Rundbrief 3|4 BAG Antifaschismus der Partei DIE LINKE. 2013 Europa: Die Rechte in der Krise

InHalt

EDITORIAL ...... 3 Reiner Zilkenat

Europa: Die Rechte in der Krise

Veränderte Verhältnisse: Rassismus in Zeiten der Krise ...... 4 Sebastian Friedrich

Menschenverachtende Einstellungen und die organisierte Rechte in der Eurokrise ...... 10 Nikolai Huke und Aljoscha Pilger

Parlamentarische Demokratie und diktato­ ri­ ­sc­he Regime in Europa: Noch einmal der Fall Ungarn ...... 16 Karl-Heinz Gräfe

Nichts Goldenes an dieser »Goldenen Morgenröte« – Zur Aktualität des Neofaschismus in Griechenland ...... 25 Ulrich Schneider

Das Phänomen des Berlusconismus ...... 30 Karin Priester

Aufstieg des Rechtspopulismus auch in Deutschland? ...... 36 Gerd Wiegel

Historisches zu Faschismus und Antifaschismus

Käte Duncker als Abgeordnete des II. Landtags von Thüringen (1921–1923) ...... 40 Heinz Deutschland

Ein US-Dollar für eine Million Mark! ...... 43 Reiner Zilkenat

Der faschistische Werkschutz – ein Mordinstrument in der Judenvernichtung ...... 52 Stephan Jegielka

Berichte und Informationen

Erinnerungen an Gerhard Fischer (17.4.1930–9.8.2013) ...... 57 Horst Helas

Das Revolutionsdenkmal in -Friedrichsfelde ...... 58 Günter Wehner

Ausstellung »Europäischer Widerstandskampf« ...... 59 Ulrich Schneider Das Nationalkomitee »Freies Deutschland« ...... 61 Günter Wehner

Auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg

Die deutsche Sozialdemokratie zur wilhelminischen »Welt«- und Flottenpolitik 1897 bis 1900 ...... 62 Reiner Zilkenat

Sammelrezension

Zerstörte Vielfalt 1938. Drei neue Bücher zur Vorgeschichte des Novemberpogroms ...... 69 Horst Helas

Rezensionen

Widerstand und Heimatverlust. Deutsche Antifaschisten in Schlesien ...... 72 Jürgen Hofmann

Germanien, die Archäologie und der Nationalsozialismus . . . . . 74 Bernd Hüttner

»Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit-entscheidet Euch, eh` es zu spät ist.« ...... 75 Peter Fisch

Worte wie Stacheln ...... 77 Anke Hoffstadt

Fantifa – Eine vergessen Debatte? ...... 79 Bernd Hüttner

Nicht Österreicher, nicht Ungar: eine jüdische Jugend unter der Herrschaft der Achse ...... 80 Torsten Lambeck

Zur Geschichte der afrikanischen Diaspora in Berlin ...... 82 Ulrich Ramm

Schicksalen wieder ein Gesicht gegeben ...... 85 Werner Röhr

Geschichte als Schlachtfeld ...... 88 Philipp Schaab

Eine seltene Broschüre neu aufgelegt ...... 90 Ulrich Schneider

Hugo Geisslers Blutspur ...... 91 Günter Wehner

Innenansichten der Gestapo ...... 92 Reiner Zilkenat EditoriaL

»Die Rechte in der Krise« – tatsächlich entwickeln sich rech- dieser von Akademikern dominierten Partei verspricht jeden- te Parteien und Organisationen angesichts der anhaltenden falls bessere Erfolgschancen als die »traditionellen« rechten Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa ganz prächtig . Ob in Parteien NPD oder DVu . Ungarn, Griechenland oder Italien – sie profitieren von der um sich greifenden Perspektivlosigkeit, von den Gefühlen der In dieser Ausgabe beginnen wir mit einer neuen Rubrik, de- Ohnmacht und von der in einigen Ländern unübersehbaren ren Beiträge sich mit einigen Aspekten der Vorgeschichte Tendenz einer Verelendung von Teilen der Bevölkerung . des Ersten Weltkrieges befassen werden . Im Sommer des Aber Vorsicht! Auch dort, wo derartige Probleme (noch) nicht kommenden Jahres wird sich seine Entfesselung (nicht sein die Dimensionen wie in Griechenland, Spanien oder Portu- »Ausbruch«) zum hundertsten Male jähren . Auf dem Buch- gal erreicht haben, macht sich immer spürbarer rechtes Ge- markt hat die Kampagne zu diesem »Jubiläum« bereits erste dankengut breit . Auch in Deutschland sind »die Wirtschafts- Spuren hinterlassen . Diese Spuren schrecken . Die Botschaft asylanten«, »die Zigeuner«, »die faulen Südländer« (ein neues vieler aktueller Veröffentlichungen lautet, dass eigentlich verbales Konstrukt!) schnell als angebliche Verursache der niemand so recht Verantwortung für diese »Urkatastrophe komplexen Krisenursachen identifiziert, werden »Demonst- des 20 . Jahrhunderts« trägt, schon gar nicht die deutsche rationen« vor Flüchtlingsheimen organisiert, wobei die NPD Reichsleitung . Die in den sechziger und siebziger Jahren lei- und andere neofaschistische Organisationen initiativ werden . denschaftlich geführte »Fischer-Kontroverse«, deren Ergebnis Vor allem: Viele »normale« Bürger, die versichern, »eigentlich darin bestand, nicht die Allein- wohl aber die Hauptschuld gar nichts gegen Ausländer zu haben«, lassen sich hier inst- des deutschen Imperialismus an der Auslösung dieses Krie- rumentalisieren, wie das Beispiel Berlin-Hellersdorf demons- ges nachweisen zu können, spielt offenbar nur noch am Ran- triert hat . Angesichts der schockierenden Fernsehbilder Mit- de eine Rolle . Wir werden in dieser und in den nächsten Aus- leid mit den vor Lampedusa Gestrandeten zu bekunden ist gaben einzelne Aspekte dieser Thematik unseren Leserinnen wohlfeil, sie in Deutschland willkommen zu heißen und sie bei und Lesern zur Lektüre und zur Diskussion anbieten . uns dauerhaft aufnehmen zu wollen, ist bei Vielen höchst un- erwünscht . Mitleid ja, tätige Solidarität – nein danke! Hingewiesen sei auf den Nachruf auf Prof . Dr . Gerhard Fi- scher, das langjährige Mitglied unserer Arbeitsgemeinschaft, Ein bemerkenswertes Ergebnis der Bundestagswahlen vom aus der Feder von Horst Helas . Noch als über Achtzigjähriger September besteht darin, dass hierzulande die »Alternative war er rastlos unterwegs, an Schulen, in der VVN – dem Bund für Deutschland«, zweifelsohne eine rechtspopulistische Par- der Antifaschisten, als gefragter Diskussionspartner bei vie- tei mit Erfolgspotenzialen für die Zukunft, die systematisch lerlei Veranstaltungen und Kongressen und natürlich auch als die in weiten Teilen der Bevölkerung vorhandenen Ängste an- Autor, um aufzuklären und Antifaschistinnen und Antifaschis- gesichts der Euro-Krise schürt, nur knapp an der Fünf-Pro- ten mit unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen zent-Hürde gescheitert ist . Bei den Europa-Wahlen im kom- Überzeugungen zusammenzuführen gegen die braune Pest . menden Jahr sagen ihr die Demoskopen voraus, diese Marke Sein aus christlicher Verantwortung gespeistes Engagement deutlich überspringen zu können . Inwieweit diese neue Grup- wird uns fehlen . pierung imstande sein wird, ihre Wählerinnen und Wähler (Redaktionsschluss: 15 .Oktober 2013) dauerhaft an sich binden zu können, bleibt natürlich abzu- warten . Aber der betont »seriöse« und »bürgerliche« Habitus Reiner Zilkenat

3 Europa: Die Rechte in der Krise Veränderte Verhältnisse: Rassismus in Zeiten der Krise1

Bereits im Juni 2009 erklärte eine Mitarbeiterin des Europäi- (Mosler 2012: 21–26) . Diese Frage nimmt wiederum die dritte schen Netzwerks gegen Rassismus (Enar), Rassismus nehme hier dargestellte Position auf, allerdings bleibt bei dieser auch mit der Krise zu (Erb 2009) . Und im Vorwort einer Studie der unklar, warum der als Herrschaftsideologie eingesetzte Ras- Friedrich-Ebert-Stiftung zu »menschenfeindlichen« Einstellun- sismus anschlussfähig ist und wie er konkret Menschen dazu gen in Europa wird konstatiert, der extremen Rechten gelinge bringt, mehr Angst vor den Ohnmächtigen als den Mächtigen es gerade in Krisenzeiten, »mit Ausgrenzungsparolen und ver- zu empfinden . Aus dem Blick gerät vor allem die Reichweite meintlich einfachen Antworten zu punkten« (Zick/Küpper/ des Rassismus und die Frage, wie sich Rassismus neu zusam- Höwermann 2011: 9) . mensetzt und darstellt . Anders gesagt: Es bedarf einer Analy- Während die Zunahme von Rassismus im Zuge einer Krise se von Rassismus und Krise, die nicht einem statischen Ver- ein Gemeinplatz ist, gehen die Antworten auf die Frage nach ständnis von Rassismus folgt, sondern Veränderungen des den Gründen für das Erstarken des Rassismus in Krisenzei- Rassismus fokussiert . ten zum Teil weit auseinander . Zum einen heißt es (vor allem von konservativer Seite), der aufkommende Rassismus hät- Rassismus und Krise te seine Ursache in den sichtbaren Migrationsbewegungen Ich verstehe Rassismus im Allgemeinen als ein gesellschaft- beziehungsweise in der Präsenz von Migrant_innen . Ande- liches Verhältnis, in dem Gruppen von Menschen anhand re stellen die soziale Unsicherheit oder die Angst vor sozia- verschiedener echter oder erfundener Merkmale (Körper, lem Abstieg in weiten Teilen der Bevölkerung als Grund für Sprache, Kleidung, Herkunft etc .) klassifiziert werden . Die die Zunahme von Rassismus heraus . Demnach würden von so konstruierten Gruppen werden als dichotom gegenüber- der Krise Verängstigte die Schuld in Migrant_innen suchen gestellt, wobei den Objekten des Rassismus soziale Eigen- und sie zu Sündenböcken machen . Eine dritte (eher von Tei- schaften als unveränderlich zugeschrieben werden . Stuart len der Linken vertretene) Position sieht Rassismus als eine Hall sieht die gesellschaftliche Funktion des rassistischen von Eliten eingesetzte oder bediente Ideologie an, um Pro- Klassifikationsmodells darin, »soziale, politische und ökono- test- und Widerstandspotentiale zu schwächen, indem rassis- mische Praxen zu begründen, die bestimmte Gruppen vom tische Spaltungen in die von der Krise betroffenen Gruppen Zugang zu materiellen oder symbolischen Ressourcen aus- getrieben werden . schließen« (Hall 2000: 7) . Alle drei Erklärungsmuster fassen Rassismus unzureichend . Damit dient Rassismus mit Theodore W . Allen (1998) der so- Die konservative Deutung führt das Problem des Rassismus zialen Kontrolle und der Aufrechterhaltung von Herrschaft . auf das Vorhandensein von Migrant_innen zurück, stellt da- Die entsprechenden Objekte des Rassismus können dabei mit »Überfremdungsängste« der Mehrheitsbevölkerung ins wechseln, wie Allen am Beispiel katholischer Ir_innen dar- Zentrum ihrer Betrachtung und verschiebt somit in Konse- stellt, die im Zuge der Kolonialisierung zunächst in England quenz die Schuld den eigentlich von Rassismus Betroffenen rassistisch ausgeschlossen wurden . Nach der Auswanderung zu . Dieser Logik folgend müsste es in Regionen, in denen we- vieler katholischer Ir_innen in die USA erhielten diese nach nige Migrant_innen leben, kein Problem mit Rassismus ge- anfänglicher Diskriminierung sukzessive mehr Rechte und ben, umgekehrt müsste in Regionen, in denen viele leben, Privilegien . Zwar gab es Versuche, die eigene Unterdrückung Rassismus besonders ausgeprägt sein . Meist ist aber genau in Beziehung zu setzen zur rassistischen Unterdrückung von der umgekehrte Fall Realität . Die ersten beiden Erklärungs- Afroamerikaner_innen, dies setzte sich letztlich aber nicht muster haben gemein, dass sie in der Tendenz Rassismus in- durch . Die »›Weißwerdung‹ wurde langsam manifest« (Allen dividualisieren, psychologisieren und die emotionale Dimen- 1998: 303) . sion politischer Widersprüche auf ein Reiz-Reaktions-Schema Ein anderes Beispiel für die Wandlungsfähigkeit des Rassis- begrenzen . Dennoch unterscheidet sich die zweite Deutung mus ist die Ersetzung des Rasse-Konzepts durch das der Kul- von der ersten, da nicht vom Feld der »Kultur« ausgegangen tur im postkolonialen und post-nationalsozialistischen Zeit- wird, sondern soziale Themen mit einbezogen werden . Es alter . Frantz Fanon hielt bereits 1956 fest, dass sich der bleibt allerdings die Frage, warum Menschen, die sich »des- Rassismus, »der sich rational, individuell, genotypisch und integriert« fühlen oder Angst vor dem Verlust von Privilegien phänotypisch determiniert gibt«, sich in einen »kulturellen und Rechten haben, ihre Wut gegen Migrant_innen richten Rassismus« verwandelt (Fanon 1972: 40) . Laut Fanon ist

