Titel Der lange Weg zum kurzen Abschied Das Protokoll eines Machtkampfs SEYBOLDT-PRESS REUTERS DER SIEG IN NIEDERSACHSEN macht Schröder zum Kanzlerkandidaten der SPD. Lafontaine muss ihn vom fernen Saarbrücken aus dazu ernen- nen – Rivalen der Macht bleiben sie dennoch.

SONNTAG, 1. MÄRZ 1998, HANNOVER. Er zweifelt wohl selbst daran, dass man es ihm ansehen kann. Es reicht für Schröder. „Hallo Kandidat“, sagt Oskar Lafontaine Schon am Nachmittag war Lafontaine mit Söhnchen Carl-Mau- am Telefon, noch bevor die Hochrechnungen keinen Zweifel mehr rice auf den Schultern über den Balkon geturnt. Die ersten Trends lassen an einem überwältigenden Sieg. Knapp 48 Prozent – nicht hatten seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Zum zwei- nur für die SPD, sondern vor allem für Gerhard Schröder. Ein Nie- ten Mal nach 1990 ist sein Lebenstraum vom Kanzleramt zerstört. dersachse solle endlich Kanzler werden. Und ausgerechnet der Hannoveraner würde kriegen, was er im- Es ist Lafontaines zweiter Anruf in Schröders Dachwohnung. mer wollte. Schon gegen 16 Uhr hatte er, als die Institute erste Trends mel- deten, ein paar nette Worte verloren. Schröder macht sich auf in MONTAG, 2. MÄRZ, BONN. sein Büro in der Staatskanzlei, wo Lachs-Häppchen stehen und Die Mitarbeiter des Parteivorstands haben sich im Ollenhauer- Champagner, Marke „Paul Eveque“. Monatelang hat er sich al- Haus zum Jubelspalier aufgereiht – Gerd ist der Größte, aber lenfalls mal einen Schluck gegönnt. ohne Oskar ist alles nichts. Schröder und Lafontaine machen den Um ihn herum fiebern Gattin Doris Köpf, Bürochefin Sigrid Eindruck, als sei die Eindeutigkeit des letzten Abends nur ein kur- Krampitz, Sekretärin Doris Scheibe, Amtschef Frank-Walter zer Traum gewesen. Steinmeier, Wirtschaftsstaatssekretär Alfred Tacke, Regierungs- Nun sieht es plötzlich wieder aus, als sei alles so offen wie zu- sprecher Uwe-Karsten Heye, Schröders Freund, der Anwalt Götz vor. „Sehr ruhig, sehr bescheiden“, heißt es, habe Schröder im Vor- von Fromberg – die politische Familie. stand die Leistung seiner Partei gewürdigt; „fast weihevoll“ habe Auf dem schwarzen Ledersofa hat sich Bodo Hombach ausge- Lafontaine gesprochen. breitet, das Handy unentwegt am Ohr. Im Siegesjubel versuchen Rivalität? Die alten Geschichten scheinen vergessen. Aber wie die Hannoveraner, den Mann aus NRW nicht für einen Fremd- lange? Sieben Monate muss das Duo fehlerfrei seinen Paarlauf ab- körper zu halten. Lafontaines dritter Anruf, der offizielle: Glück- solvieren. Sieben Monate muss Lafontaine seine Spitzen gegen wunsch von Ministerpräsident zu Ministerpräsident. den Kandidaten unterdrücken, den er für eine Art kleinen Bru- Schröder geht erst spät hinüber in den Landtag. Journalisten aus der hält und manchmal für etwas unseriös. aller Welt haben ihre Satelliten-Ohren aufgebaut, allein für den An diesem Montag, kurz nach eins, kann sich der Sieger, sonst NDR sind 200 Kräfte im Einsatz. „Dieser Tag ist natürlich schon nicht gerade das Idol der SPD-Gremien, der Händeschüttler kaum eine Wucht“, sagt Schröder, „die Ära Kohl ist zu Ende.“ erwehren. Will er auch nicht. Johannes Rau, der nordrhein-west- Der ewige CDU-Kanzler hatte kurz zuvor noch Wetten auf den fälische Ministerpräsident, rückt an seine Seite: „Wir lassen nichts Kandidaten Lafontaine abgeschlossen. Verloren. Dabei hatte er mehr anbrennen.“ selbst 1993 am Rande der Hannover-Messe auf einen Bierfilz ge- Der Vorstand bestätigt den Kandidaten durch Wahl, drei Ge- kritzelt: „Schröder wartet bis 1998.“ nossen enthalten sich der Stimme. Eine Stunde lang beantwortet ein aufgekratzter Schröder danach die Fragen der Journalisten. SONNTAG, 1. MÄRZ, SAARBRÜCKEN. Das Programm sei abgestimmt. Im Fall des Sieges würde die Kür- Eine Haustür, in der Straße Am Hügel, öffnet sich, heraus tritt ein zung der Lohnfortzahlung zurückgenommen, die Rentenreform feixender Oskar Lafontaine. Er balanciert auf einem Tablett korrigiert, das Steuersystem modernisiert Schnapsgläser zum Zaun, wo seit Stunden die Journalisten war- Oskar Lafontaine sitzt schweigend daneben, er hört, lächelt und ten. Großaufnahme: Mirabellenschnaps. Und eine Grinse-Gri- nickt zuweilen. Manchmal flüstert er Schröder etwas zu, bevor der masse, gefroren. antwortet. Nur eine Frage beantwortet der Saarländer selbst: als Nein, dies ist nicht das Ergebnis, auf das Oskar Lafontaine ge- es um die Wirtschaftspolitik geht. Schröder schiebt den Unter- hofft hat. „Sie sehen“, sagt er, „der Parteivorsitzende ist fröhlich.“ kiefer vor: Haifischlächeln. Am Rande murmelt ein Lafontaine-

116 der spiegel 40/1999 Fan, dass es nun ganz wichtig sei, den Kandidaten programmatisch einzumauern. DER LEIPZIGER PAR- TEITAG ist der Beginn Alles scheint immer noch wie früher. der großen Show des unzertrennlichen Duos. SAMSTAG, 7. MÄRZ, HANNOVER. Gerhard Schröder feiert Hochzeit mit Doris Köpf.Aber vorher ist tefering und seine noch Geschäftliches zu erledigen. Kurz vor acht fährt das VW-Auf- Mannen hatten ein sichtratsmitglied Schröder zum Flughafen. Im Jet wartet VW-Vor- Ziel: Gänsehaut für stand Ferdinand Piëch. Der Flug geht nach London, zu den Bos- jeden, wenn Ger- sen von Rolls-Royce. In Crewe, 250 Kilometer nordwestlich der hard Schröder und Hauptstadt, besichtigen die beiden das feine Autowerk. Piëch will Oskar Lafontaine die legendäre Marke kaufen. Nach der Rückkehr startet in Han- Seite an Seite im nover die Hochzeitsfeier. Wieder einmal hat Schröder sein gleißenden Licht Image untermalt: erst die Wirtschaft, dann das schöne Leben. durch den halbdun- klen Saal zum Podi- DIENSTAG, 10. MÄRZ. um schreiten und „Ich bin bereit“, sagt Schröder in millionenfacher Auflage aus laut Regie „winken deutschen Tageszeitungen. Oskar ist nicht im Bild – eine öffent- M. DARCHINGER bis zum Ende der liche Emanzipation. Musik“. Gerade mit dieser glitzernden Show wird für einen Moment das SAMSTAG, 14. MÄRZ. SAARBRÜCKEN. sozialdemokratische Ideal vom ehrlichen, warmen, echten Mit- Rau fährt in der Staatskanzlei vor, ihm geht es um sein erstreb- einander Wirklichkeit. Schröder wird gefeiert, Lafontaine ver- tes Präsidenten-Amt. Danach ruft Lafontaine den Kollegen in ehrt. Der Vorsitzende nimmt sich zurück, stellt sich in den Dienst Hannover an: Rau wolle den Platz als Ministerpräsident für sei- der Sache. nen Wirtschaftsminister Wolfgang Clement räumen. Schröder rea- „Oskar Lafontaine danke ich für die Disziplin, die Vernunft, ja giert begeistert: Den Macher und Modernisierer Clement wünscht die Selbstlosigkeit“, sagt Schröder. Er meint es ernst, als er den er sich als Verbündeten im 18-Millionen-Land NRW. Die Bot- Satz sagt, der den ausgebufften, zynischen Anti-Emotionalisten schaft heißt: „Etwas Neues beginnt.“ Lafontaine weist Schröder Lafontaine zutiefst rührt: „Ich danke dir für die Freundschaft.“ darauf hin, dass Rau die Unterstützung bei der Wahl zum Staats- So viel Frieden war nie. Als wollten die beiden Enkel mit einer oberhaupt erwarte. „Das war der Preis“, erklärt Schröder später. Eilheilung alle Wunden der vergangenen 20 Jahre schließen, las- sen sie den letzten SPD-Kanzler hochleben. „Ver- MONTAG, 16. MÄRZ, AUTOBAHN BONN–DÜSSELDORF. nunft und Selbstdisziplin“ seien der Schlüssel, predigt Schmidt, und Auf dem Beifahrersitz seines Dienst-BMW qualmt der Preussag- Lafontaine gebühre der Verdienst. Mit zusammenpressten Lippen Manager Bodo Hombach eine dicke Zigarre. Sein Handy klingelt. nickt der Saarländer. Kandidat ist er trotzdem nicht. „Noch nicht?“, fragt er knapp, brummt und pustet schwere Rauch- wolken aus. IM MAI, BONN. Hombach hat die SPD-Wahlkampfzentrale in Bonn inspiziert Spätestens mit dem Leipziger Parteitag ist die Wahlkampfzentrale und ist auf dem Weg ins heimische Mülheim. Später, in der Abend- „Kampa“ in Bonn zur Legende geworden. Noch nie haben Sozi- dämmerung, kommt endlich der ersehnte Anruf. Johannes Rau hat aldemokraten eine Kampagne so entschlossen und gut geplant, so bekannt gegeben, dass er zur Sommerpause sein Amt dem Wirt- diszipliniert gefahren, heißt es. Jeden Tag ein Scherz, ein Event, schaftsminister Wolfgang Clement übertragen wolle. Rau legt ein Spruch, der Kohls CDU-Ma- Wert auf den Hinweis, dass kein Zusammenhang mit der Wahl des nager, die erschrocken aus dem Bundespräsidenten ein Jahr später bestünde. Über derlei Unter- Konrad-Adenauer-Haus herab- stellungen hat sich der fromme Christ Rau sehr geärgert. Hom- schauen, in der Defensive hält. bach kehrt bei seinem Lieblings-Japaner in Düsseldorf ein, isst Das ist ein Teil der Wahrheit, der, Sushi und genehmigt sich Sake. den die Kampa von sich selbst verbreitet. DIENSTAG, 7. APRIL, HANNOVER. Der andere Teil: Stellvertre- Gerhard Schröder hat Geburtstag. Er wird 54. Lange hat er ge- tend für Lafontaine und Schrö- schwankt, ob er Tony Blairs Einladung annehmen soll, ihn an der tobt in und um die Kampa diesem Tag in 10, Downing Street zu besuchen. Es hieß, der bri- ein wüster Kampf. Für Schröders

