dem Ende des Deutschen Reiches grundlegend ändern, nicht rung des Wohllebens« betrieben wurde, seien die Grundlagen der zuletzt, da der Bundesrepublik abgesprochen wurde, überhaupt europäischen Kultur erschüttert. Damit war deutlich, dass Gehlen Staat zu sein. Moral und Hypermoral enthält ein ganzes Kapitel nicht nur der Linken gegenüber feindlich gesonnen war, sondern zum Tema »Staat«, was vor dem Hintergrund der zentralen Rolle seine Abneigung auch der wirtschaftsorientierten Forderung nach von Institutionen in Gehlens Lehre kaum überrascht. Darin ruft allgemeinen Wohlstand galt. Gehlen fordert stattdessen eine »rea- er verschiedene Bedrohungsszenarien auf, die keineswegs nur auf listische« Haltung zur Politik, die sich an Interessen orientiere und äußere Interventionen zurückzuführen sind. Die Souveränität von nicht mit Ethik aufhalte, da diese letztlich der Sphäre des Privaten Staaten, so Gehlen, werde auch durch »objektive Entwicklungen, 49 vorbehalten bleiben sollte. Schon Tocqueville, schreibt Gehlen, verschiedenster, meist unvorhersehbarer Art« gefährdet. Gehlen habe erkannt, richtet sein Augenmerk dabei auch auf die Demographie. Poli- tische Reaktionen auf Herausforderungen haben seiner Ansicht »wie sich die privaten Tugenden in den Vordergrund schieben wür- nach stets den grundlegenden Sicherheitsinteressen der Nation zu den; auch wenn ihm noch verborgen blieb, daß dann die Privatisie- dienen, rung auch der Laster folgen müsse, und man an ihnen nicht mehr Anstoß nähme, worauf sie wiederum öfentlichkeitsfähig wären. »mag es sich um Bevölkerungskurven oder Industrie- potentiale Das zu entwickeln, blieb unserem Jahrhundert vorbehalten: die handeln, um geographische oder kosmographische Raumerweite- Moral, nämlich die humanitäre des ethisierten Wohlstandes, in rungen, um Neuerfndungen technischer oder wissenschaftlicher großartigem Siegeszug, und die Sitten in vollem Verfall.«45 Art oder was immer«.50

Das Ergebnis war für Gehlen die programmatische Aufwertung Dem Staat sei daher als Sachwalter dieser Interessen unbegrenzter des Minderwertigen in Form einer philosophischen Begründung Zugrif auf die Subjekte einzuräumen, da er letztlich den Schutz der »Zugänglichkeit der materiellen und geistigen Lebensgüter für des Gesamtgefüges gewährleistet. Dieser lebenssichernde Mecha- 46 Alle«. Diese Ethik des »Massenlebenswertes« sieht der Philosoph nismus werde jetzt aber durch die humanitaristische Ethik gefähr- 51 als Ursache für die überzogenen Ansprüche der Bürger an den det, »wenn die kalte Sprache des Sachzwangs Gehorsam fordert«. Staat in der Demokratie und den Bruch eines geschichtsbildenden Als Beispiel der Unverträglichkeit des Gebots der Menschenliebe 47 Elite-Prinzips. Begleitet wurde dieser Siegeszug des gefühlsduse- mit den vitalen Interessen des Staates, der »Unvereinbarkeit der 52 ligen »Humanitarismus« von einer Aufweichung der institutionel- sozialethischen Fundamente« beider, dient ihm die Auseinander- len Macht, die im Zeitalter der neuen demokratischen Werte nicht setzung der Kurie mit den weltlichen Herrschern, an deren Ende mehr die vollständige Unterwerfung des Individuums verlangen schließlich der Staat obsiegte. Fortan war er die zentrale Instituti- könne. on zur Neutralisierung von Konfikten: der Staat »transformiert 53 Damit reiht sich auch Gehlen in die Phalanx derjenigen Den- ker revolutionäre Energien in sein eigenes Potential hinein.« Eine ein, die im Gleichheitsgedanken den Grund für den deutschen unrealistische humanitaristische Ethik könne diese Neutralisie- Niedergang sehen; angesichts seiner persönlichen Vergangenheit rungsaufgabe nicht bewältigen, da sie ihre Prioritäten beim Sub- ist das auch nicht verwunderlich. Allerdings zeigt sich bei den jekt und nicht bei der das Ganze verwaltenden Institution setze: Nachkriegsautoren ein wichtiger Unterschied im Vergleich zu ih- Nur das »Institutions-Ethos des Staates vermag Aggressionen zu 54 ren Vorgängern: Stand bei Elitentheoretikern wie Spengler und bändigen, ja zu verwerten«. In dieser Perspektive handle letztlich Jung vor 1945 der Staat außerhalb der Kritik, so beginnt man nur die Institution und nicht das Subjekt als letzte und entschei- dem Staat in dem Moment zu misstrauen, in dem er demokra- dende Instanz rational. tische Formen annimmt. Beispielsweise war Spengler als führen- Schließlich nährt sich auch Gehlen den Fragen von Masse, Be- der Autor der zwanziger Jahre geradezu ein Staatsfetischist. Das völkerungswachstum und sozialer Versorgung. Angesichts der Verhältnis der Untertanen zum Staat fndet sich in seinen poli- modernen Entwicklungen gebe es nur die Wahl zwischen inne- tischen Schriften als eines der Pfichterfüllung beschrieben. Alle ren und äußeren Konfikten, weshalb es eine Frage der Politik Mitglieder der Nation, vom Arbeiter bis zum Unternehmer, führt sei, diese auszutarieren. Die moderne Gesellschaft diktiere dabei Spengler etwa in Preußentum und Sozialismus aus, sollten auf unerbittlich ihre Bedingungen, denn nun käme der »Druck der 48 55 eine Art Beamtenethos verpfichtet werden. Staatsbürgerschaft wachsenden Massen« als entscheidender Faktor der Politik im präsentierte sich in seinen Vorstellungen als ein Heer kleiner und 19. Jahrhundert hinzu. Außenpolitischer Imperialismus ist für ihn großer Diener der übergeordneten, streng gegliederten und straf daher die normale Folge der Vermeidung eines Bürgerkriegs, denn geführten Struktur. Auch bei Edgar Julius Jung steht das autoritä- irgendwohin müsse der Bevölkerungsüberschuss ernstzunehmen- re Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern im Mittel- der Staaten ja abgeleitet werden, entweder in die Kolonien oder punkt der Erwägungen. Staatliche Wohlfahrt fndet wenn dann auf die Schlachtfelder. Für Gehlen ist der außenpolitische Konfikt im negativen Sinne statt, als eugenische Maßnahme. Wer wie Jung der revolutionären Erschütterung nach innen allemal vorzuziehen. von erbbiologischen Ursachen des Elends überzeugt ist, kann da- her problemlos die Sozialpolitik durch »Rassenhygiene« ersetzen. Diese Sicht auf den Staat als unhinterfragbare Größe sollte sich 49 Gehlen 1969, S. 103. 50 Gehlen 1969, S. 103. 45 Gehlen 1996, S. 62. 51 Gehlen 1969, S. 104. 46 Gehlen 1969, S. 62. 52 Gehlen 1969, S. 106. 47 Gehlen 1969, S. 65, vgl. auch S. 79 f. 53 Gehlen 1969, S. 107. 48 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus. In: Derselbe, Poli- 54 Gehlen 1969, S. 107. tische Schriften. München 1933, S. 3-105. 55 Gehlen 1969, S. 108.

59 Nur die nach außen zur Aggression bereite Nation ist nach die- nach der Zerschlagung des Reiches und der Tilgung Preußens aus ser Logik Gehlens stabil, da sie durch die expansive Haltung alle der Geschichte anstelle auf die Tugenden des Palastes auf die des Angrife gegen die innere Ordnung abzuwehren in der Lage sei. Eigenheims eingerichtet, klagt er fast zum Verwechseln ähnlich Dies erklärt auch die ständigen Polemiken des ehemaligen Wehr- mit Friedrich Sieburg. Jetzt dominierten die Moral und das Ethos machtsofziers gegen Zivilisten und Pazifsten, mit denen Moral des Sozialen als »moralische Krankenkost« und das »verkürzte Be- und Hypermoral durchzogen ist. In den Diskussionen um die Ver- wußtsein« werde »künftig von Redakteuren verwaltet«, anstatt von 58 weigerung des Kriegsdienstes, denen gegen Ende der sechziger Jah- Staatsmännern. Insgesamt kann man sich bei der Lektüre von re mehr und mehr öfentliche Aufmerksamkeit zukamen, kann er Moral und Hypermoral kaum des Eindrucks erwehren, dass Geh- nur eine Bedrohung der Grundlagen der Gesellschaft sehen. Denn lens Kritik des »Moralismus« erst nach 1945 vor dem Hintergrund ein handlungsfähiger Staat muss seinen Bürgern im Zweifelsfall der alliierten Kriegsverbrecherprozesse und der bundesrepublika- auch das höchste Gut abverlangen, um die Institution zu sichern: nischen Aufarbeitung der Vergangenheit auf den Plan tritt. Geh- das Leben. Das sei aber unter den Bedingungen eines moralisch lens Klage, dass die Gesellschaft nur noch »im politischen Bereich« 59 legitimierten Staates kaum mehr möglich. Die humanitaristische an Schuld glaube, dürfte wie die gesamte Argumentation von Ethik, schlussfolgert Gehlen, bedrohe daher mit ihrem Anspruch dem Umstand beeinfusst worden sein, dass ihm selbst aufgrund einer gewalt- freien Konfiktlösung die Institution und damit eine seiner NS-Vergangenheit zunächst eine Rückkehr an die Uni- wesentliche Basis der Kultur überhaupt. versität verwehrt worden war. Im Ganzen betrachtet ergibt sich Bei der Kritik des »Massenlebenswertes« rückt natürlich auch der schließlich ein bizarres Bild: Da für ihn die Freiheit des Einzelnen moderne Sozialstaat ins Zentrum der Betrachtung. Seit der Fran- nur ein Resultat von institutionalisierter Bindung und Führung zösischen Revolution, so Gehlen, geriet der Staat immer stärker des Ganzen sein kann, bewertet er ein System, das die Macht der unter den Druck der Gesellschaft. Leider sei auch die aktive Be- Institutionen zugunsten des Individuums beschneidet, als unfrei. völkerungsregulation durch das wachsende soziale Aufgabenprofl Ausgerechnet der ehemalige Nationalsozialist Arnold Gehlen geht des modernen Staates fankiert gewesen. Der Staat habe nicht nur gegen die sich mehr und mehr sozialdemokratisch ausrichtende für die steigende Zahl sozial und »rassisch« erwünschter Unter- bundesrepublikanische Gesellschaft und ihre Institutionen mit tanen Sorge getragen, sondern sich auch für deren materielle Ab- der Fackel der Freiheit vor. Für Gehlen, so lässt sich resümieren, sicherung zu engagieren begonnen. Dies habe mittlerweile dazu hatte sich Deutschland bereits mit der Kriegsniederlage 1945 ab- geführt, dass nicht mehr der Staat Ansprüche an seine Bürger geschaft. stelle, sondern diese ihre Wünsche an ihn adressierten. Mit seiner Demokratisierung begannen sich die Anforderungen an ihn als Sachwalter des übergeordneten Interesses zu ändern: Der Text Deutsche Untergänge ist erstmals erschienen in: Deutsch- »Der Staat wird jetzt als demokratisches Gebilde oder monar- lands Neue Rechte. Angrif der Eliten - Von Spengler bis Sarazzin, chisch-demokratisches Mischgebilde die Neutralisierungsebe- Paderborn 2011. Wir danken dem Autor und dem Schöningh Ver- ne gesellschaftlicher Konfikte, und da die Armut nachdrängte, lag für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck. machte er zu seiner wesentlichen inneren Aufgabe die Sozialpo- litik, d.h. die gesetzgeberische Temperierung des Gegensatzes von Am 18. März 2014 hat Volker Weiß in Bremen einen Vortrag zum arm und reich.«56 Tema „Kritischer Abriss zur Geschichte des Konservatismus“ ge- halten. Siehe: In der Folge dieser Entwicklung degeneriere der Staat aber ten- https://associazione.wordpress.com/2013/11/07/volker-weis-kriti- denziell zum reinen »Vollstreckungsorgan dieser gesellschaftlichen scher-abriss-zur-geschichte-des-konservatismus/ Tendenzen«, wobei der bundesrepublikanische Staat dieses auf die Spitze getrieben habe. Durch die Koppelung der Staatsidee Volker Weiß hat am 12. April 2012 in Bremen eine Buchvorstel- an das Wohl der Massen und damit an die Wirtschaft sei er ei- lung zum Tema gegeben. Siehe: gentlich nicht mehr entscheidungsgewaltig. Die Bundesrepublik https://associazione.wordpress.com/2011/03/04/intros- habe, so Gehlens Schluss, in dieser Entwicklung die äußere und di-12-04-11-deutschlands-neue-rechte-angriff-der-eliten-von innere Souveränität verloren. In ganz Westeuropa sei die Staatsau- -spengler-bis-sarrazin/ torität wesentlich geschwächt, ihre Funktion sei mittlerweile auf die einer »Milchkuh« für die Massen beschränkt. Er zitiert daher Am 21.-22. August 2010 hat Volker Weiß in Bremen waren ein zustimmend den Staatsrechtler Ernst Forsthof, Autor des Totalen Seminar zur „Einführung in Teorien über Faschismus und Na- Staates (1933), der bei Betrachtung dieser Problematik bezogen auf tionalsozialismus“gegeben. Siehe: die Bundesre- publik 1968 im Merkur resümiert hatte: »In wel- https://associazione.wordpress.com/2010/06/25/intros-einfuh- chem Sinne man sie noch als Staat bezeichnen will, ist eine Frage rung-in-theorien-uber-faschismus-und-nationalsozialismus/ 57 der Benennung.« Unschwer ist zu erkennen, dass Gehlen den Gang der Dinge in der Bundesrepublik zutiefst verabscheute. Am Am 7.-8. November 2009 hat Volker Weiß ein Seminar zum Te- schlimmsten schien ihm aber, wie sich seine Landsleute den Gege- ma „Die Entwicklung rechter Ideologie hin zum Nationalsozialis- benheiten zu fügen schienen. Zu den mangelnden Möglichkeiten mus“ angeboten. Siehe: des im Weltkrieg Unterlegenen, reale Macht auszuüben, komme https://associazione.wordpress.com/2009/09/28/novem- der mangelnde Wille, sie überhaupt zu besitzen. Man habe sich ber-2009-antifa-intros/#more-998

56 Gehlen 1969, S. 109. 58 Gehlen 1969, S. 120. 57 Gehlen 1969, S. 110. 59 Gehlen 1969, S. 49.

60 Andreas Peham Die erste Lüge. Eine psychoanalytisch orientierte Kritik des Antisemitismus

„Die Leute fürchten sich vor denen, die uns von Angesicht zu welchen die unbewussten Bedeutungen aufzuspüren sind. Ge- Angesicht mit dem Gesetz konfrontieren…“ (Umberto Eco, Das genstand dieser Rationalisierungen wie anderer (archaischer) Foucaultsche Pendel) Abwehrformen sind intrapsychische Konfikte, die aufgrund verschiedener Beschädigungen oder Schwächungen des Ichs „Das Gesetz ist das: das Verbot der Abschafung des Mangels und (insbesondere seiner – potentiell frustrierenden – zwischen Lust der Diferenz.“ und Realität vermittelnden sowie seiner urteilenden Funktio- (Tanos Lipowatz, Politik der Psyche) nen) nicht anders gelöst werden können. Der für eine psycho- analytisch orientierte Kritik des Antisemitismus bedeutendste Kaum ein kritischer Kommentar zum Antisemitismus, der Abwehrmechanismus ist die Projektion oder projektive Identi- nicht auf dessen Wahnhaftigkeit hinweist. Neben der Leiden- fzierung (Melanie Klein). Zuerst werden die negativen (eige- schaft und der Beharrlichkeit, mit der noch die irrationalsten nen wie elterlichen) Anteile, der primitive oder archaische Hass5 Beschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden vorgebracht wer- und die aus diesem resultierende Schuld auf den Juden6 und das den, legen die ofensichtlichen Analogien zum Wahn1 die An- Judentum projiziert, um dann in der antisemitischen Paranoia wendung psychoanalytischer Ansätze bei der Erforschung die- das Selbst weiter in den Teufelskreislauf7 aus Ich-Schwäche8, ses Phänomens nahe. Gegen die Gefahr der Psychologisierung Angst, Hass und weiterer Schwächung hinein zu ziehen. Je do- ist dabei jedoch in Erinnerung zu rufen, dass es stets von den minanter und primitiver die Abwehrvorgänge, desto größer die jeweiligen politischen Verhältnissen abhängt, ob und inwieweit Entfremdung vom eigenen Ich, welches dann noch mehr fremd der Antisemitismus geschichtsmächtig oder zur realen Bedro- gewordene (unheimliche) Anteile abwehren muss. Im antisemi- hung wird. Das Beispiel des Nationalsozialismus verweist auf tischen Zirkel wird das Ich mehr und mehr einer Entdiferen- die Gefahr, wie sie von Verhältnissen ausgeht, unter welchen zierung oder Regression ausgesetzt, was wiederum die Ängste „viele Individuen eine pathologische Charakterstruktur als ich- (vor einer Aufösung des Selbst) bis hin zu apokalyptischen synton (ich-gerecht) zu erleben beginnen.“2 Als die „spezifschen Motive“ des Antisemitismus nannte Freud jene, „die aus geheimen Quellen“3, dem Unbewussten, stam- 5 Dieser Hass geht der Liebe voraus, er „entspringt der uranfänglichen men. Tatsächlich führt der antisemitische Diskurs wie kein an- Ablehnung der reizspendenden Außenwelt von Seiten des narzissti- derer „in solch verborgene Tiefen des Unbewussten“4. Die Psy- schen Ichs.“(Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale (1915) , in: choanalyse sieht in ihm vorrangig Rationalisierungen, hinter Ders. GW X, S. 209-232; hier: S. 231) In diesem Stadium der Libi- doentwicklung wird das Objekt auch beschädigt und vernichtet, und die darauf fxierte/regredierte Persönlichkeit wird dazu neigen, seine 1 Wie weiter unten mit Ernst Simmel argumentiert wird, bedeutet die Objekte ebenso zu behandeln. (Vgl. Auchter, Tomas: Angst, Hass und Charakterisierung des Antisemitismus als wahnhaft nicht, dass die ein- Gewalt. Psychoanalytische Überlegungen zu den Ursachen und Fol- zelnen AntisemitInnen im klinischen Sinn wahnsinnig (psychotisch) gen des Terrors, in: Ders. et al. (Hg.): Der 11. September. Psychoana- wären. Daneben kann mit Sigmund Freud zwischen Wahnidee und Il- lytische, psychosoziale und psychohistorische Analysen von Terror und lusion unterschieden werden: Zwar sei die „Ableitung aus menschlichen Trauma. Gießen 2003, S. 134-163) Wünschen“ für beide charakteristisch, jedoch müsse die Illusion im Ge- 6 Im Folgenden wird zwischen (realen) Jüdinnen und Juden, der jüdi- gensatz zur Wahnidee nicht derart im „Widerspruch gegen die Wirk- schen Wertewelt und Religion (Judentum) und den (anti- und philose- lichkeit“ stehen (Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion (1927), in: mitischen) Imagines des Juden unterschieden. Auch geht es mir weniger Ders.: GW XIV, S. 323-320; hier: S. 353). Wie sich in Auschwitz zeig- um die Feindschaft gegen (einzelne) Jüdinnen und Juden, auch nicht te, kann die antisemitische Illusion blutige Wirklichkeit werden, auch um bloße (antisemitische) Vorurteile, sondern um die systematische wären zu dieser logistischen Großtat realitätsuntaugliche Menschen wie leidenschaftliche Ablehnung des (rabbinischen) Judentums (oder (PsychotikerInnen) nicht fähig gewesen. Auf den Unterschied zwischen bestimmter Vorstellungen von diesem), welche erst das Besondere des individuellem und sozialen Wahn weist auch Alexander Mitscherlich Antisemitismus ausmacht. Gerade als (imaginärer) Kampf gegen eine hin: „Eine Wahnkrankheit als Einzelfall, als Privatwahn, wird nicht spezifsche Idee unterscheidet sich der Antisemitismus vom (antijüdi- dadurch zum Massenwahn, daß sie statt einmal millionenfach auftritt.“ schen und rassistischen) Vorurteilsmanagement. Antisemitismus meint (Mitscherlich, Alexander: Der Kampf um die Erinnerung. München hier ein hermetisch abgeschlossenes Weltbild mit wahnhaften Zügen 1975, S. 25) Diese qualitative Diferenz versuche ich weiter unten in der oder eine universale Sinnstiftung (Mythos) und nicht einfach die Sum- Analyse der (pathologischen) Massenbildung herauszuarbeiten. me der antijüdischen Stereotypen. 2 Mitscherlich, Der Kampf…a. a. O., S. 49 7 Vgl. Wangh, Martin: Psychoanalytische Betrachtungen zur Dyna- 3 Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion mik und Genese des Vorurteils, des Antisemitismus und Nazismus, in: (1939), in: Ders.: Gesammelte Werke (GW). Bd. XVI. Frankfurt a. M. Psyche – Z Psychoanal 46, 1992, S. 1152-1176; hier: S. 1155 1999, S. 101-246; hier: S. 197 8 Mit Hacker wäre diese Schwäche weniger auf die synthetischen als 4 Loewenberg, Peter: Die Psychodynamik des Antisemitismus in histo- auf die kritischen oder urteilenden Funktionen des Ichs zu beziehen. rischer Perspektive, in: Psyche – Z Psychoanal 46, 1992, S. 1095-1121; Vgl. Hacker, Friedrich: Das Faschismus-Syndrom. Psychoanalyse eines hier: S. 1095 aktuellen Phänomens, hrsg. v. Doris Mendlewitsch. Wien 1990, S. 98f

61 Wahnvorstellungen vergrößert. Im diesem paranoiden Kreis- Gemeinschaft mit angeblich höheren Werten an: der Gemein- lauf werden die Objekte, in welche die verhassten Selbstanteile schaft der Nichtjuden.“12 projiziert werden, zu Es geht also nicht darum, aus dem antisemitischen (reali- „gefährliche[n] und vergeltungssüchtige[n] Objekte[n], gegen tätstauglichen) Wahn eine individuelle Abweichung oder gar die der Projizierende wiederum sich zur Wehr setzen muß […]; Krankheit zu machen. Tatsächlich entspricht der Antisemiti- er muß das Objekt beherrschen und eher selber angreifen, be- smus keiner bestimmten klinischen Kategorie der Persönlich- vor er (wie er fürchtet) vom Objekt überwältigt und zerstört keit.13 Auch ist mit Ernst Simmel und anderen anzunehmen, wird.“9 dass die Identifzierung mit dem antisemitischen Mythos14 ge- rade vor Krankheit schützt, dass (insbesondere in anomischen Die Psychoanalyse sucht also nach den verborgenen (unbewus- Krisen und unter großem sozialen Stress drohende) Einzelpsy- sten) Bedeutungen hinter den irrationalen Beschuldigungen chosen durch eine der Jüdinnen und Juden. Die Analyse antisemitischer Texte macht vor allem deswegen Sinn, weil sie als rationalisierte Pro- jektionen Auskunft geben können über die inneren Konfikte derer, die aus verschiedenen (inneren wie äußeren) Gründen zu dieser Abwehrform greifen. Eine psychoanalytisch orien- tierte Kritik des Antisemitismus fragt nach dem subjektiven Gewinn, nach der stützenden Funktion des Antisemitismus für das Ich, welches er durch Einladung zur Externalisierung von Ängsten, Zweifel und (Selbst)Hass schützt. Die Projekti- on des Hasses aus dem Inneren des phantasmatischen (reinen) Raumes führt in die imaginäre Position des Opfers, das von diesem Hass dann verfolgt wird. Somit erlaubt es der Antise- mitismus, sich als nicht schuldig (hassend) zu erleben. Darü- ber hinaus bezieht die/der AntisemitIn Befriedigung, dass im 12 Simmel, Ernst: Antisemitismus und Massen-Psychopathologie, in: von ihr/ihm geteilten narzisstischen Phantasma der Reinheit Ders. (Hg.): Antisemitismus. Frankfurt a. M. 1993, S. 58-100; hier: und des abgespaltenen Unreinen sich „sein Ich in vollständiger S. 60 10 Harmonie mit seinem Ichideal befndet.“ Von diesem Ideal, 13 Vgl. Jahoda, Marie (mit Nathan W. Ackermann): Die dynamische welches mit den übrigen Angehörigen einer sozialen Gruppe Basis antisemitischer Einstellungen, in: Fleck, Christian (Hg.): Marie (Klasse, Nation usw.) geteilt wird, „führt ein bedeutsamer Jahoda. Sozialpsychologie der Politik und Kultur. Ausgewählte Schrif- Weg zum Verständnis der Massenpsychologie“11 und damit ten. Graz, Wien 1994, S. 224-240; hier: S. 226. Wenn dennoch auch des Antisemitismus. hier von der/dem AntisemitIn als eine auf den primären Narzissmus Wenn auch die Psychoanalyse zur Aufklärung der Grund- oder eine andere frühere (präödipale) Stufe der Libidoentwicklung re- struktur und Wirkungsweise des Antisemitismus als kollekti- gredierte oder fxierte Persönlichkeit die Rede ist, so ist ein Idealtypus gemeint. Als wissenschaftliches Hilfskonstrukt wird dieser vor allem ves und Gemeinschaft stiftendes Phantasma zu Rate gezogen aus Analysen antisemitischer Diskurse gewonnen. (Vgl. Beland, Her- wird, so sei jedoch davor gewarnt, dieses soziale Phänomen mann: Psychoanalytische Antisemitismustheorien im Vergleich, in: auf eine individuelle Psychopathologie zu reduzieren. Denn Bohleber, Werner; Kafka John S. (Hg.): Antisemitismus. Bielefeld die Gleichsetzung von AntisemitInnen mit PsychotikerInnen 1992, S. 93-121; hier S. 104) befreit diese von jeder Verantwortung. Auch wird 14 Der Antisemitismus ist weniger als Ideologie und mehr als (Ge- meinschaft und Sinn stiftender) Mythos zu analysieren. Dieser wirkt „ein Antisemit […] niemals psychoanalytische Hilfe suchen, nicht nur deshalb so anziehend, weil „er etwas bildhaft erzählt, son- um von seinem Antisemitismus befreit zu werden. Vor allem dern auch weil er gewisse latente Schemata/Modelle wiederholt, die fehlt es ihm ja an Krankheitseinsicht, d.h. er betrachtet sich aus den Grundphantasmen der Psyche stammen. Die bildhaften Ele- nicht als krank. Im Gegenteil, sein Antisemitismus verschaft mente und Wiederholungen ziehen die Subjekte deswegen an, weil ihre ihm einen nicht unerheblichen Krankheitsgewinn. Sein Ich Wahrnehmung und ihr Verstehen keine Anstrengung und Präzision wie die Vernunft verlangen.“ (Lipowatz, Tanos: Politik der Psyche. bläht sich auf, er fühlt sich überlegen, denn er gehört einer Eine Einführung in Psychopathologie des Politischen. Wien 1998, S. 181) Der difus-widersprüchliche Charakter des Mythos ist das Besondere an ihm und erklärt gleichzeitig seinen Erfolg. Mit seinen 9 Kernberg, Otto: Borderline-Störungen und pathologischer Narziss- „unbestimmten Assoziationen und unbegrenzten phantasmatischen mus. Frankfurt a. M. 19973, S. 51f. Möglichkeiten“(ebd., S. 182) zielt er unmittelbar auf das Unbewusste 10 Grunberger, Béla: Der Antisemit und der Ödipuskomplex, in: Psy- und macht sich die abgewehrten Wünsche zu Nutze. Gleiches gilt für che - Z Psychoanal 16, 1962, S. 255-272; hier: S. 262 das Gerücht (über die Juden): Dieses „entsteht aus einer Akkumulation 11 Freud, Sigmund: Zur Einführung in den Narzißmus, in: Ders.: GW von Unbehagen und ist das Ergebnis einer geistigen Prädisposition, die X, S. 137-170; hier: S. 169. Freud weist an dieser Stelle auf den Zusam- sich aus der Akkumulation von vielen verschiedenen Bedrohungen oder menhang zwischen der Nichterfüllung oder dem Nichterreichen des Unfällen und Katastrophen konstituiert.“(Ebd., S. 117) Insofern ist die Ideals (was gleichbedeutend mit einer narzisstischen Kränkung ist) und oft konstatierte Widersprüchlichkeit der antisemitischen Stereotypen dem Aufkommen von sozialer Angst hin. Diese sei ursprünglich homo- (z. B. die Gleichzeitigkeit der Phantasien von der Macht des Weltjuden- sexuelle Libido, welche nicht länger im Dienste des Ideals umgewandelt tums und vom jüdischen Untermenschen) nicht nur kein Hindernis für werden könne. Als Paranoia bedroht diese frei gewordene Libido dann ihre massenhafte Übernahme, sondern vielmehr eine Bedingung, wer- das Selbst; in den antisemitischen Rationalisierungen dieser Paranoia den doch so möglichst viele und unterschiedliche Wünsche und Ängste fndet das Individuum dann (kurzfristig) Erleichterung. angesprochen.

62 Massenpsychose15 abgewehrt werden können.16 Die typische Ab- der Einsamkeit und vor jedweder Veränderung, vor der Welt und wehr von Schuld17 (durch Projektion auf die Juden) kann etwa den Menschen, vor allem – außer vor dem Juden.“21 das Ausbrechen einer klinischen Depression verhindern. Auch Jahoda und Ackermann stellten 1948 in ihrer Studie fest, dass Die Phobie erlaubt dem/der AntisemitIn, diese innere (neuroti- die TrägerInnen antisemitischer Einstellungen keine depressiven sche) Angst in scheinbare Realangst (äußere Angst) umzuwan- Störungen aufwiesen.18 Hingegen würden sie unter massiven, deln.22 Béla Grunberger beschreibt den/die AntisemitIn zudem aber gleichzeitig difusen Angstzuständen leiden, welche „nicht als Menschen im andauernden Banne der Primärprozesse23, die als bewusste Furcht erfahren [wurden], sondern […] sich indi- in unserer seelischen Frühzeit vorherrschen: rekt in verschiedenen Formen sozialen Unbehagens und sozialer Unfähigkeit [manifestieren].“19 Auch Jean-Paul Sartre beschreibt „Zumindest im Bereich seines Kernkomplexes ist ihm das Rea- den/die AntisemitIn als einen Menschen, litätsprinzip unbekannt. Da er in einer Welt der Trugbilder lebt, reizt ihn jeder Hinweis auf die Realität, die er ablehnt.“24 „der Angst hat. Nicht vor den Juden, vor sich selbst, vor seiner Willensfreiheit20, seinen Instinkten, seiner Verantwortung, vor Weil der/die AntisemitIn „aus psychischen Gründen an den Juden gleichsam gefesselt [ist]“25, hat seine/ihre Beschäftigung mit dem Juden, mit Dekadenz und drohender Apokalypse, so 15 Ernst Simmel hat als erster vom Antisemitismus als einer Massen- viel Manisches. Diese Art der Fixierung erinnert an den Feti- psychose gesprochen. Die Masse als Ganzes agiert jedoch nicht wie ein schismus, und tatsächlich scheinen entsprechend der psychi- psychotisches Individuum, vielmehr sind es die einzelnen (antisemi- tischen) Massen-Ichs, die wie PsychotikerInnen erscheinen. Während schen Funktion des Antisemitismus als Schutzschirm gegen die aber bei der/dem einzelnen PsychotikerIn die Regression „das Primäre, Dauerhafte“ist, tritt „beim kollektiven psychotischen Denken die Re- gression nur zeitweilig“auf. Dies, weil „das Ich des einzelnen Psycho- des unergründlichen Gottes) ins Auge zu sehen“ und weigert sich, „die- tikers infolge seiner pathologischen Schwäche mit der Realität bricht, sen Abgrund mit einem bestimmten phantasmatischen Szenario“, etwa während beim Gruppenmitglied zuerst die Realität mit dem Ich bricht. als „obszöner Initiationsmythos“, zuzudecken (Zizek, Slavoj: Der Mut, Dieses Ich rettet sich durch Untertauchen in einer pathologischen Mas- den ersten Stein zu werfen: Das Genießen innerhalb der Grenzen der se vor individueller Regression, indem es kollektiv regrediert. Die Flucht bloßen Vernunft. Wien/Berlin 2008, S. 72). Diese Überwindung des in eine Massenpsychose ist demnach nicht nur Flucht vor der Reali- Phantasmas wird im Antisemitismus ungeschehen zu machen versucht, tät, sondern auch vor dem individuellen Wahnsinn. Diese Erkenntnis indem „die Juden selbst zum privilegierten phantasmatischen Objekt beantwortet uns die Rätselfrage, weshalb anscheinend normale Indi- […], zum geheimen Anderen, der die Fäden des Gesellschaftslebens in viduen wie Psychotiker reagieren können, sobald sie in den Bann der der Hand hält“, erhoben werden (ebd., S. 137). Massenbildung geraten. Ihr Ich ist unreif, weil ihr Über-Ich schwach 21 Sartre, Jean-Paul: Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des ist. Das unreife Individuum, das unter dem Druck von Umweltverhält- Antisemitismus, in: Ders.: Drei Essays. Frankfurt a. M. 1975; S. 108- nissen den Kontakt mit der Realität zu verlieren droht, kann den Rück- 190; hier: S. 134 weg fnden, wenn sein Ich, getragen vom Gruppengeist, Gelegenheit 22 Vgl. Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung fndet, seine aufgestauten Triebenergien in die Objektwelt zu entladen.“ in die Psychoanalyse (1933), in: Ders.: GW XV, S. 87-118; hier: S. 91 (Simmel…a. a. O., S. 73) Auch die Mitgliedschaft in einer Masse und der Glaube an eine (politische) Illusion können vor der Neurose schüt- 23 Diese stellen zur Erregungsabfuhr eine „Wahrnehmungsidentität“her zen: es kommt so zur „Schiefheilung“ neurotischer Konfikte. (Freud, (Eidese). Hingegen wird in den Sekundärvorgängen versucht, durch Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), in: Ders.: GW Abfuhrhemmung eine „Denkidentität“zu erzielen. (Vgl. Freud, Sig- XIII, S. 71-161; hier: S. 159) Am Beispiel der Religion wies Freud auf mund (1900): Traumdeutung, in: Ders.: GW II/III, S. 571, 607) Die die Möglichkeit hin, dass „die Annahme der allgemeinen Neurose“ den Eidese oder Eidetik ist dem Lustprinzip verpfichtet und zielt auf eine Einzelnen „der Aufgabe“ enthebe, „eine persönliche Neurose auszubil- primitive Einheit von Bild und Begrif, in welcher Wahrnehmung und den.“ (Freud, Die Zukunft einer Illusion…a. a. O., S. 367) Auch Ar- Denken, Wesen und Erscheinung zusammenfallen, „das Gedachte nold Zweig, der den Antisemitismus „als Afekt und Auswirkung von (Gewünschte) einfach halluzinatorisch gesetzt“wird (Ders. (1911): For- Urtrieben“ begreift, sah den „Antisemiten“ nicht als krank, sondern als mulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, in: frei von und immun gegenüber den „Verunstaltung[en]“, welche seine Ders.: GW VIII, S. 230-238; hier: S. 231). Zunächst stammten „alle überbordenden Afekte ansonsten produzieren würden. (Zweig, Ar- Vorstellungen von Wahrnehmungen (…), die Wiederholungen der- nold (1927): Caliban oder Politik und Leidenschaft. Versuch über die selben sind. Ursprünglich ist also schon die Existenz der Vorstellung menschlichen Gruppenleidenschaften dargetan am Antisemitismus. eine Bürgschaft für die Realität des Vorgestellten.“ (Ders. (1925): Die Berlin 1993, S. 80) Verneinung, in: Ders.: GW XIV, S. 9-15; hier: S. 14). Das Muster der „Wahrnehmungsidentität“nach welchem innere und äußere Realitäts- 16 Vgl. Wangh…a. a. O., S. 1174. Auch Béla Grunberger macht dar- erfahrungen, Urteil und Wahrnehmung für identisch gehalten werden, auf aufmerksam, dass AntisemitInnen sich nicht der geläufgen neuro- ist nur ungenügend überwunden und wird oft in regressiven Prozessen tischen Abwehrmechanismen gegen ihre inneren Konfikte bedienen, wieder belebt. In diesen Prozessen werden „bereits rationell gewordene „sondern monoton immer wieder der Projektion auf den Juden“. (Grun- Denkvorgänge wieder unter die Herrschaft des Lustprinzips“(ebd., S. berger…a. a. O., S. 261) 235) gebracht. Das bildhafte Assoziieren (das Schauen in der deutschen 17 Vgl. Beland, Psychoanalytische Antisemitismustheorien…a. a. O., Gegen-Rationalität) hat eine gewisse Nähe zum Wahn, ist aber von der S. 95; Hegener, Wolfgang: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Das unmögli- Halluzination zu unterscheiden. Zur Relevanz des Eidese-Konzeptes che Erbe. Antisemitismus - Judentum - Psychoanalyse. Gießen 2006, für die Antisemitismusforschung vgl. Pohl, Rolf: Der antisemitische S. 7-28; hier: S. 15f Wahn. Aktuelle Ansätze zur Psychoanalyse einer sozialen Pathologie, 18 Jahoda…a. a. O., S. 226 in: Stender, Wolfgang; Guido Follert, Mihri Özdogan (Hg.): Konstel- 19 Ebd., S. 227 lationen des Antisemitismus. Teorie – Forschung – Praxis. Wiesbaden 2010, S. 41-68; hier: S. 47f 20 Das Judentum wird unbewusst für die Last dieser Freiheit verant- wortlich gemacht, weil es uns historisch erstmalig mit ihr konfrontiert. 24 Grunberger…a. a. O., S. 258 Es zwingt uns, „dem Abgrund des Begehrens des Anderen (in Gestalt 25 Ebd., S. 271

63 aktualisierte Kastration(sangst) dem Juden Züge eines negativen „Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für Fetischs26 zuzukommen. Auch teilen Antisemitismus und Feti- den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die schismus den Vorzug, den sie der Illusion (der Allmacht und des Schriften des Sigmund Freud!“ Besitzes der Mutter) gegenüber der Realität (des ödipalen Schei- terns oder der Kastration) einräumen. Damit wurde der Versuch unternommen, das Wissen um die Gegen die Pathologisierung der als feste Gruppe ohnehin kaum Unmöglichkeit eines endgültigen Zustandes in der psychischen zu fassenden AntisemitInnen ist es daneben wichtig zu betonen, Befndlichkeit frei von Ambivalenzen, um den dynamischen dass wir alle potentiell anfällig sind für die antisemitische Propa- Charakter des Un-/Bewussten zu vernichten. Der fürchterliche ganda; niemand kann je sicher sein, unter bestimmten Bedin- Gedanke, nicht Herr im eigenen Haus zu sein, kommt einer nar- gungen nicht zu regredieren, nicht magisch zu reagieren, „weil zisstischen Kränkung30 gleich. Auch diese Kränkung wird im niemand genau weiß, welche Art Ängste und Phantasmen der Antisemitismus, wie in jeder anderen totalitären Weltanschau- frühen Kindheit er in sich birgt.“27 Auch die Spaltung des Sub- ung, zu heilen versucht. Je kränkender und trostloser die Reali- jekts parallel zu den beiden Prinzipien Lust und (kastrierende) tät, je größer die Wut und Ohnmacht angesichts der tristen Lage, Realität ist als Begleiterscheinung jener Kultur zu sehen, die so desto radikaler der Bruch mit ihr. Der massiv Gekränkte neigt viel Unbehagen schaft. Gleiches gilt für die Tatsache, dass ein dazu, sich „an eine alternative Sicht der Realität“ zu klammern, Teil des Selbst als fremd oder als „inneres Ausland“ (Freud) er- „an die Illusion, dass die Feinde vernichtet sind und er selbst lebt wird. Bleibt dieses Erleben unbewusst (unbearbeitet oder in einer mystischen Vereinigung mit der Mutter neu geboren unrefektiert), kann es zu jenem Punkt werden, an welchem an- wird.“31 Von dieser apokalyptischen Struktur geprägt sind weite tisemitische Mythen ansetzen. Auf die Leugnung der Spaltung28 Teile des Christentums und des (schiitischen) Islams, und der folgt die Projektion der Ängste und Zweifel auf die Juden. Diese Nationalsozialismus kann als apokalyptische Weltanschauung Mythen beginnen, ausgehend von der (ersten) Lüge von der Ein- par excellence analysiert werden32: Erlösung durch Vernichtung. heit und Reinheit, das Subjekt mehr und mehr zu beherrschen Im Anschluss an Melanie Klein und mit Dierk Juelich lässt sich – bis hin zum weitgehenden und oft auch wutentbrannten Bruch hinter dem Hass auf Jüdinnen und Juden eine Regression auf mit der Realität, sobald diese mit dem Ideal (der Illusion) in Wi- die paranoid-schizoide Position vermuten. Dieses „psychologische derspruch zu geraten droht. Korrelat einer undurchschaubaren Welt, die keine sicht- und greifbaren Gegner mehr bereithält“33, entspricht jener frühkind- Kult der Einfalt lichen Entwicklungsstufe, auf der die eigenen aggressiv-destruk- Adorno wies darauf hin, dass der Hass gegen die Psychoanalyse tiven Anteile nur abgespalten und nach außen projiziert werden können. Es werden lediglich Partialobjekte wahrgenommen, weil „unmittelbar eins [ist] mit dem Antisemitismus, keineswegs bloß das Kind positive und negative Empfndungen noch nicht an ei- weil Freud Jude war, sondern weil Psychoanalyse genau in jener nem (inneren) Objekt integrieren kann. Das kindliche Ich muss kritischen Selbstbesinnung besteht, welche die Antisemiten in sich vor der Ambivalenz schützen und daher seine Objektwelt in Weißglut versetzt.“29 gut und böse aufspalten. Es ist noch nicht in der Lage, Unlust- gefühle als eigene wahrzunehmen und so erscheint ihm das böse Bei der zweiten deutschen Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 Partialobjekt als alleiniger Verursacher von Unlust. Demgegen- wurden auch die Werke von Freud den reinigenden Flammen über werden in der depressiven Position diese Anteile integriert: übergeben: Lust- wie Unlusterfahrungen werden an einem inneren Objekt

26 Schon bei Freud gibt es einen Hinweis auf diese Art von Fetisch, 30 „Jede narzisstische Kränkung von einer gewissen Stärke löst eine wie sie der Jude darzustellen scheint: „In ganz rafnierten Fällen ist es solche Aggressivität aus, dass das Subjekt zur Regression gezwungen der Fetisch selbst, in dessen Aufbau sowohl die Verleugnung wie die Be- wird. Diese Regression mobilisiert ihrer Tiefe entsprechend dem Ich hauptung der Kastration Eingang gefunden haben. [ ] Ein solcher Fe- vorhergehende Kerne, das heißt eine zentrale Handlungsinstanz prä- tisch, aus Gegensätzen doppelt geknüpft, hält natürlich besonders gut. natalen, phylogenetischen Ursprungs, die im Wesentlichen durch In anderen zeigt sich die Zwiespältigkeit an dem, was der Fetischist - in Aggression und primitiven Narzissmus strukturiert ist. Genau aus der Wirklichkeit oder in der Phantasie - an seinem Fetisch vornimmt. dieser Formation können erschreckende archaische Imagines hervor- Es ist nicht erschöpfend, wenn man hervorhebt, dass er den Fetisch gehen, die aus all dem bestehen, was der reine Narzissmus des Subjekts verehrt; in vielen Fällen behandelt er ihn in einer Weise, die ofenbar nicht akzeptiert: das Schmutzige, Unreine, Bestialische, Ansteckende, einer Darstellung der Kastration gleichkommt. [ ] Die Zärtlichkeit und Lüsterne, Dämonische...Der narzisstische Antisemit projiziert diese die Feindseligkeit in der Behandlung des Fetischs, die der Verleugnung Imagines auf den Juden: Eben deshalb muss er vernichtet (verbrannt) und der Anerkennung der Kastration gleichlaufen, vermengen sich bei werden.“(Grunberger, Béla; Dessuant, Pierre: Narzissmus, Christen- verschiedenen Fällen in ungleichem Maße, so dass das eine oder das an- tum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung. Stuttgart dere deutlicher kenntlich wird.“(Freud, Sigmund: Fetischismus (1927), 2000, S. 361) Zur Bedeutung der Kränkung für den islamistischen Fu- in: Ders.: GW XIV, S. 311-317; hier: S. 317) ror: Meddeb, Abdelwahab: Die Krankheit des Islam. Heidelberg 2002 27 Lipowatz…a. a. O., S. 100 31 Ostow, Mortimer: Apokalyptische Archetypen in Träumen, Phan- 28 Diese Verleugnung (besser: Vermeidung) kann mit Zizek und im tasien und religiösen Schriften, in: Jahrbuch Psychoanalyse 23/1988, S. Vorausgrif auf die Massenpsychologie auch „perverse Entsubjektivie- 9-25; hier: S. 25 rung“ gelesen werden: „Das Subjekt vermeidet die Spaltung, durch die 32 Es waren vor allem die von oben und unten sozial bedrohten, von es konstituiert wird, indem es sich direkt als Instrument des Willens des Ausweg- und Orientierungslosigkeit geprägten Mittelschichten oder Anderen setzt.“ (Zizek…a. a. O., S. 57) kleinbürgerlichen Klassen, in welchen sich in den 1920er und 30er Jah- 29 Adorno, Teodor W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergan- ren apokalyptisches Denken derart breit machte. genheit, in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I/II. Frankfurt a. M. 33 Eisenberg, Götz: Gewalt, die aus der Kälte kommt. Amok - Pogrom 1977, S. 555-572; hier: S. 569f - Populismus. Gießen 2002, S. 52

64 erfahren, das nun auch böse sein und gehasst werden kann. Der zung mit den eigenen schwierigen oder negativen Anteilen muss Preis für diesen niemals endenden Prozess der Entdämonisierung vermieden werden. Der Nationalsozialismus verhieß schließlich der äußeren Welt ist der – oft so schwer auszuhaltende – Ambi- eine Existenz frei von Widersprüchen und Ambivalenzen, ohne valenzkonfikt. Auseinandersetzung mit sich und seinen widerstrebenden Re- Mit der Annahme des rigiden Monotheismus hat sich das Juden- gungen – Adornos „kritische Selbstrefexion“. Die kollektive Vor- tum den Hass zuerst des Heiden- dann des (Heiden-)Christen- stellung, das Böse und Unreine sei außerhalb, nämlich bei den Jü- tums zugezogen. Die überfordernde Etablierung eines einzigen dinnen und Juden, führte in letzter Konsequenz zur Vernichtung und abstrakten Gottes, von welchem man sich noch dazu kein der TrägerInnen der eigenen unliebsamen Anteile. Als politische Bild machen darf, ist auch zu verstehen als „Übergang von der Religion oder transformiertes Christentum hat der Nationalso- vorwiegend paranoid-schizoiden Welt der polytheistischen Got- zialismus nicht nur die paulinische Idee39 der Möglichkeit zur tesvorstellungen […] hin zu einer depressiven Position mit einem menschlichen Vollkommenheit (Reinheit) radikalisiert, sondern imaginierten ganzen Objekt im dialogischen Gegenüber“34: Ei- auch den Hass auf diejenigen, die an diese Möglichkeit nicht nes höchst ambivalenten Gottes, der liebende und strafende An- glauben wollen oder können, die beharrlich an der Trennung teile in sich vereint. Die Judenfeindschaft des Christentums35, zwischen Gott (Gesetz) und Mensch festhalten. das die Ambivalenz (zuerst gegenüber dem Vater, dann gegen- Über die Objektwahl dieses Hasses gibt auch Otto Weininger über dem nach seinem Vorbild geschafenen Gott)36 auföste, Auskunft: seinen Gott als ausschließlich gutes/liebendes Objekt aufrichtete, das Böse an den Teufel delegierte, sich kollektiv aus dem Schuld- „Des Juden psychische Inhalte sind sämtlich mit einer gewissen zusammenhang entließ (Entsühnung) und einen nur leicht abge- Zweiheit oder Mehrheit behaftet. […] Diese innere Vieldeutig- schwächten Polytheismus wiedereinführte, erweist sich von da- keit, […] die Armut an jenem An- und Für-sich-Sein […] glaube her als ein „Hass auf jene, die am Ritual der Entlastung aus der ich als Defnition dessen betrachten zu müssen, was ich das Jüdi- paranoid-schizoiden Position nicht teilnehmen, denn sie werden sche als Idee genannt habe. […] Innere Vieldeutigkeit […] ist das als Bedrohung wahrgenommen, die an dem Sinn dieser Entla- absolut Jüdische, Einfalt das absolut Unjüdische.“40 stung Zweifel entstehen lassen.“37 Zudem erlaubt der imaginäre Besitz des nur-guten und reinen Objekts die Abfuhr der aggres- Seit jeher personifzieren die Juden den Zweifel: „Der Jude glaubt siven bis sadistischen Regungen gänzlich ohne Schuldgefühle. an gar nichts, er glaubt nicht an seinen Glauben, er zweifelt an Dieser Position, welche kollektiv in der „psychotische[n] seinem Zweifel.“41 Dem Narzissmus der Reinheit – Weiningers Episode“38 des Nationalsozialismus sich auslebte, ist Freuds Er- „Einfalt“ – sind die Juden eine permanente Kränkung. Als Un- kenntnis unerträglich, dass wir uns auseinandersetzen müssen gläubige werden sie von Gläubigen gehasst, die damit Auskunft mit den (auch destruktiven) Triebwünschen. Die Adelung der geben über ihren eigenen unbewussten Kampf, ihre „ambivalen- deutschen Seele, die in ihrer Reinheit erstrahlt, verträgt sich nicht ten Gefühle Gott gegenüber zu verdrängen.“42 mit der Erkenntnis, dass die vielfältigen Bedrohungen aus der eigenen psychischen Struktur erwachsen. Eine Auseinanderset- Urphantasie der Reinheit Die antisemitische Gemeinschaft ersetzt im Unbewussten ihrer Mitglieder das verlorene Primärobjekt, ihr entsprechen die pri- 34 Juelich, Dierk: Abspaltung und Projektion - Zur Psychodynamik märnarzisstischen Gefühls- und Bedürfnisqualitäten (Allmacht, antisemitischer Strukturen, in: Schreier, Helmut; Heyl, Matthias (Hg.): Verschmelzung, Versorgtheit usw.). Sie ist so rein wie das mütter- Die Gegenwart der Schoah. Zur Aktualität des Mordes an den europä- liche Paradies, in welches der primäre Narzissmus strebt. Neben ischen Juden. Hamburg 1994, S. 175-194; hier: S. 179. Es war das Ju- dentum, das zuerst „alle Götter der Vorzeiten“ zu einem Gott verdichtet hat: „Es hatte den väterlichen Kern, der von jeher hinter jeder Gottes- 39 Überraschenderweise bejaht Freud nach seiner Kritik in den voran- gestalt verborgen war, freigelegt; im Grunde war es eine Rückkehr zu gegangenen Werken (z. B. „Das Unbehagen in der Kultur“) in seinem den historischen Anfängen der Gottesidee. Nun, da Gott ein Einziger „Mann Moses“ den Apostel Paulus und seine theologischen Innovatio- war, konnten die Beziehungen zu ihm die Innigkeit und Intensität des nen, wobei er nicht auf die Ersetzung des (jüdischen) Gesetztes durch kindlichen Verhältnisses zum Vater wiedergewinnen. Wenn man soviel den Glauben und die abstrakte Liebe u. ä. Problematisches abhebt (vgl. für den Vater getan hatte, wollte man aber auch belohnt werden, zum Peham, Vom Reinheitswahn…a. a. O.), sondern auf die Annahme, dass mindesten das einziggeliebte Kind sein, das auserwählte Volk.“ (Freud, Paulus als erster das (universale) Schuldbewusstsein, welches vom Urva- Die Zukunft einer Illusion…a. a. O., S. 341) Was noch hier als Quelle termord herrühre, in Worte gefasst habe. Auch wenn die Antwort (die kollektiven Narzissmus erscheint, die Auserwähltheit, die ja tatsächlich Illusion von der Möglichkeit der Sühne) falsch ist, so sei doch die Frage vor allem eine Last darstellt, sollte im Antisemitismus zu einem der (nach dem Urverbrechen der Menschheit) richtig gestellt worden (vgl. neiderfüllten Hauptvorwürfe werden. Freud, Der Mann Moses…a. a. O., S. 244). Gänzlich anders gelagert 35 Vgl. Hegener, Wolfgang: Erlösung durch Vernichtung. Zur Psy- ist die Apologie des französischen Ex-Maoisten Alain Badiou: Dieser choanalyse des christlichen Antisemitismus. Gießen 2004; Peham, An- afmiert gerade die problematischen Aspekte an der Paulus-Erzählung, dreas: Vom Reinheitswahn zum Vernichtungswunsch. Christentum, allem voran dessen narzisstische Phantasie von der Selbst- und Neu- Narzissmus und Antisemitismus, in: Context XXI, Nr. 8/2004, S. 4-8; erschafung aus dem Nichts. Dieser voraussetzungslose Anfang, das Ders.: Von Paulus zu Luther. Der Protestantismus und die Erneuerung Badiousche „Ereignis“ des Bruches mit den Juden, ihrer Auserwähltheit des Glaubens, in: ebd., Nr. 1-2/2005, S. 37-39; Bienert, Walther: Mar- und ihrem angeblich todbringendem Gesetz, erinnert an die faschisti- tin Luther und die Juden. Frankfurt a. M. 1982 sche Tat oder zumindest an den Sorelschen Mythos. (Vgl. Badiou, Alain: 36 Vgl. Freud, Die Zukunft einer Illusion…a. a. O., S. 346 Paulus – Die Begründung des Universalismus. München 2002) 37 Juelich…a. a. O., S. 181; vgl. Raguse, Hartmut: Psychoanalyse und 40 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Un- 28 biblische Interpretation. Eine Auseinandersetzung mit Eugen Drewer- tersuchung. Wien 1947 , S. 281f manns Auslegung der Johannes-Apokalypse. Stuttgart 1993, S. 155f 41 Ebd., S. 279 38 Mitscherlich, Der Kampf…a. a. O., S. 51f 42 Loewenberg…a. a. O., S. 1099

65 den Zweifeln und dem Unglauben werden im primärnarzissti- das Symbolische.46 Horkheimer und Adorno stellen diese Desym- schen Paradies auch alle verbotenen (schmutzigen oder analen) bolisierung (Konkretisierung), die den Antisemitismus konstitu- Triebregungen auf die Juden projiziert. Nur so kann an der Illu- iert, ins Zentrum ihrer vierten Tese: sion der Reinheit, aber auch der des Besitzes der Mutter festgehal- ten werden. Als Schutz vor der Realität kommt ihr eine ähnliche „Christus, der feischgewordene Geist, ist der vergottete Magier. Funktion zu wie dem Fetisch. Gleich dem Fetischismus ist auch Die menschliche Selbstrefexion im Absoluten, die Vermenschli- die „Phantasmagorie der Reinheit“43 hermetisch abgeschlossen: chung Gottes durch Christus ist das proton pseudos [erste Lüge, Der/die AntisemitIn vermag noch die größten Widersprüche und Anm. A. P.]. Der Fortschritt über das Judentum ist mit der Be- ofensten Widerlegungen als Bestätigung in seinen/ihren Wahn hauptung erkauft, der Mensch Jesus sei Gott gewesen.“47 einzubauen. Diese eingeschränkte Realitätswahrnehmung führt mit der Zeit zum Bruch mit der Wirklichkeit als Möglichkeit Welche Eigenschaften dem Juden als dem „paradigmatischen auch zur Erfahrung von Unlust und Mangel; schließlich wird Anderen“48 des christlich (aber auch des islamisch) geprägten mit dem Juden als Repräsentanten der ödipalen Realität diese Unbewussten zugeschrieben werden, insbesondere der Grad und selbst zum Feind, verdichtet sich der Antisemitismus zum Wahn. die Bedeutungen seiner Fremdheit, ist nicht nur von individuel- Die Sucht nach der Reinheit, die immer die Destruktivität als len Faktoren, allen voran die jeweilige (Objekt-)Beziehungsver- Kehrseite hat, verlangt geradezu nach dem Unreinen, das bei den gangenheit und die aktuelle Krisenerfahrung oder narzisstische Gruppenfremden gesucht und gefunden wird.44 Die mit dem Kränkung, abhängig, sondern auch von sozialen und kulturellen „Ideal der Reinheit“ verbundene „narzisstische Identifzierung“ (religiösen). Die jahrhundertealten antijüdischen Imagines prä- ist aber „labil und durch Andersartiges leicht störbar. Die Stö- gen die inneren Bilder vom Juden. Zu diesen kulturspezifschen rung wird projiziert und führt zu einem ungeheuer aufgeladenen Objekten, auf welche die „primär nicht objektgebundene Ag- Zerrbild des Fremden, der nun den Zusammenhalt bedroht.“45 gression in […] kulturellen Lernprozessen […] fxiert [wird]“49, Tatsächlich kann der antisemitische Massenmensch Diferenz, tritt nun der/die AntisemitIn in eine spezifsche (paranoide) Be- Kritik, Zweifel und Abweichungen nicht oder nur schwer dul- ziehung, die mit zunehmender Dauer und Heftigkeit durch die den. Gleichzeitig ist er jedoch auf den bedrohlichen und unheim- äußere Realität so gut wir gar nicht mehr beeinfusst wird. lichen Fremden fxiert, was den manischen Charakter seiner Be- Der Jude ist also nicht irgendein mit Fremdheit belegter anderer schäftigung mit den Juden erklärt. Er ist voller Angst, dass der – er ist der Unheimliche, Repräsentant jener „Art des Schreck- andere, egal ob er auf seinem Anderssein beharrt oder sich der haften, das auf das [verdrängte, Anm. A. P.] Altbekannte, Assimilation beugt, die narzisstische Einheit der Identischen ver- Längstvertraute zurückgeht“50. Das Unheimliche an den antijü- schmutzt oder auföst. Diese Angst wandelt sich zum Hass nicht dischen Imagines baut auf der engen aber verleugneten Bezie- nur gegen die Juden, sondern auch auf die Idee der Individualität hung zwischen Christen- und Judentum. Die Nachgeborenen und der Rechte des anderen (Besonderen), gegen die Hofnung (AnhängerInnen der Sohnesreligion) versuchten, diese Beziehung auf Freiheit und Gleichheit. zu durchtrennen, etwa durch Ersetzen des Gesetzes durch den Glauben. Je entschiedener die Abwehr des jüdischen Ursprungs Christliche Ursprünge der abendländischen Kultur, je totaler der Bruch mit dem Gesetz, Das Ausmaß der kulturellen Realitätstauglichkeit ist maßgeblich desto unheimlicher und bedrohlicher die Juden. verantwortlich für die Bereitschaft zur Regression im Falle einer Daneben ist das Unheimliche am Juden seiner Funktion als Pro- massiven narzisstischen Kränkung und/oder des Eintritts in eine jektionsfäche für verpönte (verdrängte) Wunschregungen der Masse. Das Fehlen alternativer Verarbeitungsrahmen oder Sinn- AntisemtiInnen zuzuschreiben. Davon rührt übrigens auch das stiftungsangebote kann geradezu als Einladung zu antisemiti- unumstößliche Wissen der AntisemtInnen: Sie durchschauen den schen Wahnbildungen angesehen werden. Insbesondere gilt: Je Juden, weil sie ihn selbst erschafen haben.51 weniger Platz eine Religion oder herrschende Kultur den ambi- Weil nach psychoanalytischer Teoriebildung der Antisemitis- valenten Gefühlen gegenüber Gott/Vater einräumt, desto größer der Hass der mit ihr Identifzierten gegen die Ungläubigen. Auf diese werden dann auch die nicht integrierten vatermörderischen 46 Vgl. Blumenberg, Yigal: „Die Crux mit dem Antisemitismus“. Zur Gegenbesetzung von Erinnerung, Herkommen und Tradition, in: Wünsche/Impulse projiziert. Weil das von Selbst- und Gottes- Psyche – Z Psychoanal 51, 1997, S. 1115-1160; Braun, Christina von: zweifel, Anklagen und Selbstbezichtigungen geprägte Judentum Einleitung, in: Dies.; Ziege, Eva-Maria (Hg.): „Das „bewegliche“ Vor- diese destruktiven Phantasmen der Symbolisierung erschlossen urteil“. Aspekte des internationalen Antisemitismus. Würzburg 2004, hat, zieht es sich bis heute den Zorn derer zu, die diesen Schritt S. 11-42; Wurmser, Léon: Ideen- und Wertewelt des Judentums. Eine nicht gegangen sind. Wenn das Wort wieder Fleisch geworden ist, psychoanalytische Sicht. Göttingen 2001, S. 137 ersetzt das Wunsch- und Trugbild die Realität, das Imaginäre 47 Horkheimer, Max; Adorno, Teodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1991, S. 186 48 Grunberger, Dessuant…a. a. O., S. 397 49 Mitscherlich, Alexander: Die Vorurteilskrankheit, in: Psyche Z Psy- 43 Heim, Robert: Fremdenhaß und Reinheit - die Aktualität einer Il- choanal 16, 1962, S. 241-245; hier: S. 242 lusion. Sozialpsychologische und psychoanalytische Überlegungen, in: 50 Freud, Sigmund: Das Unheimliche (1919), in: Ders.: GW XII, S. Psyche – Z Psychoanal 46, 1992, S. 710-729; hier: S. 711 227-268; hier: S. 231 44 Grunberger, Dessuant…a. a. O., S. 12f 51 Strozier, Charles B.: Denkstrukturen des Fundamentalismus. Psy- 45 Bohleber, Werner: Die Konstruktion imaginärer Gemeinschaften chologische Überlegungen zu Gewalt und Religion, in: Psyche - Z und das Bild von den Juden- unbewusste Determinanten des Antisemi- Psychoanal 63, 2009, S. 925-947; hier: S. 935. Strozier spricht vom tismus in Deutschland, in: Psyche – Z Psychoanal 51, 1997, S. 570-605; „Paranoiker“, der „den bösen Anderen [durchschaut], weil er ihn selbst hier: S. 591 geschafen hat.“

66 mus „ein endemisches pathologisches Geschehen unserer Kul- er/sie Mitglied einer Masse wird. Die Massenbildung wirkt homo- tur“52 ist, nimmt sie ihren Ausgangspunkt beim christlichen Ge- genisierend, ein vereinheitlichtes Massen-Ich tritt an die Stelle der gensatz zum Judentum, dem (unbewussten) Konfikt zwischen unterschiedlichen Individuen. Dabei wird „der psychische Ober- Sohnes- und Vaterreligion. Damit stellt sie sich implizit gegen die bau, der sich bei den Einzelnen so verschiedenartig entwickelt hat, ausgeprägte Neigung der Geschichtswissenschaft, eine strikte […] abgetragen, entkräftet und das bei allen gleichartige unbe- Abgrenzung zwischen den einzelnen Formen der Judenfeind- wusste Fundament wird bloßgelegt (wirksam gemacht).“60 Es ist schaft vorzunehmen. Vielmehr wird eine Kontinuität behaup- die Last der Zivilisation oder Kultur, die beim Eintritt in die Mas- tet, ausgehend vom ersten antisemitischen Vorwurf – dem des se abgeworfen wird, d.h. die Massenbildung wirkt befreiend: Das Gottesmordes, jenem „Paradigma kollektiver Projektion der Individuum kommt „in der Masse unter Bedingungen, die ihm christlichen Völker, das unsere Geschichte bis in die Gegenwart gestatten, die Verdrängungen seiner unbewußten Triebregungen bestimmt“53. Wie fast jeder antisemitischer Vorwurf beinhaltet abzuwerfen.“61 Das Massen-Ich fällt also der Regression anheim. auch und gerade der des Gottesmordes eine Projektion von ver- Ähnlich dem Zustand in der Hypnose oder im Traum „tritt in drängten Schuldgefühlen: Wenn sich der „göttliche Heiland“ der Seelentätigkeit der Masse die Realitätsprüfung zurück gegen sich nicht für mich geopfert hat, sondern ein Mordopfer der Ju- die Stärke der afektiv besetzten Wunschregungen.“62 Das Re- den war, ist es nicht mehr meine mittelbare Schuld (Sündhaftig- alitätsprinzip gilt für die ungeduldige und reizbare Masse nicht keit), die den Tod Jesu notwendig machte, sondern die unmit- mehr, sie hat zum Ziel die unmittelbare Befriedigung der oralen telbare Schuld der Juden. Die „opfertheoretische Deutung des Gier: „Sie verträgt keinen Aufschub zwischen ihrem Begehren und Kreuzestodes Jesu, deren […] paranoider Teil im Antijudaismus der Verwirklichung des Begehrten.“63 gewalttätig wurde“, dient der „kollektive[n] Ambivalenzmilde- Daneben unterliegt die Masse „der wahrhaft magischen Macht rung“54. Das „christliche Ich“ versucht die durch die dauernde von Worten“64. Diese Macht nutzt geschickt der Führer, der von imaginäre Wiederholung der Urtat im österlichen Ritual noch Erich Fromm als „magischer Helfer“65 beschrieben wurde. Tat- vergrößerte Schuld „dadurch loszuwerden, dass es die Kreuzi- sächlich hilft er über verschiedene narzisstische Kränkungen, wie gung Christi durch die Juden betont.“55 Diese (Blut-)Beschul- sie die Realität bereithält, hinweg. In einer Art „umgekehrter Psy- digung gilt als „Eckstein aller Feindseligkeiten der christlich choanalyse“ (Leo Löwenthal) nähert sich der Führer oder Agitator geprägten Kultur gegen die Juden“56 und kann mit Dan Diner als „sich in verschiedenen und jeweils zeitgemäßen Transforma- „seinem Publikum mit der genau gegenteiligen Intention, mit der tionen“ fortschreibender „Gründungsmythos einer ganzen Zivi- Analytiker auf den Analysanden zu geht. Die neurotischen Ängste, lisation“57 betrachtet werden. die kognitiven Verunsicherungen und Regressionsneigungen wer- den aufgegrifen und mit dem Zweck systematisch verstärkt, den Massenbildung gegen die Juden Patienten nicht mündig werden zu lassen.“66 Es heißt nun nicht, der Kontinuitätsthese widersprechen, wenn man auf die (massenmörderischen) Spezifka des modernen und Dieser Führer kehrt „einfach sein eigenes Unbewusstes nach au- rassistischen Antisemitismus hinweist. Aus psychoanalytischer ßen“67 und lädt dazu ein, seine pathologische innere Organisation Sicht sind hier vor allem die neuen Organisations- oder Verge- (primitiver Spaltungen und falscher Verknüpfungen) kollektiv zu meinschaftungsformen von Interesse. Tatsächlich betritt der mo- introjizieren. derne Antisemitismus die Bühne als Massenbewegung, was die Frage aufdrängt, ob es an und in der Masse etwas gibt, „was dem ße. Erstere seien „einfache(n), „unorganisierte(n)“ Massen“(ebd., S. Antisemitismus halbwegs entgegen kommt.“58 92), die in der Regel nur von kurzem Bestand sind; letztere „stabile(n) In seiner Analyse von Massenphänomenen machte Freud die Massen oder Vergesellschaftungen, in denen Menschen ihr Leben zu- 59 „Beobachtung der veränderten Reaktion des Einzelnen“ so bald bringen, die sich in den Institutionen der Gesellschaft verkörpern. Die Massen der ersteren Art sind den letzteren gleichsam aufgesetzt“. (ebd., S. 90) Er diferenziert daneben zwischen füchtigen und dauerhaften, 52 Mitscherlich, Vorurteilskrankheit…a. a. O., S. 241 homogenen und heterogenen, natürlichen und künstlichen, primitiven und hoch organisierten und vor allem zwischen führerlosen Massen 53 Beland, Hermann: Religiöse Wurzeln des Antisemitismus. Bemer- und solchen mit Führern. Hier interessieren vor allem füchtige, homo- kungen zur Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische Reli- genisierte und primitive Massen mit Führern und/oder einer Illusion gion und zu einigen neueren psychoanalytischen Beiträgen, in: Psyche (Ideologie). Zu deren Wesen gehört die Regression, welche „bei hoch – Z Psychoanal 45, 1991, S. 448-470; hier: 458 organisierten, künstlichen (Massen, Anm. A.P.), weitgehend hintange- 54 Ders.: Religion und Gewalt. Der Zusammenbruch der Ambivalenz- halten werden kann.“(ebd., S. 129) toleranz in der konzeptuellen Gewalt theologisch/politischer Begrifs- 60 Ebd., S. 78 bildungen, in: Psyche – Z Psychoanal 63, 2009, S. 877-906; hier: S. 888 61 Ebd., S. 79 55 Wangh…a. a. O., S. 1164 62 Ebd., S. 86 56 Ebd., S. 1163 63 Ebd,. S. 82 57 Diner, Dan: Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines „neuen Antisemitismus“, in: Rabinovici, Doron; Speck, 64 Ebd., S. 85 Ulrich; Sznaider, Nathan (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale 65 Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit. Zürich 1945, S. 173 Debatte. Frankfurt a. M. 2004, S. 310-329; hier: S. 320 66 Dubiel, Helmut: Das Gespenst des Populismus, in: Ders. (Hg.).: 58 Fenichel, Otto: Elemente einer psychoanalytischen Teorie des An- Populismus und Aufklärung. Frankfurt a. M. 1986, S. 33-50; hier: S. tisemitismus, in: Simmel…a. a. O., S. 35-57; hier S. 40 42 59 Freud, Massenpsychologie…a. a. O., hier: S. 77; Freud unterschei- 67 Adorno, Teodor W.: Die Freudsche Teorie und die Struktur der det idealtypisch zwischen der Masse als „pathologische Gruppe“(Ernst faschistischen Propaganda, in: Ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Ge- Simmel) oder „Hetzmasse“(Elias Canetti) und als zivilisatorische Grö- sellschaft. Frankfurt a. M., S. 34-66; hier: S. 59