4 die zunehmende Fokussierung auf »Kultur« statt »Rasse« vor »Bestandteil des sozialen Klassenkompromisses waren der allem im Zusammenhang mit antikolonialen Kämpfen ent- Anstieg der Löhne und die Durchsetzung von Tarifverträgen, standen, die den Rassismus gewissermaßen zwangen, eine die die arbeitsrechtliche und soziale Absicherung für deut- andere Form einzunehmen; die traditionelle genetische be- sche Arbeiter und den Aufstieg innerhalb der betrieblichen ziehungsweise biologistische geriet zunehmend in den Hin- Arbeitsteilung sicher stellten« (Türkmen 2010: 214) . tergrund . Manuela Bojadzˇijev (2008) greift diese Perspekti- ve auf, indem sie davon ausgeht, dass sich die Formen und Es zeigt sich hieran, dass Rassismus »ein entscheidendes Ele- Wirkweisen des Rassismus vor allem aufgrund antirassisti- ment für die Konstitution sozialer Klassen« ist, wie Juliane scher Interventionen ändern . Nach ihrer relationalen Theorie Karakayalı klarstellt (2012: 100) . Wie ist, hiervon ausgehend, des Rassismus werden »die Konjunkturen des Rassismus im nun das Verhältnis von Rassismus und Krise zu betrachten? Verhältnis zu sozialen Kämpfen bestimmt« (Bojadzˇijev 2008: Um sich einer Antwort zu nähern, muss zunächst geklärt wer- 14) . Demnach sei eine Reorganisation des Rassismus, wie den, was diese aktuelle Krise auszeichnet . sie sich in der Isolierung bestimmter Forderungen und der Krisen stellen keinen Ausnahmezustand des Kapitalismus Integration anderer ausdrückt, auf die Kämpfe von Migrant_ dar, Kapitalismus ist immanent krisenhaft . Die aktuelle Kri- innen zurückzuführen (Bojadzˇijev 2008: 76), die keineswegs se ist nicht nur als eine konjunkturell-zyklische, sondern mit nur »naive Opfer und Objekte von Rassismus und Migrations- Antonio Gramsci (1996: 1557) als eine organische Krise des politiken« (Bojadzˇijev 2008: 13) sind, sondern letztere stets neoliberalen Kapitalismus zu verstehen (Candeias 2009) . herausfordern, eigene Forderungen aufstellen oder Zuschrei- Pauline Bader u .a . (2011: 13) sprechen von einer »multiplen bungen zurückdrängen . Krise«: Neben einer Krise der finanzdominierten Akkumulati- Diese Veränderungen des Rassismus müssen keineswegs in on machen sie eine sozial-ökologische, eine Krise der Repro- sich oder in Bezug auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse duktion und eine der parlamentarischen Demokratie aus (Ba- kongruent sein . So können sowohl »Kultur« als auch »Rasse« der u .a . 2011: 14–23) . Diese verschiedenen Krisenprozesse gleichzeitig kategoriale Ausgangspunkte zur Hierarchisierung seien miteinander verflochten und würden sich wechselseitig von Menschen sein . Auch können Rassismus und Kapitalin- beeinflussen . teressen in Gegensatz zueinander geraten, wenn etwa ein auf Rassismus kann und sollte dementsprechend nicht verstan- parlamentarischer Ebene vertretener und institutionell veran- den werden als ein Phänomen, das einfach zunimmt oder gar kerter völkischer Nationalismus die für die Kapitalakkumula- erst durch die Krise hervorgebracht wird . Ohne eine krisenbe- tion nützliche Anwerbung von Fach- oder Hilfsarbeiter_innen dingt stärkere Konkurrenz unter Arbeiter_innen sowie deren verhindert . Wenn wir Rassismus in Bezug auf die kapitalis- Angst vor sozialem Abstieg oder eine stärkere Sichtbarkeit tische Produktionsweise begreifen wollen, müssen wir Ras- von Rassismus leugnen zu wollen, führt doch die Perspektive sismus hinsichtlich der Klassenverhältnisse zu denken ver- einer »Wechselwirkung zwischen Krise und Rassismus« wei- suchen . ter, wie Balibar (1990b: 262) sie vorschlägt . Demnach orga- Étienne Balibar zeigte auf, dass der Begriff »Rasse« im Feuda- nisiere der Krisen-Rassismus einen neuen sozialen Konsens; lismus dem Erbadel dazu diente, sich im Vergleich zu Sklav_ es würden neue Klassen und Schichten aktiv (Balibar 1990b: innen und Leibeigenen als höherwertig zu positionieren und 263) . Ein Ansatz, demzufolge schlicht die Krise zu mehr Ras- die existierende Hierarchie gegenüber den Untergegebenen sismus führt, kann nicht Prozesse der Veränderung von Macht zu rechtfertigen . Erst mit Eingang in den »nationalistischen und Herrschaft erklären, etwa wie sich in organischen Krisen Komplex« bekam der Begriff seine heutige Bedeutung (Ba- neue rassistische Formationen etablieren können . Wenn wir libar 1990a: 251) . Innerhalb der Nationalstaaten kam es in die aktuelle Krise als Verdichtung verschiedener Krisenpro- den Industrieländern zu einem national begrenzten Klassen- zesse verstehen, im Zuge derer sich gesellschaftliche Verhält- kompromiss, da die einheimischen Arbeiter_innen als zur Na- nisse transformieren, so liegt es in Bezug auf Rassismus nahe, tion zugehörig begriffen wurden und gleiche formale Rechte nicht aus der Perspektive einer statischen Rassismusanalyse, erhielten – im Gegensatz zu den als »fremd« identifizierten . die feste Objekte und Subjekte kennt, auf die Krise zu blicken, Ceren Türkmen (2010: 213–216) hat die Aufrechterhaltung sondern zu fragen, inwieweit sich Rassismus transformiert . des nationalen Klassenkompromisses am Beispiel der »Gast- arbeiterära« in der Bundesrepublik konkretisiert . Mitte der Reaktivierung etablierter Rassismen 1950er Jahre waren Gewerkschaften stark, was dazu führte, Es wäre analytisch verkürzt, von einem einheitlichen europä- dass Arbeiter_innen nicht länger bereit waren, in Zeiten des ischen Rassismus auszugehen, außerdem ist eine umfassen- Wachstums und des Wirtschaftswunders zu niedrigen Löh- de Bestimmung der Veränderungen des Rassismus aufgrund nen zu arbeiten . Das Kapital suchte nach Möglichkeiten, um mangelnder Forschungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht mög- den höheren Löhnen zu begegnen, und setzte auf eine regu- lich . Dennoch lassen sich Tendenzen der Transformationen lierte Arbeitsmigration (zunächst) aus Südeuropa, womit man aufzeigen . Vergegenwärtigen wir uns die aktuellen Erschei- zugleich auf die bereits bestehenden Migrationsbewegungen nungsformen des Rassismus, lassen sich drei Ebenen von- antwortete (Bojadzˇijev 2008: 148) . einander unterscheiden, auf denen dieser momentan wirkt .

5 Erstens stehen seit der Krise wieder vermehrt Menschen im Fokus, die von außerhalb nach Europa oder innerhalb Europas migrieren . Dabei ist häufig die Rede von »Wirtschafts-« oder »Armuts- flüchtlingen« . Diese Bezeichnungen sind negativ konnotiert und drücken die De- legitimierung von bestimmten Migra- tionsbewegungen aus, welche durch Gesetzesinitiativen, den Ausbau von Si- cherheits- und Kontrolltechnologien so- wie der engeren Zusammenarbeit der EU-Staaten an den europäischen Au- ßengrenzen reguliert und unter Kon- trolle gebracht werden sollen . Insbe- sondere in Bezug auf die Situation von Flüchtlingen in den massiv von der Kri- se betroffenen Staaten Italien und Grie- chenland wird seit etwa zwei Jahren vermehrt über rassistische Gewalt und institutionelle Diskriminierung berich- tet . In einem Bericht von Bordermonito- ring .eu heißt es dazu: »Die Situation der Flüchtlinge in Italien ist geprägt durch extreme Armut, die im Wesentlichen aus einem Zusammenspiel fehlender staatlicher Unterstützung einerseits und administrativen Hürden andererseits entsteht« (2013: 29) . Insbesondere tref- fe dies auf die anerkannten Flüchtlinge zu, die eigentlich durch ihr bestätigtes Asylverfahren unter dem Schutz des ita- lienischen Staates stehen müssten . Am- nesty International berichtet zur Lage der Flüchtlinge in Griechenland: »Since 2010, asylum-seekers, refugees and irregular migrants, as well as the unofficial mosques, shops and com- muntiy centres they have developed, have been targeted in racially-motiva- tes attacks . There was a dramatic rise in the number of attacks throughout 2012« (Amnesty International 2012: 10) .

Der Anstieg der rassistischen Angrif- fe sowie die gestiegenen »xenopho- bic feelings« werden an gleicher Stel- le mit der ökonomischen Krise und mit harten Sparmaßnahmen erklärt . Aber auch in Deutschland, wo negative Aus- wirkungen der Krisenprozesse nicht in vergleichbarer Weise wie in Italien und Griechenland festzustellen sind, wer- den vermehrt »Armutsflüchtlinge« in

6 den Fokus gerückt . Das betrifft hier vor allem Migrant_innen kurze Abriss zeigt aber in der Tendenz, dass im Zuge der Kri- aus Bulgarien und Rumänien, oft mit antiziganistischem Un- se »traditionelle« Formen des Rassismus reaktiviert wurden, terton . So schrieb Anfang März 2013 die BILD in einer Serie aber auch, dass es sich keineswegs um ein rein diskursives die »Wahrheit über Roma in Deutschland«, behauptete etwa, Phänomen handelt, sondern Rassismus sich auch auf staatli- die Kriminalität von Roma steige an (Bild .de 2013a) und frag- cher und institutioneller Ebene vollziehen . Diese Entwicklun- te, ob ein Abgeordneter der Bremer Bürgerschaft Recht habe . gen lassen sich nicht monokausal auf die Krise im Sinne eines Dieser als »Roma-Kritiker« (Bild .de 2013b) bezeichnete SPD- Automatismus beziehen . Dennoch scheint es einen Zusam- Politiker ließ im Vormonat verlautbaren, dass er sich gegen menhang zu geben, da in Bezug auf alle drei Ebenen und hin- die Einwanderung von Roma ausspreche, da sie ihre Töch- sichtlich der verschiedenen Rassismen eine Zunahme im Lau- ter zwangsverheirateten, Klebstoff schnüffelten und die Aus- fe der letzten, durch die »multiple Krise« geprägten Jahre zu sicht, dass »sie je zum BSP oder auch nur Rente beitragen« verzeichnen ist, wenngleich Rassismus durch die Verschär- sowieso »gleich Null« sei . fung der Krisenprozesse nicht neu erfunden wird . Gleichzeitig deutet sich neben der Reaktivierung etablierter Rassismen ei- Zweitens ist festzustellen, dass im Zuge der Krise Hierarchi- ne Vervielfältigung rassistischer Grenzziehungen an . sierungen zwischen europäischen Nationalstaaten bedeu- tungsvoller werden . Paradigmatisch dafür sind Erklärungen, Rassismus in Bewegung die die wirtschaftliche und soziale Situation in Ländern wie Einiges deutet darauf hin, dass die Grenzen zwischen rassisti- Spanien, Griechenland und Italien nicht etwa auf das Wirt- schem Ein- und Ausschluss, zwischen Innen und Außen einer schaftssystem im Allgemeinen oder forcierte Ausbeutungs- Gesellschaft durchlässiger werden . Vassilis Tsianos und Ma- strukturen im »Standort-Wettbewerb« (Lohnentwicklung in riane Pieper (2011: 118) schlagen dementsprechend vor, nicht Deutschland, Exportüberschüsse) zurückführen, sondern auf mehr nur Differenzierungen und Exklusion, sondern »neuarti- eine fehlende oder unzureichende Arbeitsmoral . So zeigt eine ge Prozesse einer limitierten Inklusion beziehungsweise einer Analyse von Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz (2011: 19) egalitären Exklusion« in den Blick zu nehmen . Bei der Ana- über die Berichterstattung der BILD zur Krise in Griechenland lyse aktueller Tendenzen einiger rassistischer Erscheinungs­ 2010, dass der griechischen Bevölkerung die Schuld an der formen innerhalb von Nationalstaaten lohnt es sich, diesen Krisensituation gegeben wird . Sie selbst sei es gewesen, die Faden aufzunehmen . den griechischen Staat durch Faulheit und Korruption in die Im Hinblick auf (potenzielle) Migrant_innen werden keines- Zahlungsfähigkeit getrieben habe . Die Deutschen erscheinen wegs nur »Armutsflüchtlinge« oder »Wirtschaftsflüchtlinge« hingegen als sparsam und fleißig . Verbreitung findet im Krisen- thematisiert, sondern zugleich – insbesondere in Staaten, diskurs auch die rassistische Bezeichnung »PIIGS«-Staaten 2. in denen die Konjunktur noch nicht völlig eingebrochen ist – um »gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland« gewor- Drittens verschärfen sich auch innerhalb der Nationalstaa- ben . Hinter dieser vor allem auch aus der Wirtschaft immer ten die Ausgrenzung und der Ausschluss von Menschen, wo- wieder geäußerten Forderung steht neben einem realen bei hier auch auf unterschiedliche rassistische Traditionen Fachkräftemangel in manchen Branchen das Interesse, ei- und Kontinuitäten zurückgegriffen wird . Davon betroffen sind, nem durch den demographischen Wandel gefürchteten Ein- wie oben dargestellt, (Post-) Migrant_innen und inländische brechen des Überangebots an Arbeitskräften entgegenzu- Minderheiten . Vor allem in den westeuropäischen Staaten ist steuern und »das für sie [die Wirtschaft, s .F .] sehr günstige im Laufe der letzten Jahre ein Zuwachs an antimuslimischem Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt Rassismus zu verzeichnen, der sich nicht nur auf eine mögli- beizubehalten« (Niggemeyer 2011: 22) . Verknüpft wird der che terroristische Gefahr von außen bezieht, sondern auch in Ruf nach »Fachkräften« mit der allgegenwärtigen Forderung den jeweiligen Staaten lebende Muslime als »Gefahr im Inne- nach Sozialstaatsabbau 3. ren« markiert . Dabei werden – wie eine Analyse der relevan- Eine Analyse der Integrationsdebatte in Deutschland zeigt, dass ten Debatten seit dem 11 . september 2001 in Deutschland die heterogene Gruppe der (Post-) Migrant_innen in »nutzlose zeigt – in der Tendenz Muslim_innen diskursiv als fundamen- Andere« und in »nützliche Andere« geteilt wird (Friedrich 2012) . talistisch, gefährlich, unaufgeklärt, frauenfeindlich, antisemi- Es wird gewissermaßen als liberale Entgegnung auf biologisti- tisch, faul, nutzlos, desintegriert und sich abschottend darge- schen und kulturalistischen Rassismus die Kategorie der Leis- stellt (Friedrich/Schultes 2013) . Außerdem nehmen im Zuge tung aufs Deutungsfeld geführt . Leistungswilligkeit fällt im Inte- der letzten Jahre Antiziganismus und Antisemitismus insbe- grationsdiskurs mit Integrationswilligkeit zusammen und führt sondere in Mittel- und Osteuropa zu . im Effekt zur Einteilung zwischen »Musterbeispielen gelunge- Die hier angedeuteten aktuellen Erscheinungsformen des ner Integration« und »Integrationsverweigerern« (Friedrich/ Rassismus können nicht auf einen Nenner gebracht und in ei- Schultes 2011) . Der Erfolg der als »integriert« Begriffenen bil- nen einzigen Sinnzusammenhang gesetzt werden, da sie von det den Beweis dafür, dass man »es« eben doch schaffen kann, unterschiedlichen historischen, sozialen und politischen Kon- wenn man sich richtig anstrengt – gleichzeitig werden »Muster­ texten abhängen, die mit einbezogen werden müssen . Der beispiele gelungener Integration« zu Ausnahmen stilisiert .