tische Premier habe ihm sogar eine Geburtstagstorte zugesagt. Männer, Hombach und Heye, H. BAYER Schröder entscheidet sich für einen Kurzurlaub mit Gattin Doris. sind die Kampa-Dynamiker wie DIE KAMPA, die SPD-Wahlkampf- kleine Kinder auf dem Geburts- zentrale des Franz Müntefering, SAMSTAG, 11. APRIL. gilt Schröder als geheime Lafon- tag. Verdächtig ist Müntefering, taine-Bastion. Lafontaine im SPIEGEL: „Gerhard Schröder und ich arbeiten weil er sich nie bekannt hat zu eng zusammen. Alle Versuche, uns auseinander zu bringen, sind einer Seite. Provozierend ist Matthias Machnig, ein quirliger, zum Scheitern verurteilt.Wir wissen, dass wir nur gemeinsam ge- lauter und manchmal nervender, aber bis an den Rand seiner winnen können. Das gilt für die ganze SPD-Führung.“ Kräfte wirbelnder Kugelblitz, der die 80 Leute Tag und Nacht unter Dampf hält. FREITAG, 17. APRIL, LEIPZIG. Schröder hält die Kampa bis zuletzt für ein Lager der Lafon- 515 Delegierte im Hollywood-Rausch. Exakt um 10.15 Uhr ver- tainisten: „Die tricksen da doch wieder“, sagt er oft. Müntefering dunkelt sich der Parteitags-Saal, der in königlichem Blau und müht sich um „Äquidistanz“. Kandidat und Parteichef bekommen majestätischem Rot gehalten ist. Leise Musik erklingt, steigert zeitgleich alle Entwürfe für Plakate, Spots, Slogans. Und Schrö- sich zum Crescendo. Ein gefühliges Video flimmert über mehre- der fordert bei jeder Gelegenheit: „Lasst den Oskar da noch mal re Großleinwände: satte Felder, Kinder, schnelle Züge, Handys. drauf gucken.“ Lafontaine ist überraschend oft einverstanden. Die Dann erscheint der Kandidat, markig. Er zieht kräftige Linien. So Hannoveraner dagegen, im Bewusstsein, soeben den besten Land- wie dieser Video-Schröder unterschreibt ein Kanzler. „Licht- tags-Wahlkampf aller Zeiten gemacht zu haben, mäkeln. Das stimmung V“, befiehlt der Regieplan.Wahlkampfchef Franz Mün- Bild, das die Kampa von Schröder entwickelt, halten sie für ab-

der spiegel 40/1999 117 Titel surd. Schröder-Freund Heye verlässt kopfschüttelnd eine Strate- In der anschließenden Fragerunde findet Stollmann auch nach gie-Sitzung in Bonn: „Diesen Kandidaten, den ihr da schildert, den längerem Nachdenken keine Antwort auf die Frage, welches der kenn ich nicht.“ vorliegenden Modelle für eine Steuerreform er favorisiere. Schrö- der stellt sich anschließend pflichtschuldig neben den Kandidaten FREITAG, 26. JUNI, BONN. und guckt wie ein Skorpion. Wer Schröder kennt, weiß, dass sein Müntefering stellt eine Garantiekarte vor, auf der Schröder den Wunderkind die politischen Träume beerdigen kann. Dann wird Wählern mehr Arbeitsplätze, mehr Innovationen und mehr Steu- Stollmann abgeführt. ergerechtigkeit verspricht. Das Problem: Schröder hat davon Lafontaine soll sich köstlich amüsiert haben. nichts gewusst, schon gar nicht vom Punkt 9: „Kohls Fehler zu kor- rigieren bei Renten, Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im MITTWOCH, 26. AUGUST, BERLIN. Krankheitsfall“. Hat Oskar das eingefädelt? Wieder eine dieser Clowns-Nummern, die wie Brausepulver wir- ken. Erst prickelt es komisch, doch bald ist nur noch schaler, MITTWOCH, 5. AUGUST, WASHINGTON. künstlicher Nachgeschmack. Da grinst das volle, runde Gesicht Vor seinem Besuch bei US-Präsident Bill Clinton ruft Gerhard fidel, und Oskar fragt: „Du Gerd, hast du nicht einen Job für Schröder zu Hause bei Gattin Doris an, die Geburtstag hat. „Da mich?“ wollen dir welche gratulieren“, sagt der Kandidat, hält das Han- Schröder guckt ein wenig ungehalten bei der Vorstellung des dy den zwei Dutzend Journalisten entgegen und schwingt die 100-Tage-Programms im Willy-Brandt-Haus. Der kleine Pumme- Arme wie ein Dirigent. „Happy birthday to you“, intonieren die lige blickt schuldbewusst nach unten und dann umher. Und plötz- Medienvertreter folgsam, „Happy birthday, liebe Doris.“ Schrö- lich prusten beide los, so dass sich die Umstehenden fragen: Ver- der grinst breit. „Na, habt ihr alles?“, fragt er die Kameramänner. albern die uns, oder veralbern sie sich, oder lässt sich mit dem Kin- Die nicken. Deutschland gehört ihm. Fast jedenfalls. derspiel einfach nur am besten verschleiern, dass zwischen ihnen nichts geklärt ist? Es ist, als sei dieser Wahlkampf nur ein Spiel DONNERSTAG, 6. AUGUST. und der ernste Kampf um Programme und Posten und Personal In der „Zeit“ preist Schröder die „Doppelspitze“: „Ein schwie- beginne erst am Abend des 27. September. riger Prozess war es, aber wir beide sind so weit, dass wir einan- Lafontaine ist gelassen in diesen Tagen. Es ist seine SPD, eine der widersprechen können. Ohne Vertrauen geht das nicht. An- Armee von 800000 Genossen, mit denen er jeden Job in einer sonsten schätze ich nachhaltigen Widerspruch von Menschen, die Bundesregierung bekommen könnte – bis auf einen. Selten war loyal sind. Doch inzwischen wissen Lafontaine und ich um die Be- ein SPD-Chef so machtvoll, so unumstritten wie Lafontaine einen dingungen des gemeinsamen Erfolges. Keiner will den anderen do- guten Monat vor der Wahl. Als Schröder sein Programm präsen- minieren, sonst würde die gemeinsame Arbeit schief gehen, und tiert, schaut der Patriarch Oskar wohlwollend zu. „Das Fundament wir würden beide scheitern.“ sind Vertrauen und gegenseitige Achtung“, so erklärt er auch die Beziehung der Doppelspitze. MITTWOCH, 19. AUGUST, BERLIN. Es ist aber eher ein Gleichgewicht des Schreckens, das die bei- Breitschultrig eskortiert der Kampa-Chef Müntefering den desi- den nahezu täglich aufs Neue herstellen. Das Unausgetragene ist gnierten Wirtschaftsminister Jost Stollmann in den Saal des Ho- das Merkmal ihres Miteinanders. Sie entwinden sich der Umar- tels Maritim Pro Arte. Mikrofone, die sich beiden entgegenrecken, mung respektvoll, ohne den anderen zu frustrieren. Ist das das Ma- biegen sie wie Schilfhalme zur Seite. ximum an Freundschaft in der Politik? Heute ist der Tag: Stollmann will eine Art Kennedy-Rede hal- Schießt der Feuerwerker Schröder einen Stollmann in die Um- ten, grundsätzliche Betrachtungen über die Deutschen und ihre laufbahn, bittet Lafontaine den einstigen französischen Kultur- Wirtschaft und ihre Politik anstellen. Ein Mega-Event mitten im minister Jacques Lang zu sich. Redet der Kandidat von der Großen Sommerloch – mit hohem Risiko-Potential. Schröders Sprecher Koalition, um dem gefürchteten Lagerwahlkampf auszuweichen, beruhigt der Parteichef die aufgeregten Genossen und wirbt für Rot-Grün. Und kaum hat Schröder melden lassen, er wünsche sich Lafontaine im Kabinett, da kündigt der an, er würde bei einem knappen Sieg gern Fraktionschef werden.

MITTWOCH, 2. SEPTEMBER. ARD-Wahlreportage „Der Herausforderer“: Hombach und Heye klügeln in einem Ferienhaus an der holländischen Nordseeküste die Schlagworte für eine Rede Schröders aus. Gegenschnitt. Der Kandidat trägt just jene Worte vor. Ein verhängnisvoller Eindruck entsteht: Der künftige Kanzler wird von seinen Hintermännern ferngesteuert. Hombach ist der wahre Schröder. Er hat schließlich auch die Rau-Wahlkämpfe gewonnen. „Ich musste ihn daran er- innern, dass ich auch dabei war“, spottet der SPD-Patriarch.

J. GIRIBAS J. DER WAHLKAMPF wirkt mitunter wie ein Spiel zwischen Schröder und JOST STOLLMANN, Schröders Mann für die Wirtschaft, ist Lafontaine Lafontaine – der ernste Kampf zwischen beiden beginnt erst nach dem hoch verdächtig als typischer Vertreter der neuen Mitte. Sieg.

Heye grinst verlegen. Lafontaine, der neulich mit Stollmann es- sen war, hat vor gesprächigen Vertrauten festgestellt, dass der ehemalige Computer-Unternehmer nicht geeignet ist. Lafontaine sollte Recht behalten. Stollmann hat seine Gesten offenbar mühsam einstudiert und macht quälend lange Kunst- pausen für „neues Denken“, „neue Wege“, „Schneisen der Er- kenntnis“, „Dickicht des Nicht-Wissens“. Nach fünf Minuten steht für Schröders Leute fest: Dieser Mann wird gar nichts, nie.

Man muss ihn nur unfallfrei durch den Wahlkampf schleppen. M.-S. UNGER

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Deutschland jene Rezepte umzusetzen, die er gemeinsam mit SONNTAG, 27. SEPTEMBER, BONN. Ehefrau Christa in seinem Buch „Keine Angst vor der Globali- Es ist so weit: Wahlsonntag. Kurz nach 17 Uhr weiß Gerhard sierung“ aufgeschrieben hat. Er will – zusammen mit seinem fran- Schröder definitiv, dass er es geschafft hat. Manfred Güllner, zösischen Kollegen und vermeintlichen Freund Dominique Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, hat im Büro des Strauss-Kahn und dem Amerikaner Alan Greenspan – bei den Parteivorsitzenden Lafontaine in der Bonner SPD-Zentrale an- Global Players mitspielen. Oskar Lafontaine will Schatzkanzler gerufen. Er will dem künftigen Kanzler die Zahlen persönlich neben dem Kanzler sein. übermitteln, die offiziell erst um 18 Uhr verkündet werden: Im Foyer des Ollenhauer-Hauses stürmen Schröder und La- „Oskar, schreib mal mit“, ruft der Kandidat und diktiert dem fontaine vor Beginn der Parteivorstandssitzung aufeinander los, Parteivorsitzenden Güllners Prognosen: SPD 41 Prozent, CDU als hätten sie sich wochenlang nicht gesehen. Vor laufenden Ka- 36 Prozent. meras umarmen und knuffen sie sich, giggeln über ihre Witze, Schröder umarmt und küsst seine Frau. Den Champagner rührt überreichen und empfangen Blumensträuße und schütten sich er jedoch erst nach der offiziellen Bekanntgabe der Zahlen im aus vor Lachen. Die aufgesetzte Fröhlichkeit wirkt bedrohlich: Fernsehen an. Aber er trinkt noch nicht auf den Sieg, sondern auf Pass auf, signalisiert das Raubtierlächeln der beiden Machtmen- den 55. Geburtstag seines designierten Arbeitsministers Walter schen, komm mir bloß nicht ins Gehege. Riester. Sicher ist sicher. Im Vorstand demonstriert der Parteichef Ton und Richtung für Draußen vor der Glastür und in der „Baracke“ braust Jubel. die Zukunft: Nach den Gratulationen für Gerhard Schröder und Hunderte wollen den Sieger sehen. Bevor Schröder hinausgeht, den Mecklenburger Landtagswahl-Gewinner Harald Ringstorff kommt er zur Sache. Disziplin sei jetzt genauso wichtig wie vor der Wahl. Wer glaube, er könne sich jetzt als künftiges Regie- rungsmitglied öffentlich ins Gespräch bringen, der „hat bei mir keine Chance“. „Bei mir“, sagt Lafontaine, als wäre er der Kanz- ler. Von Anfang an betrachtet der Saarländer die Koalitionsver- handlungen als sein Revier. Was er mit Fischer am Vorabend al- lein ausgekungelt hat, darf der Parteivorstand abnicken: keine Par- allel-Verhandlungen mit der Union. Schröder erscheint Teilneh- mern als „sehr entschlossen“, das rot-grüne Bündnis zu suchen. Aber der Macher ist Lafontaine. Nebenbei nimmt der Parteichef eine weitere, wichtige Wei- chenstellung vor: Mit Blick auf den neben ihm sitzenden Rings- torff, der in Schwerin ein Bündnis mit der PDS schmieden will, stellt Lafontaine beiläufig fest, „selbstverständlich“ habe jeder ost- deutsche SPD-Landeschef freie Hand bei der Regierungsbildung. Ob mit oder ohne PDS, das werde vor Ort entschieden. Aus-