67 Die Mitgliedschaft in einer derartigen Masse oder „pathologischen „von Anfang an ambivalent, sie kann sich ebenso zum Ausdruck Gruppe“68 verschaft dem Individuum also vielfältigen Gewinn. der Zärtlichkeit wie zum Wunsch der Beseitigung wenden. Sie Dieser besteht zunächst in der Verwerfung des Mangels, wobei benimmt sich wie ein Abkömmling der ersten oralen Phase der die so entstehende Leerstelle (das sich öfnende Loch im Imagi- Libidoorganisation, in welcher man sich das begehrte und ge- nären) mit kollektiven Größenphantasien zu füllen versucht wird. schätzte Objekt durch Essen einverleibte und es dabei als solches Mit dem Mangel wurde aber auch der „Vater“69, der den Verzicht vernichtete.“74 verlangt, verworfen. Insofern vermag der Massenmensch den Am- bivalenzkonfikt (zumindest vorübergehend) zu lösen: Der antisemitische Massenmensch löst diese Konfikte, indem er die aggressiven Anteile der Einverleibung, die orale Gier, auf die „Durch Teilhabe am Kollektiv-Ich der Masse kann er die veräu- Juden projiziert. Das ist die psychologische Wahrheit hinter den ßerlichte elterliche Gewalt in zwei Teile spalten: in den Führer, den Ritualmord- oder Blutbeschuldigungen. Der Antisemitismus er- er liebt und in den Juden, den er haßt.“70 scheint nun auch als Projektion der aggressiven Einverleibung des Objekts, des der Liebe vorausgehenden psychischen Kanni- Aufgrund der ihnen im antisemitischen Diskurs ausgehend vom balismus, auf welchen seine Subjekte regrediert sind.75 Gottesmordvorwurf zugeschriebenen Machtfülle eignen sich Ju- Schließlich weist Freud am Beispiel der religiösen Massen (Kir- den bestens als Ersatzautoritäten. chen) auf ein weiteres zentrales Charakteristikum der Mas- Mit der Rückkehr in die Verschmelzung mit dem primären Ob- senpsychologie hin: jekt (Mutter-Kind-Dyade), wie der Eintritt in eine Masse unbe- wusst erlebt wird71, stellt sich das Gefühl der Allmacht wieder ein. „Im Grunde ist ja jede Religion eine solche Religion der Liebe für Darum wirkt Massenbildung immer verführerisch, wie ein Sog. alle, die sie umfasst, und jeder liegt Grausamkeit und Intoleranz Viele Konfikte und Ängste bleiben jedoch auch in der Masse viru- gegen die nicht dazugehörigen nahe.“76 lent.72 Mehr noch: Gerade in der pathologischen Gruppe verdich- ten sich die Ängste und Phantasien einer Kultur, allen voran das An anderer Stelle wird er noch deutlicher, wenn er betont, dass Urphantasma der verschlingenden Mutter. Die Gruppendynamik aktiviert „oral-sadistische Phantasien und lässt sie ins Bewusstsein „das Gemeinschaftsgefühl der Massen […] zu seiner Ergän- der Gruppenteilnehmer vordringen.“73 Auch die (narzisstische) zung die Feindseligkeit gegen eine außenstehende Minderzahl Identifzierung der Gruppenmitglieder untereinander, die Schaf- [braucht]“77. fung eines imaginären Ersatzes für das erste verlorene Objekt, ist Tatsächlich scheinen in der abendländischen Kultur Jüdinnen und Juden als die prototypischen Anderen die Objekte des im In- 68 Eine Gruppenbildung ist dann als pathologisch zu bezeichnen, neren der Masse nicht erlaubten Hasses darzustellen. Der Me- „wenn sie dem ohnmächtigen Individuum vor allem dazu verhilft, un- chanismus der Projektion erlaubt es dabei, die Objekte des Has- sublimierte und uneingeschränkt destruktive Triebenergien abzufüh- ses als seine Subjekte erscheinen zu lassen. Die antisemitischen ren“. (Simmel a. a. O., S. 72) Massenmenschen erwehren sich der Juden, von welchen sie sich 69 Dieser „Vater“ist nicht identisch mit dem körperlichen Vater, son- verfolgt fühlen. dern steht für die ganze symbolische Ordnung. Schon zu Freuds Zeiten bestimmten aber bereits weniger die re- 70 Simmel…a. a. O., S. 73; vgl. Bohleber, Werner: Elemente einer ligiösen Massen den Alltag, sondern mehr die nationalisierten, psychoanalytischen Teorie des gegenwärtigen Antisemitismus in wobei die Formen der Gemeinschaftsbildung frappierende Ähn- Deutschland, in: Kiesel, Doron; Siegele-Wenschkewitz, Leonore (Hg.): lichkeiten aufweisen. Auch die Nation kann gegen die Juden kon- Der Aufklärung zum Trotz. Antisemitismus und politische Kultur in struiert werden, und so ist zu recht auf den engen Zusammen- Deutschland. Frankfurt a. M. 1998, S. 81-106; hier: S. 86 hang zwischen Antisemitismus und (völkischem) Nationalismus, 71 Vgl. Bohleber, Die Konstruktion…a. a. O., S. 588f, ders., Elemen- der im Europa der 1920er und 30er Jahre die Form einer poli- te…a. a. O., S. 95. Sandor Ferenczi erklärte den Wunsch nach Rück- tischen Religion angenommen hat, hingewiesen worden.78 Wie kehr in den Mutterleib zum menschlichen Grundbedürfnis, und von Otto Rank stammt die Tese, dass dieser Wunsch aus dem unbewus- bereits erwähnt, braucht es auch nicht länger einen Führer, um sten Versuch resultiert, das Trauma der Geburt zu überwinden. (Feren- czi, Sandor: Talassa. Versuch einer Genitaltheorie, in: Balint, Michael 74 Freud, Massenpsychologie…a. a. O., S. 116 (Hg.): Sandor Ferenzci Schriften zur Psychoanalyse. Auswahl in 2 Bde. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 2, S. 333f; Rank, Otto: Das Trauma der Ge- 75 Vgl. Simmel…a. a. O., S. 59; Arlow, Jacob A.: Aggression und Vor- burt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse. Leipzig, Wien, Zürich urteil: Psychoanalytische Betrachtungen zur Ritualmordbeschuldigung 1924). Wie immer man auch zu diesen Autoren und ihren Tesen ste- gegen die Juden, in: Psyche – Z Psychoanal 46, 1992, S. 1122-1132; hen mag, ihr großer (mit Melanie Klein zu teilender) Verdienst besteht hier: S. 1130 in der Überwindung der Fixierung auf die Rolle des (ödipalen) Vaters 76 Freud, Massenpsychologie…a. a. O., S. 107. „Der Haß gegen eine und der Betonung der Bedeutung der Mutter und der Trennung von bestimmte Person oder Institution könnte ebenso einigend wirken und ihr. ähnliche Gefühlsbindungen hervorrufen wie die positive Anhänglich- 72 Hinzu kommt ein spezifsches Schuldgefühl, welches sich im durch keit.“ (Ebd., S. 110) Massenbildungen charakterisierten Kulturfortschritt verstärkt: „Was 77 Ders., Der Mann Moses…a. a. O., S. 197 am Vater begonnen wurde, vollendet sich an der Masse.“ (Freud, Sig- 78 Vgl. Mosse, George L.: Die Nationalisierung der Massen. Von den mund: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Ders.: GW XIV, S. Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich. Frankfurt a. M., New York 419-506; hier: S. 492) Dieses Schuldgefühl steigert sich dann „zu Hö- 1993; Holz, Klaus: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie ei- hen, die der Einzelne schwer erträglich fndet“ (ebd.) – und darum so ner Weltanschauung. Hamburg 2001; Alter, Peter; Bärsch Claus-Ek- gerne am Juden ausagiert. kehard; Berghof, Peter (Hg.): Die Konstruktion der Nation gegen die 73 Bohleber, Die Konstruktion…a. a. O., S. 588 Juden. München 1999, insbes. S. 159-223

68 die Identifkationsprozesse und Regressionen auszulösen. Diese „Der Kastrationskomplex ist die tiefste unbewußte Wurzel des Aufgabe kann auch ein kollektives Ideal übernehmen: „Die Mas- Antisemitismus […]. Auch die Überhebung über das Weib hat se lechzt weniger nach einem Herrn als nach Illusionen.“79 Mit keine stärkere unbewußte Wurzel.“85 Chasseguet-Smirgel kann von der Existenz „virtueller Massen“80 angegangen werden. Je nach Grad des Fanatismus, mit welchem Hier ist der auch andernorts festgestellte Zusammenhang zwi- dem Gruppen-Ideal gerecht zu werden versucht und die Gruppe schen Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit/Anti-Femi- selbst idealisiert wird, kommt es auch in diesen Massen zu den nismus angedeutet.86 Nach der Erweiterung des Konzepts der analysierten Prozessen. Kastration, wonach diese nicht den Verlust des realen Penis Die Idealisierung der Eigengruppe (Nation) bedingt „die Abspal- meint, sondern den von Macht oder grundsätzlich jede Grenze tung des Bösen und dessen Projektion auf Feinde.“81 Insbeson- und Trennung, lässt sich an dieser Tese durchaus festhalten. dere die Vorstellungen von der eigenen Nation als Blutsgemein- Gegen die symbolische Kastration oder die Ausbildung eines ödi- schaft verstärken die Angst vor Verschmutzung und aktivieren die palen Über-Ichs, die notwendige Aufgabe der kindlichen Illusi- „Phantasie einer vorambivalenten narzisstischen Verschmelzung on der Allmacht, kann man sich nicht nur durch einen Fetisch, mit der Mutter“82. Zumeist in Verbindung mit organizistischen sondern auch durch narzisstische Identifkation schützen. Unter Gemeinschaftsbildern (Volkskörper) geben sie „auf der Phanta- dem Stern einer Mutter-Imago (z. B. Germania) schließen sich sieebene einer Sehnsucht nach organischer Einheit und Verei- die Identischen zum Bund oder zur Bruderschaft zusammen. nigung bzw. Verschmelzung Raum.“ Nun wird man zu einem Die männerbündische Idealisierung der (heiligen) Mutter, deren Reinheit nicht mit destruktiven Impulsen verschmutzt werden „Glied eines großen Ganzen. Im Unbewussten der Individuen darf, geht einher mit Entwertung von Weiblichkeit. Der wie jeder werden dadurch Phantasien aktiviert, die der frühinfantilen Hass aus Angst geborene Frauenhass ist jene verschobene Wut, Mutter-Kind-Beziehung entstammen. Das Heimatland […] wird die sich ursprünglich gegen die (verschlingende) Mutter richte- mit mütterlichen oder jungfräulichen Attributen ausgestattet.“ te.87 Es handelt sich bei diesem Zusammenschluss um eine

Im leidenschaftlichen Aufgehen im völkischen Ganzen, gestei- „narzisstische, auf Spiegel projizierte Regression […]. Diese Spie- gert bis zur Bereitschaft des Selbst-Opfers, gel sind die Mitglieder einer ‚auserwählten Bruderschaft’, die sich unter diesem Zwecke unter dem Schutz einer primitiven, nar- „wird die präödipale Vereinigung mit der Mutter wiedergefun- zisstischen magischen Mutterfgur bildet: eines Meisterdenkers, den. […] Diese illusionäre, omnipotent narzisstische Dualunion eines Idols, einer charismatischen Persönlichkeit, eines Messias, bildet den Kern der Attraktion, die das Phantasma der Nation einer Religion, einer Ideologie“88. auf das Individuum ausüben kann.“83 Aber nicht erst der Männerbund, sondern schon die pathologi- Grundlegung bei Freud sche Massenbildung an sich kann als primär-narzisstische Re- In den Gesammelten Werken Freuds fndet sich die erste Er- gression89 begrifen werden. In deren Verlauf wird die Eigen- wähnung des Antisemitismus – abgesehen von einer Stelle in der „Traumdeutung“84 – in einer Fußnote: während Rom für die katholische Kirche stand. Unmittelbar darunter erinnert sich Freud, wie er im Alter von zehn oder zwölf Jahren von 79 Chasseguet-Smirgel, Janine: Das Ichideal. Psychoanalytischer Essay seinem Vater erfuhr, dass dieser einmal als „Jud“insultiert und physisch über die „Krankheit der Idealität“. Frankfurt a. M. 1987, S. 86. Heinz attackiert worden war. Dass sein Vater vor dem Angreifer zurückgewi- Kohut verweist daneben auf die Möglichkeit, dass die Gruppenkohäsi- chen war, schien dem Sohn „nicht heldenhaft“(ebd., S. 203): „Ich stellte on dadurch hervorgebracht und aufrechterhalten wird, dass „dasselbe dieser Situation, die mich nicht befriedigte, eine andere gegenüber, die grandiose Selbst zum Gemeingut der Gruppe geworden ist.“ (Kohut, meinem Empfnden besser entsprach, die Szene, in welcher Hanibals Heinz: Überlegungen zum Narzissmus und zur narzisstischen Wut, in: Vater, Hamilkar Barkas, seinen Knaben vor dem Hausaltar schwören Psyche – Z Psychoanal 27, 1973, S. 513-554; hier: S. 552) läßt, an den Römern Rache zu nehmen. Seitdem hatte Hannibal einen 80 Chasseguet-Smirgel…a. a. O., S. 88 Platz in meinen Phantasien.“(ebd.) 81 Bohleber, Werner: Nationalismus, Fremdenhaß und Antisemitis- 85 Ders.: Analyse der Phobie eines fünfährigen Knaben (1909), in: mus. Psychoanalytische Überlegungen, in: Psyche – Z Psychoanal 46, GW VII, S. 241-377 ; hier: S. 271; vgl. Ders.: Eine Kindheitserinne- 1992, S. 689-709; hier: S. 704 rung des Leonardo da Vinci (1910), in: GW VIII, S. 127-212 ; hier: S. 165 82 Ebd., S. 701 86 Auch Horkheimer und Adorno weisen auf diesen Zusammenhang 83 Ebd., S. 703f. Der Vorwurf an die Jüdinnen und Juden, zum Opfer hin: „Die Erklärung des Hasses gegen das Weib als die schwächere an und damit zur Staatlichkeit nicht bereit und fähig zu sein, gehört zum geistiger und körperlicher Macht, die an ihrer Stirn das Siegel der Herr- Standardrepertoire des modernen Antisemitismus. Ihre „Unfähigkeit schaft trägt, ist zugleich die des Judenhasses.“ (Horkheimer, Adorno… [ ] zum Opfer“ (Otto Weininger) macht sie zu den prototypischen und a. a. O., S. 120) Vgl. Stögner, Karin: Über einige Gemeinsamkeiten von verweiblichten Anti-Helden. Vgl. Schiedel, Heribert: „Gegen die Zer- Antisemitismus und Antifeminismus, in: DÖW (Hg.): Jahrbuch 2005. setzung durch Intellekt und Trieb!“ Zum Hass der Antisemiten auf die Wien 2005, S. 38-51 Nicht-Identischen, in: Context XXI, Nr. 2-3/2006, S. 20-24 87 Vgl. Piven, Jerry S.: Terrorismus als Religionsersatz, in: Auchter…a. 84 „Die Bedeutung, welche die antisemitische Bewegung seither für a. O., S. 184-218; hier: S. 191 unser Gemütsleben gewonnen hat, verhalf dann den Gedanken und Empfndungen jener früheren Zeit zur Fixierung.“(Freud, Sigmund: 88 Grunberger, Dessuant…a. a. O., S. 70 Traumdeutung, in: Ders.: GW II/III, S. 202) Mit den „Gedanken und 89 Freud begrif die „Entwicklung des Ich“ auch als „Entfernung vom Empfndungen“meint Freud seine Identifkation mit dem jüdischen primären Narzißmus“mittels der „Libidoverschiebung auf ein […] Feldherren Hannibal, seinem „Lieblingsheld“während der Gymnasial- Ichideal“. Diese notwendige Distanzierung erzeuge „ein intensives jahre. Dieser symbolisierte für Freud die „Zähigkeit des Judentums“, Streben“nach Rückkehr in den Idealzustand. (Freud, Zur Einführung

69 gruppe zum „Ersatz für das verlorene [mütterliche, Anm. A. P.] Hier muss ein wichtiger Aspekt ergänzt werden: Im Judentum Objekt“90. Die Trennung (Kastration) wird rückgängig zu ma- wurde das Opfer sukzessive eingeschränkt, um schließlich ganz chen versucht, insofern wirkt die Allmacht verleihende Mitglied- verworfen oder verinnerlicht zu werden. An die Stelle des äu- schaft in solch einer Gruppe zunächst kontraphobisch. ßeren (rituellen) Opfers, welches passives Leiden in aktive Lust Im „Unbehagen in der Kultur“ deutet Freud erstmals die psy- verwandelt und somit der Neutralisierung narzisstischer Wut95 chische Funktion des Juden an, wenn er festhält, dass dieser „in dient, trat das Gesetz (moralisches Opfer). Dieser immense Trieb- der Welt des arischen Ideals“ „dieselbe ökonomisch entlastende verzicht scheint viele überfordert zu haben, und daher wurde der Rolle“ wie der Teufel habe.91 Erst im „Mann Moses“ wagt sich Kinder opfernde Gott wieder eingeführt und das Opfer im Pro- Freud vorsichtig an eine Analyse des Antisemitismus. Dabei zess der Desymbolisierung und im magischen Ritual der Kom- geht er von dessen religiösen Wurzeln aus und liefert zunächst munion wieder etabliert. Hier ist auch die Suche nach äußeren einen weiteren Hinweis auf den psychischen Kannibalismus Opfern (Sündenböcken) angesprochen, die immer dann einsetzt, (oralen Sadismus). So weist Freud darauf hin, dass der wenn das innere abgelehnt wird. Der Antisemitismus erscheint nun als Ausdruck einer „Opferkrise“ und füllt in allen seinen „Ritus der christlichen Kommunion, in der der Gläubige in Formen jene „Leerstelle, die das überwundene Opfer und den symbolischer Form Blut und Fleisch seines Gottes sich einver- unsichtbaren Gott zugleich symbolisiert.“96 Der Aufstand gegen leibt, Sinn und Inhalt der alten Totemmahlzeit wiederholt.“92 das Gesetz oder Gewissen, welches nicht nur von den Nazis als jüdische Erfndung denunziert worden war, die Wiederveräuße- Diese Einverleibung geschehe hier jedoch „nur in ihrem zärtli- rung des Opfers ging Hand in Hand mit dem Mord an den Re- chen, die Verehrung ausdrückenden, nicht in ihrem aggressiven präsentantInnen der Ödipalität, an denjenigen, die das Opferri- Sinn.“93 Die oralen Aggressionen werden im christlich geprägten tual zuerst überwunden haben.97 Unbewussten abgespalten und auf die Juden projiziert. Der Vor- Unter den zahlreichen Gründen des „Judenhasses“ hebt Freud wurf des Gottesmordes, der ja im Akt der Kommunion dauernd einen heraus, imaginär wiederholt wird, hat hierin eine unbewusste Ursache. Vor allem aber drücke sich im (christlichen) Antisemitismus „nämlich daß sie [die Jüdinnen und Juden, Anm. A.P.] allen ein schlechtes Gewissen aus, welches der Aufstand gegen den Bedrückungen trotzten, daß es den grausamsten Verfolgungen kastrierenden Vater/Gott und die Vergöttlichung Jesu nach sich nicht gelungen ist, sie auszurotten“98. zieht. Die fortdauernde jüdische Existenz allen Vernichtungsschlägen „Die Ambivalenz, die das Vaterverhältnis beherrscht, zeigte sich und jedem Assimilationsdruck zum Trotz kann sich der/die An- aber deutlich im Endergebnis der religiösen Neuerung. Angeb- tisemitIn nur mit der jüdischen Allmacht erklären.99 Daneben lich zur Versöhnung des Vatergottes bestimmt, ging sie in des- paart sich hier ein vages und unintegriertes Schuldgefühl – nach sen Entthronung und Beseitigung aus. Das Judentum war eine Auschwitz: ein Schuldkomplex100 – mit der Angst vor Rache, ab- Vaterreligion, das Christentum wurde eine Sohnesreligion. […] gewehrt im Verfolgungswahn von der alttestamentarischen Rach- In manchen Hinsichten bedeutete die neue Religion eine kultu- sucht. relle Regression gegen die ältere, jüdische […]. Die christliche Schließlich sei der Antisemitismus motiviert durch „die Eifer- Religion hielt die Höhe der Vergeistigung nicht ein, zu der sich sucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzug- das Judentum aufgeschwungen hatte. Sie war nicht mehr streng te Kind Gottvaters ausgab“ und welche „bei den anderen heute monotheistisch, übernahm von den umgebenden Völkern zahl- noch nicht überwunden ist, so als ob sie dem Anspruch Glauben reiche symbolische Riten, stellte die große Muttergottheit wie- geschenkt hätten.“101 Dass der Glaube an diesen „Anspruch“ be- der her und fand Platz zur Unterbringung vieler Göttergestal- ten des Polytheismus in durchsichtiger Verhüllung, obzwar in 95 Diese rührte aus der Hilfosigkeit angesichts der vielfältigen Be- untergeordneten Stellungen. Vor allem verschloß sie sich nicht drohungen durch die Naturgewalten. Undurchschaute gesellschaftliche […] dem Eindringen abergläubischer, magischer und mystischer Herrschaft hat die Natur als Auslöser dieser Bedrohungen abgelöst, was Elemente, die für die geistige Entwicklung der nächsten zwei den gekränkten Narzissmus geradezu zum Signum der Moderne wer- 94 Jahrtausende eine schwere Hemmung bedeuten sollten.“ den ließ. 96 Heim, Robert: Opferkult, Gewalt und ziviles Über-Ich. Psycho- analytische Kulturtheorie des Sündenbocks, in: Modena, Emilio (Hg.): Das Faschismus-Syndrom. Zur Psychoanalyse der Neuen Rechten in in den Narzissmus a. a. O., S. 167) Europa. Gießen 1998, S. 358-389; hier: S. 382 90 Chasseguet-Smirgel…a. a. O., S. 85 97 Vgl. Heinsohn, Gunnar: Was ist Antisemitismus? Frankfurt a. M. 91 Freud, Das Unbehagen…a. a. O., S. 479 1988; Simmel…a. a. O., S. 84; Wurmser…a. a. O., S. 19f 92 Ders., Der Mann Moses…a. a. O., S. 190 98 Freud, Der Mann Moses…a. a. O., S. 197 93 Ebd., S. 193f 99 Vgl. Löwenthal, Leo: Falsche Propheten. Studien zum Autoritaris- mus, in: Ders.: Schriften Bd. 3. Frankfurt a. M. 1990, S. 91 94 Ebd., S. 194. Daran anknüpfend formuliert Zizek: „Die verleugnete jüdisch-gespenstische Erzählung erzählt nicht die obszöne Geschichte 100 Dieses spezifsche Schuldgefühl wird von Adorno nicht zu Unrecht von Gottes undurchschaubarer Allmacht, sondern gerade ihr Gegen- als neurotisch bezeichnet. Die Überwindung des Komplexes hängt an teil, nämlich die Geschichte seiner Ohnmacht, die von den gängigen der Integration oder Annahme von Schuld „auch an dem, woran man heidnisch-obszönen Supplementen verhüllt wird. Dasjenige Geheim- im handgreifichen Sinne nicht schuldig ist.“(Adorno, Teodor W.: nis, dem die Juden die Treue halten, ist also der Schrecken göttlicher Schuld und Abwehr, in: Soziologische Schriften II, in: GS 9.2. Frank- Ohnmacht, und genau dieses Geheimnis wird im Christentum ‚ofen- furt a. M. 1975, S. 121-415; hier: S. 320) bart’.“ (Zizek…a. a. O., S. 72) 101 Freud, Der Mann Moses…a. a. O., S. 197

70 günstigt oder gar erst ermöglicht wird durch das Ressentiment Zusammenfassung und Präzisierung der dauernd zu kurz Gekommenen muss hier gegen eine über- Houston Stewart Chamberlain, gemeinsam mit seinem Schwie- strapazierte Korrespondenztheorie des Antisemitismus betont gervater Richard Wagner einer der Begründer der arischen Religi- werden. Zumal gerade psychoanalytisch orientierte Ansätze dazu on, wusste um die Herkunft des Über-Ichs aus der monotheisti- neigen, den (religiösen, kulturellen) Besonderheiten der Jüdin- schen Introversion des Opfers106: nen/Juden (zu) großes Augenmerk zu schenken.102 Auf jeden Fall ist es nicht als Schuldvorwurf gegen Jüdinnen und Juden zu ver- „Die Juden waren es, die die permanente Furcht vor der Sünde in stehen, wenn Freud darauf hinweist, dass unsere fröhliche Welt brachten.“107

„unter den Sitten, durch die sich die Juden absonderten, die der Im abendländischen Unbewussten ist der Jude mit dem Vater/ Beschneidung einen unliebsamen, unheimlichen Eindruck ge- Über-Ich identifziert, was durch die Überwindung des Opfers macht [hat], der sich wohl durch die Mahnung an die gefürchtete durch das Judentum gewissermaßen erleichtert wird. Kastration erklärt und damit an ein gern vergessenes Stück der urzeitlichen Vergangenheit rührt.“103 „Der Gott der Juden ist der Gott des Gewissens, der Triebbeherr- schung fordert. Er ist die Vergöttlichung des Über-Ichs.“108 Schließlich kommt Freud zum „späteste[n] Motiv dieser Reihe“: Man Weil das Judentum genau das getan hat, was im Erleben des Kindes der Vater tut, wurde der Jude „zur Abreaktion des ödipa- „sollte nicht vergessen, daß alle diese Völker erst in spät-histori- len Konfiktes und seiner Schuldängste gewählt“109. Grunberger schen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang spricht davon, dass das Judentum der/dem AntisemitIn „eine Ad dazu getrieben. Man könnte sagen, sie sind alle ‘schlecht getauft’, hoc-Unterstützung“110 für ihre/seine Projektionen bietet. Und unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, tatsächlich heißt es nicht, die Jüdinnen und Juden für den An- was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus tisemitismus verantwortlich zu machen, wenn er auch als Reak- huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufge- tionsbildung auf den zivilisierenden Beitrag des Judentums ver- drängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die standen wird. Hier wäre neben der Ersetzung des äußeren oder Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam. Die rituellen Opfers durch ein inneres oder moralisches, vor allem der Tatsache, daß die Evangelien eine Geschichte erzählen, die unter strenge Monotheismus samt seinem Zwang zur Symbolisierung Juden und eigentlich nur von Juden handelt, hat ihnen eine sol- oder Abstraktion, die Hochschätzung der Geistigkeit und das che Verschiebung erleichtert. Ihr Judenhaß ist im Grunde Chris- dialogische Prinzip samt dem immanenten Zweifel, die strikte tenhaß“.104 Trennung zwischen dem (eben auch triebbestimmten) Mensch- lichen und dem Göttlichen, die Trennung von Herrschaft und Diese im ersten Moment vielleicht etwas verwirrende Aussage Heil, der Vorzug des Diesseits gegenüber dem Jenseits111, das Pri- lässt sich dahin gehend verstehen, dass die Juden von Antisemi- mat der Idee von der Gerechtigkeit und vom Vorrang des Einzel- tInnen unbewusst für die Zumutungen der Zivilisation oder nen/Besonderen gegenüber dem Allgemeinen sowie das hartnäk- Kultur verantwortlich gemacht werden: Der Hass auf den abver- kige Beharren auf Versöhnung und Befreiung (Erlösung) schon langten Triebverzicht fndet sich ein Ventil im Hass auf diejeni- in dieser Welt zu nennen.112 gen, die das väterliche Gesetz repräsentieren. Der antisemitische Dass die Imagines des Juden im (abendländischen) Unbewussten Massenmensch identifziert sich nicht mit diesem Gesetz, das mit denen des kastrierenden Vaters überlagert werden, unterschei- nach der symbolischen Ermordung des Vaters angenommen (verin- det den Antisemitismus vom Rassismus, der sich seine Objekte nerlicht) worden ist, sondern mit dem tyrannischen Vater selbst. nur als kastriert (schwach) vorstellt. Er rebelliert gegen die Beschränkungen des Gesetzes, wobei ihm der faschistische Führer vorangeht. „Oft wird der Jude zum Ersatz für den verhassten Vater und nimmt in der Phantasie die Eigenschaften an, die zur Aufeh- „Psychologisch gesehen stellt der Faschismus eine Revolte von nung gegen den Vater herausfordern: Kälte, Herrschsucht, ja so- ‘Brüdern’ gegen die elterliche Autorität dar.“105 gar die des sexuellen Rivalen.“113

Der symbolische Vater erscheint ihm als der eigentliche Unter- drücker, während die tatsächlich unterdrückende Willkür des 106 Heim, Opferkult…a. a. O., S. 373f Führers als wertvoll und befreiend erlebt wird. Der antisemi- 107 Zit. n. Berliner, Bernhard: Einige religiöse Motive des Antisemitis- tische Pogrom wird dann zu einem „großartigen Fest für das mus, in: Simmel…a. a. O., S. 101-107; hier: S. 105 Ich“ (Freud), weil dieses darin alle Triebhemmungen fallen las- 108 Ebd., S. 101 sen kann, in der Gewalt weiter mit dem Ideal der Reinheit ver- 109 Grunberger…a. a. O., S. 266 schmilzt. 110 Grunberger, Dessuant…a. a. O., S. 172 111 Wie heute todessehnsüchtige Islamisten den Juden vorwerfen, sie würden das Leben lieben, so hat auch Hitler ihnen jede Religiosität ab- gesprochen, weil ihnen „der Glaube an eine Jenseits vollkommen fremd 102 Vgl. Claussen, Detlev: Über Psychoanalyse und Antisemitismus, ist. […] Tatsächlich ist auch der Talmud kein Buch zur Vorbereitung in: Psyche – Z Psychoanal 41, 1987, S. 1-21 für das Jenseits, sondern nur für ein praktisches und erträgliches Leben 103 Freud, Der Mann Moses…a. a. O., S. 198 im Diesseits.“(Hitler, Adolf: Mein Kampf. München 1942, S. 336) 104 Ebd. 112 Vgl. Wurmser…a. a. O., S. 40f 105 Löwenthal a. a. O., S. 58 113 Adorno, Teodor W.: Studien zum autoritären Charakter. Frank-

71 Als solcher bedroht er die Heimat (Mutter) mit Schändung. Wie „erscheint die Möglichkeit des Misserfolgs der Einführung der der/die Dritte, welche/r im heterosexistischen Patriarchat meist Diferenz in die Psyche des Subjekts, wenn die notwendigen Vor- der Mann/Vater ist, die Symbiose mit der präödipalen Mutter, so stellungen dafür fehlen: Das Kind hat das Symbolische nötig, stört der Jude die Identifkationsprozesse mit dem (nationalen) um diese Diferenz psychisch zu verarbeiten.“119 Kollektiv, das Urphantasma der Verschmelzung. Diese Tese trift sich mit moderneren Ansätzen der Antisemitismusfor- Die Individuation ist also extrem krisenanfällig und angstbesetzt schung, wonach der Jude nicht einfach ein Fremder ist, sondern – daher die vielen Anstrengungen, ihr auszuweichen. Gerade der Dritte jenseits des Eigenem und Fremden.114 der Antisemitismus erlaubt nun die Abwehr (Vermeidung) des Im Kern des Antisemitismus wurden „mächtige Vorstellungen Ödipus, er hat zu seinem Kern „die feindselige Besetzung und von Reinheit, Ganzheit, Unversehrtheit und ununterschiedenem Zerstörung der väterlichen Repräsentanz“120. In einer Art „pseu- Einssein“ behauptet. do-ödipalem Kampf“121 wird der Jude noch einmal kastriert, minderwertiger gemacht, so dass er nicht länger die narzisstische „Diese sind deshalb so dominat, weil sie der Abwehr von Phan- Illusion bedrohen kann. tasien und Ängsten über Versehrtheit, Beschädigung und Be- Die aktualisierte Angst vor der Kastration, welche mit den verbo- grenztheit, Trennung und Ausstoßung dienen, die, psychoana- tenen (oral-sadistischen) Wünschen und in anomischen Krisen122 lytisch gesprochen in den Kontext von Kastrationsvorstellungen noch wächst, wird nicht erst durch den Antisemitismus abge- und Autonomiekonfikten gehören.“115 wehrt, sondern schon im Prozess der Gruppenbildung von nar- zisstisch Identifzierten. Auch der in diesem Zusammenhang oft Diesen Phantasien und Ängsten kommt universeller Charakter zu Tage tretende Männlichkeitswahn hat Züge des Fetischismus: zu, was ihnen die Vorsilbe Ur- eingebracht hat. Mit der „Überbetonung des Maskulinen“123 wird die Kastrati- Mit dem Antisemitismus korrespondieren Urphantasien, die al- onsangst abzuwehren versucht. lesamt um ideale Zustände kreisen, und die dazugehörigen Äng- Es stellt sich hier die nicht abschließend zu beantwortende Frage, ste, die vor allem in Krisenzeiten reaktiviert werden: Vollkom- inwieweit das (soziale/psychische) Geschlecht die Schiefheilung menheit und Allmacht (Verschmelzung mit der Mutter), Urszene des Selbst auf Kosten von Jüdinnen und Juden determiniert. (Ausschluss aus dem elterlichen Schlafzimmer116/Beobachtung Grundsätzlich würde ich – im Falle seiner organisierten und der Eltern beim Koitus), Kastration (Trennung), Inzest117, Ge- historischen Formationen und nicht auf der Ebene der Einstel- schwisterneid118 und Ödipus. lungen – eine männliche Überdeterminiertheit des Antisemitis- Zunächst kennt das Kind keine (Geschlechter-)Diferenz und mus annehmen. Gleichzeitig kann mit Frenkel-Brunswick und keinen Mangel. Im Laufe der Entwicklung wird es mit dieser Sanford davon ausgegangen werden, dass, „im Ganzen gesehen, (ödipalen) Realität schmerzhaft konfrontiert. Die Angst rührt der antisemitische Mann die gleiche Persönlichkeitsstruktur auf- dann nicht einfach von der Kastrationsdrohung, vielmehr weist wie die antisemitische Frau. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied. Die antisemitischen Mädchen zeigen eine konven- tionelle weibliche Fassade und sind dahinter voll von Aggression. Der antisemitische Mann versteht sich als männlich, aggressiv und hart gesotten, dahinter liegt aber der Wunsch nach Passivi- furt a. M. 1999, S. 323; auch Klaus Horn betont, dass der Jude „im tät und Abhängigkeit.“124 Entscheidend ist also nicht eine spezi- Unbewussten als Repräsentant der gehassten, mächtigen, verbietenden Anteile der Vaterimago“erscheint. (Horn, Klaus: Zur politischen Psy- fsch weibliche oder männliche Psyche, wie dies etwa Margarete 125 chologie des Faschismus in Deutschland, in: Kühnl, Reinhard (Hg.): Mitscherlich suggerierte , sondern ein beiden Geschlechtern Texte zur Faschismusdiskussion. Bd. 1: Positionen und Kontroversen. gemeinsamer Konfikt mit ihren jeweiligen Rollen. Reinbek b. Hamburg 1974, S. 164-175; hier: S. 170) Die Konfrontation mit der Geschlechterdiferenz, die bei Mäd- 114 Vgl. Holz, Klaus: Die Figur des Dritten in der nationalen Ordnung chen und Jungen den Eindruck des Mangels und narzisstische der Welt, in: jour fxe initiative berlin (Hg.): Wie wird man fremd? Münster 2001, S. 26-52 115 Bohleber, Nationalismus…a. a. O. S. 707 119 Lipowatz…a. a. O., S. 236 116 Vgl. Brainin, Elisabeth; Ligeti, Vera; Teicher, Samy: Vom Gedan- 120 Blumenberg…a. a. O., S. 1141 ken zur Tat. Zur Psychoanalyse des Antisemitismus. Frankfurt a. M. 121 Grunberger, Dessuant…a. a. O., S. 335 1993, S. 47f 122 Freud weist in seiner Fetischismus-Schrift darauf hin, dass nicht 117 Vgl. Teweleit, Klaus: Männerphantasien 1 + 2. München, Zürich erst eine als bedrohlich erlebte Realität, sondern schon der ausgegebene 20022, Bd. 1, S. 114-145, S. 388-396 „Schrei“, „Tron und Altar sind in Gefahr“, reiche, um insbesondere an 118 Den narzisstisch Identifzierten kann der andere nur als störend, Herrschaft libidinös eng gebundene Erwachsene in kindliche „Panik“zu als Konkurrent um die mütterliche Brust erscheinen. Der/die Antisemi- versetzen, ihre Kastrationsangst zu aktualisieren (Ebd., S. 312). Je stär- tIn bringt sich mit der Behauptung, die anderen würden bevorzugt und ker sich jemand mit „Tron und Altar“, also mit der gesellschaftlichen er/sie zu kurz kommen, „in die Position des „ausgeschlossenen Kindes‘“ Autorität, identifziert, desto panischer und irrationaler reagiert er/sie (Lipowatz…a. a. O., S. 238). Zu Recht ist daher der Antisemitismus mit auf tatsächliche oder angebliche Gefährdungen dieser Autorität. dem Geschwisterneid in Verbindung gebracht worden. (Vgl. Loewen- 123 Wangh…a. a. O., S. 1157 berg…a. a. O., S. 1097; Arlow…a. a. O.) Der Neidproblematik kommt grundsätzlich ein gewichtiger Stellenwert bei in der Teoriebildung zu. 124 Frenkel-Brunswick, Else; Sanford, R. Nevitt: Die antisemitische Im Anschluss an Nietzsche kann das Ressentiment als verdrängter und Persönlichkeit. Ein Forschungsbericht, in: Simmel, Ernst (Hg.): Anti- dann wiedergekehrter Neid begrifen werden. (Vgl. Schultz-Venrath, semitismus. Frankfurt a. M. 1993, S. 119-147; hier: S. 143f. Ulrich; Haubl, Rolf: Globalisierung und Terror - (Un-)bewältigter 125 Mitscherlich, Margarete: Die friedfertige Frau. Eine psychoana- Neid als Ursprung von Krieg oder Zivilisation?, in: Auchter…a. a. O., lytische Untersuchung zur Aggression der Geschlechter. Frankfurt a. S. 88-113 ; hier: S. 95) M. 1987

72 Wiederverschmelzungswünsche hinterlässt, wird unterschied- lich verarbeitet. Während bei Mädchen

„die regressive Sehnsucht nach der Mutter ihre Weiblichkeit nicht in Frage [stellt], sondern allein ihre Autonomie“, bedro- hen bei „den Knaben hingegen […] regressive Wünsche nicht nur die Autonomie, sondern auch die eben entdeckte und sich entwickelnde Männlichkeit. So kommt es, dass fast alle Män- ner während ihres ganzen Lebens durch Stress und Veränderung ausgelöste regressive Wünsche als große Gefahr erleben. Jungen und Männer, die ihre Männlichkeit aggressiv zur Schau stellen, kämpfen immer auch gegen ihre inneren regressiven Wünsche und Phantasien. […] Die Entwertung und Abspaltung der weib- lichen Identifkationen helfen dem Jungen oder dem Mann, sein fragiles männliches Selbst intakt zu halten. Aus psychoanalyti- scher Sicht wird die Tese vertreten, dass der [rassistisch-antise- mitische, Anm. A.P.] Mensch […] tendenziell einer ist, der auch die sexuellen Unterschiede ablehnt.“126

Tatsächlich werden die AntisemitInnen

„leicht fanatisch, denn sie erregen sich unbewusst, wenn sie den ‚anderen‘ wahrnehmen, weil jedes unterschiedliche Individuum […] sie an das für sie Unmögliche und Unheimliche erinnert – an die Existenz der Geschlechterdiferenz.“127

Darin liegt die Strahlkraft der antisemitischen Illusion: Sie er- möglicht die Verleugnung der Diferenz (um sie dann auf mani- fester Ebene umso stärker gegen Gruppenfremde zu behaupten), der symbolischen Kastration und des Mangels, verspricht Reinheit und die Wiedererlangung des vorödipalen, nicht durch das väter- liche Gesetz beeinträchtigten Glückes.

Leicht überarbeitete und aktualisierte Version; Original aus: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Jahrbuch 2008. Schwerpunkt Antisemitismus. Wien 2008, S. 46-69.

Heribert Schiedel (Wien) hat am 21. November 2014 in Bremen einen Vortrag zum Tema „Marx und die „Judenfrage“ – Chan- cen und Grenzen der Kritik der politischen Ökonomie zur Er- klärung des Antisemitismus“ gehalten. Am 22. November 2014 gab er anschließend in einem Tagesseminar eine Einführung in kritische Teorien über Antisemitismus. Siehe: https://associazione.wordpress.com/2014/08/21/heribert-schie- del-wien-marx-und-die-judenfrage-chancen-und-grenzen- der-kritik-der-politischen-o%CC%88konomie-zur-erkla%C- C%88rung-des-antisemitismus/ Der Text „Die erste Lüge. Eine psychoanalytisch orientierte Kri- tik des Antisemitismus“ erschien erstmals 2008 im Jahrbuch des Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2008, S. 46-69. Wir danken dem Autor und dem Dokumentati- onsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) für die Erlaub- nis zum Nachdruck.

126 Nadig, Maya: Geschlechtsspezifsche Aspekte in fremdenfeindli- chen Abwehrformen, in: Modena…a. a. O., S. 330-357, hier: S. 342f; vgl. Chasseguet-Smirgel…a. a. O., S. 39f 127 Lipowatz…a. a. O., S. 238

73 Rainer Trampert Die Herren der Zinsen - Antisemitismus in Deutschland und anderen Staaten der Europäischen Union

Krisen waren immer ein fruchtbarer Acker für Verschwörungen, nahme seiner Partei würden alle Parteien »aus der Finanzindustrie Propagandalügen, religiöse und esoterische Faseleien. Vor der Auf- gesponsert«. In Wahrheit standen VW, Siemens und andere Wert- klärung sollten Juden Ernten verhext haben, nach der Aufklärung schöpfer bei allen Spendenskandalen in der ersten Reihe und wer- steigerte die Naturwissenschaft die Produktivität und maß den den die Leute in der Frühschicht, auf dem Bau, in der Bank oder Charakter des Menschen an der Ohrlänge, in der modernen Krise im Werbebüro auch dann keine Demokratie haben, wenn die Fi- teilen linke und rechte Antisemiten dümmlich oder aus Kalkül den nanzmärkte vom Staat reguliert sind. Das Gerede von der Diktatur Kapitalismus in Anlehnung an die falsche Kapitalismuskritik in der Finanzmärkte hat nur einen Sinn: den Mythos vom bösen raf- einen schafenden und einen rafenden, nehmen den schafenden fenden und guten schafenden Kapital am Leben zu halten. in ihre völkische Obhut und wähnen den rafenden in angloame- Die Aufspaltung ist wissenschaftlich falsch, weil Industrie, Dienst- rikanisch-jüdischen Händen. Die unwissenschaftliche Trennung leistungen und Finanz welt sich gegenseitig durchdringen und be- bildet den Nährboden für die doppelte Propaganda: Sie bietet der aufsichtigen. Und auch moralisch absurd, denn man müsste Spe- kapitalistischen Mehrwertproduktion einen Schutzraum, indem kulanten für moralischer halten als Unternehmer, die ihr asoziales sie die Schicht in der Fabrik oder auf dem Bau als das Produktive Dasein ofenbaren, indem sie andere Menschen für sich arbeiten heiligspricht, und schiebt alles Ungemach auf die Finanzen und da- lassen. Das ist wahres Schmarotzertum. Winkt kein adäquater Pro- mit auf ein Bündel von antisemitisch konnotierten Krisenbegrifen: ft in der Produktion, ist der Unternehmer genauso schnell mit der Speku lation, vagabundierende Finanzen, globale (internationale) Spekulation im Bund wie der Banker, um das Geld zu vermehren. Finanzen, Banken, Börsen, Wallstreet, New York, Zinsen. Wer Die großen Konzerne sind inzwischen ihre eigenen Banken, um will, fndet in dem Topf ein Stichwort, das zu seiner Verkümme- sich mit Anleihen zu refnanzieren, und selbstverständlich kauft rung passt. So ist die Krise wie alles, was mit Geld zu tun hat und und verkauft der Unternehmer Firmen wie die Private Equities die Suche nach Schuldigen sprießen lässt, ein Fundus für antisemi- (»Heuschrecken«). Wohin soll der AppleKonzern sonst mit seinem tische Verschwörungen, die sich mit dem Feindbild »Angloameri- Barvermögen von 160 Milliarden Dollar? Der ganze Komplex aus ka« verbrüdern, aber nicht müssen. Im Unterschied zum »Juden« Industrie, Handel, Banken und Staat ist zusammengewachsen. grenzt die Krisenpropaganda gegen die USA sich von einem wirk- Der Staat hilft der nationalen Wirtschaft im Inland, indem er für lichen Weltkonkurrenten ab. den Betriebsfrieden sorgt, im Ausland, indem er ihr die Wege für Die Trennung des Kapitalismus in den schafenden und rafenden seine Expansion ebnet. Andersrum versorgt das Kapital den Staat Sektor war bereits für die NS-Ideologie elementar, um die Mas- und vergütet das politische Personal mit Rentenverträgen. Beide sen an den »arischen« Wirtschaftsführer zu binden und Juden als gehören zur herrschenden Klasse, aber der Vorstandschef kassiert zinstreibende, sich ohne Arbeit bereichernde Schmarotzer zu stig- Millionen, der Kanzler, der ihm den Weg bis China öfnet, viel matisieren. Halt so wie »in der Tier- und Pfanzenwelt das schafen- weniger. Die Stafelung wahrt den demokratischen Schein. Die de und das parasitäre Prinzip vertreten ist«, sagte der NS-Ideologe Massen ahnen, dass sie nicht der Souverän sind, und wollen sich Alfred Rosenberg. Die Verschwörung ist eben nur ein waberndes am gewählten Personal rächen dürfen. Es soll schlecht bezahlt Gerücht ohne Bodenhaftung, denn in Wahrheit schlichen para- werden und moralischer sein als sie. Die Wirtschaft weiß das und sitäre »Herrenmenschen« in der Reichspogromnacht mit den von gleicht den Verlust aus. Während der Amtszeit mit einer Loge beim jüdischen Familien schmarotzten Standuhren, Radios und dem Opernball, danach mit einem Berater- oder Managervertrag. Spielzeug der jüdischen Kinder durch die Nacht. Adolf Hitler hielt viel von Gottfried Feder und dessen Werk »Manifest zur Brechung Die Verbindung zwischen Straße und Salon der Zinsknechtschaft«, weil Feder »mit rücksichtsloser Brutalität Nicht jedes Gerücht über Juden bedarf der Krise. Dafür ist der An- den ebenso spekulativen wie volkswirtschaftsschädlichen Charak- tisemitismus eine zu stete und üppig sprudelnde Quelle des Un- ter des Börsen- und Leihkapitals« sowie den »Zustand der Völker, heils. Aber die Aggressionen, die von der Angst vor Infa tion, Wäh- die unter der Geld- oder Zinsknechtschaft der alljüdischen Hochf- rungsreform, Geld- und Existenzverlust herrühren, schwellen in nanz stehen«, festgestellt habe (»Mein Kampf«). der Krise an, suchen Ventile und mischen sich in Europa mit dem Dass Krisen sich »auf den ersten Blick« und damit oberfächlich im arabisch-islamischen Raum tief verwurzelten Wunsch, Juden zu »als Kreditkrise und Geldkrise« darstellen (Marx), wird von linken, vertreiben. Nachdem sie aus den meisten arabischen Ländern ver- rechten und bürgerlichen Verschwörungsideologen zum Vorwand schwunden sind, geht es nun gegen die in »Israel«. Eine Antwort auf genommen, den Kapitalismus aufzuspalten und nutzbar zu ma- die Frage, ob der Antisemitismus in Europa in der Krise angewach- chen für die Propaganda gegen die Wall Street, den angloameri- sen ist, geben am besten Jüdinnen und Juden selbst. Der Antisemi- kanischen Kommerz oder New York, wo Eingeweihte Juden an der tismusbericht 2013 der European Union Agency for Fundamental Macht vermuten, und auch, um von der wahren Diktatur abzulen- Rights (Agentur der Europäischen Union für Grundrechte), kurz: ken, die noch immer in den Betrieben herrscht. Oskar Lafontaine FRA, hat 6 000 Jüdinnen und Juden in den acht europäischen Län- behauptet: »Erst wenn die Diktatur der Finanzmärkte gebrochen dern Belgien, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Ita lien, Schwe- wird, kann (…) die Demokratie wieder hergestellt werden«, und den, Großbritannien und Lettland, in denen die meisten Juden spricht verschwörerisch von der »gekauften Republik«. Mit Aus- wohnen, befragt. 76 Prozent antworteten, dass der Antisemitismus

74 in den vergangenen fünf Jahren stark angestiegen ist, 33 Prozent rer abreagiert, denen er andichtet, sich das zu erlauben, was er sich leben ständig mit der Angst, einer antisemitischen Attacke zum verbietet. Vermuten die Leute seiner Umgebung dasselbe wie er, Opfer zu fallen, die Hälfte erwartet, innerhalb eines Jahres Opfer wird die Wahnvorstellung zur Gewissheit. einer Hassattacke zu werden, 29 Prozent überlegen zu emigrieren. Antisemiten trauen sich wieder etwas. Nicht nur im Salon, in dem 80 Prozent der ungarischen Juden gaben an, dass sie von rechten Martin Walser, Günter Grass und Jakob Augstein über antijü- Gruppen bedroht werden, während in Frankreich 73 Prozent und dischen Gedichten brüten, auch auf der Straße. Sie marschieren in Belgien 60 Prozent angaben, hauptsächlich von mus limischen in Budapest, Berlin, Warschau und Paris. Das heutige Klima in Gruppen bedroht zu werden. Diese Zahlen sind in verschiedener Frankreich erinnert den Vorsitzenden des Dachverbands der jüdi- Hinsicht beeindruckend. Sie erzählen von einem Leben in täglicher schen Organisation (Crif), Roger Cukierman, an »das Deutschland Unsicherheit und Schutzlosigkeit, führen die Bedeutung eines in der dreißiger Jahre«. Genau an diese Epoche appelliert der Star-Ko- jeder Hinsicht zu sichernden jüdischen Staates vor Augen und ent- miker Frankreichs Dieudonné M’bala M’bala, ein antisemitischer larven einmal mehr die Aussagen von Jürgen Habermas und Peter Hetzer. Frankreich sei von Juden beherrscht, sagt er, und nennt sie Sloterdijk (und tausend anderen Antiamerikanern), dass die Kultur auf der Bühne »Drecksjuden«. Er bedauert, dass es keine Gaskam- in Europa und nicht in Amerika zu Hause sei, als Legitimation von mern mehr gibt, obwohl er ihre Existenz und den ganzen Holo- rundum miesen Gesellschaften aus Größenwahn. caust leugnet. Er wollte unbedingt Gast in der Morgensendung des Der Antisemitismus markiert die größte Massenbewegung in Eu- jüdischen Journalisten Patrick Cohen sein. Als der ihn nicht einlud, ropa. »Weit über 150 Milli onen Antisemiten leben in der EU, hat sagte Dieudonné: »Wenn ich an Cohen denke, kommen mir un- der israelische Antisemitismusforscher Manfred Gerstenfeld auf der weigerlich die Gaskammern in den Sinn.« Die Leute amüsieren sich Basis der von der Friedrich-Ebert-Stiftung initiierten Bielefelder über ihn und seine Judenwitze. Sie können gar nicht genug davon Studie von 2011 und den Bevölkerungszifern der entsprechenden bekommen. Der Höhepunkt seiner Show ist das Lied »Shoananas«, Länder errechnet; so viele EU-Bürger nämlich sind der Meinung, in dem er sich über Auschwitz lustig macht. Tausende singen mit. Israel führe einen ›Ausrottungsfeldzug‹ gegen die Palästinenser« Die Veranstaltungen sind ausverkauft – auch in der Schweiz. Der (Stefan Frank in Konkret 1/2014). Nach einer Forsa-Umfrage aus von ihm erfundene »Quenelle«-Gruß, bei dem zum Zeichen des Ju- dem Herbst 2013 stimmen 70 Prozent der Deutschen der Aussa- denhasses und des Vernichtungswunsches die linke Hand auf den ge zu, Israel verfolge seine Interessen ohne Rücksicht auf andere zum gesenkten Hitlergruß durchgestreckten rechten Arm gelegt Völker. Die Frage ist Teil des Problems. Die Befragten würden die wird, ist inzwischen so populär, dass viele Jugendliche sich in den deutsche Regierung, die aus Rücksicht auf Griechen und Chinesen Straßen und auf Schulhöfen so grüßen und der prominente franzö- handelte, selbstverständlich abwählen. Schon gar nicht berück- sische Fußballstar Anelka ihn nach seinem Tor für den englischen sichtigt sie, dass die Wahrung der Interessen der PLO, Hamas und Club West Bromwich Albion den Zuschauern im Stadion zeigte. Hisbol lah für Israel ein Selbstmordprogramm wäre. 57 Prozent der Ein Sponsor kündigte daraufhin seinen Vertrag. Die Banlieue-Ju- Deutschen glauben, Israel führe einen Vernichtungskrieg gegen gend ist besonders begeistert, aber auch die Mittelschicht pilgert zu die Palästinenser. Das sind erheblich mehr als im übrigen Europa seinen Veranstaltungen. Jean-Marie Le Pen, der ofen antisemiti- und erklärt sich aus der deutschen Geschichte. Der Antisemitismus sche Flügel der Le-Pen-Familie, ist Taufpate der Tochter von Dieu- nach 1945 muss mit dem Wissen um Auschwitz fertig werden. Je donné M’bala M’bala. Die französische Zivilgesellschaft lässt sich völkischer der Deutsche fühlt, desto unerträglicher ist für ihn der nirgendwo blicken. Vielleicht ist sie erschöpft vom Kampf gegen Gedanke, dass seine Sippe auf hoher Zivilisationsstufe doch nur ein die Homoehe, vielleicht beginnt auch eine neue Dreyfus-Afäre. Bluthund war. Deshalb soll an den Juden unbedingt etwas dran Dieudonnés Gesinnungsmix ist ein Angebot für Antisemiten in sein. den Migrantenszenen und für die, die ihre Solidarität auf Paläs- »Wenn der Bürger schon zugibt, dass der Antisemit im Unrecht tinenser einengen, ohne zu fragen, was die wollen. Meistens wün- ist, so will er wenigstens, dass auch das Opfer schuldig sei.« (Ador- schen sie Linke zum Teufel. Die Szenen, die Dieudonné M’bala no) Wohl auch deshalb stimmen 40,5 Prozent der Deutschen der M’bala nachlaufen, sind gegen den Rassismus, der sich gegen Aussage zu, dass Israel »die Palästinenser im Prinzip so behandelt, Schwarze und Araber richtet, haben Sympathie für die Radikali- wie die Nationalsozialisten die Juden«. Wer den Umstand, dass tät der Islamisten, lehnen den weißen Neokolonialismus ab, has- 20 Prozent der israelischen Bevölkerung Palästinenser sind, die in sen Juden und vermuten, dass sie hinter allem stecken. Genau das Israel arbeiten, studieren, zur Armee gehen, Richter sind, heiraten, Richtige für die beiden Frauen aus der Linkspartei, die mit der Ga- Auto fahren, wohnen, baden, feiern, zur Schule gehen, Rente bezie- za-Flottille 2010 zur Hamas vordringen wollten, damit der Weg für hen und sich ebenso vor Selbstmordattentätern fürchten wie Juden, Wafenlieferungen frei ist, und die sich unter dem Deck verstecken gleichsetzt mit der systematischen Vernichtung aller Juden auf der mussten, weil die islamischen Krieger fanden, dass Frauen an Deck Welt, ist von einer unheimlichen Mixtur aus Blödheit, Verbitte- nichts zu suchen hätten. Für Linke, zumal für deutsche, hätten die rung, Vorurteil und Hass gezeichnet. Das also trift auf fast jeden Abschiedsrufe im Hafen von Istanbul: »Tod den Juden!« eigentlich zweiten Deutschen zu. »Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine genügen müssen, das Schif zu verlassen. Die französischen Dieu- Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben«, schrieb Ador- donné-Anhänger leisten sich überdies die nationalistische Geste, no. Deshalb wirken Deutsche auch dann überzeugend, wenn sie die Marseillaise zu singen. Dieser wilde Politmix passt nicht zu puren Wahnsinn von sich geben. Wenn der Deutsche die Allmacht den Salonrechten, die keine Schwarzen, Rumänen oder Muslime will, sagt er nicht: »Ich will allmächtig sein!«, sondern verbreitet das sehen wollen. Auf einer Demonstration in Berlin riefen arabische Gerücht, die Juden seien allmächtig, weshalb man sich sofort ge- Frauen und Männer: »Juden, Juden, die Armee von Mohammed gen sie zur Wehr setzen müsse. Die große Zahl der Zustimmenden kommt!« und: »Deutschland! Deutschland! Sieh dich um, Isra- führt zur falschen Gewissheit. Die Projektion ist das Verfolgen ei- el bringt Kinder um« und: »Kindermörder! Kindermörder!« Eine gener Wünsche in anderen, ein Mechanismus, bei dem der Mensch Demonstrantin erläuterte der TV-Anstalt das Motiv ihres Hasses: das, was er für sich nicht gelten lässt, in sich verleugnet oder sich »Im Untergrund sind die, und wir sind alles Marionetten, mit de- verbietet, um der Norm zu genügen, sich über die Verfolgung ande- nen die spielen. Das geht alles von höheren Mächten aus. Ich will

75 jetzt niemandem etwas unterstellen, aber es geht mehr um Land weil Palästina dann wieder ein osmanisches Protektorat wäre. Die gewinnen und um Geld.« Geld, Landgewinn, Allmacht! Sie wollte Verschwörungsgeschichte gipfelt in der Behauptung: »Das syrische niemandem etwas unterstellen. Roger Waters von Pink Floyd ließ Gemetzel hat mit Israels ›Kriegseintritt‹ eine neue Stufe der Eskala- bei seinen Mammut-Events ein schwarzes Schwein als Ballon über tion erreicht.« Hier verliert das Gerücht jede Bodenhaftung. In Sy- die Köpfe der Fans kreisen. Auf dem Schwein waren die Symbole rien metzeln Assads Soldaten, die Hisbollah und diverse Jihadisten, des Bösen, darunter der Davidstern. Nicht einmal die Israel-Flag- die JW aber wähnt Israel da im Krieg! ge, sondern das Symbol, das Juden während der Naziherrschaft auf Je mehr man sich der Israel-Kritik der Linken nähert, desto of- dem Jackett tragen mussten. Am Ende des Konzertes wurde das fensichtlicher wird, dass sie sich gegen alle Juden und die Existenz Schwein abgeschossen. Die Menge jubelte. Ein deutscher Pink- Israels richtet. Nie würde die linke Propaganda Garibaldis Bewe- Floyd- Fan wurde gefragt, was das Schwein ausdrücken sollte. Er gung für die italienische Nation anzweifeln, während der »Zio- antwortete: »Faschismus im weitesten Sinne, alles, was uns Übles nismus« bei ihr nicht als historische Bewegung für eine jüdische will.« Und der Davidstern? »Schwierige Geschichte, aber der ge- Nation vorkommt, sondern, um der jüdischen Nation die Legiti- hört, glaube ich, mit zur Gewalt.« mität abzustreiten, nur als Wurmfortsatz des Imperialismus und als Hauptfeind der Menschheit. Die antisemitische Linke fordert für Die antisemitische linke Mehrheit Palästinenser den ganzen Staat, dasselbe Anliegen wird Juden ohne Das deutsche Zentralorgan für antisemitische Attacs und Linke Rücksicht auf ihre Verfolgungs- und Pogromgeschichte, die in die ist die Junge Welt (JW), die sich für links hält und deshalb nicht nationalsozialistische Totalvernichtung mündete, bestritten – von zu verwechseln ist mit der extrem rechten Jungen Freiheit, obwohl Anfang an. Die KPD beschimpfte Zionisten 1925 als »Kettenhun- beide mit Juden nicht zimperlich umgehen. Die JW deckt in ihrer de des englischen Imperialismus«. Heute sollen sie Handlanger des Ausgabe vom 9. September 2013 eine Verschwörung auf. Je weniger US-Imperialismus sein. Absichtsvoll soll der Jude es mit dem trei- an dem Gerücht dran ist, desto detailgetreuer ist der Bericht. Die ben, der den Weltmachtstatus hat, damit die Allmacht des Juden Amerikaner, schrieb sie, wollten Syrien angreifen und der Bundes- wabert. Während der antijüdischen Pogrome in Palästina schrieb nachrichtendienst (BND) und die Bild-Zeitung würden gemein- die Rote Fahne 1929 frohlockend: »Der Araberaufstand wächst.« sam »Stimmung für den Angrif« machen. Bild habe nämlich unter Der alte Wunsch vieler Linker, endlich einmal in der Mehrheit zu Berufung auf den BND berichtet, dass ein Spionageschif der Bun- sein – beim Antisemitismus geht er in Erfüllung. desmarine im östlichen Mittelmeer Funksprüche syrischer Kom- Dafür werden minimale linke Anliegen wie Demokratie und Hu- mandeure abgehört habe, die »von Präsident Baschar al-Assad die manismus preisgegeben. Die UN ist nicht ihre Organisation, aber Zustimmung zu einem Giftgaseinsatz gefordert haben« sollen. Die wenn die UN, in der hundert Diktatoren sitzen, Beschlüsse gegen JW vermutete sogleich eine jüdische Verschwörung: »Der BND ar- Israel fasst, beruft man sich auf sie, um den einzigen demokrati- beitet eng mit dem israelischen Mossad zusammen, der sogenannte schen Staat im Nahen und Mittleren Osten der Diktatur zu ver- Trojaner einsetzt, um andere Geheimdienste irrezuleiten.« Dazu dächtigen. Man verbündet sich mit solchen arabischen Fronten, die verstecke der Mossad auf einer kleinen Insel vor der Küste Syri- Israel beseitigen wollen, die jüdische Kinder, Frauen und Männer ens unter einem »künstlichen Felsen« ein Gerät, das Meldungen auf Marktplätzen und in Schulbussen in die Luft sprengen, jeden aufange, die »von der Desinformationsabteilung des Mossad ver- aus dem Gefängnis entlassenen Judenmörder enthusiastisch feiern schlüsselt ausgesendet« würden und nur von dem »Kommunikati- und von demokratischen und humanistischen Ideen Welten ent- onsgerät« unter dem Felsen aufgefangen werden könnten. Das Ge- fernt sind. Die antisemitische Linke fordert selbst nicht die Besei- rät strahle den Text dann »auf einer anderen, o fziellen Frequenz tigung Israels, sie lässt es ihre Verbündeten aussprechen und unter- im Feindesland aus«, die »wiederum von anderen Geheimdiensten miniert gleichzeitig Israels Existenz, indem sie Gerüchte verbreitet aufgefangen« werde, zum Beispiel vom BND, der den Text dann und seine angeblichen oder wirklichen Verfehlungen über alles in an Bild gibt. Man muss die Psyche des Antisemiten nicht analy- der Welt stellt. Selbst wenn es sich um selbstverständliche Sicher- siert haben, um zu begreifen: Hier grassiert der Wahn. Dass den heitsmaßnahmen gegen Attentäter handelt. Die Verblendung geht USA ein Angrifskrieg unterstellt wird, den sie auf keinen Fall woll- so weit, dass die Attentate in der linken Berichterstattung nicht vor- ten, nimmt man so hin. Aber warum rufen zwei befreundete Ge- kommen oder als Widerstand glorifziert werden. heimdienste sich nicht einfach an, sondern führen sich unter dem In der Wochenendausgabe vom 4./5. Oktober 2008, die Krise war Einsatz von Geräten im Meer gegenseitig in die Irre? Vielleicht aus auf ihrem Höhepunkt, widmete die Süddeutsche Zeitung (SZ) Freude am Beruf. dem ehemaligen Chef der US-Notenbank, Alan Greenspan, dem Durchaus nicht selten taucht in der JW ganz unvermittelt der Jude Sohn jüdischer Einwanderer, eine dreiviertel Seite. Ein großes auf. Werner Pirker schrieb über die Demonstrationen in der Tür- Farbfoto zeigte seinen Kopf von der Seite. Unter dem Foto stand: kei, die Regierung habe die Proteste nicht nur der Park rodung zu »Der Herr der Blasen«, rechts neben dem Foto die Frage: »Ist er der verdanken, auch »Ankaras Politik der Einmischung in syrische An- Teufel persönlich? Alan Greenspan (großes Foto), 82 Jahre alt, No- gelegenheiten wird von der türkischen Bevölkerung mehrheitlich tenbank-Legende, trägt für viele Experten eine Mitschuld an der abgelehnt«, und »Erdoğans neo-osmanische Ambitionen« fänden Finanzkrise. Jahrelang pumpte er Geld in den Markt und förderte »unter seinen Landsleuten keinen Anklang. Dass diese abenteuerli- die Immobilienblase.« Aus der Mitschuld wird eine Hauptschuld che Politik im (…) Einverständnis mit Israel erfolgt, macht sie für und am Ende die Alleinschuld: »Die Schatten, die sich knapp drei die patriotischen Kräfte des Landes vollends unakzeptabel.« Plötz- Jahre nach Greenspans Abgang auf sein Werk legen, werden im- lich ist der Jude da! Nichts wies auf ihn hin und der Zusammen- mer größer.« Für eine wachsende Zahl bedeutender Personen sei hang ist aus der Luft gegrifen. Die Türkei und Israel liegen im er »sogar einer der Hauptschuldigen des Debakels«: »Es besteht Streit. Mit dem Konfikt in der Türkei, der durch den Zusammen- kein Zweifel, dass Alan Greenspan die globale Finanzkrise auf dem prall von Moderne, religiöser Regression und Korruption entsteht, Gewissen hat«, sagt »ein amerikanischer Nobelpreisträger«. Ein hat Israel nichts zu tun. Israel ist schon gar nicht für die Islami- einzelner Mensch soll die Weltwirtschaft in den Abgrund gestürzt sierung der Türkei und für die neoosmanische Politik zu haben, haben? Ein Professor von der European Business School wurde