7 Das erscheint zunächst paradox, widersprechen sich doch und funktionalistischen Rassismusanalysen . Die aufgezeigten Leistungsdenken und Rassismus, denn wo »Leistung« das Dynamiken des rassistischen Verhältnisses offenbaren sich oberste Prinzip ist, müsste »Natur« als Kriterium ausgeschlos- als widersprüchlich und in sich umkämpft, wenn einerseits sen sein . Doch die »Leistungsgesellschaft« folgt nicht ihrem traditionelle biologistische oder kulturalistische Rassismen Ideal der »Farben- und Geschlechterblindheit« bei der Zuwei- reaktiviert werden und andererseits Fachkräfte angeworben sung der gesellschaftlichen Positionen für Menschen, geht sowie »Musterbeispiele« hervorgehoben werden . Es ist ei- also keinesfalls von »Leistung« aus (Friedrich/Haupt 2012) . ne ständige Nachjustierung der Rassismusanalyse notwen- Existierender Rassismus wird in dieser Weise verschleiert, dig, um Veränderungen rassistischer Verhältnisse erfassen seine Existenz mit Verweis auf das meritokratische Prinzip ge- zu können . leugnet . Bei der Deutung, Menschen in Armut befänden sich aufgrund nicht erbrachter Leistung in entsprechenden sozi- Ferner ist es sinnvoll, den Blick auch auf Veränderungen der alen Situationen, entfällt Rassismus als Begründung für die Klassenverhältnisse und somit auf die Frage nach der Zu- Positionen vieler (Post-) Migrantinnen am unteren Ende sozia- sammensetzung von sozialen Klassen zu richten . Denn Kri- ler Rangskalen . In herrschender Logik wird die Existenz einer sen des Kapitalismus bedeuten auch Krisen der bewährten »migrantischen Unterschicht« auf eine vermeintliche »Kultur Formen von Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen der Leistungsverweigerung« zurückgeführt . Diese kann dann durch Menschen . Dabei sollte nicht übersehen werden, dass je nach rassistischer Façon durchaus wieder auf Gene, Reli- sich Klassen nicht alleine durch die Stellung von Menschen gion oder Kultur zurückgeführt werden . im Produktionsprozess ableiten, sondern sie sich auch durch Hier kann von einer Ethnisierung des neoliberalen Unter- Handlungen und gemeinsame Erfahrungen konstituieren und schichtsdiskurses gesprochen werden (Friedrich 2012) . Ar- damit beweglich sind (Türkmen 2010: 205–211) . Die derzeiti- mut und soziale Marginalisierung werden auf die kulturelle ge multiple Krise provoziert eine Transformation von Kapita- oder ethnische Herkunft zurückgeführt, wobei ähnliche Deu- lismus, Klassenverhältnissen und Rassismus, deren Ausgang tungsmuster wie beim neoliberalen Sozialstaats(abbau)dis- noch längst nicht entschieden ist . Es wird vor allem auf die kurs um eine »neue Unterschicht« reproduziert werden 4. Da- sozialen Kämpfe ankommen, die eingeschlagene Richtung mit einher geht die Ethnisierung sozialer Konflikte, die ihren der Transformation zu verändern . Ausgangspunkt – zumindest in der Bundesrepublik – in den 1980ern hat, als die sozialen Problemlagen von Migrant_in- Sebastian Friedrich nen zugunsten einer Orientierung auf kulturelle Faktoren aus- geklammert wurde . »Soziale Widersprüche werden an einer ethnisierten Unterschicht von (zumeist jugendlichen) Mig- rantInnen festgemacht, deren Lebensweise daran schuld sei, Quellenverzeichnis dass sie keine Chancen auf dem Arbeits- und Bildungsmarkt hätten« (Gruppe Soziale Kämpfe 2008) . Allen, Theodor W. 1998: Die Erfindung der weißen Rasse . Es findet zwar auch ein partieller Einschluss der »nützlichen Rassistische Unterdrückung und soziale Kontrolle . Berlin . Anderen« statt . Doch auch die »Integration« der »Musterbei- Amnesty International 2012: Greece . The End of the Road spiele« besteht nicht darin, sie nicht mehr als Migrant_in- for Refugees, Asylum-Seekers and Migrants . December 2012 . nen zu markieren . So werden selbst die migrantischen »Leis- http://www .amnesty .de/files/Amnesty-Bericht_The_end_ tungsträger« nicht zu »deutschen Leistungsträgern«, sondern of_the_road_20_Dezember_2012 .pdf (Zugriff: 17 .3 .13) . bleiben Migrant_innen, die sich allerdings durch ihre Leis- Arlt, Hans-Jürgen/Storz, Wolfgang 2011: Drucksache tung und dem daraus resultierenden gesellschaftlichen Bei- »BILD« . Eine Marke und ihre Mägde . Die »BILD«-Darstellung trag (besonders in Form von Steuern) das »In-Deutschland- der Griechenland- und Eurokrise 2010 . Frankfurt/Main . leben-Dürfen« verdient haben . Derart bleiben sie immer ein Bader, Pauline/Becker, Florian/Demirovic, Alex/Dück, Ju- Teil »der Anderen« (Haupt 2012) . »Leistung« erscheint damit lia 2011: Die multiple Krise – Krisendynamiken im neolibe- als eine notwendige, aber nie eine hinreichende Bedingung ralen Kapitalismus . In: Demirovic, Alex/Dück, Julia/Becker, für Zugehörigkeit (Friedrich/Haupt 2012) . Diese Form des in- Florian/Bader, Pauline: VielfachKrise . Im finanzdominierten kludierenden Rassismus zielt daher nicht auf eine absolute Kapitalismus . Hamburg . s . 11–28 . Ausgrenzung von (Post-) Migrant_innen ab, sondern versucht Balibar, Étienne 1990a: Der »Klassen-Rassismus« . In: Ba- vielmehr, Teile der als nützlich Begriffenen im Sinne der Ver- libar, Étienne/Wallerstein, Immanuel: Rasse, Klasse, Nation . wertung zu aktivieren . Ambivalente Identitäten . Hamburg . s . 247–260 . Balibar, Étienne 1990b: Rassismus und Krise . In: Balibar, Fazit und Ausblick Étienne/Wallerstein, Immanuel: Rasse Klasse Nation . Ambi- Die gegenwärtigen Rassismen erfordern eine Analyse des valente Identitäten . Hamburg . s . 261–272 . komplexen Wechselverhältnisses von Rassismus, Kapitalis- Bild.de 2013a: Die Wahrheit über Roma in Deutschland . mus und Krise bei gleichzeitiger Abkehr von monokausalen http://www .bild .de/politik/inland/zuwanderung/die-wahr-

8 heit-ueber-roma-in-deutschland-29354568 .bild .html, 4 .3 .13 Hall, Stuart 2000: Rassismus als ideologischer Diskurs . (Zugriff: 26 3. 13). . In: Räthzel, Nora (Hg .): Theorien über Rassismus . Hamburg . Bild.de 2013b: SPD-Fraktion will Roma-Kritiker rauswer- s . 7–16 . fen . http://www .bild .de/regional/bremen/spd/fraktion- Haupt, Selma 2012: Biologismus, Rassismus, Leistung . will-roma-kritiker-rauswerfen-29340866 .bild .html, 1 .3 .13 Zur aktuellen »Integrations«-Debatte . In: Zeitschrift für Päda- (Zugriff: 26 3. 13). . gogik 58 (5) . s . 720–733 Bojadzˇijev, Manuela 2008: Die windige Internationale . Heinsohn, Gunnar 2010: Willkommen in Deutschland! Rassismus und Kämpfe der Migration . Münster . Was qualifizierte Zuwanderer bei uns erwartet, In: Frankfurter Bordermonitoring .eu 2013: Zur Situation der Flüchtlinge Allgemeine Zeitung, 21 .10 .10 in Italien . http://content .bordermonitoring .eu/bm .eu--itali- Karakayalı, Juliane: Rassismus in der Krise . 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Zick, Andreas/Küpper, Beate/Höwermann, Andreas 2011: In: ZAG – Antirassistische Zeitschrift 60 (2012) . s .18–20 . Die Abwertung der Anderen . Eine europäische Zustandsbe- Friedrich, Sebastian/Schultes, Hannah 2011: Von »Mus- schreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung . terbeispielen« und »Integrationsverweigerern« . Repräsentati- Berlin . onen von Migrant_innen in der »Sarrazindebatte« . In: Fried- rich, Sebastian (Hg .): Rassismus in der Leistungsgesellschaft . Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der »Sarrazindebatte« . Münster . 1 Es handelt sich um eine leicht gekürzte Version eines kürzlich in dem Sammel- band Nation – Ausgrenzung – Krise. Kritische Perspektiven auf Europa erschie- s . 77–95 . nenen Aufsatzes (hrsg . von Sebastian Friedrich/Patrick Schreiner, Edition As- Friedrich, Sebastian/Schultes, Hannah 2013: Mediale Ver- semblage, Münster 2013, s .53–64) . Die Redaktion des Rundbriefs dankt den Herausgebern für die freundliche Genehmigung zum Abdruck . bindungen – antimuslimische Effekte . Zu den gegenwärtigen 2 Es handelt sich um ein Akronym, das für die von der Staatsschuldenkrise am Verschränkungen des Islamdiskurses . In: Journal für Psycho- meisten betroffene Staaten Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien logie 21 (1) (im Erscheinen) . steht, und sie als »pigs« (Schweine) abwertet . 3 s o konstatiert Gunnar Heinsohn (2010) in der Frankfurter Allgemeinen Zei- Gramsci, Antonio 1996: Gefängnishefte . Band 7 . Ham- tung, dass Deutschland im Wettbewerb um die Hochqualifizierten äußerst un- burg, Berlin . günstig dastehe, weil EinwanderInnen den Sozialstaat, die ausbildungslosen Jugendlichen und die Renten mitfinanzieren müssten . Heinsohn legt hier im- Gruppe soziale Kämpfe 2008: Antimuslimischer Rassis- plizit nahe, dass es gut sei, den Sozialstaat abzubauen, um die Wettbewerbs- mus von oben und von unten . Über die Kulturalisierung so- fähigkeit zu erhalten . zialer Gegensätze im Neoliberalismus . In: analyse & kritik, 4 Zugleich ist eine Naturalisierung sozialer Ungleichheiten feststellbar . So wird Ungleichheit »als Folge kultureller oder biologischer Leistungsschwäche um- 21 .11 .08 . gedeutet« (Karakayalı 2012: 103 f .) .