IMO drücklich bittet er den Vorstand um Zustimmung. Und weil – wie DER WAHLSIEG ist für Lafontaine sein Sieg – als hätten die Deutschen gewohnt – niemand widerspricht, ist es so beschlossen. zwei Kanzler gewählt. DIENSTAG, 29. SEPTEMBER, HANNOVER. zieht er Lafontaine beiseite: „Ich habe mich entschieden: Bodo Bei Schröder läuft alles schief. Morgens wird ihm in seiner hei- Hombach kommt ins Kanzleramt.“ mischen Dachzimmerwohnung das Wasser abgestellt – Bauar- Lafontaine ist wie vom Donner gerührt. Er hat ein eigenes Per- beiten. Der Tee wird mit Mineralwasser zubereitet.Außerdem hat sonal-Tableau im Kopf.Auf gar keinen Fall will er, dass Scharping der Wahlsieger Grippe. „Ein Zeichen dafür, dass die Anspannung Fraktionschef bleibt. Er hat Müntefering ausgeguckt. Peter Struck, nachlässt“, diagnostiziert Doris Scheibe, seine langjährige Chef- der als Parlamentarischer Geschäftsführer viel Einfluss in der sekretärin. Die gecharterte Maschine, die Schröder um 13.45 Uhr Fraktion hat, sollte Chef des Kanzleramts werden. Und nun soll zur ersten Sitzung der neuen SPD-Bundestagsfraktion fliegen alles anders kommen? Dass Schröder ausgerechnet den ökono- soll, bleibt auf der Piste. Motorschaden. mischen Autodidakten Hombach an seine Seite holt, muss La- Der designierte Bundeskanzler muss auf Ersatz warten. Gal- fontaine als Kampfansage deuten. genhumor. „Stellen Sie sich einmal vor, das wäre in der Luft pas- Keine Zeit zum Nachdenken. Das Wahlvolk ruft. Der Parteichef siert“, sagt er zu einem Reporter. „Dann hätte es wieder eine Kan- muss den strahlenden Sieger auf die Bühne begleiten und ihm – didaten-Diskussion gegeben.“ der die beiden Arme nach oben reißt und das doppelte Victory- Oskar Lafontaine wird den Scherz am darauf folgenden Wo- Zeichen macht – auch noch applaudieren. Dabei fühlt auch er sich chenende in der „Bild am Sonntag“ lesen. Die giftige Botschaft: selbst als Gewinner. „Mir ist das fast schon peinlich“, erzählt er Nach diesem Wahlsieg, lieber Oskar, würdest du selbst dann nicht später einem guten Freund. „Alle Leute sagen, der eigentliche automatisch Kanzler werden, wenn es mich nicht mehr gäbe. Kanzler bin ja ich.“ Nichts ist, wie es war. Oder ist es jetzt, wie es immer war? Aus seiner Sicht hat das deutsche Volk zwei Kanzler gewählt: ihn und den andern. Im Fernsehen dankt Lafontaine den Wählern DIENSTAG, 29. SEPTEMBER, BONN. für das Vertrauen „für Schröder und mich“. Aufgeregte Begrüßung der neuen Abgeordneten im . Noch immer kann keiner den Triumph richtig fassen. Während MONTAG, 28. SEPTEMBER, BONN. Schröder in Hannover festsitzt, führt Lafontaine vor der Frakti- Dieter Koniecki, ein alter Freund, ruft in der Saarland-Vertretung on im Wasserwerk das große Wort. Nachdem sich die Neuen vor- an. Wie viele andere beschwört er den SPD-Chef, bloß nicht in gestellt haben, zieht er die Zügel stramm: Die Koalitionsver- die Regierung zu gehen. Bei der angespannten Kassenlage wür- handlungen seien Sache des Parteichefs. Als Grundlage für die de er nur Zumutungen verkünden müssen.Als Fraktionschef und Verhandlungen mit den Grünen diene das vom SPD-Parteitag Parteivorsitzender wäre er dagegen frei, korrigierend und lenkend beschlossene Regierungsprogramm. Die Fraktion sei doch sicher in die Regierungsgeschäfte einzugreifen. damit einverstanden, dass die Gespräche von den Mitgliedern Die Warnungen helfen nichts. Lafontaine will ins Kabinett. Er des Parteipräsidiums geführt würden. Kein Widerspruch. So fühlt sich berufen, als Finanzminister der Bundesrepublik beschlossen. Ein erster folgenschwerer Fehler: Die künftigen

120 der spiegel 40/1999 Minister würden nicht über ihre Ressorts verhandeln, Lafon- neuer Freund Chirac geschenkt hat, beeindruckt sogar seinen taine hat die Alleinherrschaft. Der malade Schröder soll inhalt- verwöhnten Kumpel Hombach: Die Spirituose ist 100 Jahre alt. lich eingemauert werden. FREITAG, 2. OKTOBER, BONN. MITTWOCH, 30. SEPTEMBER, PARIS. Die Koalitionsverhandlungen sind offiziell eröffnet. Chef Lafon- Schröders erste Auslandsreise. Seit der Kanzlerschaft Konrad taine erteilt in der NRW-Vertretung das Wort – auch dem künfti- Adenauers gehört es zum guten Ton jedes neugewählten Bonner gen Kanzler. Lafontaine redet jederzeit, wann und so lange er es Regierungschefs, zuerst an die Seine zu fahren. Für Schröder hat für richtig hält, vorzugsweise in seiner Eigenschaft als Weltöko- das Ritual einen zusätzlichen Reiz: Paris war bisher Oskars Revier. nom – wie weiland Helmut Schmidt. Schröder lässt ihn gewähren. Die aufmerksamen Grünen be- merken an kleinen Gesten knisternde Rivalität. Wenn Schröder das Wort hat, lächelt der andere bisweilen „sardonisch“, ein we- nig verkrampft vor sich hin. Mal blickt er nur zur Decke und ver- dreht die Augen. Wenn Lafontaine die Runde mit seiner Weltwirtschaft nervt, zwinkert Schröder schon mal dem Koalitionspartner zu. Oder er grinst vergnügt, wenn der grüne Professor Fritz Kuhn, Fraktions- führer im Stuttgarter Landtag, den SPD-Chef unterbricht und die „Politik des leichten Geldes“ rügt. Kleine Hakeleien gefallen Schröder. Aber zum offenen Streit lässt er es ebenso wenig kommen wie umgekehrt Lafontaine. Noch funktioniert die Rollenverteilung: Schröder markiert die neue Mitte, Lafontaine bedient die Emotionen der alten Linken. Schröder allerdings operierte im letzten halben Jahr immer aus

AFP / DPA der Position des Vorläufigen, erst als Kandidat, jetzt als desi- FRANKREICH-BESUCH: Schröders erste Auslandsreise nach der Wahl, zu gnierter Kanzler. Lafontaine dagegen war immer mächtiger Par- Jacques Chirac, mit seiner Beraterin Brigitte Sauzay führt auf Lafontaines urei- teichef. genes Terrain. In der französischen Hauptstadt bewegt sich Lafontaine wie zu Hause. Im Unterschied zu Schröder spricht der Saarländer fließend französisch, er kennt die regierenden Sozialisten seit vielen Jahren. Im Schlösschen, in dem seine saarländische Ver- tretung residiert, pflegt Oskar intellektuelle Salon-Kommunika- tion. Es war Lafontaine, der Schröder nach seiner gewonnenen Landtagswahl in Paris den französischen Freunden vorstellte. Nun reist der Niedersachse allein und als künftiger Kanzler in die Metropole – zuerst zu Jacques Chirac, dem konservativen Staatspräsidenten, danach zu Lionel Jospin, dem sozialistischen Premierminister. Dass er den Saarländer abgeschüttelt hat, scheint ihn zu beflügeln. „Zu Hause habe ich noch richtig Mühe, mir vor-

zustellen, dass ich Kanzler werde“, philosophiert er abends in klei- REUTERS nem Kreise. „Hier in Paris fällt mir das viel leichter.“ DIE KOALITIONSVERHANDLUNGEN sind für die Grünen um Fischer oft Kanzler sein macht Spaß. Theoretisieren ist anstrengend. So wie wie Gespräche mit zwei Parteien: Schröder und Lafontaine. bei der Veranstaltung, zu der ihn abends Jospin eingeladen hat. Der Sozialist Jospin hat ein paar Minister und die Chefredakteu- Besorgt sehen manche Genossen, dass der Niedersachse die re wichtiger französischer Medien zu sich gebeten. Vor ihnen Dinge „mit großer Gelassenheit laufen lässt“ – Oskars Pose des muss Schröder erläutern, was er unter der „Neuen Mitte“ ver- Allmächtigen nimmt überhand. „Ich habe doch jetzt gewonnen“, steht. verrät Schröder einem Freund. „Da kann ich großzügig gegenüber Es wird kein entspannter Abend. Nicht mal zum Essen kommt demjenigen sein, der es eigentlich auch werden wollte und nicht Schröder. Seine Beraterin für deutsch-französische Beziehungen, zum Zuge gekommen ist.“ Brigitte Sauzay, führt ihn anschließend in ein Bistro im Quartier Latin. Der Hungrige verzehrt erleichtert ein halbes Hühnchen. SAMSTAG, 3. OKTOBER, BONN. Im Saal der Stadthalle, in dem 1959 das berühmte Godesberger DONNERSTAG, 1. OKTOBER, BONN. Programm der SPD beschlossen wurde, tagen die Parteilinken, der Das erste Sondierungsgespräch zwischen Grünen und Sozialde- „Frankfurter Kreis“. Kein Fan-Club des künftigen Kanzlers, meist mokraten ist ein Heimspiel für Lafontaine.Wie jeder Machthaber unterstützt er Lafontaine. hat er die Delegationen in sein Revier, die Vertretung an der In den Zeitungen wuchern die Personalspekulationen: Was Kurt-Schumacher-Straße, geladen. Später wird man sich an einem wird aus Scharping, den Lafontaine als Fraktionschef verhindern neutraleren Ort treffen: Die rot-grüne nordrhein-westfälische will? Wird der Ost-Berliner Partei-Vize Wolfgang Thierse Bun- Landesregierung stellt ihr Domizil für die Verhandlungen zur destagspräsident? Und bleibt der Esoteriker Jost Stollmann wirk- Verfügung. lich der Wunschkandidat für das Wirtschaftsministerium? Hausherr Lafontaine empfängt zuerst Schröder zum Vier-Au- Immer ist es Lafontaine, von dem die Beantwortung dieser Fra- gen-Gespräch. Im angemessenen Abstand folgen die anderen so- gen abzuhängen scheint. Auch seine eigene Rolle ist noch unklar. zialdemokratischen Teilnehmer der Koalitionsrunde – Hackord- Der Saarländer betritt die Stadthalle und konfrontiert seine lin- nung muss sein. ken Freunde im Befehlston mit seinen Vorstellungen: Erstens: Schröder drückt aufs Tempo. Er will spätestens vier Wochen Scharping muss weg! Zweitens: Thierse kann nicht Bundestags- nach der Bundestagswahl Kanzler sein. Schröder ist mit sich und präsident werden, weil sonst die Frauen protestieren und An- der Welt zufrieden. Die positiven Kommentare zur Frankreich- spruch auf das Präsidentenamt erheben würden. Das aber muss Tour haben ihm gefallen. Und die Flasche Cognac, die ihm sein Rau bekommen.