76 aufgetrieben: »Greenspan hat die Krise erfunden.« Das auch noch! die Opfer. Der Antisemit verhält sich zwangsläufg gegenüber Mil- Man kann sich den Unterrichtsstof der Business School lebhaft lionen Toten in Afrika rassistisch, weil ihm ein einziger, von Is- vorstellen. Wenn ein einziger Jude die Krise erfand, dann wird der rael getöteter Hamas-Krieger wertvoller ist als eine Million Tote Kapitalismus im Ganzen und an und für sich wohl krisenfrei sein. mit schwarzer Haut. Die Legende über das, was Juden anrichten Dabei sei Greenspan gar nicht viel eingefallen, nur: »Zinsen sen- können, impliziert die Notwendigkeit, sie in Ketten zu legen. Die ken«. Während die EZB in Europa mit Zustimmung der EU seit gleiche Methode hat Hitler gewählt, als er im Reichstag die Juden Jahren die Zinsen senkt, bis es kaum noch weiter nach unten geht, für den nächsten Weltkrieg verantwortlich machte und ankündig- hat Greenspan – dasselbe getan. Doch die unterstellten Absichten te, dass sie ihre Tat bereuen würden. Während Grass Legenden unterscheiden sich. Während die EZB die Wirtschaft mit den nied- in die Welt setzte, deutete Augstein die jüdische Weltherrschaft rigen Zinsen ankurbeln wollte, hat Greenspan die Zinsen laut SZ an: »Wenn es um Israel geht, gilt keine Regel mehr (…). Politik, gesenkt, »um die Börsen weltweit wieder auf Wachstumskurs zu Recht, Ökonomie – wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin des- bringen«. sen Willen.« Deutsche Politik, Justiz, Wirtschaft – das alles soll von Jerusalem aus gesteuert werden? Ob dieser Ohnmacht stellt er Religiöse Erlöserrhetorik verzweifelte Resignation zur Schau: »Israel bekommt das, was es Beide tun dasselbe, aber der Jude verfolgt damit die Absicht, die will.« Erst hätten »die Deutschen Hunderte von Millionen über- Börsenspekulanten mit Geld zu versorgen. Er habe Anleger »aus wiesen (…). Später haben sie U-Boote hinterhergeschickt.« Für Je- Festgeldern und Anleihen in Aktien« getrieben, weil »die Rendi- rusalem setze man alle »Regeln der guten Haushaltspolitik und der ten bei Staatspapieren nicht mehr stimmten«. Getrieben hat er sie. marktwirtschaftlichen Ordnung (…) außer Kraft«. Auch »die unseriösen Kreditvergaben und massenhaften Pleiten Der antisemitische Verschwörunstheoretiker geht bei allem, was soll Alan Greenspan mit seiner Fed befördert haben«. Er ist der All- geschieht, von der Schuld des Juden aus. Selbst wenn die Hamas mächtige! Man hatte es geahnt. Die Kreditvergabe an Private und 20 Raketen in der Woche auf Israel abschießt, schreibt er sie ei- Unternehmen ist nun wirklich Sache der Geschäftsbanken und ner Verzweifungstat oder einem notwendigen Widerstand zu. Der Firmenpleiten fallen nicht in seine Zuständigkeit. Nun interessiert verkehrte Opfer ritus impliziert, dass mit jeder Hamas-Rakete au- uns noch: »Wie reagiert der viel Gescholtene? (…) Tenor seiner Aus- tomatisch die jüdische Generalschuld wächst. Für Jakob Augstein sagen: ›Ich bin unschuldig!‹ So versucht Greenspan, sein Lebens- zum Beispiel ist die Bewafnung Israels nicht Schutz vor den Ver- werk zu retten: (…) Wie der ewige Optimist in die Zukunft blickt? nichtungsdrohungen, sondern eine Bedrohung für die Verkünder. Die jetzige Krise sei schlimmer als 1929, sagte er kürzlich. Viel- So werde der Iran durch Israel »genötigt«, »eine eigene Bombe zu leicht saß Greenspan vor dieser Analyse auch in seiner Badewanne. haben«, und jede Wafe für Israel erhöhe den Druck auf »arabi- Und sah, wie eine Seifenblase platzte.« Der mächtige Jude, der Herr sche Nachbarstaaten, selbst zum Mittel der nuklearen Aufrüstung über Zinsen, der Macher aller Krisen, der »Ewige«, der sich den zu greifen«. Den erklärten Feinden Israels die atomare Aufrüs- »Exzessen« verschrieb, sich aber nicht zu seiner Schuld bekannte. tung ans Herz zu legen und Israel die Entwafnung zu gönnen ist Es war Günter Grass, der die große jüdische Bluttat erfand. Israel eine Dialektik, die gedanklich die Vernichtung der Juden in Kauf wolle das iranische Volk »auslöschen« und bedrohe den Weltfrieden, nimmt. Augstein scheut nicht einmal Begrife, die Israel in die dichtete er. Er wollte die Juden unbedingt zu den Völkermördern Nähe des Dritten Reichs rücken. Er propagiert Gaza als »Endzeit zählen, um den deutschen Völkermord zu relativieren und um sich des Menschlichen«, als »ein Gefängnis. Ein Lager (!)«, wo Men- mit seiner SS-Vergangenheit zu versöhnen. Schon sein Weltfriede schen »zusammengepfercht hausen«. Die Gaza-Bewohner haben ist eine Lüge, die Millionen Kriegstote in Afrika für belanglos er- eine Lebenserwartung von 74 Jahren, so hoch wie in Ungarn und klärt. Mit derselben Impertinenz türmen Antisemiten fktive Op- höher als in der Türkei und über hundert Staaten, und sie können, ferberge auf, die Juden in künftigen Weltkriegen anrichten würden. wenn ihnen danach ist, Raketen auf Juden schießen. Man stößt Jakob Augstein, Mitinhaber des Spiegel, häufger Gast im Fernse- bei Augstein auf alle modernen Kriterien des Antisemitismus: das hen und auf Klausuren der Linkspartei, schwärmte, Günter Grass Vorurteilssyndrom bis zu wahnhaften Projektionen, die modernen habe zu Recht geschrieben, dass Israel »den ohnehin brüchigen Synonyme für Judenheit: Israel oder Jerusalem, den Grif nach der Weltfrieden« gefährde und einen Plan schmiede, der »das ira nische Weltherrschaft, die Störung eines vermeintlichen Weltfriedens, die Volk auslöschen« könne. »Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. jüdische Verantwortung für den nächsten Weltkrieg, die Täter-Op- Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt.« Er dankte fer-Umkehr bis zum unterstellten Völkermord, auf jüdische Blut- Grass, dass er es auf sich genommen habe, »diesen Satz für uns bäder und Kindsmorde. Man sollte dem Simon-Wiesenthal-Center alle auszusprechen«. Religiöse Erlöserrhetorik! Grass hat ihm und (SWC) dafür danken, dass sie die Weltöfentlichkeit auf den smar- den Deutschen den auf ihnen lastenden Fluch genommen. Sie kön- ten antisemitischen Dauerhetzer aus Deutschlands Top-Medien nen nun – unter Berufung auf ihren Nobelpreisträger – Juden des aufmerksam gemacht haben. beabsichtigten Völkermords und der Gefährdung des Weltfriedens bezichtigen, können also die schlimmsten Taten der Deutschen auf Juden projizieren. Und so führe Netanyahu »die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs«, schrieb Augs- Rainer Trampert (Hamburg) hat am 13. März 2015 in Bremen sein tein in Anspielung auf den »Anschwellenden Bocksgesang« von Buch „Europa zwischen Weltmacht und Zerfall“ vorgestellt. Siehe: Botho Strauß, mit dem der ausdrücken will, dass Stammeskulturen https://associazione.wordpress.com/2015/02/02/rainer-trampert- sich durch die Tötung Fremder naturhaft regenerieren. hamburg-europa-zwischen-weltmacht-und-zerfall/ Da den Juden weder Völkermord noch Weltkrieg anzulasten ist, Der Buchauszug erschien erstmals 2014 als Dossier in der Wochen- konzipieren Augstein und Grass eine fktive Welt, in der Juden es zeitung jungle world. Wir danken dem Autor, der jungle world und umso mörderischer treiben. Die realen Kriege stellen in der Schein- dem Schmetterling Verlag für die Erlaubnis zum Nachdruck. welt des Antisemiten kein Risiko dar – es gibt sie nicht. Auch nicht

77 Tomas Ebermann Geschichte der antinationalen Linken

Ja - das war ein schöner Zwang, der auf mich ausgeübt wurde - Neben dem materiellen Sieg, den diese Wiedervereinigung bedeu- ich habe die alten Bücher alle nochmal gelesen oder quergelesen, tete, gab es also so eine Art sozialpsychologischen Mehrwert. Ab also: Die Kongreßreader der Radikalen Linken und des Konkret- da wußte jeder: Man kann solche nationalsozialistischen Verbre- Kongresses und das einzigartige Werk von Rainer Trampert und chen begehen, ohne dafür bestraft zu werden, das wird jetzt als mir und vieles andere. Und nun hat man soviel gelesen und weiß: historische Tatsache sanktioniert. Eigentlich kann man den theoretischen Ansatz kaum referieren, C) Ein erheblicher Teil der Welt strukturierte sich neu, und zwar sondern lediglich so etwas wie methodisches Herangehen oder geradezu idealtypisch nach den Prinzipien der deutschen Ideologie. Haltung. Ich bitte Euch also, zu berücksichtigen, daß Ihr nicht Also die Sowjetunion, Jugoslawien, die Tschechoslowakei und ei- die Position in ihrer theoretischen oder analytischen Entfaltung niges mehr zerfelen präzise nach kulturell-ethnischen oder genea- kennen lernt, sondern nur - reinschnuppert. Deswegen lasse ich logischen Eigentümlichkeiten, also nach völkischen Kriterien. Als die Bücher, die man ja alle antiquarisch besorgen kann, nachher Unglücksfall galt in der allgemeinen Sicht, wenn ein „Volk“ auf ver- hier einen Augenblick liegen. schiedene Staaten verteilt sei oder in einem Staat mehrere „Völker“ Zweitens: Mir ist das Referat ein bißchen lang geworden, deswe- lebten. Die nationale oder nationalstaatliche Homogenität wurde gen arbeite ich vom Blatt lesend. Ich weiß, daß das stört - aber, apologisiert - ihr Gegenteil war das geschmähte und gegebenen- wenn ich frei spreche, dann komme ich immer so ins Erzählen. falls militärisch zu zerschlagende „Völkergefängnis“. Nationalismus Der Ausgangspunkt der antinationalen Linken war die Erkennt- also im engsten, im deutschesten Sinne, boomte. Einer der Gründe, nis und das Eingeständnis - also analytisch und emotional - einer daß die Begrife „antideutsch“ und „antinational“ damals häufg Niederlage, und zwar einer welthistorischen Regression, die sich synonym verwendet wurden, lag in der engen Beziehung, also der ab 1989 abzeichnete. Verschränkung der Punkte B) und C), also im Bild der „Natür- A) Es war also, oder würde bald sein, die ganze Welt unter Verfü- lichkeit“, gegen die zwar zeitweise, gegen die zwar temporär versto- gungsgewalt des Kapitals. Eine Ambition, die seit 1917, mal krie- ßen werden könne, die sich aber doch immer wieder Bahn brechen gerisch, mal diplomatisch, mal ökonomisch verfolgt worden war, muß. Die deutsche Wiedervereinigung war also die Wiederherstel- erfüllte sich. Diese Feststellung, das Registrieren dieses Triumphes lung einer Natürlichkeit - biologistisch gefaßt in der Formel Willi des Kapitalismus, beinhaltet nicht eine Aussage über die Qualität Brandts: „Nun wächst zusammen, was zusammen gehört“ -, und des unterlegenen Lagers, die Qualität des „real existierenden So- der Zerfall der künstlichen Produkte oder „Völkergefängnisse“ war zialismus“ also. der gleichen Natürlichkeit geschuldet. B) Deutschland vollzog die Wiedervereinigung, und zwar präzise Da das marktwirtschaftliche Denken „erfolgreich“ mit „rich- nach den Modaliltäten, die seit der Gründung der BRD Staats- tig“ gleichsetzt, und „erfolglos“ mit „falsch“, gerieten auch - und doktrin waren, also als Anschluß oder Einverleibung der DDR. mußten das auch - die fehlerhaften, beschädigten, deformierten, Das mußte bedeuten, daß die Restriktionen, die Deutschland manchmal ins Despotische transformierten Anläufe, eine klassen- auferlegt worden waren, also die begrenzte nationale Souveränität lose Gesellschaft zu errichten oder bloß ein menschenfreundliches - z.B., daß keine Kriege geführt werden konnten, wie es Staaten Regime, in den Ruf, gegen die natürlliche Ordnung verstoßen zu vergleichbaren ökonomischen Gewichts angemessen erschien - haben. überwunden werden würden und der Vergangenheit angehören Bestätigt fühlte sich der angepaßte, der leistungsbereite, sich von sollten. allem Protest lebenslang fernhaltende Biedermann, der schon im- Die Deutschen sind ja für den Nationalsozialismus nicht bestraft mer wußte, daß das zu nichts führt, und dieses schreckliche Selbst- worden. Im Westen war es karrierefördernder Vorteil, in der NS- bewußtsein - biedermännische Selbstbewußtsein -, war auch die DAP gewesen zu sein, und in der DDR wurde die Schuld an eine Struktur der Begegnung zwischen den BRD-Triumphatoren und winzige Herrschaftsschicht delegiert und so dem Proletariat und denen ihr Empfangsgeld kassierenden Bürgern der DDR, die Be- terminologisch auch der Bauernschaft Freispruch erteilt. Aber: Ob- lehrung erhielten. wohl sie nicht bestraft wurden, haben die Deutschen sich ein Be- Ich komme auf meinen einleitenden Satz zurück: Welthistorische straftsein selbst attestiert oder suggeriert: Zum Beispiel, daß man Niederlage als der alles entscheidende Ausgangspunkt der antina- ja leider nicht reden könne, wie einem der Schnabel gewachsen tionalen Linken. ist, wegen der hüben wie drüben stationierten alliierten Aufpasser, Gestattet mir einen Umweg. Manchmal werde ich übrigens den daß man bei staatspolitischen Entscheidungen seinen Standpunkt Terminus „ich“ benutzen, nicht, weil ich mich so einzigartig inter- relativieren müsse an Anforderungen oder sogenannten Diktaten essant fnde, sondern weil ich nicht vereinnahmen will. der Siegermächte - ganz ausgeprägt etwa bei den Wiedergutma- Um 1990 war eine Grundstimmung obsolet, hinfällig, unhaltbar: chungszahlungen an Israel oder der Nichtverjährung von natio- Ich - oder wir - Linksradikale unterschiedlicher Provenienz hatten nalsozialistischen Verbrechen. Immer war im Raum: Wir würden uns rund 20 Jahre als Bestandteil einer weltpolitischen Verände- eigentlich gerne anders entscheiden, aber es gibt da Aufpasser. Und rung zum Besseren verstanden. Zu unterschiedlichen Zeiten, in un- als die höchste und schärfste Bestrafung haben sie eben die deut- terschiedlicher Weise, in den ´70er Jahren zum Beispiel stark von sche Teilung interpretiert. der Hofnung geprägt, daß die antikolonialen und anti-neokolo-

78 nialen Befreiungsbewegungen und ihre Siege in Vietnam, Latein- ches, aber doch progressives Bewußtsein nur so wimmeln würde. amerika und Afrika die Spielräume der imperialstischen Staaten so Ich will nun einige Bespiele berichten für - ich sage das einleitend - beschneiden könnten, daß die Metropolen in krisenhafte Prozesse Haltungen, also nicht: theoretische Ausarbeitungen, die die Bereit- geraten, welche emanzipatorische Auswege ermöglichen würden. schaft des antinationalen Lagers, oder jedenfalls eines relevanten Wir hatten uns ziemlich angestrengt und reingehängt, um im Pro- Teils davon, wirklich nur schlaglichtartig beleuchten können. letariat ein nicht-sozialpartnerschaftliches Milieu zu konstituieren. Die Radikale Linke hatte ja eine ihrer programmatischen Erklä- Zeitweise hatten wir zum Beispiel in Hamburg einen Zuspruch rungen betitelt: „Wir wollen die Kraft der Negation sein!“. Eine von über 30 % für Listen, die von Linksradikalen initiiert worden erkennbare Variante war das Hauptmotto des Konkret-Kongresses waren, in industriellen Großbetrieben - trotz Gewerkschaftsaus- im Jahre 1993, das lautete: „Nein, wir lieben dieses Land und sei- schluß. Es gab Erscheinungen von Massenmilitanz in den Neuen ne Leute nicht!“. Die wohl größte antinationale oder gleichzeitig Sozialen Bewegungen, zum Beispiel in der Anti-AKW-Bewegung, antinationale und antideutsche Demonstration am 12. Mai 1990 und es gab in den `80er Jahren - auch das muß ich natürlich sagen in Frankfurt stand unter der Hauptparole: „Nie wieder Deutsch- - eine einigermaßen gute Parlamentsfraktion in der Hamburger land!“, und negatorischer kann ein Motto kaum sein, denn diese Bürgerschaft. Jedenfalls war sie fern der „Standort“-Logik und den Parole postuliert ja kein anderes, besseres, friedliebenderes, nach ei- Anforderungen einer Kapitalismus-immanenten Regierungspar- nem anderen Paragraphen wiedervereinigtes Deutschland, sondern tei. Das Verhältnis zu den, dem parlamentarischen Weg grund- negiert selbiges. - Es war zugleich eine Parole oder ein Motto, das sätzlich kritisch gegenüberstehenden, Autonomen war gut. Also: sozusagen unbefeckt war von der Hofnung auf seine Realisierung. Das Gefühl - das nicht nur aus der Luft gegrifene, eine nicht nur Rainer Trampert, einer der Redner der Abschlußkundgebung, for- aus der Luft gegrifene Selbstüberschätzung - kann ich so bündeln: mulierte das so: Von den rund 40 Jahren, die ich nun ungefähr erwachsen bin, fällt die Hälfte der Zeit meiner gesellschaftlichen Leidenschaften un- „Mir genügen jeweils deutsche Geschichte, hemmungslose ter das Motto: Es ist jedenfalls - vielleicht - möglich, diese starren deutsche Gegenwart und die Zukunftsvision, um zu sagen: Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, es könnte möglicherweise Für die Menschen überall auf der Welt ist ein zerhacktes vielleicht später einmal um reale Hegemoniebewegung, um die Deutschland das Beste. Wer sagt, das sei unrealistisch, hat Frage der Hegemonie gehen. Man verortete sich, das war aus die- Recht!“ ser Position logisch abzuleiten, am äußersten linken Flügel realer Bewegungen. Dieses festzustellen, und zwar ganz ohne Spott und - Einen ähnlichen Gedanken, sehr sorgsam darauf bedacht, den unangemessene Dissidenz heißt nicht, daß ich oder wir immer su- falschen Eindruck zu vermeiden, man stelle eine gesellschaftliche pergut drauf waren, sozusagen immer optimistisch, zuversichtlich, Macht dar, formulierte Hermann L. Gremliza auf dem Kongreß ungebrochen, des Weltgeistes und seines Rückenwindes sicher, der Radikalen Linken 1990, als er sagte: ständig singend: Es hat jetzt angefangen, wir werden immer mehr. Das alles wirklich nicht, dafür waren die Krisen, die Brüche und „Was gäbe es dagegen zu tun? Mitmachen, um Schlimmeres das nicht Weiter wissen auch in diesen 20 Jahren oft viel zu fett. zu verhindern, wie die approbierte deutsche Opposition rät? Und wir steckten Ende der ´80er in allerschwerster Ratlosigkeit Mir scheint, das Schlimmste, was zu verhindern wäre, sind - wir waren ja erschüttert von der gewaltigen Integrationskraft die- Illusionen, die sich die Nachbarn in Ost und West vom wun- ses reichen deutschen Staates und seiner Fähigkeit, ehemals latent dersam gewandelten Nationalcharakter der Deutschen ma- Rebellisches zu zähmen und wieder einzugliedern. Wir wußten, chen könnten.“ „Wir dürfen nicht behaupten,“ fährt er fort, wir haben bei den Grünen ausgespielt. Aber auch die Autonomen, „daß die antinationale Opposition mehr ist als eine Gruppe mit denen wir uns in der Radikalen Linken zusammenfanden - hypermarginalisierter Outlaws - wie das Blatt der Sozialis- zunächst nicht motiviert von der deutschen Wiedervereinigung -, tischen Studiengruppen über uns schreibt. Immerhin stellt konstatierten den gleichen Schwund in ihrem Lager. uns diese Einsicht aber vor die Aufgabe, zugunsten keiner Diesen Exkurs habe ich nur aus einem Grund gemacht: Nicht, wie auch immer gearteter Verbreiterung dieses Kreises oder um zu schmähen und nicht, um zu glorifzieren. Ich wollte sagen: gar einer sogenannten „Bündnisfähigkeit“ die Radikalität der Man stand tatsächlich vor einem über-individuellen, also nicht hier Versammelten zu domestizieren, dem Verlangen nach durch taktische Klugheit oder theoretische Korrektur behebba- Quantität nicht die geringste Qualität zu opfern, also: Nein ren - Scherbenhaufen! Wer Erfolg im Sinne von Hegemoniever- zu Deutschland - nicht, obwohl wir wissen, daß es nicht zu schiebung oder gesamtgesellschaftlichem Prozeß zur Bedingung, verhindern ist und bis zum letzten Augenblick noch so tun zur Voraussetzung seines gesellschaftskritischen Agierens machen wollen, als ob - sondern weil wir es wissen und es auch sagen, würde, das wußten wir, wird damit aufhören. Es gab also so eine unsere politische Ohnmacht nicht verbergen.“ Art Notwendigkeit einer Besinnung, Refektion, Neubestimmung - was mache ich, was machen wir - unter den Bedingungen einer Diese Ohnmacht nicht zu verbergen: Das ging tatsächlich in zahl- nicht außer Kraft setzbaren Marginalität, Randständigkeit. Na- reiche demonstrative oder symbolische Gesten ein. Zum Beispiel, türlich war diese Fragestellung - wie immer - nur die Fragestellung als sich die Gruppe um die Zeitschrift AK , „Analyse und Kritik“, einer krassen Minderheit unter denen, die sich in der Selbstveror- spaltete, hielten die Realisten es für ein gelungenes Argument ge- tung Linke nannten. Die überwältigende Mehrheit faßte das his- gen ihre Kontrahenten, diesen vorzuhalten: Wenn sie sich von den torische Desaster überhaupt nicht als solches auf, sondern sprach wirklichen geschichtlichen Prozessen und ihren Möglichkeiten ab- und schrieb routiniert und wie immer unberührt von Chancen sentieren wollten, also die nun einmal kommende Wiedervereini- und Gefahren, die bekanntlich jeder Situation innewohnen. Hoch gung nicht mildernd gestalten wollten, dann sollten sie doch gleich im Kurs stand in diesem Milieu auch die bittere rhetorische For- auf die Bahamas gehen - sozusagen sich ins Wolkenkuckucksheim mel vom „geduldigen Bohren dicker Bretter“ und natürlich das oder den Elfenbeinturm verziehen. Darauf nannte sich die abge- Postulat, daß es von Anknüpfungspunkten an zwar unzulängli- spaltene Minderheit bzw. ihr Zirkular „Bahamas“. - Eine ähnliche

79 Interpretation ist ersichtlich aus dem Untertitel des antinationalen Vorgang des Einkaufens. Welche Joghurt-Marke nehme ich, wel- Blattes „17° Celsius“, das als Unterzeile prangen ließ: „Zeitschrift ches Angebot ist preisgünstiger? für den Rest“ - was übrigens eine schöne Persifage auf die Unter- Die ideologische Wirkungsmacht entfalten diese falschen Alterna- zeile der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ist. tiven dadurch, daß sie, jedenfalls im Regelfall, a) tatsächliche gra- Um noch einen Augenblick bei der Haltung zu verbleiben, die spä- duelle Diferenzen aufweisen, es also ein kleineres Übel wirklich ter bei einem riesigen, wahrscheinlich Großteil verloren ging, viel- gibt, und b) daß sie gleichzeitig die Grenzen defnieren, in denen leicht noch einige Zitate, die damals so eine gewisse Präambel- oder ein Standpunkt noch als vernünftig, rational, diskussionswürdig leitmotivische Funktion hatten für unsere Aufsätze politisch-theo- gilt. Und dieser Standpunkt kann eben nicht das große Nein zum retischer Art, z.B. das Adorno-Zitat: Ganzen, die Verweigerung, die Negation sein. Nimmt man diesen Standpunkt ein, ist man verrückt, Utopist oder Ähnliches - also „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, sich von der genau das, was die bürgerliche Gesellschaft niemandem zubilligt, Macht der Anderen und der eigenen Ohnmacht nicht dumm es sei denn, in Ausnahmefällen den Künstlern. machen zu lassen.“ Ich will nun einige Polaritäten, die damals speziell im Angebot wa- ren und heute teilweise noch im Angebot sind - falsche Polaritäten Die in dieser Sequenz behauptete Quelle der Verblödung - die -, nennen: Ohnmacht also -, fordert nicht nur Wertschätzung der Arbeit am Damals sehr im Angebot war: Pogrom, brandschatzen, öfentlich Begrif oder Wertschätzung der Anstrengung des analytischen vom Mob bejubeltes Niederbrennen von Asylbewerber-Zentren Begreifens, das auch gewiß - sondern sie bricht auch mit einem versus das Veranstalten von Lichterketten. Natürlich waren die falschen, die Geschichte der Linken durchziehenden Ansehen der Pogrome von etablierter Politik und Medien herbeigeredet und Teorie. Ich meine die Behauptung, die falsche Behauptung, daß herbeigeschrieben: Das Boot sei voll, die Überfutung unerträg- die Teorie oder die Ideologiekritik ein Instrument oder eine Art lich, die Angst vor Überfremdung so legitim wie die Sorge um die Taschenlampe sei, die, sofern sie nur richtig ist, den praktisch er- Verausgabung staatlichen Geldes an minderwertige Fremde. Na- folgreichen Weg erkennt bzw. ausleuchtet. Teorie kann richtig türlich liegt für den, der ruft, und manipulativ dazu aufgerufen und wirkungslos sein. wird, zu rufen: „Wir sind ein Volk!“ besonders nahe, daß mit jenen, Die Interpretation der Welt, das „sich nicht dumm machen lassen“, die eben nicht zum deutsch defnierten Volk gehören, besonders stieg im Ansehen und damit erfuhr die letzte Feuerbach-Tese von bestialisch umzuspringen sei, und selbstverständlich beinhaltet ja Karl Marx, daß es nicht darauf ankäme, die Welt zu interpretieren, die gefeierte Überwindung der begrenzten nationalen Souveränität, sondern sie zu verändern, in gewisser Weise Relativierung, man daß die Konzessionen im Angesicht von Besatzungstruppen - also schätzte auch eine gute Interpretation der Welt. Aufpassern - , die die Deutschen der Tatsache des Nationalsozia- Verworfen wurde die bei allen Bewegungs- und Bündnispolitikern lismus unfreiwillig machen mußten, abgebaut werden, also Abbau so beliebte (ich meine das durchaus selbstkritisch) Bezugnahme auf des Asylrechts. eine Bemerkung von Karl Marx am Ende seiner Randglossen zum Die Lichterketten-Veranstalter nun hatten als ihren Konsens for- Gothaer Programm. Diese Randglossen, eine kritische und sehr muliert, daß die Novellierung, also die faktische Abschafung des akribische und ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem Asylrechts, nicht Gegenstand ihres Protestes sein sollte, sondern Einfuß Lasalles auf die Sozialdemokratie seiner Zeit, bergen bei die Pogrome. Also der nicht staatlich, legal, ordnungsgemäß or- Karl Marx ja auch die Feststellung, daß ein Schritt realer Bewe- ganisierte Schrecken. Starke Betonung lag auf der Rettung bzw. gung wichtiger sei oder schwerer wiege, als hundert Programme. Wiederherstellung des Ansehens Deutschlands in der Welt und der Diese Winzigkeit geriet einer gewaltigen Masse an Bewegungs-Ar- damit zusammenhängenden Exportwirtschaft. Und öfter wurde chitekten und Bewegungs-Ingenieuren zur falschen Legitimation, auch erwähnt, daß doch der überwältigende Teil der Ausländer es mit dem Inhalt nicht so genau zu nehmen, stattdessen der Zahl Steuern zahlend, Rentenkassen fnanzierend und Bruttosozialpro- oder der mobilisierten Masse oder ihrer Militanz die Priorität ein- dukt steigernd sei. Das Angebotene versus: Eine solche Alternative zuräumen. nicht zu akzeptieren, sich nicht bei den Lichterketten einzureihen Damit wurde gebrochen. - Und ich will noch ein letztes Zitat von - ein übrigens sehr heftiger Streit damals, denn z.B. die Autonome Adorno, das den Selbstanspruch dieser neuen Strömung, glaube Antifa wollte in ihrer Mehrheit den linken Flügel der Lichterketten ich, ganz gut charakterisierte, weil es öfter auftauchte, und auch bilden - scheint mir auch heute noch richtig. eine Schlüsselrolle im Vorwort zu dem Buch von Rainer Trampert Viele Konstellationen wiesen und weisen ja Ähnlichkeiten zum und mir - „Ofenbarung der Propheten“ - spielt, vorstellen. Adorno eben bebilderten Beispiel auf, ich betone, bevor ich weiter wirklich schreibt: nur anreiße, daß, den angebotenen Alternativen sich zu verweigern, nicht, ganz und gar nicht Äquidistanz, also gleicher Abstand be- „Frei wäre erst, wer keinen Alternativen sich beugen müßte, deutet. und im Bestehenden ist es eine Spur von Freiheit, ihnen sich zu verweigern.“ Also: Zweitens. Im Angebot war und ist die Frontstellung zwischen deutschem, Die angebotenen Alternativen, denen sich intellektuell unterzuord- einen wesentlichen historischen Hintergrund des Nationalsozia- nen selbst die Spur von Freiheit auszulöschen bedeutet, sind ja die lismus bildenden völkischen Nationalismus, also der behaupteten großen ideologischen Stabilisatoren der demokratisch verfaßten, Unentrinnbarkeit der besonders wahnhaften Schicksalsgemein- also nicht diktatorisch organisierten, Marktwirtschaft. Johannes schaft und - auf der anderen Seite des versus - dem republikanischen Agnoli hat das detailliert in seinem Buch „Transformation der De- Nationalismus, der für sich ja beansprucht, die Unterordnung des mokratie“ dargestellt. Ihre ideologische Wirkungsmacht, in die das Individuums unter die Belange der Nation ebenso unlöslich zu be- bürgerliche Subjekt ja eingeübt ist, weil - unter den angebotenen werkstelligen, sich aber als Willensgemeinschaft versteht, also je- Alternativen die bessere Variante auszusuchen, ist ja der tägliche denfalls theoretisch einer freiwilligen, bewußten, eben nicht bloß

80 schicksalhaften Zusammengehörigkeit der Staatsbürger naheliegt. Weltmarktkonkurrenz, also entlang der Frage, welchem Staat ge- Bemerkenswerterweise stimmt das Postulat des „Verfassungspa- lingt es denn, einen Reichtum-Transfer von woanders auf sein Ter- triotismus“, also Habermas´ Variante, aus welchen Gründen wir ritorium zu lenken, kann man, um es mal moralisch zu sagen, zum auf Deutschland stolz sein sollen, mit dem klassischen Konstrukt Beispiel Deutschland mit seiner Export-Quote nicht als Leidenden der „Schicksalsgemeinschaft“ in einem Punkt überein, nämlich in unter der Globalisierung sehen, sondern muß ihn einfach als Täter dem: Daß es den Deutschen bis 1989 an Nationalismus gemangelt auf der Weltmarktkonkurrenz-Bühne betrachten. habe, daß sie zu sehr auf Wohlstand, Selbstverwirklichung und so etwas fxiert gewesen seien. Dem wollten beide abhelfen. Ein letztes falsches Versus unter Viertens: Dieser Alternative galt und gilt Verweigerung. Ähnliches, weil eng Die Verweigerung einer letzten Alternative, einer falschen Al- an diesen Diskurs angelehnt, wäre zu sagen zur Polarität zwischen ternative, soll nur angedeutet werden. Man kann übrigens auch Pro-Westlern und Germanophilen - wenn Ihr immer bedenkt: Ich Kriegsgegner sein, also die geostrategischen und machtpolitischen rede nicht von Äquidistanz. Faktoren eines imperialistischen Krieges von den verlogenen, z.B. menschenrechtlichen Begründungen zu scheiden verstehen, ohne Drittens. dadurch Bestandteil einer Friedensbewegung werden zu können. Ein Versus zwischen Falschem und Falschem besteht meines Er- Dieses gilt besonders dann, wenn die Friedensbewegung oder ihre achtens auch in der Gegenüberstellung von Neoliberalismus und Mehrheit oder ihre Hauptredner selbst einen zwischenimperialis- Deregulierung auf der einen und sogenanntem Wohlfahrtsstaat tischen Widerspruch in ein moralisches Urteil - im Regelfall der bzw. Keynesianismus auf der anderen Seite. Behauptung der moralischen Qualität Deutschlands - verwandeln. Politökonomisch gesprochen, ist der Keynesianismus kein taugli- Dies war bekanntlich im letzten Irak-Krieg mit den Danksagungen ches Instrument, die Krisenzyklen des Kapitalismus zu bändigen. an Schröder und Fischer massiv der Fall. Der antizyklische Eingrif des Staates über Investitionsprogramme Und ein letzter Verweis: Man kann den deutschen Anti-Amerika- oder sogenannte „Kaufkraftstärkung“ verschiebt die dem Kapita- nismus übrigens auch scheußlich fnden, ohne zu einer Idealisie- lismus innewohnende Krise nur zeitlich zu einer größeren Entla- rung der US-amerikanischen Politik zu gelangen. dung. Aber selbst wenn ich mit dieser analytischen Feststellung Die Radikale Linke hatte bekanntlich eine kurze Lebensdauer. Sie Unrecht hätte, was ich natürlich nicht habe, aber selbst wenn ich zerfel. Die Spaltungslinien waren damals einerseits die neu und für Unrecht hätte, wieviel Zerstörung von Menschsein, von Kreativität uns nicht überraschend auftauchende Strömung des Bellizismus, fand und fndet denn statt in den Jahren des regulierten Kapitalis- also das Befürworten, Anfeuern, Überbieten des Krieges gegen den mus, als die Lohnabhängigen auch nicht mehr als Anhängsel der Irak im Jahre 1991 und das unbedingt Partei-sein-wollen in diesem Maschine waren, nicht mehr als variables Kapital, dem Verschleiß Krieg, und zweitens ein Sog, den die PDS auf viele Mitstreiter der preisgegeben, der Konkurrenz und der durch die Art der Produkti- Radikalen Linken ausübte. Dazu später. onsweise in ihr ganzes kaputtes, alle Bedürfnisse determinierendes Ich möchte eigentlich die Problematik des Zerfalls gar nicht gerne Funktionieren gepreßt. Wer am Kapitalismus nur seine Krisenhaf- bebildern an Kräften, die mir heute so fern stehen, daß ich sie sozu- tigkeit kritisieren kann, ist kein Kritiker dieser Gesellschaftsforma- sagen für nicht satisfaktionsfähig halte, daß eine Polemik mit ihnen tion. den Zweck jeder Polemik, also daß die Reibung am kontroversen Besonders perfde wird es, wenn die falsche Idealisierung der Argument den Streitenden selbst klüger macht, nicht mehr erfüllt. keynesianischen Epoche auch noch mit den positiven nationalen Wer etwa solche Bücher wie aus dem Umfeld der „Jungen Welt“ Eigenschaften Ausschmückung erfährt, also z.B. den „Rheinischen zum irakischen Widerstand liest, in denen dieser apologisiert wird Kapitalismus“ den Deutschen also apologisiert. Auch hier eine fal- und als wichtigste sozialrevolutionäre Kraft in Nahen Osten die sche theoretisch-analytische Position, in diesem Fall die falsche Be- Hisbollah geadelt wird, der muß schon an sich eine Zuneigung oder hauptung vom Bedeutungsverlust der Staaten, sie seien zu bloßen ein Faible für Genuß- und Freiheitsverachtung, Unterdrückung Staubecken degradiert, eilfertig bemüht, einige Rinnsale der von von Frauen, Zerstörung von Individualität und für Antisemitismus ihnen unabhängigen Kapitalströme auf ihr Territorium zu lenken, in sich selbst haben. Sowas ist erledigt, obwohl ich weiß, ein paar was sich gerade ziemlich blamiert. Also, 700 Milliarden im ersten von denen sind eigentlich besser, sie können nur nicht ertragen, als Zug ist nicht gerade Ausdruck von Hilfosigkeit! Also die falsche Nicht-Bestandteil weltpolitischer Polaritäten zu leben, sie brauchen analytische Position erfährt eine viel gefährlichere nationalistische einen großen Bruder oder einen starken Freund. Transformation - nämlich die Sorge, ob das Kapital in Deutsch- Ebenfalls erledigt für mich ist, wer desinteressiert an tatsächlichem land noch in deutscher Hand sei. Einhergehend mit der Behaup- Leid ist, das ja auch von den westlichen oder US-amerikanischen tung, daß dann irgendwie Sozialverantwortlichkeit herrschen Armeen und ihren Verbündeten vor Ort verursacht wird. Wer also würde, während erst das fremde Kapital so richtig unangenehme die Taliban schmäht, und zwar zu recht, und General Dosthum - Eigenschaften besäße, also in erster Linie auf das dem deutschen den Warlord - für einen Mann der Aufklärung, Emanzipation und Unternehmer völlig fremde Ziel der Rendite abziele und dem dä- Befreiung erachtet, wie es die „Bahamas“ getan hat, .... habe ich monischen Shareholder-Value fröne. Eine falsche und gefährliche keine Lust mehr. Nur ein Zitat, um zu bebildern, was ich meine, Gegenüberstellung beinhaltet hier das Versus zwischen national um darzustellen, wozu Propaganda, also die Zurechtbiegung aller fundiert und anonym. Der anonyme Finanzmarkt mit all´ seinen Tatsachen zum Zwecke ungebrochener Parteilichkeit, zum Zwecke Geheimnissen ist eben antisemitisch insofern konnotiert, als gerade der Herstellung von Identität und Zugehörigkeitsgefühl, führt, ein das unfaßbare geheimnisvolle „Verschwörerische“ und die Auftei- Zitat. Das Zitat ist von Tomas Uwer und Tomas von der Osten- lung in „schafend“ und „rafend“ ein wesentliches Moment der Sacken und es handelt vom Irak-Krieg, sie schreiben: Reproduktion von Antisemitismus ist. Wer Globalisierung sagt, möchte im Regelfall den zutrefenden analytischen Begrif der „Keine andere Intervention hat - von Somalia bis zum Koso- von nationalen Ökonomien veranstalteten Weltmarktkonkurrenz vo und Afghanistan - derart tiefgreifende positive Verände- vermeiden. Denn: Spricht man in der analytischen Kategorie der rungen bewirkt.“

81 Es fällt auf: Bei ihnen heißt der Krieg jetzt pfichtgemäß Interven- „Die Welt ist so schrecklich multipolar, wie sich das die Kri- tion, nebenbei wird behauptet, die kriegerischen Veranstaltungen tiker der USA immer gewünscht haben. Sie ist gezeichnet gegen Jugoslawien und in Somalia hätten positive Veränderungen durch das Ringen um geostrategische Vorteile, um Rohstof- herbeigeführt, nur eben nicht so tiefgreifende, und die Zahl der quellen, um Zugang zu Öl und Gas, um dominante und un- Toten, der aus dem Irak Gefüchteten, der auch unter der iraki- terlegene Währungen. Da werden abermillionen Menschen schen Regierung und ihren halblegalen Milizen Leidenden, die ja in Stellung gebracht, auch als Kanonenfutter und Humanka- auch Tugendterror durchaus verbreiten oder bandenmäßig Loya- pital. Der Islamismus ist eine Komponente in dieser weltwei- lität organisieren, all das sei zu vernachlässigen. Auch das ist für ten Konkurrenzschlacht. Wo er sich auf das Drangsalieren mich erledigt. der eigenen Subalternen beschränkt, erfährt er Anerkennung Ich will eigentlich lieber etwas Komplizierteres, Subtileres erklären, durch den Westen, die Aufrüstung Saudi-Arabiens beweist und wähle ein ziemlich langes Interview oder Streitgespräch mit das doch. Auch zukünftig werden Kompradoren natürlich einer von mir - bitte beachtet das! -, mit einer von mir geschätzten disfunktional werden.“ Zeitschrift, die heißt „Phase 2“ und ist aus dem Niedergang der Autonomen Antifa hervorgegangen, um einiges theoretisch zu re- Es kommt die Antwort oder die Gegenposition: fektieren. Das Gespräch hat zum Gegenstand, in einer falsch eingerichteten „Du sagst also: Es sind die imperialistischen Strukturen, wie Welt, in einer verrückten Welt, die von nationalstaatlicher Frag- man sie kennt, im Irak und Afghanistan genauso wie gegen- mentierung geprägt ist, in der Nationalstaaten bzw. ihre Bündnisse über Polen oder Rußland. In der Konsequenz heißt das dann: und Zusammenschlüsse ihre materiellen Interessen ermitteln und Es gibt keinen neuen Feind da draußen. Gegenüber der Po- auf Kosten Anderer diese gewaltsam zur Geltung bringen, die im- sition von Teilen der immer noch kritischen Linken, die den manente Logik - also das, was Herbert Marcuse instrumentelle Krieg befürwortet, weil das realistisch sei und den Verhält- Vernunft nennt - dieser Staaten zu erforschen. Wir sind in dem Ge- nissen ohne wirklich progressive Kräfte gerecht werde, sagst spräch also in allerlei Weltgegenden argumentativ zugange - mal in Du, daß es für Dich auch kein revolutionäres Subjekt gibt. Polen, mal beim Dalai Lama, mal in Pakistan. Wie es so ist - einiges Was aber ist Deine politische Perspektive, die vielleicht auch versteht man nicht und man bemüht sich, nicht stammtischartig zu noch Praxis zuläßt?“ reden. Man versucht, geostrategische Ambitionen zu ermitteln, ihre ideologischen Beschönigungen zu destruieren und auch die neben Och, Mann ... Unterzeile so einer schönen Zeitung: „Zeitschrift ge- der Kategorie des Interesses selbstverständlich bestehende Katego- gen die Realität“. Dreimal fällt das Argument, sie wollen realistisch rie des Wahns, also z.B. des Antisemitismus, zu berücksichtigen. Es sein. Was soll ich antworten? Ich sage: kommt dann zu einer Passage, in der ich auszudrücken versuche, daß der Gegner eines bestimmten Krieges sich ziemlich lächerlich „Schade, daß ich nun auch noch beweisen soll, daß meine macht, wenn er - wie das bürgerliche Bewußtsein es verlangt - sei- Perspektive auch noch Praxis zuläßt. Sie könnte - hypothe- ne Kriegsgegnerschaft eintauscht gegen ein konstruktiv-kreatives tisch gesprochen - ja auch richtig sein, wenn der Weg zur Erfnden einer irgendwie gearteten Nachkriegsordnung. Zum Bei- Praxis versperrt wäre.“ spiel auf dem Balkan: Wenn man doch Gegner der Zerschlagung Jugoslawiens war, kann man schwer noch mitdiskutieren, wie sich Dann komme ich wahnsinnig unter Druck und denke: Oooch, jetzt genau Mazedonien zu Bosnien-Herzegowina verhalten soll. nicht schon wieder heute, daß ich der Praxisfeind bin! Und, obwohl Es liegt ja auch auf der Hand, um ein sachfremdes Argument zu ich das eigentlich gar nicht will, sondern verachte, lasse ich mich benutzen: Wer Gegner der Atomenergie ist, schreibt nicht gleich hinreißen, auch noch ein Beispiel für angemessene Praxis abzulie- die staatlichen Katastrophenpläne - wenn es dann hochgeht, so ein fern und sage: Ding. Die Antwort, die Gegenposition, die meine - ich betone das noch- „Aber gut, ich unterwerfe mich Deiner Anforderung. Ich mal, relativen Freunde aus der „Phase 2“-Redaktion formulieren, konstruiere eine kleine, einfußlose Gruppe, die etwa das lautet: Welche politische Perspektive hat man denn da noch? Und: Vorgehen im Irak der amerikanischen Einheiten ungefähr Ist die Verstrickung in die Debatte über das Alltägliche nicht viel- so kommentiert: (Ich mache also selbst eine Projektion, wie leicht sogar die unbequemere Situation im Vergleich zur herkömm- Ihr merkt:) Die sagen, das zynische Verhältnis zu dem Wort lichen antikapitalistischen Kritik der Linken? - Wer so redet, setzt Kollateralschaden akzeptieren wir nicht. Wir wollen auch ein a priori, behauptet von sich selbst, er brauche eine politische nicht akzeptieren, daß Späne fallen, wo gehobelt wird. Die Perspektive, sonst erscheint ihm sein in-der-Welt-Sein sinnlos. Er Nonchalance, mit der die Interventionisten über das Leid braucht Parteilichkeit, kennt die - um es mal in klassischen Wor- und die Opfer des Krieges hinweggehen, ist mir unerträglich. ten zu sagen - Position des revolutionären Defaitismus nicht. Das Gleichzeitig fürchten wir uns vor den irakischen Staatspar- ist natürlich im Regelfall autosuggestiv, das ist selbstbetrügerisch, teien. Wir kennen deren Verbindung zu den Milizen. Diese denn die „Phase 2“ mit ihren vielleicht 1000 oder 2000 Lesern hat morden, und wo ihre Drohung so stark ist, daß kein Wider- ja den gleichen Status wie ich, sie kommentieren nur, was in der stand sich regt, herrscht Friedhofsruhe. Gleich groß ist unsere Welt außerhalb ihrer und meiner Vorschläge und Wünsche von- Angst vor dem irakischen Widerstand, ob er in Gestalt von Al statten geht. Niemand, der Macht hat, hört zu, was die oder ich Quaida, der abgetakelten Baathisten oder des Rates der Reli- meinen. Ich will aber trotzdem, um die Subtilität dieser Diferenz gionsgelehrten auftritt. Wir haben auch nicht vergessen, daß noch ein bißchen zu beleuchten - und nicht, weil ich mich gern in den ´90er Jahren die beiden großen kurdischen Parteien, selbst zitiere, wirklich nicht -, eine Passage aus diesem Streitge- die jeweils Clans repräsentieren, aufeinander losgingen. Das spräch vorlesen. Ich habe extra eine gesucht, wo ich auch ziemlich hat Tausende das Leben gekostet, als Saddam Hussein auf hilfos aussehe. Ich sage - so ein bißchen bilanzierend: die kurdischen Gebiete keinen Zugrif hatte. Es blieb unbe-

82 straft. - Und natürlich haben wir nicht vergessen, was das Re- Fehlen einer bürgerlich-demokratischen Revolution, erzeugt durch gime Saddam Husseins, dessen Träger jetzt in Schlüsselposi- lange Perioden der Harmonie zwischen Adel und Bürgertum und tionen zurückkehren, angerichtet hat, die Deportationen, die der daraus resultierenden speziell deutschen Untertanen-Geisterei, Zerstörung ganzer Landstriche. - Wir sind nur sieben! Dieses von der Ablehnung von Zivilität zugunsten einer gepriesenen deut- ist nur eine Botschaft im Internet. Wir wollen hier raus!“ Ich schen Kultur, in der die Seele oder das Gemüt fester verankert sei sage dann weiter: „Wer so etwas abdruckt, macht sich ver- als im Universalismus - wer also eine Begründung des speziell deut- dient, weil er nicht wissen will, wie stark die Kraft ist. Sie schen Nationalismus, der sich über Blut/Sprache/Ethnie defniert, dürfen sieben sein. Auch, wer ihnen zur Flucht verhülfe und auch in Ermangelung eines staatlichen Territoriums, über das man sich um einen gesicherten Aufenthalts-Status mühte, trotz ja so lange nicht verfügte - wer also die Tatsache, daß der Natio- aller Abschafung des Asylrechts in Deutschland. Vielleicht nalsozialismus nicht zufällig in Deutschland veranstaltet wurde, ist das wenig Praxis, aber da wäre ich gern dabei. - Schon wer sich bemüht, auch geschichtlich herzuleiten, wer also der Teorie den Anspruch auf ein halbwegs geregeltes, nicht von Kampf des Sonderwegs eine gewisse, eingeschränkte Plausibilität zubilligt, und Racheparolen geprägtes Leben formuliert, ist meines Er- ist kein Rassist, argumentiert nicht mit Genen. Der Vorwurf war achtens ein Leuchtfeuer der Vernunft gegen das Leiden und instrumentell und konstruiert. Übrigens - den Mangel der Sonder- den irrsinnigen Terror.“ wegs-Tese, ihre völlige Vernachlässigung der Tatsache, daß kapi- talistische Produktionsweise und ihre Entmenschlichung des Men- Dann sagt die Redaktion der „Phase 2“: „Also setzt Du auf Lei- schen oder die Verdinglichung des Menschen einen erheblichen densdruck der Leute vor Ort.“ - Und das ist der Moment, wo mir Anteil an der Erzeugung autoritärer, die faschistische Staatsform nach einer Flasche Ouzo der Sinn steht! schätzender Charaktere hat, werde ich später noch kurz erläutern. Natürlich setze ich auf keinen Leidensdruck. Auswegsloses Leid Viele Deutsche haben ja folgende Macke: Sie selbst sprechen, wenn ist eher der Produzent von Wahn als der Produzent des Wunsches sie über vermeintlich oder wirklich Positives berichten wollen, in nach Emanzipation. Ich setze übrigens auf gar nichts, was sich aus permanent kollektiven Termini: „Wir“ müssen uns vor Überfrem- Elend oder soziologisch bestimmbarer Klassenlage ableiten ließe, dung hüten, wir sind Weltmeister, wir sind feißiger als ..., wir sind auf keine daraus bestimmbare, historisch progressive, Geschichte Papst, wir müssen aufpassen, wen wir einbürgern - usw. usw. - determinierende Mission. Ich setze - und das ist das Dilemma - auf Nimmt man dieses „wir“ einmal rhetorisch auf und konnotiert es Aufklärung und Refektion. Die Adressaten meiner Anstrengun- negativ, also etwa: Die Deutschen sind für Auschwitz verantwort- gen kenne ich nicht. Das nicht von mir erfundene Emblem der lich! Oder: Die Deutschen führen sich im Urlaub auf wie Herren- „Flaschenpost“ ist zutrefend. menschen - und so weiter, dann kriegt man die Ermahnung derer, In den Jahren nach 1989 hatten wir ja allerlei empirischen Grund, die das Wir ständig im Munde führen: So dürfe man nicht reden, ein bestimmtes Paradigma von „Oben“ und „Unten“, von „Füh- die deutschen Menschen seien doch sehr verschieden und über- rung“ und „Masse“, das uns bis dahin durchaus geprägt hatte, haupt müsse man den Einzelnen betrachten! selbstkritisch zu hinterfragen. Wer diese nationalistischen Ausbrü- Damit ist schon ein Wesensmerkmal des Nationalismus, und zwar che, z.B. rund um das Brandenburger Tor, beobachtete, konnte nicht nur des deutschen, im Prinzip erklärt. Nationalismus ist - un- keine Diagnose von Fröhlichkeit oder besofener Harmlosigkeit trennbar! - die Bevorzugung der eigenen Nation vor allen anderen. erstellen. Der mußte sich fürchten vor diesem Triumphalismus, Natürlich gibt es keinen Nationalismus ohne Geschichtsfälschung. dessen aggressives Ziel die nicht Zugehörigen, die Ausländer und/ Praktisch jeder Nationalismus macht die Nation älter, als sie ist, oder Asylbewerber sein mußten. Es war ein proletarischer Nationa- verlegt ihren Gründungsakt in irgendein Gemetzel im Teutobur- lismus und Rassismus in der Welt, wie er uns bis dahin unbekannt ger Wald oder in irgendein Adelsbündnis in Großbritannien. Die war, jedenfalls quantitativ. Unsere Demonstrationen waren, wie in Akteure wußten gar nicht, daß sie irgendwas gründen. Es hat auch den zwei Jahrzehnten zuvor niemals, vehement gegen die deutschen nur den Zweck, den Anschein von Ewigkeit zu verleihen. Das Ewi- Massen und ihr Bewußtsein gerichtet, gegen die „Volksgemein- ge gilt bekanntlich als das Unentrinnbare. schaft“. Natürlich gab es immer Idioten, die haben trotzdem was Jedem Nationalismus, auch dem republikanischen, ist die Behaup- falsches gerufen. Wir demonstrieren in Rostock und Lichtenhagen, tung von Natürlichkeit innewohnend, denn der Nationalismus und einige wollen anstimmen: „Ausländer sind die falsche Adresse, muß ja vergessen machen, welche sowohl gewaltsame als auch haut den Bossen auf die Fresse!“ - Natürlich gab es solchen Irrsinn, manipulative, also gesellschaftliche oder künstliche Akte von der daß man nun auch noch den Rassisten berät, wen er verprügeln Staatselite ins Werk gesetzt werden mußten, bis man den Patrioti- soll. smus erzeugt hatte. Es ist ja tatsächlich ein weiter und manipula- Die Haltung, die ich aber doch zeitweise für mehrheitsfähig halte, tiver, Massen von Ideologie produzierender, Sakrales wie Hymne brachte uns bei denen, die nach entschuldigenden Formeln für den und Fahne ins Massenbewußtsein hebender Kraftakt, bis der Un- Massenrassismus und Nationalismus suchten, etwa die PDS, die tertan der wichtigsten nationalen Maxime gehorcht - der krassen Verständnis hatte, wenn „sozial Dequalifzierte“, wie es im Neu- Relativierung seiner Interessen und Vorlieben an den Belangen der en Deutschland wörtlich hieß, „die nach jedem Strohhalm greifen Nation, also der Opferbereitschaft für die Nation, der Bereitschaft, und dabei manchmal auch einen Baseball-Schläger in die Hand im Ausnahmefall gegebenenfalls für die Nation zu sterben, also nehmen“, oder autonome Strömungen, die in Rassismus eine fehl- selbst zu glauben: „Deutschland muß leben, und wenn wir sterben geleitete Rebellion hineingeheimnisten - brachte uns bei diesen den müssen!“ Ruf ein, wir seien „umgekehrte“ oder „antideutsche“ Rassisten. Wir Diese letzte Pointe wird nicht immer und in jeder Situation bei je- stigmatisierten die Deutschen kollektiv, und zwar unzulässigerwei- dem Einzelnen abgerufen, aber z.B. Soldaten bei ihrer Vereidigung se. Das sozusagen umkämpfte Schlüsselwort war „Nationalcha- schwören genau diese Selbstaufgabe. Aber es ist die letzte Konse- rakter“. Wer von einem Nationalcharakter spricht, also ein durch quenz, wie pseudofröhlich der Nationalismus auch manchmal da- historische Besonderheiten entwickeltes besonderes Bewußtsein, her kommen mag, denken wir an die Fußball-Weltmeisterschaft erzeugt durch Niederlagen in Klassenkämpfen, erzeugt durch das und denken wir ans Schanzenviertel.

83 Was ich hier nur angedeutet habe, hat die antinationale, antideut- Ihr könnt Euch vorstellen, nun kommt Herr Maatz/Ost unter sche Linke in zahllosen Reden, Broschüren, Artikeln, Büchern aus- Druck, denn er muß ja den Wahn des Freundes übertrumpfen. geführt - meist ziemlich gut. Trotz aller geschilderten, berechtig- Also sagt er: ten Erbitterung über die Häßlichkeit auch der unteren Schichten der Gesellschaft, des Proletariats, wollten und wollen wir ja nicht „Die Bilder von damals lösen bei mir noch heute Tränen und vergessen, daß es Klasseninteressen-geleitete Manipulateure und Schluchzen aus. Ich empfnde eine schmerzliche Genugtu- gegen ihre Interessen verstoßende Manipulierte gibt, die nicht Pro- ung über etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte, tief fteure des Nationalismus sind. im Innersten“ - dafür sind ja beide berufich zuständig - „muß Adorno faßt diesen Zusammenhang folgendermaßen: mich die Grenze sehr verletzt haben. Eine große Ungerech- tigkeit - und jetzt schien endlich Gerechtigkeit zu werden.“ „Der Herrschaft paßte es ins Konzept, wenn das, was sie aus der Masse gemacht hat, und wozu sie die Massen drillt, aufs Ja - der Eine ist immerhin durch die Unkenntnis der Landkarte Schuldkonto der Massen verbucht würde.“ Und etwas später: geheilt, der Andere ist immer noch nicht über den Berg. Das Bei- „Anstelle des den Massen Vorenthaltenen wird von ihnen re- spiel habe ich ausgesucht, um zu bebildern, daß der Nationalismus aktiv aus Ranküne genossen, was von Versagung bewirkt ist eine Struktur des Irren, des Wahnhaften hat, dem die Träger des und die Stelle des Versagten usurpiert.“ Nationalismus nur durch Refektion, eine Art Erschrecken vor der eigenen Verfaßtheit, entkommen können - und das macht die Also selbstverständlich ist der Nationalismus etwas täglich neu Begrenztheit der Argumente der historisch rationalen Aufklärung gemachtes, er drillt die Massen durch seine fast unhinterfragbare über die Geschichte des Nationalismus unsererseits ja leider aus. Selbstverständlichkeit. Er ist z.B. der emotionale Kern aller Spor- Natürlich kann und will ich nicht beurteilen, ob Herr Maatz und tereignisse und ihrer Kommentierung. Kein Mensch würde sowas Herr Möller tatsächlich so sind, wie sie sich hier entblöden, oder wie Biathlon freiwillig angucken, würden nicht relativ oft Deutsche ob sie distanziert zynisch sind und nur eine Masche erkannt ha- gewinnen und sozusagen das Daumendrücken Erfüllung fnden. ben, ein gutes Geschäft zu machen. Das kann ich auch nicht bei Welche Versagung, welche beschissene Lebenslage macht den rela- Sport-Reportern beurteilen, sagen wir, bei einem, dessen Stimme tiven Genuß am Konsum des Surrogats, an der Ersatzbefriedigung sich überschlägt und berufsbedingt zu überschlagen hat, wenn der Nationalismus aus? deutsche Kanuten-Vierer einen Luftkasten vorne liegt. Man weiß es Kurzer Umweg: Wir kennen ja alle mehr oder weniger dieses be- auch nicht beim Politiker, der die Hymne singt, und man weiß es schissene Gefühl von Sinnlosigkeit, wenn man praktisch, vernünf- nicht beim Nachrichtensprecher, der bei der Meldung eines Flug- tig oder empirisch argumentiert mit Rassisten. Der Rassist oder zeug-Unglücks unsere Trauer über die Zahl der Toten deutscher Antisemit stigmatisiert ein nationales Kollektiv und - manchmal Staatsangehörigkeit säuberlich herausarbeitet, damit wir wissen, tut man´s leider. Man führt Beispiele an, daß die nicht so sind, wie wie schlimm der Vorgang ist. Man weiß es nicht beim Romanautor der Stigmatisierende behauptet, nicht so kriminell, nicht so reich, und nicht beim Filmemacher, ob die Trauer um deutsche Opfer nicht so unschlagbar potent, nicht so tanzbegabt und sowas alles ... im Zweiten Weltkrieg seine identitäre Gefühlswelt spiegelt oder der und irgendwann merkt man dann doch: Man verleiht dem Wahn Erkenntnis geschuldet ist, dies sei der Weg zum Kassenschlager. Es des Gegenüber durch sein empirisches Argumentieren den Anstrich ist schwer zu erforschen und man weiß ja auch, daß, diesen ganzen von Vernunft. Und tatsächlich sagt der irgendwann: „Du hast be- Klamotten zu widersprechen auch denen schwerfällt, die vielleicht stimmt mit vielem Recht, aber - ich habe da so ein Gefühl ...“. eine innere Distanz dazu haben. Denn - so auf die Arbeit zu ge- Das Bekenntnis zu Gefühl, die ofensiv vorgetragene Unlust zur hen und zu sagen: Dieser Film „Wunder von Bern“ oder dieser Sieg Refektion, das Irrationale, die demonstrative Zerstörung der Ver- gegen Italien interessiert mich nicht, führt ja zu ganz schön viel nunft, sind auf kaum einem Sektor falschen Bewußtseins so ausge- Mobbing und jedenfalls Einsamkeit. prägt wie auf dem des Nationalismus, speziell des deutschen. Ich Trotzdem bleibt die Frage: Warum fällt diese Manipulation auf so gebe Euch ein Beispiel aus der Welt der Intellektuellen. Wir sind fruchtbaren Boden? Welches materielle Sein disponiert die Massen wieder Anfang der ´90er Jahre, da schreiben zwei Psychotherapeu- zur Empfänglichkeit für ein ihren Interessen entsprechendes Ge- ten - Herr Maatz aus dem Osten und Herr Möller aus dem Westen fühl? Ich versuche eine verkürzte, aber doch eine Erklärung. Deutschlands - gemeinsam ein damals absolut gehyptes, die Best- Das Angebot der nationalen Gemeinschaft wirkt wie das der Reli- seller-Listen erreichendes Buch, das heißt: „Die Einheit beginnt zu gion, wo diese noch Wirkungsmacht besitzt. Der Mensch hat be- zweit“. Die tingeln durch nahezu alle Talkshows und geben auch kanntlich Angst vor dem Tod, jedenfalls im Regelfall und wenn er der als progressiv links geltenden Zeitschrift „Psychologie heute“ nicht Selbstmord-Attentäter ist, umso mehr, als er bereits im Leben ein großes Interview. Die Schlüsselpassagen im Zitat, zunächst nichts zählt. Für jeden schleunigst verscharrten Toten steht schon Herr Möller, West: ein Ersatzautomat parat. Unter kapitalistischen Verhältnissen, in denen der technische und verwaltende Apparat das Zentrum und „Wie viele damals habe auch ich während der Ereignisse der Mensch ein jederzeit auswechselbarer Teil geworden ist, spü- im Herbst ´89 fassungslos und heulend vor dem Fernseher ren die Individuen ihre gesellschaftliche Irrelevanz. Wenn sie auf gesessen, vielleicht, weil ich mit der einen Hälfte meiner Grund eines Versagens oder einer Krankheit ersetzt werden, als Kindheits-Seele aus Schlesien, also aus Ostdeutschland“ wären sie nie da gewesen, wenn sie arbeitslos werden oder ein für (Räuspern, Gelächter) „stamme.“ - Das ist Gefühl, da kannst die Produktion nicht mehr taugliches Alter erreicht haben - mag es Du nicht gegen an. - „Ich habe es trotzdem kaum fassen kön- ihnen mitunter scheinen, daß ihr Tod der Gesellschaft nützlicher nen, wie physisch, wie physiologisch, wie körperlich dieses wäre als ihr Weiterleben. „Ich will der Gemeinschaft nicht zur Last Erleben der Vereinigung bei mir war, und in mir ist auch fallen!“ sagen sie dann. Sie ahnen, daß bei ihrer Beerdigung ledig- wirklich etwas geheilt. Es muß etwas mit dem Gefühl zu tun lich ein Stück Irrelevanz verscharrt wird. Mit der Furcht aber, als haben, jetzt einer ganzen Nation anzugehören.“ Nichts beerdigt zu werden, wächst der Wunsch, es möge das Leben