9 Menschenverachtende Einstellungen und die organisierte Rechte in der Eurokrise1 »Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen.« (Bild, 7. März 2010)

Einleitung (1) Krisen des Kapitalismus: Die politische Dynamik in der EU ist in den vergangenen Infolge der US-amerikanischen Subprime-Krise 2007 geriet Jahren in zahlreichen Ländern nicht nur von fortwährenden kapitalistische Akkumulation in der Europäischen Union ins Krisen kapitalistischer Akkumulation, autoritärem Krisen- Stocken . Die Entwertung von Hypothekenpapieren auf den management, verschärfter alltäglicher Prekarität und radi- weltweiten Derivatenmärkten führte bei vielen europäischen kaldemokratischem Protest auf städtischen Plätzen, sondern Banken zu Refinanzierungs- und Liquiditätsproblemen . Die dar- auch von einer hohen Brisanz menschenverachtender Einstel- aus resultierende massive Unsicherheit über die Zahlungsfähig- lungen und einer starken Präsenz der organisierten Rechten2 keit einzelner Banken führte dazu, dass sich Banken untereinan- geprägt . Explizit völkisch oder identitär ausgerichtete Par- der keine Kredite mehr vergaben; der Interbankenkreditmarkt teien erzielten spektakuläre Wahlerfolge und duldeten oder trocknete aus . Gleichzeitig reduzierten die Banken ihre Kredit- beteiligten sich an Regierungen . In Ungarn trieb der Fidesz vergabe an Privathaushalte und Unternehmen, die in der Folge einen autoritären Umbau der Gesellschaft voran . Rechten Au- nicht mehr in der Lage waren, Ausgaben zu tätigen . Konsum toren wie Thilo Sarrazin gelang es, ihre Thesen und Bücher und Industrieproduktion brachen ein . Zur Stabilisierung kapi- massenhaft zu vermarkten . Mit den Terroranschlägen von Os- talistischer Akkumulation reagierten die europäischen Regie- lo/Utøya und des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) rungen mit der Verstaatlichung der Verluste jener Banken, die gerieten rechte Morde nicht nur in Norwegen und Deutsch- sie als systemrelevant klassifizierten sowie (in deutlich geringe- land ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit . Rechte Bür- rem Umfang) mit Maßnahmen der Konjunkturförderung . Durch gerwehren wie die Ungarische Garde wurden zu einer Gefahr diese Interventionsprogramme, aber auch durch automatische für Roma und andere Minderheiten . Homophobe Gewalt ist Stabilisatoren (etwa steigende Ausgaben für Arbeitslosengeld nach wie vor weit verbreitet, medial präsent war diese etwa als Folge der Rezession) erhöhten sich europaweit die Staats- im Zuge von gewalttätigen Übergriffen bei Gay-Pride-Veran- schuldenquoten beträchtlich . Die Möglichkeiten des Staates, staltungen . Migrantisierte, illegalisierte und als Linke wahrge- soziale Zugeständnisse zu machen, verringerten sich . nommene Menschen wurden – exemplarisch stehen hierfür unter anderem die Entwicklungen in Athen – vermehrt durch (2) Krisen der Eurozone: rechte Straßengewalt bedroht . Medien und Anti-EU-Kampa- Infolge der steigenden Staatsschuldenquoten stellten ab 2010 gnen wie Stop-ESM in Deutschland etablierten nationalisti- die Ratingagenturen S&P, Moody’s und Fitch die Zahlungsfä- sche Krisendeutungen à la »Pleite-Griechen« oder »PIIGS« higkeit »peripherer«5 europäischer Staaten in Frage . Sie offen- (engl .: »Schweine«)3 -Staaten – nicht selten in einer impli- barten damit Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Wäh- ziten Diskurskoalition mit rechtskonservativen Regierungen rungsunion: Erstens ist es der Europäischen Zentralbank – im und Parteien . Gegensatz zu nationalen Zentralbanken – nicht erlaubt, als len- Die Ursachen dieser Brisanz sind vielschichtig und umfas- der of last resort zu agieren und damit drohende Staatspleiten sen neben der sich seit den 1980er Jahren in der EU her- abzuwenden . Zweitens stärkte die Eurozone durch das Feh- ausbildenden wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise, mit len makroökonomischer Korrekturmechanismen wirtschaft- der eine verschärfte Unterwerfung der Bevölkerungen unter lich stärkere Staaten des europäischen Zentrums auf Kosten marktbasierte Disziplinierungszusammenhänge einhergeht wirtschaftlich schwächeren Staaten der europäischen Periphe- und den Auswirkungen der Eurokrise, auch hohe Akzeptanz- rie . Die Wettbewerbsfähigkeit entwickelte sich auseinander . und Unterstützungswerte für menschenverachtende Einstel- Wachstum in der europäischen Peripherie fand aufgrund der lungen sowie erfolgreiche rechte Organisierungsprozesse . sich intensivierenden Exportschwäche häufig schuldenbasiert statt und blieb instabil und prekär . Es kam zu einer diskursiven Eurokrise, Transformationen der Demokratie Polarisierung entlang nationaler Grenzlinien: Aus den Ländern und Nationalismus des europäischen Zentrums wurden – nicht zuletzt in der me- Die Eurokrise ist nicht nur eine ökonomische Krise, sie um- dialen Selbstwahrnehmung – sparsame »Musterschüler«, aus fasst (zumindest) vier differenzierbare Dynamiken4: den Staaten der Peripherie verschwenderische »PIIGS« .

10 (3) Krisen der Demokratien: die österreichische Partei FPÖ 2009 erfolgreich mit dem Slo- Auf die Krisen des Kapitalismus und der Eurozone reagierte gan »Echte Volksvertreter statt EU-Verräter« . In Ungarn ma- die Europäische Union mit einem Krisenmanagement, das dar- nifestierte sich der enge demokratische Möglichkeitskor- auf abzielte, über eine drastische Austeritätspolitik – etwa So- ridor bereits vor der Eurokrise in einem von der damaligen zialkürzungen, Privatisierungen sowie den Abbau der Rechte sozialdemokratischen Regierung – im Kontext ökonomischer von Lohnabhängigen und Gewerkschaften – die Kreditwürdig- Krisenentwicklungen und einem »Rettungsprogramm« von keit der Peripherie wieder herzustellen . Durchgesetzt wurde EU und IWF in Höhe von 20 Milliarden Euro – durchgeführ- das Krisenmanagement über ein Bausteinsystem, welches die ten Austeritätsprogramm, das neben anderen Faktoren zum Rechte der europäischen Exekutive stärkte, während nationale Wahlerfolg der rechten Parteien Fidesz und Jobbik 2010 bei- Parlamente und andere Terrains, »deren Konfiguration eine für trug 12. die Subalternen vergleichsweise günstigere ›strukturelle Selek- tivität‹ […] aufwies«6, entwertet wurden . Die ohnehin prekären Parallel zu den Krisen der Demokratie entwickeln sich – be- Möglichkeiten7 der europäischen Bevölkerungen auf politische günstigt durch die Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Entscheidungen Einfluss nehmen zu können – sanken weiter . Währungsunion – nationalistisch-sozialchauvinistische Dis- kurse, in denen die Eurokrise auf das Fehlverhalten einzelner (4) Krisen der sozialen Reproduktion: Staaten und Bevölkerungen zurückgeführt wird . Suggeriert Infolge der Krisen des Kapitalismus und aufgrund des austeri- wird, dass die »Musterschüler« des Zentrums nun für die Ver- tätsorientierten Krisenmanagements veränderten sich vor al- fehlungen der Staaten und/oder Bevölkerungen der europäi- lem in der europäischen Peripherie die Lebensbedingungen schen Peripherie aufkommen müssten . Nicht zufällig bereuen der Bevölkerungen . Armuts- und Arbeitslosigkeitsraten stie- in der Folge 55 Prozent der Niederländer den Euro-Beitritt,13 gen deutlich an, die Prekarität von Arbeitsverhältnissen er- während zwei Drittel der Deutschen die europäischen »Ret- höhte sich, das Haushaltseinkommen ging zurück . In Spanien, tungspakete« ablehnen14 und sich 30 Prozent ein »unabhän- wo kapitalistische Akkumulation seit den 1980er Jahren zent- giges Deutschland ohne den Euro, in das keine Europäische ral auf einem hypothekenbasierten Immobilienboom beruhte, Union hineinregiert« wünschen .15 Insbesondere Griechenland wurden Zwangsräumungen zu einer alltäglichen Erfahrung, in und die griechische Bevölkerung werden – bis weit in die eu- Griechenland stiegen Suizid- und Krankheitsraten drastisch ropäische Peripherie hinein – abgewertet . So verkündeten an, in Ungarn lebten 2010 fast 30 Prozent der Bevölkerung die Regierungen der am stärksten von der Eurokrise betrof- an oder unter der Armutsgrenze .8 Von den sozialen Krisener- fenen Staaten unisono ihr Land sei »nicht Griechenland« . Der scheinungen blieben aber auch breite Schichten innerhalb irische Finanzminister Michael Noonan erklärte gar, er den- der Länder des europäischen Zentrums nicht verschont . So ke darüber nach, T-Shirts mit dem Aufdruck »Irland ist nicht kam es beispielsweise auch in Deutschland in den letzten Jah- Griechenland« zu verkaufen .16 Auch die starke Stellung der ren zu einer massiven Ausweitung prekärer Beschäftigungs- deutschen Regierung im europäischen Krisenmanagement verhältnisse . Für die europäischen Mitgliedsländer lässt sich löste nationalistische Gegenreaktionen aus . 78 Prozent der feststellen, dass das alltägliche (Über-)Leben heute deutlich GriechInnen erklären eine schlechte Meinung von Deutsch- prekärer ist als in den Jahren zuvor . Ein in materieller Hinsicht land zu haben, 49 Prozent sogar eine sehr schlechte .17 abgesichertes Leben ist vor allem in den Ländern der europä- ischen Peripherie für immer weniger Menschen möglich . Menschenverachtende Einstellungen Jenseits der unmittelbaren Dynamiken der Eurokrise lassen Nimmt man die vier Dimensionen zusammen, zeichnen sich sich europaweit hohe Akzeptanz- und Unterstützungswerte in den letzten Jahren – vor allem in der europäischen Peri- für menschenverachtende Einstellungen18 beobachten: pherie – Konturen einer autoritären Demokratie ab, die nur noch begrenzt in der Lage ist, Zustimmung bzw . Legitimität – Die Aussagen »Es gibt zu viele Zuwanderer in (jew . Land)« in den Bevölkerungen zu generieren9: Ihr Möglichkeitskorridor und »Es gibt eine natürliche Hierarchie zwischen schwarzen ist strukturell durch die Krisen kapitalistischer Akkumulati- und weißen Völkern« treffen europaweit auf hohe Zustim- on eingeschränkt, die Einflussmöglichkeiten der Bevölkerung mung .19 Insbesondere für osteuropäische Mitgliedsländer sind durch das Bausteinsystem autoritärer Austeritätspolitik der EU lässt sich darüber hinaus eine hohe Zustimmung zu begrenzt, soziale Absicherung wird kaum noch gewährleis- antiziganistischen Einstellungen konstatieren . So sind bei- tet 10. Die autoritäre Demokratie muss dabei in Kontinuität zu spielsweise über 80 Prozent der Erwachsenen in Ungarn ne- Formen post-politischer bzw . technokratischer Herrschaft gativ gegenüber Roma eingestellt .20 47 Prozent der Roma, begriffen werden, die mit der Durchsetzung neoliberalen Re- 41 Prozent der »Afrikaner (südl . Sahara)«21, 36 Prozent der gierens zunehmend zur demokratischen Normalität wurden 11. »Nordafrikaner«, 23 Prozent der »Mittel- und Osteuropäer« Der organisierten Rechten bieten die autoritären Transfor- sowie 23 Prozent der »Türken«, die in der EU leben, erklär- mationen der Demokratie die Möglichkeit, sich als Vertre- ten, in den vergangenen 12 Monaten zumindest einmal dis- terin des »kleinen Mannes« zu inszenieren – so warb etwa kriminiert worden zu sein 22.

11 – Bei der Aussage »Juden haben zu viel Einfluss« zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa . Die Zustimmungsrate zur Aussage beträgt in Deutschland 19,7 Prozent, in Großbritannien 13,9 Prozent, in Frankreich 27,7 prozent, in den Niederlanden 5,6 prozent, in Italien 21,2 Prozent, in Portugal 19,9 Prozent, Polen 49,9 Prozent, Ungarn, 69,2 Prozent 23. Ein signifikanter Anstieg antisemiti- scher Einstellungen lässt sich in den letzten Jahren vor allem in Ungarn beobachten . Während in der Zeit von 1993 bis 2006 noch zwischen 10 und 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Ungarn Jüdinnen und Juden »emotional ab- lehnten« stieg dieser Anteil im Jahre 2011 auf 24 Prozent 24. – »Frauen sollten Ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ernster nehmen« unterstützen in Deutschland 52,7 prozent, in Großbritannien 53,2 Prozent, in Frankreich 57,0 Prozent, in den Niederlanden 36,4 Prozent, in Italien 63,2 Prozent, in Portugal 67,9 Prozent, in Polen 87,2 Prozent und in Un- garn 88,4 Prozent .25 In der Regel wird Frauen gerade dort eine untergeordnete, klassische Rolle zugeteilt, wo der Ka- tholizismus stark in der Bevölkerung verankert ist . Dies ist vor allem in den Ländern der osteuropäischen Peripherie – hier Polen und Ungarn – der Fall . Eine klassische Rollenzu- weisung geht häufig mit hohen Akzeptanz- und Unterstüt- zungswerten gegenüber Homo- und Transphobie einher . – Die Aussage »Es gibt nichts Unmoralisches an Homosexu- alität« schließlich lehnen in Deutschland 38,0 Prozent, in Großbritannien 37,2 Prozent, in Frankreich 36,2 Prozent, in den Niederlanden 16,5 Prozent, in Italien 42,5 Prozent, in Portugal 44 Prozent, in Polen 75,8 Prozent und in Ungarn 67,7 Prozent der Befragten ab 26. Trotz einer in einigen Län- dern verbesserten rechtlichen und medialen Anerkennung bleiben Homosexuelle starker gesellschaftlicher Diskrimi- nierung und körperlicher Gewalt ausgesetzt .27