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Keine weiteren Begründungen. „Er erwartete einfach, dass wir lassen. Hombach, lässt er durchblicken, sei nicht so wichtig, wie seine Forderungen umsetzten“, erinnert sich ein Teilnehmer. manche glaubten. Michael Müller, einer der Wortführer des linken Fraktionsflügels, Insgesamt wähnt sich Lafontaine zu diesem Zeitpunkt noch auf stellt den Parteichef zur Rede: „Wie stellst du dir das vor, Oskar? sicherem Boden. Er ist überzeugt davon, dass er es in Wahrheit Scharping hat doch keine silbernen Löffel geklaut. Sollen wir als war, der die Wahl gewonnen hat – und dass Schröder ihm deshalb Begründung sagen: Oskar will das nicht?“ zu Dank verpflichtet sei. Gleichwohl ist Lafontaine bewusst, dass er seine Politik nur SAMSTAG, 3. OKTOBER, HANNOVER. durchsetzen kann, wenn er den künftigen Kanzler nicht provo- An der Seite des amtierenden Bundespräsidenten Roman Herzog ziert: „Lobt den Schröder“, bittet er deshalb auch seine Berater zieht der designierte Kanzler Schröder am Tag der Deutschen Ein- Claus Noé und Flassbeck, als er diese wenige Tage später zu sei- heit in die Stadthalle ein. Als ihn Journalisten nach Rau fragen, nen Staatssekretären beruft, „redet nicht schlecht über den.“ wiegelt Schröder ab: Spekulationen zur Unzeit. Der Parteivor- sitzende werde „zu gegebener Zeit“ einen Vorschlag machen. MITTWOCH, 7. OKTOBER, BONN. Im Lager Lafontaines weckt Schröders Zurückhaltung den al- Ganz beiläufig fragt Lafontaine ten Verdacht, dass der Hannoveraner Raus Kandidatur hinter- den SPD-Fraktionsvorsitzen- treiben wolle. Gute Freunde des Saarländers erinnern sich an ei- den Rudolf Scharping am Ran- nen heftigen Wutausbruch Lafontaines. Ihm war zu Ohren ge- de einer Bundestagssitzung: kommen, Herzog sei von Hombach persönlich animiert worden, „Was willst du denn werden? öffentlich über eine, bislang kategorisch abgelehnte, Verlänge- Hast du dich schon entschie- rung der Amtszeit nachzudenken. den?“ Natürlich wird das in Schröders Umgebung heftig dementiert. Scharping weiß, was Lafon-

„Wenn einer in der Kandidatenfrage nicht gewackelt hat“, sagt ei- taine im Schilde führt. Er AFP / DPA ner seiner Vertrauten, „dann war das Gerd.“ Der Parteivorsit- schlägt vor, darüber in Ruhe RUDOLF SCHARPING steht zwi- zende selbst sei es gewesen, der habe andere Namen ins Spiel ge- bei einer Flasche Rotwein zu schen den Rivalen und will gegen Lafontaines Willen SPD-Fraktions- bracht. reden. vorsitzender bleiben. DONNERSTAG, 8. OKTOBER, BONN. Die Grünen sind irritiert. Sie sitzen nicht einer, sondern zwei Ko- alitionsparteien gegenüber: Schröder, der die neue Mitte markiert, und Lafontaine, der die Traditionalisten bedient. Leider haben bei- de niemals miteinander geredet, geschweige denn ihre Strategien abgestimmt. Bei den sozial-konservativen Themen wie Steuerre- form, Rente, Spitzensteuersatz schwingt Lafontaine das Zepter. Schröder versucht, die Grünen in allen ökologischen Fragen zu deckeln. Im Alleingang hat der Automann die Grenze für die An- hebung der Mineralölsteuer zementiert: Mehr als sechs Pfennig pro Liter seien mit ihm nicht zu machen, gibt er via „Bild am Sonntag“ bekannt.

REUTERS Das bringt Lafontaine in Rage. Er würde mit der Benzinsteuer DIE NACHFOLGE DES BUNDESPRÄSIDENTEN Roman Herzog ist ständi- gern die Haushaltslöcher füllen. Aber Schröder lässt ihn nicht. ger Streitpunkt. Lafontaine will Rau unbedingt, Schröder nicht so sehr. Mehrfach stichelt Oskar, die Augen theatralisch zur Decke ge- wandt, die Hände bedauernd erhoben, gegen den Mann, der nach MONTAG, 5. OKTOBER, HAMBURG/BONN. dem Grundgesetz die Richtlinien der Politik bestimmt: „Der Herr Unter der Überschrift „Der Befreiungsschlag“ präsentiert der Bundeskanzler hat sich ja auf die sechs Pfennig pro Liter festge- SPIEGEL ein Kapitel aus Bodo Hombachs neuem Werk. Das legt ...“ Buch zum Kanzler (Titel: „Aufbruch – die Politik der neuen Mit- Bei der Steuerreform allerdings bremst Lafontaine. Er diskutiert te“) ist eine Provokation gegen Lafontaine und eine Kampfansa- das Thema ausschließlich aus dem Blickwinkel der Verteilungs- ge an dessen Wirtschafts- und Finanzpolitik. gerechtigkeit. Die Grünen hingegen wollen ein Signal für die Un- „Die Auseinandersetzung um eine Zielentscheidung zwischen ternehmer setzen. Sie sind für eine deutliche Senkung des Spit- Angebots- und Nachfragepolitik hat uns zu lange gelähmt“, zensteuersatzes, auch wegen des Symbolwerts.Aber da rennen sie schreibt Hombach. „Von der Vorstellung schnell wirksamer und bei Lafontaine vor die Wand: kein Geld. „Wir hatten immer ein allein selig machender keynesianischer Rezepte haben sich die großes Missbehagen“, erinnert sich Fritz Kuhn, der baden-würt- meisten längst verabschiedet.“ Bis auf Lafontaine, ergänzt der Le- tembergische Grüne. „Kann das gut gehen?“ ser. Denn der weiß aus den Medien, dass es Lafontaine war, der Die Sorgen werden auf der SPD-Seite geteilt. Alles laufe ein immer gegen die Angebotspolitik der Regierung Kohl zu Felde zog bisschen „über Kreuz“, berichtet Scharping seinen Vertrauten. und stattdessen die Wirtschaft durch mehr Nachfrage ankurbeln Eine Mehrheits-SPD unter Schröder verhandelt mit den Mehr- will. heits-Grünen unter Fischer, gleichzeitig redet eine Minderheits- Hombach glaubt dagegen an eine „Angebotspolitik von links“. SPD unter Lafontaine mit den Minderheits-Grünen unter Trittin. Was genau das sein soll, ist seinen gewohnt wolkigen Formulie- rungen nicht zu entnehmen. Darum geht es auch gar nicht. Hom- FREITAG, 9. OKTOBER, WASHINGTON. bach will Zeichen setzen. Und weil der Kanzler das Nachwort Begleitet von Joschka Fischer und seinem außenpolitischen Be- dazu geschrieben hat, wird das Buch schon vor dem Erscheinen rater Günter Verheugen ist Gerhard Schröder zu einem Kurztrip Teil des innerparteilichen Machtkampfes, der unter dem Stichwort in die USA gereist. Vom US-Präsidenten Bill Clinton werden sie „Modernisierer gegen Traditionalisten“ läuft. im Weißen Haus freundlich und neugierig empfangen. Dann wird Heiner Flassbeck, Lafontaines Chefökonom, liest den Hom- es ernst: Obwohl der Kanzler und sein Außenminister noch nicht bach-Essay im SPIEGEL und ist entsetzt. „Die wollen eine ganz vereidigt sind, verlangt der Präsident von der künftigen Regierung andere Politik als wir“, warnt er Lafontaine. Auf Hombach müs- eine schmerzliche Zusage: Die Deutschen sollen sich am Kosovo- se man aufpassen. Doch der SPD-Vorsitzende gibt sich ganz ge- Konflikt beteiligen. Clinton möchte, dass der serbische Präsident

122 der spiegel 40/1999 MONTAG, 12. OKTOBER, BONN. Im Bonner Kanzleramt erfahren Schröder, Fischer, Lafontaine und Verheugen von Kanzler Helmut Kohl, dass sie für ihre Ent- scheidung über den Kosovo keinen Aufschub mehr haben. Clin- ton will nicht warten, bis sich der neue Bundestag konstituiert. Er brauche die Zusage der Deutschen sofort, dass sie sich – falls die Nato das beschließt – am Kosovo-Krieg beteiligen. Sein Emissär Richard Holbrooke soll mit einer handfesten Drohung in Belgrad intervenieren. Kohl und Außenminister Klaus Kinkel wirken bedrückt. Ver- teidigungsminister Volker Rühe referiert die Lage „mit unver- kennbar triumphierendem Unterton“, sagt ein Teilnehmer. Er gilt als derjenige, der die Amerikaner dazu bewegt hat, auf eine schnelle Entscheidung zu drängen. Schröder bittet um eine Unterbrechung, um sich mit seinen Leu-

AP ten zu beraten. „Wir müssen das machen“, sagt er, „wir müssen WELTPOLITIK IN WASHINGTON: Bill Clinton bindet die rot-grüne Regie- da durch, und wir kommen da durch, wenn wir zusammenhalten.“ rung frühzeitig in seine Kosovo-Politik ein – und verhilft ihr damit später zu Nach kurzer Pause erklärt Oskar Lafontaine: „Das wird wohl so einer glanzvollen Bewährungsprobe. sein.“ In Kohls Arbeitszimmer zurückgekehrt, will Lafontaine wissen, Milo∆eviƒ die Drohungen der Nato ernst nimmt. Aber ohne die ob die Deutschen automatisch am Krieg beteiligt sind, wenn die Deutschen gäbe es keine ernsthafte Drohung. Nato ihn beschließt. Oder ob der Bundestag in jedem Fall noch Schröder und Fischer weisen darauf hin, dass sich erst der neue einmal entscheiden muss. Kinkel versichert, es gebe keinen Au- Bundestag konstituieren müsse. Clinton stimmt ihnen zu – so ei- tomatismus. Auf jeder Stufe des Verfahrens werde es eine Kon- lig sei die Sache nicht. trolle geben. Das bekommt Lafontaine später sogar schriftlich.