84 doch irgendwie nicht umsonst gewesen sein. Die Religion hat für Aktivisten und, manchmal sagten sie auch: Soldaten der Weltre- Entsagung, Demut, Gehorsam und Verzicht das ewige Leben oder volution - zu bezeichnen. die Re-Inkarnation im Angebot. Der Nationalismus bietet die Zu- Ich leugne also nicht, daß ein wirkmächtiger heroischer Antinatio- gehörigkeit zu einer historisch überdauernden, als ewig defnierten nalismus zeitweise in der Welt war. Aber: Schließlich dominant, Gemeinschaft, der aufopfernd gedient zu haben, wenn auch nur auch bei den Parteien der Dritten Internationale, die ja irgendwie als kleines Rädchen, selbstbetrügerisch Sinn stiftend wirkt. Man aus dieser Zimmerwalder Konferenz hervorgegangen sind, wenn hat nicht wirklich selbst gesiegt, war aber z.B. im Sport anfeuernd man das so sagen darf, wurde doch einer Art von falscher Beweis- als Sieger irgendwie dabei. In der Selbstaufgabe liegt immer auch führung, nämlich Kommunisten seien in puncto Patriotismus den eine Portion autosuggestiver Selbstverwirklichung. Wer z.B. singt: Rechten mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen, gefrönt. „You will never walk alone ...“ gibt ja bekannt, daß seine Treue Oft kam solche Anpassung als taktisch motiviert, als Notwendig- unabhängig von irgendeiner Qualität des angebeteten Kollektivs keit des Augenblicks daher, um den erstarkenden Rechten das Was- ist, ob die irgendwie sympathisch sind oder wenigstens gut spielen, ser, den Masseneinfuß abzugraben. Ich bezweife überhaupt nicht, und klagt, die eigene Einsamkeit fürchtend, ein: Man möge ihn daß die subjektive Motivation derer, die glaubten, taktische Zuge- oder sie im Gegenzug auch nie ganz alleine lassen. - Linke, das nur ständnisse machen zu müssen, subjektiv ehrlich war. Ich bin aller- nebenbei, die sich des ofenen Nationalismus schämen, projizieren dings überzeugt davon, daß sie oft im engsten Sinne des Wortes ihre volksgemeinschaftlichen Sehnsüchte deshalb nicht ganz sel- „Zauberlehrlinge“ wurden, daß eine Konzession die nächste nach ten auf Sportvereine oder sie idealisieren die Stadtteile, in denen sich zieht, und daß die Taktik sich zum Prinzip verselbständigt, sie leben, den Kiez also. die Schlageter-Linie der KPD etwa. Also das Abfeiern eines Reak- Die antinationale Linke hat - mein letztes Kapitel - naturgemäß tionärs, der militant gegen die französische Besatzung des Rhein- viel und feißig geforscht zu Rolle und Stellenwert des Nationalen landes gekämpft hatte und dafür hingerichtet wurde, mußte eher in der Geschichte derer, die subjektiv wahrscheinlich völlig ehr- Kommunisten zu Nationalisten machen, mit allem dazu gehörigen lich, dem Postulat nach für die weltweite klassenlose Gesellschaft Gefenne über das Unrecht der Versailler Verträge, als daß sie Na- gekämpft haben. Das Resultat oder der Befund dieser Forschung tionalisten an die Seite progressiver Kräfte führen konnte. Gleiches ist eindeutig. Der berühmte Satz von Marx und Engels im Kom- gilt für das KPD-Programm zur sozialen und nationalen Errettung munistischen Manifest, daß das Proletariat kein Vaterland habe, Deutschlands mit seiner extrem einen deutschen Opferstatus rekla- war nur in seltenen Episoden für Linke handlungsleitend oder die mierenden nationalistischen Botschaft. Agitation bestimmend. Der Vorwurf, sie seien vaterlandslose Ge- Ich sage nicht, ohne diese Anbiederei wäre Hitler verhindert wor- sellen, ist von Sozialisten fast nie mit einem lakonischen: Ja, das den. Wer bin ich denn?! Ich vermute aber: Die Faszination, die der stimmt! beantwortet worden, sondern meist mit einer kräftigen Nationalsozialismus auf zuvor kommunistisch wählende Massen Zurückweisung, einem Dementi. Eine zumindest nationale Über- ausübte nach 1933, hat eine Ursache in diesen schrecklichen Passa- formung sozialemanzipatorischer Anstrengungen ist selbst in den gen dieser Programme. Kämpfen zu konstatieren, die wir - und zwar zu Recht! - ehren als Daß dort, wo der stalinistische Kommunismus die Staatsgewalt die großen Anläufe zur herrschaftsfreien Gesellschaft. Liest man ausübte, schließlich „Kosmopolit“ nicht nur ein Schimpfwort wur- etwa die Dokumente der Pariser Commune, so wird man feststel- de, sondern oft genug auch Todesurteil für den zum wurzellosen len, daß auch, nicht erstrangig, aber: auch, der Vorwurf an die Weltbürger Stigmatisierten bedeutete - schändlich, aber irgendwie französische Bourgeoisie: Sie verhalte sich anti-patriotisch, indem auch schrecklich konsequent, wenn man den Krieg gegen Deutsch- sie den Krieg gegen Deutschland verloren gebe, nicht alle Ressour- land als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet. Die Sowjetu- cen zur Besiegung des deutschen Feindes mobilisiere, stattdessen nion hatte ja alles Recht, die Verluste der Roten Armee so gering mit ihm paktiere - einen nicht ganz ungewichtigen Anteil hat. wie möglich zu halten, also auch propagandistisch den Versuch zu Daß Sozialisten und Proletariat im Zweifelsfall, also im Falle eines unternehmen, die Kampfkraft der nationalsozialistischen Wehr- Angrifs auf Deutschland, die besseren und tapfereren Soldaten macht zu untergraben. Ein Instrument dieses Versuchs war das Na- sein würden, ist ein häufg wiederkehrendes Motiv z.B. in den Re- tionalkomitee Freies Deutschland, also der Zusammenschluß von den August Bebels, oft übrigens in dem Zusammenhang, daß er Repräsentanten der KPD mit den zum Teil ranghöchsten Ofzie- Rüstungsbegehren des Kaiserreichs im Reichstag konkret zurück- ren der Wehrmacht, also z.B. mit General Paulus, dem Schlächter weist. von Stalingrad, zum Zwecke der gemeinsamen Propagierung der Eine kritische Distanz zur Kategorie der nationalen Befreiung ist Behauptung, der im Unterschied zu Hitler bessere deutsche Na- meist extrem minoritär. Rosa Luxemburgs Aufsätze zur polni- tionalismus erkenne den Nationalsozialismus als etwas Deutsch- schen Frage - also, die wirklich rechtschafend nihilistisch sind -, land Schadendes, als falschen Patriotismus. - Das stieß übrigens nehmen ja ihre spätere Einsamkeit vom August 1914 in gewisser im mexikanischen Exil auf tiefes Erschrecken und Ablehnung. Ich Weise vorweg. glaube, dieser Unfug hat eine Schwächung von Kampfmoral nicht, Selbstredend, ich will es überhaupt nicht leugnen, gibt es auch oder fast nicht in der nationalsozialstischen Wehrmacht bewirkt, wirkmächtige Sternstunden antinationaler oder wenigstens inter- sondern war ein Vorläufer der schrecklichen nationalen Rhetorik nationalistischer Orientierung. Diese grandiose Zimmerwalder der KPD nach ´45. Hier trat die Ambition - auch sie blieb realpo- Konferenz zum Beispiel, diese zunächst krass minoritäre Bewe- litisch unbelohnt - den „besseren deutschen Patrioten“ zu geben, gung derer, die mitten im Ersten Weltkrieg dem allgemein gras- krass hervor. Die KPD und die SED, denen waren ja durch ihre sierenden Chauvinismus ihr: „Der Hauptfeind steht im eigenen Unterordnung unter die Ambitionen der KPdSU Fesseln angelegt. Land!“ entgegenhalten. Es gibt auch die führenden Aktivisten z.B. Also sie konnten keine Trauer oder Kritik zu den verlorenen Ost- der Münchner Räterepublik, die sich strikt weigerten, nicht nur gebieten artikulieren. Sie konnten aber - und das Beispiel muß ich im Kampf, sondern später auch als Angeklagte, auch teilweise zum erzählen -, als es nach 1945 in Flensburg und Umgebung eine De- Tode Verurteilte, vor Gericht irgendeine nationale Zugehörigkeit batte gab, ob dieser Landstrich nicht Dänemark zugeschlagen wer- für sich in Anspruch zu nehmen. Sie beharrten darauf, sich als den sollte - das verfochten damals übrigens auch viele Mitglieder

85 der KPD in Schleswig-Holstein und diese wurden aus der Partei land stationiert würden, daß also hier in unseren schönen Vorgär- ausgeschlossen, übrigens mit dem beachtenswerten Argument, ih- ten der Ort eines antizipierten Gegenschlags zu verorten sei, und nen ginge es nur um ein besseres Leben! Was unter Kommunisten daß dieses Kalkül die eigentliche Gemeinheit der Amerikaner sei. eigentlich bis dahin als nicht sehr tragfähiger Einwand galt! - Die Zur Veranschaulichung dieses schrecklichen Gedankens wurden KPD wetterte gegen, ich zitiere: unfaßbare „die - ins“ (Gelächter) veranstaltet. Sehr klassisch, mit der ganzen Wucht der Demagogie, begegnet „... die Versuche der Dänen und deutschen Renegaten, deut- uns der Vorwurf, die deutsche Regierung sei zu nachgiebig gegen- sche Volks- und Landesteile herauszulösen. Wir sind für die über Ausland und Ausländern in der Forderung Lafontaines, die Einheit des Reiches und treten freiwillig keinen Fußbreit Herrschaft möge jene, die er „Fremdarbeiter“ nannte - aber der deutschen Bodens ab!“ Terminus ist nicht ausschlaggebend -, schärfer drangsalieren, als es ohnehin schon geschieht. Der deutsche Arbeitsmann hätte alles Dieses „freiwillig keinen Fußbreit deutschen Bodens...“ wurde Recht zur Verbitterung, wenn ihn das Gefühl befalle, er könnte auch exekutiert an der damaligen Helgoland-Frage. Helgoland sich auf eine relative Privilegierung durch den deutschen Staat und war ja Trainingsgebiet für die britische Royal Air Force. Die übten seine Regierung nicht verlassen. Der Skandal erbrachte übrigens, da Bombenabwurf - legitimerweise. Und das wurde dann durch - der sogenannte Skandal -, in Umfragen deutlich meßbare Stim- Rechtsradikale, aber eben auch durch Mitglieder der KPD und der menzuwächse für die Linkspartei. Und natürlich wird dort auch Jugendorganisation FDJ besetzt, denn die Verteidigung der Urein- massiv diskutiert, wie eine Konferenz oder mehrere Konferenzen wohner, die vertrieben worden waren sei, sagte Erich Honnecker der Rosa-Luxemburg-Gesellschaft betitelt wurden: „Überwindet damals, nur Symbol für die von Adenauer beförderte Einrichtung die Linke ihre traditionelle Schwierigkeit mit der Nation?“ Das eines westdeutschen Kolonialstaates durch ausländische Okkupan- ist Sehnsucht an die Wiederanknüpfung dessen, was ich kritisiert ten und deutsche Quislinge. Die KPD propagierte also den Kampf, habe. ich zitiere: Was das heißt, kann man lesen in diesem Buch - das ist so eine Art Werbebuch für die Mitarbeit bei der Linken. Ich habe das emp- „... Kampf aller deutschen Patrioten ohne Unterschied der fohlen bekommen beim Betreten des Parteibüros in Hamburg, ich Partei und Weltanschauung, die ihre Heimat und ihr Vater- dachte: Nun gut, wenn die es empfehlen, nehme ich das. Heraus- land lieben und niemals zulassen werden, daß deutscher Bo- gegeben von Ulrich Maurer und Hans Modrow, ich zitiere nur die den und deutsches Blut erneut mißbraucht werden.“ Pointe. - Die Herleitung ist ziemlich lang und geht ungefähr so, daß leider Marx und Engels mit ihrer mißverständlichen Formu- - Krasser, als über den Mißbrauchs-Begrif auch noch des deut- lierung im Kommunistischen Manifest, das Proletariat habe kein schen Blutes geht Täter-Entschuldigung kaum. Und natürlich Vaterland, viel Konfusion angerichtet hätten, daß das aber jetzt zu resultiert aus dieser deutschen Befreiungskriegs-Rhetorik immer überwinden sei, und daß, wenn man etwas Gutes über die DDR auch der Vorwurf, die „eigene“, also die Adenauer-Regierung, sei sagen wolle, man doch immerhin behaupten könne, es sei im Ver- deshalb Feind, weil sie nationales Interesse den Bündnisverpfich- gleich zur BRD der deutschere Staat gewesen. - Ich zitiere nur die tungen, also den notwendigen Verlaufsformen zur Wiedergewin- Pointe: nung nationaler Souveränität, unterordne. Ein letztes Zitat aus der Neujahrs-Botschaft der KPD: „Die Linke sollte“, schreibt der Autor, „nicht einem abstrak- ten Europäer oder unbehausten Weltbürger das Wort reden, „Fort mit einer Regierung, die das Recht des deutschen Vol- sondern die Menschen in ihren konkreten ethnisch-kulturel- kes auf nationale Streitkräfte ablehnt,“ - es scheint darauf len Beziehungen sehen. Erst wenn der Chef oder die Chefn ein Naturrecht zu geben, „dafür aber die deutsche Jugend in einer deutschen Linkspartei von einem Rednerpult rufen die Uniform amerikanischer Söldnerverbände pressen will. kann: Es lebe Deutschland! - kann man behaupten, daß hier- Deutsche Mädchen und Frauen gelten den Okkupanten als zulande normale Verhältnisse bestünden.“ Freiwild.“ KPD! Ich fnde - das sei mein letzter Satz -, selten ist besser erklärt wor- Zwei Momente haben, betrachte ich die Geschichte der BRD, Be- den, daß speziell in Deutschland das Wort „normal“ ein absolut wegungen Zulauf erbracht: Erstens der Verdacht, die eigene Regie- deckungsgleiches Synonym für „völlig durchgeknallt“ ist! rung sei untertänig gegenüber fremden Mächten und die Stilisie- rung der Deutschen zu Opfern. Diese kritische Feststellung gilt gerade auch für Bewegungen, deren elementare Forderungen zu teilen waren, von mir geteilt werden! Tomas Ebermann (Hamburg) hat am 25. September 2009 in Also etwa der Friedensbewegung und ihrer Ablehnung der Nato- Bremen einen Vortrag zur Geschichte der antinationalen Linken Nachrüstung, also der Stationierung von Cruise Missile und Pers- gehalten. Siehe: https://associazione.wordpress.com/2009/09/25/ hing zur mililtärischen Bedrohung und gegebenenfalls zum mi- fr-25-09-09-intros-die-geschichte-der-antinationalen-linken/ litärischen Angrif auf die Sowjetunion. Das wohl am häufgsten Einen sehr ähnlichen Vortrag hatte Tomas Ebermann im Septem- geklebte, jedenfalls höchst populäre Plakat dieser Bewegung war ber 2008 in der Roten Flora in Hamburg präsentiert. Eine Ham- eines, das Kanzler Helmut Kohl in der Pose eines ziemlich tiefen burger Genossin hat dankenswerterweise den Vortragsmitschnitt Dieners beim Zusammentrefen mit Ronald Reagan zeigte. Ange- transkribiert. Wir danken dem Autor für den Text und der Ham- klagt war der devote Vasall! Das sollte suggeriert werden. Höchst burger Genossin für die Transkription! unangenehm war ferner eine bestimmte Argumentation, die nicht den möglichen Angrif auf die Sowjetunion zum Gegenstand der Kritik hatte, sondern die Tatsache, daß die Raketen in Deutsch-

86 Peter Bierl Making Anarchism a Treat again? - Kritische Auseinandersetzung mit aktuellen anarchistischen Debatten

Seit den Auseinandersetzungen um die WTO-Tagung in Seatt- erklärte Errico Malatesta auf die Frage, warum er nicht seine Me- le 1999 ist von einer Renaissance des Anarchismus die Rede. Für moiren schreibe. Noch schärfer reagierte sein Freund und Genosse Menschen, die eine grundlegende Alternative zum Kapitalismus Armando Borghi, nach dem Ersten Weltkrieg Sekretär der an- suchen, schien diese randständige Idee attraktiver zu werden, archosyndikalistischen Gewerkschaft Unione Sindacale Italiana nachdem die bis dahin wirkmächtigste Fraktion der Linken, der (USI): „Was schert mich die Geschichte? Auf die Zukunft muss Marxismus-Leninismus, mit dem Zusammenbruch des real exi- man achten, nicht auf die Vergangenheit.“2 stierenden Sozialismus eine historische Niederlage erlitten hatte Gaetano Salvemini soll Borghi damit überzeugt haben, dass er und diskreditiert war. Jenseits von politischen Moden stellt sich ihm sagte: Wenn wir unsere Geschichte nicht schreiben, tun es die Frage, welchen Wert der Anarchismus für eine neue radikale unsere Gegner. Wichtiger scheint mir ein anderes Argument des Linke im 21. Jahrhundert haben kann. Historikers und Antifaschisten: Die Zukunft ist der Sproß der Um eine Antwort vorweg zu nehmen: Anarchismus ist ein wertvol- Vergangenheit. Wer die Vergangenheit nicht achte, müsse immer les Gegengewicht gegen autoritäre und staatsfxierte Strömungen wieder von vorne anfangen. Historische Aufarbeitung erklärt uns, in sozialen Bewegungen und der Linken, wenn sich Anarchisten auf welchen, manchmal sehr verschlungenen Wegen, sich Ereig- auf ihre Kernkompetenzen besinnen: Misstrauen gegenüber Hier- nisse entwickelt haben, sie verhindert, dass Bewegungen und Prot- archien und Bürokratien, Kritik von formellen und informellen agonisten, Taten und Ideen in Vergessenheit geraten, sie zeigt, dass Dominanzstrukturen, von staatlicher Herrschaft auch in Gestalt Geschichte nicht alternativlos abläuft. Vielleicht können wir aus repräsentativer bürgerlich-demokratischer Systeme. Ihre Betonung Erfolgen und Niederlagen lernen, sofern wir Geschichte nicht als von Selbstorganisation und direkter Aktion ist wegweisend für Steinbruch für Identitäts- und Traditionsstiftung missbrauchen eine emanzipatorische Praxis. und Säulenheilige kreieren. Anarchismus ist gefährlich, wo er auf seinen traditionellen Inkom- Refektiertes empirisches Material der aktuellen wie der histori- petenzen beharrt. Da wäre zum einen das Unverständnis der ka- schen ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Zu- pitalistischen Ökonomie. Verbreitet sind verkürzte Erklärungen, stände und Entwicklungen gehört zur Grundlage jeder Teorie. die lediglich die Zirkulationssphäre betrachten, und damit ofen Und es gibt nichts Praktischeres als eine gute Teorie, die auf der für obskure bis rechte Ansätze sind. Zum anderen die mangelnde Höhe ihrer Zeit ist, nicht bloß Trittstein für eine akademische Teoriebildung, einschließlich damit verbundener Diskussionen Karriere, Selbstbespiegelung oder Mittel der Distinktion. Eine und Konfikte. Auf Kritik reagiert ein Teil der Szene mit einer solche Teorie bietet Orientierung, im Idealfall Hinweise für eine Wagenburg-Mentalität oder weicht aus mit dem Verweis auf die efektive Praxis. vielen „Anarchismen“, die in ihrer Vielfalt gar nicht zu erfassen Beides brauchen wir dringend, wenn wir zwei zentrale Widersprü- seien.1 Daraus resultieren Unverbindlichkeit und Beliebigkeit. Ein che begreifen und Wege fnden wollen, diese aufzulösen: solcher Lifestyle-Anarchismus wird vom Feuilleton geliebt und Einerseits haben wir einen Grad der Produktivität erreicht, der es von der Kulturindustrie vereinnahmt, weil er gesellschaftliche Ver- ermöglichen würde, jedem Menschen auf diesem Planeten ein an- hältnisse nicht wirklich in Frage stellt, mit der neoliberalen Ideo- genehmes, materiell sorgenfreies Leben zu ermöglichen, zu einem logie kompatibel ist, aber einen rebellischen Glamour verbreitet. Bruchteil der heute notwendigen Arbeitszeit. Andererseits gibt es Von den sozialistischen Tendenzen im Anarchismus ließe sich massenhafte Erwerbslosigkeit, miserable bis mörderische Arbeits- durchaus lernen, aus theoretischen Überlegungen, Organisati- bedingungen, Löhne, die kaum zum Leben reichen, Hunger und ons- und Aktionsformen, praktischen Kämpfen und Niederlagen. Elend, Millionen, die in Slums und Lagern vegetieren. Täglich Kritisch muss man sich allerdings mit Vorstellungen auseinander- verhungern weltweit etwa 20.000 Kinder, während eine kleine setzen, die dem Traditionsmarxismus ähneln, etwa der Aufassung Schicht auf diesem Planeten einen ungeheuren Reichtum anhäuft. von der Arbeiterklasse als dem historisch vorherbestimmten revo- Zehntausende ertrinken im Mittelmeer auf der Suche nach einem lutionären Subjekt. besseren Leben, weil die Festung Europa allenfalls denen ofen- steht, deren Arbeitskraft sich verwerten lässt. Scheitern als Ausgangspunkt Einerseits haben wir gesicherte Erkenntnisse, dass die gegenwär- Warum beschäftigen wir uns mit solchen Fragen? Warum alte Ge- tige Wirtschaftsweise die ökologischen Grundlagen nicht nur des schichten von Bakunin, Proudhon oder den spanischen Anarcho- menschlichen Lebens auf diesem Planeten zerstört, andererseits syndikalisten aufwärmen? Er habe keine Zeit für sowas, wichtiger schreitet dieser Prozess immer weiter voran. Etwa ein Drittel der sei „Propaganda zu treiben und für die Revolution zu arbeiten“, landwirtschaftlich nutzbaren Böden wird durch die industrielle Landwirtschaft versalzen, vergiftet und erodiert. Wälder werden zur Gewinnung von Rohstofen, Biosprit oder für die Viehzucht 1 Ewgeniy Kasakow hat diese Haltung prägnant kritisiert (Kasakow, Den Anarchismus gibt es nicht! Kritik einer Strömung, die sich der Kritik zu entziehen sucht, in: Phase 2, Nr.50, Frühjahr 2015, Staatenlos 2 Piero Brunello, Pietro di Paola, Hrsg., Errico Malatesta. Ungeschrie- durch die Nacht. Was taugt der Anarchismus? S.6f.). bene Autobiographie, Hamburg 2009, S.6, S.208.

87 abgeholzt. Die Wüsten breiten sich aus, wegen des Klimawandels. eines höheren Lebensstandards integrierte sie die Arbeiterklasse in Der Anstieg der durchschnittlichen Temperatur führt zu Hitze- den zentralen kapitalistischen Staaten und erweiterte damit die so- wellen und Trockenheit, verheerenden Überschwemmungen und ziale Basis bürgerlicher Herrschaft samt Expansionspolitik. Nur Wirbelstürmen. Teile des Planeten könnten für Menschen unbe- so und nicht bloß als Verrat der Führung ist zu erklären, wieso wohnbar werden. Darauf gibt es vier mögliche Antworten: beispielsweise die Arbeiterbewegung 1914 für Staat und Nation Erstens: Abwarten, denn der Kapitalismus ist die bestmögliche in den Krieg zog. Die Entwicklung führte zur Übernahme von Wirtschaftsweise, hilfsweise die einzig mögliche, weil Alternati- Regierungsämtern, dem Aufbau des Wohlfahrtsstaats nach dem ven nicht funktionieren oder weil der Mensch ein Egoist sei. Der Zweiten Weltkrieg bis zu dessen Demontage und der Wende der Markt regle alles optimal und Wirtschaftswachstum führe in ei- Sozialdemokratie zum Neoliberalismus (New Labour in Groß- nem Trickle-Down-Efekt dazu, dass alle irgendwann wenigstens britannien, Neue Mitte der Schröder-SPD). Die klassische So- ein bisschen proftieren. Ökologische Schäden ließen sich mit ent- zialdemokratie ist mausetot, auch wenn Parteien unter diesem sprechender Technik minimieren oder reparieren. Etikett fortbestehen. An ihre Stelle treten neue Formationen wie Zweitens: Der Markt regelt nicht alles optimal, sondern müsse die Linkspartei in Deutschland oder Syriza in Griechenland, ein gezähmt werden. Das bedeutet eine Neuaufage keynesianischer Teil des globalisierungskritischen Spektrums oder Ökonomen wie Wirtschaftspolitik mit Konjunkturprogrammen, wohlfahrtsstaat- Tomas Piketty, Joseph Stiglitz oder Paul Krugman. lichen Maßnahmen, Vorgaben für Banken und Industrie bis hin Der leninistische Weg endete in brutalen Diktaturen. Die Zentral- zur Verstaatlichung bestimmter Sektoren, die der Grundversor- verwaltungswirtschaften des real existierenden Sozialismus implo- gung dienen, ergänzt um einen Green New Deal, mit Aufagen dierten. Die Kommunistischen Parteien in China und Vietnam zum Schutz der Umwelt, Anreizen für neue Technologien und haben daraus die Erkenntnis gezogen, dass es besser ist, mit dem Produkte, Efzienzsteigerungen, geringerem Verbrauch von En- Kapital zu kooperieren: Nachholende Industrialisierung, Kapital- ergie und Rohstofen. akkumulation unter staatlicher Regie, Kapital- und Technologie- Drittens: Das Horrorszenario. Ein weiterer Zulauf zu regressiven transfer aus dem Westen, dafür billige Lohnarbeit zu frühkapita- Bewegungen wie Neonazismus und Neofaschismus, Populismus listischen Bedingungen. und Regionalismus, religiösem Fundamentalismus, verschiedenen Die Idee, durch Kooperativen, Kollektive, Genossenschaften, Spielarten von Rassismus und Antisemitismus. Dazu die Errich- selbstverwaltete Betriebe sowie Tauschbanken und Arbeitsbörsen tung von neuen Diktaturen, die sich durch die verschärften Wi- die Verhältnisse evolutionär zu verändern, erwies sich als Flop. dersprüche legitimieren. Unstrittig ist, dass solche Betriebsformen ein Notbehelf in Krisen- Ziemlich marginal ist heute und zwar weltweit die vierte mögliche zeiten sein können, wie aktuell in Griechenland oder Argentinien, Antwort, die radikale und emanzipatorische Perspektive einer be- und eine Möglichkeit, sich wenigstens teilweise dem kapitalisti- freiten Gesellschaft jenseits von Kapital, Staat und Nation. schen Alltag zu entziehen. Einzelne Betriebe müssen jedoch wie Dass wir an den Rand gedrängt sind und allenfalls punktuell Inseln im Kapitalismus bestehen, sich den Mechanismen der Kon- eingreifen können, hat zwei hauptsächliche Gründe. Einerseits kurrenz unterwerfen oder untergehen. Sie können den marktver- die ungeheure Dynamik des Kapitalismus, für den Krisen nor- mittelten gesellschaftlichen Zusammenhang nicht aufösen. mal sind und dessen Entwicklungsform der bürgerliche Ökonom Der anarchistische Weg ist meist an der Repression bzw. der mi- Joseph Schumpeter als permanente schöpferische Zerstörung be- litärischen Überlegenheit seiner bürgerlichen, faschistischen oder schrieben hat. Das geht einher mit Not und Elend und Kriegen stalinistischen Gegner gescheitert. Michail Bakunins Konzept des und selbst konjunkturelle Aufschwünge sind für Millionen von Geheimbundes hat gefährliche autoritäre Implikationen, neuere Menschen katastrophal. Gleichwohl haben sich an dieser Dyna- Studien zur Machno-Bewegung und zur CNT zeigen, dass anar- mik sämtliche Prophezeiungen von einem Zusammenbruch, das chistische Bewegungen im Überlebenskampf wie den Bürgerkrie- Gerede vom Spätkapitalismus oder vom „Untergang einer Zivili- gen in Rußland und Spanien nicht gefeit waren vor autoritären sation“ blamiert.3 Denn die Entfaltung der Produktivität, die eine Tendenzen. In diesen historischen Umbruchsituationen entwickelten gewaltige Zunahme an Gütern und Dienstleistungen seit Mitte Anarchisten keine erfolgreiche Strategie, die sich mit ihren Prinzi- des 19. Jahrhunderts hervorbrachte, hat dazu geführt, dass sich pien vereinbaren ließen, die CNT beteiligte sich sogar an der Re- der Lebensstandard von Mittelschichten und Teilen der Arbeiter- gierung. Die simple Vorstellung, in einem großen Aufstand oder klasse seitdem deutlich verbessert hat. Die Arbeiter in den Zen- Generalstreik könnte der Staat besiegt werden und am nächsten tren des Kapitalismus, aber auch Segmente in der Peripherie haben Tag die herrschaftsfreie Gesellschaft anfangen, wurde der Kom- deutlich mehr zu verlieren als ihre Ketten. Das gilt bis heute, auch plexität der Lage nicht gerecht. Lediglich einige spanische Anar- nach fast drei Jahrzehnten des Sozialabbaus in den kapitalistischen chosyndikalisten stellten Überlegungen zu Übergangsperioden Kernländern. an.4 Das war ein Sakrileg, weil nach anarchistischer Aufassung Der zweite Grund liegt darin, dass alle großen Entwürfe der Lin- solche Ansichten ein übler Trick der Marxisten sind, um Diktatu- ken gescheitert sind. Betrachten wir das kurze 20. Jahrhundert, ren zu begründen. wie es der marxistische Historiker Eric Hobsbawm nannte, also Sicher gab es begrenzte Erfolge. Alle Ansätze trugen dazu bei, die Epoche zwischen der Oktoberrevolution 1917 und dem Zu- bestimmte Verbesserungen für Millionen von Menschen zu er- sammenbruch des real existierenden Sozialismus in Osteuropa reichen. Denken wir an die österreichische Sozialdemokratie, die 1991. nach dem Ersten Weltkrieg in Wien die elenden Slums durch die Dieser Zeitraum umfasst ungefähr Aufstieg und Niedergang der reformistischen Sozialdemokratie. Auf der materiellen Grundlage 4 Diego Abad de Santillán, Die ökonomische Organisation der Revo- lution, in: Tomas Kleinspehn, Santillan, Peiró. Ökonomie und Revo- 3 Das Unsichtbare Komitee, Der kommende Aufstand (2007), 2010, lution, Wien 1986, S.103f.; ders., Zwischenbilanz der Revolution, in: S.61. Kleinspehn, Wien 1986, S.191f.

88 Gemeindebauten überwand, oder die Kommunistischen Parteien, einen die Ansicht, Kapitalismus und Marktwirtschaft seien zwei die mit Hilfe der Planwirtschaft die Lebensverhältnisse in Osteu- verschiedene Wirtschaftsformen und zum zweiten die Vorstellung ropa hoben, während die Wiedereingliederung in den kapitalisti- eines Gegensatzes zwischen Finanzkapital und „Realwirtschaft“, schen Weltmarkt seit 1990 viele Menschen in Armut stürzte. wobei gierige Banker und skrupellose Börsianer eine positiv be- Zur Bilanz gehört aber, dass keine Fraktion ihren Anspruch, eine wertete Realwirtschaft dominieren und ausplündern würden. neue befreite Gesellschaft aufzubauen, einlösen konnte. Das hat Diese Sicht wird von Anarchisten, von Sozialdemokraten und Ge- zu einer Resignation geführt, eine befreiende Alternative zum Ka- werkschaftern (Stichwort Heuschrecken) und Linken vertreten, pitalismus scheint den meisten unmöglich. Wir stehen also vor ei- die sich als Marxisten verstehen, sie wird in den Medien verbreitet nem Neuanfang. Die Frage ist, was kann der Anarchismus dazu und entspricht einem verbreiteten Unbehagen in der Bevölkerung.8 beitragen? Von Proudhon zu Graeber Anarchismus aktuell In der anarchistischen Bewegung gehen solche Vorstellungen Auch wenn Anarchismus schick sein mag und trotz der vielbe- auf Pierre-Joseph Proudhon (1809-65) zurück. 1840 erschien schworenen Renaissance: Anarchistische Gruppen sind in der Re- seine Schrift „Was ist das Eigentum?“ mit den Sätzen: „Eigen- gel so unbedeutend wie andere Fraktionen der radikalen Linken.5 tum ist Diebstahl! Gott ist das Übel! Die beste Regierung ist die Sie sind allerdings fast deren einzige Vertreter in Osteuropa und Anarchie“.9 Diese Formeln täuschen darüber hinweg, dass Proud- in Russland, wo marxistische Ansätze diskreditiert sind, und sie hon Kommunismus und Sozialismus entschieden ablehnte und spielen eine wichtige Rolle in Griechenland. das Eigentum verteidigte. Es soll bloß nicht missbraucht werden Basisdemokratische und antiautoritäre Momente, anarchistische und den Arbeitern ein gerechter Anteil zukommen. Proudhon Aktionsformen und Organisationsformen sind in sozialen und verband mit dem Begrif des Eigentums zwei grundverschiedene linken Bewegungen weit verbreitet: Das reichte von Teilen der Vorstellungen: Eigentum als Frucht eigener Arbeit und Eigentum Bürgerrechtsbewegung in den USA, über Autonome und Links- als Aneignung fremder Arbeitsleistung, als Diebstahl. Das wirkt alternative bis zu den Zapatistas und der Globalisierungskritik.6 auf den ersten Blick plausibel und ist kein bisschen umstürzlerisch, Das ist nicht gering zu schätzen, denn sozialdemokratische und sondern bewegt sich im Rahmen des polizeilich Erlaubten.10 leninistische Strömungen, staatsfxierte Befreiungsnationalisten, Noch kurz vor der französischen Februarrevolution von 1848 be- Antiimperialisten und ML-Sekten sind nicht verschwunden. schwört Proudhon seine Freunde, sich nicht einzumischen. Erst Beängstigend sind Vorstellungen, etwa von Giovanni Arrighi oder nach Ausbruch der Kämpfe in Paris beteiligt er sich und verfasst den indischen Marxisten Vijay Prashad und Prabhat Patnaik, Broschüren zur „Lösung des sozialen Problems“. Sein „Revolutio- Schwellenländer wie Indien und Brasilien, Entwicklungsdiktatu- näres Programm“ von 1848 zeigt Proudhon als vollendeten Re- ren wie Russland und China und gar der Iran mit seiner militant aktionär: Er plädiert für die Todesstrafe11, gegen das allgemeine antisemitischen Führung wären neue Hofnungsträger der Eman- Wahlrecht, gegen die Demokratie, gegen den Kommunismus und zipation. Auf internationaler Ebene gab/gibt es das antiimperia- gegen die Emanzipation der Frauen.12 listische Bündnis Venezuela-Iran. Ähnlich abstrus ist die zutiefst Als Prinzipien nennt er Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Eigen- antiamerikanische Idee von Antonio Negri, die von Deutschland tum „als das Recht, über sein Einkommen, den Ertrag seiner Ar- dominierte EU als „Multitude“ gegen ein von den USA beherrsch- beit und seines Fleißes frei zu verfügen“. Sein Prinzip sei „laissez tes „Empire“ in Stellung zu bringen. Bezeichnend ist, dass Ent- faire, laissez passer“, es dürfe „keine Solidarität unter den Bürgern“ wicklungen linker Parteien in Brasilien, Bolivien, Ecuador und geben außer bei höherer Gewalt. Venezuela, gefeiert als „Sozialismus des 21. Jahrhundert“, kaum Das einzige Problem stellt aus Sicht Proudhons das Geld dar. „Alle kritisch refektiert werden.7 Krankheit, die heute den Sozialkörper heimsucht, läßt sich auf ei- Allerdings teilen ganz verschiedene Strömungen, von Traditions- nen Stillstand, auf eine Störung der Zirkulationsfunktion zurück- marxisten bis Anarchisten, grundfalsche Vorstellungen: Zum führen.“ Diese Zirkulation aber beruhe auf Bargeld, und das Pro- blem sei, dass Geld „ein Werkzeug der Spekulation, eine Fessel für die Freiheit des Handels ist. Da das Geld nicht umsonst arbeitet, 5 Sebastian Kalicha, Gabriel Kuhn, Hg., Von Jakarta nach Johannes- burg. Anarchismus weltweit, Münster 2010, S.297 f. ist in diesem System die Zirkulation einem ständigen Schwund des Wertes ausgesetzt.“ 6 Clayborne Carson, Zeiten des Kampfes. Das Student Nonviolent Co- ordinating Commitee und das Erwachen des afroamerikanischen Wid- erstandes in den sechziger Jahren, Nettersheim 2004. 8 Altvater: „Ich unterscheide zwischen Markt und Kapitalismus. Meine 7 Dagegen hat die Redaktion der anarchistischen Zeitschrift von El Kritik richtet sich gegen den Kapitalismus und die Zwänge, die er Libertario eine vernichtende Bilanz der bolivarischen Revolution gezo- erzeugt, nicht gegen Märkte.“ („Immer kritisch zu sein, ist unheimlich gen. Die Regierung Chavez stehe für eine Mischung aus Caudillismo, anstrengend“, Interview, Süddeutsche Zeitung, 17.4.2014). Militarismus, Korruption, Nationalismus, Populismus und Staatska- 9 Pierre-Joseph Proudhon, ausgewählte Schriften, herausgegeben von pitalismus. In gemischten Unternehmen mit transnationalem Kapital Tilo Ramm, Stuttgart 1963, S.V. würden die Rohstofe ausgebeutet, Umwelt zerstört und ein Teil der 10 In dem Buch „System der ökonomischen Widersprüche oder Philos- Ölrente für soziale Ausgaben verwendet. Mit Firmen wie Chevron, BP, ophie des Elends“ (1846) schreibt er: „Das Eigentum ist eine Institution Eni oder Repsol habe Chavez Verträge mit bis zu 40 Jahren Laufzeit ab- der Gerechtigkeit und Eigentum ist Diebstahl. Aus alledem geht her- geschlossen. Die sozialen Bewegungen hätten sich aufgelöst oder seien vor, daß eines Tages das umgewandelte Eigentum eine positive, soziale domestiziert. Wachsende Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Kor- und wahrhaftige Idee sein wird; ein Eigentum, das das alte Eigentum ruption, ungebändigte Infation und Krise der öfentlichen Versorgung abschaft und für alle gleichmäßig wirksam und wohltätig sein wird.“ würden zu Desintegration, Kriminalität und Gewalt beitragen. Sozi- (zitiert nach Ramm, 1963, S.XIX. ale Errungenschaften würden propagandistisch übertrieben (Die Fata Morgana der sozialen Revolution, Jungle World, Nr.11, 14.3.2013, Ka- 11 Ramm, 1963, S.152. licha/Kuhn, 2008, Interview, S.338f.). 12 Ramm, 1963, S.121.

89 Das Geld habe die Arbeit dem Kapital unterworfen, Bargeld müs- Zins kritisiert statt die Kapitalverwertung als Gesamtsystem. Ein se darum abgeschaft werden.13 Eine Tauschbank auf Gegensei- prominentes Beispiel dafür ist David Graeber, anarchistischer An- tigkeit soll den direkten Austausch aller Erzeugnisse zum Herstel- thropologie-Professor und gefeiert als Mastermind von Occupy. lungspreis vermitteln. Der Zins würde dadurch auf null sinken.14 Er behauptet, die Welt würde von Finanzeliten mithilfe korrupter Das ist der berühmte Mutualismus zumindest im ökonomischen Regierungen ausgeplündert, und suggeriert, die Verschuldung von Bereich, den manche Anarchisten bis heute Proudhon zu Gute Staaten und Privatleuten wäre bloß ein schlaues politisches Instru- halten. Indem der Zins wegfällt und Löhne und Gehälter, Mieten ment, mit dem neoliberale Technokraten soziale Bewegungen, und Pachten, Abgaben und Zölle, Dividenden sowie Schulden ge- insbesondere die Arbeiterbewegung, niederhalten. Nicht mehr senkt werden, würden sich die Produktionskosten verringern, die die Aneignung von Mehrwert, den die menschliche Arbeitskraft Herstellung von Gütern angekurbelt und der allgemeine Reich- im Produktionsprozess schaft und der auf dem Markt realisiert tum vermehrt. Alle Proletarier bekämen einen Anteil an diesem werden muss, hält er für ausschlaggebend, sondern versteht unter Zuwachs, stiegen zu selbständigen Handwerkern und Kapitalisten Ausbeutung in erster Linie Machenschaften einer Finanzelite, die auf, so dass das Proletariat verschwinden würde. Fortan gebe es uns Kredite aufschwatzt und in eine moderne Zinsknechtschaft nur noch unabhängige Produzenten, die untereinander Waren manövriert. Dabei geht es im realen Kapitalismus nach wie vor zum Selbstkostenpreis tauschen.15 darum Güter und Dienstleistungen herzustellen und zu verkau- Proudhon entwickelte eine Perspektive, die die Nationalsozialisten fen, es geht um Autos, Computer, Handys, Halbleiter, Häuser, in der Formel vom schafenden versus rafenden Kapital fassten. Textilien, Arzneimittel, Stahl, Aluminium, Rohstofe oder Nah- Diebstahl begeht nach Proudhon nur, wer Geld verleiht und da- rungsmittel. Die Papiere der Finanzmärkte beinhalten Ansprüche, für Zinsen nimmt (= rafend), nicht aber der industrielle Kapita- die sich in letzter Instanz auf Profte beziehen, die mit Gütern und list (= schafend), der Lohnarbeiter beschäftigt. Als einen dieser Dienstleistungen auf dem Markt erwirtschaftet werden müssen. Diebe identifzierte Proudhon den Juden, für ihn ein Betrüger Für Graeber sind Marktwirtschaft und Kapitalismus „zwei ver- und Schmarotzer: „Seine Wirtschaftspolitik ist ganz negativ, ganz schiedene Dinge“.17 Kapitalismus reduziert er auf Börsenspekula- wucherisch; das Prinzip des Bösen, Satan, Ahriman, verkörpert in tionen, undurchsichtige Bankgeschäfte, Monopole und Konzern- der Rasse des Sem.“ Sie seien eine Parasitenrasse, die die Welt be- macht, Zins und Wucher.18 Marktwirtschaft hingegen verbindet herrscht, in dem sie Banken und Börsen sowie die Presse kontrol- er mit ehrlicher Arbeit und fairem Tausch. Die ideale Ordnung liert, eitel, materialistisch und spitzfndig, unfähig einen eigenen ist für Graeber eine Marktwirtschaft ohne Staat, in der „soziale“ Staat zu bilden. Die Juden würden Geld als Wafe benutzen und Währungen ohne Zinsen den Austausch vermitteln. Als histo- seien unfähig zu ehrlicher Arbeit. Man müsse begreifen, dass der rische Referenzen präsentiert der Anthropologe das chinesische Jude „vom Temperament her ein Anti-Produzent ist, kein Bauer, Kaiserreich und seine konfuzianischen Beamten sowie die Kalifen ja noch nicht einmal ein richtiger Kaufmann“. Proudhon forderte, und Sultane des Mittelalters, die gestützt auf den Koran das Zins- alle französischen Synagogen zu schließen. „Man muss diese Rasse verbot durchgesetzt, die Schuldknechtschaft unterbunden und nach Asien zurückschicken oder sie ausrotten.“16 sich ansonsten nicht in die Wirtschaft eingemischt hätten.19 Für Selbstverständlich ist nicht jeder ein Antisemit, der bloß Geld und einen Anarchisten ist das eine ziemlich bizarre Weltsicht. Das alte China war eine brutale Ausbeutergesellschaft, in der die Bauern immer wieder rebellierten, die islamischen Staaten waren Dikta- 13 „Das Geld ist also ein Hemmnis für den Austausch, eine Fessel für turen, deren Herrscher sich untereinander massakrierten und Ex- die Freiheit des Handels und der Industrie; sowohl für sich genommen pansionskriege führten. Selbstverständlich nahmen Geldverleiher als überfüssiges Organ, als Schmarotzertätigkeit, als auch seinen Ko- in islamisch geprägten Ländern Zinsen für Kredite, bezeichneten sten nach, als Ursache von Verlust. Auf das Bargeld zu verzichten und sie aber wie im modernen Islamic Banking als Gebühr oder Auf- den Zins für das Umlaufkapital zu beseitigen, das ist die erste Fessel wandsentschädigung. der Freiheit, die ich durch die Gründung einer Tauschbank zu sprengen Menschen tauschen seit prähistorischen Zeiten. In den meisten vorschlage.“ (zitiert nach Ramm, 1963, S.123, S.126. historischen Gesellschaften wurden Produkte auf Märkten ausge- 14 Ramm, 1963, S.126, S.133, S.140, S.147; „Wenn... der gegenseitige tauscht. Der Marktmechanismus ließ sich mit antiken Sklaven- Austausch der Produkte direkt ohne Vermittlung und ohne Abzüge im Voraus erfolgte, dann würde die Gegenseitigkeit des Kredits als Kap- ökonomien oder feudalen Ökonomien mit geringen Überschüssen ital, und zwar als unerschöpfiches und unentgeltliches und zinsfreies kombinieren. Im Mittelalter bestand, eingebettet in eine feudale Kapital, arbeiten, dann wäre die Zirkulation nicht mit einer Aufage Agrarwirtschaft, ein marktwirtschaftlicher Sektor, gespeist aus von 400 Millionen als Diskont belastet, und der Finanzwucher wäre handwerklichen und agrarischen Überschüssen sowie Textilien unmöglich“, schreibt Proudhon. Er gründet seine Tauschbank im Feb- oder Metallen, die in Lohnarbeit hergestellt bzw. geschürft wur- ruar 1849 und gibt Kleinstaktien zu fünf Francs aus. Innerhalb von den, während der Fernhandel große Teile der alten Welt verband. acht Wochen zeichnen 12.000 Teilhaber Anteile über mehr als 36.000 Diese Marktwirtschaft, verbunden mit einer brutalen europä- Francs. Proudhon fieht jedoch nach Belgien, als er wegen einer Kritik ischen Expansionspolitik, entwickelte jene Dynamik, die über die an Louis Bonaparte, dem späteren Kaiser Napoleon III., ins Gefängnis Etappen des Handelskapitalismus, des Merkantilismus und der soll und löst das Unternehmen auf. Industriellen Revolution zum modernen Kapitalismus führte. 15 Ramm, 1963, S.135f., S.143f. Ein entscheidendes Moment ist, dass Marktwirtschaft immer Pro- 16 Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage, Berlin 1962, S.56f.; duktion von Tauschwerten unter Konkurrenzbedingungen denkt, George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt am Main 1990, S.187f.; Frederic Krier, Sozialismus für Kleinbürger, Pierre-Joseph Proudhon – Wegbereiter des Dritten Reiches, Köln, Wei- 17 David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart 2012, mar, Wien 2009, S.179f.; Werner Portman, Proudhon und das Juden- S.395. tum, in: Jürgen Mümken, Siegbert Wolf, Hrsg., „Antisemitismus, das geht nicht unter Menschen“. Anarchistische Positionen zu Antisemitis- 18 Graeber, Schulden, 2012, S.350, S.363f. mus, Zionismus und Israel, Lich 2014, S.39f. 19 Graeber, Schulden, 2012, S.274f., S.290f., S.320f.

90 sobald nicht mehr nur zufällig erwirtschaftete Überschüsse auf über Anarchismus überproportional vertreten. Beispiele dafür sind Märkten angeboten werden. Der Gebrauchswert eines Produkts der Band „Anarchismus“ aus der Teoriereihe des Schmetterling- wird dadurch nicht zur Nebensache, aber Mittel zum Zweck. Ein Verlages, der bereits in der dritten Aufage erschienen ist, sowie entscheidender Punkt in der Entwicklung ist erreicht, wenn Pro- das nachfolgende Sammelwerk „Anarchismus 2.0“ (2009), beide duktion und Tausch nicht mehr dem Konsum dienen, wie in vor- von dem Espero-Mitbegründer Jochen Knoblauch und dem Espe- kapitalistischen Ökonomien, sondern der Gewinn akkumuliert ro-Autor Hans Jürgen Degen herausgegeben, sowie das von Ilja und reinvestiert wird. Trojanow herausgegebene Buch „Anarchistische Welten“ (2012). Eine solche Marktwirtschaft ist keine statische, sondern eine dy- In dem Sammelband von Degen und Knoblauch werden, abgese- namische Ökonomie, die die Beteiligten regelmäßig in Sieger und hen von dem Beitrag eines Anarchosyndikalisten und der Analyse Verlierer sortiert. Lohnarbeit bedeutet dann vom Staat regulierte Jens Kastners über libertäre Momente im Zapatismus, individua- Ausbeutung fremder Arbeitskraft und Zurichtung sowie Ausplün- listische und proudhonistische Ansätze betont, kommunistische derung und Zerstörung der Umwelt. Der Ruin vieler und die Ex- und kollektivistische Ansätze hingegen als totalitär difamiert. pansion weniger Unternehmen gehören ebenso zu den Gesetzen Viel Raum bekommen sogenannte Revisionisten, die sich nach des Marktes wie die Krisen, die seit der Frühzeit des industriellen 1945 von antikapitalistischen Positionen verabschiedeten und für Kapitalismus regelmäßig wiederkehren. Eine Marktwirtschaft aus Marktwirtschaft und Eigentum eintraten.23 lauter Kleinproduzenten, gar eine Subsistenzökonomie, wäre heute In den Büchern von Trojanow, Degen und Knoblauch fungiert unmöglich, außer nach einem völligen Zusammenbruch der Zivi- stets Gerhard Senft als Experte für anarchistische Ökonomie. Der lisation. Gesellianer, der am Wiener Institut für Wirtschafts- und Sozial- geschichte lehrt, glaubt trotz der Billionenbeträge, die monetä- Individualismus, Egoismus und Freiwirtschaft rer Ausdruck einer Überakkumulation von Kapital sind, an eine Hierzulande ist die Szene der erklärten Individualanarchisten Geldknappheit. Darum wirbt er mit Bezug auf Benjamin Tucker, winzig. Dazu gehören etwa die Max-Stirner-Gesellschaft e. V. einen amerikanischen Vordenker des Individualanarchismus, für sowie die Zeitschrift Espero, die im September 2013 ihr Erschei- eine „Geldanarchie“. Das staatliche Geldmonopols soll aufgeho- nen eingestellt hat, und das Andenken von Max Stirner und John ben, die Zentralbanken aufgelöst und jeder Mensch beliebig Geld Henry Mackay hochhielt. Mackay lehnte den kommunistisch- herstellen und in Umlauf bringen dürfen.24 kollektivistischen Anarchismus ab. „Denn wir wollen keine Gü- Solche Vorschläge fnden sich schon bei Friedrich von Hayek, den tergemeinschaft, gerade die Freiheit des Individuums verlangt das Vordenker des Neoliberalismus, auf den sich Senft bezieht, sie ha- private Eigentum“, erklärte Mackay 1894 in einem Interview, das ben im Zuge der Wirtschaftskrise von 2008 unter dem Schlagwort Espero 2012 nachdruckte.20 „Free Banking“ eine gewisse Resonanz bekommen. Sie fnden sich Johann Caspar Schmidt alias Max Stirner gilt als Begründer des im Umfeld der AfD, bei der rechtslibertären Partei der Vernunft Individualanarchismus. In seinem Hauptwerk „Der Einzige und (PdV) oder Ron Paul, ehemaliger Abgeordneter der Republikaner sein Eigentum“ (1844) gab er die Maxime aus: „Was Du zu sein die im US-Parlament und Galionsfgur der Rechtslibertären. Macht hast, dazu hast Du das Recht.“ Sein Lob des Egoismus erin- Jede funktionierende Währung hängt indes vom Vertrauen in nert an Friedrich Nietzsche, bloß argumentiert Stirner noch nicht deren Kaufkraft ab. Geldanarchie bedeutet, dass mehrere Wäh- biologistisch. „Was ich mir zu erzwingen vermag, erzwinge ich rungen innerhalb eines Territoriums gelten. Über kurz oder lang mir, und was ich nicht erzwinge, darauf habe ich kein Recht, noch würden stabilere und kaufkräftigere Währung die schlechteren brüste oder tröste ich mich mit meinem unverjährbaren Rechte“, Versionen verdrängen, bis nur noch eine übrig bleibt. In der Öko- sagt Stirner. Der Verein, den er als Alternative zum bürgerlichen nomie ist dieser Mechanismus als Greshamsches Gesetz bekannt. Staat propagiert, wäre demnach eine Meute, eine Zusammenrot- Die Alternative wäre eine Geldanarchie mit festen Wechselkur- tung zur Mehrung von Macht und Beute. Nationalsozialisten wie sen, was die ganze Operation sinnlos macht, weil eine einzige Dietrich Eckart, Martin Heidegger oder Carl Schmitt gefel, dass Währung dann besser, weil weniger aufwändig wäre. Obendrein Stirner die Vorstellung verwarf, der Mensch sei ein soziales Wesen müssen feste Wechselkurse von Institutionen festgelegt und ihre mit einer moralischen und politischen Verantwortung.21 Heute Einhaltung garantiert werden, notfalls mit Zwang, was am Ende sprechen Postanarchisten wie Saul Newman von der „Undurch- auf eine staatliche Struktur hinausläuft. sichtigkeit des Sozialen“ und verwerfen mit Stirner und Nietzsche In Espero wurde die Freiwirtschaftslehre Gesells verfochten, der den sozialistischen Anarchismus wie den Kampf gegen den Kapi- insbesondere der Herausgeber Uwe Timm anhing.25 In der Oc- talismus.22 cupy-Bewegung plädierte der Kulturphilosoph und Esoteriker Der ideologische Einfuss solcher Richtungen ist schwer messbar. Charles Eisenstein, der ebenfalls als Vordenker gilt, für Lokal- und Aber solche Ansätze sind in wichtigen neueren Sammelbänden Regionalwährungen, die ideologisch auf Gesell zurückgehen, und auch in Adbusters, dem hippen Magazin aus Kanada, das „Occupy Wallstreet“ initiiert hat, wurde für die Freiwirtschaft geworben. 20 Espero, Nr.72, Juni 2012, S.28f. Passend dazu wurde im gleichen Heft für die »Partei der Vernunft« (PdV) geworben, die, gestützt auf Friedrich August von Hayek, die Steuern weiter senken und die 23 Auch Rocker schwächte nach dem Zweiten Weltkrieg und vor dem Sozialversicherung abschafen will (Manuel Cebulla, Libertäre Partei Hintergrund der stalinistischen Diktatur seine antikapitalistische Posi- in Deutschland. Die Partei der Vernunft, S.12f.). tion deutlich ab (Rocker, Aufsatzsammlung, Band 2, 1949-1953, S.5). 21 Alex Gruber, Philipp Lenhard, Deutsche Ideologie: Von Stirner zum 24 Gerhard Senft, Ökonomie, Herrschaft und Anarchie, in: Ilija Tro- Poststrukturalismus, in: dies., Gegenaufklärung, Freiburg 2011, S.10f.; janow, Hrsg., Anarchistische Welten, August 2012, S.165; Senft, De- Gabriel Kuhn, Hrsg., „Neuer“ Anarchismus in den USA, Münster zentrale Geldschöpfung. Ein aktuelles Zukunftsthema, in: Humane 2008, S.225f. Wirtschaft, Nr.1, 2012, S.18f. 22 Saul Newman, Die Politik des Postanarchismus, in: Kuhn, 2008, 25 Eine Fraktion der Freiwirte hatte während der Weimarer Republik S.228, S.231. Stirners Egoismus zur weltanschaulichen Grundlage erkoren.

91 Lifestyle-Anarchismus und Esoterik weg sind, oder einen Basketball in den Park mitzubringen, um Dieser „neue“ Anarchismus will prinzipiell nicht sozialistisch, mit anderen zu spielen, sei schon nichtkapitalistische Ökonomie.33 dafür inhaltlich ofen sein. Graeber preist Anarchismus als „Aus- Inzwischen erhebt CrimethInc den Anspruch, eine anarchistische, tausch von inspirierenden Visionen“, einen „Prozess der Reini- explizit nichtmarxistische Analyse der Ökonomie zu entwickeln. gung, der Inspiration und des Experiments“ und eine „Art von in- Kapital und Lohnarbeit werden als Basiskategorien und Angrifs- spirierendem, kreativen Spiel“.26 Vom „klassischen“ Anarchismus punkte benannt ebenso verschiedene Organisations- und Ak- distanziert sich Graeber wegen dessen Militanz. Auf Teorie meint tionsformen. Außerdem bezieht sich CrimethInc positiv auf die er im Namen theorieferner Praxis verzichten zu können. syndikalistischen International Workers oft he World (IWW9. Al- Trojanow defniert Anarchismus als „ein Projekt, anhand radi- lerdings übernimmt die Gruppe gängige Vorstellungen der globa- kaldemokratischer Prinzipien einen geeigneten gesellschaftlichen lisierungskritischen Bewegung, wonach eine spekulative Finanz- Rahmen für eine größtmögliche individuelle Freiheit zu schafen, sphäre die Wirtschaft dominiert. Die Ansicht, Profte entstünden bei größtmöglicher Gleichheit und Gerechtigkeit.“ Diese „multi- dadurch, dass Arbeiter nicht der volle Wert ihrer Arbeit als Lohn dimensionale, fexible, undogmatische Eigenschaft“ verleihe dem ausgezahlt werde, während Konsumenten mehr für ihre Einkäufe Anarchismus eine „immerwährende Aktualität“, er lasse „alle jene bezahlen müssen, als die Produktionskosten ausmachen, lässt auf Kategorisierungen und Essentialismen hinter sich (...), die in den ein eher proudhonistisches Verständnis schließen.34 letzten Jahrzehnten als alte Zöpfe abgeschnitten worden sind“.27 Last but not least behauptet Noam Chomsky, Anarchismus be- Das nordamerikanische Netzwerk CrimethInc predigt zwar Mili- schränke sich darauf „nicht legitimierte Machtstrukturen“ bzw. tanz, lehnte aber kohärente Teorie, insbesondere einen sozialisti- „illegitime Macht“ zu überwinden. Er plädiert für einen neuen schen Ansatz, sowie verbindliche Organisierung ab und predigte New Deal, eine keynesianische Wirtschaftspolitik plus Regulie- stattdessen ein Ausleben des Ego, das an Stirner erinnert. Anar- rung des Bankensektors.35 Bookchin hatte Chomsky scharf kri- chismus bedeute, „deine Instinkte und Leidenschaften nicht in tisiert, als dieser die Kandidatur Bill Clintons als Präsident un- Kategorien zu zwingen“, und „dein Selbst keinen äußeren Grenzen terstützte. Fairerweise muss man anmerken, dass fast nur noch zu unterwerfen“, heißt es in dem Text „Für unser Leben kämpfen“ bürgerliche Journalisten Chomsky für einen Anarchisten halten.36 von 2002, der angeblich in einer Aufage von einer halben Million Denn einen solchen Anarchismus lieben sie. So pries die Frankfur- Exemplaren verbreitet wurde.28 Das Kollektiv gab die Maxime aus: ter Allgemeine Zeitung den neuen Anarchismus als „Marxismus „Wann immer ihr eine Entscheidung treft und handelt, ohne auf des neuen Jahrtausends“, der eine neue linke Bewegung überwöl- Anweisungen oder ofzielle Erlaubnis zu warten, seid ihr Anarchi- be. Dessen Maßstäbe seien „soft and fuid“, viele Anarchisten wür- sten.“ Demnach wären Kapitalisten, faschistische Schlägertrupps den nicht einmal mehr bestimmte Formen staatlicher Gewalt ab- wie pogrombereiter Mob ebenfalls Anarchisten, vorausgesetzt sie lehnen und das Prinzip der Kooperation so ausdehnen, dass sogar handeln „selbstbestimmt“.29 Der Nähe zu Stirner und Mackay der Kapitalismus eingeschlossen werde. Insbesondere Graeber ge- wird deutlich, wenn es heißt: „A. ist aristokratisch – nur sind wir linge diese „Fluidität“, während sonst oft ein „revolutionsfxierter alle die Aristokraten.“30 Eine ähnliche Position hatte Emma Gold- Ton“ verbreitet sei.37 Graeber selbst prahlt, die Eliten würden die man vertreten, ein großer Fan von Nietzsche, die ebenfalls meinte, Anarchisten fragen, wenn sie nicht mehr weiter wüssten.38 Dabei alle wahren Anarchisten wären Aristokraten.31 wäre solcher Zuspruch ein sicherer Beweis dafür, dass man irgen- Gesellschaftskritik ist ein bewusster Akt. Der „small-a-Anar- detwas falsch macht. chism“, mit dem Graeber kokettiert, führt zur Afrmation. In Es geht noch weiter: Früher waren Anarchisten Atheisten, die Graebers Schulden-Buch fndet man das hohe Lied auf die freie Kirchen zerstörten, heute hätten sich „spezifsch anarchistische Marktwirtschaft, CrimethInc propagiert Diebstahl und Betrug, Formen der Spiritualität“ entwickelt, wie etwa das „feministische aber nicht den organisierten Kampf gegen die Produktionsverhält- Heidentum“, die pluralistisch, polytheistisch und selbstkritisch nisse. „Wir weigern uns, in den Kampf um Trivialitäten wie Eigen- wären, schreibt Graeber nicht ganz zu Unrecht.39 In dem Sam- tum und Autorität einzutreten“. Sie seien keine „Egalitaristinnen melband von Degen und Knoblauch werden sektenartige Grup- im herkömmlichen Sinn“, sondern im Gegenteil: „Wir haben ge- pen wie Zegg in Brandenburg und der „Stamm Füssen Eins“ im nau genommen auch nichts gegen das Eigentum, sondern wenden Allgäu als Beispiele für das Zusammenleben in Kommunen dar- uns nur gegen die Albernheit, sich über Eigentum zu streiten.“32 gestellt und für Schamanen geworben. Sogar die Legende einer Ihrer Ansicht nach existieren längst anarchistische Ökonomien. von der Kirche unterdrückten positiven europäischen Spirituali- Als Beispiel nannte CrimethInc kommunale Gartenarbeit, Laden- tät, die auf völkisch-nazistische Ideologen zurückgeht und in der diebstahl oder Mülltauchen. Es fällt schwer, Leute ernst zu neh- Neuen Rechten von Sigrid Hunke reanimiert wurde, fndet sich.40 men, die meinen, eine Party zuhause abzufeiern, wenn die Eltern 33 CrimethInc., 2008, S.77f. 26 Graeber, Direct Action. An Ethnography, Edinburgh 2009, S.211, 34 CrimethInc., Work. Kapitalismus, Wirtschaft, Widerstand, Mün- S.216, S.221. ster 2014, S.181, S.183, S.258, S.348f. 27 Ilja Trojanow, Hrsg., Anarchistische Welten, Hamburg 2012, S.6f. 35 Noam Chomsky, Jeder sollte ein Anarchist sein, Interview, Frank- 28 CrimethInc., Für unser Leben kämpfen. Eine Einführung in den furter Rundschau, 24.1.2014. Anarchismus, in: Gabriel Kuhn, Hrsg., Neuer Anarchismus in den 36 Kalicha, Kuhn 2008, S.301f. USA. Seattle und die Folgen, Münster 2008, S.69. 37 Uwe Ebbinghaus, Wer hat Angst vorm Anarchismus, Frankfurter 29 Siehe etwa das Neonazi-Strategiekonzept des führerlosen Wider- Allgemeine Zeitung 30.1.2012. standes. 38 Graeber, Interview, Jungle World, Nr.28, 12.7.2012, Beilage, S.19f. 30 CrimethInc., 2008, S.77. 39 Graeber, 2009, S.220. 31 Emma Goldman, Gelebtes Leben, Hamburg 2010, S.186, S.226. 40 Anja Kraus, Über die Achtung der Frau und die sozialen Bewegun- 32 CrimethInc., 2008, S.77f. gen der indigenen Völker am Beispiel der Aymara/Bolivien, in: Degen,

92 CrimethInc füchtet sich in die Arme der Natur, in einen mysti- Auch das Unsichtbare Komitee verklärt zwar Riots in Vorstädten fzierenden Biologismus: „Anarchismus ist Chaos, und Chaos ist und fordert die Bewafnung, stellt aber klar, dass es einen erfolg- Ordnung. Jedes natürlich geordnete System – ein Regenwald, eine reichen militärischen Aufstand heute nicht geben kann.48 Bereits solidarische Wohngemeinschaft – ist ein harmonisches System, Malatesta distanzierte sich von Aufständen und Guerillaaktionen, dessen Ausgeglichenheit sich Chaos und Zufall verdankt“. Abge- die seine Jugend geprägt hatten, und verfocht eine Kombination lehnt wird dagegen Unordnung: aus Generalstreik, Fabrikbesetzungen plus bewafnete Vertei- digung, die zu einem unblutigen Erfolg führen könnte, wie er „Unordnung und ungelöste Konfikte systematisieren sich schnell angesichts der massenhaften Erhebung in Italien 1919 glaubte.49 und schafen Hierarchien, die ihren erbarmungslosen Anforderun- Rocker plädierte nach dem Ersten Weltkrieg dafür, die Armee von gen entsprechen“.41 innen zu zersetzen, die Soldaten für die Sache der Revolution zu gewinnen, und appellierte an die Arbeiter der Rüstungsfabriken, Aufstand, Autoritarismus und Gewaltfreiheit keine Mordwafen mehr herzustellen.50 Er begründete einen wert- Bei CrimethInc und beim Unsichtbaren Komitee fndet sich in vollen gewaltfreien Ansatz, der heute von der Zeitschrift Graswur- Ansätzen die klassische anarchistische Aufstandslinie wieder.42 zelrevolution weitergeführt wird. Die Position war in der anarcho- Dazu gibt es eine neue Richtung, die „entgegen dem Zeitgeist syndikalistischen Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) noch immer vom Aufstand hier und jetzt reden und mit aufstän- umstritten, zumal FAUD-Angehörige etwa bei den Aufständen dischen Methoden experimentieren“ will.43 Diese Strömung ver- im Ruhrgebiet 1920 beteiligt waren. Dabei war Rocker nicht blind steht sich als antipolitisch, in dem Sinn, dass sie lediglich Revolte und dogmatisch. Ihm war klar, dass Nazi-Deutschland nur be- und Aufstand gelten lässt. Alles andere sei Unterwerfung unter wafnet niederzuwerfen war, weshalb Rocker die Anstrengungen die Logik der Macht der Herrschenden. Jede Programmatik wird der Alliierten im Zweiten Weltkrieg unterstützte.51 abgelehnt, die radikale Linken, einschließlich Anarchosyndika- Trefend hatte Engels erkannt, dass es kaum etwas Autoritäreres lismus und Rätekommunismus, zum Feind erklärt.44 Stattdessen als physische Gewalt geben kann. Bezeichnenderweise besteht das wird diese Aufstandslinie, die auf Bakunin, den Begründer des Gros der Schriften Bakunins aus Gebrauchsanweisungen für Ge- sozialistischen Anarchismus zurückgeht, mit Stirners Egoismus heimgesellschaften.52 Vielleicht poetischer im Ausdruck als Lenin fundiert und versteht sich als postlinker Anarchismus.45 Jede Form entwickelte Bakunin nichtsdestotrotz ein Avantgarde-Konzept. des Universalismus und Kollektivismus wird verworfen, Egoismus Zwar solle der Geheimbund der Revolutionäre nicht Macht und und Tausch als natürliche Verhaltensformen gepriesen und damit Zwang ausüben, versicherte Bakunin, durchaus aber „das Volk“ biologistisch gerechtfertigt.46 So wird militante Rhetorik mit reak- agitieren, schulen und lenken. Verglichen mit einem solchen Ge- tionären, stinkbürgerlichen und neoliberalen Inhalten kombiniert. heimbund und seiner informellen Macht ist Lenins Kaderpar- Bakunin würde sich im Grabe umdrehen. Dabei ist die Aufstands- tei samt Zentralkomitee und Politbüro geradezu ein Vorbild an linie in mehrfacher Hinsicht problematisch. Als Referenz wird Transparenz. Friedrich Engels in anarchistischen Kreisen kaum durchgehen, Ein weiterer Schwachpunkt Bakunins und seiner Anhänger ist der aber seine Kritik wurde später von anarchistischen Koryphäen empathische Bezug auf das Volk und der Glaube an dessen revo- ähnlich formuliert. So rügte Engels, dass isolierte Erhebungen lutionäre Instinkte. Mag mancher dabei an die Massen ausgebeu- nur zu sinnlosen Opfern führen, und eine erfolgreiche bewafnete teter Bauern und Arbeiter gedacht haben, so fnden sich schon bei Erhebung ein Mindestmaß an Koordination, Disziplin und Rück- Bakunin auch ziemlich absurde Vorstellungen über die angeblich sichtslosigkeit erfordert.47 Überhaupt hatten Barrikadenkämpfe besonderen revolutionären Qualitäten der Slawen, womit er eine und Revolten alten Stils kaum noch Chancen angesichts moderner ethnische Kategorie einführte. Ein solches homogenes und revolu- Wafen, erkannte der General, wie Engels wegen seines Interesses tionäres „Volk“ existiert aber nicht, sondern verschiedene Klassen für militärische Fragen genannt wurde. und Schichten, und sobald sich diese Ansammlung als „ein Volk“ begreift, kann daraus leicht ein nationaler Mob werden. In einem Text von CrimethInc zur Ukraine scheinen die Autoren Knoblauch, 2009, S.115; Elisabeth Voß, Gemeinsam wohnen und ar- davon auszugehen, dass demonstrierende oder rebellierende Mas- beiten – Kommunen und andere selbstorganisierte Lebensgemeinschaf- sen immer auf dem richtigen Weg sind.53 Ähnlich wie bei Analy- ten, in: Degen, Knoblauch, 2009, S.201. 41 CrimethInc., 2008, S.71. 48 Das Unsichtbare Komitee, S.87: Dort heißt es, ein Einsatz der Armee 42 CrimethInc, Work, 2014. würde ein Blutbad bedeuten und sei „weniger ofenkundig“ (was immer 43 Im Rauch des Feuers. Notizen und Gedanken über den Aufstand, das heißen soll). Das Modell ist die Pariser Commune vom 18. März in: Anonym, Die Erstürmung des Horizonts. Anarchistisches Instru- 1871, als sich die Armeeeinheiten aufösten und überliefen. „Ein Auf- ment zum Schüren von Diskussion, Afnität und Feindschaft, erste stand triumphiert als politische Kraft. Politisch ist es nicht unmöglich, Ausgabe November 2014, S.5. eine Armee zu besiegen.“ 44 Im Rauch des Feuers, in: Anonym, 2014, S.6, S.10, S.12; Bruch mit 49 Brunello, Paola, 2009, S.10f., S.148f. der Linken, in: Anonym, 2014, S.25f.; die Kunst der Politik oder: was 50 Rudolf Rocker, Keine Kriegswafen mehr, in: ders. Aufsatzsamm- ist links?, in: Anonym, 2014, S.31. lung, Band 1, 1919-1933, S.16f.; Peter Wienand, Der „geborene“ Re- 45 Im Rauch des Feuers, in: Anonym, 2014, S.14; Wolf Landstreicher, bell. Rudolf Rocker – Leben und Werk, Berlin 1981, S.290f. Angst vor dem Konfikt, in: Anonym, 2014, S.28; Post-linke Anarchie. 51 Wienand, 1981, S.415f. Die Linke hinter sich lassen, in: Anonym, 2014, S.37f. 52 Außerdem hinterließ Bakunin eine Menge antisemitischer Invek- 46 Apio Ludd, Warum ich kein Kommunist bin, in: Anonym, 2014, tiven neben einer Fundgrube für antideutsche Parolen (Bakunin, 1871, S.22f. in: Mümken, Wolf, 2014, S.80f.). 47 Friedrich Engels, Die Bakunisten an der Arbeit. Denkschrift über 53 CrimethInc, Te Ukrainian Revolution and the Future of Social den Aufstand in Spanien im Sommer 1873, MEW 18, S.476f. Movements, http://www.crimethinc.com/texts/ux/ukraine.html

93 sen aus dem Bereich des Postoperaismus, wo der Begrif der „Mul- Manche Aspekte, die Van der Walt und Schmitt als Markenzei- titude“ der Fetisch ist, werden die Interessen und Ansichten der chen des sozialistischen Anarchismus preisen, sind höchst pro- Beteiligten nicht ernst genommen, sondern ein homogener und blematisch. Bezeichnenderweise handelt es sich um Punkte, bei progressiver Block unterstellt. Das Vorhandensein rechter Strö- denen es eine hohe Übereinstimmung unter den „feindlichen mungen und Ideologemen wird allenfalls als Manipulationsver- Brüdern“ (Kellermann) Anarchismus und Marxismus gibt: Anti- such organisierter Gruppen oder des Staatsapparats wahrgenom- imperialismus, nationale Befreiung, Mission des Proletariats, Ein- men (oder als bösartige Unterstellung linker Teoretiker). schätzung von Antisemitismus, Rassismus und Patriarchat sowie politische Ökonomie. Kritik des sozialistischen Anarchismus Die beiden Autoren unterscheiden wie die meisten Anarchisten Zwar hat der sozialistische Anarchismus keine ausgefeilte ökono- nicht zwischen Marx und Marxismus. Letzterer ist ein Dogmen- mische Teorie hervorgebracht. Aber Kollektivismus, Anarcho- gebäude, eine Rechtfertigungsideologie, die von den sozialdemo- kommunismus und Anarchosyndikalismus haben klare Ziele: Sie kratischen und kommunistischen Parteien entwickelt wurde und lehnen Lohnarbeit als Ausbeutung und Privateigentum an Pro- mit den Positionen von Marx in vielen Punkten wenig zu tun hat.58 duktionsmitteln als deren Voraussetzung ab - genau wie Marx. Ihr Selbst ein profunder Denker wie Murray Bookchin war zu einer Ziel ist eine staatsfreie Gesellschaft, in der die Menschen in Kol- solchen Diferenzierung kaum in der Lage, vielleicht weil er in lektiven und Kommunen leben und arbeiten. Sie sollen selbst in stalinistischen und trotzkistischen Gruppen politisch sozialisiert Versammlungen und Räten die vergesellschaftete Produktion und worden war. Auch die sogenannte Neue Marx-Lektüre nehmen Verteilung von Gütern und Dienstleistungen planen und koordi- Anarchisten in der Regel nicht zur Kenntnis. Manisch arbeiten nieren. Hier gibt es also große Übereinstimmungen mit Rätekom- sich viele an einem Marx ab, den sie durch die Brille von Lenin munisten und undogmatischen Marxisten. oder Stalin lesen und der für sie bloß ein großer Schurke ist, der Einige sozialistische Anarchisten grenzen sich scharf vom Indivi- Bakunin übel mitspielte. dualismus und den Ideen Proudhons ab. Dazu zählen Kropotkin, So bestimmen van der Walt und Schmidt in ihrem Standard- Bookchin und aktuell Lucien van der Walt und Michael Schmidt. werk „Black Flame“ den „klassischen Marxismus“ als Melange Letztere defnieren Anarchismus exklusiv als sozialistische Bewe- aus Marx, Engels, Kautsky und Lenin. Den fundamentalen Un- gung, die sie historisch um 1860 zur Zeit der Ersten Internationale terschied zwischen Proudhon und Marx, der zum Bruch führte, verankern. Sie bestreiten, dass Stirner Anarchist gewesen sei und begreifen sie nicht. Van der Walt und Schmidt unterstellen, beide lassen Proudhon allenfalls als Vordenker gelten.54 hätten die gleiche Arbeitswertlehre verfochten. Dabei übernahm Problematisch ist der Versuch von Walt und Schmidt, eine mäch- Proudhon die klassische Annahme, der Wert einer Ware (genauer tige weltumspannende Bewegung darzustellen.55 Zwar war die gesagt der Tauschwert) sei durch die konkrete Arbeit bestimmt, CNT in Spanien keineswegs die einzige Massenorganisation, es die zu ihrer Herstellung aufgewandt wurde. Viele Vorstellungen gab solche in Frankreich, Italien und Lateinamerika, gleichwohl vom „gerechten Lohn“ basieren auf dieser Gleichung: Der Wert stellte der Anarchosyndikalismus selbst in seiner Hochphase zwi- einer Ware entspreche dem Wert der konkreten Arbeit, der Lohn schen 1890 und 1930 nur in wenigen Ländern eine Mehrheit in müsse daher mit dem Preis der Ware identisch sein. der Linken und/oder der Arbeiterbewegung dar. Die Industrial Marx verwarf diese Annahme. Der Tauschwert einer Ware sei Workers of the World (IWW) beziehen sie ohne weiteres ein, ob- durch die gesellschaftlich notwendige durchschnittliche Arbeits- wohl diese programmatisch eher rätekommunistisch-marxistisch zeit bestimmt, die zu ihrer Herstellung notwendig sei. Diese ausgerichtet waren. Ausgeblendet wird, dass einige Syndikalisten Wertbestimmung setze sich in der Konkurrenz durch. Wer mehr in Italien und Frankreich zum Faschismus überliefen.56 Kritische Arbeitszeit aufwenden muss, kann sich auf Dauer nicht auf dem Studien über Praktiken der CNT/FAI im Bürgerkrieg und die Markt behaupten, nicht mit anderen Betrieben mithalten, die in Machno-Bewegung scheinen sie zu ignorieren.57 einem kürzeren Zeitraum dieselbe Ware herstellen. Dieser Tausch- wert ist jedoch keine Eigenschaft wie Farbe oder Gewicht, son- dern eine Größe, die erst auf dem Markt festgestellt und in Geld (Abfrage 20.1.2015). ausgedrückt werde. Findet eine Ware keinen Käufer, ist sie wert- 54 Lucien van der Walt, Michael Schmidt, Schwarze Flamme. Revo- los. Deshalb lehnte Marx die Vorstellungen ab, durch „gerechten lutionäre Klassenpolitik im anarchismus und Syndikalismus, Hamburg Lohn“, eine Tauschbank oder Arbeitsbörse ließe sich eine Markt- 2013. wirtschaft ohne Krisen einrichten. Für eine Marktwirtschaft sei 55 Van der Walt, Schmidt, 2013; Steven Hirsch, Lucien van der Walt, ständiges Schwanken, Prosperität, Depression und Krisen, eine Anarchism and Syndikalism in Te Colonial and Postcolonial World, „Produktionsanarchie“, die Norm und sowohl Quelle des Elends Leiden, Boston 2010. als auch Ursache des Fortschritts.59 56 Brunello, Paola, 2009, S.149, S.167, Zeev Sternhell, Die Entstehung In Schriften des Anarchosyndikalismus wie des Leninismus, bei der faschistischen Ideologie. Vor Sorel zu Mussolini, Hamburg 1999; Traditionsmarxisten wie Globalisierungskritikern fndet sich Ein ähnliches Versäumnis fndet sich bei Kellermann, der über Georges Sorel schreibt, der sich als Marxist ausgab und sich dann als Syndika- listen sah. Kellermann übergeht, dass Sorel bei den französischen und italienischen Faschisten endete (Kellermann, Georges Sorel: (Anarcho-) Republic of Egos. A Social History of the Spanish Civil War, Madison Syndikalismus als wahrer Marxismus, in: derselbe, Hrsg., Begegnungen 2002. feindlicher Brüder, Band 1, Münster 2011, S.68f.). 58Auch Sternhell zeigt ein geringes Verständnis von Marx, wenn er 57 Michael Seidman, Produktivistische Brüder, in: Kellermann, Feind- etwa behauptet, dieser habe Sozialismus als „Kriegsmaschine gegen die liche Brüder, Band 2, Münster 2012, S.34f.; Martin Baxmeyer, Das bestehende Ordnung“ verstanden (S.22f.).Er verwechselt den Marxis- ewige Spanien der Anarchie. Die anarchistische Literatur des Bürger- mus der II. Internationale mit dem Denken von Marx (Sternhell, 1999). krieges, Berlin 2012, Felix Schnell, Räume des Schreckens, Gewalt und 59 Marx, MEW 4, S.87f., S.94f., S.97; insofern ist Schumpeters be- Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905-1933, Hamburg 2012; Seidman, rühmte Tese von der schöpferischen Zerstörung ein alter Hut.