In der Eurokrise lässt sich eine Ausweitung menschenver- achtender Einstellungen konstatieren . Marginalisierte Grup- pen, die deutlich stärker von den Auswirkungen der Krise betroffen sind, verarmen und werden in der Folge als Last für die Gesellschaft wahrgenommen .28 Abstiegsängste und Unsicherheiten in Verbindung mit Gefühlen der Machtlosig- keit fördern rechte Konstruktionen der Bevölkerung als Opfer übermächtiger Gegner .29 Verschwörungstheoretische und/ oder antisemitische Mythen über die Macht der Finanzsphäre erscheinen angesichts eigener Ohnmachtserfahrungen, indi- vidualisierter alltäglicher Krisen und undurchschauter kapita- listischer Zusammenhänge plausibel – nicht zuletzt da durch die Dominanz von autoritären Austeritäts- und Alternativlo- sigkeitsdiskursen und die Schwäche der organisierten Linken »Lücken im Angebot zur Deutung gesellschaftlicher Verände- rungen und individueller Lebenssituationen«30 klaffen . Nati- on und Familie bieten in dieser Situation scheinbaren Schutz vor gesellschaftlichen Widersprüchen und das »Gefühl, der als bedrohlich erlebten Welt nicht mehr völlig hilflos ausge- liefert zu sein« .31

12 Exemplarisch sammelte die unter anderem vom Bund der in Frankreich im April 2012 17,9 Prozent der abgegebenen Steuerzahler Bayern, der Alternative für Deutschland und ein- Stimmen zu erhalten; die offen faschistische Partei Chrysi zelnen Abgeordneten der FDP unterstützte rechte Kampagne Avgi zog Anfang Mai 2012 mit 6,9 Prozent der Stimmen in Stop-ESM über 40 000. Unterschriften mit der Aussage das das griechische Parlament ein, in Umfragen liegt sie derzeit europäische Krisenmanagement treibe »Deutschland und sei- bei über 10 Prozent; die United Kingdom Independence Par- ne Bürger […] in die Hände der internationalen Finanz- und ty erzielte bei den britischen Regionalwahlen im Mai 2013 Machtoligarchie und gibt sie zur Plünderung frei«32 33. In zuge- 6,2 Prozent der Stimmen . Der europaweit eindrucksvollste spitzter Form findet sich das hier anklingende Deutungsmus- Erfolg gelang jedoch dem Fidesz, der unter Anwendung po- ter in einem Wahlwerbespot der völkisch-nationalistischen pulistischer Mobilisierungstechniken, dem Rückgriff auf Sün- ungarischen Partei Jobbik aus dem Jahr 2010 wieder: denbockkonstruktionen sowie der Etablierung eines aktionis- »Wir müssen immer mehr Raten zahlen . Dürfen Banken tun, tisch orientierten, offensiven Politikstils bei den ungarischen was immer sie wollen? Während wir arbeiten, stehlen sie nur . Parlamentswahlen im Jahre 2010 in einer Wahlallianz mit der Dürfen politische Kriminelle tun, was immer sie wollen? Ich ha- KDNP mit einer verfassungsgebenden Zwei-Drittel-Mehrheit be schon Angst auf die Straße zu gehen . Dürfen Zigeunerkri- ins ungarische Parlament einziehen konnte .40 minelle tun, was immer sie wollen? Es gibt keine ungarischen Produkte in den Regalen . Dürfen multinationale Konzerne tun, Neben Wahlerfolgen äußern sich erfolgreiche rechte Organi- was immer sie wollen? Wir haben das Parasitentum satt .«34 sationsprozesse auch darin, dass rechte Gruppierungen – et- wa in Griechenland – implizit als Teil staatlicher Herrschafts- Rechte Organisierungs- und Mobilisierungsprozesse strategien fungieren: Die Dynamiken der Eurokrise und die hohe Akzeptanz und »Wichtig im Kontext der Krise ist vor allem die Rolle der ›Gol- Unterstützung menschenverachtender Einstellungen tref- denen Morgenröte‹ bei den sozialen Protesten gegen die Me- fen in der EU auf eine Rechte, die in den vergangenen Jah- moranden, wo sie linke Protestierende und antifaschistische ren erfolgreich in der Lage war dauerhaft tragfähige Organi- Gruppen angreifen . Mit dieser Methode wird eine klare Bot- sationsformen aufzubauen und Teile der Bevölkerungen zu schaft vermittelt: Wenn die Proteste ›zu weit‹ gehen, ist die mobilisieren . Seit Anfang der 2000er Jahre waren Parteien ›Goldene Morgenröte‹ da, um wieder ›Ordnung‹ herzustellen . der völkischen und identitären Rechten in der Lage, relativ Ihre Eigenschaft, neben oder oftmals über dem offiziellen re- kontinuierliche Wahlerfolge zu erzielen, sich an Regierungen pressiven Staatsapparat als Reserveordnungsmacht zu fun- zu beteiligen und dauerhafte Strukturen aufzubauen – trotz gieren, hat die Installierung von Gewalt als politischer Praktik Parteikrisen etwa in der Folge von Regierungsbeteiligungen und als Instrument zur sozialen Disziplinierung zur Folge .«41 in den Niederlanden oder Österreich . Sie profitierten dabei nicht selten von konservativen Parteien und rechten Medien, Fazit die Sagbarkeitsfelder für völkische und identitäre Positionen Vergegenwärtigt man sich das Zusammenspiel von Repräsen- öffneten35 oder gar – wie etwa die Regierungen Berlusconis tationskrisen, Eurokrise, menschenverachtender Einstellun- in Italien oder Orbáns in Ungarn – eine Kulturrevolution von gen und erfolgreichen rechten Organisierungsprozessen über- rechts vorantrieben .36 Staatliche Parteienfinanzierung auf rascht die Brisanz rechter Politik in der Eurokrise kaum . Die nationaler und europäischer Ebene sicherte eine dauerhafte in der Einleitung genannten Beispiele sind vor diesem Hinter- Kampagnenfähigkeit . Parallel existierten (häufig männerdo- grund nicht viel mehr als die sichtbare Spitze eines Eisbergs, minierte) rechte Szenen37 – von Skinhead- über Musik- oder unter der sich ein deutlich größeres rechtes Potential verbirgt . Hooliganszenen über sogenannte freie Kräfte, wie Kamerad- Eine radikaldemokratische, antirassistische und antifaschis­ schaften und Autonome Nationalisten, bis hin zu studenti- tische Politik muss vor diesem Hintergrund auf zumindest drei schen Verbindungen – die, ungeachtet der in einigen Län- Ebenen ansetzen: dern vorhandenen Mobilisierungsprobleme, durchaus als Sozialisationsinstanz dienten und rechte Lebenswelten sta- Erstens ist eine Politik der Stigmatisierung und zivilgesell- bilisierten . Teils wurden auch von Parteien Basisstrukturen schaftlichen Konfrontation gegenüber der organisierten Rech- zur Verbreitung rechter Ideologien etabliert, so entwickel- ten sinnvoll und notwendig 42. Als besonders dynamisches Mo- te etwa der Fidesz in Ungarn ein Netzwerk von so genann- ment einer solchen Politik erwiesen sich in Deutschland in ten »Bürgerkreisen«, die völkische Ideologie verbreiten38 und den letzten Jahren die bündnispolitisch breit angelegten Mas- parteipolitisch ungebundene Personen, Sympathisanten und senblockaden von Naziaufmärschen, wie sie etwa in Dresden Sympathisantinnen des Fidesz sowie Wählerinnen und Wäh- trotz staatlicher Repression erfolgreich praktiziert wurden .43 ler anderer rechter Parteien längerfristig an den Fidesz bin- Um derartige Strategien auch in Ländern mit rechter Hege- den sollten .39 monie wie Ungarn denkbar zu machen, gilt es auf zweierlei Die erfolgreichen Organisationsprozesse bilden sich unter an- Ebenen anzusetzen: Zum einen darf der organisierten Rechten derem in Wahlerfolgen im Kontext der Krise ab: Marine Le Pen nicht die Zivilgesellschaft überlassen werden, zum anderen gelang es als Präsidentschaftskandidatin des Front Natio­nal sind grenzüberschreitende Solidaritätsnetzwerke notwendig .

13 Zweitens ist – da menschenverachtende Einstellungen 7 Die Möglichkeiten sind durch grundlegende Konflikte im Verhältnis von Ka- weit über die organisierte Rechte hinaus verbreitet sind – pitalismus und Demokratie sowie durch die wettbewerbsstaatliche Integrati- onsweise der Europäischen Union seit den 1980er Jahren und post-demokra- eine kontinuierliche Bildungs- und Aufklärungsarbeit not- tische und autoritäre Tendenzen auf nationaler Ebene stark eingeschränkt . wendig . Ein Ziel muss es auch sein, Utopien, und damit 8 Vgl . Farkas, Péter, Worsening Social Circumstances and Exclusion in Hungary, in: Social Watch (Hg ),. European Social Watch Report 2010: Time for Action . emanzipatorische Kritik an den herrschenden Verhältnis- Responding to Poverty, Social Exclusion and Inequality in Europe and Bey- sen, wieder denkbar zu machen . Die Kritik darf nicht nur ond (2010), s . 64 . Verfügbar unter: http://www .socialwatch org/sites/de. - »Rechtsextremismus«­ problematisieren . Eine Bildungsarbeit fault/files/European_SW_Report_2010-eng .pdf . Zuletzt geprüft am 29 . ua - gust 2013 . deren Bezugspunkt die »demokratischen Mitte« bildet, ver- 9 Die Herausbildung dieser spezifischen Form von Demokratie in den Ländern kennt notwendig die Tragweite des Problems . Da staatliche der EU ist mittelbar mit einer Reihe gesellschaftlicher und politischer Krisen jenseits der Eurokrise verbunden, die ihren Ursprung in der Form der kapita- Bildungsarbeit nicht selten durch in diesem Sinne implizit listischen Vergesellschaftung selbst haben . Unter anderem handelt es sich oder explizit extremismustheoretische Grundlagen in ihrer hierbei um eine seit Jahrzehnten bestehende manifeste Krise der organisier- Reichweite beschränkt bleibt, sind es in erster Linie finan- ten Linken sowie eine Krise des kritischen Denkens und utopisch-emanzipa- torischen Vorstellungsvermögens (siehe hierzu u .a . Behrens, Roger, Die Pa- ziell prekär ausgestattete bildungspolitische Organisationen ralyse der Kritik, in: Jungle World, 22 . ugusta 2013 . Verfügbar unter: http:// wie das Netzwerk für Demokratie und Courage44, die eine jungle-world .com/artikel/2013/34/48328 .html . Zuletzt geprüft am 29 . au- gust 2013) . umfassende Bildungsarbeit gegen menschenverachtende 10 Vgl . Huke, Nikolai/Schlemermeyer, Jan, Warum so staatstragend?, in: PROKLA Einstellungen umsetzen . 42 (3) (2012), s . 455–465 . 11 Vgl . Altenried, Moritz/Schütt, Mariana, Krise und Normalität im Kapitalismus . Versuch einer schwierigen Verhältnisbestimmung, in: Friedrich, Sebastian/ Drittens ist es notwendig, eine emanzipatorische Kritik der Schreiner, Patrick (Hg ),. Nation – Ausgrenzung – Krise: Kritische Perspektiven Eurokrise, des europäischen Krisenmanagements und der auf Europa, Münster 2013, s . 79–92, hier: s . 85 f . 12 Vgl . Pilger, Aljoscha, Rechtspopulismus in Ungarn . Ideologie und Aufstieg autoritären Transformationen der Demokratie zu entwickeln des Fidesz, in: Forschungsgruppe Europäische Integration (Hg ),. Rechtspo- und erfahrbar zu machen, um eine rechte Problematisierung pulismus in der Europäischen Union, Hamburg 2012, s .35–59, hier: s .52 ff . der Repräsentationskrise zu verhindern . Erfolgreich gelungen 13 Vgl . euobserver .com, More than half Dutch people regret joining euro, in: eu- observer .com, 02 . april 2013 . Verfügbar unter: http://euobserver .com/ti- ist dies – zum Teil – in der Bewegung des 15 . mai in Spanien ckers/119655 . Zuletzt geprüft am 03 . April 2013 . (»Empörte«), in der individuelle Krisenerfahrungen in politi- 14 Vgl . FAZ, Gleichauf mit »Piraten«: »Alternative für Deutschland« liegt bei 3 Prozent, in: FAZ, 16 .04 .2013 . Verfügbar unter: http://www .faz .net/aktu- sche Forderungen übersetzt und darüber Ohnmachtserfah- ell/wirtschaft/europas-schuldenkrise/gleichauf-mit-piraten-alternative-fuer- rungen problematisiert, reflektiert und kollektiviert sowie in deutschland-liegt-bei-3-prozent-12150745 html. . Zuletzt geprüft am 16 . april Protest umgesetzt werden konnten 45. Das »Sie repräsentieren 2013 . 15 Vgl . Wiegel, Gerd, EU-Bashing als Erfolgsrezept des Rechtspopulismus? Ein uns nicht!« der spanischen Bewegungen implizierte dabei in europäischer Trend und seine deutschen Besonderheiten, in: arranca! (2012), der Regel die Forderung nach einer radikaldemokratischen, s . 6–7, hier: s . 7 . 16 Vgl . bloomberg com,. Noonan Says He May Print »Ireland Is Not Greece« T- inklusiven Umgestaltung der repräsentativen Demokratie Shirts, in: bloomberg com,. 23 .Juni 2011 . Verfügbar unter: http://www .bloom- (»Echte Demokratie Jetzt!«) und unterlief damit erfolgreich berg .com/news/2011-06-23/noonan-says-may-print-ireland-not-greece-por- die rechte populistische Figur »Volksvertreter statt (EU-)Ver- tugal-t-shirts html. . Zuletzt geprüft am 29 . ugusta 2013 . 17 Vgl . Pew Research Center, European Unity on the Rocks 2012 . Verfügbar un- räter« . ter: http://www .pewglobal .org/files/2012/05/Pew-Global-Attitudes-Pro- ject-European-Crisis-Report-FINAL-FOR-PRINT-May-29-2012 .pdf . Zuletzt ge- prüft am 27 . ugusta 2013 . Nikolai Huke und Aljoscha Pilger 18 m enschenverachtende Einstellungen sind das übergreifende Charakteristi- kum der (völkischen, identitären und konservativen) Rechten und umfassen u .a . Nationalismus, Sozialchauvinismus, Rassismus, Antisemitismus, Antizi- ganismus, Sozialdarwinismus, Sexismus oder Homophobie . 19 Vgl . Zick, Andreas/Küpper, Beate/Hövermann, Andreas, Die Abwertung der 1 Bei dem Beitrag handelt es sich um eine ausführliche Fassung des gleichna- Anderen . Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurtei- migen Artikels aus dem BdWi-Studienheft Nr .9 . (BdWI=Bund demokratischer len und Diskriminierung . Verfügbar unter: http://library .fes .de/pdf-files/ Wissenschaftler) do/07905-20110311 .pdf . Zuletzt geprüft am 27 . ugusta 2013 . 2 Den Begriff der organisierten Rechten verwenden wir als Überbegriff für völ- 20 Vgl . Váradi, Luca, Keine Überraschung – Antiziganistische Einstellungen un- kische, identitäre und (rechts-) konservative Personen und Positionen in Par- garischer Jugendlicher, in: Migration und Soziale Arbeit 34 (2) (2012), s .142– teien, Organisationen und Bewegungen . Ziel ist es, darüber (explizit oder im- 148, hier: s . 142 . plizit) extremismustheoretische Begriffe (z .B . extreme Rechte, rechtsextrem, 21 Die Begrifflichkeiten sind aus der Studie übernommen . radikale Rechte sowie auch rechtspopulistisch im Gegensatz zur etablierten 22 Vgl . Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, EU-MIDIS: Erhebung Politik) zu vermeiden und die damit einhergehende Normalisierung und De- der Europäischen Union zu Minderheiten und Diskriminierung 2011 . Ver- Problematisierung rechter Einstellungen der im Gegensatz demokratisch er- fügbar unter: http://fra .europa .eu/sites/default/files/fra_uploads/663- scheinenden »Mitte« der Gesellschaft zu verhindern . FRA-2011_EU_MIDIS_DE pdf. . Zuletzt geprüft am 27 . ugusta 2013 . 3 Kürzel aus den Anfangsbuchstaben Portugals, Irlands, Italiens, Griechenlands 23 Vgl . Zick/Küpper/Hövermann: Abwertung, s . 65 . und Spaniens . 24 Vgl . Kovács, András, Antisemitic Prejudice and Political Antisemitism in Pre- 4 Vgl . Huke, Nikolai/Syrovatka, Felix, Sparen für die Wettbewerbsfähigkeit des sent-Day Hungary, in: Journal for the Study of Antisemitism 4 (2) (2012), Kapitals . Eine kurze Geschichte der autoritären EU-Austeritätspolitik, in: ana- s . 443–467, hier: s . 444 . Verfügbar unter: http://web ceu. .hu/jewishstudi- lyse & kritik, 19 . april 2013 . es/jsa .pdf . Zuletzt geprüft am 29 . ugusta 2013 . 5 Becker, Joachim, EU – Von der Wirtschafts- zur Integrationskrise, in: Z – Zeit- 25 Vgl . Zick/Küpper/Hövermann: Abwertung, s . 72 . schrift marxistische Erneuerung 22 (1) (2011), s .10–30 . 26 Vgl . ebd ,. s . 74 . 6 Oberndorfer, Lukas, Hegemoniekrise in Europa – Auf dem Weg zu einem au- 27 müller, Yves, Männliche Homosexualität und Homophobie im deutschen und toritären Wettbewerbsetatismus?, in: Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa österreichischen Rechtspopulismus, in: Forschungsgruppe Europäische Inte- (Hg .), Die EU in der Krise: Zwischen autoritärem Etatismus und europäischem gration (Hg .), Rechtspopulismus in der Europäischen Union, Hamburg 2012, Frühling, Münster 2012, s . 50–72, hier: s . 59 . s . 79–97, hier: s . 80 ff .