SONNTAG, 11. OKTOBER, BONN. DIENSTAG, 13. OKTOBER, BONN. Oskar Lafontaine hat für Montag eine Sondersitzung des Partei- Die Nachricht vom Friedensschluss zwischen Scharping, Schröder vorstands einberufen. Unmissverständlich hat er Schröder wissen und Lafontaine hat nur vorübergehend für Entspannung gesorgt. lassen, dass er zurücktritt, falls Scharping Fraktionschef bleibt. Er Denn nun taucht – neben dem Niedersachsen Struck – plötzlich sei sogar bereit, gegen ihn zu kandidieren: „Der oder ich.“ auch der Name Ottmar Schreiner auf. Der Saarländer, so heißt es, Schröder ist in der Zwickmühle. Wenn er die Sache laufen habe ebenfalls Chancen auf den Fraktionsvorsitz. lässt, gibt es einen ersten gewaltigen Crash, der alle beschädigt. Schröder ist irritiert und verärgert. Er ist der Meinung, Lafon- Während Lafontaine davon überzeugt ist, dass er gegen Rudolf taine durch sein Eingreifen vor einer schweren Niederlage in der Scharping gewinnen wird, schätzt Schröder die Lage anders ein: Fraktion bewahrt zu haben. Nun vermutet er hinter Schreiners Das brutale Mobbing hat die Fraktion gegen Lafontaine aufge- Kandidatur den Strippenzieher Oskar. bracht. „Es war völlig klar“, sagen Schröders Getreue, „dass die Fraktion sich hinter Scharping und damit gegen Lafontaine ge- MITTWOCH, 14. OKTOBER, BONN. stellt hätte.“ Am Rande der Koalitionsverhandlungen kommt es zu einer laut- Mittags, am Rande der Koalitionsgespräche, ziehen sich La- starken Auseinandersetzung zwischen Schröder und Lafontaine fontaine und Scharping in der NRW-Vertretung zu einem Vier-Au- – Nachbeben des Machtkampfs um die Fraktionsspitze. gen-Gespräch zurück. „Was hast du dagegen, dass ich Fraktions- Schröder verdächtigt Lafontaine, seinen Landsmann Schreiner vorsitzender bleibe?“, fragt Scharping. Oskar antwortet: „Es wird gegen Struck ins Rennen um den Fraktionsvorsitz geschickt zu ha- schwerwiegende Konflikte geben. Der Schröder macht es nicht ben. Der fühlt sich zu Unrecht verdächtigt. In Wahrheit waren die lange, weil er es nicht kann. Und ich weiß nicht, auf welcher Sei- beiden Saarländer nie besonders eng. Plötzlich geht es um die te du dann stehst.“ Der Machtkampf ist in vollem Gang. ganze Wahrheit: Er sei der Kanzler, nicht Lafontaine, der solle sich Auch Schröder trifft sich mit Scharping – spätabends in der Nie- nur keine falschen Vorstellungen machen. Lafontaine kriegt die dersachsen-Vertretung. Er beschwört ihn, seine Position zu räu- Krise. Er bricht in Tränen aus. Schröder knallt die Tür und mar- men. Das ist nicht so einfach. Denn Scharping hat bereits er- schiert davon. Lafontaine ist außer sich. klären lassen, dass er zum Bleiben entschlossen ist: „Man wird in Hinterher, heißt es, sei es Doris Köpf über Lafontaines Ehefrau meiner bisherigen Arbeit keinen Grund finden, eine andere Ent- Christa Müller gelungen, den Streit der Männerfreunde zu kitten. scheidung als eine Bestätigung im Amt zu treffen.“ Struck wird am nächsten Tag von der Mehrheit des Fraktions- Doch Parteisoldat Scharping lenkt ein. Er sei bereit, auf die vorstands nominiert. Hardthöhe zu gehen, falls „die Voraussetzungen stimmen“. Mit anderen Worten: wenn der Wehretat unangetastet bleibt. Dass er SONNTAG, 18. OKTOBER, BONN. eine zentrale Rolle im sich abzeichnenden Kosovo-Konflikt spie- Auch am Wochenende wird mit Hochdruck gearbeitet. Die Er- len würde, ist ihm ebenfalls klar. Die beiden Männer vereinbaren gebnisse der Koalitionsverhandlungen müssen zu Papier gebracht Stillschweigen. Am Morgen darauf soll das Einlenken Scharpings werden. Einfach ist das nicht. vor der Sitzung des Parteivorstands zelebriert und der Frieden In der so genannten Schreibstube, wo die vorher ausgehandel- dann öffentlich besiegelt werden. ten Verhandlungsergebnisse ausformuliert werden, gibt es oft Dif- Einzige Bedingung: Auch Kontrahent Müntefering, den Lafon- ferenzen. Achim Schmillen, den Fischer für die Grünen dorthin taine gefördert hatte, muss zurückziehen. Wer schließlich Frak- abgeordnet hat, muss immer wieder warten, bis sich die beiden tionschef werde, sollten die Parlamentarier entscheiden. sozialdemokratischen Protokollanten – der Lafontaine-Vertraute So geschieht es. Schröder gibt bei Lafontaine Entwarnung, und Jochen Schwarzer und Schröders rechte Hand, Frank-Walter der instruiert Müntefering. Der Sauerländer begreift die Chance, Steinmeier – in getrennten Telefongesprächen mit ihren Chefs sich als Problemlöser zu profilieren. Am frühen Montagmorgen rückversichert haben. vernimmt die staunende Öffentlichkeit im Radio, dass Münte- So zeichnet sich schon jetzt ab, was ein Jahr später der Sozial- fering nicht gegen Scharping antreten will. demokrat als grundsätzlichen Konstruktionsfehler

124 der spiegel 40/1999 Titel der rot-grünen Koalition kritisieren wird: „Der Grundfehler war, dass es anfangs zwei Machtzentren gab, die auch noch eine un- SONNTAG, 25. OKTOBER, BONN. terschiedliche Politik machen wollten: einmal das Kanzleramt, „Ich bin glücklich, und ich bin stolz, in die Reihe von ausgerechnet noch mit Bodo Hombach, und das Finanzministe- und Helmut Schmidt als Bundeskanzler treten zu dürfen.“ Als rium unter Oskar Lafontaine, übrigens mit Staatssekretären, die Schröder dies auf dem SPD-Sonderparteitag im Hotel Maritim ungefähr so geeignet waren wie Hombach im Kanzleramt.“ sagt, ist er ehrlich ergriffen. Auch der obligatorische Dank an die Partei ist keineswegs nur MONTAG, 19. OKTOBER, BONN. eine Pflichtübung. Nun aber warten alle, was er zu Lafontaine sa- Kurz vor elf Uhr stellt Gerhard Schröder in der niedersächsi- gen wird, den die Medien schon als mächtigen Gegenkanzler und schen Landesvertretung dem Computerunternehmer Stollmann Rivalen abgemalt haben. „Ganz persönlich, lieber Oskar, lass sie die entscheidende Frage: „Treten Sie noch an?“ Die knappe Ant- bellen, die Karawane zieht weiter.“ So hat auch Helmut Kohl wort: „Nein!“ Der Mann, den Schröder 123 Tage zuvor als Licht- im Bundestag immer geredet, gestalt der neuen Mitte präsentiert hatte, fühlt sich von Schröders wenn er sich über die Publizisten Gegenspielern weggemobbt.Aber auch Schröder mag nicht mehr. mokierte. Stück für Stück hatte Lafontaine dem Neuen sein künftiges Spiel- Aber Schröder genügt das feld eingeengt, den Entscheidungsbereich des Wirtschaftsminis- nicht. Er möchte dem bewun- teriums geplündert. derten Rivalen zeigen, wie sehr Anfangs hat das kaum jemand bemerkt. Schon in der Woche nach er ihn tatsächlich mag und fürch- der Wahl hatte Lafontaine zwei Getreue mit der diskreten Mission tet. Also spricht er – auch darin betraut. Der „Zeit“- den schwurbeligen Metaphern Autor Noé, ehedem Kohls folgend – von „erwiesener Staatsrat in Hamburg, Freundschaft“, die „keine Ein-

und Heiner Flassbeck, tagsfliege“ sei. REUTERS prominenter Außensei- Lafontaine nimmt die Huldi- DER SIEGES-PARTEITAG zeigt ter unter Deutschlands gung mit spitz gereckter Nase die alte Troika Lafontaine, Schröder und Scharping in Ökonomen, beziehen hin. Aber er teilt trotzdem kräf- schöner Eintracht. in der Hamburgischen tig aus. Ohne Namen zu nennen, Landesvertretung in zieht er über das „hohle Geschwafel“ derer her, die meinten, Be- Bonn Quartier und lo- sitzstandswahrer seien das Hauptproblem in der Politik. Und er ten aus, wie sich aus mokiert sich über die Modernisierer, die nur Moden nachliefen. Waigels Finanzministe- Hombach und Schröder blicken gelangweilt in den Saal.

M. URBAN rium ein schillerndes DIE WIRTSCHAFTSKOMPETENZ reklamiert Superministerium zim- MONTAG, 16. NOVEMBER, BONN. Lafontaine für sich. Der Kanzler lässt seinen mern ließe. Hoch oben auf dem Petersberg, im Licht der Fernsehscheinwerfer, Vorzeige-Unternehmer Stollmann fallen. Das sollte zuständig fühlt sich Lafontaine erkennbar unwohl. Tiefrot glüht sein Kopf, sein für alles – von der nervös rutscht der Finanzminister auf dem Stuhl hin und her. Ei- Binnenkonjunktur bis hin zur Rettung der Weltwirtschaft. Für La- gentlich wollte er, kaum drei Wochen im Amt, einen internatio- fontaine ist der Abgang des Schröder-Manns ein doppelter Tri- nalen Coup landen. Mit dem Franzosen Strauss-Kahn, so hat er umph: Endlich ist der Polit-Alien verschwunden, der von diesem noch in der Woche zuvor philosophiert, will er ein umfangreiches seltsamen Internet faselte, anstatt die Tiefen der Makroökonomie Thesenpapier präsentieren – die gemeinsame Idee für ein globa- zu ergründen. Zugleich zeigt sich, dass seine Methoden funktio- les, von Spekulation befreites Finanzsystem des 21. Jahrhunderts. nieren: Der SPD-Vorsitzende hat sich das mächtigste Ministeri- Doch daraus wird nichts. Wieder einmal hat Lafontaine die um zusammengerafft, das es in Bonn seit gegeben Macht der Bundesbank unterschätzt, über deren „Geldpolitik hat. Und doch ist es ein zweifelhafter Erfolg. Schon bald merkt mit Hosenträger und Gürtel“ er sich gern belustigt. Die Banker, Lafontaine, dass er sich verhoben hat. Diskret fragt er beim Stoll- denen der SPD-Chef bisweilen „abgrundtiefe Dummheit“ nach- mann-Nachfolger Werner Müller an, ob der nicht jene Unterab- sagte, haben hinter den Kulissen ein lautloses Spiel getrieben.We- teilung zurück haben möchte, die all die lästigen Beihilfestreitig- nige Tage zuvor, bei einem Treffen im Raum 245 von Haus IV des keiten mit EU-Kommissar Karel Van Miert ausfechten muss. Mül- Bonner Finanzministeriums, machte Bundesbank-Vize Jürgen ler lehnt dankend ab. Stark unmissverständlich klar, dass die Währungshüter den deutsch-französischen Vorstoß für so genannte Wechselkurs-Ziel- DIENSTAG, 20. OKTOBER, BONN. zonen „auf keinen Fall“ mittragen würden. Der künftige Kanzler und sein designierter Außenminister kom- Die große Show muss abgeblasen werden. Sichtlich genervt men über die Feuertreppe in die Bundespressekonferenz. Vor spricht der Bundesfinanzminister an diesem Morgen deshalb nur dem Saal drängen sich die Journalisten so dicht, dass Gerhard davon, jeder müsse sich „an seine eigene Nase fassen“ . Hans Tiet- Schröder und Joschka Fischer keine Chance haben, durch den nor- meyer, der triumphierend neben Lafontaine sitzt, greift das sofort malen Eingang an die Mikrofone zu gelangen. auf und zieht einen Bericht des Internationalen Währungsfonds Die Herren verkünden, was längst jeder weiß: Die Koalitions- hervor. Auf englisch zitiert er minutenlang, welche Aufgaben die verhandlungen sind erfolgreich abgeschlossen. Der Ton ist locker deutsche Finanzpolitik habe (soll heißen: Lafontaine) und wie vor- und wirkt nach 16 Jahren Kohl-Pathos wie eine Erlösung. Die züglich die deutsche Geldpolitik sei (soll heißen: Tietmeyer): Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers erklärt der Grüne so: „Das“, so schließt der Bundesbanker seinen Vortrag süffisant, „Der Kanzler macht alles, und auf dieser Basis wird das eine „ist meine Nase.“ gute Zusammenarbeit.“ Diesem Grundsatz, sagt Schröder, müs- se er „nichts hinzufügen“. Und was ist mit Oskar? Ob er be- MITTWOCH, 18. NOVEMBER, BONN. fürchte, dass der Herr Lafontaine Schatzkanzler werden wolle, Bis spät in die Nacht beraten Schröder und Lafontaine über die wird Schröder gefragt. Die Antwort kostet der Männerfreund leidigen 620-Mark-Jobs. Ob Steuerreform, Energiesteuer, Billig- genüsslich aus: Also, wenn er so sehe, was „die Schwarzen“ an jobs oder Frührente: Immer mehr entpuppt sich das Fehlen eines Geld hinterlassen haben, könne von einem „Schatz“ keine Rede eingespielten Frühwarnsystems als Problem. Die Abstimmung sein. Pause. Dann hart und schnell wie eine Klapperschlange: zwischen Bund, Ländern und Fraktion funktioniert nicht. Schnell- „Und Kanzler werde ich!“ schüsse mit späteren Korrekturen sind der Regelfall.