94 eine politische Dämonologie, die den Konzernchef oder Banker, Vorzüge des sozialistischen Anarchismus schlechte Eigenschaften wie Gier, Habsucht oder Skrupellosigkeit Zu den emanzipatorischen Aspekten des Anarchismus als Verantwortlichen personifziert. Schon Lenin hatte 1916 im- zählt ein umfassenderes Verständnis von Herrschaft als es plizit die Marxsche Analyse als überholt aufgegeben. „Der Kapita- Marx und der Marxismus aufbrachten. Das drückte sich lismus ist so weit entwickelt, dass die Warenproduktion, obwohl aus in einer grundsätzlichen Ablehnung von Hierarchien sie nach wie vor ›herrscht‹ und als Grundlage der Wirtschaft gilt, und Staat, von autoritären und bürokratischen Strukturen in Wirklichkeit bereits untergraben ist und die Hauptprofte den auch innerhalb der Linken aus. Schon früh hatte Bakunin vor ›Genies‹ der Finanzmachenschaften zufällt“, schrieb er. Der Kapi- den deformierenden Wirkungen des Parlamentsbetriebes ge- talismus sei bereits in Parasitentum, Fäulnis und Wucher überge- warnt. Geradezu prophetisch erscheint im Rückblick die Kri- gangen.60 tik von Gustav Landauer, ansonsten ein Mystiker, Gesellianer Eine weitere Parallele fndet sich in der Fetischisierung des Indu- und reaktionärer Lebensreformer, der Ende des 19. Jahrhunderts striearbeiters als revolutionäres Subjekt. Die neuere Variante fndet Sozialdemokratie und Gewerkschaften vorhielt, mit einer ge- sich bei Operaisten und Postoperaisten, die überall eine „Multi- gängelten und obrigkeitshörigen Arbeiterbewegung werde man tude“ am Werke sehen, auch wenn diese gar nichts davon weiß keinen Krieg verhindern, geschweige denn die Gesellschaft oder wissen will. Die Integration von Arbeitern ins System be- grundstürzend verändern. schrieben schon Engels und Lenin, oft moralisierend. Marxisten Solche Kritik mag theoretisch oft etwas oberfächlich daherkom- beschworen eine relative Verelendung in den Zentren, weil sich die men, aber sie ist empirisch bestätigt, im Gegensatz zum Wunsch- von Marx prophezeite allgemeine und absolute Verelendung nicht gebilde einer Linkspartei, die das Parlament frei nach Rosa Lu- einstellen wollte. Van der Walt und Schmitt rechnen vor, die hoch- xemburg bloß als Tribüne des Klassenkampfes nutzen sollte. Die produktiven Arbeiter in kapitalistischen Zentren würden stärker Fundamentalopposition im parlamentarischen System, die Johan- ausgebeutet als ihre Klassengenossen in der Peripherie. Es sei bloß nes Agnoli als Möglichkeit konstruierte, erwies sich als unerreich- eine größere „Mehrwertgesamtmasse“, die es erlaube, Arbeitern in bares Ideal. Von der historischen Sozialdemokratie, über die kom- den Zentren höhere Löhne zu bezahlen. Deshalb aber von einer munistischen Parteien des Westens bis zu Grünen und diversen „Arbeiteraristokratie“ zu sprechen, die vom Imperialismus prof- Linksparteien nach der Epochenwende um 1990 endeten alle als tiere, sei grundverkehrt und spalterisch. staatstragende Realpolitiker. Mag sein, dass ein deutscher Arbeiter im Verhältnis zum Reich- Wichtig ist die Kritik von Bakunin und Rocker am „wissenschaft- tum, den er produziert, relativ stärker ausgebeutet wird als sein lichen Sozialismus“ und seinen gewaltafrmativen Fortschrittsmy- Klassengenosse in China. Es sind aber die chinesischen Arbeiter, then als Ansatz einer grundsätzlich wissenschaftskritischen Hal- die revoltieren, weil ihre Löhne am Existenzminimum liegen, tung. Bakunin war der erste, der das autoritäre Potential solcher während der deutsche Arbeitsmann zufrieden ist dank eines Zu- Wissenschaftshuberei erkannte. Sie beinhaltet eine Spaltung in schlags, den Marx etwas vage historisch-kulturellen Umständen Wissende und Unwissende und damit die Herrschaft einer neuen zuschrieb. Dieses Gefälle erklärt, warum Kernbelegschaften ex- Elite. Peter Kropotkin war um 1900 einer der wenigen Linken, die portorientierter deutscher Firmen sich ihren Bossen verbunden fundiert und umfassend Darwinismus, Sozialdarwinismus, Euge- fühlen, statt zu streiken, und die IG Metall Rüstungsexporte un- nik sowie die zutiefst rassistische Legende von einer Überbevölke- terstützt, während in Spanien, Portugal und Griechenland Gene- rung kritisierte, während Marxisten diese Ideologie zu integrieren ralstreiks stattfnden, weil die Löhne dort wieder in Richtung des suchten. Spuren fnden sich allerdings auch im Anarchismus, etwa Minimums sinken. bei Emma Goldmann und im Zaragoza-Programm der CNT. Der Daraus erklären sich Wohlstandschauvinismus, Standortnationa- späte Rocker fel auf die Überbevölkerungspropaganda herein, die lismus und Rassismus als systemimmanent rationale, auf den ei- die eugenischen Bewegungen betrieben.62 genen Vorteil bedachte Strategien und Haltungen, gerade auch in Bookchin hat in den USA seit den frühen fünfziger Jahren, als na- Gewerkschaften. Darum ergeben Umfragen in Deutschland einen hezu die gesamte Linke dem Produktivitätsfetischismus huldigte, hohen Anteil an faschistischen Einstellungen unter Gewerkschaf- ökologische Zerstörungen analysiert, weil der Kapitalismus eben tern, darum sind FPÖ und Front National nach Stimmenanteilen nicht bloß Produktiv-, sondern auch Destruktivkräfte entwickelt. die Parteien der Arbeiterklasse in Österreich und Frankreich.61 Aufbauend auf den Naturforscher Kropotkin hinterließ Bookchin Insofern reicht es nicht aus, eine imaginäre Solidarität der Arbei- ein umfassendes Werk mit vielen Anregungen. Dazu zählt eine terklasse zu beschwören. Man muss solche Einstellungen ernst Teorie der Entstehung von Hierarchien, des Patriarchats, von nehmen, als subjektive Realität, als notwendig falsches Bewusst- Staat und Klassen, die einen umfassenden Versuch darstellt. Zu sein, aber auch als Ausdruck von relativ privilegierten Positionen ihren Defziten zählt, dass Bookchin in einem antimarxistischen innerhalb der weltweiten Arbeiterklasse. Solche Haltungen müs- Furor meinte, eine ökonomische Begründung ablehnen zu müssen. sen angesprochen und überwunden werden. Dazu gehört eine Er neigte dazu, Freiheit und Gleichheit als Produkte der Evolution konsequente Kritik an und Aufarbeitung von rechten Tendenzen zu biologisieren. Scharf kritisierte er jedoch die rassistische Sozio- in linken Bewegungen. biologie sowie esoterische und ökofaschistische Strömungen. Und Bookchin zählt zu den wenigen Anarchisten, die Proudhon als das bezeichneten, was er war, ein provinzieller Spießer und Antisemit. 60 Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW 22, S.211. Zu Bookchins Schwächen zählt die Idealisierung vorindustrieller Gesellschaften und kommunaler Institutionen (ähnlich schon Kro- 61 Ohne die Vorgänge gleichsetzen zu wollen, sei darauf hingewiesen, potkins Vorstellung von mittelalterlichen Kommunen). Im Unter- dass Anarchisten unter der Flagge der antiimperialistischen und an- tikolonialen Befreiung nationale Bewegungen unterstützten oder Ein- wanderung kritisierten (Hirsch, Walt, 2010, S.XXVIII; Arif Dirlik, in: Hirsch, Walt, 2010, S.139, S.141; Kirk Shafer, in: Hirsch, Walt, 2010, 62 Kleinspehn, 1986, S.183; Rocker, Aufsatzsammlung, Band 2, S.41, S.276f., S.278f., S.318.). S.43, S.45f.

95 schied zu den Schwärmern von „Occupy“ übersah Bookchin aber Ofensive, ebenso sinnvolle wie reformistische Forderungen wären nie, dass Versammlungen als Institutionen einer direkten Demo- in Europa ein einheitlicher Mindestlohn, mit dynamischer Steige- kratie durch die sozialen Interessen und ideologische Orientierung rung, und eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- ihrer Teilnehmer bestimmt werden. ausgleich. Damit könnte der Standortnationalismus der Gewerk- Bookchin und der Schweizer Anarchist „PM“ haben, anknüpfend schaften unterlaufen werden und vielleicht eine Mobilisierung an den libertären Sozialisten William Morris und Kropotkin, dem entstehen, wie sie die historische Arbeiterbewegung einst mit der es allerdings weniger um Umweltschutz zu tun war, Modelle ei- Forderung nach dem Acht-Stunden-Tag auslöste. ner ökosozialistischen Wirtschaft entwickelt, die so dezentral wie Notwendig bleibt jedenfalls eine detaillierte Analyse von Klassen möglich aufgebaut ist, aber überregionale bis hin zu kontinentalen und Milieus in jedem Land, jeder Region als Ausgangspunkt für und globalen Arbeitsteilung nicht ausschließt. Die Grundlage der politische Praxis. Unterschiedliche Lagen von Arbeitern und Mit- Versorgung bilden Industrie und Handwerk kombiniert mit öko- telschicht in verschiedenen Ländern sind zu berücksichtigen. Das logischer Landwirtschaft und intensivem Gartenbau. Für Kropot- gilt insbesondere für die Situation in Deutschland als europäischer kin oder Bookchin war selbstverständlich, dass modernste Technik Hegemonial- und ökonomischer Großmacht. genutzt wird, um uns ein Leben in Muße und Großzügigkeit zu ermöglichen, ähnlich wie Marx, der die Arbeitszeit drastisch redu- Weiterdenken zieren wollte, damit die Menschen ihre individuellen Fähigkeiten, Weder der Marsch durch die Institutionen noch deren militan- ihre Kreativität und Phantasie allseitig entwickeln und das Leben te Eroberung führten zur Emanzipation, sondern zu Integration, genießen könnten. Bürokratisierung und neuen Diktaturen. Im stalinistischen Terror Die Kardinalfrage bleibt, wer ist das Subjekt der Befreiung. Lange und den Regimen des sogenannten real existierenden Sozialismus vor Leuten wie André Gorz war für Bookchin die Zeit des „proleta- haben sich Bakunins Warnungen vor einem staatssozialistischen rischen Sozialismus“ vorbei. Er verzweifelte als Gewerkschaftsakti- Monster erfüllt. Bewahrheitet hat sich, dass der Zweck nicht die vist in der Nachkriegszeit am auserwählten revolutionären Subjekt, Mittel heiligt, wie die Anarchistische Allianz 1872 in der Erklä- als weiße, männliche Arbeiter in der consumer society zur Mittel- rung von St. Imier bereits betonte – dass mit autoritären Metho- schicht aufstiegen. den keine befreite Gesellschaft erkämpft werden kann. Darum Bookchin folgerte, dass der Kapitalismus gewiss nicht ohne den sind anarchistisches Beharren auf Basisdemokratie, Selbstorgani- Kampf der Arbeiter zu überwinden sei, allerdings sozial breitere, sation und direkter Aktion, verbunden mit Misstrauen gegenüber außerparlamentarische und lokal verankerte Bewegungen entschei- Hierarchien und Repräsentation der Grundpfeiler einer radikalen dend seien, die für eine direkte Demokratie auf der Grundlage ei- Linken neben einer Kritik der politischen Ökonomie, bei der man ner sozialistischen Ökonomie kämpfen würden. besser auf Marx denn auf anarchistische Ansätze zurückgreifen Der Abschied vom Proletariat am Ende der 1970er-Jahre war stark sollte. geprägt von der Entwicklung in den Zentren (USA, Deutschland) Zu wünschen wäre, dass sich Anarchisten um ein theoretisches und zugleich ein Backlash gegenüber dem Proletarierkult der mar- Verständnis von Staat, Herrschaft und Politik bemühen, das den xistisch-leninistischen Sekten. Dennoch bleibt die Erkenntnis, dass Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts gerecht wird. Von die Arbeiterklasse nicht das von irgendwelchen historischen Ge- ihren Voraussetzungen her sollten Anarchisten gefeit sein vor dem setzmäßigkeiten vorherbestimmte revolutionäre Subjekt ist. Dem gerade in der globalisierungskritischen Linken dominanten Irr- widerspricht nicht, dass es in China (dem Land mit den weltweit glauben, die Nationalstaaten wären von Banken und internatio- meisten Streiks), Bangladesh, Argentinien, Südkorea oder Südeur- nalen Konzernen entmachtet worden, eine Sicht, die sich in den opa sehr wohl massenhafte Arbeiterkämpfe, Widerstand der Arbei- aktuellen Debatten um das Freihandelsabkommen TTIP zeigt. terklasse, gibt. Denn am Grundmuster hat sich nichts geändert: Das Kapital Ohne die Lohnabhängigen, von klassischen Industriearbeitern agiert zwar international, bleibt jedoch auf einen starken Natio- über Angestellte der Mittelschichten bis hin zu Pseudo-Selbststän- nalstaat angewiesen, der die langfristigen Geschäftsgrundlagen digen aus der Kreativwirtschaft, wird es weder Reformen noch zu Hause garantiert und auf dem Weltmarkt maximale Möglich- grundlegenden Veränderungen geben. Insofern sind sie Adressaten keiten durchsetzt. In schwachen, gar zerfallenden Staaten gelingt linksradikaler Politik. Aber gerade starke Arbeiterbewegungen, keine stetige Kapitalakkumulation, sondern entstehen Raub- und egal ob militant oder reformistisch, haben mit dazu beigetragen, Plünderungsökonomien. Wenn wir es nicht verhindern, wird sich die Lage der Arbeiter in den kapitalistischen Zentren zu verbessern die Welt aufspalten in von Banden und Warlords dominierte Zo- und diese zu integrieren. Das gleiche Wechselspiel gilt für Wider- nen sowie zunehmend autoritären Überwachungsstaaten, in de- stand gegen patriarchale, rassistische oder sexistische Ausbeutung nen bürgerlich-demokratische Institutionen bloß noch Alibicha- und Herrschaft. Erfolgreicher Protest und Widerstand kann zu Re- rakter haben. formen führen, die jeder Bewegung die Spitze nehmen.63 Das spricht nicht gegen Reformen, im Sinne einer echten Verbes- serung von Lebensbedingungen. Man muss ziemlich dünkelhaft Peter Bierl (Oberbayern) hat am 3. Juni 2014 in Bremen einen oder privilegiert sein oder an das ewige Leben oder an die Rein- Vortrag zur Frage „Making anarchism a threat again?“ referiert. karnation glauben, um das gering zu schätzen. Obendrein waren Siehe: https://associazione.wordpress.com/2014/04/16/peter-bierl- Revolutionen stets ein blutiges Geschäft, wenngleich oft aufgrund making-anarchism-a-threat-again-eine-kritische-auseinanderset- einer brutalen Konterrevolution, und sie fanden statt, wenn der zung-mit-aktuellen-anarchistischen-debatten/ Weg für Reformen blockiert war.

63 Frances Fox Piven, Richard A Cloward, Der Aufstand der Armen, Frankfurt am Main 1986.

96 Ingo Elbe Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen - Lesarten der Marxschen Teorie

Absicht der folgenden Bemerkungen ist es, eine grobe Übersicht I. Marxismus über zentrale Lesarten der Marxschen Teorie zu geben. Diese Zwar wird der Begrif „Marxismus“ zur Kennzeichnung der sollen anhand einiger ausgewählter Temenbereiche als relativ Marxschen Teorie wahrscheinlich zuerst im Jahre 1879 vom klar voneinander abgrenzbare Marxismen dargestellt und in ih- deutschen Sozialdemokraten Franz Mehring verwendet3 und rer Wirkungsgeschichte bzw. -mächtigkeit hinsichtlich dessen, setzt sich als Kampfbegrif von Kritikern wie Verteidigern der was im common sense unter „der“ Marxschen Teorie verstanden „Marxschen Lehre“ erst Ende der 1880er Jahre durch4, doch wird, eingeschätzt werden. die Geburtsstunde einer „Marxschen Schule“ wird einhellig auf Es wird dabei eine Diferenzierung zwischen der bislang vorherr- das Erscheinen des Anti-Dühring von Friedrich Engels im Jah- schenden, vor allem parteiofziellen Marx-Deutung (dem tradi- re 1878 und die darauf folgende Rezeption dieses Werks seitens tionellen Marxismus, dem Marxismus im Singular, wenn man so Karl Kautsky, Eduard Bernstein u.a. datiert5. Engels´ Schriften will) und den dissidenten, kritischen Formen der Marxrezeption – auch wenn in ihnen die Begrife „Marxismus“ oder „dialekti- (den Marxismen im Plural), mit ihrem jeweiligen Anspruch eines scher Materialismus“, die Selbstetikettierungen der traditionellen „Zurück zu Marx“, vorgenommen. Ersterer wird verstanden als Lesarten, noch nicht auftauchen - lieferten ganzen Generationen Produkt und Prozess einer restringierten Marx-Lektüre, z.T. aus- von Lesern, Marxisten wie Anti-Marxisten, die Interpretations- gehend von den ‘exoterischen’ Schichten des Marxschen Werks, muster, durch die hindurch das Marxsche Werk wahrgenommen die traditionelle Paradigmen in Nationalökonomie, Geschichts- wird. Insbesondere die Rezension von Marx’ Zur Kritik der po- theorie und Philosophie fortschreiben und den Mystifkationen litischen Ökonomie (1859), die Spätschrift Ludwig Feuerbach und der kapitalistischen Produktionsweise erliegen, systematisiert der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1886) oder der und zur Doktrin erhoben von Engels, Kautsky u.a., schließlich Nachtrag zum dritten Band des Kapital (1894/95) erlangten eine mündend in die Legitimationswissenschaft des Marxismus-Le- kaum zu überschätzende Wirkungsgeschichte. Allen voran aber ninismus. Letztere, v.a. zu nennen sind westlicher Marxismus wird der Anti-Dühring zum Lehrbuch der Marxschen Teorie und neue Marx-Lektüre, arbeiten – meist jenseits institutionali- sowie zur positiven Darstellung einer „marxistischen Weltan- sierter, kumulativer Forschungsprozesse, von isolierten Akteuren schauung“ stilisiert: Für Kautsky im Stile eines „Untergrund-Marxismus“1 vollzogen – die „esote- rischen“ Gehalte der Marxschen Gesellschaftsanalyse und -kritik „gibt es kein Buch, das für das Verständnis des Marxismus so viel heraus. geleistet hätte wie dieses. Wohl ist das Marxsche `Kapital´ gewal- Dabei müssen zur Charakterisierung der beiden Lesarten ei- tiger. Aber erst durch den `Antidühring´ haben wir das `Kapital´ nige stark verkürzte und auf wenige Aspekte begrenzte Tesen richtig lesen und verstehen gelernt“6, und für Lenin ist es eines genügen. Insbesondere von dem zuerst seitens Karl Korsch for- der „Handbücher jedes klassenbewussten Arbeiters“7. mulierten anspruchsvollen Vorhaben einer „Anwendung der materialistischen Geschichtsaufassung auf die materialistische Es vollzieht sich dabei etwas, das für die Geschichte „des“ Marxis- Geschichtsaufassung selbst“2, das über eine bloße ideenge- mus allgemein kennzeichnend sein wird: der/die Initiatoren des schichtliche Darstellung sowie theorieimmanente Kritik hinaus- theoretischen Korpus erachten es „nicht für nützlich (...) selbst gelangt und ideologiekritisch den Zusammenhang von histori- als Namensgeber in Erscheinung zu treten (...) die Eponyme sind schen Praxisformen und theoretischen Marxismusformationen nicht die wirklichen Sprecher“8. Der Marxismus ist in mehrerlei in den Blick nimmt, muss hier vollends abgesehen werden. Auf Hinsicht Engels’ Werk und von daher eigentlich ein Engelsis- eine gesonderte Behandlung der generell marx-/marxismuskri- mus. Hier seien nur drei Punkte genannt, an die eine ideologi- tischen Lesarten kann hier insofern verzichtet werden, als das sierte und restringierte Marx-Rezeption anknüpfen konnte. deren Marx-Bild meist mit dem der traditionellen Marxisten übereinstimmt. Ich beginne also mit dem hegemonialen Deutungsmuster des traditionellen Marxismus und werde erst am Ende meiner Aus- 3 Vgl. Walther 1982, 948f. Er taucht auch ein Jahr früher bei A. Tun führungen einige positive Bestimmungen dessen folgen lassen, auf (vgl. ebd., 949). Die Bezeichnung „Marxisten” hingegen fndet sich was ich für die systematischen Grundintentionen des Marxschen als pejorative bereits 1873 bei Bakunin (vgl. Bakunin 1972, 613 sowie Walther 1982, 941). Werks selbst halte. Dies vor allem darum, weil erst im Durch- gang durch die Lernprozesse von westlichem Marxismus und 4 Vgl. Walther 1982, 944. neuer Marx-Lektüre eine diferenzierte Lesart des Marxschen 5 Vgl. u.a. Walther 1982, 947; Steinberg 1979, 22f.; Stedman Jones Werks gewonnen werden kann. 1988, 234; Liedman 1997, 384. 6 Karl Kautsky, zit. nach Stedman Jones 1988, 234f. 7 Lenin 1965, 4. 1 Labica 1986, 113. 8 Labica 1986, 17. Im Marxismus verschwindet Engels hinter Marx, im 2 Korsch 1993b, 375. Leninismus Stalin hinter Lenin.

97 I. 1. Die ontologisch-deterministische Tendenz und auch ideologiekritische Überlegungen in diesem Paradigma Der wissenschaftliche Sozialismus wird konzipiert als ontologi- kaum noch unterzubringen. sches System, „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“9. Ma- 2) Der noch in der Deutschen Ideologie auch von Engels vertre- terialistische Dialektik fungiert hier als „Wissenschaft von den tene negative Begrif von Naturwüchsigkeit21 wird nun in einen allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, positiven verwandelt. Nicht mehr die Aufhebung von auf der Un- der Menschengesellschaft und des Denkens“10; die Natur dient bewusstheit der Beteiligten beruhenden, spezifsch gesellschaftli- Engels dabei als „Probe auf die Dialektik“11 Eine falsche Ana- chen Gesetzen, sondern die bewusste Anwendung von „Gesetzen logisierung historisch-gesellschaftlicher Prozesse mit Naturphä- der Bewegung (...) der äußern Welt“22 werden nun postuliert. nomenen wird allein schon dadurch vorgenommen, dass in der 3) Spricht Marx in den Tesen über Feuerbach noch davon, dass Engelsschen Erläuterung der Grundzüge der Dialektik gerade alle Mysterien, die die Teorie zum Mystizismus veranlassen ihre die zwischen Subjekt und Objekt fehlt. „Negation der Negation“ rationelle Lösung im Begreifen der menschlichen Praxis fnden23, oder „Umschlag von Quantität in Qualität“ werden im Wech- so reduziert Engels den Praxisbegrif nun auf den der naturwis- sel von Aggregatzuständen des Wassers oder der Entwicklung senschaftlich-experimentellen Tätigkeit24. Freilich fnden sich eines Gerstenkorns ausgemacht. Dialektik soll gegen eine sta- auch noch in den Schriften des späten Engels Ambivalenzen tische Betrachtungsweise das „Werden“, die „Vergänglichkeit“ und praxisphilosophische Motive25, die von den Epigonen weit- allen Seins aufzeigen12, sie wird rückgebunden an traditionelle gehend getilgt werden. Dennoch ebnet Engels, den Szientismus bewusstseinsphilosophische Dichotomien, wie die sog. „Grund- seiner Epoche bündelnd, durch die Akzentverschiebung von ei- frage“ der Philosophie, ob im Verhältnis von „Denken und Sein“ ner Teorie gesellschaftlicher Praxis hin zu einer kontemplativ- diesem oder jenem das Primat zukomme13, wird zerfällt in „zwei widerspiegelungstheoretischen Entwicklungslehre, den Weg zu Reihen von Gesetzen“14, in die „objektive“ und die „subjektive“ einer mechanizistischen und fatalistischen Aufassung des histo- Dialektik, wobei letztere lediglich als passives Abbild der erste- rischen Materialismus. ren gefasst wird15. Engels verengt, ja verzerrt so drei elementare Der vulgäre Evolutionismus kann in der europäischen Sozialde- praxisphilosophische Motive von Marx, die auch er teilweise in mokratie des 19. Jahrhunderts als nahezu allgegenwärtiges Phä- früheren Schriften noch vertreten hatte: nomen gelten26. Nicht allein für Kautsky, Bernstein und Bebel 1) Die Erkenntnis, dass nicht nur der Gegenstand, sondern auch stehen deshalb der deterministische Entwicklungsbegrif und die die Anschauung desselben historisch-praktisch vermittelt16, der Revolutionsmetaphysik einer providentiellen Mission des Prole- Geschichte der Produktionsweise nicht äußerlich ist. Dage- tariats27 im Zentrum der Marxschen Lehre: Die Menschheit ist gen betont Engels später, „materialistische Naturanschauung“ demnach einem „naturwissenschaftlich konstatierbaren“ Auto- sei „weiter nichts als einfache Aufassung der Natur so, wie sie matismus der Befreiung unterworfen. Was sich hier im moder- sich gibt, ohne fremde Zutat“17. Der naive Realismus der spä- nen szientistischen Gewand eines Gesetzesfetischismus präsen- ter von Lenin18 u.a. systematisierten Widerspiegelungstheorie, tiert, ist schließlich nichts anderes als eine Geschichtsmetaphysik die gerade dem verdinglichten Schein der Unmittelbarkeit eines mit sozialistischem Vorzeichen28, die Afrmation der von Marx gesellschaftlich Vermittelten, dem Fetischismus des An-sich- gerade kritisierten Verkehrung von Subjekt und Objekt: Einem Seins eines nur durch einen historisch bestimmten menschlichen hinter dem Rücken der Akteure sich vollziehenden Prozess wird Handlungszusammenhang hindurch Existierenden verfällt, wird ein moralisch qualifziertes Ziel zugeordnet29. Im Erfurter Pro- schon hier begründet19. So „von den Dingen auf das Bewusstsein gramm der deutschen Sozialdemokratie wird dieser revolutionä- und vom Bewusstsein auf die Dinge verwiesen“20, sind der Be- re Attentismus30 schließlich auch auf parteiofzieller Ebene als grif der Praxis, der der subjektiven Vermitteltheit des Objekts

21 Vgl. MEW 3, 33 sowie bereits Engels (MEW 1, 515), wo er vom 9 MEW 20, 307. ökonomischen ‚Gesetz der Konkurrenz’ als einem spricht, „das auf der 10 Ebd., 132, vgl. auch 11. Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruht“. 11 Ebd., 22. 22 MEW 21, 293. 12 Vgl. MEW 21, 267. 23 Vgl. MEW 3, 535. 13 Vgl. ebd., 274 24 Vgl. MEW 21, 276. 14 Ebd., 293. 25 So z.B. in MEW 21, 296f., in MEW 20, 264 oder in den späten 15 Vgl. MEW 20, 481. Briefen an Schmidt, Bloch, Mehring und Borgius. 16 Vgl. MEW 3, 44. 26 Vgl. dazu die Studie von Steinberg 1979, v.a. 45f., 63f.. Sozialge- 17 MEW 20, 469. schichtliche Erklärungsansätze dafür bieten u.a. ders., 145-150, Groh 1974, 58-63, Negt 1974, Gramsci 1995, 1386f. 18 V.a. in Materialismus und Empiriokritizismus, das vom ML neben dem Anti-Dühring zum klassischen Lehrbuch des dialektischen Materi- 27 Vgl. dazu kritisch Mohl 1978, Sieferle 1979, Elbe 2002a. alismus stilisiert wird. Marxismus wird hier zur Ideologie im strengen 28 Laclau/ Moufe (2000, S. 53) weisen auf den darwinistisch-he- Marxschen Sinne: zur Systematisierung der Denkformen des verd- gelianischen Charakter dieser Konzeption hin: „Der Darwinismus al- inglichten Alltagsverstands. Zu den politpragmatischen Hintergründen lein bietet keine Garantien für die Zukunft, weil die natürliche Auswahl der Schrift, die im ML ausgeblendet werden vgl. Busch-Weßlau 1990, nicht in einer von Anfang an vorbestimmten Richtung operiert. Nur 130. wenn dem Darwinismus – der damit gänzlich unvereinbar ist – ein 19 Auf das mediale Apriori der Fotografe als Grundlage dieses naiven hegelianischer Typus der Teleologie hinzugefügt wird, kann ein evo- Realismus in der Philosophie sowie auf die fundamentalen Gemein- lutionärer Prozeß als ein Garant zukünftiger Übergänge präsentiert samkeiten zwischen Engels, Lenin und Feuerbach weist Falko Schmie- werden“. der (2004, 213) hin. 29 Vgl. dazu in instruktiver Weise: Kittsteiner 1980. 20 Sohn-Rethel 1978, 114. 30 Vgl. Groh 1974, 36.

98 konsequenter Marxismus festgeschrieben: Aufgabe der Partei ist einen epistemologischen Essentialismus (eine Abbildtheorie, die es, für ein auch ohne sie „naturnotwendig“ eintretendes Ereig- als DiaMat „Sein“ und „Bewusstsein“ unabhängig vom Praxis- nis gewappnet zu sein, „nicht die Revolution zu machen, sondern begrif thematisiert) und sozialtheoretischen Naturalismus (eine sie zu benutzen“31. Die ontologische Ausrichtung und der enzy- vom menschlichen Handeln unabhängige Entwicklungslogik, klopädische Charakter der engelsschen Erwägungen befördern die von der Partei als oberstem Sozialtechnologen „bewusst an- zudem die Tendenz zur Auslegung des wissenschaftlichen So- gewendet“ oder „beschleunigt“ wird)35 impliziert36. zialismus als umfassende proletarische Weltanschauung. Lenin schließlich wird die „Lehre von Marx“ als „proletarische Ideolo- I. 2. Die historizistische Deutung der formgenetischen Me- gie“ und Religionsersatz präsentieren, als „allmächtig(e)“, „in sich thode geschlossen(e) und harmonisch(e)“ Doktrin, die „den Menschen Wenn der Leninsche Satz, „nach einem halben Jahrhundert“ eine einheitliche Weltanschauung gibt“32 33. Dementsprechend habe „nicht ein Marxist Marx begrifen“37 – ein Diktum, das in wird auch der negative Ideologiebegrif zur Kategorie für die diesem Fall allerdings auch auf ihn selbst zutrift38 –, für einen Seinsbestimmtheit des Bewusstseins überhaupt neutralisiert. Alle diese Entwicklungen, die unzweifelhaft den Charakter ei- 35 Zur Paradoxie dieser Verknüpfung von Voluntarismus und De- ner theoretischen Regression annehmen, kulminieren schließ- terminismus vgl. Taylor (1997, 729-731): „Die Gesetze, die von den lich im von Abram Deborin und Stalin ausgearbeiteten ML. Ingenieuren angewandt werden, die den Umständen ihren Willen Gilt schon für Lenin, trotz aller Betonung des Politischen, der aufzwingen, können nicht die Gesetze der ehernen Notwendigkeit sein, Marxismus als „inhaltsreichere [...] Entwicklungslehre“34, die wenn das bedeutet, daß wir das Geschehen durch Bezug auf sie erk- auch auf Brüche und Sprünge in Natur und Gesellschaft auf- lären können, ohne uns auf menschliche Entscheidungen zu berufen. merksam macht, so wird diese naturalistisch-objektivistische Ein wahres Entwicklungsgesetz der Geschichte wäre ein Gesetz, dessen Strömung im ML zur Staatsdoktrin erhoben: Die zentrale Ar- Antezedenzien nicht manipulierbar sind [...] Es wäre der Verwendung gumentationsfgur lautet dabei: „Was für die Natur gilt, muss durch Ingenieure nicht zugänglich“ (ebd., 730). Vgl. auch Poppers Kritik am Gedanken von historischen Entwicklungsgesetzen, die im auch für die Geschichte gelten“ bzw. „die Natur macht Sprünge Stile unbedingter Prognosen formuliert werden (Popper 1987, 35f.) also auch die Geschichte“. Politische Praxis versteht sich dabei sowie an dem paradoxen Praxisbegrif des ‚Historizismus’, der sich als Vollzug eherner historischer Gesetze. Perfektioniert ist diese auf „Hebammenkunst“ (ebd., 40) reduziere (vgl. auch ebd., 57f. ). Ge- schlagende Logik in Josef Stalins über Jahrzehnte hinweg für die gen Popper ist aber einzuwenden: a) seine auch vor Textfälschungen marxistische Teoriebildung des Ostblocks maßgebender Schrift nicht zurückschreckende Unterstellung eines Historizismus im Wis- „Über dialektischen und historischen Materialismus“: Der his- senschaftsmodell des ‚Kapital’ (vgl. ebd., 39, in der ein Marx-Zitat, torische Materialismus steht für die „historische Abteilung“ in dem von der Behandlung der Gesetze der modernen Gesellschaft eines weltanschaulichen Systems i.S. einer „Anwendung“ und die Rede ist, kurzerhand in eines verfälscht wird, in dem von Gesetzen „Ausdehnung“ ontologischer Leitsätze auf die Gesellschaft, die der „menschlichen“ Gesellschaft gesprochen wird) sowie b) seine fal- sche Identifzierung von technologischen Prognosen mit solchen kurzer Reichweite (vgl. ebd., 35, 53f.). 36 Es ist gerade der westliche Marxismus, der gegen den ML den 31 Kautsky, zit. nach Steinberg 1979, 61. Vgl. auch Kautsky 1974, S. nichtontologischen Charakter des Marxschen Materialismus betont. 261: Die Ausblicke auf Freiheit und Humanität sind nach Kautsky (Vgl. dazu u.a. Horkheimer 1988, 174 sowie Schmidt 1993, 10-59) „nicht Erwartungen von Zuständen, die bloß kommen sollen, die wir Stalin (1979) bestimmt die Komponenten der Marxschen Teorie bloß wünschen und wollen, sondern Ausblicke auf Zustände, die kom- wie folgt: Dialektik: Eine Diskontinuitäten betonende universelle En- men müssen, die notwendig sind“. Zwar wehrt er sich gegen die Deutung twicklungslogik, die uns lehrt, dass alles im Werden und Vergehen von ‚notwendig’ „in dem fatalistischen Sinne, daß eine höhere Macht begrifen ist; Materialismus: Eine kontemplative Ontologie, die lehrt, sie von selbst uns schenken wird“, doch unterstellt er einen unwider- dass das Bewusstsein nur ein Abbild des unabhängig und außerhalb stehlichen immanenten ökonomisch-geschichtlichen Zwang zur Rev- seiner existierenden Seins darstellt; historischer Materialismus: An- olution, wobei er immanente kapitalistische Zwangsgesetze und die wendung des DiaMat auf die Geschichte; universalhistorische Gesetze Formierung des Proletariats zum auf erfolgreiche Weise revolutionär sind Klassenkampf, auf dem Primat der Produktivkraftentwicklung handelnden Subjekt in eine Linie stellt: „unvermeidlich in dem Sinne, (causa-sui-Konzept der Produktivkräfte) fußende Dialektik zwis- wie es unvermeidlich ist, [...] daß die Kapitalisten in ihrer Proftgier [!] chen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, schließlich das das ganze wirtschaftliche Leben umwälzen, wie es unvermeidlich ist, Fortschrittsgesetz der Abfolge der Gesellschaftsformationen. daß die Lohnarbeiter nach kürzeren Arbeitszeiten und höheren Löhnen 37 Lenin 1973, S. 170. trachten, daß sie sich organisieren, daß sie die Kapitalistenklasse und deren Staatsgewalt bekriegen, wie es unvermeidlich ist, daß sie nach 38 Lenin stellt diese Diagnose im Kontext seiner Hegel-Lektüre. Er der politischen Gewalt und dem Umsturz der Kapitalistenherrschaft meint, man müsse die Hegelsche ‚Logik’ „durchstudiert und begrifen“ trachten. Der Sozialismus ist unvermeidlich, weil der Klassenkampf, haben, um das ‚Kapital’ verstehen zu können (ebd.). Dieser Hinweis weil der Sieg des Proletariats unvermeidlich ist“. bleibt in seinen ‚Philosophischen Heften’ aber abstrakt und darf nicht als Beitrag zu einer heterodoxen ‚Kapital’-Lektüre gedeutet werden. Der 32 Lenin 1965, 3f. Kautsky (1965, 230) bezeichnet die Marxsche Teo- Hinweis auf die Bedeutung Hegels und die Erwähnung einer „Logik rie gar als „frohe Botschaft, ein neues Evangelium”. des ‚Kapitals’“ (Lenin 1973, S. 316) allein sind keine Anzeichen eines 33 Allerdings gibt es auch andere, unexplizierte Aspekte des Lenin- tieferen Verständnisses der Darstellungsweise im ‚Kapital’ seitens Le- schen Ideologiebegrifs, die nicht auf Klassenreduktionismus hinaus- nin. Vielmehr ofenbaren die wenigen inhaltlichen Aussagen zu diesem laufen und im ML ignoriert wurden. Vgl. dazu Busch-Weßlau 1990, Komplex Lenin als getreuen Vertreter der Engelsschen Orthodoxie: Die 122f., 132f. Der Annahme des Marxismus als proletarischer Ideologie Betrachtung des ‚Kapitals’ als „Geschichte des Kapitalismus“ (ebd., S. widerspricht Lenins Tese, die Arbeiterklasse bringe spontan nur ein 319), die Erwähnung einer historischen Untersuchung der Wertformen systemimmanent-‚trade-unionistisches’ Bewusstsein hervor (vgl. Lenin (vgl. auch Lenin 1960b, S. 49), der Rekurs auf „Überprüfung durch 1958, 385f, 394f.). Die Konsequenzen aus dieser Einsicht haben aber die Tatsachen [...] bei jedem Schritt der Analyse“ derselben oder auf weder er noch Lukács gezogen. die Ware des Anfangs der Darstellung als empirische „gewöhnlichste, 34 Lenin 1960, 43. massenhafteste“ Erscheinung (Lenin 1973, S. 319) (vgl. auch S. 340)

99 Sachverhalt volle Gültigkeit beanspruchen darf, dann für den als Historiographie gedeutet, so stehen an deren Anfang folglich der Interpretation der Kritik der politischen Ökonomie. Noch Kategorien mit unmittelbaren empirischen Referenten, z.B. eine 100 Jahre nach der Veröfentlichung des ersten ‚Kapital’-Bandes ominöse, nicht-preisbestimmte vorkapitalistische Ware47 und auch galten dabei Friedrich Engels’ Kommentare weithin als einzig die Wertformanalyse beginnt mit der Darstellung einer zufäl- legitime und adäquate Einschätzungen der Marxschen Öko- ligen, geldlosen Interaktion zweier Warenbesitzer – mit der von nomiekritik. Keine Lesart war in der marxistischen Tradition Engels so genannten „einfachen Warenproduktion“48, die er als derart unumstritten, wie die von Engels beiläufg in Texten wie ökonomische Epoche von 6000 v.u.Z. bis ins 15. Jahrhundert der Rezension von ‚Zur Kritik der politischen Ökonomie’ (1859) hinein datiert. Das Marxsche Wertgesetz49 gelte in dieser Epo- oder dem Nachwort zum dritten Band des ‚Kapital’ (1894) ent- che zuweilen in reiner, nicht von der Preiskategorie ‚verfälschter’ wickelte. Hier noch wesentlich deutlicher als in der objektivisti- Form, was Engels am fngierten Beispiel geldlosen ‚Austauschs’ schen Fassung des historischen Materialismus ist der Marxismus zwischen mittelalterlichen Bauern und Handwerkern illustriert: ein Engelsismus: Hier haben wir es mit einem übersichtlichen sozialen Zusam- Vor dem Hintergrund seiner Widerspiegelungskonzeption deu- menhang von unmittelbaren Produzenten zu tun, die zugleich tet Engels die ersten Kapitel des ‚Kapital’ als zugleich logische Eigentümer ihrer Produktionsmittel sind, in der der eine unter und historische Darstellung eines ‚einfachen Warentauschs’ bis den Augen des anderen arbeitet und folglich „die für die Herstel- hin zum kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnis, „nur entklei- lung der von [ihnen] eingetauschten Gegenstände erforderliche det der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten“39. Arbeitszeit ziemlich genau bekannt“50 ist. Nicht etwa ein norma- Der Begrif ‚logisch’ meint in diesem Kontext im Grunde nichts tives Kriterium, sondern die Abstraktion einer von den Akteu- als ‚vereinfacht’. Die Darstellungsweise, das Aufeinanderfolgen ren bewusst und direkt gemessenen Arbeitszeit ist für ihn unter der Kategorien (Ware, einfache, entfaltete, allgemeine Wert- den Bedingungen dieses ‚Naturaltauschs’ „der einzig geeignete form, Geld, Kapital) in der Kritik der politischen Ökonomie, Maßstab für die quantitative Bestimmung der auszutauschenden kann demnach „nichts sein als das Spiegelbild, in abstrakter und Waren“51. Weder der Bauer noch der Handwerker seien so dumm theoretisch konsequenter Form, des historischen Verlaufs“40. Die gewesen, ungleiche Arbeitsmengen auszutauschen52: Betrachtung der Genesis der Geldform wird verstanden als Be- schreibung eines „wirklichen Vorgang[s], der sich zu irgendeiner „Für die ganze Periode der bäuerlichen Naturalwirtschaft ist kein Zeit wirklich zugetragen hat“, nicht als „abstrakte[r] Gedan- andrer Austausch möglich als derjenige, wo die ausgetauschten kenprozeß, [...] der sich in unsern Köpfen allein zuträgt“41. An Warenquanta die Tendenz haben, sich mehr und mehr nach den kaum einem anderen Punkt seines Werks reduziert Engels den in ihnen verkörperten Arbeitsmengen abzumessen“53. historischen Materialismus derart drastisch auf einen vulgären Empirismus und Historismus, was die von ihm verwendeten As- Der Wert einer Ware wird also Engels zufolge durch die be- soziationsketten ‚Materialismus-empirisch konstatierbare Fak- wusst in Zeit gemessene Arbeit einzelner Produzenten bestimmt. ten-wirklicher Prozess’ vs. ‚Idealismus-abstrakter Gedankenpro- Geld spielt in dieser Werttheorie keine konstitutive Rolle. Es zess-rein abstraktes Gebiet’ belegen. ist einerseits dem Wert äußerliches Hilfs- und Schmiermittel Mit der ‚logisch-historischen’ Methode gibt Engels ein Stichwort des Tauschs, dient andererseits zur Verdeckung des Arbeitsauf- vor, das in der marxistischen Orthodoxie ad nauseam strapa- wandes als Wertsubstanz: Statt mittels Arbeitsstunden wird ir- ziert und rezitiert wurde. Bereits Karl Kautsky versteht in sei- gendwann plötzlich mittels Kühen und schließlich Goldstücken nen enorm wirkmächtigen Darstellungen das ‚Kapital’ als ein ausgetauscht. Die Frage, wie es mit den Bedingungen privat-ar- „wesentlich historisches Werk“42: „Es war Marx vorbehalten, das beitsteiliger Produktion vereinbar sein soll, dass jede Ware als ihr Kapital als historische Kategorie zu erkennen und seine Entste- eigenes Arbeits-Geld auftritt54, stellt sich Engels nicht. Er prakti- hung an der Hand der Geschichte nachzuweisen, statt sie aus 43 dem Kopfe zu konstruieren“ . Auch Rudolf Hilferding meint, 47 „Danach wird es wohl klar sein, warum Marx am Anfang des er- dass „gemäß der dialektischen Methode der begrifichen Ent- sten Buchs, wo er von der einfachen Warenproduktion als seiner his- 44 wicklung überall die historische parallel“ gehe. Sowohl der torischen Voraussetzung ausgeht, um dann weiterhin von dieser Basis ML45 als auch der westliche Marxismus46 folgen ihnen in dieser aus zum Kapital zu kommen – warum er da eben von der einfachen Einschätzung. Wird die Kritik der politischen Ökonomie aber Ware ausgeht und nicht von einer begrifich und geschichtlich seku- ndären Form, von der schon kapitalistisch modifzierten Ware“ (MEW 25, S. 20). belegen dies eindrücklich. 48 Ebd., S. 20. Diese Deutung der Wertformanalyse wird auch Kautsky 39 MEW 13, S. 475. Weil ihm noch 1894 die „logische Behandlungs- (1922, S. 29-33) übernehmen. weise [...] nichts andres als die historische, nur entkleidet der histori- 49 Also das von Marx im ‚Kapital’ erörterte Wertgesetz. Vgl. MEW schen Form und der störenden Zufälligkeiten“ (ebd.) zu sein hat, kann 25, S. 909. er auch im Vorwort zum dritten Band lakonisch vom „historischen resp. logischen Bildungsprozeß“ (MEW 25, S. 20) der „Gedankenabbilder“ 50 Ebd., S. 907. wie abgebildeten Dinge und Entwicklungen sprechen. 51 Ebd. 40 MEW 13, S. 475. 52 „Oder glaubt man, der Bauer und der Handwerker seien so dumm 41 Ebd. gewesen, das Produkt zehnstündiger Arbeit des einen für das einer ein- zigen Arbeitsstunde des andern hinzugeben“ (ebd.). Wer es dennoch 42 Kautsky 1922, S. VIII. tue, werde eben „erst durch den Schaden klug“ (ebd., S. 908). 43 Kautsky zit. nach Hecker 1997. 53 Ebd., S. 907. 44 Hilferding 1973, S. 191. 54 Vgl. dazu Marx’ Kritik an dem Gedanken eines Arbeitsgeldes, resp. 45 Vgl. Rosental 1973. prämonetären Warentauschs in ‚Zur Kritik’ und den ‚Grundrissen’ 46 Vgl. Mandel 1972. (MEW 13, S. 66f., MEW 42, S. 100-105) und in der Erstaufage des

100 ziert, wie die neue Marx-Lektüre herausarbeiten wird, in vielfacher Engels’ staatstheoretische Äußerungen im ‚Ursprung der Familie’, Hinsicht das, was Marx an der ökonomischen Klassik, v.a. an Adam ‚Ludwig Feuerbach’, ‚Anti-Dühring’ sowie in seiner Kritik des Smith, kritisiert: Projektion des nur im Kapitalismus systematisch Erfurter Programmentwurfs der Sozialdemokratie von 1891 mar- entstehenden Scheins der Aneignung durch eigene Arbeit in die Ver- kieren die Quellen der traditionsmarxistischen Staatsaufassung: gangenheit55, Ausblendung des notwendigen Zusammenhangs von Engels konstatiert im ‚Ludwig Feuerbach’, die Tatsache, dass alle Wert und Wertform56, Verwandlung der ‚objektiven Gleichung’, die Bedürfnisse in Klassengesellschaften durch den Staatswillen hin- der gesellschaftliche Zusammenhang zwischen den ungleichen Ar- durch artikuliert würden, sei „die formelle Seite der Sache, die beiten vollzieht, in subjektive Erwägungen der Produzenten57. sich von selbst versteht“. Die Hauptfrage einer materialistischen Bis in die 60’er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein werden Engels’ Staatstheorie sei dagegen „nur, welchen Inhalt dieser nur formelle Teoreme nahezu unwidersprochen tradiert und bieten in Verbin- Wille – des einzelnen wie des Staats – hat, und woher dieser In- dung mit seiner (wiederum Hegel entnommenen58) Formel von der halt kommt, warum grade dies und nichts andres gewollt wird“61. Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit und der Parallelisierung Resultat dieser rein inhaltsbezogenen Frage nach dem Staatswillen von Naturgesetzen und gesellschaftlichen Prozessen, einem so- ist für Engels die Erkenntnis, „daß in der modernen Geschichte zialtechnologischen ‚Emanzipationskonzept’ Nahrung. Dessen Ker- der Staatswille im ganzen und großen bestimmt wird durch die naussage lautet: ‚Die im Kapitalismus anarchisch und unkontrol- wechselnden Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft, durch liert wirkende gesellschaftliche Notwendigkeit (v.a. das Wertgesetz) die Übermacht dieser oder jener Klasse, in letzter Instanz durch wird, mittels des Marxismus als Wissenschaft von den objektiven die Entwicklung der Produktivkräfte und der Austauschverhält- Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft, im Sozialismus plan- nisse“62. Engels’ arbeitet bei seinen Überlegungen im ‚Ursprung’ mäßig verwaltet und bewusst angewandt’. Nicht das Verschwinden darüber hinaus mit universalhistorischen Kategorien, in die mo- der kapitalistischen Formbestimmungen, sondern ihre alternative derne Bestimmungen, wie ‚öfentliche Gewalt’63 hineinprojiziert Nutzung kennzeichnet diesen ‚adjektivischen Sozialismus’ (R. werden und unterstellt doch stets „direkte Herrschaftsverhältnisse, Kurz) und seine ‚sozialistische politische Ökonomie’59. Es ist dabei unmittelbare Formen von Klassenherrschaft“64 zur Erklärung ‚des’ eine signifkante Disproportion zwischen der ständigen Hervorhe- Staates, der dann konsequent als bloßes Instrument der herrschen- bung des ‚Historischen’ auf der einen Seite und der Abwesenheit den Klasse65 verstanden wird. Aus dieser Inhaltsfxiertheit und eines historisch spezifzierten und gesellschaftstheoretisch refek- universalhistorischen Ausrichtung der Staatsbetrachtung kann tierten Begrifs ökonomischer Gegenständlichkeit auf der anderen gefolgert werden, dass Engels die eigentlich interessierende Frage, zu verzeichnen. Dies belegt auch die Irrelevanz des Formbegrifs warum der Klasseninhalt im Kapitalismus die spezifsche Form für die traditionsmarxistische Diskussion, in der dieser höchstens der öfentlichen Gewalt annimmt66, aus den Augen verliert. Die als Kategorie für ideelle oder marginale Sachverhalte, nicht aber als aus vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen gewonnene per- konstitutives Charakteristikum der Marxschen wissenschaftlichen sonale Defnition von Klassenherrschaft führt schließlich zu einer Revolution berücksichtigt wird60. Reduktion der sich im Staat institutionalisierenden anonymen Form der Klassenherrschaft auf ideologischen Schein, der im Stile der Priestertrugtheorie als Produkt staatlicher Verschleierungstak- ‚Kapital’ (MEGA II/5, S. 39f.). tiken gedeutet wird. Engels jedenfalls will den Klassencharakter 55 Vgl. MEGA II/2, S. 49. auch des demokratischen bürgerlichen Staates mit „direkte(r) Be- 56 Vgl. MEW 23, S. 95. amtenkorruption“ und „der Allianz von Regierung und Börse“67 57 Vgl. MEW 13, S. 45. plausibilisieren. Allerdings besteht bei Engels, bei allem Überwie- 58 Bei Hegel freilich hat, worauf Tomas S. Hofmann hinweist, die gen der später in der Orthodoxie ausgearbeiteten instrumentalis- Behauptung einer Identität von Freiheit und Notwendigkeit einen gänzlich anderen Sinn, nämlich den der Selbstdetermination, des sich selbst begründenden Begrifs als causa sui (Hofmann 2004, S. 344f.). 61 MEW 21, 300. Deterministisch wird sie erst durch ihre materialistische Adaption bei 62 Ebd. Engels. Denn erst hier kann von einer absoluten Selbstdetermination 63 gl. ebd., 165. Noch der Versuch Helmuth Schüttes, Engels’ Über- keine Rede mehr sein und wird die Bestimmtheit durch anderes an legungen als über eine Konkretisierung mit der Formanalyse ver- deren Stelle gesetzt. mittelbare darzustellen, krankt an Anachronismen dieser Art. So 59 Im Sozialismus fungiere, so die ML-Position, „Wert als Instrument redet Schütte stets vom Staat im universalhistorischen Sinn als einer des planmäßig geleiteten [...], nach den Prinzipien der Rechnungs- „außerökonomischen Zwangsgewalt“ (Schütte 1977, 14, vgl. auch S. führung und Kontrolle über das Maß der Arbeit und des Verbrauchs 17). Hier wird die Trennung der Sphären von materieller Reproduktion gestalteten sozialistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses. und Zwangsausübung im Kapitalismus umstandslos in vorkapitalistis- Dementsprechend wird das Wertverhältnis bewußt eingesetzt“ (Eich- che Produktionsweisen projiziert. Die Spezifk direkt gewaltvermittelter horn 1985, S. 1291). Sozialismus besteht in diesem Rahmen „lediglich Aneignung als Charakteristikum vorkapitalistischer Klassenherrschaft in der revolutionierten Rechnungsart der gleichen gesellschaftlichen wird dadurch unkenntlich gemacht. Formbestimmung der menschlichen Arbeitsprodukte wie in der kap- 64 Schäfer 1974, XCVII. italistischen Warenwirtschaft“ (wie Grigat (1997, S. 20) sich kritisch dazu äußert). Der angeblich Marxsche Kommunismus regrediert dabei 65 Vgl. MEW 21, 166f. zu einer Art proudhonistischer Stundenzettelei, wie auch Behrens/ 66 Vgl. Paschukanis’ Frage an den Leninismus: „warum wird der Ap- Hafner bemerken: „Alle bisherigen Vorstellungen vom Übergang zum parat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschen- Sozialismus rekurrieren auf Modelle unmittelbarer Arbeitswert- und den Klasse geschafen, warum spaltet er sich von der letzteren ab und Nutzenrechnung.“ (Behrens/ Hafner 1991, S. 226). Vgl. dazu auch nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Heinrich (1999, S. 385-392); Kittsteiner (1974, S. 410-415); Kittsteiner Apparats der öfentlichen Macht an?“ (Paschukanis 1969, 120). (1977, S. 40-47); Rakowitz (2000). Zum adjektivischen Sozialismus in 67 MEW 21, S. 167. Kaum verwunderlich, dass gerade Lenin sich afr- der Rechts- und Staatstheorie vgl. kritisch Elbe 2002b. mativ auf diese agenten- und einfusstheoretische ‚Begründung’ bezieht 60 Vgl. dazu Haug 1999, Sp. 604-609. (vgl. Lenin 1960b, 38)).

101 tisch-inhaltsfxierten Perspektiven, noch ein unvermitteltes Ne- Managerfunktion als überholt77. Die „Verwandlung der großen beneinander zwischen der Bestimmung des Staates als „Staat der Produktions- und Verkehrsanstalten in Aktiengesellschaften Kapitalisten“ und als „ideeller Gesamtkapitalist“68. Letztere De- und Staatseigentum“ zeigt nach Engels „die Entbehrlichkeit der fnition begreift den Staat „nicht als ein Werkzeug der Bourgeoi- Bourgeoisie für jenen Zweck“, der „Verwaltung der modernen sie(...), sondern als eine Instanz der bürgerlichen Gesellschaft“69, Produktivkräfte“. „Alle gesellschaftlichen Funktionen des Kapi- eine „Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, talisten werden jetzt von besoldeten Angestellten versehn. Der um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Kapitalist hat keine gesellschaftliche Tätigkeit mehr, außer Re- Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergrife sowohl venuen-Einstreichen, Kupon-Abschneiden und Spielen an der der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten“70. Mit diesem Hin- Börse, wo die verschiednen Kapitalisten untereinander sich ihr weis auf den Funktionsmechanismus ist allerdings der spezifsche Kapital abnehmen. Hat die kapitalistische Produktionsweise Formaspekt moderner Staatlichkeit noch nicht erklärt. Auch der zuerst Arbeiter verdrängt, so verdrängt sie jetzt die Kapitalisten StamoKap-Teorie hat Engels den Weg geebnet71. In der Kritik und verweist sie, ganz wie die Arbeiter, in die überfüssige Be- des Erfurter Programmentwurfs schreibt er: völkerung, wenn auch zunächst noch nicht in die Industrielle Reservearmee“78. „Ich kenne eine kapitalistische Produktion als Gesellschaftsform, In Anbetracht dieser (nur grob angedeuteten) Rezeptionsge- als ökonomische Phase; eine kapitalistische Privatproduktion als schichte, könnte man davon sprechen, der Marxismus in der hier eine innerhalb dieser Phase so oder so vorkommende Erschei- präsentierten Form sei das Gerücht über die marxsche Teorie, nung. Was heißt denn kapitalistische Privatproduktion? Produk- ein Gerücht das von den meisten „Marx“-Kritikern dankbar auf- tion durch den einzelnen Unternehmer, und die wird ja schon genommen und nur mit einem negativen Vorzeichen ausgestattet mehr und mehr Ausnahme. Kapitalistische Produktion durch worden ist. Freilich macht es sich eine solche Behauptung, so Aktiengesellschaften ist schon keine Privatproduktion mehr, son- zutrefend sie auch insgesamt sein mag, zu einfach, indem sie dern Produktion für assoziierte Rechnung von vielen. Und wenn bestimmte Abgrenzungen gegenüber der dominanten Doktrin, wir von den Aktiengesellschaften übergehn zu den Trusts, die die sich gleichwohl als Marxismen verstehen, nicht wahrnimmt, ganze Industriezweige beherrschen und monopolisieren, so hört als auch diese Fehlinterpretationen generell als der Marxschen da nicht nur die Privatproduktion auf, sondern auch die Planlo- Teorie vollkommen äußerlich betrachtet, mögliche Inkonsis- sigkeit“72. tenzen und Teorie-Ideologie-Ambivalenzen bei Marx selbst da- mit von vornherein ausschließt. Zur Klärung dieser Frage wird Im Anti-Dühring spricht Engels schließlich vom Staat als reellem ein Blick auf die in der sog. Rekonstruktionsdebatte erarbeitete, Gesamtkapitalisten: „Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigen- diferenziertere Lesart der Marxschen Texte nützlich sein. tum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapita- Insofern soll hier der traditionelle Marxismus vorwegnehmend list, desto mehr Staatsbürger beutet er aus“73. Hier ofenbart sich eher als Ausarbeitung, Systematisierung und Dominantwerden ein beschränktes Verständnis von Privatproduktion und die ten- der Ideologiegehalte im Marxschen Werk – im Rahmen der Re- denzielle Gleichsetzung von staatlicher Planung und Monopol- zeption seitens Engels und Epigonen – begrifen werden. Prakti- macht mit unmittelbarer Vergesellschaftung74, die durch Engels’ scher Einfuss jedenfalls war bisher nahezu ausschließlich diesen Konstruktion des Grundwiderspruchs, mit seiner tendenziellen restringierten und ideologisierten Deutungen der Marxschen Identifzierung von betrieblicher mit gesellschaftlicher Arbeit- Teorie als Geschichtsdeterminismus oder proletarische Politö- steilung, verfestigt wird. Zwar stellt Engels dann doch wieder konomie beschieden. fest, dass „weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften noch die in Staatseigentum die Kapitaleigenschaft der Produktiv- II. Westlicher Marxismus kräfte“75 aufhebt, doch zumindest stellt sich ihm zufolge damit Die Formation eines „westlichen Marxismus“79 geht aus der Kri- ein unmittelbarer Übergang zum Sozialismus ein, während die se der sozialistischen Arbeiterbewegung im Gefolge des ersten Begrife des Monopols und des Staatsinterventionismus „ökono- Weltkrieges (Zerbrechen der II. Internationale an der Politik der misch ganz und gar unbestimmt“76 bleiben. Der Gedanke, dass „Vaterlandsverteidigung“, Scheitern der Revolutionen in Mittel- die Arbeiterbewegung die im Kapitalismus entwickelten Formen und Südeuropa, Entstehen faschistischer Kräfte usw.) hervor. der assoziierten Rechnungsführung in den Aktiengesellschaften Hier sind es Georg Lukács und Karl Korsch, deren 1923 ver- und der umfassenden Planung durch Monopole nur noch zu öfentlichte Schriften paradigmatischen Charakter annehmen. übernehmen brauche, wird damit nahegelegt. Die Bourgeoisie V.a. Lukács gilt als erster marxistischer Teoretiker, der auf ge- gilt Engels ja bereits durch die Trennung von Eigentümer- und

77 Diese alten Kamellen werden dann u.a. von Wolfgang Pohrt in den 1970er Jahren als tiefe Einsichten in den ‚Spätkapitalismus’ präsentiert. 68 MEW 20, 260. 78 MEW 20, 259f. 69 Busch-Weßlau 1990, 84. 79 Der Begrif taucht zwar wahrscheinlich zuerst in einer leninistis- chen Polemik gegen Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein auf 70 MEW 20, S. 260. (vgl. Walther 1982, 968), erlangt aber weder als Kampfbegrif noch als 71 Vgl. dazu Paul 1978, 51-54. zeitgenössische Selbstbezeichnung der gemeinhin darunter subsumier- 72 MEW 22, 231f. ten Teoretiker (wie Lukács, Korsch, Bloch, die Frankfurter Schule, 73 Vgl. MEW 20, 260. Gramsci, Lefebvre u.a.) größere Bedeutung. Hier wird weitgehend der Verwendung des Terminus durch Perry Anderson (1978) gefolgt. So 74 Schäfer 1974, CXXXI. fruchtbar der Begrif des westlichen Marxismus als heuristisches Mod- 75 MEW 20, 260. ell auch sein mag, so klar müssen seine Grenzen aufgezeigt werden (vgl. 76 Schäfer 1974, CXXXIV. die Kritik an Anderson bei Haug 1987 und Krätke 1996, 77).