14 28 Vgl . Markantanou, Maria, Die Konstruktion des ›Feindes‹ in der Zeit der Finanz- gegenzusetzen und damit rechte Argumentationsfiguren zu untergraben, be- krise . Neoliberalisierung und Ausnahmezustand in Griechenland, in: Friedrich, fördert ihre Kritik in der Folge so selbst eine verkürzte Wahrnehmung der Pro- Sebastian/Schreiner, Patrick (Hg .), Nation – Ausgrenzung – Krise: Kritische zesse . Perspektiven auf Europa, Münster 2013, s . 128–138, hier: s . 128 f . 34 Jobbik, Hungarian Nationalists – Jobbik official campaign video 2010 2010 . 29 Eser, Patrick, Rechtspopulismus in Spanien . Katalonien, der nationale Konflikt Verfügbar unter: https://www .youtube .com/watch?v=X3xEQLWffHE . Zuletzt und die rechtspopulistische Plataforma per Catalunya (PxC), in: Forschungs- geprüft am 27 . ugusta 2013, Übers . d . Verf . . gruppe Europäische Integration (Hg .), Rechtspopulismus in der Europäischen 35 Ein besonders drastisches Beispiel hierfür war der Wahlkampf 2012 in Grie- Union, Hamburg 2012, s . 107–129, hier: s . 126 . chenland, in dem der Gesundheitsminister Andreas Loverdos der sozialde- 30 Flecker/Krenn zit . nach ebd ., s . 126 . mokratischen PASOK in einer Kampagne zur Abschiebung von HIV-infizierten 31 Vgl . Seppmann, Werner, Dynamik der Entzivilisierung . Über die Gewalt, die Prostituierten erklärte, dass »der HIV-Virus […] von der illegalen Migrantin zum aus den gesellschaftlichen Funktionsprinzipien resultiert, in: Bathke, Peter/ Kunden und zur griechischen Familie übertragen« (Andreas Loverdos/PASOK Hoffstadt, Anke (Hg .), Die neuen Rechten in Europa: Zwischen Neoliberalis- zit . nach Markantanou: Konstruktion, s .137) werde, während die konservative mus und Rassismus, Köln 2013, s . 65–78, hier: s . 73; siehe auch Kreisky, Nea Demokratia (ND) sich für eine Unterbringung illegalisierter Migrant*innen Eva/Löffler, Marion, Maskulinismus und Staat: Beharrung und Veränderung, in Auffang- und Militärlagern aussprach, um »unsere Städte wieder besetzen in: Ludwig, Gundula/Sauer, Birgit/Wöhl, Stefanie (Hg .), Staat und Geschlecht: zu können« (Antonis Samaras/ND zit . nach ebd ),. wodurch ein Sagbarkeits- Grundlagen und aktuelle Herausforderungen feministischer Staatstheorie, Ba- feld für die faschistische Chrysi Avgi geöffnet wurde (vgl . Huke, Nikolai/Tri- den-Baden 2009, s . 75–88, hier: s . 86 . andafilidou, Haris, Rechtspopulismus in der Euro-Krise, in: Forschungsgruppe 32 http://www .stop-esm .org/home Europäische Integration (Hg ),. Rechtspopulismus in der Europäischen Union, 33 In der deutschen Partei DIE LINKE findet sich teilweise eine recht ähnlich ge- Hamburg 2012, s . 13–34, hier: s . 24 ff .) . lagerte Kritik . Exemplarisch erklärt Ulrich Maurer (Stellvertretender Fraktions- 36 Vgl . Forschungsgruppe Europäische Integration (Hg ),. Rechtspopulismus in vorsitzender der Bundestagsfraktion, DIE LINKE): »100 Milliarden Euro für das der Europäischen Union, Hamburg 2012 . Die Reaktion der EU blieb auf eine ESFS (Europäisches Finanzaufsichtsystem) [deutsches Kürzel: EFSF, d . Verf ],. vorsichtige symbolische Sanktionierung beschränkt und auch aus den Reihen 200 Mrd . für das ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) . Summen für der Europäische Volkspartei, zu deren Mitgliedsparteien neben CDU und CSU Kürzel, die keiner verstehen kann, die unverständlich bleiben sollen und über eben auch Berlusconis PDL und Orbáns Fidesz zählen, wurde an diesen Ent- die sich in der Folge auch niemand mehr umfassend informieren mag . Dienen wicklungen kaum Kritik geübt . diese Unsummen doch einzig und allein der Stabilisierung von Großinvestoren 37 Der Verweis auf die Dominanz von Männern in der rechten Szene bedeutet und Banken .« (Maurer, Ulrich, Antwort der Linken auf rechten Extremismus nicht, dass Frauen nicht auch an zentraler Stelle in diesen Bewegungen par- und Terrorismus, in: Bathke, Peter/Hoffstadt, Anke (Hg .), Die neuen Rechten tizipieren . Die Rolle Beate Zschäpes innerhalb des NSU steht hier exempla- in Europa: Zwischen Neoliberalismus und Rassismus, Köln 2013, s .284–290, risch dafür, dass die Rolle von Frauen in der organisierten Rechten nicht un- hier: s .288–289) Andrej Hunko (MdB, DIE LINKE) sieht ein »berechtigte[s] Un- terschätzt werden darf . behagen […] über die gigantische Verwendung öffentlicher Gelder zu seiner 38 Vgl . Marsovszky, Magdalena, Ungarn – von völkischer Ideologie durchdrun- Finanzierung« (Hunko, Andrej, Mögliche Gegenstrategien der humanistischen gen . Kein »Populismus am rechten Rand«, sondern eine Pluralismus-feind­ Gesellschaft, in: Bathke, Peter/Hoffstadt, Anke (Hg .), Die neuen Rechten in liche Massenbewegung, in: Forschungsgruppe Europäische Integration (Hg .), Europa: Zwischen Neoliberalismus und Rassismus, Köln 2013, s . 291–302, Rechtspopulismus in der Europäischen Union, Hamburg 2012, s . 130–149, hier: s .296) und erklärt damit en passant nationalistisch motivierte Diskurse hier: s . 131 . (à la »Keine deutschen Steuergelder für Griechenland«) für irgendwie doch le- 39 Vgl . Pilger: Rechtspopulismus, s . 46 . gitim . Ignoriert wird von beiden, dass weder der finanzielle Umfang noch die 40 Vgl . ebd ,. s . 46 f . Existenz von EFSF und ESM das zentrale Problem ist – potenziell könnten die 41 markantanou: Konstruktion, s . 135 . Maßnahmen den sozialpolitischen Spielraum in der europäischen Peripherie 42 Vgl . Hunko: Gegenstrategien, s . 301 . erhöhen und wären damit im Sinne einer europäischen Solidarität durchaus 43 Vgl . Zimmermann, Maike, … bis der Aufmarsch Geschichte ist . Der Erfolg von wünschenswert (vgl . Bieling, Hans-Jürgen, EU-Verfassungspolitik und Wirt- Dresden baut auf einer längeren Entwicklung auf . Die Geschichte ist jedoch schaftsregierung . Krisenkonstitutionalismus gegen Volkssouveränität und noch nicht zu Ende, in: Bathke, Peter/Hoffstadt, Anke (Hg .), Die neuen Rech- Demokratie, in: Widerspruch 31 (2) (2011), s . 61–70, hier: s . 65 ff ). . Zentral ten in Europa: Zwischen Neoliberalismus und Rassismus, Köln 2013, s . 318– für ihre fatalen Konsequenzen sind vielmehr ihre antidemokratische Form so- 327 wie die strikte austeritätspolitische Konditionalisierung, mit der sie verbunden 44 http://www .netzwerk-courage .de/ sind . Die Konditionalisierung aber wird von Maurer und Hunko gar nicht erst 45 Vgl . Espinar, Ramón/Abellán, Jacobo, »Lo llaman democracia y no lo es« . Eine diskutiert . Statt rechtem »EU-Bashing« (Wiegel: EU-Bashing) eine ernsthafte demokratietheoretische Annäherung an die Bewegung des 15 . Mai, in: PROK- kritische Auseinandersetzung mit dem europäischen Krisenmanagement ent- LA 42 (1) (2012), s . 135–149 .