der spiegel 40/1999 125 Titel

Lafontaines Plan, sein Finanzministerium diskret, aber ziel- monstrativ erhobener Stimme zieht er gegen die „so genannten strebig zum zweiten Machtzentrum neben dem Kanzleramt Modernisierer“ innerhalb von Partei und Regierung zu Felde. auszubauen, stößt schnell an Grenzen. Systematisch schneidet Der Kanzler am Nebentisch überhört den laut sprechenden Fi- Hombach Lafontaine vom ständigen Informationsfluss ab. nanzminister bewusst. Lafontaine seinerseits sieht sich zunehmend von Feinden umstellt: Im Ministerium vertraut er alsbald nur noch seinem FREITAG, 11. DEZEMBER, WIEN. kleinen Küchenkabinett, zu dem vor allem Noé und Flass- Die europäischen Staats- und Regierungschefs erleben auf beck zählen. Ansonsten gilt der Saar-Ökonom als „beratungs- ihrem Gipfel in Wien einen gut gelaunten Kanzler. Dagegen resistent“. Akten lese er kaum, bemängeln Mitarbeiter, selbst wirkt Lafontaine eher mufflig. Nachmittags verlässt der Finanz- auf die morgendliche Lagerunde, in der die wichtigsten Themen minister, gelangweilt von den endlosen Diskussionen in der und aktuelle Pressenachrichten besprochen werden, verzichtet Wiener Hofburg, seinen Platz neben Schröder, um in einer Knei- der Minister. pe einige Schnäpse zu sich zu nehmen. Zum Pressegespräch im traditionsreichen „Café Central“ am späten Abend erscheint MITTWOCH, 25. NOVEMBER, BONN. auch Außenminister Fischer. Der und Schröder reden, Lafon- Das englische Massenblatt „Sun“ nennt Lafon- taine schweigt. taine den „gefährlichsten Mann“ von Europa. Hinterher setzt sich die deutsche Delegation ins Hotel „Impe- Beeindrucken lässt sich der Finanzminister von rial“ ab, eines der besten Hotels in Europa. Schröder redet sich der Attacke nicht, zumal ihm Schröder mannhaft mit einigen deutschen Unternehmern, die im Imperial wohnen, Solidarität erweist: „Das ist die blanke Schwei- an der Bar in Fahrt. Ihm passt es gut, dass sein verantwortlicher nerei.“ Erst später wird bei Lafontaine der Ein- Mann ebenfalls am Tisch sitzt: Oskar Lafontaine. „Erklären Sie“, druck entstehen, hinter dem britischen Angriff bittet Schröder die angeheiterten Unternehmer süffisant, „diesen

REX FEATURES stecke Hombach. Makroökonomen doch mal die Probleme des deutschen Mittel- standes.“ Lafontaine, der eigentlich in kleiner Runde den Ge- DONNERSTAG, 3. DEZEMBER, KÖLN-WAHN. burtstag seines Staatssekretärs Flassbeck feiern will, macht gute In Sektlaune erscheinen Lafontaine und Staatssekretär Flassbeck Miene zum bösen Spiel. zum Abflug nach Washington am Flugplatz. Das Duo ist kurz zu- vor davon überrascht worden, dass die Bundesbank endlich die Zinsen gesenkt hat, was die beiden seit Wochen gefordert haben. An Bord der Bundeswehr-Maschine gönnen sich Flassbeck und La- fontaine ein paar Flaschen Bier. Doch so fröhlich der Flug verläuft, so unterkühlt fällt der Emp- fang in der US-Hauptstadt aus.Alan Greenspan, der amerikanische Zentralbankpräsident, lässt seinen Bewunderer Lafontaine zehn Mi- nuten lang warten. US-Finanzminister Robert Rubin geht schon beim Handschlag auf Distanz. Trotz freundlicher Worte entbietet Washington den Gästen aus Bonn dezent die kalte Schulter. Die Washingtoner Finanzstrategen lieben keine Schulmeister. Sie zeigen wenig Interesse an den Plänen, die Lafontaine und sei- ne Geldpolitiker mit Ungeduld vortragen. AP DIENSTAG, 8. DEZEMBER, SAARBRÜCKEN. DER WIENER EU-GIPFEL verschafft Kanzler Schröder gute Laune im Stirnrunzelnd lauschen die Delegierten des SPD-Europa-Partei- Kreise der neuen Kollegen Viktor Klima und Tony Blair – Lafontaine bleibt mufflig am Rande. tages, darunter der europhile Lafontaine, der Grundsatzrede ih- res neuen Kanzlers. Schröder klingt nicht sonderlich optimistisch zum Auftakt der deutschen Ratspräsidentschaft. Die bisherige Die Begebenheit ist symptomatisch: Schröders Unterton lässt Bonner Europapolitik sei „an ihr Ende geraten“. Mehr als die keine Zweifel daran, wie weit die ökonomischen Denkschulen der Hälfte aller Gelder, „die verbraten werden“ in der EU, kämen aus beiden Rivalen auseinandergedriftet sind. Noch während der Koa- Deutschland. Der Beifall hält sich in Grenzen. litionsverhandlungen hatte Lafontaine seinen Feldzug gegen den Abends, beim trauten Stelldichein der SPD-Ministerpräsiden- globalen Kasinokapitalismus gestartet, sich mit dem französi- ten in der Saarbrücker Staatskanzlei, ist das Klima völlig verän- schen Finanzminister Dominique Strauss-Kahn getroffen oder dert. Schröder beschwört die Länderfürsten: „Ihr seid nicht Mi- heimlich in der saarländischen Landesvertretung Michel Cam- nisterpräsidenten, weil ihr so toll seid, sondern weil ihr die SPD dessus, den Chef des Internationalen Währungsfonds, empfangen. repräsentiert.“ Doch was schert den Kanzler Lafontaines Dozieren über Real- Bis spät in die Nacht sitzt die Runde bei rotem Burgunder und zinsen und Wechselkurse, wenn daheim die Wirtschaft wegen der dicken Zigarren beisammen und versichert sich gegenseitiger So- Steuerreform Sturm läuft? Mikro, nicht Makro – das ist Schröders lidarität. Nachdem die Mehrzahl der Teilnehmer gegangen ist, Welt. Nur widerwillig stimmt er deshalb in den Chor derer ein, plaudern Schröder und Lafontaine noch an der Sitzungstafel fast die die Bundesbank zu niedrigen Zinsen drängen: Da sein Fi- eine Stunde unter vier Augen. „Das schien in allerbestem Ein- nanzminister dies fordert, auch dessen ökonomische Berater und vernehmen – wie ein Herz und eine Seele“, berichtet hernach ein gar seine Ehefrau einstimmen, kann der Kanzler nicht wochen- Teilnehmer. lang dazu schweigen. Später versichert Schröder, dass er Lafon- Fortan treffen sich die SPD-Ministerpräsidenten regelmäßig taines Kampf gegen die Bundesbank „immer für unsinnig gehal- am Vorabend der Bundesratssitzungen in lockerer Runde. Lafon- ten“ hat. taine lässt sich seinen Verdruss darüber nicht anmerken, dass Par- tei und Präsidium damit weiter an Einfluss verlieren, während das MONTAG, 14. DEZEMBER, BONN. Kanzleramt seine Zuständigkeiten systematisch ausbaut. Für Lafontaine ist es kein gemütlicher Tag. Im Parteipräsidium flackert eine kontroverse Debatte über die Haltung zur PDS und MITTWOCH, 9. DEZEMBER, BONN. zur mangelnden Koordination innerhalb der Regierung auf. Ver- Beim Weihnachtsessen des Kabinetts im Kanzlerbungalow sucht spätet stößt Lafontaine zu einem Abendessen mit seiner Frau Lafontaine zu fortgeschrittener Stunde die Provokation. Mit de- Christa Müller und Freunden in einem Bonner Restaurant. Hun-

126 der spiegel 40/1999 Titel ger verspürt er nicht, kaum, dass er am Gespräch teilnimmt. Die vergangenen Wochen haben in seinem Gesicht Spuren hinterlas- sen. Fast nebenbei lässt er das Wort „Rücktritt“ fallen, um dann – spürbar engagierter – von den Verhandlungen über den Kauf ei- nes Bauernhofs im Saarland zu berichten. Christa Müller spinnt den Faden weiter, plaudert übers Kühemelken und das Vieh auf dem Hof. Die Ideen sind offenbar weit gediehen.

FREITAG, 18. DEZEMBER, BONN.