102 sellschaftstheoretisch-methodologischer Ebene die bis dahin ge- tiven sozialistischen „Volkswillens“ gegen das mechanisch aus radezu selbstverständliche Annahme der völligen Gleichheit von der Ökonomie und ihrem Produktivkraftlevel abgeleitete Klas- marxscher und engelsscher Teorie in Frage stellt80. Im Zentrum senbewusstsein angeführt. Später begegnet Gramsci nun dem seiner Kritik steht die Ausblendung der Subjekt-Objekt-Relati- Etatismus der III. Internationale mit seiner Hegemonietheorie, on bei Engels sowie dessen Konzept einer Dialektik der Natur81, die den „Bewegungskrieg“ des frontalen Angrifs auf den repres- an der sich der Fatalismus des Marxismus der II. Internationale siven Staatsapparat als für die modernen westlichen Kapitalis- orientiert. Gegen dessen Ontologisierung des historischen Ma- men unbrauchbare Revolutionsstrategie ablehnt. Die ‚Zivilge- terialismus zu einer kontemplativen Weltanschauung verstehen sellschaft’ stellt nach Gramsci in diesen Sozialformationen eine Lukács, wie der westliche Marxismus insgesamt, den Marx- labyrinthische Struktur von Apparaten dar, in denen Denk- und schen Ansatz als kritisch-revolutionäre Teorie gesellschaftli- Verhaltensmuster generiert werden, die ein durch großpolitische cher Praxis. Gegen die szientistische Rede von den „objektiven Aktionen nicht zu brechendes Beharrungsvermögen aufweisen. Entwicklungsgesetzen“ des geschichtlichen Fortschritts werden Das russische Revolutionsmodell musste im Westen auch des- die Ideologiekritik des verdinglichten Bewusstseins, die De- halb scheitern, weil der Glaube an die Universalisierbarkeit der chifrierung der zur „zweiten Natur“ erstarrten kapitalistischen Erfahrungen der Bolschewiki mit einem zentralistisch-despo- Produktionsweise als historisch-spezifsche Form sozialer Pra- tischen Zarismus zur Ausblendung der Relevanz ideologischer xis, die Betonung der Revolution als kritischer Akt praktischer Vergesellschaftung über zivilgesellschaftliche Apparate und de- Subjektivität gesetzt82. Selbstbezeichnungen wie „Philosophie ren Efekt, die Unterwerfung in Form der Selbsttätigkeit, führ- der Praxis“ (Gramsci) oder „kritische Teorie der Gesellschaft“ te. Sowohl Lukács als auch Gramsci bleiben aber der ‚arbeiter- (Horkheimer) stellen deshalb auch keine bloßen Tarnwörter exklusiv’ begründeten Revolutionsaufassung insofern treu, als oder begrifiche Äquivalente für die parteiofzielle Lehre dar, bei jenem, trotz Refexion des verdinglichten Bewusstseins, noch sondern verdeutlichen einen Lernprozess, in dem „kritisches, auf immer ein ökonomisch garantiertes Erkenntnisprivileg des Pro- Handeln zielendes Denken Marxscher Herkunft neu entsprun- letariats unterstellt wird89, und bei diesem eine Fixierung seiner gen ist“83. Nimmt der westliche Marxismus zunächst noch die strategisch motivierten Zivilgesellschaftstheorie auf die Hand- aktivistischen Impulse der russischen Oktoberrevolution positiv lungsspielräume der Arbeiterklasse – proletarische Hegemonie auf84, so wenden sich seine bedeutendsten Vertreter schon früh- – zu verzeichnen ist. zeitig gegen die Doktrin des Leninismus, v.a. dessen Fortschrei- Mit dem Versuch der sozialpsychologischen Ergründung noch bung des sozialtheoretischen Naturalismus und seine falsche der triebstrukturellen Grundlagen der Reproduktion einer Universalisierung der Erfahrungen der russischen Revolution85. ‚unvernünftigen Gesellschaft’, vor allem in Form von autoritä- Für ersteres mag als Beispiel Georg Lukács’ Kritik an Bucha- ren und antisemitischen Haltungen, wird erst im Rahmen des rins „Teorie des Historischen Materialismus“ dienen. In dieser Frankfurter Instituts für Sozialforschung seit der Direktorats- wirft er Bucharin vor, mit seinen Konzepten des Primats der übernahme Max Horkheimers im Jahr 1931 ein Refexionsniveau Produktivkraftentwicklung und der bruchlosen Anwendbarkeit erreicht, das von anderen Vertretern und Richtungen des west- naturwissenschaftlicher Methoden auf die Gesellschaft werde lichen Marxismus nicht eingeholt wird90 und den versichernden seine Teorie fetischistisch, verwische die „qualitative Diferenz´ Rückhalt auf ein imaginiertes Klassenbewusstsein des Proleta- der Gegenstandsbereiche von Natur- und Sozialwissenschaften, riats aufgibt91. Endlich wird das empirische Klassenbewusstsein erhalte den „Akzent einer falschen `Objektivität´“ und verken- als einzig wirkliches einer Analyse unterzogen und dabei die von ne die Kernvorstellung des Marxschen Verfahrens, nämlich die anderen Teoretikern ignorierte ‚irrationale’, emotionale Dimen- Zurückführung „sämtliche(r) Phänomene der Ökonomie (...) auf sion sozialer Praxis, wie die soziale Dimension des Triebhaften gesellschaftliche Beziehungen der Menschen zueinander“86. berücksichtigt. Diese theoretische Einsicht in die Rückhaltlosig- Die revolutionsstrategische Festlegung auf den Weg der Oktober- keit der kritischen Teorie ist zugleich Eingeständnis eines histo- revolution hat exemplarisch Antonio Gramsci in seinen Gefäng- nisheften kritisiert. Er hatte die Oktoberrevolution zunächst als 89 Das aber diesem letztlich in Gestalt des revolutionären Klassenbe- „Revolution gegen das ›Kapital‹“87 von Marx begrüßt, das heißt wusstseins von den Parteitheoretikern „zugerechnet“ (Lukács 1988, S. als Widerlegung der darin angeblich bewiesenen Unmöglichkeit 126) wird. Diese wiederum sind eine Art Registraturorgan der histo- sozialistischer Umwälzungen in industriell rückständigen Län- rischen Gesamttendenz und gesellschaftlichen Totalität und erkennen dern. In geradezu religiöser Manier wurde die voluntaristische das, was das Proletariat, „einerlei, was es darüber denken mag“ (ebd., S. „sozialistische Verkündigung“88 von ihm als Quelle eines kollek- 153), zu tun gezwungen sein wird. Obwohl Lukács auf Praxis und Sub- jektivität gegen Anschauung und objektive Gesetzlichkeiten rekurriert, wird das wirkliche Denken und handeln, die wirkliche Subjektivität der Akteure und Klassen auch hier wieder einer geschichtsmetaphysischen 80 Vgl. Mehringer/Mergner 1973, 189 oder Stedman Jones 1988, 232. Instanz – der Totalität des Geschichtsverlaufs und ihrer vermeintlichen 81 Vgl. Lukács 1988, 61f. Tendenz – unterworfen. 82 Vgl. auch Brecht 1967, 469 oder Bloch 1990, 229. 90 Eine wissenschaftliche Psychologie z.B. ist in den Überlegungen 83 Haug 1996, 8. Zur Kritik der „Tarnwortthese“ in bezug auf Grams- der meisten Vertreter des Marxismus nicht anzutrefen, wenn man von cis Werk, vgl. Haug 1995, 1195-1209. positiven Bezügen auf Pawlows Behaviorismus absieht. Die Psychoana- 84 Vgl. Korsch 1993a, 337f.; Lukács 1990; Gramsci 1967, 23-27. lyse wird zumeist abgelehnt, wenn nicht gar als ‚bürgerlich-dekadent’ dämonisiert. Eine kritische Übersicht zu solchen Reaktionsweisen bie- 85 Vgl. Korsch 1993b; Lukács 1974; Gramsci 1967. tet Helmut Dahmer (1982, S. 241-277); im Rahmen des westlichen 86 Zitate der Reihenfolge nach in Lukács 1974, 289, 284. Vgl. auch Marxismus tat sich vor allem Lukács’ in der Verdammung Freuds her- Kofer 2000, 90f. vor (vgl. ebd., S. 273f.). Gramsci hat nach eigenen Angaben „Freuds 87 Gramsci 1967, S. 24. Teorien nicht studieren können“ (Gramsci 1976, S. 404). 88 Ebd., S. 25. 91 Vgl. Horkheimer 1988, S. 188f., 215f.

103 rischen Prozesses der zunehmenden Unvermitteltheit von emanzi- III. Neue Marx-Lektüre patorischer Teorie und revolutionär perspektivierter Praxis: Mit der Erst im Rahmen einer „neuen Marx-Lektüre“ seit Mitte der Propagierung des Sozialismus in einem Land, der Bolschewisierung 1960er Jahre spielen staats- und ökonomietheoretische Probleme der westlichen KPen und der Verordnung des ML als Leitideolo- außerhalb des ML wieder eine Rolle. Auch diese neue Rezep- gie der Dritten Internationale seit Mitte der 20er Jahre beginnt die tionswelle der Marx´schen Teorie ist m.o.w. deutlich jenseits für den westlichen Marxismus charakteristische Isolation seiner von Stalinismus und Sozialdemokratie angesiedelt. Neben der Vertreter: Weder politischer Einfuss, noch (mit Ausnahme des Neulektüre in westeuropäischen Ländern fnden Ansätze einer Frankfurter Instituts für Sozialforschung vielleicht) institutionelle „neuen Marx-Lektüre“ vereinzelt auch in Osteuropa statt98. Ihre Grundlagen für eine normale wissenschaftliche Praxis sind gegeben. Genese in der BRD fällt mit Phänomenen wie der Studentenbe- Was diese Formation des Marxismus als intellektuellen Lernprozess wegung, den ersten Erschütterungen des Glaubens an eine im- auszeichnet – seine Wahrnehmung des hegelschen Erbes und des merwährende, politisch steuerbare Nachkriegsprosperität, dem kritisch-humanistischen Potentials in der Marxschen Teorie, die Aufbrechen des antikommunistischen Konsenses im Zuge des Einbeziehung zeitgenössischer ‚bürgerlicher’ Ansätze zur Erhellung Vietnamkrieges u.a. zusammen und bleibt trotz ihres radikalen der großen Krise der Arbeiterbewegung, die methodologische Ori- Emanzipationsanspruchs weitgehend auf das akademische Feld entierung, die Sensibilisierung für sozialpsychologische und kultu- begrenzt. Von dieser neuen Marx-Lektüre im weiteren Sinne99 relle Phänomene im Zusammenhang mit der Frage nach den Ur- soll hier eine im engeren Sinne100 unterschieden werden. Ist sachen für das Scheitern der Revolution im „Westen“92 – wird im jene ein internationales Phänomen, so beschränkt sich diese Rahmen dieser Konstellation zur Quelle eines neuen Typs restrin- zunächst weitgehend auf die Bundesrepublik. Bleibt jene noch gierter Marx-Auslegung. Diese ist im wesentlichen durch die Aus- überwiegend den engelsschen Dogmen bezüglich der Kritik der blendung politik- und staatstheoretischer Probleme93, eine selektive politischen Ökonomie verhaftet, so rückt diese die Revision der Rezeption der Marxschen Werttheorie und das Vorherrschen einer bisherigen historizistischen bzw. empiristischen Lesarten der „verschwiegenen Orthodoxie“94 in Fragen der Kritik der politischen Marxschen Formanalyse in den Vordergrund. Inhaltlich wird Ökonomie gekennzeichnet. Bereits im ‚Gründungsdokument’ des in den Hauptsträngen der Debatte – durchaus widersprüchlich westlichen Marxismus, Lukács’ ‚Geschichte und Klassenbewusst- und keineswegs von allen Vertretern geteilt – eine dreifache Ab- sein’, wo immerhin zum ersten Mal auf den von Marx erkannten kehr von zentralen Topoi des Traditionsmarxismus vollzogen: anonymen, verselbständigten und sachlich vermittelten Charakter Eine Abkehr vom werttheoretischen Substantialismus101, eine kapitalistischer Herrschaft hingewiesen wird, lässt sich eine Um- Abkehr von manipulationstheoretisch-instrumentalistischen gehung der Rekonstruktion der Marxschen Kapitalismustheorie Staatsaufassungen102 sowie eine Abkehr von arbeiterbewegung- erkennen: Statt Marx’ Dialektik der Wertformen bis hin zur Ka- szentrierten bzw. „arbeitsontologischen“ (oder gar generell von) pitalform zu analysieren, die im Teorem der reellen Subsumtion revolutionstheoretischen Deutungen der Kritik der politischen immerhin eine, für Lukács doch so entscheidende, Erklärung des Ökonomie103. Ihre theoretischen Bemühungen artikuliert die Zusammenhangs von Kommodifzierung und entfremdeter Struk- neue Lesart dabei in Form einer Rekonstruktion der Marxschen tur des Arbeitsprozesses bietet, fndet sich hier lediglich eine analo- Teorie. gisierende Kombination von auf die ‚quantifzierende’ Warenform Hinsichtlich der Ökonomiekritik fndet v.a. im Rahmen des reduzierter Werttheorie (die der Orientierung an Simmels Kultur- 1967 abgehaltenen Kolloquiums „100 Jahre `Kapital´“104 eine kritik des Geldes geschuldet ist) und einer an Max Weber orientier- Kristallisation zentraler Fragen und Forschungsaufgaben der ten Diagnose der formal-rationalen Versachlichungstendenzen des Rekonstruktionsdebatte statt. Es wird eine Reinterpretation der Arbeitsprozesses und modernen Rechts95. Bis in die Mitte der 60er Marxschen Kritik aus gesellschaftstheoretisch-methodologischer Jahre hinein scheint es keinen westlichen Marxisten zu geben, der Perspektive anvisiert: Die Frage nach dem originären Gegenstand seine Auseinandersetzung mit dem traditionellen Marxverständnis des Kapital (den ökonomischen Formbestimmungen), der Eigen- auf das Gebiet der Werttheorie ausdehnt. Weiter als diese verschwie- tümlichkeit seiner wissenschaftlichen Darstellung (Dialektik der gene Orthodoxie gehen schließlich Positionen, die – ohne sich ernst- haft mit der Kritik der politischen Ökonomie auseinandergesetzt zu haben – den „humanistischen Kulturkritiker Marx“ dem „Ökono- mus seitens Jürgen Habermas. 96 men Marx“ gegenüberstellen oder gar einen „Marxismus“ ohne 98 Die ersten Ansätze einer neuen Marx-Lektüre fnden sich bereits in Ökonomiekritik für möglich halten97. den 1920er Jahren bei den sowjetischen Autoren Isaak Iljitsch Rubin und Eugen Paschukanis, vgl. Rubin 1973, 1975; Paschukanis (1969). Ihr Problembewusstsein hinsichtlich wert- und rechtstheoretischer As- 92 Als weitere Charakteristika für den westlichen Marxismus nennt pekte der Marxschen Teorie wurde danach in Ost wie West lange Zeit Anderson den Rückgrif auf die vormarxsche Philosophie zur Klärung nicht ansatzweise erreicht. Erst mit den Debatten seit Ende der 1960er der Methode einer kritischen Gesellschaftstheorie; die Einbeziehung Jahre änderte sich dies teilweise. zeitgenössischer „bürgerlicher“ Teorien; einen esoterischen Schreib- 99 Wie sie von Heinrich (1999b, S. 207f.) und Jaeggi (1977, 146) bes- stil; eine deutlich von der triumphalistischen Diktion des klassischen chrieben wird. Sie wird auch unter dem Label ‘Neomarxismus’ gefasst. Marxismus wie des ML abweichende, eher pessimistische Einschätzung 100 Wie sie von Backhaus (1997) defniert wird. Vgl. auch Heinrich der historischen Entwicklung; eine Vorliebe für Probleme der Ästhetik. 1999b, 211f. 93 Als Ausnahme gelten Gramscis im faschistischen Kerker entstand- 101 Vgl. u.a. Heinrich 1999a, Brentel 1989. ene Arbeiten. 102 Zur sog. Staatsableitungsdebatte vgl. Kostede 1976 und Rudel 94 Habermas 1993, 235. 1981. 95 Vgl. Dannemann 1987, S. 80f., 93f. 103 Vgl. Breuer 1977, Mohl 1978, König 1981 oder die Schriften der 96 Z.B. Fromm 1988, 9 oder Habermas 1990. Krisis-Gruppe. 97 Vgl. die Versuche einer Rekonstruktion des historischen Materialis- 104 Vgl. Schmidt/Euchner 1968.

104 Wertformen) sowie dem Zusammenhang der drei Bände („Kapital Marxschen Werttheorie strukturierte: der von Engels ausgelösten im allgemeinen – viele Kapitalien“) wird in Abgrenzung zu quan- Fehlinterpretation der ersten drei Kapitel des Kapital als Wert- und titativen Ansätzen und unter besonderer Betonung des Stellen- Geldtheorie der von ihm so getauften `einfachen Warenproduk- werts der Grundrisse neu gestellt. Im Feld der Auseinandersetzung tion´“107. Backhaus geht davon aus, „dass von diesem fundamen- zwischen „kritischem“ und „strukturalem“ Marxismus tauchen – talen Irrtum her die marxistische Werttheorie das Verständnis der quer zu den klassischen Streitpunkten105 - Übergangsmomente der Marxschen Werttheorie blockieren musste“108. Abkehr vom methodologischen Traditionsbestand auf: Sowohl der Werden auf dieser Ebene also zunächst Marxsche und marxis- strukturalistische Antihistorizismus als auch Hegelsche Denkfgu- tische Teorie unterschieden, so wird schon früh das metatheo- ren („progressiv-regressive Methode“, „Rückgang in den Grund“) retische Selbstverständnis von Marx problematisiert. Bereits bei spielen darin eine bedeutende Rolle. Louis Althusser wird mit Hilfe einer „symptomalen“, gegen eine Anfangs noch mit vielen „Wenns und Abers“106 und in einigen subjektzentriert-intentionalistische Hermeneutik gerichteten, Lek- Punkten im Fahrwasser des Traditionsmarxismus verbleibend, er- türe konstatiert, dass wir es im Marxschen Werk mit einer in der hält die neue Marx-Lektüre im Laufe der 70er Jahre deutlichere theoretischen Praxis der Analyse des Kapitalismus vollzogenen Konturen. wissenschaftlichen Revolution zu tun haben, die auf der metatheo- Gegen den klassischen Mythos von der völligen Gleichheit des retischen Ebene von einem dieser Problematik unangemessenen Marxschen und Engelsschen Paradigmas werden sowohl hinsicht- Diskurs überlagert wird109. Althusser defniert dabei die Aufgaben lich des historischen Materialismus als auch der Kritik der politi- einer Rekonstruktion als Abtragen des inadäquaten Metadiskurses schen Ökonomie Engels’ Kommentare als dem Marxschen Werk und Transformation der in ihm vorherrschenden Metaphern, die weitgehend inadäquate, auf einer rein „exoterischen“, traditionelle als Symptome für die Abwesenheit einer dem wirklichen Vorgehen Paradigmen perpetuierenden Ebene verbleibende kritisiert. So be- der Kapitalanalyse angemessenen Selbstrefexion gelesen werden, tont Hans-Georg Backhaus 1974 in bezug auf die Werttheorie, die in Begrife. Im Unterschied zu Althusser und seiner dualistischen Kritik gelte einer „Interpretationsprämisse, die noch bis vor kur- Fassung des Verhältnisses von Real- und Erkenntnisobjekt110, zem zu den wenigen unumstrittenen Bestandteilen der marxisti- wird dieser Sachverhalt von der Rekonstruktionsdebatte meist schen Literatur zählte und unangefochten die Rezeptionsweise der im theoretischen Rahmen der Marxschen Ideologiekritik formu- traditionelle Lesart der Marx´schen Teorie klassische Annahme des Marxismus der II. und Marx = Engels (einheitliches Paradigma, kohärente Ar- III. Internationale gumentation, geschlossene „Weltanschauung“)

Stufen der kritisch–rekonstruktiven Lesart

1. Stufe: z.B. Backhaus (Materialien 1. und 2. Teil) Engels - exoterisch vs. Marx - esoterisch

2. Stufe: z.B. Althusser (Kapital lesen); A. Schmidt; Back- Marx - Metadiskurs exoterisch vs. haus (Materialien) Marx - Realanalysen esoterisch

3. Stufe: z.B. Backhaus (Materialien 3. und 4. Teil); Heinrich Marx - Metadiskurs exoterisch/ esoterisch (Wissenschaft vom Wert) Marx - Realanalysen exoterisch/ esoterisch

105 Der „kritische Marxismus“, in den sechziger Jahren v.a. von Alfred Schmidt vertreten, betont dabei den negativen und historisch begrenz- ten Charakter und Geltungsanspruch eines „Materialismus der zweiten Natur“, tendiert aber dazu, den methodologischen Individualismus als 107 Backhaus 1997, 69. adäquate Beschreibung kommender kommunistischer Verhältnisse zu betrachten. Der „szientifsche“ Marxismus der Althusser-Schule betont 108 Ebd. gegen individualistische Teorien eines „konstituierenden Subjekts“, 109 Vgl. Althusser 1972, 38-51 und 65-67. dass die Akteure nur Träger von Produktionsverhältnissen darstellen, 110 Vgl. Althusser 1972, 52-55. Die Diferenz zwischen der struk- erhebt aber aufgrund des tendenziell universalhistorischen Charakters turalistischen und der kritisch-rekonstruktiven Lesart bleibt nicht auf seiner Kategorien (Balibars Ebenenkombinatorik, Althussers Praxis- diesen Punkt beschränkt. Während jene gerade den Hegelianismus als und Ideologiebegrif) die Verselbständigung der Produktionsverhält- inadäquaten Metadiskurs entlarven will, ist für diese der methodis- nisse zur wissenschaftlichen Norm. che Bezug auf Hegel nicht selten der Königsweg zum Verständnis des 106 Backhaus 1997, 11. Marxschen Werks.

105 liert: Marx unterscheidet eine „esoterische“ von einer „exoteri- als „naturgeschichtlichen Prozess“113, ist als kritische Aussage schen“ Ebene in den Werken der klassischen politischen Ökono- zu verstehen. „Natur“, bzw. „Naturwüchsigkeit“ sind negativ mie. Finden sich in ersterer Einsichten in den gesellschaftlichen bestimmte Kategorien für einen Vergesellschaftungszusammen- Vermittlungszusammenhang der bürgerlichen Produktionswei- hang, der aufgrund seiner privat-arbeitsteiligen Verfasstheit sich se, so begnügt sich letztere mit einer unvermittelten Beschrei- den Akteuren gegenüber als unerbittliche Vernutzungsmaschine- bung und Systematisierung der objektiven Gedankenformen des rie abstrakter Arbeit, als ihrer kollektiven wie individuellen Kon- Alltagsverstands der Akteure, bleibt im verdinglichten Schein trolle entzogenes und doch nur durch ihr Handeln hindurch sich der Unmittelbarkeit tatsächlich gesellschaftlich vermittelter reproduzierendes „Wertschicksal“ geltend macht. Phänomene befangen. Die „exoterische“ Argumentation lässt Die Marxsche Teorie ist „ein einziges kritisches Urteil über die sich also nicht psychologistisch auf subjektive Unzulänglichkei- seitherige Geschichte, in der die Menschen sich zu Objekten ten oder gar bewusste Verfälschungsabsichten des Teoretikers ihrer blind ablaufenden ökonomischen Dynamik haben herab- zurückführen. Sie resultiert aus einer bestimmten Denkform, würdigen lassen“114. Zwar verfällt Marx in den deklamatorischen die systematisches und zunächst unwillkürliches Produkt der Teilen seiner Arbeiten immer wieder in einen in Geschichtsphi- Verkehrsformen der kapitalistischen Produktionsweise ist. Die losophie umkippenden historischen Optimismus, doch wird Rekonstruktionsdebatte wendet nun die Unterscheidung esote- dieser von seiner wissenschaftlichen Kritik der Geschichtsphilo- risch/exoterisch auf das marxsche Werk selbst an. sophie und politischen Ökonomie grundlegend konterkariert115. Schließlich werden auch in der Kritik der politischen Ökono- Gerade aus diesen Versatzstücken kleistern aber der Marxismus mie und im historischen Materialismus, also in der auf der vor- der II. und III. Internationale sowie die Gebildeten unter den herigen Stufe der Rekonstruktion als unversehrte „esoterische“ Marx-Verächtern ein abstruses System eherner historischer Not- Schicht angesehenen theoretischen Praxis, „exoterische“ Gehal- wendigkeiten zusammen, bis hin zu einem „`Gesetz der Abfolge te, begrifiche Ambivalenzen „zwischen wissenschaftlicher Re- der Gesellschaftsformationen´“, das die „`allgemeine historisch volution und klassischer Tradition“111 aufgewiesen. Das Dogma notwendige Tendenz des Fortschritts der Gattung Mensch´“116 der Unantastbarkeit der Darstellung der Kritik der politischen festlege. Ökonomie im Kapital wird endgültig verworfen. An die Stelle - Die Kritik der politischen Ökonomie, die in Form des Marx- der Legende vom linearen Erkenntnisfortschritt Marxens tritt schen Spätwerks „den Vergleich mit dem immanenten Anspruch die Feststellung eines komplexen Neben- und Ineinanders von der programmatischen Erklärungen in der Deutschen Ideologie“, Fort- und Rückschritten in Darstellungsweise und Forschungs- nämlich die kapitalistische Gesellschaftsformation in ihrer Tota- stand der Ökonomiekritik. Schließlich wird auf die zunehmende lität darzustellen117, „nicht aus[hält]“118, lässt sich als vierfacher Popularisierung der Darstellung der Wertformanalyse von den Kritikprozess darstellen: sie ist 1) Kritik der bürgerlichen Ge- Grundrissen bis zur Zweitaufage des Kapital hingewiesen, die, sellschaft und ihrer destruktiv-naturwüchsigen Verlaufsform indem sie die formgenetische Methode immer mehr verstecke, vor dem Hintergrund der durch diese selbst hervorgebrachten auch historisierenden und substantialistischen Lesarten Anhalts- objektiv-realen Möglichkeit ihrer emanzipatorischen Aufhe- punkte liefere112. bung, 2) Kritik des von diesen Verhältnissen selbst systematisch erzeugten fetischisierten und verkehrten Alltagsverstands der IV. Marxismusinterne Lernprozesse Akteure, 3) Kritik des gesamten, diese gang und gäbe Denk- Da im Rahmen dieses Textes nicht genug Raum verbleibt, um formen unkritisch systematisierenden, theoretischen Feldes der auch nur annähernd Aspekte einer wissenschaftlichen Revolu- politischen Ökonomie119 und 4) Kritik utopistischer Sozialkritik, tion, interner Lernprozesse, aber auch Rückfälle in traditionel- die entweder ein Modell der sozialen Befreiung dem System der le ökonomische und geschichtsphilosophische Positionen im kapitalistischen Produktionsweise bloß postulativ entgegenhält Marschen Werk zu erläutern, sollen hier nur die von den o.g. oder davon ausgeht, einzelne ökonomische Formen reformato- marxismusinternen Lernprozessen herausgestellten Punkte kurz risch gegen den Gesamtzusammenhang des Systems geltend ma- erwähnt werden: chen zu können120. Die Kritik ist also keine immanente in dem - Die Marxsche Teorie konstatiert nicht irgendeinen Automatis- Sinne, dass sie Bestimmungen des Tauschs, der bürgerlichen mus der Befreiung, sie ist vielmehr zu begreifen als theoretische Ideale, proletarischen Rechtsforderungen oder der kapitalsubsu- Instanz einer über Analyse und Kritik vermittelten Arbeit an der mierten industriellen Produktionsweise gegen den Kapitalismus Befreiung vom Automatismus einer irrationalen Vergesellschaf- geltend machen würde121. Das Verfahren der Ökonomiekritik tungsweise. Die von Marxisten wie Anti-Marxisten gerne als Beweis wahlweise höchster Wissenschaftlichkeit oder gerade un- 113 MEW 23, 16. wissenschaftlicher Prophetie angeführte Behauptung von Marx, 114 Schmidt 1993, 35. er fasse die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise 115 Vgl. zur Marxschen Kritik an der Geschichtsphilosophie u.a.: Fleis- cher 1975; Kittsteiner 1980; Arndt 1985, 50-76; Hecker, Vollgraf, Sperl 1996. 111 So der Untertitel von Heinrich (1999a); vgl. auch Backhaus´ Kritik 116 G. Stiehler zitiert nach Jaeggi 1977, 153; zur dieses als authentische an seinen eigenen theoretischen Prämissen in den ersten beiden Teilen Marxsche Position verkaufenden „Marx“-Kritik vgl. nur die einschlägi- seiner „Materialien“. (Backhaus 1997, 132f.) gen Schriften K. Poppers. 112 Vgl. kritisch zu einigen Aspekten dieser Tesen Wolf (2004). 117 Vgl. MEW 3, 37f. Dieser kritisiert auch Tendenzen innerhalb der neuen Marx-Lektüre, 118 Reichelt 1970, 73. die Marx’ dialektische Methode mit logischen Widersprüchen identi- 119 Vgl. dazu Heinrich 1999a. fzieren und ihr einen irrationalen Anstrich geben; vgl. dazu Wolfs Kri- tik an Colletti und Göhler in Wolf 1985. Irrationale Positionen fnden 120Vgl. dazu Brentel 1989, Kap. V. sich heute auch bei Vertretern der Krisis-Gruppe oder des ISF. 121 Vgl. dazu Heinrich 1999a, 380-384; Postone 2003, 69, 110, 149,

106 kann als „Formentwicklung“ oder „-analyse“ bezeichnet werden. Formtheorie der Arbeit, die Marx von der Klassik unterscheidet. Diese zielt auf die Erfassung der spezifschen Gesellschaftlich- Marx kritisiert, dass die Form Wert von der politischen Ökono- keit historisch unterschiedlicher Produktionsweisen. Während mie refexionslos vorausgesetzt, nicht nach deren Genese gefragt „bürgerliche“ Ansätze bestenfalls eine Wissenschaft von der Re- und die sich im Wert darstellende Arbeit nicht als historisch-spe- produktion der Gesellschaft in bestimmten ökonomischen und zifsche, gesellschaftliche Form begrifen wird (es wird nicht die politischen Formen betreiben, muss eine Kritik der politischen Frage gestellt, „warum sich die Arbeit im Wert darstellt“126). Da- Ökonomie als Wissenschaft von diesen Formen konzipiert sein122 mit bewegt sich politische Ökonomie grundlegend auf dem Feld Die politische Ökonomie operiert auf der Ebene bereits konsti- fetischisierter Formen. Zudem wird der prämonetäre Charakter tuierter ökonomischer Gegenstände, nimmt diese empiristisch ihrer Werttheorie kritisiert, denn sie „behandelt die Wertform als gegeben auf, bzw. kann diese nur zirkulär begründen, ohne als etwas ganz Gleichgültiges oder der Natur der Ware selbst deren systematischen Konstitutionsprozess begrifich zu durch- Äußerliches“127, d.h., sie unterscheidet nicht zwischen innerem dringen. Sie erliegt den Selbstmystifkationen der kapitalisti- und äußerem Wertmaß als zwei auf unterschiedlichen theore- schen Objektwelt als Welt natürlicher Formen123 und entzieht tischen Abstraktionsebenen liegenden Kategorien und begreift diese damit in ihren Grundstrukturen menschlicher Gestaltungs- nicht die Notwendigkeit der Geldform für den Austausch von und Veränderungskompetenz. Waren. Geld wird als rein technisches Instrument gefasst, das Formanalyse betreibt dagegen die Entwicklung der Formen aus Bequemlichkeitsgründen den Austausch mittels Arbeitszeit- (wie Wert, Geld, Kapital, aber auch Recht und Staat) aus den mengen-Rechnungen ersetzt. Bei Marx dagegen wird Geld als widersprüchlichen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit, notwendiges Moment des Austauschprozesses von Waren ent- sie „erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit“124. wickelt. Ohne eine allgemeine Wertform könnten sich die Waren Form-Entwicklung darf dabei nicht als Nachvollzug einer histo- nicht füreinander als Werte darstellen und wären auf den Status rischen Entwicklung des Gegenstands verstanden werden, sie von Produkten zurückgeworfen. Es muss dabei von einer ‚glei- meint vielmehr die begrifiche Entschlüsselung des immanenten chursprünglichen’ Konstitution von abstrakter Arbeit als logisch Strukturzusammenhangs der kapitalistischen Produktionsweise. vorgeordnetem immanentem und Geld als äußerem Wertmaß Sie dechifriert die scheinbar selbständigen, scheinbar gegen- ausgegangen werden. In diesem Sinne spricht Marx von der ständlich begründeten Formen des gesellschaftlichen Reichtums Wertsubstanz als im Austausch ‚werdendem Resultat’, das zudem und des politischen Zwangs der kapitalistischen Produktionswei- erst als Kapital ‚intertemporale Existenz’ gewinnt. Im Gegensatz se als historisch-spezifsche und damit, wenn auch keineswegs be- zum Empirismus und Ahistorismus der politischen Ökonomie liebig oder stückwerktechnologisch, veränderbare Praxisformen. stellt sich Marx’ Ansatz damit als Wesenserkenntnis im Sinne - Der traditionelle, aber auch der westliche Marxismus haben der Rekonstruktion eines empirisch nicht unmittelbar erfassba- das revolutionäre wissenschaftliche Potential des Marxschen An- ren gesellschaftlichen Struktur- und Handlungszusammenhangs satzes, seine monetäre Konstitutionstheorie des Werts, vollständig dar – mittels der Erarbeitung einer nichtempirischen Teorieebe- ignoriert. Vor allem die mit Engels beginnende empiristisch-his- ne die die Erklärung empirischer Erscheinungsformen, wie des torizistische Fehlinterpretation der Darstellungsweise und die Geldes, allererst ermöglicht. Marx verfolgt, ein „Prinzip der Ent- ‚prämonetäre’ Deutung der Werttheorie des ‚Kapital’, aber auch wicklung der ökonomischen Kategorien bei Diferenzierung un- Ambivalenzen im Marxschen Werk selbst und die Popularisie- terschiedlicher Abstraktionsebenen“128. Kategorien wie abstrakte rung seiner Methode, die „den Verzicht auf eine systematische Arbeit oder Wert haben dabei keine unmittelbaren empirischen Ausarbeitung werttheoretischer und methodologischer Grund- Referenten, die Aufeinanderfolge der Kategorien Ware und Geld gedanken“125 bedeutet haben, wurden im Rahmen der neuen ist nicht als eine historische von jeweils für sich existierenden Marx-Lektüre Gegenstand der Kritik. Engels und der marxis- Sachverhalten, sondern als begrifiche Analyse zu verstehen. tische Traditionalismus deuteten verschiedene Abstraktionsebe- nen der Darstellung der Gesetze der kapitalistischen Produkti- onsweise im ‚Kapital’ als empirisch gleichrangige Ebenen eines Modells historisch unterschiedlicher Produktionsweisen. Damit waren Kategorien wie abstrakte Arbeit, Wert und einfache Wert- form empiristisch umgedeutet und der von Marx als notwendig erachtete Zusammenhang von Ware, Geld und Kapital in einen zufälligen verwandelt. Damit bewegte sich der Marxismus aber auch auf einem methodologischen und werttheoretischen Ter- rain, das Marx gerade an der ökonomischen Klassik kritisierte. Marx’ Kritik der politischen Ökonomie unterscheidet sich von einer alternativen Politökonomie aber vor allem in zweierlei Hin- sicht: Zunächst ist es nicht erst die Mehrwerttheorie, sondern die

414, 479, 541 und Iber 2005, 154, 163, 177. 122 Vgl. MEW 4, 126 und MEW 40, 510. 123 In vollendeter Form in der sog. „trinitarischen Formel“ der Kom- ponententheorie des Werts, vgl. Marx (1989, 822-839). Vgl. zur ne- oklassischen Ökonomie: Heinrich (1999a, 62-85). 126 MEW 23, 95. Vgl. dazu präzisierend Wolf 2006, 69f. 124 MEW 1, 296. 127 MEW 23, 95. 125 Hof 2004, S. 24. 128 Hof 2004, 78.

107 Übersicht zu den Marxismen

wichtige zentrale Referenztexte Kernvorstellung: TeoretikerInnen bei Marx / Engels Marxsche Teorie als ...

traditioneller [F. Engels], K. Kautsky, Anspruch: ‚Lehrsätze der geschlossene Marxismus E. Bernstein, Lafargue, Materialistischen Ge- proletarische Welt- [1878f.] F. Mehring, A. Bebel, schichtsaufassung sind anschauung und Lehre G. Plechanow u.a. Zentrum des kongenialen der Evolution von Natur (= 1. Generation) Marx-Engelsschen und Geschichte W.I. Lenin, L. Trotzki, Werks’ (‚Werden und R. Luxemburg, Vergehen’) N. Bucharin, M. Adler, Engels: Anti-Dühring, R. Hilferding, , Ludwig Feuerbach, (= 2. Generation) Rezension zur KrpÖ 1859 u.a. Marx : Kapital Bd. 1 - Kapitel 24.7, Vorwort zu KrpÖ 1859, Manifest (M/E)

westlicher Marxismus G. Lukács, K. Korsch, Anspruch: kritisch-revolutionäre [1923f.] E. Bloch, H. Lefebvre, ‚humanistisches Teorie gesellschaft- Frankfurter Schule, Frühwerk als Deutungs- licher Praxis A. Gramsci, K. Kosik, rahmen für szientistisches (‚subjektive Vermittelt- jugoslawische Praxis- Spätwerk’ heit des Objekts’) Gruppe (G.Petrovic, P. Vranicki u.a.), Marx: Tesen über Budapester Schule Feuerbach, Ökonom.- (A. Heller, G. Markus phil. Manuskripte 1844, u.a.), L. Kofer, Deutsche Ideologie (M/E) J.P. Sartre u.a.

neue Marx-Lektüre [Vorreiter: I.I. Rubin, Anspruch: ‚den ganzen Marx Dechifrierung und [1965f.] E. Paschukanis] wahrnehmen’ oder Kritik der Formen H.G. Backhaus, ‚Deutung des Frühwerks kapitalistischer H. Reichelt, D. Wolf, vom Spätwerk her’ Vergesellschaftung H.D. Kittsteiner, Mittels logisch- M. Heinrich, SOST, Marx: Grundrisse, Systematischer Projekt Klassenanalyse/ Kapital Bd. 1 Erst- Darstellungsweise PEM, S. Breuer, aufage, Urtext, Resultate des (‚Formentwicklung und - Vertreter der unmittelbaren Pro- kritik’) Staatsableitung duktionsprozesses u.a. (B. Blanke, D. Läpple, MG, J. Hirsch, W. Müller/ Ch. Neusüß, N. Kostede u.a.),

108 Literatur: Haug, Wolfgang Fritz (1987):„Westlicher Marxismus?“. In: ders., Marx- und Engels-Texte sind nach den Marx-Engels-Werken Pluraler Marxismus, Bd. 2, Berlin, S. 234-259. (MEW) oder der MEGA zitiert. Ders. (1995): Einleitung. In: Gramsci, Antonio, Gefängnishefte 6. Philosophie der Praxis., Hamburg, S. 1195-1221. Althusser, Louis/ Balibar, Etienne (1972) [1968]: Das Kapital le- Ders. (1996): Philosophieren mit Brecht und Gramsci, Ber- sen, 2 Bde., Hamburg lin-Hamburg Anderson, Perry (1978): Über den westlichen Marxismus, Ff/M. Ders. (1999): Form. In: ders. (Hg.): Historisch-kritisches Wörter- Arndt, Andreas (1985): Karl Marx. Versuch über den Zusammen- buch des Marxismus, Bd. 4, Hamburg, Sp. 588-615 hang seiner Teorie, Bochum Hecker, Rolf (1997): Einfache Warenproduktion. In: www.rote- Backhaus, Hans-Georg (1997): Dialektik der Wertform. 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Mai 2013 in Bremen eine Ein- Auf., Tübingen führung in verschiedene Lesarten der Marxschen Kritik der po- Postone, Moishe (2003) [amerik. 1993] : Zeit, Arbeit und gesell- litischen Ökonomie gegeben.Siehe: https://associazione.wordpress. schaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen com/2013/04/02/ingo-elbe-bremen-lesarten-der-marxschen-theo- Teorie von Marx, Freiburg rie-eine-einfuhrung/ Rakowitz, Nadja (2000): Einfache Warenproduktion. Ideal und Wir danken dem Autor und der Initiative Rote Ruhr Uni für die Ideologie, Freiburg Erlaubnis zum Nachdruck. 110 Barbara Umrath

Jenseits von Vereinnahmung und eindimensionalem Feminismus. Perspektiven feministischer Gesellschaftskritik heute

„Der Kampf gegen den Terrorismus ist auch ein Kampf für die Fellow an der Freien Universität Berlin.5 In einem Anfang 2009 Rechte und die Würde von Frauen“, betonte Laura Bush, damali- erschienenen Aufsatz mit dem Titel „Feminismus, Kapitalismus ge First Lady im Weißen Haus, in einer Radioansprache im No- und die List der Geschichte“6 fragt Fraser nach der historischen vember 2001.1 In Frankreich trat im Frühjahr 2011 ein Gesetz in Bedeutung der Neuen Frauenbewegung, gelangt zur Diagnose Kraft, das Vollverschleierung in der Öfentlichkeit verbietet, wo- einer ‚heimlichen Wahlverwandtschaft’ zwischen feministischer bei im Gesetzesantrag ausdrücklich von der „Freiheit von Frau- Kritik und Neoliberalismus und fordert Feministinnen zu einer en, keinen Ganzkörperschleier zu tragen“ die Rede ist.2 Hierzu- Rückbesinnung auf Ökonomiekritik auf. In diesem Sinne hat lande freut sich Kristina Schröder in einer Pressemitteilung des Fraser, die als Vertreterin einer neueren, stärker an Jürgen Ha- Familienministeriums „ganz besonders“ über „die steigende Zahl bermas und Axel Honneth orientierten Generation Kritischer der Väter, die mithilfe des Elterngeldes eine Zeitlang im Beruf Teorie gilt, jüngst in diversen Vorträgen versucht, die gegen- kürzer treten und sich aktiv um ihre Kinder kümmern“.3 Und wärtige Krise als Chance für eine gesellschaftskritische (Neu-) die ehemalige Familien- und heutige Arbeitsministerin Ursula Ausrichtung des Feminismus zu verstehen. von der Leyen, unter deren Ägide das damalige Erziehungsgeld Im selben Jahr erschienen wie Frasers Essay wurde auch Nina durch das Elterngeld ersetzt wurde, macht sich auch in jüngsten Powers Buch One-Dimensional Woman international rezipiert. Interviews für die Einführung einer festen Frauenquote von 30% Wie der Titel andeutet, greift Power darin auf einen Vertreter der in Spitzenpositionen deutscher Unternehmen stark.4 älteren Kritischen Teorie zurück: Mit Hilfe von Herbert Mar- Wie diese Entwicklungen, die hier nur exemplarisch angedeutet cuses Begrif der Eindimensionalität kritisiert Power das gegen- werden können, aus einer feministischen Perspektive zu verste- wärtig dominierende Verständnis von Feminismus als eines bar hen sind, ist seit geraumer Zeit Gegenstand von Auseinanderset- gesellschaftskritischer Impulse. Weitgehend unbeachtet blieb zungen – in Zeitschriften und Blogs genauso wie in politischen hingegen Andrea Trumanns Feministische Teorie. Frauenbewe- Gruppen und Uniseminaren. Neben eher auf einzelne ‚Anlässe‘ gung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus, das be- bzw. Phänomene bezogene Diskussionen – z.B. rund um das In- reits 2002 erschien. In ihrem Buch untersucht Trumann – eben- krafttreten des Verschleierungsverbotes in Frankreich – fnden falls gestützt auf Überlegungen der älteren Kritischen Teorie sich gerade in den letzten Jahren auch Beiträge, die allgemeiner – inwiefern die Neue Frauenbewegung zu einer Modernisierung danach fragen, was die skizzierten Entwicklungen in ihrer Ge- spätkapitalistischer Verhältnisse beigetragen hat. samtheit für feministische Gesellschaftskritik bedeuten. Wenn Alle drei Autorinnen argumentieren, dass der Feminismus nur Forderungen wie die nach einer Frauenquote, mit denen man dann seinen gesellschaftskritischen Impetus zurückgewinnen sich noch vor zwanzig Jahren als Radikalfeministin geoutet hät- kann, wenn er sich wieder stärker polit-ökonomischen Entwick- te, heute von einer konservativen Ministerin vertreten werden lungen zuwendet. Aufschlussreich ist eine Beschäftigung mit – hat der Feminismus dann sein Ziel erreicht? Oder ist die zu diesen Arbeiten insbesondere, da Fraser, Power und Trumann beobachtende Integration feministischer Forderungen in den unter ‚Ökonomiekritik’ durchaus verschiedenes verstehen und politischen Mainstream eher als eine Art ‚feindlicher Übernah- zu durchaus unterschiedlichen Einschätzungen der Neuen Frau- me‘ und Entradikalisierung zu verstehen? Wenn wir es mit ei- enbewegung gelangen. Im Folgenden sollen daher zunächst die ner ‚Umdeutung’ feministischer Positionen zu tun haben – wie Überlegungen Frasers, in einem zweiten Teil die an der älteren konnte es zu dieser kommen? Und (wie) kann eine solche ‚Um- Kritischen Teorie orientierten Arbeiten Powers und Trumanns deutung‘ künftig verhindert werden? dargestellt werden Abschließend wird diskutiert, welche An- Ein viel beachteter Beitrag zu dieser Debatte stammt von Nancy satzpunkte aber auch Schwierigkeiten für feministische Gesell- Fraser, Professorin für Philosophie und Politikwissenschaft an schaftskritik heute sich mit Hilfe dieser verschiedenen Perspekti- der New School for Social Research und derzeit Einstein Visiting ven identifzieren lassen.

5 Frasers Essay wurde in mehrere Sprachen übersetzt. In der deutsch- 1 Die Ansprache fndet sich unter http://www.presidency.ucsb.edu/ws/ sprachigen Diskussion grifen u.a. Frigga Haug (2009), Tove Soiland index.php?pid=24992#axzz1mduGci22 (Zugrif am 17.02.2012) (2010) und eine Reihe von Artikeln in der Zeitschrift analyse & kritik 2 Der Gesetzesantrag fndet sich unter http://www.assemblee-nation- (2011) ihre Tesen auf. ale.fr/13/propositions/pion2544.asp (Zugrif am 17.02.2012) 6 Der Aufsatz erschien zunächst in New Left Review (56), 2009, S. 97- 3 Vgl. die Pressemitteilung des Bundesministeriums vom 04.03.2010 117. Eine geringfügig überarbeitete und gekürzte deutsche Übersetzung unter http://www.bmfsf.de/BMFSFJ/Presse/pressemitteilungen,- fndet sich in Blätter für deutsche und internationale Politik (8), 2009. did=134080.html (Zugrif am 17.02.2012) Da die Übersetzung meines Erachtens einige Passagen anders akzen- 4 Vgl. das Interview mit von der Leyen in den Potsdamer Neuesten tuiert als das Original, wird im Folgenden auf den englischsprachigen Nachrichten vom 07.02.2012 http://www.pnn.de/politik/620793/ (Zu- Text zurückgegrifen. Die erste Seitenangabe bezieht sich stets auf den grif am 17.02.2012) Originaltext, die dahinterstehende auf die deutsche Übersetzung.

111 1. ‚Heimliche Wahlverwandtschaften‘ - Die Umdeutung fe- 107f. u. 113/49f. u. 54). Zielte beispielsweise die feministische ministischer Kritik im Neoliberalismus Kritik an einem auf Verteilungsfragen beschränkten Verständnis In ihren jüngsten Arbeiten setzt sich Nancy Fraser mit dem Ver- von (Un-)Gerechtigkeit im Kontext des ‚staatlich organisierten lauf der Neuen Frauenbewegung, deren Verhältnis zum Neoli- Kapitalismus‘ eindeutig auf eine Erweiterung des Gerechtig- beralismus sowie feministischen Perspektiven in einer mögli- keitsbegrifs, bekam diese Kritik eine merkwürdige Resonanz in chen post-neoliberalen Konstellation auseinander. Um zu einer Zeiten, in denen das Verdrängen jeglicher Erinnerung an soziale Einschätzung des Gesamtverlaufs der Neuen Frauenbewegung Gleichheit (noch weitgehend unbemerkt) zum Gebot der Stunde zu gelangen, diskutiert sie deren Entwicklung mit Blick auf geworden war (Fraser 2009: 108f./50f.). Ähnlich erging es Fraser drei verschiedene Phasen kapitalistischer Gesellschaft. Die erste zu Folge der feministischen Kritik am androzentrischen und bü- Phase, die Fraser als entscheidend für die Entwicklung feminis- rokratischen Charakter staatlicher Wohlfahrts-, Beschäftigungs- tischer Kritik ansieht, bezeichnet sie als ‚staatlich organisierten und Entwicklungspolitik. Diese wurde umgedeutet in eine Kapitalismus‘. Dieser folgt in Frasers Periodisierung eine zweite Ablehnung staatlicher Regulierung per se und einem Plädoyer Phase der neoliberalen Transformation des Kapitalismus. In der für die Ausdehnung von Marktmechanismen, in denen feminis- derzeitigen Krise und den bisweilen dezidiert keynesianischen tische Ideale wie Bottom-Up, Partizipation und Empowerment Krisenbewältigungsmaßnahmen diverser Staaten sieht Fraser realisiert scheinen (Fraser 2009: 111f./52f.). Anzeichen für den Beginn einer dritten, post-neoliberalen Phase Feministische Kritik hat laut Fraser jedoch nicht nur eine Um- (Fraser 2009: 97/43). deutung ‚von außen‘ erfahren. Anknüpfend an ihre Arbeiten aus In der ersten Phase war der emanzipatorische Charakter der den 1990ern zum Verhältnis von Umverteilung und Anerken- Neuen Frauenbewegung aus Frasers Sicht eindeutig. Die Neue nung kritisiert Fraser, dass sich im gleichen Zeitraum auch inner- Frauenbewegung habe in ihren Anfängen eine strukturelle Ge- halb der feministischen Diskussionen selbst eine Verschiebung sellschaftskritik bzw. eine systemische Kritik kapitalistischer weg von einem umfassenden Verständnis von (Un-)Gerechtigkeit Gesellschaft entwickelt (Fraser 2009: 97 u. 107/44), was Fraser und gesellschaftlichem Veränderungsbedarf hin zu einem kul- daran festmacht, dass feministische Kritik sowohl materieller turalistisch verengten beobachten lasse. Just zu dem Zeitpunkt Ungleichheit zwischen den Geschlechtern als auch den politi- also, zu dem die Tematisierung von Verteilungs(un-)gerech- schen und kulturellen Dimensionen von Frauenunterdrückung tigkeit nötiger denn je gewesen wäre, begannen große Teile der galt (Fraser 2009: 103f./46f.). Damit hätten Feministinnen so- Frauenbewegung, ihr Hauptaugenmerk auf Fragen der Identität, wohl die Grenzen des Marxismus mit seiner Beschränkung auf Diferenz und Anerkennung zu legen (Fraser 2009: 108f./50f.). die Ökonomie, wie auch die des Liberalismus mit seiner Fixie- Diese ‚Entkoppelung’ von Sozial- und Kulturkritik begünstigte rung auf das Recht überwunden. Anstatt zu versuchen, Ökono- Fraser zu Folge das selektive Aufgreifen feministischer Positionen mie, Politik und Kultur auseinander ‚abzuleiten‘ oder das eine (Fraser 2009:99/44). als durch das andere determiniert zu verstehen, hätten Feminis- Mit der gegenwärtigen Krise, in der sich einzelne Staaten auf tinnen einen umfassenden und integrierenden Begrif von (Un-) dezidiert keynesianische Maßnahmen zurückbesinnen, scheint Gerechtigkeit entwickelt. Über anderweitige Diferenzen hin- sich Fraser eine weitere Phase umfassender gesellschaftlicher weg hätten die verschiedenen feministischen Strömungen darin Transformation anzukündigen. In ihren Beiträgen weist Fraser überein gestimmt, dass die vielfältigen Erscheinungsformen von darauf hin, dass die konkrete Gestalt dieser potentiellen post- Frauenunterdrückung „systemisch und in den Tiefenstrukturen neoliberalen Gesellschaft Gegenstand heftigster Auseinanderset- der Gesellschaft begründet“ seien, weshalb „eine radikale Trans- zungen sein wird – wobei der Feminismus auf zweierlei Weise formation der gesellschaftlichen Tiefenstrukturen insgesamt er- eine Rolle spielen wird. So fungiere Feminismus heute zum Ei- forderlich sei, um die Unterordnung der Frauen zu überwinden“ nen als allgemeiner Diskurs der Geschlechtergerechtigkeit, der (Fraser 2009: 103f./46f.). Die zentrale Leistung dieser frühen fe- ‚das Gute‘ repräsentiert und relativ beliebig für die Legitimie- ministischen Kritik sieht Fraser demnach darin, das Verständnis rung unterschiedlichster Praxen herangezogen werden kann. In von (Un-)Gerechtigkeit erweitert und zugleich eine weitreichen- Abgrenzung dazu geht es Fraser um eine Re-Aktivierung von de Analyse und Kritik der untergeordneten Stellung von Frauen Feminismus als einer sozialen Bewegung, die für die Realisie- im ‚staatlich organisierten Kapitalismus‘ entwickelt zu haben rung von (Geschlechter-)Gerechtigkeit in der post-neoliberalen (Fraser 2009: 105/47). Konstellation eintritt. Im Rückblick lasse sich jedoch erkennen, dass die Geburtsstun- Im kritischen Rückblick auf vierzig Jahre Neue Frauenbewegung de der Neuen Frauenbewegung bereits in eine Zeit fällt, in der gewinnt Fraser Ansatzpunkte dafür, wie sich verhindern lasse, dieser ‚staatlich organisierte Kapitalismus‘ allmählich einer neu- dass feministisches Handeln in letzterem Sinne erneut und un- en, neoliberalen Form des Kapitalismus Platz macht. Wie Fraser gewollt einer bloßen Modernisierung ungerechter Verhältnisse betont veränderte sich damit das gesellschaftliche Terrain, inner- entgegenkommt. Insofern die ‚Umdeutung‘ feministischer Kri- halb dessen die feministische Bewegung agierte, in grundlegender tik Fraser zu Folge entscheidend damit zusammenhängt, dass Weise. Zunächst schienen diese Veränderungen der Frauenbewe- Feministinnen in der Vergangenheit nicht hinreichend den ge- gung gut zu bekommen: Aus der kleinen, radikalen Bewegung sellschaftlichen Kontext ihres Handelns refektierten, sieht sie von Ende der 1960er Jahre wurde eine breite Massenbewegung. einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung eines stärke- Feministische Ideen fanden zunehmende Verbreitung und Ak- ren Bewusstseins für die konkrete historische Situation (Fraser zeptanz. In dem Maße, wie die neoliberale Transformation der 2009: 113f./54f.). Mit einem derart geschärften Blick lasse sich Gesellschaft voranschritt, wurden jedoch Wünsche, Ideale und denn auch die Existenz einer ‚heimlichen Wahlverwandtschaft‘ Forderungen, die zu Zeiten des ‚staatlich organisierten Kapita- zwischen Feminismus und Neoliberalismus erkennen, die in lismus‘ eine eindeutig emanzipatorische Stoßrichtung besessen der beiden gemeinsamen Kritik an traditioneller Autorität zu se- hatten ambivalent bzw. erfuhren eine Umdeutung, die nicht sel- hen sei. Als Kritik an personalisierter Abhängigkeit gehöre diese ten den ursprünglichen Intentionen zuwider lief (Fraser 2009: zu den zentralen Temen des Feminismus und besitze nach wie

112 vor ihre Berechtigung und Notwendigkeit. Was Feministinnen u.a. einen kontinuierlichen Abbau sozialer Sicherungssysteme in jedoch nicht hinreichend refektiert hätten sei, dass traditionelle Gang gesetzt. Dass diese wohlfahrtsstaatlichen Regelungen aus Autorität in bestimmten Phasen auch anderweitig unter Beschuss feministischer Perspektive durchaus kritikwürdig waren, da sie gerate. Dann nämlich, wenn traditionelle Autorität als Bestandteil dazu tendierten, Männer materiell besser zu stellen und Frau- der historischen Einbettung von Märkten zum Hindernis kapi- en zu abhängigen Konsumentinnen einer Wohlfahrtsbürokratie talistischer Expansion wird und einer Ausdehnung ökonomischer zu degradieren, hat Fraser in ihren älteren Arbeiten ausführlich Rationalität über die wirtschaftliche Sphäre hinaus im Wege steht dargestellt.8 Das Ziel feministischer Politik heute könne daher (Fraser 2009: 114f./55). Existieren also in puncto Kritik an tradi- kein simples Zurück-zum-Wohlfahrtsstaat-alter-Prägung sein. tioneller Autorität gewisse Schnittmengen zwischen Feminismus Gleichzeitig weisen Frasers Feminismus und ihre Ökonomiekri- und Neoliberalismus, fnden diese Gemeinsamkeiten jedoch ein tik deshalb noch lange nicht über die bürgerliche Gesellschaft schnelles Ende, wendet man sich post-traditionellen Formen ge- hinaus. Vielmehr liegt das Problem aus der Sicht von Fraser vor schlechtlicher Über- und Unterordnung zu. Anders als Feminis- allem in der ‚Ent-Bettung‘ von Märkten, die sie als Freisetzung tinnen habe der Neoliberalismus nämlich nicht nur kein Problem von lebensweltlichen Normen interpretiert. Erst wenn die öko- mit einer Unterordnung von Frauen, die aus strukturellen oder nomische Rationalität von ihrer Begrenzung auf die Wirtschaft systemischen Prozessen erwächst, in denen die Handlungen zahl- im engeren Sinne (wo sie durchaus ihre Berechtigung zu haben reicher Menschen abstrakt oder unpersönlich vermittelt sind. Sol- scheint) auf andere gesellschaftliche Sphären ‚übergreift‘ erhebt che marktvermittelten Prozesse der Unterordnung seien vielmehr Fraser Einwände. Frasers Version einer Kapitalismuskritik zeigt gerade das, worauf der Neoliberalismus basiere. Folglich ergibt sich sich damit in weiten Zügen als feministische Fortführung der für Fraser hier der Ansatzpunkte, mit Hilfe dessen Feministinnen Habermasschen Kritik an der ‚Kolonialisierung der Lebenswelt‘ sich von ihrem ‚unheimlichen Double‘ abgrenzen können: Nötig im Spätkapitalismus und teilt mit dieser einen versöhnlichen sei in der gegenwärtigen Situation, dass Feministinnen die Kritik Blick auf die bürgerliche Gesellschaft.9 Die Utopie des Fraser- an solchen marktvermittelten Formen der Unterordnung ins Zen- schen Feminismus ist eine Marktwirtschaft, die eingebettet ist trum stellen. Die Kämpfe gegen personalisierte Abhängigkeiten in die politische Kultur eines geschlechtergerechten, demokrati- müssten wieder mit einer Kritik des Kapitalismus verbunden wer- schen Sozialstaates, der dem Wohle aller dient. Inwiefern der un- den, der sich zwar mitunter emanzipatorisch gebare, tatsächlich gebrochene Imperativ der Kapitalakkumulation eine solche Uto- aber lediglich personalisierte durch abstrakte bzw. marktvermit- pie immer wieder desavouieren muss, refektiert Fraser nicht. Da telte Abhängigkeitsverhältnisse ersetze (Fraser 2009: 114f./55f.). Fraser Ökonomie primär als Frage von Verteilungs(un)gerechtig- Dadurch, so Fraser, ließe sich auch die von ihr kritisierte kultu- keit aufasst, kann sie ‚Kapitalismuskritik’ betreiben, ohne eine ralistische Verengung des Feminismus überwunden und an den prinzipielle Kritik an Warenform, Markt und bürgerlichem Staat frühen, umfassenden Begrif von (Un-)Gerechtigkeit anknüpfen. zu formulieren. Wie in ihren älteren Arbeiten zum Verhältnis von Umverteilung Festgehalten werden kann, dass Fraser als zentrales Problem fe- und Anerkennung plädiert Nancy Fraser damit auch in ihren ministischer Kritik die unzureichende Refexion auf den gesell- jüngsten Vorträgen für einen Feminismus, der zugleich Ökono- schaftlichen Kontext ausmacht. Dadurch konnte die feministi- miekritik ist. Um die gegenwärtige Krise und eine mögliche post- sche Kritik an personalisierten Abhängigkeitsverhältnissen zur neoliberale Gesellschaft zu fassen, greift Fraser auf Karl Polanyis Legitimierung des neoliberalen Angrifs auf die Individuen ‚be- Studie Te Great Transformation. Politische und ökonomische Ur- vormundende‘ soziale Sicherungssysteme herangezogen werden. sprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen zurück.7 Pola- Ihre eigene Aufgabe als kritische Teoretikerin sieht Fraser darin, nyi habe darauf aufmerksam gemacht, dass der klassische liberale auf derartige Schwächen feministischer Kritik aufmerksam zu Kapitalismus des 19. Jahrhunderts einen entscheidenden Bruch machen und so zu einer Neuausrichtung der Bewegung beizu- im Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft markierte: Wä- tragen. Mit ihren Arbeiten geht es Fraser also um Aufklärung ren Märkte bis dahin stets historisch eingebettet gewesen und und kritisch-solidarische Intervention in soziale Bewegungen damit gewissen ethischen und sozialen Normen unterlegen, habe wie die Frauenbewegung. Um wieder zu einer gesellschaftskri- der Liberalismus eine Freisetzung der Märkte vorangetrieben – tischen Kraft zu werden, müssen Feministinnen Fraser zu Folge mit fatalen Konsequenzen für Menschen, Natur und das Geld- also nur anfangen, die Verschiebung weg von personalisierten system. Gegen eine derartige ‚Entbettung‘ von Märkten und die hin zu versachlichten Abhängigkeitsverhältnissen angemessen zu damit verbundenen Folgen, so Fraser’s Lesart von Polanyi, habe refektieren und ins Zentrum ihrer Kritik zu stellen. dieser für die politische Regulierung von Märkten plädiert. Der Neoliberalismus erscheint bei Fraser als Wiederkehr des 2. Feministische Anschlüsse an die frühe Kritische Teorie von Polanyi beschriebenen klassisch liberalen Credos von den Die Frage, was einer Refexion von Abhängigkeitsverhältnis- Selbstregulierungskräften des Marktes. Dieser habe die nach sen – ob personalisierter oder versachlichter Art – auf Seiten 1945 in den Abkommen von Bretton Woods festgeschriebene der Subjekte im Wege stehen könnte, d.h. die Frage, wie sich politische ‚Zähmung‘ von Märkten aufgekündigt und damit gesellschaftliche Verhältnisse ins Subjekt vermitteln und eine

7 Im Folgenden beziehe ich mich auf ein unveröfentlichtes Manuskript 8 Vgl. hierzu u.a. (Fraser 1994) mit dem Titel „Can Society Be Commodities All the Way Down?“ zu 9 Auch hier knüpft Fraser an ihre früheren Arbeiten an. So wirft Fraser einem Workshop in New York im Dezember 2011 sowie auf Frasers in ihrem Aufsatz „Was ist kritisch an der Kritischen Teorie? Habermas dreiteilige Vorlesung „A Polanyian Feminism? Re-Reading Te Great und die Geschlechterfrage“ diesem zwar vor, dass er nicht hinreichend Transformation in the 21st Century“, gehalten als Humanitas Visiting berücksichtige, inwiefern Macht in Gestalt eines hierarchischen Ge- Professor of Women‘s Rights im März 2011. Letztere ist als Video-Mit- schlechterverhältnisses auch der Lebenswelt innewohne. Prinzipielle schnitt abrufbar unter http://www.crassh.cam.ac.uk/events/1534/ (Zu- Einwände gegen eine (analytische) Trennung von System und Leb- grif am 16.11.2011). enswelt hat Fraser jedoch nicht.