15 Parlamentarische Demokratie und diktato­ ri­ sc­ he­ Regime in Europa: Noch einmal der Fall Ungarn

Die staatssozialistischen Gesellschaften in der UdSSR und reme nationalistische Parteien sich zum vermeintlichen­ Für- in Osteuropa brachen vor zwei Jahrzehnten zusammen . Der sprecher nationaler Interessen überhaupt erst profilieren größte teil Europas 1988: 6,7 von 10, 4 Quadratkilometern und Masseneinfluss gewinnen können . Es besteht die Ge- mit 363 von 726 Millionen Einwohnern) kehrte zur kapitalis- fahr, dass in dieser Situation die parlamentarische Demo- tischen Gesellschaftsformation zurück .1 Die sowjetische He- kratie durch ein autoritäres nationalistisches Regime ersetzt gemonialmacht unter Michail Gorbatschow (1985–1991) und wird . In der kapitalistischen Welt des 20 . und beginnenden Boris Jelzin (seit 1990/1991 Präsident Russlands) gab da- 21 .Jahrhunderts dominieren nicht die bürgerlichen parlamen- mals ihr osteuropäisches Einflussgebiet auf, überließ es dem tarischen Demokratie mit Gewaltenteilung und Rechtsstaat, kapitalistischen Westen und der Nato . Mehr noch: die ehe- sondern autoritäre und diktatorische Regime .4 malige kommunistische Elite errichte in Russland »von oben« Rechtskonservative und rechtsliberale Kräfte, die sich als einen Oligarchen-Kapitalismus, allerdings ohne die »klassi- Bannerträger von Freiheit und Demokratie ausgeben, tolerie- sche« westliche parlamentarische Demokratie . Ähnlich han- ren autoritäre Regime und kooperieren mit ihnen . Historische delten die anderen osteuropäischen Funktionseliten .2 Der Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts zeigen zudem, dass in Untergang der zum Kapitalismus alternativen Gesellschaf- Zeiten kapitalistischer Systemkrisen die parlamentarische ten auf dem europäischen Kontinent wurde möglich durch Demokratie selbst mit Billigung der bürgerlich-konservativen deren fehlende ökonomische Dynamik und politische Stabi- Kräfte durch eine faschistische Diktatur bzw . durch extreme lität, unzureichende demokratische Verankerung der politi- autoritär-nationalistische Regime ersetzt wurde, wenn es um schen Herrschaft sowie infolge der damit verbundenen man- den Erhalt des kapitalistischen Systems als Ganzes ging . Das gelnden Fähigkeit und Willenskraft der damaligen politischen betraf in der Zwischenkriegszeit der 1920er und 1930er Jah- Führungen zu Reformen innerhalb des bestehenden Systems . re nicht nur Deutschland (1933), sondern auch Italien, Öster- Die Vorbereitung für die Aufnahme der meisten osteuropäi- reich, Portugal und Spanien sowie viele andere europäischen schen Länder in die EU zwischen 1989 und 2004 war damit Länder . Geschichte wiederholt sich nicht generell, aber unter verbunden, dass hier (im Unterschied zu Russland) durch den bestimmten Konstellationen tendenziell . Selbst die heute in Elitenwechsel der Kapitalismus von außen eingeführt wurde, höchsten Tönen gepriesene »demokratische Werte- und Staa- in dessen Ergebnis das ausländische Kapital in Industrie, tengemeinschaft«, die Europäische Union, ist kein Musterbei- Handel, Gewerbe und Banken dominiert . Dieser so genann- spiel für die Durchsetzung der parlamentarischen Demokra- te transnationale bzw . europäische Kapitalismus in Osteuro- tie . Das Demokratie-Kriterium der EU wurde schon bei der pa ist eine Erscheinung, »in der einheimisches Eigentum vor »Osterweiterung« nicht immer beachtet, so bei der Aufnahme allem in Klein- und Mittelunternehmen (KMU) gebildet wird, Estlands oder Lettlands; hier ist seit 1992 ein Drittel der Be- während große Unternehmen sowie der Großteil der Banken völkerung (vor allem russischer Nationalität) von den »freien ausländische Tochtergesellschaften geworden sind, die wie- Wahlen« ausgeschlossen 5. derum nur in geringem Maße auf nationale Institutionen an- Murat Cakir kennzeichnete die gegenwärtigen demokrati- gewiesen sind .«3 schen Zustände dieser Staatengemeinschaft folgenderma- Der Kapitalismus kommt zunehmend in Kollision mit den nati- ßen: »Auch eine EU-Mitgliedschaft kann Entdemokratisie- onalen Interessen der neuen EU-Staaten . Das offenbarte sich rungstendenzen in einzelnen Ländern nicht verhindern – siehe vor allem in der globalen Finanzkrise des Kapitalismus der Ungarn . Abgesehen davon ist die EU selbst dabei, die Uni- letzten fünf Jahre . Die politischen Entscheidungen in diesen on und die bürgerlichen Demokratien Europas zu entkernen . Ländern treffen zunehmend die »Troika« (EU-Kommission,­ Eu- Neoliberaler Umbau, Militarisierung der Außenpolitik, Dele- ropäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds) gitimierung von politischen Entscheidungsmechanismen und oder andere internationale Finanzorganisationen, also Gre- die Entmachtung der Parlamente – all dies ist weitgehend mien, die im betreffenden Land keine demokratische Legiti- vollzogen .«6 mation besitzen . Da sich die meisten sozialdemokratischen Die Hauptgefahren für die parlamentarische Demokratie in Parteien als Pseudolinke entpuppten und die Einführung des Europa gehen gegenwärtig – wie auch schon in der Zeit der neoliberalen Kapitalismus maßgeblich vorantrieben, die neu- großen Krisen während der Zwischenkriegszeit – von faschis- formierten Linken nur geringen Einfluss besitzen, haben ext- tischen (d .h . heute: neofaschistischen) und extrem nationalis-

16 tischen Parteien (die bezeichnen sich als nationalkonservativ, Kapital«, einen »ungarischen Wohlfahrtsstaat mit nationalem gehören zumeist zur konservativen Parteienfamilie Europas) Eigenkapital in den Grenzen von Trianon .«10 aus . Ihr Einfluss wächst besonders in jenen Staaten, wo so- zialdemokratische Parteien durch ihre Mitverantwortung an Die MIÉP zog erstmals 1998 mit 5,5 Prozent (14 Mandate) in der Vertiefung sozialökonomischer Krisen teilweise ihren poli- das Parlament ein . tischen Einfluss verspielt haben bzw . wo es keine konsequen- Sie war von Anfang an vernetzt mit anderen neofaschisti- te Linke links neben der Sozialdemokratie mehr gibt . schen Gruppierungen, die sich in der Nachfolge der faschis- Ungarn ist dafür ein warnendes Beispiel geworden, aber ähn- tischen »Pfeilkreuzler« verstehen: »Ungarische Nationale liche Tendenzen des Vormarsches rechtsextremer Kräfte zei- Front« MNA, »Ungarische Wohlstandsgesellschaft« MNSZ, gen sich auch in Polen, Italien, Frankreich, Griechenland, Bul- »Bündnis der Ostfront-Kameraden« KABSZ, »Verband der garien und Rumänien . Der ungarische Schriftsteller György Kriegsgefangenen« HSZ . Die neofaschistische MIÉP als Mo- Konrad befürchtet, dass die EU die Beseitigung der ungari- bilisierungsfaktor, Tabubrecher und stiller Tolerierungspart- schen Demokratie wenig entgegensetzen wird: »Das allgemei- ner der ersten Fidesz-Regierung (1998 bis 2002), wurde um ne Problem der EU ist doch, dass sie eine Union der Natio- 2002 bedeutungslos (2,3 Prozent der Wählerstimmen) . An nalstaaten und nicht der Bürger ist . So ist es möglich, dass ihre Stelle trat seit 2003 die »Bewegung für ein besseres Un- innerhalb der Union eine Insel geschaffen wird, in der mehr garn« JMM, kurz: »Jobbik« . Auch sie rekrutierte sich aus den diktatorische als bundesrepublikanische Verhältnisse herr- rechtsextremen Rändern rechtskonservativer Parteien . Or- schen . Das erinnert stark an 1933, als die NSDAP mit einer báns Kanzleramtsminister István Stump organisierte die Neu- Wahlmehrheit unter scheindemokratischen Bedingungen an formierung der neofaschistischen Bewegung . Er unterstütz- die Macht kam . Auch wenn Ungarn im Vergleich zu Deutsch- te die dem Fidesz nahestehende, 1999 gegründete »Rechte land ein nur sehr kleines Land ist und eine Schreckensherr- Jugendgemeinschaft« JIK, weil diese das Zeug dazu hätten, schaft unwahrscheinlich: Von einer Demokratie kann keine »das radikalnationalistische rechte Segment (also die Kräfte Rede mehr sein «. 7 rechts von Fidesz-K .H .G .) zu besetzen«, nachdem die Csurka- Welche politischen Parteien und Bewegungen sind es, die seit Partei ihren Schwung verloren habe 11. Erst im Oktober 2003 einiger Zeit die parlamentarische Demokratie Ungarns bedro- formierte sich dann aus dieser Gruppierung eine neue neofa- hen und dabei sind, sie dauerhaft abzuschaffen? Es handelt schistische Partei unter der Bezeichnung »Bewegung für ein sich im Wesentlichen um zwei (nur im Grad ihrer Radikalität besseres Ungarn« Jmm . Vorsitzender wurde zunächst Dávid unterschiedliche) extreme rechte Parteien – Die Neofaschis- Kovác . Sein Stellvertreter, der Geschichtslehrer und Alarm- ten (seit 1993 »Ungarische Partei der Wahrheit und des Le- anlagen-Verkäufer Gábor Vona12 (geb . 1978) übernahm 2006 bens« MIÉP, seit 2003 »Bewegung für ein besseres Ungarn«, die Leitung der neofaschistischen Partei . Er war zuvor Präsi- kurz Jobbik, und die populistischen Rechtsnationalisten (seit dent des »Vereins Christlicher Intellektueller« an der Buda- 1988 »Bund junger Demokraten« Fidesz, seit 2003 »FIDESZ – pester Universität und gehörte zu dem 2003 von Fidesz ge- Ungarische Bürgerallianz« MPSZ unter Viktor Orbán8) . Sie be- gründeten »Bürgerlichen Verein« unter dem Motto »Vorwärts, rufen sich auf das Erbe des Horthy-Faschismus (1920–1944) Ungarn!« Sein Vize war Csanád Szegedi (geb . 1982) ist seit und auf die faschistische Bewegung der »Pfeilkreuzler« unter 2009 Jobbik-Abgeordneter im EU-Parlament . Er gibt sich als Ferenc Szálasi (1944–1945), einem Marionettenregime unter »Bevölkerungsspezialist« aus, ist aber nichts anderes als ein deutscher Besatzung 9. rassistischer Hetzer: »Die ungarischen Menschen haben ge- nug davon, dass mit ihren Staatsgeldern eine staatlich ge- Ungarische Neofaschisten – eine einflussreiche lenkte Zigeunerzucht finanziert wird .«13 politische Kraft (I.): 1993 bis 2002 »Ungarische Partei Szegedi geht noch weiter und droht: »Mit aller Kraft wer- der Wahrheit und des Lebens« MiÈP den wir uns dafür einsetzen, dass wir mit friedlichen Mitteln, Vorsitzender dieser Partei war der antikommunistische Dis- aber bei Bestrafung und Inhaftierung der bisherigen Verbre- sident István Csurka (1934–2012) . Sie entstand aus den cher in Ungarn Ordnung schaffen . Damit wir das Schicksal rechten Rändern der nach 1989 wiedererstandenen bürger- Ungarns zum Besseren wenden . (…) Doch wenn das nicht lichen rechtskonservativen Parteien, vor allem aus der Bür- gelingt, dann wird die ungarische Jugend nicht untätig blei- gerrechtsbewegung »Ungarisches Demokratisches Forum« ben und zu den Waffen greifen «. 14 Die neofaschistische Job- MDF . Die MIÉP, die 1995 etwa 18 000. Mitglieder vereinte, bik schuf 2007 eine paramilitärische Organisation nach dem besaß die Wochenzeitschrift »Magyar Forum« und den Rund- Muster der Bewegung der »Pfeilkreuzler« – die »Ungarische funksender »Pannon Rádió . Sie verbreiteten Revanchismus, Garde« MG mit etwa 3 000. Mitgliedern zum »Schutz des phy- Antisemitismus und rassistische Hetze gegen die Minderheit sisch, geistig, seelisch wehrlosen Magyarentums« und für der Roma, die mit 700 .000 Personen etwa 7,5 Prozent der das »erwachen und die Erneuerung der Nation« .15 Die neo- Bevölkerung ausmacht . Csurka rief dazu auf, »Schluss zu ma- faschistische Schlägertruppe legte ihren Eid ungestört vor chen« mit der »Überfremdung« Ungarns durch Ausländer, Jun- dem Amtssitz des Staatspräsidenten László Solyóm ab . Den den und Roma, forderte ein starkes »ungarisches schaffendes Vorsitz übernahm Parteichef Vona selbst . Gardekommandeur