Schröder und Lafontaine treffen sich zu einem gemeinsamen OSSENBRINK F. Abendessen mit Ehefrauen in der Bonner Saarland-Vertretung. DER WELTÖKONOM Lafontaine und sein Staatssekretär Heiner Lafontaine will immer wieder konkrete Absprachen von Mann zu Flassbeck bauen das Finanzministerium zur Bastion gegen die Neolibera- len im Kanzleramt aus. Mann gewünscht haben, aber irgendwie sei es nie gegangen. Die Frauen, heißt es von beiden Seiten, seien wertvoll gewesen, wenn den Pragmatiker Gretschmann dagegen. Wenige Tage später be- es wirklich Krach zu geben drohte. Aber natürlich habe man in fördert er den Abteilungsleiter auch noch zum „Sherpa“ für die ihrem Beisein „nicht auf den Punkt“ reden können. Ein Vier- Weltwirtschaftsgipfel – ein klarer Affront gegen Lafontaine, denn Augen-Gespräch gab es zwischen Schröder und Lafontaine, seit in den beiden letzten Jahrzehnten kam der Gipfel-Begleiter im- der Regierungsbildung, wohl nur ein einziges Mal – im Bonner mer aus dem Finanzministerium. Restaurant „Robichon“. Es folgt ein fortwährender Schlagabtausch: Während Lafon- taines Helfer das Finanzministerium zum Hort des Keynesianis- MONTAG, 11. JANUAR 1999, BONN. mus ausbauen, bemüht sich das Kanzleramt, im eigenen Haus eine Innenminister Otto Schily will die Reform des Staatsbürger- zusätzliche „Denkfabrik“ (Gretschmann) zu etablieren. Wenn schaftsrechts rasch vorantreiben, doch die drohende Unterschrif- Lafontaines Mannen ein Thesenpapier zur Weltwirtschaft erstel- tenaktion der Union, die im hessischen Landtagswahlkampf da- len, schicken Schröders Getreue das Papier mit dem Vermerk mit Punkte machen will, bringt die Koalition nun in Bedrängnis. „Quatsch!“ zurück. Nach der Sitzung des SPD-Präsidiums wirft Lafontaine der Uni- on vor, „populistisch auf der Welle der latenten Ausländerfeind- MONTAG, 8. FEBRUAR, WIESBADEN. lichkeit zu surfen“. Gleichwohl sei es „selbstverständlich, bei den Die Hessen-Wahl ist für die SPD verloren gegangen. Ihre Stamm- parlamentarischen Beratungen Verstän- wähler sind aus Enttäuschung über die chaotische Regierung in digungen dort zu suchen, wo sie möglich Bonn zu Hause geblieben. sind“. Ganz offensichtlich kann sich La- Von Brüssel aus fordert La- fontaine konkrete Verhandlungen lebhaft fontaine erneut „seriöse Ge- vorstellen. Einen Präsidiumsbeschluss, spräche mit der Union“über wie er später behauptet, gibt es aber das Staatsbürgerschaftsrecht. nicht. Sein Fazit nach der Wahl- M. URBAN schlappe: „Daraus müssen wir EIN NEUES STAATSBÜRGERSCHAFTSRECHT will Lafontaine mit der jetzt Konsequenzen ziehen.“ Union durchbringen – gegen den Willen von Innenminister Otto Schily und J. H. DARCHINGER J. Wieder in seinem Büro, wettert der SPD-Fraktionsmehrheit. DIE HESSEN-WAHL geht verloren, er über die munter weiter di- die erste Quittung für das rot-grüne lettierende Regierung: „Jetzt DIENSTAG, 19. JANUAR, BONN. Chaos und die rivalisierende Dop- pelspitze. ist Schluss.“ Mit seiner Forderung, über die Staatsbürgerschaft Verhandlungen mit der Union aufzunehmen, läuft Lafontaine in der Fraktion DIENSTAG, 9. FEBRUAR, BONN. auf. Schily entgegnet: „Wir verhandeln nicht mit Reaktionären.“ Lafontaine gerät zunehmend in Isolierung. Er wirkt gereizt und mutlos. Als er sich nach einem Spitzengespräch mit den Grünen SAMSTAG, 30. JANUAR, BONN. optimistisch äußert, dass mit der Union doch noch eine Einigung Die 100-Tage-Bilanz der Regierung fällt verheerend aus. Erbar- in der Frage der Staatsbürgerschaft erzielt werden könne, lassen mungslos wird der Stand der Dinge bei Atomausstieg und Ar- ihn die Genossen allein. Weder Innenminister Schily noch der beitsmarkt, bei Steuer- und Rentenreform öffentlich seziert. Ob die Kanzler, noch Fraktionschef Struck unterstützen ihn. „Meine Be- interne Koordination, die Öffentlichkeitsarbeit oder die ständigen reitschaft, Prügel einzustecken für Dinge, die ich nicht zu ver- Nachbesserungen – die Noten sind miserabel. „Oberflächlich“, antworten habe, ist begrenzt“, donnert Lafontaine im Parteiprä- „flüchtig“, „nicht wirkungsvoll“, schreibt die „Zeit“ und fragt: sidium. Schröder neben ihm blickt ungerührt drein. „Wo ist die Linie?“ Von „aberwitzigem Dilettantismus“ spricht der Als ihn der SPIEGEL in einem Interview auf die Doppelbe- Berliner „Tagesspiegel“, und die „Süddeutsche Zeitung“ beob- lastung als Minister und Parteichef anspricht und fragt, ob er achtet eine „kraftprotzenhafte“ und „halbstarke Politik“. nicht ein Amt aufgeben müsse, starrt Lafontaine eine lange Mi- nute wortlos ins Leere. „Das glaube ich nicht“, mit dem im ge- FREITAG, 5. FEBRUAR, BONN. druckten Interview die Antwort beginnt, hat seine Pressespre- Klaus Gretschmann, der Chefökonom des Kanzlers, druckst her- cherin eingefügt. Er sagt: „Beide Aufgaben beanspruchen viel um. Ja, er habe da einen Entwurf des Finanzministeriums in der Zeit und Energie. Damit muss ich zurechtkommen.“ Tasche, doch leider, so lässt er die Abgesandten der G7-Runde auf dem Bonner Petersberg wissen, könne er das Papier nicht vertei- DIENSTAG, 9. FEBRUAR, BONN. len – es sei einfach zu schlecht. Irritiert registrieren die Delega- Bei einem Treffen mit seinen Freunden von der Parlamentarischen tionen der sieben wichtigsten Industriestaaten, welch merkwür- Linken macht Lafontaine seinem Zorn Luft. Massiv beklagt er sich diger Konflikt innerhalb der deutschen Regierung schwelt. Denn über Erscheinungsbild und Koordinierung der Regierungspolitik: nicht nur die Spitzenleute Schröder und Lafontaine fechten ge- „Kommödienstadl“. Die Absprache sei „nicht ausreichend“, gran- geneinander, sondern auch ihre Truppen. telt er, zudem gezielt einseitig. Die Debatte über den Fraktions- Der Stellvertreterkrieg hat System: Kaum hat Lafontaine im vorsitz sei, so sagt er, „zu meinen Lasten geführt worden“. Oktober seinen nachfrageorientierten Vordenker Heiner Flassbeck Führung? „Wenn ich nur aus der Zeitung erfahre, wie der Atom- im Finanzministerium installiert, setzt Schröder im Kanzleramt ausstieg läuft, ist es mir nicht möglich, eine klare Politik vorzu-

128 der spiegel 40/1999 geben.“ Doch die erhoffte Unterstützung fällt dürftig aus. Auch die Genossen sind gereizt. Sie beziehen in ihren Wahlkreisen MONTAG, 22. FEBRUAR 1999, BONN. Prügel. Das Kabinett befasst sich unter Tagesordnungspunkt 6 mit der in- Als Lafontaine erklärt, er habe schon vor Wochen auf die Mög- ternationalen Lage. Die Minister Scharping und Fischer unter- lichkeit des FDP-Modells zur Staatsbürgerschaft hingewiesen, richten die Runde ausführlich über die Lage im Kosovo. Lafontaine schallt es aus dem Plenum zurück: „Wo denn?“ und „Das ist interveniert: „Wir stehen hier an einem wichtigen Punkt. Als Par- doch ärgerlich!“ Lafontaine macht einen abgespannten Eindruck: teivorsitzender muss ich das Kabinett fragen, ob dieser Einsatz „Langsam ist eine Grenze erreicht.“ wirklich nötig ist.“ Es sind nicht die ersten Nachfragen des Parteichefs.Wiederholt, MITTWOCH, 10. FEBRUAR, BONN. so erinnern sich Kabinettsteilnehmer, habe Lafontaine beim The- Der Weltfinanz-Experte Oskar Lafontaine gerät unter Druck. Ein ma Kosovo in den vorangegangenen Wochen in der Ministerrun- Reporter der Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“ will präzise von de nachgefragt: „Wie ist denn da jetzt unsere Linie?“ ihm wissen, wie denn nun die „retrograde Wertermittlung“ Fragen über Fragen. Aber nachhaltigen Widerstand leistet La- geregelt werde? Lafontaine muss passen. Dass die Fragesteller im fontaine nicht. Alle Kosovo-Beschlüsse fallen einstimmig. Saal der Bundespressekonferenz alles „so genau wissen“ wollen, Auch unter den Abgeordneten ist die Stimmung explosiv. La- habe er nun ja wirklich „nicht ahnen können“, entschuldigt fontaine spricht in der Fraktionssitzung am selben Tag von einem er sich. angeblichen „Präsidiumsbeschluss“ zur Staatsbürgerschaft. Schi- Dabei geht es um ein Herzstück der rot-grünen Regierungs- ly widerspricht entschieden: „Es macht keinen Sinn, einen Ge- politik: die Steuerreform.Auf Betreiben des Kanzlers hat das Ka- setzentwurf vorzulegen, mit dem wir in Schönheit sterben.“ binett an diesem Morgen wichtige Nachbesserungen zu Gunsten Lafontaine klagt auch über die Ökosteuer, die im Kanzleramt des Mittelstandes beschlossen, alles in allem über fünf Milliarden erneute Korrekturen erfahren hat: „So kann das alles nicht wei- Mark wert. Lafontaine scheint dies wenig zu interessieren. Die Ma- tergehen.“ Doch erst als Schröder gegangen ist, bricht es richtig terie sei so kompliziert, dass er sie „auf die Schnelle nicht erklären aus ihm heraus.Wütend hält er das „Handelsblatt“ hoch: „Ich bin möchte“, bemerkt er knapp.Als die Journalisten ihn dennoch mit es leid, die Dinge aus der Zeitung zu erfahren. Ich will nicht im- detaillierten Fragen nerven und auszulachen beginnen, raunzt er mer als der Depp dastehen. So kann man eine Regierung nicht seinen neben ihm sitzenden Pressesprecher an: „Die zerreißen führen.“ Die Zeitung hatte über Steuersenkungspläne der Re- mich wegen eurer Blödheit wieder.“ gierung berichtet, die nicht Lafontaines Absichten entsprachen. Der peinliche Auftritt bestärkt die Entourage des Kanzlers in Mühsam versucht Fraktionschef Struck zu moderieren: „Es muss ihrem Argwohn. Schon seit längerem zürnen Schröders Vertrau- auch mal gestattet sein, dass ein Finanzminister seinem Ärger te über das Zahlen-Chaos aus dem Finanzministerium. Besonders Luft macht.“ das Tohuwabohu um die Besteuerung der Atomrückstellungen Längst ist Lafontaine davon überzeugt, dass aus dem Kanzler- provoziert bittere Kommentare: „Oskars Leute können nicht amt gezielt gegen ihn agitiert wird. Hat nicht seine persönliche Re- rechnen.“ ferentin Hilde Lauer erst aus der Zeitung erfahren, dass für einen der nächsten Tage ein Koalitionsgespräch anberaumt worden ist? FREITAG, 12. FEBRUAR, BONN. Als sie im Kanzleramt anruft und mitteilt, dass Lafontaine an die- Im Rheinland tobt der Karneval, als sich Schröder und Lafontaine sem Tag bereits andere Verpflichtungen hat, heißt es lapidar: „Ach in der Saar-Vertretung zum gemeinsamen Abendessen treffen. ja, das haben wir einfach vergessen.“ „Wir reden ja kaum noch miteinander“, hat Lafontaine wieder und wieder geklagt. DIENSTAG, 23. FEBRUAR, BONN. Die Gespräche drehen sich vor allem um die Rollenverteilung Der Bundestag debattiert über der Männer. Wieder einmal wird vereinbart, dass Lafontaine sei- den Etat 1999, und eher en pas- ne integrativen Qualitäten einbringt, Schröder als Einzelkämpfer sant erwähnt Lafontaine eine seine (damals noch vorhandene) Popularität. Im Kanzleramt Zahl, die sein Nachfolger Hans schwärmt Schröder anschließend über das gemütliche Beisam- Eichel später zum Maß aller mensein. Dinge erhebt: 30 Milliarden Mark – so groß sei die „struk- SAMSTAG, 20. FEBRUAR, MÜNS- turelle Deckungslücke“ im AP TER. kommenden Haushalt. Dieser IM ETAT entdeckt Lafontaine eine Schröder tritt bei „Wetten, Betrag, soll das übersetzt 30-Milliarden-Mark-Lücke – doch das Defizit findet wenig Beachtung. dass …?“ im ZDF auf und muss heißen, muss im Jahr 2000 ein- sich beinahe eine peinliche gespart werden. „Keine leichte Überprüfung seiner Haarpracht Aufgabe“, wie Lafontaine bekennt. In der hitzigen Debatte fin- auf Farbechtheit gefallen las- det die versteckte Ankündigung nur wenig Beachtung. Immer sen. Am Tag danach wohnt er noch glauben alle, Lafontaine werde eher den Europäischen mit Gattin Doris einer Versace- Stabilitätspakt oder die Verschuldungsregeln des Grundgesetzes Modenschau bei – einer Bene- missachten, als auf einen eisernen Sparkurs einzuschwenken. fiz-Veranstaltung. Sie hat ihren Dabei hatte ein anderer Saarländer, der Haushaltspolitiker Hans Kanzler mitgeschleppt, weil sie Georg Wagner, schon drei Wochen zuvor verkündet, beim Etat Geld für karitative Zwecke ein- 2000 werde es „Blut und Tränen“ geben. Ist der SPD-Vorsit- treiben will. In der Öffentlich- zende, der sich der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet fühlt, keit entsteht dennoch der Ein- tatsächlich dazu bereit? Oder tappt er womöglich in eine selbst druck, der Chaos-Kanzler ziehe gestellte Falle? bunte TV-Auftritte, Karnevals- Schließlich hat Lafontaine sich im Euro-Stabilitätsprogramm, feiern, Filmfestspiele oder Lauf- das im Januar nach Brüssel geschickt wurde, zu einem konti- steg-Termine einer geordneten nuierlichen Schuldenabbau verpflichtet. Eichels Mitarbeiter Regierungsarbeit allemal vor. werten das Papier heute als Beleg dafür, dass die Sparpläne