113 Kritik solcher Verhältnisse dadurch erschweren, wenn nicht gar net nicht allein das individuelle Verhältnis zu sich selbst, sondern verhindern, taucht bei Nancy Fraser an keiner Stelle auf. Für überhaupt das Verhältnis zur Welt“ (Maihofer 1995: 115). Das die Entstehung oder eben auch das Ausbleiben gesellschaftskri- heißt unterworfen wird nicht nur ein Teil der eigenen Person und tischer Bewegungen spielt diese jedoch eine entscheidende Rolle. der ‚inneren Natur‘ sondern zugleich äußere Personen und die Insofern die frühe Kritische Teorie ihren Blick auf Veränderun- ‚äußere Natur‘. Die Konstitution des Subjekts in der Selbst-Be- gen des Subjekts und dessen Charakterstrukturen gerichtet hat, herrschung ist somit gleichermaßen Ausdruck von Souveränität kann sie entscheidend zur Erhellung dessen beitragen, was bei wie von Unterwerfung unter das Gesetz und vollzieht sich glei- Fraser eine Leerstelle bleibt. chermaßen in der Unterwerfung anderer wie in der Errichtung Die Arbeiten von Andrea Trumann und Nina Power schlie- eines Verhältnisses der Herrschaft über sich selbst in sich selbst. ßen aus einer feministischen Perspektive an die frühe Kritische Dieses für das moderne Subjekt charakteristische Verhältnis zu Teorie an. Dabei bezieht sich Trumann zum einen auf Andrea sich selbst und zur Welt, so Maihofer, wird von Adorno und Maihofer, die in ihrer Auseinandersetzung mit der Dialektik der Horkheimer als das des herrschenden (bürgerlichen) Mannes Aufklärung die ‚männliche‘ Struktur des modernen Subjekts verstanden. Für Frauen mögen zwar ähnliche Tugenden gelten, herausgearbeitet hat. Zum anderen greift Trumann die Beob- auf Grund ihrer Abhängigkeit und niedrigeren gesellschaft- achtungen Herbert Marcuses und Frank Böckelmanns zum ‚Ver- lichen Stellung ist ihre Selbst-Beherrschung jedoch immer zu- alten‘ des autoritären Charakters auf. Im Folgenden werden da- gleich auch von außen erzwungen.11 Die Dialektik der Aufklä- her zunächst knapp die Überlegungen Maihofers einerseits, die rung schließt damit aber nicht grundsätzlich aus, dass Frauen Marcuses und Böckelmanns andererseits vorgestellt, bevor dann (wie auch nicht-bürgerliche Männer) Subjekte werden, d.h. das gezeigt wird, wie Andrea Trumann und Nina Power diese für für Subjekte charakteristische Selbst- und Weltverhältnis ent- eine Einschätzung der Bedeutung der Neuen Frauenbewegung wickeln. So wird im Exkurs zu de Sade an einer Stelle die zuneh- bzw. eine Diagnose des gegenwärtig zirkulierenden Verständnis- mende Erwerbstätigkeit von Frauen beschrieben und in diesem ses von ‚Feminismus‘ fruchtbar machen. Zuge allen Menschen – nicht länger nur dem bürgerlichen Herrn Odysseus – die Entwicklung eines rationalen, kalkulierenden 2.1 Die ‚männliche‘ Struktur des modernen Subjekts Verhältnisses zum eigenen Körper und seinen Lüsten attestiert Wie Andrea Maihofer in ihrem Buch Geschlecht als Existenzweise. (Adorno & Horkheimer 2006: 115). Ehemals ein Vorrecht herr- Macht, Moral, Recht und Geschlechterdiferenz herausgearbeitet schender Männer erscheint das Subjekt als spezifsches Selbst- hat, beschreiben Horkheimer und Adorno in der Dialektik der und Weltverhältnis hier bereits tendenziell ‚demokratisiert‘ – als Aufklärung das moderne Subjekt als bürgerlich und strukturell klassen- und geschlechterübergreifend realisiert – wobei seine ‚männlich‘ (Maihofer 1995: 109).10 Gemeint ist damit weitaus Struktur jedoch dieselbe geblieben ist und insofern als ‚bürger- mehr, als dass Frauen lange Zeit – ungeachtet des bürgerlichen lich-männlich‘ bezeichnet werden kann. Bekenntnisses zu Gleichheit und Freiheit – der Status voller Bür- gerinnen vorenthalten wurde. Vielmehr erweist sich Subjekt-Sein 2.2 Veränderungen der Charakterstruktur des modernen als eine spezifsche Form des Selbst-Verhältnisses, wobei diese Subjekts: Vom autoritären Charakter zur ‚schlechten Aufhe- spezifsche Form des Selbst-Verhältnisses zugleich ein zentrales bung der autoritären Persönlichkeit‘ Element in der Konstitution von (herrschender) ‚Männlichkeit‘ Das moderne, ‚männliche‘ Subjekt konstituiert sich wie dar- darstellt (Maihofer 1995: 133f.). gestellt über Selbst-Beherrschung und Triebverzicht. Welche Am Beispiel des Odysseus zeigen Adorno und Horkheimer, dass konkreten Formen diese annehmen, ist jedoch abhängig von ein Subjekt zu sein bedeutet, „Herr seiner selbst zu sein, ein Ver- gesellschaftlichen Entwicklungen. So lassen sich die verschiede- hältnis der Herrschaft in sich selbst über sich selbst zu errichten“ nen Studien zum autoritären Sozialcharakter, die in den 1930er (Maihofer 1995: 113). Dies erfordert zweierlei: Zum Einen die und 1940er Jahren von MitarbeiterInnen des Instituts für So- Unterdrückung von Trieben, der ‚inneren Natur‘, was insbe- zialforschung realisiert wurden, als eine historische Präzisierung sondere bedeutet, Herr der eigenen (sexuellen) Lüste zu werden. der Strukturen des ‚männlichen‘ Subjekts für die erste Hälfte des Zum Anderen die Verdrängung von Gefühlen und emotionalen 20.Jahrhunderts lesen. Eine zentrale Rolle bei der Ausbildung der Bindungen. autoritären Charakterstruktur spielt die vom Vater dominierte Familie: Mit der Anerkennung der als Naturtatsache erscheinen- „Das zum Subjekt werdende Individuum spaltet also einen Teil den physischen wie ökonomischen Übermacht des Vaters und seiner selbst (Triebe, Gefühle) von sich ab und macht diesen der Unterordnung unter dessen Gebote – die entsprechend der zum Gegenstand der Kontrolle sowie zum Objekt seiner Beherr- rigiden bürgerlichen Sexualmoral vor allem eine Verdrängung schung“ (Maihofer 1995: 113). von Triebregungen zum Inhalt haben – lernt das Kind zugleich, gesellschaftliche Verhältnisse als gegeben und unveränderbar Unterworfen wird dabei zweierlei: Ein Teil des Selbst, aber anzuerkennen und sich diesen einzufügen (Horkheimer 1987: auch das, was gerade nicht als Teil des Selbst, was als Äußeres erscheint. Anders formuliert, die „für das moderne Subjekt kons- titutive Dialektik von Herrschaft und Unterwerfung kennzeich- 11 Hinweise hierauf fnden sich in der Odyssee in der Figur der Pe- nelope und dem Schicksal der Mägde. Wie Adorno und Horkheimer bemerken, repräsentiert Penelope das Eigentum des Odysseus in des- 10 Um zu zeigen, dass das moderne Subjekt strukturell ‚männlich‘ sen Abwesenheit und wird deswegen von Freiern bedrängt (Adorno & ist, greift Maihofer jedoch nicht nur auf Gedanken der Dialektik der Horkheimer 2006: 81f.). Dass die Treue, die sie ihrem Gatten hält nur Aufklärung zurück, sondern auch auf den späten Michel Foucault und bedingt auf Selbst-Beherrschung zurückgeführt werden kann, zeigt das ein breites Spektrum von Arbeiten aus der Frauen- und Geschlechter- Schicksal der Mägde, die sich mit den Freiern eingelassen haben. Diese forschung, mit deren Hilfe sie das rekonstruiert, was sie den ‚bürgerlich bezahlen nach Odysseus Rückkehr – ebenso wie die Freier selbst – mit hegemonialen Geschlechterdiskurs‘ nennt. dem Tod (Adorno & Horkheimer 2006: 86f.).

114 51f.). Die Verdrängung verpönter Triebregungen führt zur Aus- eines Mannes (Power 2009: 1). Nicht Lust- und Konsumfeind- bildung einer sado-masochistischen Charakterstruktur, die Lust lichkeit, wie sie noch das Bild der lila-Latzhosen-tragenden, kei- gewinnt aus der eigenen Unterwerfung wie der Unterwerfung nen-Spaß-verstehenden Männerhasserin prägten, sondern der anderer (Fromm 1987: 94f. u. 110f.). Wo Versagung und Leiden selbstbewusste Grif nach dem, was frau will (Schokolade, Hand- als lustvoll erlebt werden, liegt es nahe, dass die Subjekte gegen taschen, Männer) gelte heute als feministisch (Power 2009: 29f.). Verhältnisse, die ihnen solche Versagungen und Leiden auferle- Dieses veränderte ‚Image‘ des Feminismus zeichnet Power u.a. gen nicht aufbegehren. an Hand von Film und Fernsehen, feministischen Positionen zu Inwiefern für die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts noch vom Pornografe, der Gestalt Sarah Palins und Neuerscheinungen auf autoritären Charakter als vorherrschenden Sozialcharakter aus- dem Büchermarkt nach. So porträtieren Serien wie Sex and the gegangen werden kann bzw. ob dieser nicht eher durch einen City ‚emanzipierte‘, unabhängige moderne Frauen, die zugleich neuen Charaktertypus abgelöst wurde, wurde von den Vertre- stets auf der alten, romantischen Suche nach Mr. Right sind (Po- tern der frühen Kritischen Teorie an verschiedenen Stellen wer 2009: 41f.). Und Bücher, die ihr deutschsprachiges Pendant immer wieder thematisiert – am nachdrücklichsten wohl von in Titeln wie Wir Alphamädchen: Warum Feminismus das Leben Herbert Marcuse in seiner Studie Der eindimensionale Mensch. schöner macht haben, propagieren Feminismus als Programm, Dort beschreibt Marcuse einen grundlegenden Wandel der Me- mit dessen Hilfe sich mehr aus dem eigenen Leben machen lässt. chanismen sozialer Kontrolle, die nicht länger über Verzicht Was Power mit dem Stichwort der ‚Eindimensionalität‘ kritisiert, und Versagung, sondern vielmehr über Konsum und sexuelle ist dieses Verständnis von Feminismus als ein sich-besser-fühlen- Liberalisierung funktionieren würden. Diese von Marcuse be- Programm, das kollektiver, gesellschaftsverändernder Perspek- chriebenen Tendenzen verdichtet Frank Böckelmann, damals tiven entbehrt (Power 2009: 27f.). Powers Schwerpunkt liegt Aktivist in der Subversiven Aktion, zur Tese von der ‚schlech- damit bei den gegenwärtig zirkulierenden Diskursen über Fe- ten Aufhebung der autoritären Persönlichkeit‘. Böckelmann minismus, denen sie einen Verlust an politisch-gesellschaftlicher kommt gerade weil er an der grundlegenden Einsicht der frühen Vorstellungskraft und Kritikfähigkeit bescheinigt. Kritischen Teorie von der gesellschaftlichen Vermittlung psy- Demgegenüber geht Andrea Trumann in ihrem Buch Feminis- chischer Strukturen festhält zu dem Schluss, dass die Annahme tische Teorie. Frauenbewegung und weibliche Subjektbildung im einer durch Sexualverdrängung, Verzicht und Unterwerfung in Spätkapitalismus zu den Anfängen der Neuen Frauenbewegung der Familie geprägten autoritären Charakterstruktur als veral- zurück und setzt sich kritisch mit deren Diskussionen und Pra- tet gelten muss. Kennzeichnend für die Gesellschaft der 1960er xen auseinander. Trumann zeigt, inwiefern eine Bewegung, de- Jahre sind laut Böckelmann objektive Überproduktion und das ren erklärtes Ziel die Emanzipation der Frau war, Anteil hatte an Ende von Konkurrenzverhältnissen in einem zunehmend ver- der Konstituierung eines post-autoritären ‚weiblichen‘ Subjekts, walteten Kapitalismus (Böckelmann 1987: 32f. u. 40f.). Damit das sich als bestens an die veränderten gesellschaftlichen Anfor- zusammenhängend würden die für die autoritäre Persönlichkeit derungen des Spätkapitalismus angepasst herausstellt. Anders als typischen starren Charakterzüge eine ‚Abschleifung‘ erfahren Fraser und Power erscheint Trumann also bereits der Feminis- (Böckelmann 1987: 39). Zwar zeichne sich auch der neue vor- mus der 1960er und 1970er Jahre problematisch: Die ‚List der herrschende Charakter durch Ich-Schwäche aus, diese sei aber Geschichte‘ besteht für sie darin, dass die Neue Frauenbewegung nicht mehr Ergebnis eines strengen, strafenden Über-Ichs als weniger zu einer Überwindung von Herrschaft beitrug, denn vielmehr Ausdruck von Identitätsdifusion (Böckelmann 1987: vielmehr zu deren Internalisierung. Im Kontext der Frauenbewe- 52f.).12 War ein zentrales Merkmal des klassisch autoritären gung eigneten sich Frauen ein ehemals Männern vorbehaltenes, Charakters die durch die patriarchale Familie vermittelte In- herrschaftsförmiges Selbst- und Weltverhältnis an – wobei dies ternalisierung von (sexuellem) Verzicht gewesen, bekomme der kaum kritisch refektiert, sondern vielmehr als Erfolg verstanden neue Charaktertypus „seine Bedürfnisse permanent erfüllt, je- wurde (Trumann 2002: 36). Insofern ließe sich sagen, dass die doch auf unbefriedigende Art und Weise. Er jage gehetzt dem von Power mit Blick auf den heutigen ‚Feminismus‘ konstatierte Neuen nach und verlange ständig nach neuen Befriedigungen, ‚Eindimensionalität‘ für Trumann bereits in den frühen feminis- die sich durch Konsum und ständig wechselnde oberfächliche tischen Analysen und Praxen angelegt ist. sexuelle Kontakte aber immer nur kurzfristig erfüllen ließen“ Als grundlegende Schwäche der Neuen Frauenbewegung macht (Trumann 2002: 36). Trumann ein unzureichendes Gesellschaftsverständnis aus, das weite Teile der Neuen Frauenbewegung prägte. So war für die 2.3 Weibliche Subjektbildung zwischen (afrmativer) Kritik Neue Frauenbewegung die Forderung nach Selbstbestimmung und Eindimensionalität zentral – in sexuellen und fortpfanzungsbezogenen Belangen Die ‚eindimensionale Frau‘, die Nina Power in ihrem gleichna- genauso wie in Fragen der Erwerbstätigkeit. Dabei wurde Selbst- migen Essay beschreibt, weist frappierende Übereinstimmun- bestimmung wie Trumann zeigt vor allem als individuelle Ent- gen mit den von Böckelmann beschriebenen Charakterzügen scheidungsfreiheit verstanden. Dass diese jedoch ihre Grenzen auf: Ihre Emanzipation fndet ihren Ausdruck im Besitz teu-rer an gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen fndet, welche Handtaschen, eines Vibrators, eines Jobs, eines Apartments und die Grundlage jeglicher individueller Entscheidungen bilden, wurde kaum refektiert (Trumann 2002: 12). Entsprechend wurden Macht und Herrschaft vor allem als Beschränkungen 12 Diesen neuen, post-autoritären Charakter bezeichnet Böckelmann verstanden, die Individuen von außen auferlegt werden und die- bisweilen als ‚narzisstisch‘ und nimmt damit Mitte der 1960er Jahre sen die Vorstellung von einem autonomen, selbstbestimmten Diagnosen vorweg, wie sie später die Autoritarismusforschung formu- lieren wird. So stimmen AutoritarismusforscherInnen heute überein, Subjekt entgegen gehalten (Trumann 2002: 47f.). Im Zentrum dass der ‚autoritäre Charakter‘ als vorherrschender Sozialcharakter feministischer Kritik stand somit nicht der von Andrea Maiho- tendenziell durch den ‚narzisstischen‘ bzw. ‚charakterlosen Charakter‘ fer beschriebene herrschaftsförmige Charakter dieses Subjekts, abgelöst worden ist. sondern die Einforderung des vollen Status als Subjekt für Frau-

115 en: „Das Verlangen nach einem spezifschen Verhältnis zu sich thoden wie die Pille wurden als patriarchale Zugrife auf Frauen- selbst, einstmals Vorrecht der Männer, wurde nun von den Frau- körper kritisiert, denen eine selbstbestimmte, nicht-entfremdete en als ihr ureigenstes Anliegen entdeckt“ (Trumann 2002: 85). Aneignung des eigenen Körpers entgegen gesetzt wurde – wozu Zentraler Bestandteil dieses spezifschen Selbst- und Weltver- ganz selbstverständlich Geburtenkontrolle zählt. Eine Refexion hältnisses ist, wie Maihofer mit Bezug auf die Dialektik der Auf- darauf, inwiefern das subjektiv mehr als nachvollziehbare Inter- klärung zeigte, die Herrschaft über die ‚innere Natur‘. Im mo- esse an Kontrolle über die eigene Gebärfähigkeit mit dem ge- dernen Geschlechterdiskurs, der sich in der zweiten Hälfte des sellschaftlichen Interesse an ungebundenen, frei verfügbaren Ar- 18.Jahrhunderts entwickelte, galt die Frau jedoch „aufgrund ih- beitskräften konvergiert, fand dagegen kaum statt. Ebenso wenig rer Geschlechtlichkeit als Naturwesen …, das sich primär durch wurde darauf refektiert, inwiefern gerade die als feministische seine Gebärfähigkeit auszeichnet“ (Maihofer 1995: 160). Wäh- Verhütungsmethode par excellence geltende Temperaturmetho- rend der Mann „nur akzidentell durch seine Geschlechtlichkeit de eine eben nicht fremd-, sondern ganz und gar ‚selbstbestimm- bestimmt“ (Maihofer 1995: 161) schien und seine ‚Natur‘ beherr- te‘, dafür aber nur um so wirksamere extreme Disziplinierung schen konnte, galt die Frau als ihrer ‚Natur‘ ausgeliefert. Anders des eigenen Körpers und des täglichen Rhythmus erforderte und ausgedrückt: Eine unbeherrschbar erscheinende ‚weibliche Na- einübte (Trumann 2002: 89f.). tur‘ schob sich immer wieder zwischen Frauen und ihr Begeh- Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich bei Po- ren, ‚männliches‘, selbst-beherrschtes Subjekt zu werden. Erst im wer eine trefende Beschreibung des gegenwärtigen, ‚eindimen- Laufe des 20.Jahrhunderts veränderten sich diese Bedingungen sionalen’ Verständnisses von Feminismus fndet. Trumann weist nachhaltig: Die zuvor als weitgehend unkontrollierbar geltende darauf hin, dass dieser ‚eindimensionale’ Feminismus keineswegs Gebärfähigkeit wurde durch zunehmendes Wissen um Metho- in bloßem Gegensatz zur Neuen Frauenbewegung zu verstehen den der Empfängnisverhütung beherrschbar. Damit veränderten ist. Vielmehr zeigt Trumann, wie bereits den frühen feministi- sich die Möglichkeiten von Frauen, ihre ‚innere Natur‘ zu beherr- schen Analysen und Praxen eine gewisse ‚Eindimensionalität’ in- schen ganz entscheidend – und zwar lange vor der Entstehung newohnte, insofern diese die Struktur des bürgerlichen Subjekts der Neuen Frauenbewegung.13 Gleichzeitig blieben Frauen je- nicht prinzipiell kritisierten, sondern sich an die feministische doch hinsichtlich des faktischen Gebrauch dieser Möglichkeiten Aneignung dieses ehemals Männern vorbehaltenen Selbst- und – die immer zugleich Möglichkeiten der Selbst-Disziplinierung Weltverhältnisses machten. sind – weiterhin abhängig: In Gestalt des § 218 behielt sich der Staat ein Mitspracherecht in Sachen Abtreibung vor, die Medizin 3. Zu möglichen Perspektiven feministischer Gesellschaft- – und damit die Entwicklung von sowie der Zugang zu Verhü- stheorie und Gesellschaftskritik heute tungsmethoden – wurde von Männern dominiert. Abschließend soll diskutiert werden, welchen Beitrag die hier Gegen diese Einmischung durch und Abhängigkeit von Män- vorgestellten, an der Kritischen Teorie jüngerer bzw. älterer nern richtete sich der Protest der Neuen Frauenbewegung – und Prägung orientierten Sichtweisen für eine Einschätzung aktu- das sicher nicht zu Unrecht. In der Tat ist – um nur ein Beispiel eller Entwicklungstendenzen im Geschlechterverhältnis leisten zu nennen – nicht einzusehen, warum der Staat (mit)entscheiden können. Welche Aufgaben und Ansatzpunkte für feministische sollte, ob eine Frau ein Kind austrägt oder nicht. Was Trumann Kritik ergeben sich hieraus? Und welchen Schwierigkeiten sieht jedoch nachdrücklich problematisiert ist, dass eine solche zwei- sich ein gesellschaftskritischer Feminismus gegenüber? fellos berechtigte Kritik ein weitgehendes Einverständnis mit Was die hier vorgestellten Beiträge eint ist, dass keine der Auto- den gesellschaftlichen Anforderungen an Individuen keineswegs rinnen davon ausgeht, dass Feminismus heute überfüssig oder ausschließt. So verwehrte sich die Neue Frauenbewegung wie per se zum Scheitern verurteilt ist. Vielmehr ist es allen um eine Trumann an Hand von deren Forderungen, Diskussionen und (Re-)Aktivierung des Feminismus als umfassend gesellschafts- Praxen zeigt zwar gegen eine klar als solche ersichtliche autori- kritisches Projekt. Unterschiedliche Einschätzungen fnden sich täre Bevormundung durch Dritte. An den Vorstellungen dessen, jedoch dazu, inwiefern sich für diesen Zweck an Analysen und was als ‚feministische‘ Sexualität oder Empfängnisverhütung Praxen aus den Anfangsjahren der Neuen Frauenbewegung an- verstanden wurde, wird jedoch deutlich, dass diese weniger Kri- knüpfen lässt. So empfehlt Fraser eine Rückbesinnung auf den tik an der für die ‚männliche’ Struktur des Subjekts charakteris- umfassenden Begrif von (Un-)Gerechtigkeit und Power möchte tischen Selbstdisziplinierung und dem damit eingehergehenden an die Vorstellung einer kollektiven, gesellschaftsverändernden Leistungsdenken denn vielmehr deren ‚selbstbestimmte’ und Praxis anschließen. Demgegenüber kritisiert Trumann, dass wei- ‚lustvolle’ Aneignung bedeuteten. So wurde dem ‚Männermy- te Teile der Neuen Frauenbewegung von einem unzulänglichen thos vaginaler Orgasmus‘ und dem Bild der passiven Penetration Gesellschaftsbegrif ausgingen und die Vorstellung von indivi- eine als aktiv verstandene, ebenfalls orgasmusfxierte klitorale dueller Selbstbestimmung nicht kritisch hinterfragten. Die von Sexualität entgegen gehalten (Trumann 2002: 42f.). Die män- Nancy Fraser diagnostizierte neoliberale ‚Umdeutung‘ feminis- nerdominiert Gynäkologie und konventionelle Verhütungsme- tischer Forderungen muss daher aus der Sicht von Trumann am Kern des Problems, einem verkürzten Verständnis von Emanzi- pation, vorbeigehen. Fraser versteht diese ‚Umdeutung‘ nämlich 13 Die Diskussionen um Geburtenrückgang und die Entwicklung mo- weitgehend als ein den Analysen und Praxen der Neuen Frau- derner Methoden der Empfängnisverhütung wie Kondome und Pessare enbewegung äußerliches Phänomen. So beschreibt Fraser zwar zeigen, dass sich die Voraussetzungen hierfür bereits Ende des 19. / An- die Indienstnahme und selektive Integration einzelner Momen- fang des 20. Jahrhunderts entscheidend geändert hatten. Allerdings war te feministischer Kritik und weist darauf hin, dass eine solche die ein planendes, rationales Verhältnis zu ihrem Körper entwickelnde Frau in diesen Debatten eher als Schreckgespenst präsent, bedrohte sie durch die ‚Entkoppelung’ von feministischer Sozial- und Kul- doch die heimelig-beruhigende Vorstellung vom emotionalen, sanf- turkritik erleichtert wurde. Inwiefern die Anlage feministischer ten, alles für Kind und Mann gebendem Weiblichen (Bergmann 1985: Sozial- und Kulturkritik bereits in den Anfangsjahren der Neuen 174f.). Frauenbewegung problematisch war, fragt Fraser jedoch nicht.

116 Demgegenüber zeigt Trumanns subjektkritische Lesart feministi- große Rolle zu spielen scheinen. Eine weitere Chance könnte darin scher Analysen und Praxen, dass die Momente, die eine ‚Umdeu- bestehen, dass wie Nina Power hoft, auf das Zerbrechen gewis- tung‘ möglich machten, der Kritik der Neuen Frauenbewegung ser ökonomischer Sicherheiten auch eine Infragestellung anderer von Beginn an innewohnten, insofern diese zwar den Subjekt- scheinbar ‚natürlicher‘ Verhaltensweisen folgt, wodurch Bewe- Status als ein Vorrecht von Männern kritisierte, kaum jedoch die gung in Geschlechterverhältnisse käme (Power 2009: 69). Gleich- ‚männliche‘ Struktur des Subjekts als solche. Diesen Unterschie- zeitig lässt sich mit Andrea Trumann jedoch erkennen, dass unter den korrespondieren wiederum unterschiedlich weitreichende fe- dem vom Power beschriebenen Hedonismus und Konsum die alte ministische Utopien: Wo Fraser auf einen demokratischen, dies- Selbst-Disziplinierung des ‚männlichen‘ Subjekts steckt – wenn mal aber geschlechtergerecht gestalteten Wohlfahrtsstaat setzt, der auch in modernisierter Form. Dass soziale Proteste hierzulande die destruktiven Tendenzen von Märkten bändigen soll, verweist bisher weitgehend ausgeblieben sind, hängt gewiss damit zusam- Trumanns Verständnis von Emanzipation auf die Aufhebung der men, dass Deutschland zumindest kurzfristig als Gewinner aus ‚männlichen‘ Subjektstruktur und der bürgerlichen Gesellschaft. der Krise hervorgegangen ist. Folgt man Andrea Trumann stellt Aus den dargestellten Beiträgen zeichnen sich verschiedene Auf- sich aber zugleich die Frage, ob ein weiterer Grund für die hiesi- gaben bzw. Ansatzpunkte für feministische Kritik heute ab. So ge (Friedhofs-)Ruhe nicht darin zu sehen ist, dass die alten sado- macht es mit Sicherheit Sinn, wie Fraser und auch Power dies tun, masochistischen Charakterstrukturen in transformierter Gestalt auf Bedeutungsverschiebungen im Verständnis dessen, was ‚Femi- fort existieren. Die Bereitschaft zum Gürtel-noch-enger-Schnallen nismus‘ heißt hinzuweisen und sich bestimmter ‚Umarmungsver- und das Ressentiment gegen diejenigen, die wie ‚die Griechen‘ in suche‘ zu erwehren. Um die eingangs erwähnten Beispiele wieder der Vergangenheit ‚über ihre Verhältnisse gelebt haben‘, scheint aufzugreifen: Zweifelsohne geht es bei dem Zitat von Laura Bush weitgehend ungebrochen. auch darum, den Krieg in Afghanistan zu rechtfertigen. Und das Gerade deswegen sollte feministische Kritik ihre Aufmerksam- Verbot der Vollverschleierung befriedigt auch antimuslimische keit auf Prozesse der Subjektkonstitution im Zusammenhang Ressentiments. Gleichstellungspolitische Maßnahmen wie das mit sich verändernden gesellschaftlichen Anforderungen richten. Elterngeld und die Frauenquote besitzen einen Klassencharakter, Wenn die von der Neuen Frauenbewegung mit in Gang gesetzte proftieren von beiden doch vor allem höher qualifzierte und bes- ‚weibliche‘ Subjektbildung lediglich als eine ‚nachholende Ent- ser verdienende Frauen (und Männer). Ein solches Benennen von wicklung‘ oder ‚Aufholjagd‘ auf Seiten der Frauen gesehen wird, Interessen und Motiven, das sich hinter einer ‚feministischen Fas- wird deren eigentliche Bedeutung verfehlt. Zu refektieren gilt es, sade‘ versteckt, gehört zum klassischen Arsenal der Ideologiekritik. dass die dort eingeübten Mechanismen einer ‚selbstbestimmten‘ So wichtig und berechtigt diese ist, gerät darüber leicht in Verges- und ‚lustvollen’ Selbst-Disziplinierung sich als mehr denn kom- senheit, dass Ideologie bei Marx notwendig falsches Bewusstsein patibel mit den Anforderungen post-fordistischer Arbeitsverhält- ist: Weniger die gezielte Irreführung durch interessierte Kreise, nisse erweisen. Wie die unter dem Stichwort ‚Feminisierung der denn vielmehr eine als verkehrte zu kritisierende gesellschaftli- Arbeit’ geführten Diskussionen zeigen, auf die auch Power Bezug che Praxis nötigt den Individuen ein solches Bewusstsein immer nimmt, stellen sich Frauen jedoch noch aus einem zweiten Grund wieder auf. Deshalb ist dieses ‚falsche‘ Bewusstsein auch nicht so als ideale post-fordistische Arbeitskräfte heraus. So weist die Rede einfach durch (theoretische) Aufklärung zu durchbrechen, wie von der ‚Feminisierung der Arbeit‘ darauf hin, dass gegenwärti- Nancy Fraser anzunehmen scheint. Damit nicht genug hat die ge Arbeitsverhältnisse Züge tragen, die in der Vergangenheit ty- frühe Kritische Teorie – und mit Blick auf die Neue Frauenbe- pisch für sog. ‚Frauenarbeit‘ waren (Power 2009: 20). Insofern wegung Andrea Trumann – darauf hingewiesen, dass sich die ge- das traditionelle Frauenbild Frauen ein hohes Maß an Flexibilität, sellschaftlichen Verhältnisse nicht nur ins Bewusstsein, sondern Kommunikations- und Anpassungsfähigkeit zuschrieb und die auch in die psychische Struktur der Subjekte vermitteln. Während Entwicklung solcher Eigenschaften einforderte, kann laut der ita- gesellschaftliche Herrschaft seit der Entstehung der bürgerlichen lienischen Journalistin und Aktivistin Cristina Morini davon ge- Gesellschaft immer stärker depersonalisiert und versachlicht wird, sprochen werden, dass Frauen gegenwärtig sogar eher als Männer lässt sich gleichzeitig eine immer weitreichendere Verinnerlichung die Eigenschaften mitbringen, die der heutige Arbeitsmarkt ver- äußerer Zwänge beobachten. Dabei bedarf die Internalisierung langt (Morini 2007: 43 u. 47). Vor diesem Hintergrund erscheint solcher Zwänge immer weniger der Drohung Dritter, sondern eine gleichstellungspolitische Maßnahme wie das Elterngeld mit wird vielmehr unmittelbar durch die Einrichtung der Gesellschaft seinen Vätermonaten in gewisser Weise als ‚Männerförderung‘, erzeugt. Das stellt kritische Teorie und Praxis vor Schwierigkei- deren ‚Flexibilitäts- und Belastbarkeitsdefziten‘ begegnet und die ten, die gerade Nancy Frasers Ansatz nicht hinreichend zu refek- so indirekt als Arbeitskräfte für ‚feminisierte‘ Arbeitsverhältnisse tieren scheint. Wenn im Folgenden von den Chancen, welche die ‚qualifziert‘ werden. aktuelle Krise für ein Revival der Gesellschaftskritik bieten mag, So gesehen haben wir es mit zunehmend ‚queeren‘ Verhältnissen die Rede ist, sollten darüber die bisher skizzierten grundsätzlichen zu tun: Frauen erweisen sich – in der Tendenz – als die besseren Schwierigkeiten nicht vergessen werden. ‚männlichen‘ Subjekte. Der gegenwärtige Arbeitsmarkt ‚femini- Was den Feminismus angeht ist Nancy Fraser zuzustimmen, dass siert‘ die Männer – wobei ‚Feminisierung‘, darin doch wieder ganz eine Chance der Krise darin liegt, dass die Bedeutung von Ökono- traditionell, vor allem Prekarisierung und Deklassierung bedeutet. miekritik heute deutlich hervortritt (Fraser 2009: 116f./56f.). Die Die Polarisierungen von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ erfahren dabei Wahrscheinlichkeit, dass auf die Cultural und Linguistic Turns, nicht so sehr eine Aufösung als vielmehr eine Flexibilisierung.14 die den Feminismus der vergangenen Jahrzehnte prägten, ein So- cial Re-Turn folgen könnte, hat sich durch die Krise gewiss er- 14 Damit soll nicht behauptet werden, dass Frauen heute tatsächlich höht. Auch die von Fraser prognostizierten Auseinandersetzungen die besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt besäßen. Wie das Beispiel über die konkrete Gestalt der künftigen Gesellschaft lassen sich der eingangs erwähnten Forderung nach einer Frauenquote für Spit- zumindest an manchen Orten und in manchen Ländern beob- zenpositionen in der deutschen Wirtschaft zeigt, ist die Realität selbst achten – auch wenn feministische Positionen darin (noch) keine von klassischer Gleichstellung noch weit entfernt. In diesem Sinne be-

117 Gegen die bloße Flexibilisierung der Pole ‚maskulin‘ und ‚femi- Power, Nina (2009): One-Dimensional Woman. Winchester, nin‘ ließe sich an Herbert Marcuses Vorstellung eines ‚versöhn- UK/Washington, USA. ten‘ Geschlechterverhältnisses anknüpfen, in dem individuelle Soiland, Tove (2010): Der Problematische Cultural Turn in den Diferenzen keineswegs eliminiert, die alten Polarisierungen Gender Studies. Zu einer Kritik an der Kritik der Zweigeschlecht- von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ aber insofern bedeutungslos ge- lichkeit. Vortragsmanuskript. http://altneu.han-solo.net/arch- worden sind, als die damit jeweils verbundenen Potentiale ihre fem/cmsmadesimple/uploads/pdf_dateien/vortrag_tove_soi- Realisierung in der Gesellschaft gefunden haben. Ein solches land.pdf (Zugrif am 20.10.2011). bedeutungslos-Werden der Pole ‚maskulin’ und ‚feminin’ würde Trumann, Andrea (2002): Feministische Teorie. Frauenbewe- zugleich eine Aufösung des hierarchischen Geschlechterverhält- gung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus. Stuttgart. nisses beinhalten. Eine derartige feministische Perspektive wiese denn nicht nur über den Neoliberalismus und die aktuelle Krise, sondern die bürgerliche Gesellschaft überhaupt hinaus. Barbara Umrath (Köln) hat am 19. Oktober 2012 in Bremen einen Vortrag zum Tema „Odysseus, Penelope und He-Man – Literatur Kritische Teorie zu Subjektkonstitution und Geschlecht“ gehal- Adorno, Teodor W., & Horkheimer, Max (2006): Dialektik der ten. Siehe: Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/Main. https://associazione.wordpress.com/2012/07/31/barbara-um- Bergmann, Anna A. (1985): Von der “unbefeckten Empfäng- rath-koln-odysseus-penelope-und-he-man-kritische-theorie- nis” zur “Rationalisierung des Geschlechtslebens”. In Christine zu-subjektkonstitution-und-geschlecht/ Kulke (Hg.): Rationalität und sinnliche Vernunft. Frauen in der Der Text „Jenseits von Vereinnahmung und eindimensionalem patriarchalen Realität. Berlin, 164-186. Feminismus - Perspektiven feministischer Gesellschaftskritik Böckelmann, Frank (1987): Die schlechte Aufhebung der autoritä- heute“ erschien erstmals in Prokla. Zeitschrift für kritische So- ren Persönlichkeit. Freiburg im Breisgau. zialwissenschaft Nr. 167, Juni 2012, S. 231-248. Wir danken der Bovenschen, Silvia, & Schuller, Marianne (1978): Weiblich- Autorin und der Zeitschrift Prokla für die Erlaubnis zum Nach- keitsbilder. Gesprächsteilnehmer: Herbert Marcuse, Silvia Bo- druck. venschen, Marianne Schuller. Gespräche mit Herbert Marcuse. Frankfurt am Main, 65-87. Fraser, Nancy (1994): Widerspenstige Praktiken. Macht, Dis- kurs, Geschlecht. Frankfurt am Main. Fraser, Nancy (2009a): Feminism, Capitalism and the Cunning of History. New Left Review (56), 97-117. Fraser, Nancy (2009b): Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte. Blätter für deutsche und internationale Politik, (8), 43-57. http://altneu.han-solo.net/archfem/cmsmadesimple/ uploads/pdf_dateien/Fraser List der Geschichte.pdf (Zugrif am 17.04.2011). Fromm, Erich (1987): Teoretische Entwürfe über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil. In M. Horkheimer, E. Fromm, H. Marcuse, & Et.al. (Hg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Lüneburg, 77-135. Haug, Frigga (2009): Feministische Initiative zurückgewinnen - eine Diskussion mit Nancy Fraser. Das Argument (281), 393- 408. Horkheimer, Max (1987): Teoretische Entwürfe über Autori- tät und Familie. Allgemeiner Teil. In Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse, & Et.al. (Hg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialfor- schung. Lüneburg, 3-76. Maihofer, Andrea (1995): Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdiferenz. Frankfurt am Main. Marcuse, Herbert (1966): One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society. Boston. Morini, Cristina (2007): Te Feminization of Labour in Cogni- tive Capitalism. Feminist Review (87), 40-59.

hauptet die Rede von einer ‚Flexibilisierung’ der Pole ‚männlich’ und ‚weiblich’ kein Verschwinden der Asymmetrie im Geschlechterverhält- nis, sondern beschreibt die Anforderung an Frauen und Männer, so- zusagen ‚auf Abruf’ auch solche Eigenschaften bereit zu halten, die im bürgerlichen Verständnis traditionell dem jeweils anderen Geschlecht zugeschrieben wurden.

118 Barbara Umrath Zur Konvergenz und Diskrepanz zwischen feministischen Perspekti- ven und der Kritischen Teorie. Eine Analyse der Entwicklung bür- gerlicher Familien- und Geschlechterverhältnisse

Seit mehr als zehn Jahren lässt sich in nicht unbeträchtlichen der Linken aufschlussreich scheinen muss, die weder der Ein- Teilen der Linken (zumindest im deutschsprachigen Raum) ein schätzung sind, dass ein paar Reformen hier und dort genügen großes Interesse an der Kritischen Teorie1 verzeichnen: Politi- noch dass ‚die revolutionären Massen’ schon um die Ecke bereit sche Gruppen verwandeln sich in thematische Lesekreise und/ stehen, liegt auf der Hand. oder verstehen die Organisation entsprechender Veranstaltungen Zugleich bietet dies eine Erklärung dafür, warum Feministinnen als zentralen Bestandteil ihrer politischen Praxis2. In einschlä- zu einer häufg äußerst skeptischen Einschätzung der Kritischen gigen Periodika wie der Jungle World, der Phase 2 oder auch Teorie kamen. Die Neue Frauenbewegung, in deren Zuge sich der Maulwurfsarbeit stellt die Kritische Teorie immer wieder feministische Teorie in einem engeren Sinne ja erst konstitu- einen theoretischen Bezugspunkt dar. Kongresse zur Kritischen ierte, bedeutete nicht nur eine gesellschaftliche Aufbruchsstim- Teorie wie 2011 in Bielefeld oder 2013 in Berlin fnden zwar an mung, in deren Kontext sich die Analysen der Kritischen Teorie Hochschulen statt, was das größtenteils jüngere Publikum zur fast zwangsläufg als (zu) ‚düster’ oder ‚pessimistisch’ ausnehmen Teilnahme motiviert, dürfte jedoch mehrheitlich nicht ein im mussten. Vielmehr musste die Vernachlässigung der akteurIn- engen (und beschränkten) Sinne akademisches Interesse sein. nen- und handlungstheoretischen Ebene aus einer feministi- Damit stellt sich die Frage, wie dieses starke Interesse an der schen Perspektive noch einmal besonders schwer wiegen, entwik- Kritischen Teorie zu erklären ist, das zumindest in Teilen der kelte sich mit der Neuen Frauenbewegung doch ein Bewusstsein Linken beobachtet werden kann. dafür, dass Frauen der Status autonomer, handlungsfähiger Sub- Eine knappe und trefende Antwort darauf liefert Alexander jekte in der Vergangenheit verweigert worden war und forder- Neupert-Doppler, der mit Blick auf die an Marx anschließen- ten Frauen diesen nun nachdrücklich für sich ein.3 Eine weitere, de Form- und Fetischkritik bemerkt, diese trage im Vergleich damit zusammenhängende Erklärung für die zurückhaltende zu „anderen Gesellschaftstheorien ... die Hypothek, nicht Mög- Rezeption der Kritischen Teorie durch Feministinnen ist darin lichkeiten der Emanzipation, sondern deren Schwierigkeiten zu sehen, dass das Gros der bisherigen feministischen Rezepti- aufzuzeigen“ (Neupert-Doppler im Erscheinen). Auch wenn dies on aus der Perspektive einer Frauenforschung, weniger der ei- zunächst paradox klingen mag, hält die Form- und Fetischkritik ner Geschlechterforschung erfolgte.4 So lag der Schwerpunkt der gerade dadurch der Utopie einer ganz anderen Gesellschaft die Betrachtung weniger auf der Konstituierung von ‚Männlichkeit‘ Treue, die in bestimmter Negation als eine Gesellschaft ohne und ‚Weiblichkeit‘ oder gar von Geschlecht(lichkeit) überhaupt – Ware, Geld, Recht und Staat umrissen wird (vgl. Neupert-Dopp- was die Perspektive einer Geschlechterforschung wäre – sondern ler im Erscheinen). Die Kritische Teorie lässt sich in der von auf der Frage nach der Darstellung von Frauen und deren Erfah- Neupert-Doppler rekonstruierten Traditionslinie der Form- und rungen wie Handlungsmöglichkeiten.5 Fetischkritik verorten: Sie schließt an Marxsche Überlegungen Im Unterschied dazu wendet sich der vorliegende Beitrag der und Einsichten an – aber ‚ihr Marx’ ist weniger der Marx, der Kritischen Teorie vor dem Hintergrund einer heute entwickel- Klassenkämpfe analysiert und in diese eingreift, sondern der ten Geschlechterforschung, deren analytischen Begrifen, theo- Marx, der danach fragt, wie die ‚verkehrten’ Vorstellungen, die retischen Einsichten und Fragestellungen zu. Eine dieser in den sich die Menschen von ihrer Praxis machen, zustande kommen vergangenen Jahren vermehrt diskutierten Fragen ist dabei die und wie die Reproduktion der kapitalistischen Produktionswei- nach Reichweite und Grenzen der von der Neuen Frauenbewe- se durch ihre Widersprüche hindurch vonstatten geht. In sozio- logischen Begrifen ausgedrückt ließe sich sagen, die Kritische Teorie ist keine Handlungs- oder AkteurInnentheorie. In ih- 3 Zum Zusammenhang von Neuer Frauenbewegung und der En- rem Zentrum steht nicht so sehr die Analyse gesellschaftlicher twicklung eines feministischen Wissen(schaft)sprojektes vgl. u.a. Tina Kämpfe und Kräfteverhältnisse, sondern der Versuch zu verste- Jung (im Erscheinen). Gudrun-Axeli Knapp (1996, 2004, 2012) hat hen, warum eine die bürgerliche Gesellschaft im Hegelschen wiederholt darauf hingewiesen, wie die im Kontext der Neuen Frauen- bewegung herrschende emanzipatorische Aufbruchsstimmung die fem- Sinne ‚aufhebende’ Praxis ausgeblieben ist – und darum ‚Eman- inistische Rezeption der Kritischen Teorie beeinfusste. Dazu, inwief- zipation’ nicht etwas Erreichtes, sondern erst noch zu Realisie- ern Frauen der Status bürgerlicher Subjekte verweigert wurde vgl. u.a. rendes meint. Dass eine solche Perspektive für diejenigen Teile Maihofer (2001), zur Einforderung des Subjektstatus durch die Neue Frauenbewegung Trumann (2002). 4 Für die Unterscheidung zwischen Frauenforschung, Geschlechterver- 1 Wenn im Folgenden der Kürze halber von ‚der Kritischen Teorie‘ hältnisforschung, Männerforschung und Geschlechterforschung sowie gesprochen wird, ist damit stets die erste Generation der ‚Frankfurter deren unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Perspektiven vgl. Schule‘ gemeint. Maihofer (2006). 2 Für Anregungen und/oder kritische Rückmeldungen zu diesem Auf- satz danke ich Amy Allen, Marc Grimm, Andrea Maihofer, Shadan 5 Vgl. Umrath (2014) dafür, welche Lesarten der Kritischen Teorie mit Tavakoli sowie ganz besonders Anika Tym und Katharina Volk. diesen verschiedenen Perspektiven möglich sind.

119 gung angestrebten gesellschaftlichen Veränderungen und einer Ordnung ohne Ausbeutung und Herrschaft wäre somit prinzipi- möglichen ‚Vereinnahmung’ feministischer Kritik.6 Auch aus ell möglich, bleibt aber praktisch aus, weshalb nun theoretisch zu einer dezidiert feministischen Perspektive hat die kritische Refe- untersuchen ist, warum dies so ist. Als notwendig erscheint da- xion auf bisherige Emanzipationsversuche damit an Bedeutung bei, das Verhältnis zwischen dem, was in der marxistischen Tra- gewonnen und scheint eine Hinwendung zur Kritischen Teorie dition als (entscheidende ökonomische) ‚Basis‘ und (weitgehend so produktiv. als abhängig verstandener kultureller) ‚Überbau‘ gefasst wurde, In diesem Sinne sollen im Folgenden die Arbeiten der Kritischen präziser zu analysieren. Entsprechend formuliert Horkheimer als Teorie zur Familie, allen voran die Studien über Autorität und zentrale Fragestellung für die gemeinsame Arbeit die Familie von 1936 (Abschnitt 2 und 3), aber auch Schriften aus der Nachkriegszeit, die sich mit Entwicklungen von Familien- „nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Le- und Geschlechterverhältnissen beschäftigen (Abschnitt 4) in ben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individu- den Blick genommen werden. Zuvor wird in einem ersten Schritt en und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren der sich nicht nur oder vorwiegend für ökonomische, sondern Sinn, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der gleichermaßen für sozialpsychologische und kulturelle Dimen- Wissenschaft, Kunst und Religion gehören, sondern auch Recht, sionen interessierende, ‚unorthodoxe’ marxistische Ansatz der Sitte, Mode, öfentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Kritischen Teorie skizziert (Abschnitt 1). Die daran anschlie- Lebensstil u.s.f.“ (Horkheimer 1988b, S. 32). ßenden Teile diskutieren, welche Aspekte von Familien- und Ge- schlechterverhältnissen die Kritische Teorie aus dieser Perspek- Marx folgend wird ‚die Ökonomie‘ dabei weder im Sinne ei- tive in den Blick zu nehmen und zu welchen Einschätzungen sie ner isolierten Sphäre (miss-)verstanden, noch auf ‚Klasse‘ oder dabei zu gelangen vermochte, wo aus Sicht einer heutigen femi- gar ‚Klassismus‘ reduziert. Ebenso wenig meint Kritik der ka- nistischen Geschlechterforschung aber auch Analysen weiterzu- pitalistischen Gesellschaft hier lediglich oder primär eine treiben oder überhaupt erst zu unternehmen wären. Indem der Skandalisierung von Verteilungsungerechtigkeiten, sondern Beitrag die Überlegungen der Kritischen Teorie in den weiteren impliziert eine grundlegende Kritik an Warenform, Privatei- Kontext eines marxistischen Nachdenkens über Familien- und gentum, Markt, Recht, bürgerlichem Staat, Kultur und Le- Geschlechterverhältnisse einordnet, soll zudem dieser oft verges- bensweise. Angelehnt an die Marxsche Kritik des Fetischismus sene Teil der marxistischen Tradition in Erinnerung gerufen und und ihre Erweiterung durch Georg Lukács zu einer umfassen- so für gegenwärtige Weiterentwicklungen verfügbar gemacht den Kritik von Phänomenen der ‚Verdinglichung‘ verstehen die werden. Institutsmitarbeiter(Innen)7 die kapitalistischen Produktionsver- hältnisse und die bürgerliche Gesellschaft insgesamt als von ei- 1. Das Programm einer ‚Teorie der gegenwärtigen Gesell- ner ‚Verkehrung‘ und ‚Verselbständigung‘ geprägt: ‚Verkehrt‘ ist, schaft als ganzer‘ (Max Horkheimer) und die Familie als ge- dass unter kapitalistischen Bedingungen die Selbstverwertung eigneter Forschungsgegenstand des Wertes, nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnis- Das Forschungsprogramm, das die Arbeit des Instituts für Sozi- se, das Ziel der Produktion ist; die ‚Verselbständigung‘ gesell- alforschung vor allem in den 1930er Jahren prägen sollte, wird schaftlicher Verhältnisse drückt sich darin aus, dass diese den von Max Horkheimer in seiner Antrittsrede als Institutsleiter so- Menschen nicht als ihre eigene Praxis und damit veränderbar wie seinem Vorwort zur ersten Ausgabe der Zeitschrift für Sozial- erscheinen, sondern als vermeintlich feststehende ‚Tatsachen‘, forschung umrissen. Demnach zielt Sozialforschung, wie sie vom denen es sich zu fügen gilt. Aus der Perspektive der Form- und Institut verstanden wird, auf eine „Teorie der gegenwärtigen Fetischkritik, an welche die Kritische Teorie anschließt, sind Gesellschaft als ganzer“ (Horkheimer 1988a, S. 36) bzw. „eine ‚Verkehrung’ und ‚Verselbständigung’ weder dem Zufall noch Teorie des historischen Verlaufs der gegenwärtigen Epoche“ individuell unzulänglicher Wahrnehmung geschuldet. Vielmehr (Horkheimer, 1988a, S. 38). Der Marxschen Kritik der politi- liegen diese in der Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft schen Ökonomie kommt hierfür zentrale Bedeutung zu, wobei begründet, insofern sich das Gesellschaftliche wesentlich als Re- der Horkheimer-Kreis jedoch davon ausgeht, dass diese einer der sultat der unkoordinierten Handlungen auf sich selbst bedachter veränderten historischen Situation entsprechenden Weiterent- Individuen ergibt – denen damit wiederum das gemeinsam Her- wicklung bedarf. vorgebrachte als etwas Fremdes begegnet. Angesichts der zeitgenössischen Entwicklung, die vom Institut Der Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft bringt so einen zu- als eine Verfestigung autoritärer Verhältnisse der Über- und Un- nehmend abstrakten Charakter von Herrschaftsverhältnissen terordnung und einer ungleichen Verteilung gesellschaftlichen mit sich.8 In der dialektischen Betrachtungsweise Horkheimers Reichtums refektiert wird, erweist sich die verbreitete marxisti- wird dies als Befreiung zugleich aber auch Diferenzierung, Ver- sche Aufassung, wonach mit der Entfaltung der Produktivkräfte quasi automatisch eine Umwälzung der Produktionsverhältnisse erfolgen müsse, als unzutrefend. Zugleich geht das Institut aber 7 Diese Schreibweise soll darauf aufmerksam machen, dass Frauen zwar von der marxistischen Annahme aus, dass die Produktivkräfte – abgesehen von Gretel Adorno, die allerdings eine von den männlichen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausreichend entwickelt wären, Angehörigen verschiedene Position hatte – nicht zum inneren Kreis des Instituts zählten, an der Entwicklung Kritischer Teorie aber sehr wohl um allen Menschen eine befriedigende materielle Existenz zu Anteil hatten. Vgl. dazu u.a. (Becker-Schmidt 2009; Boeckmann 2004; ermöglichen. Der Übergang zu einer neuen gesellschaftlichen Ziege 2007). 8 Inwiefern diese aus der marxistischen Perspektive des Instituts als für die bürgerliche Gesellschaft grundsätzlich charakteristisch erachtete 6 Eine ausführliche Diskussion der Vereinnahmungsthese und deren Tendenz erlaubt, bürgerliche Geschlechter- und Generationenver- Untersuchung an Hand von empirischem Material fndet sich bei hältnisse angemessen zu erfassen, wird in den folgenden Abschnitten Schoppengerd (2014); für einen Überblick vgl. Umrath (2012). kritisch diskutiert werden.

120 geistigung und Verinnerlichung von Herrschaft erkennbar. So Es geht also nicht darum, kulturelle oder psychische Prozesse vollzieht sich mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und Strukturen als ökonomisch determiniert zu verstehen, son- eine Befreiung von feudalen, personalisierten Abhängigkeitsver- dern diese in ihrer Vermittlung mit ökonomischen Verhältnissen hältnissen, wie sie gegenüber Lehnsherren oder Kirchenfürsten zu betrachten (vgl. Horkheimer 1987, S. 20 u. 23). Zwar dürfe bestanden haben. Insofern diese traditionellen, personalisierten nicht übersehen werden, dass die Existenz bestimmter kultureller Herrschaftsverhältnisse jedoch durch die Autorität ‚verkehrter’ oder psychischer Faktoren immer auch ökonomisch bedingt ist, und ‚verselbständigter’ gesellschaftlicher Verhältnisse abgelöst diesen komme zugleich aber – insbesondere dann, wenn sie insti- werden, ist die Befreiung gleichzeitig eine unvollständige (vgl. tutionalisierte Gestalt annehmen – „eine gewisse, wenn auch nur Horkheimer 1987, S. 30f.). Mehr noch, Herrschaft nimmt eine relative Eigengesetzlichkeit“ (Horkheimer 1987, S. 14) zu. Diese perfdere, da nur schwer als solche erkennbare Form an: In dem ‚relative Eigengesetzlichkeit‘ erklärt sich für Horkheimer vor allem Maße wie Anpassung und Unterordnung unter die gegebenen damit, dass „die unmittelbar mit der Wirtschaft zusammenhän- Verhältnisse immer weniger durch unmittelbare Drohung mit genden Sphären sich rascher umwandeln als andere Kulturberei- Gewalt und Strafe erreicht wird, sorgt die Einrichtung der Welt che“ (Horkheimer 1987, S. 19). An der marxistischen Annahme selbst, d.h. die Tatsache, dass die eigene Existenz nicht anders einer der kapitalistischen Produktionsweise immanenten umwäl- reproduziert werden kann, für die nötige Anpassung. Entspre- zenden Dynamik wird so festgehalten. Konkrete gesellschaftliche chend entwickeln die Menschen eine psychische Disposition zur Entwicklungstendenzen lassen sich aus Sicht des Instituts jedoch Fügung in das Gegebene; sie verinnerlichen äußere Strafandro- nur auf der Basis einer Analyse des Zusammenwirkens von ökono- hung, Zwang und Grausamkeit (vgl. Horkheimer 1987, S. 12f. mischen, kulturellen und psychischen Prozessen ausmachen. u. 31).9 In seiner Antrittsrede im Januar 1931 hatte Horkheimer noch an- Die ‚Vernachlässigung’ einer akteurInnen-zentrierten Analyse gekündigt, dieses Zusammenwirken solle an Hand der Gruppe der durch die Kritische Teorie hängt so mit deren Analyse der bür- ArbeiterInnen und Angestellten untersucht werden – und damit gerlich-kapitalistischen Gesellschaft zusammen: Wenn die Indi- eine von Erich Fromm begonnene Erhebung zur Institutsangele- viduen das Ganze weitgehend bewusstlos reproduzieren, dann genheit erklärt (vgl. Horkheimer 1988b, S. 32f. u. Wiggershaus liegt es zwar nahe danach zu fragen, was dieses Verhalten auf 1988, S. 132). Ein im Archiv des Instituts für Sozialforschung vor- einer unbewusst-emotionalen Ebene motiviert; oppositionelles handenes 18seitiges Typoskript mit dem handschriftlich ergänz- Handeln hingegen würde gerade das Bewusstsein voraussetzen, ten Titel ‚Kollektivarbeit Familie’ sowie thematisch einschlägige, dessen Entstehung der Form- und Fetischkritik zufolge durch entsprechend datierte Bibliographien aus den Nachlässen Max die Praxis der bürgerlichen Gesellschaft beständig verhindert Horkheimers und Erich Fromms legen jedoch nahe, dass der Fo- oder zumindest erschwert wird. Folglich gilt die Aufmerksam- kus spätestens im Laufe des Jahres 1932 zugunsten der Familie keit des Instituts eher Strukturen und Prozessen denn Handlun- verändert wurde. Die Familie, so heißt es in besagtem Typoskript, gen oder Meinungen. eigne sich in besonderem Maße als Forschungsgegenstand für die Dabei spricht Horkheimer ökonomischen Prozessen und Entwick- Entwicklung einer Teorie, die zu verstehen erlaube, warum sich lungen entscheidende Bedeutung zu, da die gesellschaftliche Po- Gesellschaft beständig reproduziert ohne dafür in idealistischer sition des und der Einzelnen sowie seine und ihre Möglichkeiten Manier auf einen angeborenen Gesellschaftstrieb, in rationali- zur Befriedigung von Bedürfnissen zentral von der gesellschaft- stischer Tradition auf Vertragstheorien oder in verkürzt materia- lichen Verteilung von Arbeit abhängen (vgl. Horkheimer 1987, listischer Aufassung lediglich auf die materiellen Interessen der S. 23).10 Die gesellschaftstheoretische Perspektive des Instituts Menschen zu verweisen (vgl. Institut für Sozialforschung o.D., S. fasse „(d)en ökonomischen Prozess als bestimmende Grundlage 1f.). In den Beziehungen der Familienangehörigen würden nicht des Geschehens“ auf, was bedeute, nur sämtliche der für eine kritische Gesellschaftstheorie relevanten Faktoren – ökonomische Motive ebenso wie die psychodynamisch „alle übrigen Sphären des gesellschaftlichen Lebens in ihrem sich wirksamen kulturellen Kräfte Moral, Religion, Nation und Liebe verändernden Zusammenhang mit ihm zu betrachten und ihn – in besonderem Maße sichtbar und damit der empirischen wie nicht in seiner isolierten mechanischen Form, sondern in Einheit theoretischen Analyse zugänglich; insofern es sich bei der Familie mit dem freilich durch ihn selbst entfalteten spezifschen Fähig- um ein sich historisch zwar veränderndes, zugleich aber andauernd keiten und Dispositionen der Menschen begreifen.“ (Horkhei- bedeutungsvolles Phänomen handele, ließen sich an Hand dieses mer 1987, S. 10) Gegenstandes zudem relativ konstante von lediglich für die zeitge- nössische, bürgerliche Periode wirksame Momente unterscheiden (vgl. Institut für Sozialforschung o.D., S. 2). Was daraus hervor- 9 Auch dieser Prozess ist jedoch wiederum dialektisch zu sehen: Ang- geht ist, dass Familie aus Sicht des Instituts keinen zu vernachlässi- elehnt an die kulturtheoretischen Arbeiten Sigmund Freuds versteht das genden Faktor, sondern einen für das Verständnis von Gesellschaft Institut diese Verinnerlichung von Zwang zwar als einen gewaltsamen und speziell der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zentralen Prozess, in dem aber zugleich neue Qualitäten entstehen– von den psy- Nexus darstellt – eine in marxistischen und/oder linken Zusam- chischen Instanzen über religiöse Vorstellungen bis hin zur Moral (vgl. menhängen bis heute nicht selbstverständliche Einsicht. Um diese Fromm 1987, S. 82f.; Horkheimer 1987, S 13f.). bedeutsame Institution zu analysieren und auf diesem Wege eine 10 Horkheimers Rede von der gesellschaftlichen Verteilung der Arbeit komplexe kritische Gesellschaftstheorie zu entwickeln, entwirft meint hier vor allem das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital. Keine das Archivdokument einen anspruchsvollen, auf mindestens Hinweise fnden sich an dieser Stelle, dass er zugleich eine geschlecht- drei Jahre anzulegenden Forschungsprozess, dessen Erkenntnisse liche Arbeitsteilung im Kopf haben könnte. Wie noch zu zeigen sein wird, refektiert das Institut im Zusammenhang mit den Analysen der schließlich 1936 in den Studien über Autorität und Familie ihre patriarchalen Familie diese jedoch ausdrücklich – wenn auch aus einer Dokumentation fnden (vgl. Institut für Sozialforschung o.D., S. heutigen feministischen Perspektive nicht hinreichend. 6 u. 16f.).

121 2. Die Entwicklung getrennter Sphären, (früh-)bürgerlicher Erwerbsbetrieb und Haushalt mit einer stärkeren Diferenzie- ‚Männlichkeit’ und ‚Weiblichkeit’ und die Notwendigkeit rung zwischen blutsverwandten und nicht-blutsverwandten klassenspezifscher Diferenzierungen Haushaltsmitgliedern einherging, die schließlich im Ausschei- Die Studien über Autorität und Familie sind das gut 900 Seiten den letzterer aus der Familie mündete – d.h. der Entstehung umfassende Produkt eines mehrjährigen, arbeitsteiligen For- dessen, was wir die bürgerliche Kleinfamilie nennen – sowie mit schungsprozesses. In der einschlägigen (auch der dezidiert femi- etwas, das sich als eine Stilisierung (früh-)bürgerlicher ‚Männ- nistischen) Rezeption werden jedoch in der Regel nur die Auf- lichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ bezeichnen lässt (vgl. Manheim 1987, sätze Horkheimers und Fromms zur Kenntnis genommen. Wie S. 546f. u. 565f.). So heißt es bei Manheim: eingehend und vielschichtig sich das Institut mit Familien- und Geschlechterverhältnissen beschäftigt hat wird hingegen erst er- „Aus dem Haushalt, dem Lebensbereich der Frau, wurde das Ri- sichtlich, wenn auch die Beiträge weniger bekannter Autor(Inn) sikoelement ausgeschieden; dafür wurde die Unternehmerfreu- en berücksichtigt werden. In diesem Sinne wird die folgende digkeit, das kaufmännische Wagnis zum prägenden Element der Darstellung unter anderem auf Arbeiten von Karl August Witt- männlichen Berufsgesinnung. Der Gegensatz zwischen der häus- fogel, Ernst Manheim und Ernst Schachtel zurückgreifen. lichen Stille und Sicherheit einerseits und dem ausserhäuslichen Dass die Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesell- Konkurrenz- und Machtstreben andererseits wurde als Wesens- schaft mit der Trennung zwischen einer sogenannten ‚familial- unterschied von Mann und Frau empfunden und zur weiblichen privaten’ und einer ‚berufich-öfentlichen’ Sphäre einhergeht, Moral der Innigkeit und des Verzichts auf persönliche Initiative ist eine von vielen soziologischen Ansätzen geteilte Diagnose.11 verfestigt.“ (Manheim 1987, S. 567) Was eine feministische Perspektive dabei auszeichnet ist, dass diese Trennung zugleich als zentrales Element hierarchischer Was Karin Hausen später die ‚Polarisierung der Geschlechtscha- Geschlechterverhältnisse problematisiert wird. Die Studien über raktere‘ nennt, fndet sich so bei Manheim bereits angedeutet.13 Autorität und Familie teilen diese kritische Sicht. So refektieren Ähnlich wie Hausen versteht Manheim den ‚Wesensunterschied’ verschiedene Autoren das, was wir heute als Sphärentrennung zu zwischen den Geschlechtern, der ein wiederkehrendes Tema bezeichnen gewohnt sind, wenn sie als zentrales Charakteristi- in (früh-)bürgerlichen Diskursen ist, als mit der Trennung von kum von Familie in der bürgerlichen Gesellschaft betonen, dass Haushalt und Erwerb verbunden – und damit eben keineswegs diese – abgesehen von den bäuerlichen Schichten – keine Pro- ‚wesentlich’ im Sinne von ‚angeboren’ oder ‚natürlich’, sondern duktionsgemeinschaft im klassischen Sinne mehr darstellt, son- als etwas, das durch die Entwicklung einer spezifschen ‚weibli- dern sich weitgehend auf die Form einer Konsumgemeinschaft chen Moral’ erst ‚verfestigt’ wird. Diese ‚weibliche Moral’ ana- beschränkt (vgl. Horkheimer 1987, S. 58; Manheim 1987, S. lysiert Manheim zudem als ein für eine bestimmte Klasse, das 546f. u. 565f.; Wittfogel 1987, S. 518f.).12 Diese Trennung oder puritanische Bürgertum des 17. und 18. Jahrhunderts, charak- Ausdiferenzierung wird nicht lediglich als eine ‚Tatsache’ be- teristisches Merkmal, mit dessen Hilfe sich diese Klasse von der schrieben, sondern in ihrer Bedeutung für die Geschlechter- und damals herrschenden Schicht, dem Adel, abzugrenzen suchte Generationenverhältnisse kritisch analysiert – wobei auf Unter- (vgl. Manheim 1987, S. 572f. u. 578). Bemerkenswert ist, dass schiede zwischen den Klassen ausdrücklich hingewiesen wird. Manheim hier nicht nur auf das Phänomen einer vergeschlecht- In diesem Sinne fassen Horkheimer und Wittfogel die ökono- lichten Moral stößt, das später auch die feministische Diskussion mische Abhängigkeit von Frauen und Kindern als ein vor allem intensiv beschäftigen wird. Vielmehr analysiert er diese Moral die Familie des Bürgertums prägendes Phänomen – und eine darüberhinaus als ein Mittel des Klassenkampfes bzw. der Kon- zentrale Stütze männlich-väterlicher Autorität: In dieser Klasse stitution und Selbstafrmation der bürgerlichen Klasse.14 verfügt „(d)er Vater … über das Einkommen der Familie und da- Zugleich muss aus der Perspektive heutiger Geschlechterfor- mit über ihr materielles Schicksal“ (Wittfogel 1987, S. 518); der schung eine Grenze der Kritischen Teorie festgehalten werden: bürgerliche Gatte-Vater ist „Herr im Haus, weil er das Geld ver- Zwar wird die geschlechtliche Arbeitsteilung innerhalb von Fa- dient oder wenigstens besitzt.“ (Horkheimer 1987, S. 55) Dem- milien immer wieder erwähnt und als Doppel- bzw. Dreifachbe- gegenüber wird etwa betont, dass es nicht-bürgerlichen Frauen lastung insbesondere nicht-bürgerlicher Frauen problematisiert im Frühkapitalismus durchaus frei stand, sich als Heim- oder (vgl. Weiss 1987, S. 580, Wittfogel 1987, S. 519f.). Das, was wir Manufakturarbeiterinnen zu verdingen und auch Anfang des 20. heute als Haushalts- und Sorgetätigen bezeichnen würden, wird Jahrhunderts in der ArbeiterInnenschaft der (Zu-)Verdienst von jedoch an keiner Stelle eingehend in den Blick genommen – ganz Frau und Kindern meist für das Überleben der Familie unver- zu schweigen davon, dass das Institut theoretische Begrife zur zichtbar ist – womit dem Mann-Vater kaum die Funktion des Alleinernährers zukomme und dessen autoritäre Vormachtstel- lung tendenziell geringer ausgeprägt sei (vgl. Horkheimer 1987, 13 Hausens Aufsatz „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere’. S. 72; Manheim 1987, S. 546, 566f. u. 572; Wittfogel, S. 519f.). Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“ Ernst Manheim geht zudem darauf ein, wie die Scheidung von von 1976 sollte ein Klassiker der historischen Geschlechterforschung werden. Darin geht Hausen auch knapp auf Manheims Beitrag ein. Im Unterschied zu diesem, der nur beiläufg auf die Stilisierung (früh-) 11 Statt von einer ‚bürgerlich-kapitalistischen’ Gesellschaft zu sprechen, bürgerlicher ‚Männlichkeit’ und ‚Weiblichkeit’ zu sprechen kommt, wird jedoch häufg die ‚neutralere’ Rede von der ‚modernen’ Gesell- steht für Hausen die Frage, wie die Konjunktur der Rede von ‚Ge- schaft vorgezogen und die Sphärentrennung vor allem als gesellschaft- schlechtscharakteren’ und einem ‚Wesensunterschied’ der Geschlechter liche(r) Diferenzierung(sfortschritt) gedeutet. im 18. und 19. Jahrhundert zu verstehen ist jedoch im Zentrum. 12 Wird hier die ökonomische Dimension der Sphärentrennung refek- 14 Carrol Gilligans In a Diferent Voice: Psychological Teory and Wom- tiert, so wird im Folgenden noch deutlich werden, dass die Studien auch en’s Development von 1982 löste eine intensive (feministische) Debatte deren rechtlich-politische und sozialpsychologische Voraussetzungen über die Existenz einer vergeschlechtlichten Moral aus. Ein kurzer wie Implikationen in den Blick nehmen. Überblick über diese Diskussion fndet sich in Maihofer (1995).