DPA „Wie wär’s mal mit Regieren, auch bei Lafontaine längst angedacht waren. Parteigänger SHOW-AUFTRITTE bringen Schrö- Herr Kanzler?“, fragt spitz die Lafontaines wiederum erinnern an einen Auftritt Eichels im der in den Ruf des Spaß-Kanzlers. „Hamburger Morgenpost“. SPD-Präsidium. Zwei Wochen vor der Hessen-Wahl habe der

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Ministerpräsident dort die Bonner gewarnt: Kanzler ist dran: „Du musst sofort kommen.“ Fi- „Macht mir mit euren Sparplänen nicht meine scher: „Was ist los?“ Schröder: „Das kann ich dir Wahl kaputt.“ jetzt nicht sagen.“ Mit Baseballkappe und in kur- zen Hosen, schwitzend und keuchend vom Laufen, MITTWOCH, 3. MÄRZ, BONN. erscheint Fischer bald darauf im Kanzlerbüro, wo Die Spannungen zwischen Gerhard Schröder ihn Schröder und seine Berater erwarten. und Oskar Lafontaine nehmen erkennbar zu. „Oskar ist zurückgetreten, von allen Ämtern.“ „Wenn du es nicht schaffst, für Ordnung zu sor- – „Von allen?“, fragt Fischer fassungslos. Schröder: gen“, hatte Lafontaine Schröder angeranzt, „Ja.“ – „Vom Parteivorsitz?“ – „Ja.“ – „Und das „dann werde ich es tun.“ Im Kabinett schlägt der Mandat?“ – „Ja.“ Schröder wirkt getroffen, aber Kanzler zurück. Wenn Finanzministerium und konzentriert. „Du musst auch den Parteivorsit- Energiewirtschaft sich nicht einigten über die zenden machen“, sagt Fischer nach kurzem Nach- Höhe der Rückstellungen, werde er die geplan- denken. „Du musst aufpassen, dass die SPD nicht ten Konsensgespräche absagen, droht er. Für alle auseinanderbricht. Du musst für eine geschlosse- Zeugen ist die Botschaft eindeutig: „Damit hat ne SPD sorgen.Alles andere ist nachrangig.Wenn er Lafontaine verdonnert, vernünftige Zahlen die SPD kopflos und führungslos ist, wird sie vorzulegen.“ zersägt.“ SCHRÖDER IN „LIFE & STYLE“ Die Logik ist zwingend, sie entspricht auch DONNERSTAG, 4. MÄRZ, HAMBURG. Schröders Kalkül: Er weiss, dass er das Machtva- Der „Stern“ orakelt, dass möglicherweise bald ein neuer kuum in der Partei schließen muss, um seine Macht als Kanzler Finanzminister benötigt werde. Eine Anfrage an Hans Eichel sei zu erhalten. Nur kurz wird über Alternativen geredet. „Gibt es bereits ergangen. jemanden in den Ländern?“, fragt Schröder seine Leute. „Vergiss es“, sagt Fischer. MONTAG, 8. MÄRZ, BONN. Professionell macht sich die Runde daran, den Schaden zu ana- Im SPD-Parteirat bricht der Grundkonflikt auf. Lafontaine be- lysieren und die Risiken abzuwägen. Dass Lafontaine sein Man- ginnt: Dass die Wirtschaft Sturm gegen die rot-grünen Reform- dat niederlegt, ist für den Kanzler irrelevant. Dass er als Finanz- projekte laufe, bezeichnet er als „nachvollziehbar“. Es würden minister zurücktritt – schmerzlich. Gefährlich ist sein Rücktritt als eben die Weichen anders gestellt als in den vergangenen 16 Jah- Parteichef. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Möglichst ren. Leidenschaftlich fordert er die Genossen auf, diese „arbeit- schnell will Schröder aus der Defensive kommen und die Deu- nehmer- und familienfreundliche Politik“, die es viel zu lange nicht tungshoheit zurückgewinnen. Für 20 Uhr wird eine Pressekonfe- gegeben habe, weiter offensiv zu vertreten, auch bei Gegenwind. renz anberaumt. Anschließend soll in der NRW-Vertretung ein Dann redet Schröder: „In der Sache“, sagt er, sei er mit der Bi- Treffen aller verfügbaren Spitzenkräfte der SPD stattfinden. lanz Lafontaines einverstanden. Doch halte er es für falsch, sich Kurze Zeit später trifft Eichel im Kanzleramt ein. Schröder hat allzu einseitig festzulegen. Man könne keine Politik gegen die ihn nach Bonn beordert. Der abgewählte hessische Ministerprä- Wirtschaft machen. „Niemandem nützt es, wenn man sich De- sident ist bereit, das Amt des Finanzministers zu übernehmen. batten in alter Klassenkampfqualität liefert.“ Es gibt keinen großen Applaus nach Schröders Rede, eher ein SONNTAG, 14. MÄRZ, SAARBRÜCKEN. unbehagliches Schweigen. Der Gegensatz liegt jetzt offen zu Tage. Noch immer belagern Reporter das Haus Am Hügel 26 in Saar- Lange kann es nicht mehr gehen mit den Männerfreunden. brücken. Seit Lafontaines Flucht ins Privatleben vor drei Tagen hat sich nur einmal Söhnchen Carl-Maurice gezeigt und ihnen die DIENSTAG, 9. MÄRZ, BONN. Zunge rausgestreckt. Jetzt kommt der Chef persönlich. Die „Bild“-Zeitung präsentiert den von der Zeitschrift „Life & „Ich habe natürlich einen gewissen Abstand zu meiner Ent- Style“ in Szene gesetzten Kanzler vorab in dunklem Kaschmir- scheidung gebraucht“, entschuldigt er sein Schweigen. „Mit der Mantel und in teurem Kiton-Anzug. Während das Massenblatt Richtung der Politik, die wir in den letzten Monaten gemacht ha- den Kanzler „perfekt gestylt“ sieht, tobt Lafontaine beim Anblick ben, hatte das nichts zu tun.“ Im Gegenteil: „Wir sind stolz dar- der Bilder in der SPD-Zentrale. „Der macht uns noch alles kaputt.“ auf, dass wir viele Versprechungen gehalten haben.“ Immer noch glimmt der Streit um die Atom-Rückstellungen, Der Grund des Rücktritts sei allein „das schlechte Mann- doch Lafontaine gibt sich plötzlich kulant: Natürlich werde sein schaftsspiel, das wir in den letzten Monaten geboten haben. Ohne Haus die Steuerreform nachbessern, falls man sich „gravierend ein gutes Mannschaftsspiel kann man nicht erfolgreich arbeiten“. verschätzt“ habe. Doch als Schröder am Dienstagabend die Atom- Je länger Lafontaine vom Teamgeist redet und davon, dass er Bosse ins Kanzleramt bittet, endet das Gespräch ohne Ergebnis. weiter dazugehören will zu seiner Partei, in der er 33 Jahre zu- Die Strommanager nutzen die Gelegenheit, kräftig gegen die gebracht habe, davon etwa 30 in führenden Positionen, desto Berechnungen des Finanzministers zu Felde zu ziehen. Sie spre- schwülstiger klingt er. Er redet von seinem Attentat und von sei- chen von 25 Milliarden Mark an Belastungen, Lafontaine hatte zu- ner Familie. Und er endet mit einem pathetischen Bekenntnis: erst eine Obergrenze von 10 Milliarden Mark genannt. „Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt, aber es hat Die Energie-Chefs sprechen vor, während Lafontaine die Spit- einen Standort. Es schlägt links.“ zen der Handwerksverbände empfängt. Mißtrauisch wertet er es Damit beginnt der Werbefeldzug für Lafontaines neues Buch, als offenen Affront, dass er zu dem Energie-Gipfel nicht geladen das inzwischen als Bestseller gehandelt wird. Titel: „Das Herz war. Unverblümt unterstellt er Kanzleramtschef Hombach De- schlägt links.“ Horand Knaup, Jürgen Leinemann, montage. Hartmut Palmer, Ulrich Schäfer, Hajo Schumacher

MITTWOCH, 10. MÄRZ, BONN. DER RÜCKTRITT ist das vorläufige Ende eines Duells um die Macht. Lafontaines Haushaltsexperte Jochen Schwarzer zeigt dem Fi- nanzminister noch mal schonungslos die Zwänge der öffentli- chen Kassenlage auf. Es fehlen 30 Milliarden Mark.

DONNERSTAG, 11. MÄRZ, BONN. Gegen 16 Uhr reicht ein Leibwächter dem am Rheinufer joggen-

den Außenminister Joschka Fischer das Handy aus dem Auto. Der TELEPRESS

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