122 Erfassung dieser Aktivitäten und ihrer Bedeutung für die Repro- gumentiert Marcuse, dessen Gegenstand allerdings die Hegelsche duktion der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entwickelt Philosophie ist. Wie Marcuse herausarbeitet, greift Hegel auf die hätte.15 Familie zurück, um den Widerspruch seiner Teorie zu lösen, die Während die geschlechtliche Arbeitsteilung und speziell die ent- doch einerseits die Partikularität des Privateigentums erkannt hat, sprechend dieser Arbeitsteilung in den Zuständigkeitsbereich von zugleich aber behauptet, eben dieses Eigentum stelle die Grundla- Frauen fallenden Tätigkeiten eher en passant erwähnt werden, er- ge der Freiheit des Individuums dar (vgl. Marcuse 1987, S. 184f.). fährt ein anderer Aspekt der Sphärentrennung hingegen relativ Der Rekurs auf die Familie erlaube Hegel nun, statt dem Individu- hohe Aufmerksamkeit. So werden Zusammenhänge zwischen um diese ‚Allgemeinheit’ zum eigentlichen Träger des Eigentums einer männlich-bürgerlichen Eigentumsordnung und der patriar- zu ernennen: chalisch-monogamen Form von Ehe und Familie in verschiedenen Beiträgen thematisiert. Das Institut greift damit eine marxistische „Indem das Eigentum in der Familie verankert und im Erbrecht Traditionslinie auf, die über Friedrich Engels Der Ursprung der durch die Geschlechterfolge garantiert wird, empfängt das Indivi- Familie, des Privateigentums und des Staates bis zurück zu Frühso- duum sein Eigentum gleichsam von der Allgemeinheit selbst kraft zialistInnen wie Charles Fourier oder Claire Démar verfolgt wer- einer ewigen Naturordnung zum Lehen und Dienste für die Allge- den kann – eine Traditionslinie, in der die Kritik bürgerlicher meinheit“ (Marcuse 1987, S. 185). Eigentumsverhältnisse zugleich als eine Kritik patriarchaler Ge- schlechter- und Familienverhältnisse formuliert wird.16 Indem die Daraus zieht Marcuse das ideologiekritische Fazit, der Familie Institutsmitarbeiter(Innen) vielfältige Quellen analysieren, vertie- komme bei Hegel die Funktion zu, „das Eigentum zu versittlichen fen sie die bisherigen marxistischen Arbeiten und machen deut- und zu verewigen“ (Marcuse 1987, S. 185). Dem fügt Schachtel die lich, wie omnipräsent patriarchale Geschlechterverhältnisse in den Engelssche Tese hinzu, derzufolge der ursprüngliche bürgerlichen Eigentumsdiskursen sind. So widmet sich Wittfogel etwa Daniel Defoe, den er als Reprä- „Sinn des Erbrechts ... in der monogamischen Familie“ ja gera- sentanten der frühkapitalistischen Epoche liest und arbeitet her- de der gewesen sei, „die Erbfolge für einen bevorzugten Sohn ... aus, dass dieser in seinen Handlungsempfehlungen an den ‚Gen- zu sichern und so die Ansammlung privaten Eigentums in einem tleman’ die Frage der Eheschließung nicht etwa im Kontext von bestimmten Geschlecht zu garantieren.“ (Schachtel 1987, S. 612) Zuneigung oder wechselseitiger Anziehung, sondern ganz selbst- verständlich im Zusammenhang mit der richtigen Verwaltung des Wie die Studien immer wieder betonen, hatte dies zur Folge, dass Vermögens behandelt. Wie Wittfogel kritisch analysiert, wird die die Forderung nach Monogamie höchst einseitig, nämlich vor al- Nutzung der Mitgift der Gattin durch den männlichen Angehö- lem in Bezug auf Frauen konsequent, gehandhabt wurde (vgl. Mar- rigen der bürgerlichen Klasse von Defoe stillschweigend voraus- cuse 1987, S. 216; Schachtel 1987, S. 592f.; Wittfogel 1987, S. 514). gesetzt, bietet diesem gar erst die Möglichkeit, sein Vermögen in- Damit wird refektiert, dass der scheinbar für beide Geschlechter nerhalb kurzer Zeit zu vervielfachen (vgl. Wittfogel 1987, S. 515f.). gleich verbindlichen moralischen Forderung eine ungleiche Praxis Dass wenn auch nicht unbedingt das Eigentum am, so doch zu- entspricht – ein Phänomen, das aus der marxistischen Perspektive mindest die Verfügung über das eheliche bzw. familiäre Vermögen des Instituts nicht weiter überraschen mag: Denn um zu garan- selbst Anfang des 20. Jahrhunderts noch vergleichsweise selbst- tieren, dass das weitgehend in den Händen bürgerlicher Männer verständlich dem Mann zugesprochen wird, zu diesem Schluss konzentrierte Eigentum und Vermögen auch tatsächlich an deren kommt Ernst Schachtel bei seiner Analyse der Rechtsordnungen Nachkommen vererbt wird, ist die unbedingte Treue der bürgerli- verschiedener bürgerlicher Staaten (vgl. Schachtel 1987, S. 609- chen Gattin, nicht jedoch die des Gatten erforderlich. 611). Angesichts dessen weist Schachtel juristische Begrife wie Indem sich die Analysen auf so vielfältiges Material wie prakti- die einer ehelichen Gütergemeinschaft als Verklärung tatsächlich sche Handlungsweisungen an den frühkapitalistischen ‚Gentle- existierender Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zurück man’ (Wittfogel), bürgerliche Rechtsordnungen (Schachtel) und (vgl. Schachtel 1987, S. 588 u. 610).17 Ähnlich ideologiekritisch ar- die klassische bürgerliche Philosophie (Marcuse) stützen, zeigen die Studien letztlich, dass die bürgerliche Eigentumsordnung – 15 Die Entwicklung entsprechender analytischer Begrife erfolgte erst im zumindest bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein – an- Zuge der Neuen Frauenbewegung und der sich damit konstituierenden gemessener als eine bürgerlich-patriarchale Eigentumsordnung Frauen- und Geschlechterforschung. Mariarosa dalla Costa etwa betonte zu verstehen wäre. In anderen Worten: Klassen- und Geschlech- in ihrem rege diskutierten Beitrag „Die Frauen und der gesellschaftli- terverhältnisse erweisen sich als zutiefst ineinander verschränkt. che Umsturz“ (1972) die Bedeutung von Hausarbeit, die sie darin sieht, Ersichtlich wird zudem, wie die als getrennt erscheinenden Sphä- ein zentrales Produktionserfordernis der kapitalistischen Gesellschaft, ren zugleich in einem Wechselverhältnis stehen: Dass etwa, wie nämlich die menschliche Arbeitskraft, zu (re-)produzieren. Regina Beck- Schachtel herausarbeitet, der ‚öfentliche Bereich’ von Rechtsord- er-Schmidt wiederum arbeitete mit ihrem Teorem einer ‚doppelten nungen den ‚privaten Bereich’ von Familienverhältnissen struktu- Vergesellschaftung’ von Frauen heraus, dass in der Doppelbelastung auch riert und umgekehrt – wie im folgenden Abschnitt dargestellt wird das Moment einer doppelten Befähigung enthalten ist (vgl. zusammenfas- send Becker-Schmidt 2003). – die vorwiegend im ‚privaten Bereich’ entwickelten psychischen Strukturen zentral für die Aufrechterhaltung der ‚öfentlich-ge- 16 Für einen knappen Überblick zu Charles Fourier vgl. Volk (2014). sellschaftlichen’ Strukturen sind. 17 Schachtels Arbeit, die sich mit den wirtschaftsrechtlichen Bezie- hungen zwischen den EhegattInnen ebenso wie mit der Frage elterli- cher Gewalt oder der Scheidung beschäftigt und dabei stets zwischen formal-rechtlicher Gleichstellung von Frauen und den materiell-prak- Rechtskritik vorweg. Die Analyse Schachtels macht damit deutlich, in- tischen Voraussetzungen zur Wahrnehmung dieser Rechte unterschei- wiefern die marxistische Unterscheidung zwischen formaler und mate- det, nimmt Mitte der 1930er Jahre auf bemerkenswerte Weise zentrale rialer Gleichheit nicht nur für die Analyse von Klassen-, sondern auch Gegenstandsbereiche und Argumentationsweisen einer feministischen von Geschlechterverhältnissen produktiv gemacht werden kann.

123 3. Zwischen Verdinglichung und emanzipatorischem Poten- Horkheimer, schafe die Voraussetzung dafür, dass auch derje- tial: Patriarchale Familie, bürgerliche Sexualmoral und die nige Vater, der wie etwa der proletarische in der Arbeit ‚buckeln’ Entwicklung von Charakterstrukturen muss und dessen ökonomische Macht begrenzt ist, „zu Hause Wie dargestellt betont sowohl Horkheimers Antrittsrede als auch als Herr auftreten“ (Horkheimer 1987, S. 58) kann. Von einer die Skizze des Forschungsprojekts zur Familie, dass eine kritische nur „scheinbaren Natürlichkeit der väterlichen Macht“ spricht Gesellschaftstheorie sich nicht auf die Untersuchung ökonomi- Horkheimer, da er die Stellung des patriarchalen Vaters „aus der scher Faktoren und Prozesse beschränken darf, sondern diese doppelten Wurzel seiner ökonomischen Position und seiner juri- im Zusammenhang mit kulturellen Institutionen und Entwick- stisch sekundierten physischen Stärke“ (Horkheimer 1987, S. 57) lungen sowie den psychischen Dispositionen der Gesellschafts- hervorgehen sieht, d.h. als etwas gesellschaftlich Bedingtes ver- mitglieder verstehen muss. Entsprechend gilt in den Studien steht. Als ein solches wird die väterliche Autorität jedoch kaum ein zentrales Augenmerk der Frage, welche typischen Charak- erfahrbar, weshalb die patriarchalische Kleinfamilie eine „aus- terstrukturen im Rahmen der bürgerlich-patriarchalen Famili- gezeichnete Schule für das kennzeichnende autoritäre Verhalten enkonstellation entwickelt werden. In gewisser Weise wird also in dieser Gesellschaft“ (Horkheimer 1987, S. 57) darstelle. Was dem nachgegangen, was wir heute als familiale Sozialisation be- dort gerade nicht gelernt wird ist, „den Dingen auf den Grund zu zeichnen. Allerdings geht es dem Institut dabei nicht so sehr dar- gehen“ (Horkheimer 1987, S. 59), also etwa nach den nicht un- um, Sozialisationsprozesse möglichst umfassend zu beschreiben, mittelbar ersichtlichen ‚Wurzeln’ der väterlichen Autorität und sondern herrschaftskritisch diejenigen Momente zu identifzieren, deren Notwendigkeit zu fragen. Vielmehr erfährt der Sohn, dass welche die bürgerlich-patriarchale Familie zu einem zentralen er sich dem Stärkeren und Mächtigeren unterzuordnen hat, will Ort für die Produktion autoritärer Charaktere machen und zu- er nicht dessen Liebe und sein künftiges Erbe riskieren. Und um gleich befreiungstheoretisch zu fragen, inwiefern selbst diese Fa- psychische Konfikte zu vermeiden, die aus Diskrepanzen zwi- milienkonstellation anti-autoritäres Potential birgt. schen folgsamem Handeln und moralischen Werten resultieren Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, so ließe sich die könnten, bleibt dem Sohn wenig anderes übrig, als den überlege- zentrale Tese knapp zusammenfassen, weisen eine tiefsitzende nen und zu ehrenden Vater projektiv mit allen nur erdenklichen Disposition auf, Ungleichheit und Herrschaft als vermeintlich positiven Eigenschaften auszustatten (vgl. Horkheimer 1987, S. unabänderliche Tatsachen hinzunehmen – und zwar deshalb, 57f.). Wie Fromm ausführt, bestimmt dieser zunächst und vor weil in ihrem Verhältnis zur Autorität rationale und emotionale allem in der Beziehung zum Vater erworbene Mechanismus im Momente nahezu unaufösbar miteinander verquickt sind. Die- späteren Leben auch das Verhältnis zu den in der Gesellschaft ses für die bürgerliche Gesellschaft spezifsche Autoritätsverhält- herrschenden Autoritäten: Die Projektion aller möglichen positi- nis wird in der Kleinfamilie entwickelt – insbesondere in der ven Qualitäten entziehe Beziehung zum patriarchalen Vater. ‚Rational’ ist die Unterord- nung des Kindes aus Sicht der Institutsmitglieder insofern, als „diese weitgehend der rationalen Kritik ... Es wir an ihre Mo- dieses in Folge seiner Hilfosigkeit für das eigene Überleben in ral, Weisheit, Stärke in einem von ihrer realen Erscheinung bis der Tat auf elterliche Zuwendung und Fürsorge angewiesen ist zu einem hohen Grad unabhängigen Masse geglaubt.“ (Fromm (vgl. Fromm 1987, S. 100). Wie Horkheimer und Marcuse her- 1987, S. 84) ausarbeiten, wird die faktische Überlegenheit des Vaters – und eben nur dieses Elternteils – im Protestantismus jedoch zu einem Horkheimers Analyse der bürgerlich-patriarchalen Kleinfamilie moralischen Verhältnis verklärt, deren Anerkennung zum Aus- geht jedoch nicht bloß auf die autoritätsfördernde Bedeutung des weis von Vernunft erhoben. Vom Kind wird also nicht (mehr) le- Vaters, sondern auch die der Mutter ein. So sieht Horkheimer diglich verlangt, sich der väterlichen Gewalt äußerlich zu fügen; zum Einen in der ökonomischen Abhängigkeit der Frau die Vor- vielmehr soll durch Gebrauch der Vernunft die Tatsache der vä- aussetzung dafür, dass „die Kinder … in der mütterlichen Erzie- terlichen Überlegenheit erkannt und dem Überlegenen darüber hung unmittelbar die Einwirkung eines der herrschenden Ord- hinaus Achtung und Anerkennung gezollt werden (vgl. Horkhei- nung ergebenen Geistes“ (Horkheimer 1987, S. 69) erleben. Ein mer 1987, S. 51; Marcuse 1987, S. 156f.). weiteres, die Akzeptanz von Autorität begünstigendes Moment Als weitere Faktoren, welche die väterliche Autorität tendenzi- erkennt er in einem von jeder Sinnlichkeit gereinigten Mutter- ell der Kritik entziehen, erwähnt Horkheimer den psychischen bild. „(I)n der bürgerlichen Männergesellschaft“ haben Mutter Mechanismus der Projektion, die patriarchale Verfügung über und Schwester „auf reine Gefühle, unbefeckte Verehrung und Eigentum bzw. Einkommen, die patriarchale Struktur von Werthaltung Anspruch“ (Horkheimer 1987, S. 69), von der die Rechtsordnungen und die Trennung zwischen einer ‚beruf- sexuelle Begierde und das bloß leidenschaftliche Interesse abge- lich-öfentlichen’ und ‚familiär-privaten’ Sphäre.18 Letztere, so spalten werden müsse. Damit aber lerne das Individuum,

„die Mutter nicht in ihrer konkreten Existenz, das heisst nicht 18 Kritisch anzumerken ist, dass die sozialpsychologischen Überlegun- als dieses bestimmte soziale und geschlechtliche Wesen begreifen gen des Instituts nicht systematisch klassen- und geschlechtsspezifsche und achten“ (Horkheimer 1987, S. 69). Diferenzierungen vornehmen. Ein Teil derjenigen Faktoren, die in den Studien als für die Entwicklung autoritärer Charakterstrukturen Was Horkheimer hier en passant vermerkt, ist ein aus femini- entscheidend benannt werden, trift jedoch lediglich die Erfahrungen stischer Perspektive entscheidender Punkt: Dass nämlich ein in von Söhnen und dabei wiederum vorwiegend derjenigen der bürger- lichen Klasse. Die Existenz autoritärer Dispositionen bei Töchtern sämtlicher Klassen und nicht-bürgerlichen Söhnen wird damit nur par- tiell verständlich. Die Vernachlässigung der Erfahrung von Töchtern darauf verzichtet, auf diese Grenze immer wieder hinzuweisen. Wo von und Frauen war denn auch ein zentraler Einwand der feministischen den Autor(Inn)en Diferenzierungen vorgenommen werden, wird dies Rezeption, vgl. hierzu etwa Jagentowicz Mills (1987). Im Weiteren wird entsprechend ausgeführt.

124 Heilige-Mutter und Hure-Sexualobjekt gespaltenes Frauenbild fikte, während der „reale Ausweg … in den Bestrebungen zur die Anerkennung von Frauen verhindert. Für Horkheimer ist Schafung einer vernunftgemäss organisierten Gesellschaft“ dieses Frauenbild jedoch vor allem ein Beispiel für die insgesamt (Jungmann 1987, S. 690), d.h. gerade im Hinausgehen über die als sexualfeindlich analysierte Kultur des Bürgertums und so bürgerliche Gesellschaft, liegen würde. Entsprechend führt Bor- zielt seine Problematisierung - ähnlich wie die Erich Fromms kenau Veränderungen sexueller Moralvorstellungen und Prak- - vorwiegend darauf, dass die tabuistische bürgerliche Sexual- tiken, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts beobachten lassen, moral die Ich-Entwicklung grundlegend hemme (vgl. Fromm weniger auf das bewusste Handeln von Individuen zurück denn 1987, S. 96-99 u. 104f.; Horkheimer 1987, S. 69).19 auf gesellschaftlich-strukturelle Entwicklungen. So argumen- Wäre aus feministischer Sicht dieses Frauenbild genauer zu ana- tiert er, dass sich die Realität junger erwerbstätiger Frauen zu lysieren, gilt es doch zugleich festzuhalten, dass die Studien über Beginn des 20. Jahrhunderts von den bürgerlichen ‚Haustöch- Autorität und Familie mit der Problematisierung der bürgerlichen terchen‘ früherer Zeiten grundlegend unterscheide und mit ins- Sexualmoral an eine marxistische Traditionslinie anknüpfen, die gesamt verlängerten Schul-, Studien- und Ausbildungszeiten der einen ökonomische und sexuelle Verhältnisse umfassenden Kri- bürgerlichen Schichten das Heiratsalter steige – womit sich das tik- und Emanzipationsanspruch vertritt. Diese lässt sich bis zu Keuschheitsideal praktisch als immer unhaltbarer erwiesen habe FrühsozialistInnen wie Claire Démar zurückverfolgen und wird (vgl. Jungmann 1987, S. 698). zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem von den sog. „Freudo- Dass diese Lockerungen der Sexualmoral Männern und Frau- marxistInnen“ stark gemacht - während dem Parteimarxismus en nicht automatisch in gleichem Maße Freiheiten zubilligten, die Auseinandersetzung mit und Revolutionierung von sexuel- fndet sich bei Schachtel ausdrücklich refektiert. Dieser betont, len Verhältnissen nicht selten als „kleinbürgerliche Abweichung“ dass die – Anfang des 20. Jahrhunderts wenngleich erschütter- galt.20 Das Institut hingegen misst der Analyse sexualmoralischer te, so doch weiterhin vorhandene – gesellschaftliche Verurtei- Vorstellungen und Praktiken für die Entwicklung einer kriti- lung von außerehelichem Geschlechtsverkehr, unehelicher Ge- schen Gesellschaftstheorie große Bedeutung zu. So wird der Fra- burt, Ehebruch und Scheidung Frauen in ungleich stärkerem ge, in welchen Aspekten für die Zeit nach dem 1. Weltkrieg eine Maße trefe als Männer. Interessant ist dabei nicht zuletzt, dass Veränderung bzw. Lockerung der Sexualmoral zu verzeichnen ist Schachtel diese ‚doppelte Moral’ – neben den ungleichen ökono- nicht nur in den verschiedenen im Rahmen der Studien durch- mischen Voraussetzungen – als eine entscheidende Hürde dafür geführten empirischen Erhebungen nachgegangen, sondern mit interpretiert, dass Frauen gleiche Rechte selbst dort, wo sie ihnen dem Beitrag von „Fritz Jungmann“ (einem Pseudonym für Franz formal eingeräumt werden, kaum in Anspruch nehmen können Borkenau) auch ein eigenständiger Aufsatz gewidmet. 21 (vgl. Schachtel 1987, S. 593f. u. 596f.). Moralische Vorstellun- Letzterer kommt dabei zu dem Schluss, dass in der bürgerlichen gen und Aufassungen sind aus der Sicht Schachtels also kein zu Jugendbewegung keine „wirkliche Befreiung des Sexus statt- vernachlässigender, sondern für die Reproduktion hierarchischer gefunden“ (Jungmann 1987, S. 688) habe. Den Wandervogel Geschlechterverhältnisse zentraler Faktor. deutet Borkenau als eine von der Jugend des Kleinbürgertums Zusammengenommen laufen die Untersuchungen des Instituts getragene Bewegung, die im Wesentlichen eine Flucht vor der zu sexualmoralischen Entwicklungen auf die Diagnose hinaus, aktiven Auseinandersetzung mit der „doppelten (Sexual-)Moral“ dass sich auch auf diesem Gebiet Veränderungen vor allem hin- und den Anforderungen der Elterngeneration dargestellt habe ter dem Rücken oder über die Köpfe der Gesellschaftsmitglieder (vgl. Jungmann 1987, S. 679f.). Der radikaleren Jugendkultur- hinweg vollziehen. Der wirkliche Bruch mit der im Grunde sexu- bewegung attestiert Borkenau zwar, sexuelle Tabus durchbro- alfeindlichen, tabuistischen, Schuldgefühle erzeugenden bürger- chen, dabei aber „keine haltbare Umgestaltung der Beziehung lichen Sexualmoral steht damit nach wie vor aus, ja muss es aus der Geschlechter“ (Jungmann 1987, S. 688) zustande gebracht Sicht der Institutsmitglieder auch, kann dieser doch – wie Borke- zu haben. Beide Flügel der eben durch und durch bürgerlichen nau ganz ausdrücklich argumentiert – nur durch die Schafung Jugendbewegung unternahmen letztlich – so Borkenaus freu- einer anderen Gesellschaft vollzogen werden. domarxistische Einschätzung – nur ‚neurotische’ Versuche der Wurde bisher vor allem dargestellt, inwiefern die bürgerlich- Bearbeitung intergenerationeller und sexualmoralischer Kon- patriarchale Familie psychische Dispositionen hervorbringt, die eine reibungslose Einfügung in die bestehende Gesellschaft er- möglichen, hebt der Beitrag des Institutsdirektors doch zugleich 19 Auf die komplexe psychoanalytische Argumentation, die hinter hervor, dass auch dieser Familienkonstellation eine Dialektik dieser Tese steckt, kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht eingegan- innewohnt: Als eine der bürgerlichen Gesellschaft immanente gen werden. Vgl. dazu (Umrath 2014, S. 115f.). Institution, bescheinigt Horkheimer der Familie zwar, von ‚Ver- 20 Alexandra Kollontai, eine Zeitgenossin der Kritischen Teorie, stellt dinglichungstendenzen’ keineswegs frei zu sein (vgl. Horkheimer hier eine Ausnahme dar. In ihrem Brief an die sowjetische Jugend, 1987, S. 63). Diese nehmen ihm zu Folge die Gestalt spezifscher „Ein Weg dem gefügelten Eros“ (1923), wird jedoch ersichtlich, un- Rollen an, in denen sich die Familienmitglieder begegnen. So ter welchem Rechtfertigungsdruck ihre Position innerhalb der Partei werde „der Vater zum Geldverdiener, die Frau zum Geschlechts- stand. Für eine knappe Einführung in die Positionen Kollontais vgl. objekt oder zur häuslichen Leibeigenen und die Kinder, sei es Volk (2014). Die Saint-Simonistin Claire Démar verfasste 1833 in ihrer zu Erben des Vermögens oder zu lebendigen Versicherungen ..., Schrift „Meine Moral der Zukunft“ eine scharfe Kritik der herrschen- den christlichen Moral, die sie mit der Kritik an Privateigentum und von denen man alle Mühen später mit Zinsen zurück erwartet“ patriarchaler Gewalt verband und der sie die Vision einer vollkommen (Horkheimer 1987, S. 63). Zugleich aber habe anderen ‚Moral’ bzw. Gesellschaft entgegen stellte. 21 Auch Marie Jahoda-Lazarsfeld geht in ihrem Beitrag ‚Autorität „der Mensch in der Familie stets auch die Möglichkeit besessen, und Erziehung in der Familie, Schule und Jugendbewegung Österre- nicht bloss als Funktion sondern als Mensch zu wirken. Während ichs’ – wenngleich weniger ausführlich – auf sexualmoralische Aspekte im bürgerlichen Leben das gemeinschaftliche Interesse einen ein (vgl. Jahoda-Lazarsfeld 1987, S. 720-724). wesentlich negativen Charakter trägt und in der Abwehr von Ge-

125 fahren sich betätigt, hat es in der Geschlechtsliebe und vor allem System der bürgerlichen Lebensordnung selten eine andere Stätte in der mütterlichen Sorge eine positive Gestalt.“ (Horkheimer haben als eben die Familie.“ (Horkheimer 1987, S. 64)23 1987, S. 63) Da sich Horkheimer idealistische Argumentationen verbieten, Was Horkheimer hier betont ist die unterschiedliche Logik von bleibt ihm nichts anderes übrig, als innerhalb bestehender Insti- Familie und bürgerlicher Gesellschaft: Wo letztere den und die tutionen und Entwicklungen über diese hinausweisende Poten- EinzelneN nur als „Funktion“ und „Charaktermaske“ (Marx) ziale auszumachen. Die Betrachtung ist dabei aber gerade eine kennt, die sich dem Allgemeinen unterordnen müssen, besteht dialektische, keine idealisierende. Zweitens legt Horkheimers in der Familie zumindest die Möglichkeit, dass der und die kon- durch und durch anti-essenzialistische und historische Argu- krete Einzelne gilt und als solcheR die Aufmerksamkeit und Zu- mentation nahe, dessen Äußerungen zu „Weiblichkeit“ im Sinne wendung der übrigen Familienmitglieder erfährt. Insofern birgt einer „gesellschaftlich-kulturellen Existenzweise“ (Andrea Mai- die Familie im besten Fall ein Erfahrungsmoment, das über die hofer) zu interpretieren.24 ‚Weiblichkeit’ (und „Männlichkeit“!) isolierte, monadische Existenz der Individuen in der bürger- bedeutet demzufolge nicht lediglich „ideologische Verblendung“ lichen Gesellschaft hinausweist - die „Ahnung eines besseren oder „falsches Bewusstsein“, das mit Hilfe von Aufklärung und menschlichen Zustands“ (Horkheimer 1987, S. 64), in dem die etwas gutem Willen einfach abgelegt werden kann, sondern ist Menschen sich nicht als KonkurrentInnen gegenüber stünden, etwas gesellschaftlich-kulturell Bedingtes, das unser Denken, sondern das Glück des und der Anderen wünschen würden. Die Fühlen und Handeln, kurz: unser Sein bzw. unsere Existenz, Sphärentrennung ist für Horkheimer also dialektisch zu sehen: nachhaltig strukturiert und uns damit alles andere als äußerlich Sie stützt die bürgerlich-patriarchale Familienform und trägt zur bleibt. Horkheimer lässt sich in diesem Sinne verstehen, wenn er Produktion autoritärer Charaktere bei, enthält aber zugleich ein davon spricht, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen Potenzial für über die bürgerliche Gesellschaft hinausweisende Erfahrungen. „in dieser Ordnung der Dinge von Anfang an einen blossen Er- In der frauenforschenden Rezeption wurde dabei wiederholt satz (bedeutet, B.U.). Der ‚Beruf‘ der Frau, auf den sie durch ihre kritisiert, dass Horkheimer dieses emanzipatorische Poten- bürgerliche Erziehung und Charakterbildung innerlich angewie- zial an eine idealisierte Vorstellung von Mütterlichkeit binde sen ist, treibt sie nicht hinter den Verkaufsstand des Warenhauses und damit gerade keine kritische Perspektive auf bürgerliche oder an die Schreibmaschine, sondern zu einer glücklichen Ehe, „Weiblichkeit“ einnehme (vgl. Jagentowicz Mills 1987, S. 107- in der sie selbst Versorgung fndet und sich um ihre Kinder sor- 113; Rumpf 1989, S. 19f. u. 41). Dem ließe sich aus der Sicht gen kann.“ (Horkheimer 1987, S. 70) einer jüngeren Geschlechterforschung hinzufügen, Horkheimers Identifkation emanzipatorischer Potenziale verbleibe in einem Für den Institutsleiter ist es also eine ‚bestimmte Ordnung der zweigeschlechtlichen und heteronormativen Rahmen.22 Diese Dinge’ – die mit heutigen Begrifen präziser als bürgerliche Ge- Einwände sind insofern berechtigt, als die Kritische Teorie in schlechterordnung zu fassen wäre – die Erwerbstätigkeit und der Tat nicht über einen ausgearbeiteten, kritischen Begrif von (bürgerliche) ‚Weiblichkeit’ als Gegensätze erscheinen lässt. Als „Weiblichkeit“ oder „Männlichkeit“ verfügt, noch unterscheidet ‚eigentlicher’ oder ‚wahrer Beruf’ der Frau gilt hingegen eine – sie systematisch zwischen sex und gender oder problematisiert gar als glücklich imaginierte – Existenz als Gattin und Mutter. Die- die ‚Natur’ des sex. Allerdings hat sich die Einsicht, dass nicht se bürgerliche Geschlechterordnung bleibt Horkheimer zu Folge nur gender, sondern auch sex gesellschaftlich „konstruiert“ ist den Frauen keineswegs äußerlich und übergestülpt, sondern wird und Heteronormativität dabei eine zentrale Rolle spielt, auch in der Frauen- und Geschlechterforschung erst ab 1990 zunehmend durchgesetzt. Zu erwarten, dass die Kritische Teorie ihrer Zeit 23 Als eine weitere ‚Stätte’, die tendenziell emanzipatorische Tendenzen in dieser Hinsicht um Jahrzehnte voraus sein sollte, ist mehr als birgt, wird von Horkheimer und Wittfogel die proletarische Familie unrealistisch. angeführt. Deren Mitglieder, so die Argumentation, könnten durch die Mit den Begrifen einer jüngeren Geschlechterforschung ist es geteilte Erfahrung der Ausbeutung in der Lohnarbeit gemeinsame In- jedoch möglich, die Überlegungen Horkheimers nicht schlicht teressen entwickeln, die sie zugleich mit den anderen Mitgliedern ihrer als unkritisch zurückzuweisen, sondern auf produktive Weise Klasse verbinden. Die proletarische Familie berge somit das Potenzial von solidarischen Beziehung nicht bloß zwischen den GattInnen und zu deuten. Eine solche Interpretation ist kein willkürlicher Akt, Generationen, sondern auch über den beschränkten familiären Rah- sondern kann in zweierlei Hinsicht an Horkheimer anknüpfen: men hinaus. Was dem entgegen stehe sei allerdings eine ungleiche Zum Einen geht es diesem ausdrücklich nicht darum zu behaup- innerfamiliäre Arbeitsteilung und eine bereits strukturell gewordene ten, die bürgerlich-patriarchale Familie - und damit auch die in Arbeitslosigkeit, die durch die Verdrängung von Frauen aus dem Erw- ihr vorfndlichen Konzepte von „Weiblichkeit“ oder „Mütterlich- erbsleben zu bekämpfen gesucht wird (vgl. Horkheimer 1987, S. 70f.; keit - stellten in irgendeiner Form bereits einen idealen Zustand Wittfogel 1987, S. 519f.). Aus der Perspektive von Horkheimer und dar. Horkheimer sieht in dieser zwar „Vorstellungen und Kräfte“ Wittfogel weist die proletarische Familie damit sogar ein bedeutsameres am Leben, die potenziell über die bürgerliche Gesellschaft hin- emanzipatorisches Potenzial auf, beschränkt sich dieses doch nicht auf ausweisen, merkt dabei aber sofort an, dass diese die Familienmitglieder. Allerdings droht auch diese Möglichkeit ange- sichts zeitgenössischer Entwicklungen zu verkümmern. 24 Die anti-essenzialistische, dezidiert historische Argumentation „freilich nicht an die Existenz der gegenwärtigen Familie gebun- Horkheimers wird etwa deutlich, wenn er betont, von einer ‚menschli- den sind, ja unter dieser Form zu verkümmern drohen, aber im chen Natur’ könne nur insofern gesprochen werden, als gerade der ge- schichtliche Charakter als das ‚Wesen’ oder die ‚Natur’ des Menschen verstanden werde (vgl. Horkheimer 1987, S. 14 u. 20). Für ein Ver- 22 Dies merkten Ilse Lenz und Saida Ressel bei der Lektüre einer ersten ständnis von ‚Geschlecht’ als ‚bürgerlich-hegemonialer Diskurs’ und Fassung dieses Aufsatzes kritisch an. ‚gesellschaftlich-kulturelle Existenzweise’ vgl. Maihofer (1995).

126 durch entsprechende Erziehung und Charakterentwicklung ver- dien verweist auf ein tendenzielles Auseinanderklafen zwischen innerlicht und damit auch Bestandteil der eigenen Vorstellungen ökonomischen Entwicklungen, welche die Autorität des Gatten- von Glück und Erfüllung.25 Vaters auf eine gewisse Weise untergraben und psychologisch- Die Tatsache der Verinnerlichung von gesellschaftlichen Vorstel- kulturellen Dimensionen, in denen sich eben diese Autorität lungen und Aufassungen mag denn auch erklären, warum diese weitgehend unerschüttert zeigt. aus Sicht der Kritischen Teorie nichts sind, was durch ökono- Dieser Einschätzung schließen sich die Nachkriegsschriften mische Entwicklungen schlicht hinweg gefegt würde – wie es ein weitgehend an. 26 So argumentiert Horkheimer in seinem Auf- schematisches Verständnis von einer ‚determinierenden ökono- satz „Autorität und Familie in der Gegenwart“ von 1949, dass mischen Basis’ und einem ‚bloß abgeleitet-abhängigen Überbau’ die für die Familie des Bürgertums charakteristische patriar- nahelegen würde. Vielmehr nimmt die Kritische Teorie wie be- chale Autorität und die damit zusammenhängende Forderung reits angedeutet eine ‚relative Eigengesetzlichkeit’ der Kultur an, nach Monogamie im Zuge wirtschaftlicher Konzentrationspro- die sie – und hier spielt die Vorstellung unterschiedlicher Zeit- zesse zunehmend ihre ‚ökonomische Grundlage’ verliere. Wo lichkeit nun doch wieder eine Rolle – vor allem mit einem ‚cul- die ökonomische Struktur nicht mehr vorwiegend von Famili- tural lag’ erklärt, das heißt einer im Vergleich zu ökonomischen enbetrieben kleinen und mittleren Umfangs, sondern von mo- Prozessen langsameren Entwicklung kultureller Faktoren (vgl. nopolartigen Konzernen und großen Warenhäusern geprägt ist, Horkheimer 1987, S. 14 u. 19). Als ein Beispiel für diese ‚relative die neue berufiche Möglichkeiten eröfnen, relativiere sich die Eigengesetzlichkeit’ bzw. den ‚cultural lag’ führt Horkheimer die wirtschaftliche Macht des Gatten-Vaters: Für die bürgerlichen patriarchale Herrschaft in der Familie an: Diese könne sich auch Söhne schwinde die Disziplinierungskraft der Drohung mit bzw. dort erhalten, wo – etwa in Folge von Erwerbstätigkeit beider Angst vor der Enterbung in dem Maße, wie das, was der Vater zu Elternteile oder Arbeitslosigkeit – vererben vermag, nicht länger die bestmögliche soziale Position garantiert; für die (klein-)bürgerlichen Ehefrauen und Töchter „die materielle Grundlage dafür geschwunden ist (...) Die psychi- bieten sich mit der Zunahme an Angestelltenverhältnissen gesell- sche und physische Gewalt, die aus der ökonomischen entstan- schaftlich akzeptable eigenständige Erwerbsmöglichkeiten (vgl. den sind, erweisen dann die ihnen eigene Resistenzfähigkeit.“ Horkheimer 1967, S. 270f.). Während Horkheimer von ökono- (Horkheimer 1987, S. 71) mischen Entwicklungen eine Unterhöhlung der patriarchalen Struktur der Familie ausgehen sieht, meint er jedoch zugleich 4. Zur Einschätzung der Entwicklung von Familien- und zu erkennen, dass „die Gesellschaft ihre konventionelle Form“ Geschlechterverhältnissen in den Nachkriegsschriften (Horkheimer 1967, S. 273), d.h. ihre bürgerlich-patriarchale Ge- Sehr zum Missfallen vieler ZeitgenossInnen, die in der bürger- stalt, betone. lich-patriarchalen Kleinfamilie eine wenn nicht göttliche, so Auch Adorno konstatiert in seinen Nachkriegsschriften, dass von doch zumindest ewige und moralisch überlegene Familienform ökonomischen Entwicklungen Tendenzen zu einer Schwächung sehen wollten, hatte Friedrich Engels in Der Ursprung der Fami- der autoritären Stellung des Gatten-Vaters in der Familie ausge- lie, des Privateigentums und des Staats die Historizität von Fami- hen (vgl. Adorno 2003a, S. 303 u. 306; 1986, S. 631f.). In diesem lienformen und damit auch deren prinzipielle Veränderbarkeit Sinne argumentiert er etwa in seiner Einleitung zu einer Studie betont. Dabei fel Engels zufolge die Entstehung der patriarcha- von Gerhard Baumert, die sich mit Familien im Nachkriegs- len, monogamen Familie mit der Entstehung des Privateigen- deutschland beschäftigt, dass mit dem zunehmenden „Anteil der tums zusammen, ja erstere wird weitgehend als Instrument zur Frauen an der materiellen Versorgung der Familie“ auch „die Ba- Sicherung von letzterem analysiert. Engels für die marxistische sis ihrer traditionellen Einordnung in die patriarchal orientierte Tradition äußerst einfussreicher Klassiker tendiert so zu einem Familie“ schrumpfen würde (Adorno 1986, S. 632). Zugleich funktionalen, auf ökonomische Erfordernisse abzielenden Ver- führt Adorno statistische Daten wie die im Vergleich zu den Vor- ständnis patriarchaler Familienstrukturen. Demgegenüber hatte kriegsjahren erhöhten Zahlen an Scheidungen und sogenannten Horkheimer in den Studien über Autorität und Familie der pa- unvollständigen Familien an, die auf Veränderungen dessen hin- triarchalen Familienform eine ‚relative Eigengesetzlichkeit’ bzw. deuten, was er als traditionelle Familienverhältnisse bezeichnet ‚eigene Resistenzfähigkeit’ attestiert. Patriarchale Familienstruk- (vgl. Adorno 2003a, S. 308 u. 1986, S. 630). Adorno zufolge turen mögen sich demzufolge auch dort fnden, wo wie in den verändern sich aber nicht nur die faktischen Formen familialen entwickelten kapitalistischen Ländern im ersten Drittel des 20. (Nicht-)Zusammenlebens, sondern es lockern sich auch „(d)ie Jahrhunderts ihre ‚ökonomischen Grundlagen’ im Schwinden vorherrschenden Ansichten etwa über Ehescheidung, außerehe- begrifen sind. In anderen Worten: Die Zeitdiagnose der Stu- liche Mutterschaft, illegitimes Zusammenleben“ (Adorno 1986, S. 633). Allerdings betont Adorno das Widersprüchliche der jün- geren Entwicklungen: So würde doch gleichzeitig „die Ideologie 25 Wenn Ernst Schachtel in seinem Beitrag mehrfach auf den bürger- weiterhin die Familie als naturhaft-beständig feier(n)“, würden lichen Flügel der Ersten Frauenbewegung und dessen Kampf um den „Ehe und Familie als Institutionen durchwegs noch bejaht“ und Zugang zu gehobenen und akademischen Berufen eingeht, wird daraus auch wenn „die väterliche Autorität mit ihrem wirtschaftlichen zugleich ersichtlich, dass die Verinnerlichung von (bürgerlicher) ‚Weib- Fundament“ schwinde, habe sich doch „der gleiche Rang der Fa- lichkeit’ nicht unbedingt ausschließt, dass diese bzw. damit zusam- milienangehörigen keineswegs hergestellt.“ (Adorno 1986, S. 631 menhängende Platzzuweisungen auch als problematisch empfunden wird (vgl. Schachtel 1987, S. 600-606). Was daran als Einschränkung bzw. Zumutung empfunden wurde und inwieweit eine verinnerlichte (bürgerliche) ‚Weiblichkeit’ kritisiert oder umgekehrt als Argument 26 Im Folgenden wird sich dabei auf Aufsätze und kürzere Texte Te- für eine Zulassung von Frauen zu bestimmten als ‚weiblich’ erachteten odor W. Adornos und Max Horkheimers konzentriert. Ähnliche Über- Berufen in Anschlag gebracht wurde, war für radikale bzw. gemäßigte legungen und Einschätzungen fnden sich allerdings auch bei Herbert bürgerliche Frauenrechtlerinnen allerdings durchaus verschieden. Marcuse.

127 bzw. 633 bzw. 632) Angesichts derartiger Ungleichzeitigkeiten feministische Teoretikerinnen problematisieren Adorno und und Widersprüchlichkeiten gelangt Adorno letztlich zu der Ein- Horkheimer somit ein Verständnis von (weiblicher) Emanzipa- schätzung, die beschriebenen Veränderungen familiärer Verhält- tion, das im Kern Anpassung an männlich geprägte Strukturen nisse im Nachkriegsdeutschland seien weniger auf das bewusste und Existenzweisen bedeutet. Dieser „bloße(n) Imitation des pa- Handeln und Wollen der Menschen zurückzuführen. Eher set- triarchalen Prinzips“ hält Adorno die Vorstellung einer „Emanzi- ze sich die Tendenz zur Aufösung der bürgerlich-patriarchalen pation der Frauen kraft der Emanzipation der Gesellschaft“ (Ad- Familienform über die Köpfe eben dieser Menschen hinweg orno 2003a, S. 305) entgegen. Was eine solche Emanzipation durch (vgl. Adorno 1986, S. 633). Dabei sieht Adorno durchaus ausmachen würde, deutet er an anderer Stelle zumindest an. So in Ansätzen neue Bindungsformen wie die einer „auf Freiheit, betont Adorno in „Veblens Angrif auf die Kultur“ die Notwen- Einsicht und Neigung beruhenden Solidarität von Partnern glei- digkeit einer chen Ranges“ (Adorno 1986, S. 633) entstehen. Die Reichweite solcher Entwicklungen erscheint ihm allerdings begrenzt: „Veränderung in der Utopie der Emanzipation. Hofnung zielt nicht darauf, daß die verstümmelten Sozialcharaktere der Frauen „Daß eine Familie der ‚Gleichrangigkeit’ inmitten einer Gesell- den verstümmelten Sozialcharakteren der Männer gleich wer- schaft sich verwirklicht, in der die Menschheit nicht selbst mün- den, sondern daß einmal mit dem Antlitz der leidenden Frau das dig, die Menschenrechte nicht in weit fundamentalerem und des tatenfrohen, tüchtigen Mannes verschwindet; daß von der universalerem Sinne hergestellt wären“, eine solche Vorstellung Schmach der Diferenz nichts überlebt als deren Glück.“ (Adorno bezeichnet Adorno als „wohl illusionär.“ (Adorno 2003a, S. 309) 2003c, S. 82)

Eine „Emanzipation der Familie ohne die Emanzipation des Was hier en passant skizziert wird ist die Idee einer Emanzipati- Ganzen“ ist für Adorno eben keine Emanzipation im emphati- on nicht nur der Frauen, sondern der Geschlechter, die mit den schen Sinne, „eine Familie aus Freiheit“ lässt sich für Adorno nur bisherigen Konzepten von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ in einer freien Welt verwirklichen (Adorno 2003a, S. 309). brechen würde.28 Eine solche Emanzipation würde zugleich die Was die Entwicklungen der Geschlechterverhältnisse angeht, bürgerliche Gesellschaft insgesamt in Frage stellen und letztlich erwähnen Horkheimer und Adorno vor allem die zunehmende aus den Angeln heben. Emanzipation wäre also eine umfassende Erwerbstätigkeit auch bürgerlicher Frauen und die damit sinken- ‚Aufhebung’ im hegelschen Sinne, die eben nicht nur die in der de ökonomische Abhängigkeit. Allerdings haben sich für Hork- marxistischen Tradition häufg im Vordergrund stehenden öko- heimer damit „die grundlegend patriarchalen Züge der Gesell- nomischen Verhältnisse, sondern auch die nicht unabhängig von schaft … nicht wirklich verändert“; vielmehr müssen sich nun diesen existierenden, aber durchaus ihre ‚relative Eigengesetz- die Frauen „als Brotverdiener den Lebensformen anpassen, die lichkeit’ aufweisenden Familien- und Geschlechterverhältnisse von Männern für Männer gestaltet wurden“ (Horkheimer 1967, umwälzen würde. S. 273). Eine ähnliche Argumentation fndet sich bei Adorno in den Minima Moralia: Zwar sei das, was in der marxistischen Tra- Literaturverzeichnis dition als ‚Frauenfrage’ bezeichnet worden war Adorno, T. W. (1986). Einführungen in die Darmstädter Ge- meindestudie: Gerhard Baumert, Deutsche Familien nach dem „durch die Aufösung der ‚männlich‘-liberalen Konkurrenzwirt- Kriege. In Gesammelte Schriften, Bd. 20.2 (S. 629–634). Frank- schaft, durch den Anteil der Frauen am Angestelltentum, in dem furt am Main: Suhrkamp. sie so selbständig sind wie die unselbständigen Männer, durch Adorno, T. W. (2003a). Zum Problem der Familie. In Gesam- die Entzauberung der Familie und die Lockerung der Sexualta- melte Schriften, Bd. 20.1 (S. 302–309). Frankfurt am Main: bus an der Oberfäche nicht mehr ‚akut‘. Zugleich aber hat der Suhrkamp. Fortbestand der traditionellen Gesellschaft die Emanzipation der Adorno, T. W. (2003b). Minima Moralia. Refexionen aus dem Frau verbogen.“ (Adorno 2003b, S. 103) beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, T. W. (2003c). Veblens Angrif auf die Kultur. In Ge- Dass Adorno überhaupt von Emanzipation spricht lässt vermu- sammelte Schriften, Bd. 10.1 (S. 72-96). Frankfurt am Main: ten, dass er das Befreiende dieses Prozesses durchaus sieht. Aller- Suhrkamp. dings betont er die Dialektik dieser Entwicklungen: Zum Ob- Becker-Schmidt, R. (2003). Zur doppelten Vergesellschaftung jekt eines verselbständigten Produktionsprozesses bedeutet eben von Frauen. Soziologische Grundlegung, empirische Rekonstruk- nicht Befreiung in einem emphatischen Sinne, sondern vor allem tion. http://web.fu-berlin.de/gpo/pdf/becker_schmidt/becker_ auch ‚Entfremdung‘. schmidt_ohne.pdf (Eingesehen am 16.11.2010). Interessant ist dabei, dass Adorno und Horkheimer in diesem Becker-Schmidt, R. (2009). Nicht zu vergessen: Frauen am Zusammenhang bereits auf ein Dilemma stoßen, das später die feministische Teorie eingehend beschäftigen sollte: Das von Gleichheit und Diferenz.27 Wo Horkheimer einen auf Frauen la- 28 Wie bereits angedeutet versteht die Kritische Teorie anders als stenden Druck zur Anpassung an ‚männliche’ Lebensformen in heutige Geschlechterforschung Zweigeschlechtlichkeit noch nicht als einer weiterhin patriarchalen Gesellschaft diagnostiziert, heißt durch und durch gesellschaftliches Phänomen. Insofern konnte sie auch es bei Adorno, „die männliche Gesellschaft“ habe mit dieser ‚ver- nur bedingt die Möglichkeit einer von Zweigeschlechtlichkeit emanzip- ierten Gesellschaft denken. Wenn Adornos Emanzipationsvision hier bogenen’ Emanzipation vor allem „ihr eigenes Prinzip ... ausge- die Notwendigkeit eines Bruchs mit bestehenden Konzepten von ‚Weib- dehnt“ (Adorno 2003b, S. 104). Ähnlich wie später diferenz- lichkeit’ und ‚Männlichkeit’ betont, wirft dies jedoch die Frage auf, in- wiefern wir es in der von ihm antizipierten Gesellschaft überhaupt noch mit ‚Männlichkeit’ und ‚Weiblichkeit’ zu tun hätten und bieten sich 27 Vgl. hierzu u.a. Maihofer (1995). so Anschlussmöglichkeiten für jüngere queertheoretische Perspektiven.

128 Frankfurter Institut für Sozialforschung. Gretel Adorno, Mon- Diskussion. In L. Gasteiger, M. Grimm, & B. Umrath (Hg.), Te- ika Plessner und Helge Pross. In M. Boll & R. Gross (Hg.), Die orie und Kritik. Dialoge zwischen diferenten Denkstilen und Tradi- Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Frankfurt. tionen. Bielefeld: transcript Verlag. (S. 64–69). Göttingen: Wallstein Verlag. Jungmann, F. (1987). Autorität und Sexualmoral in der freien Boeckmann, S. L. von. (2004). Te Life and Work of Gretel bürgerlichen Jugendbewegung. In M. Horkheimer, E. Fromm, Karplus/Adorno: Her Contributions to Frankfurt School Te- H. Marcuse, & et.al. (Hg.), Studien über Autorität und Familie. ory. University of Oklahoma. https://shareok.org/bitstream/ Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. (S. 669– handle/11244/791/3147180.PDF?sequence=1 (Eingesehen am 705). Lüneburg: Dietrich zu Klampen Verlag. 25.02.2015). Knapp, G.-A. (1996). 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Barbara Umrath (Köln) hat am 19. Oktober 2012 in Bremen einen Vortrag zum Tema „Odysseus, Penelope und He-Man – Kritische Teorie zu Subjektkonstitution und Geschlecht“ gehal- ten. Siehe: https://associazione.wordpress.com/2012/07/31/barbara-um- rath-koln-odysseus-penelope-und-he-man-kritische-theorie-zu- subjektkonstitution-und-geschlecht/

130 associazione delle talpe Veranstaltungschronik

2007 Eine Einführung zu den Institutionen und Logiken der Finanz- sphäre Ingo Elbe (rote ruhr uni Bochum): Diskussionsveranstaltung am 27. Juni 2008 Einführung in die materialistische Staatstheorie Wochenendseminar am 10.-11. März 2007 Ingo Stützle (Berlin): Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie von Karl Udo Wolter (Berlin): Marx Universalistischer Rassismus, getarnt als “Islamismuskritik”? Wochenendseminar am 6.-7. September 2008 Die aktuellen Debatten um Islamismus und der postkoloniale Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Antirassismus Diskussionsveranstaltung am 15. Juni 2007 TOP Berlin: Globalisierungskritik und Antikapitalismus von Neonazis. TOP Berlin: Zur Kritik des völkischen Antikapitalismus. Dabeisein ist nicht alles. Diskussionsveranstaltung am 11. September 2008 Über Globalisierungskritik, den G8-Gipfel und die Kritik da- Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie ran. Diskussionsveranstaltung am 22. Juli 2007 Bernd Hüttner (Bremen) / Moritz Zeiler (Bremen): Einführung zu Geschichte, Teorie und Rezeption des Operais- Ingo Elbe (rote ruhr uni Bochum): mus. Revolutionstheorie und ihre Kritik. Von Marx bis Holloway. Tagesseminar am 27. September 2008 Diskussionsveranstaltung am 5. Oktober 2007 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie

Lars Stubbe (Hamburg) / Marcel Stötzler (Manchester): Associazione delle talpe (Bremen): Die Welt verändern, ohne die Macht zu ergreifen. Eine Einfüh- Einführung in die Kritik des Antisemitismus rung in Open Marxism Tagesseminar am 18. Oktober 2008 Diskussionsveranstaltung am 23. Oktober 2007 „Ich hätte nicht geglaubt, wozu die Deutschen fähig sind.“ Veranstaltungsreihe in Gedenken der Novemberpogrome von Martin Cüppers (Berlin): 1938. Halbmond und Hakenkreuz – Das “Dritte Reich”, die Araber und Palästina. Detlev Claussen (Hannover): Buchvorstellung und Diskussionsveranstaltung am 9. Novem- Der 9. November – ber 2007 „Reichskristallnacht“ oder Novemberpogrom? Diskussionsveranstaltung am 21. Oktober 2008 „Ich hätte nicht geglaubt, wozu die Deutschen fähig sind.“ 2008 Veranstaltungsreihe in Gedenken der Novemberpogrome von 1938. Fabian Kettner (rote ruhr uni Bochum): Zur Kritik der Bewegungstheorie von Hardt/Negri und Hol- Joachim Bellgart (Bremen): loway. Stadtspaziergang: Das November-Pogrom von 1938 in Bremen Diskussionsveranstaltung am 8. Februar 2008 Stadtrundgang am 8. November 2008 „Ich hätte nicht geglaubt, wozu die Deutschen fähig sind.“ Daniel Kulla (Berlin): Veranstaltungsreihe in Gedenken der Novemberpogrome von Entschwörungstheorie – Niemand regiert die Welt. 1938. Buchvorstellung und Diskussionsveranstaltung am 22. Februar 2008 Tobias Ebbrecht (Berlin): Im Zeichen des Opfers – Ingo Elbe (Bochum) / Heide Gerstenberger (Bremen) / Ingo Zum Stand der deutschen Vergangenheitsbewältigung Stützle (Berlin): Diskussionsveranstaltung am 28. November 2008 Staat und Globalisierung – 2009 Zur Aktualität materialistischer Staatskritik. Podiumsdiskussion und Tagesseminar am 29. Februar und 1. Gunnar Schubert (Dresden): März 2008 Te Great Dresden Swindle Michael Heinrich (Berlin): Buchvorstellung und Diskussionsveranstaltung am 6. Januar 2009 Reine Spekulationssache?

131 Ingo Elbe (rote ruhr uni Bochum): Olaf Kistenmacher (Hamburg): Marx im Westen. Zur Kritik des Antizionismus. Die Neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965. Tagesseminar am 17. Oktober 2009 Buchpräsentation und Diskussionsveranstaltung am 23. Januae Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie 2009 Volker Weiss (Hamburg): Bini Adamczak (Berlin): Die Entwicklung rechter Ideologie hin zum Nationalsozialismus Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Ge- Wochenendseminar am 7.-8. November 2009 spenster … und die Rekonstruktion der Zukunft. Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Buchpräsentation und Diskussionsveranstaltung am 22. Februar 2009 Daniel Schlüter (Hamburg): Was tun, wo es brennt. Eine kleine Geschichte des autonomen Michael Heinrich (Berlin): Antifaschismus Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx. Das Kapital Diskussionsveranstaltung am 13. November 2009 Band 1. Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Wochenendseminar am 28. Februar – 1. März 2009

Zwi (Frankfurt am Main) / Negator (Hamburg): 2010 Geschichte und Teorie der Situationistischen Internationale. Wochenendseminar am 21.-22. März 2009 Ingo Elbe (rote ruhr uni Bochum): Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Privateigentum – „tief im Wesen des Menschen“ begründet? Zur Entstehung und Kritik des bürgerlichen Eigentumsbegrifs Heide Gerstenberger (Bremen) / John Kannankulam (Frank- Diskussionsveranstaltung am 3. Februar 2010 furt am Main): Krise, Staat und emanzipatorische Intervention. Martin Büsser (Mainz): Diskussionsveranstaltung am 26. März 2009 Der Junge von nebenan Buchvorstellung am 5. Februar 2010 Warum Israel (Regie Claude Lanzmann) Filmvorführung am 16. April 2009 Werner Bonefeld (York, Großbritannien): Kommunismus als Bewegung der Commune? Jan Sparsam (Bremen) / Oliver Barth (Bremen): Der Marxsche Begrif der ursprünglichen Akkumulation und Kritische Teorie gestern und heute. seine Bedeutung für eine kritische Analyse der kapitalistischen Tagesseminar am 23. Mai 2009 Verhältnisse. Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Diskussionsveranstaltung am 19. Februar 2010

Gruppe never going home (Berlin): Richard Gebhardt (Aachen): Fragwürdige Traditionslinien. Zur Kritik des völkischen Antikapitalismus Staufenberg und der 20. Juli 1944 im deutschen Erinnerungs- Diskussionsveranstaltung am 8. April 2010 diskurs. Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Diskussionsveranstaltung am 9. Juni 2009 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Kritikmaximierung (Hamburg): Kunst. Linke. Gesellschaftliche Emanzipation. Joachim Bellgart (Bremen): Diskussionsveranstaltung am 24. April 2010 Jüdisches Leben in Bremen. Fahrradtour am 30. August 2009 Yvonne Robel (Hamburg) / Kathrin Herold (Bremen): Einführung in die Kritik des Antiziganismus. Bini Adamczak (Berlin): Tagesseminar am 15. Mai 2010 Die Russische Revolution und ihre Folgen Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Wochenendseminar am 19.-20. September 2009 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Volker Weiss (Hamburg): Einführung in Teorien über Faschismus und Nationalsozialis- Gruppe LeA (Leipzig): mus. Still not lovin’ Germany! Wochenendseminar am 21.-22. August 2010 Zur Kritik der deutschen Einheitsfeierlichkeiten Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Diskussionsveranstaltung am 21. September 2009 Moritz Zeiler (Bremen): Tomas Ebermann (Hamburg): Einführung in die materialistische Staatskritik Die Geschichte der antinationalen Linken. Tagesseminar am 26. September 2010 Diskussionsveranstaltung am 25. September 2009 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie

132 Detlev Claussen (Hannover): Hanning Voigts (Hamburg): Deutschland und sein Ethnonationalismus Entkorkte Flaschenpost. Herbert Marcuse, Teodor W. Adorno Diskussionsveranstaltung am 28. September 2010 und der Streit um die neue Linke Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Buchvorstellung und Diskussionsveranstaltung am 15. Juli 2011 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Joachim Bellgart (Bremen): Das November-Pogrom von 1938 in Bremen. Valeria Bruschi (Berlin) / Antonella Muzzupappa (Berlin): Stadtrundgang am 6. November 2010 Einführung in die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Das Kapital Band 1 Joachim Bellgart (Bremen): Wochenendseminar am 17.-18. September 2011 Die Geschichte der Bremer Räterepublik Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Stadtrundgang mam 27. November 2010 Fritz Burschel (Berlin) / Initiative gegen jeden Extremismus- Nadja Rakowitz (Frankfurt am Main): begrif (Leipzig): Die Kritik am Zins – Eine Sackgasse der Kapitalismuskritik Zur Kritik des Extremismusbegrifs. Diskussionsveranstaltung am 11. November 2010 Diskussionsveranstaltung am 11. November 2011 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Heide Gerstenberger (Bremen): Arbeitsverhältnisse im Kapitalismus Antifaschistischen Frauenblock Leipzig (AFBL) / Hannah Diskussionsveranstaltung am 10. Dezember 2010 Holme (Berlin): Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Begrife von Gewicht. Patriarchat oder heteronormative Matrix? Diskussionsveranstaltung am 18. November 2011 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie 2011 Anita Fischer (Frankfurt am Main): Sven Ellmers (rote ruhr uni Bochum) / Lothar Peter (Bre- Staat und Geschlechterverhältnisse men): Eine Einführung in die zentralen Debatten einer feministisch- Abschied oder Update – Was tun mit dem Klassenbegrif? gesellschaftstheoretischen Staatstheorie. Diskussionsveranstaltung am 18. Januar 2011 Diskussionsveranstaltung am 2. Dezember 2011 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie

Florian Eisheuer (Berlin): Robin Stoller (Berlin): Böse Rasse – Gute Kultur? Staat, Ökonomie und Geschlecht – Zur (Re-)Produktion von Einführung in die Kritik von Rassismus und Kulturalismus. Geschlechterverhältnissen im Kapitalismus. Tagesseminar am 5. Februar 2011 Tagesseminar am 10. Dezember 2011 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie

Volker Weiss (Hamburg): Deutschlands Neue Rechte. 2012 Angrif der Eliten – Von Spengler bis Sarrazin Buchvorstellung und Diskussionsveranstaltung am 12. April Moritz Zeiler (Bremen) / Oliver Barth (Oldenburg): 2011 Lektürekurs zu Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Ökonomie. Band 1 Wöchtentlicher Lektürekurs von Februar – Dezember 2012 Moritz Zeiler (Bremen): Einführung in Faschismustheorien. Martin Wassermann (Berlin): Wochenendseminar am 16.-17. April 2011 Von Nazi-Ufos zum 11. September – Zur Kritik am Verschwö- Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie rungsdenken. Diskussionsveranstaltung am 2. März 2012 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Oliver Barth (Bremen) / Bernd Kasparek (München) / Nadja Rakowitz (Frankfurt am Main): Torsten Mense (Göttingen): Von Staats wegen. Nationale Befreiung oder Befreiung von der Nation? Konferenz zu Debatten materialistischer Staatskritik. Diskussionsveranstaltung am 16. März 2012 Tagung am 11. Juni 2011 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie

Jens Benicke (Freiburg): Olaf Kistenmacher (Hamburg): Von Adorno zu Mao. Über die schlechte Aufhebung der antiau- Sekundärer Antisemitismus – ein Erklärungsansatz für Israel- toritären Bewegung. Feindschaft in der Linken? Buchvorstellung und Diskussionsveranstaltung am 9. Juli 2011 Diskussionsveranstaltung am 27. April 2011 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie

133 Hendrik Wallat (Hannover): Diskussionsveranstaltung am 24. Mai 2013 Einführung in den Fetischbegrif bei Marx Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Diskussionsveranstaltung am 26. Juni 2012 Nadja Rakowitz (Frankfurt am Main): Valeria Bruschi (Berlin) / Antonella Muzzupappa (Berlin): Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation und die Durchset- Einführung in die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. zungsgeschichte des Kapitalismus Das Kapital Band 1 Diskussionsveranstaltung am 5. Juni 2013 Wochenendseminar am 13.-14. Oktober 2012 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Pia Garske (Berlin): Barbara Umrath (Köln): Marx und Geschlechterverhältnisse – von weißen Flecken, Ne- Odysseus, Penelope und He-Man – benwidersprüchen und feministischen Interventionen. Kritische Teorie zu Subjektkonstitution und Geschlecht Diskussionsveranstaltung am 19. Juni 2013 Diskussionsveranstaltung am 19. Oktober 2012 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie

Achim Bellgart (Bremen): Raban Witt (Bremen): Das November-Pogrom vom 9. November 1938 in Bremen. „… daß jeder Satz nicht nur sprach, sondern wie ein Schuß traf.“ Stadtrundgang am 8. November 2012 (Stalin über Lenin) – Zur Kritik Lenins Diskussionsveranstaltung am 18. Oktober 2013 Ingo Stützle (Berlin): Was ist Geld? … bei Marx, Keynes und der Neoklassik. Eine Achim Bellgart (Bremen): Kategorie, drei Antworten Geschichte des 9. November 1938 in Bremen Diskussionsveranstaltung am 16.11.2012 Stadtrundgang am 7. November 2013 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Olaf Kistenmacher (Hamburg): Ingo Stützle (Berlin): Einführung in die Kritik des Antisemitismus Einführung ins ABC der Ökonomie Tagesseminar am 2. November 2013 Wochenendseminar am 17.-18. November 2012 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Peter Bierl (Diessen am Ammersee): Janne Mende (Berlin): Schulen für Arier – Kulturalismus und Universalismus Zur Kritik an Waldorfpädagogik und Anthroposophie Diskussionsveranstaltung am 23. November 2012 Diskussionsveranstaltung am 10. Dezember 2013 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Michael Heinrich (Berlin): Einführung in die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Das Kapital Band 2 und Band 3 2014 Wochenendseminar am 1. -2. Dezember 2012 Oliver Barth / Moritz Zeiler: Lektürekurs zu Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen 2013 Ökonomie. Band 1 Wöchentlicher Lektürekurs von Februar bis November 2014 Oliver Barth / Moritz Zeiler: Lektürekurs zu Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen associazione delle talpe: Ökonomie. Band 1 Lektürekreis zu Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Wöchentlicher Lektürekurs von Februar bis Dezember 2013 Ökonomie. Band 2-3 Wöchentlicher Lektürekurs von Februar bis November 2014 Peter Bierl (Diessen am Ammersee): Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn. Kapitalismuskri- Ingo Elbe (Bremen): tik von rechts – Der Fall Silvio Gesell Die fortwährende Bedeutung des Kronjuristen des Nationalso- Diskussionsveranstaltung am 2. Februar 2013 zialismus – Über Carl Schmitts faschistischen Begrif des Politi- Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie schen und seine Nachwirkung in der Gegenwart Diskussionsveranstaltung am 16. Januar 2014 Claudia Barth (München): Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Über alles in der Welt – Esoterik und Leitkultur. Einführung in die Kritik der Esoterik. Achim Bellgart (Bremen): Diskussionsveranstaltung am 22. Februar 2013 Kritische Geschichte der Bremer Böttcherstraße Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Stadtführung am 16. Februar 2014

Ingo Elbe (Bremen): Volker Weiß (Hamburg): Lesarten der Marxschen Teorie. Eine Einführung Kritischer Abriss zur Geschichte des Konservatismus

134 Diskussionsveranstaltung am 18. März 2014 Horst Pankow (Berlin): Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie „Kraft der Negation“? – Anmerkungen zur Geschichte der antideutschen Linken Peter Bierl (Diessen am Ammersee): Diskusssionsveranstaltung am 08. Mai 2015 Making anarchism a threat again? Eine kritische Auseinander- setzung mit aktuellen anarchistischen Debatten. associazione delle talpe Diskussionsveranstaltung am 3. Juni 2014 Kritik der Nüchternheit - Eine praxisorientierte Einführung Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie Party - 10 Jahre associazione delle talpe am 12. Juni 2015 associazione delle talpe: 80 Millionen Hooligans. Deutsche Zustände im Fokus antina- Ausblick tionaler und antideutscher Kritik. Tagesseminar am 18. Oktober 2014 Jan Hof (Diessen am Ammersee): Befreiung heute. Das emanzipationstheoretische Denken bei Frank Apunkt Schneider (Bamberg): und im Anschluss an Marx Deutschpop, halt’s Maul! Diskussionsveranstaltung am 30. Oktober 2015 Für eine Ästhetik der Verkrampfung … Diskussionsveranstaltung am 7. November 2014 Jan Hof (Diessen am Ammersee): Revolutionäres Denken nach der Oktoberrevolution: Heribert Schiedel (Wien): Korsch und Lukacs Marx und die „Judenfrage“ – Chancen und Grenzen der Kritik Tagesseminar am 31. Oktober 2015 der politischen Ökonomie zur Erklärung des Antisemitismus Diskussionsveranstaltung am Freitag, 21. November 2014 Jan Hof (Diessen am Ammersee): Krisentheoretische Diskussionen während und nach der Andreas Peham und Heribert Schiedel (Wien): Weltwirtschaftskrise: Pannekoek und Mattick Kritische Antisemitismustheorien Tagesseminar am 1. November 2015 Tagesseminar am 22. November 2014 Klaus Bittermann (Berlin): Michael Heinrich (Berlin): Eike Geisel - Die Wiedergutwerdung der Deutschen Einführung in die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Buchvorstellung am 13. November 2015 Das Kapital. Band 2-3 Wochenendseminar am 6.-7. Dezember 2014 Michael Heinrich (Berlin): Einführung in die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Das Kapital. Band 2-3 2015 Wochenendseminar am 28.-29. November 2015

Oliver Barth / Moritz Zeiler: Lektürekurs zu Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1 Wöchentlicher Lektürekurs von Februar bis November 2015 associazione delle talpe: Lektürekreis zu Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 2-3 Wöchentlicher Lektürekurs von Februar bis November 2015

Peter Bierl (Diessen am Ammersee): Grüne Braune – Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von rechts Diskussionsveranstaltung am 13. Februar 2015 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie

Rainer Trampert (Hamburg): Europa zwischen Weltmacht und Zerfall Diskussionsveranstaltung am 13. März 2015

Klaus Törner (Oldenburg): „Arbeit macht frei“ – Über den Zusammenhang von deutschAr- beitswahn und Antisemitismus Diskussionsveranstaltung am 24. April 2015 Reihe intros. Einführungen in kritische Gesellschaftstheorie

135 Veröfentlichungen

Staatsfragen - Einführungen in materialistische Staatskritik rls paper, 2009 Mit Beiträgen von Ingo Elbe, Heide Gerstenberger, Michael Heinrich, John Kannankulam, Birgit Sauer, Ingo Stützle, Moritz Zeiler

Maulwurfsarbeit - Aufklärung und Debatte, Kritik und Subverison rls paper, 2010 Mit Beiträgen von Werner Bonefeld, Ingo Elbe, Richard Geb- hardt, Michael Heinrich, Olaf Kistenmacher, Lars Meyer, Lot- har Peter, Nadja Rakowitz, Udo Wolter, Moritz Zeiler

Maulwurfsarbeit II - Kritik in Zeiten zerstörter Illusionen rls paper, 2012 Mit Beiträgen von Bini Adamczak, Antifaschistischer Frauen- block Leipzig, Jens Benicke, Fritz Burschel, Barbara Fried, Olaf Kistenmacher, Torsten Mense, Hanning Voigts, Hendrik Wal- lat, Martin Wassermann

Maulwurfarbeit III rls paper, 2015 Mit Beiträgen von Claudia Barth, Peter Bierl, Tomas Eber- mann, Ingo Elbe, Andreas Peham, Frank Apunkt Schneider, Rainer Trampert, Barbara Umrath, Volker Weiß

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