17 wurde Róbert Kiss . Seit 2008 verfügt die Jobbik-Miliz über de 18. Der reformierte Bischof Lórant Hegedüs sen . Übernahm einen »Sicherheitsdienst«, der zum Waffenbesitz berechtigt . den »Ehrenschutz« der »Ungarischen Garde« . Dessen Ehefrau Die neofaschistische Schlägertruppe ermordete in Gewaltak- Enikö Hegedüs-Kovács, Vizebürgermeisterin der nahe Buda- tionen zwischen März 2008 und Mai 2010 in 21 Siedlungen pest liegenden Gemeinde Budakeszi ist ebenfalls bei der Ver- zehn Roma .16 Zwar wurde die Garde im Juli 2009 in zweiter breitung des Antisemitismus sehr aktiv . Deren Sohn, Lóránt Instanz rechtskräftig verboten . Sie war aber bereits in einer Hegedüs jun . (geb . 1968), war von 1998 bis 2002 MIÉP-Abge- Woche als »Neue Ungarische Garde« wieder in Aktion . Vo- ordneter 19. Zur Jobbik-Führung gehört die Juristin und Univer- na hatte sich nach dem Verbot der paramilitärischen Orga- sitätsdozentin für Strafrecht Krisztina Morvai (geb . 1963), die nisation beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrech- sich zuvor als »Frauenrechtlerin« einen Namen gemacht hat- te beschwert . Dieser billigte 2013 das Verbot nachdrücklich . te . Ihr 1998 erschienenes Buch »Terror in der Familie« gilt bis Zudem sind auch regionale Jobbik-»Schutzwehren« gebildet heute als ungarisches Standardwerk über häusliche Gewalt . worden . Die seit 2010 amtierende Orbán-Regierung toleriert Die von 2002 bis 2006 amtierende sozialliberale Regierung diese Terrorgruppen .17 Außerdem besitzt Jobbik eine partei- delegierte sie in den UNO-Ausschuss für Beendigung der Dis- eigene Gewerkschaft innerhalb der ungarischen Polizei unter kriminierung von Frauen . Sie gehörte zu den Aktivisten der der Bezeichnung »Tatbereit-Ungarische Polizeigewerkschaft« . Herbstunruhen 2006 gegen die eben gewählte sozialliberale­ Ihr gehören 9 .000 der 50 .000 ungarischen Polizisten an . Die Regierung und wurde schließlich erfolgreiche Spitzenkandi- Leiterin dieser »Gewerkschaft«, Oberstleutnant Judit Szima, datin auf der Jobbik-Liste für die Europawahlen 2009 . Sie be- schloss im Mai 2009 mit Jobbik ein Kooperationsabkommen . trieb eine obszöne antisemitische Hetze und forderte die Auf- Als Spitzenkandidatin von Jobbik besetzte sie Platz 4 auf der hebung des Vertrages von Trianon und der Benesch-Dekrete . Liste zu den Europawahlen . In einem Interview mit »Welt online« offenbarte sie Grundpo- Das außenpolitische Programm von Jobbik ist auf eine Re- sitionen ihrer Partei: vision des Friedens von Trianon gerichtet, d .h . auf die Wie- »Wir sind nicht unbedingt für den Austritt aus der Eu . Aber wir dereingliederung der teils ungarisch besiedelten Gebiete der sind gegen die Schaffung eines europäischen Imperiums . Wir Nachbarstaaten (Slowakei, Rumänien, Serbien, Ukraine) . Job- sind dagegen, die Nationalstaaten ihrer Entscheidungsbefug- bik versucht, unter diesen zweieinhalb Millionen Auslandsun- nisse zu berauben und den EU-Institutionen zu übertragen . garn Einfluss zu gewinnen . Jobbik-Spitzenpolitiker Tamás »Doch wenn das Schlimmste eintritt und wir das 2011 aus- Gaudi-Nagy, forderte im März 2010 die Verdopplung der Rüs- laufende Moratorium zum Landverkauf nicht neu verhandeln tungsausgaben und die Verstärkung der ungarischen Armee können, dann sollte Ungarn die EU verlassen . Wir dürfen un- von 30 .000 auf 72 .000 Mann, um die Revision von Trianon ser Land nicht preisgeben . Die Europäische Union hat Ungarn gewaltsam durchzusetzen . Zum Netzwerk der Jobbik-Partei nötiger als wir die Eu «. Befragt nach der antisemitischen und zählen u .a . die »König Attila Volkshochschule«, drei Buchla- rassistischen Politik ihrer Partei, erklärte sie: »Präsident Schi- denketten, ein Taxi-Unternehmen, radikale Sportclubs, die mon Peres hat erklärt, dass Israel Ungarn aufkaufen wolle – Rockgruppen Kárpátia, und Romantikus Eröszak, die mit ih- dafür habe ich Belege . Und jeder sieht ja, welches Leid Israel rem jährlichen Festival »Ungarische Insel« – ein Konkurrenz- in Palästina anrichtet (…). Wir sind eine patriotische Partei – unternehmen zu dem seit 1993 bestehenden »Inselfestival« – und daran ist nichts auszusetzen . Bei uns stehen die Men- über 10 000. Besucher erreichen . Jobbik besitzt zudem das schen und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt – und nicht der Internetportal Kuruc info. mit 150 .000 Nutzern, eine Wochen- Profit . Dieser völlig liberalisierte Handel ist für unsere Land- zeitung (www .barikad hu). und den Rundfunksender Szent Ko- wirtschaft fatal . Es hat keinen Sinn, Agrarprodukte von einem rona Rádió . Außerdem bieten auch Fidesz-Massenmedien für Ende der Welt an das andere zu schaffen, die Umwelt zu be- Jobbik eine willkommene Möglichkeit, ihre faschistische Ideo- lasten und den lokalen Bauern die Märkte kaputt zu machen .« logie zu verbreiten . Die Terroraktionen gegen die große Minderheit der Roma Die ungarischen Neofaschisten finden auch in Teilen des ka- rechtfertigt sie mit diesen Worten: »Einer muss das Thema tholischen Klerus Unterstützung . Der Erzbischof von Koloc- der Kriminalität ansprechen . Die Polizei ist überfordert . Und sa, Balázs Bábel, weihte das 2007 errichtete Denkmal des nur wenige Leute sind privilegiert genug, Sicherheit für sich 1927 verstorbenen katholischen Erzbischofs Ottokár Prohás- selbst finanzieren zu können . Doch man kann die Millionen zka ein . Dieser Geistliche gehörte zu den führenden antise- Menschen, die sich das nicht leisten können, nicht völlig un- mitischen Ideologen der Zwischenkriegszeit . Er erklärte 1919, geschützt sich selbst überlassen .«20 dass sich das ungarische Volk vor den Juden, die er als »Rat- Die Jobbik-Partei pflegt enge Beziehungen zur französischen tenplage« bezeichnete, schützen müsse . Der »Deutschvölki- und wallonischen »Front National« zur italienischen »Flamma sche Schutz- und Trutzbund«, einer der Keimzellen der NSDAP, Tricolore«, zur britischen »Nationalpartei«, der bulgarischen gab 1920 dessen antisemitisches Pamphlet »Die Judenfrage »Ataka«, den schwedischen »Nationaldemokraten« sowie zur in Ungarn« heraus . Bischof Bábel erklärte, er werde das Bu- ÖVP und zur NPD . Udo Voigt, der sich als »Vorsitzender der dapester Holocaust-Museum erst dann besuchen, wenn das ältesten und stärksten nationalen Partei Deutschlands« nach Bildnis von Prohászka in der Nähe Adolf Hitlers verschwin- 1945 bezeichnet, gratulierte seinem »lieben ungarischen Ka-

18 meraden Vona zu dieser »großartigen Leistung« . Es gebe »in- ság« für 18 Millionen DM an einen der größten westdeut- haltlich viel Übereinstimmung zwischen unseren Ländern und schen Verlage verkauft . Die sozialliberale Koalition vollendete unseren beiden Parteien . Gemeinsam kämpften unsere Völ- in Erfüllung der EU-Aufnahmebedingungen die Schockthera- ker gegen den Bolschewismus «. 21 pie der konservativen Antall-Regierung und vertiefte weiter Erschreckend ist der Masseneinfluss, den die neofaschisti- die sozialen Klüfte innerhalb der Bevölkerung . Diese Ent- sche Partei innerhalb der ungarischen Bevölkerung im letz- wicklung nutzte die anfänglich liberal agierende Fidesz-Par- ten Jahrzehnt erreichte . In den Wahlen zum Europaparlament tei für ihre Neuformierung zu einer extrem nationalistischen 2009 wurde sie drittstärkste Kraft und erreichte 14,8 Prozent und rechtspopulistischen Partei . Sie erhob den Anspruch, als der Stimmen (bei einer Wahlbeteiligung von 36,3 Prozent) . »Vertreterin der ganzen ungarischen Nation« zu agieren und Auch in den Parlamentswahlen im April 2010 wurde Jobbik wurde im Ergebnis der Parlamentswahlen vom Mai 1998 erst- die drittstärkste Partei, erhielt in den Regionallisten 16,7 Pro- mals mit 38,34 Prozent stärkste politische Kraft mit 148 Par- zent der Wählerstimmen und 47 der 386 parlamentssitze lamentsmandaten . Sie übernahm zusammen mit der »Partei (12,2 Prozent) . Sie erreichte ein Viertel der Wähler zwischen der Kleinen Landwirte« FKgP und der »Christdemokratischen 18 und 29 Jahren, vorwiegend Männer und Mittelschulabgän- Volkspartei« KDNP bis 2002 die Regierungsgeschäfte . ger . Ihr Stimmenanteil betrug in Budapest nur 10,4 Prozent, in den nördöstlichen, zumeist von Roma besiedelten Komita- Die rechtspopulistische Fidesz, die sich als »einzige wahre ten, zwischen 20 und 27 Prozent . In den Kommunalwahlen im Interessenvertreterin des ungarischen Volkes« betrachtete, Oktober 2010 wurde Jobbik bereits die zweitstärkste Partei 22. kündigte einen grundlegenden Systemwechsel an, der seit angeblich 1988 in Ungarn verpasst worden sei . In Wirklich- keit ging und geht es darum, das Land dauerhaft autoritär Populistische extreme Rechtsnationalisten an zu regieren . Partei- und Regierungschef Orbán hielt und hält der Macht 1998 bis 2002 nichts von einer Konsensdemokratie und meint, seine parla- mentarische Mehrheit repräsentiere das gesamte ungarische 1994 verlor die erste rechtsbürgerliche »Nachwende-Regie- Volk und sei selbst die ungarische Demokratie . Er schränkte rung« die politische Macht durch den Wahlsieg der im Okto- schon in der ersten Regierungszeit die Kontrollfunktion des ber 1989 neugegründeten kommunistischen Nachfolgepartei Parlamentes ein, indem er die wöchentlichen Parlamentssit- »Ungarische Sozialistische Partei« MSZp . Bei einer Wahlbetei- zungen abschaffte . Selbst ein Mitbegründer und führender ligung von 69 Prozent erhielten die ungarischen Sozialdemo- Politiker der Partei, Peter Tögeyessy, kritisierte die Regie- kraten bei den Parlamentswahlen 54,15 Prozent der Stimmen rungspraxis, die in wesentlichen Punkten nicht mehr verfas- und stellten damit 209 der 386 Abgeordneten . Sie koalier- sungskonform sei . ten mit dem linksliberalen »Bund der Freien Demokraten« SZDSZ, der mit 69 Abgeordneten in das Parlament einzog . Da die sozialliberale Koalition zum Nachteil der Bevölkerung Die einstige sozialistische Staatspartei hatte schon vor ihrem Ungarns dem Neoliberalismus Tür und Tor geöffnet hatte, ga- politischen Machtverlust die Privatisierung des ungarischen ben sich die Rechtspopulisten als die einzigen wahren Vertre- Staatseigentums eingeleitet und an ihre Führungskader ver- ter nationaler und sozialer Interessen aus . Sie verstaatlichten teilt, aber auch an westliche Kapitaleigner verscherbelt . So zunächst die Postbank und die Ungarische Entwicklungs- wurde u .a . die größte ungarische Tageszeitung »Népszbad- bank . Das so genannte nationale Entwicklungsprogramm

19 sah allerdings nicht nur die Förderung einheimischer kleine- mus reduziert . Die Massenverbrechen an Juden und Roma rer und mittlerer Unternehmen, sondern auch der Tochterge- unter dem »Reichsverweser der ungarischen Krone« werden sellschaften der großen Auslandskonzerne vor . 2001 hatten ausgeklammert!30 die in Ungarn angesiedelten ausländischen Firmen einen An- teil am ungarischen Außenhandel von 65 Prozent! Das Aus- Allerdings sah sich die Regierung durch wachsenden inne- landskapital beherrschte 41 Prozent des ungarischen Brut- ren und äußeren Druck veranlasst, den internationalen Holo- toproduktionswertes (Finanzdienstleistungen – 58 Prozent; caust-Gedenktag endlich auch in Ungarn einzuführen . Lázsló Telekommunikation – 69 Prozent; Maschinenbau – 68 Pro- Andor, Professor in der Abteilung für Wirtschaftspolitik der zent; chemische Produkte – 56 Prozent) .23 Budapester Corvinus-Universität und Forschungsdirektor am Institut für Geschichte, kennzeichnet die neoliberale und na- Der Anteil der Nahrungsmittelindustrie am ungarischen Ex- tionalistisch-revanchistische Politik der Orbán-Rgierung fol- port fiel von 25 Prozent auf 8 Prozent . Bis 2000 gerieten gendermaßen: »Im Gegensatz zur … christdemokratischen 56 prozent der Nahrungsmittelindustrie Ungarns in Aus- Natur der ungarischen Rechten unter Antall, schwenkten Or- landsbesitz 24. Ungeachtet der nationalistischen Antikapitalis- bán und die Fidesz in eine thatcheristische Richtung . Dies muskritik unterstützte Orbán grundsätzlich die Erhaltung des bedeutet einen mehr auf Konfrontation ausgelegten Kurs ge- Groß- und Finanzkapitals . Im Wahlkampf 2002 begründete er gen Gewerkschaften und bewusste Versuche, konservative dies mit folgenden Worten: »Wenn die Sozialisten die Regie- Ideologie als eine Säule rechter Politik zu konsolidieren . Da- rung stellen, würde in Ungarn in Wahrheit das Groß- und Fi- zu wurden geschichts- und politikwissenschaftliche Institute nanzkapital die Regierung bilden . Wir müssen dagegen nicht gegründet, die entsprechende Intellektuelle unterstützen und protestieren, sondern handeln (…). Wir wissen alle, dass die fördern sollen .(…) Orbáns Berater, die im Rahmen der oben Wirtschaft jedes Landes, so auch die ungarische Wirtschaft, genannten Institute auch als Politikwissenschaftler, Histori- das Groß- und Finanzkapital braucht . Aber wir dürfen ihnen ker und Philosophen auftraten, fanden es wichtig, die unga- nicht das Regieren unseres Landes anvertrauen, weil sie ver- rische Geschichte ihren Vorstellungen entsprechend zu mo- ständlicherweise nur auf ihren Nutzen bauen .«25 dellieren und als wesentliche Komponente ihrer Ideologie zu Insofern ist aber auch für nicht wenige Ungarn die rechts­ verwenden . Sie führten eine graduelle Rehabilitierung und populistische »Kritik« am internationalen Finanz- und Indust- Wertschätzung der Ära von Admiral Miklós Horthy durch . Die riekapital schwer durchschaubar 26. Rechte erhielt auch Unterstützung von konservativen Politi- Die schon von der Antall-Regierung begonnene rechtsnati- kern wie Stoiber, Schüssel, Berlusconi und Aznar .(…) Er (Or- onalistische Politik erhielt unter Fidesz einen neuen Schub . bán-K .H .G ). nahm … einen populistischen Stil à la Berlusconi Orbán erklärte sich zum Ministerpräsidenten von 15 Millio- an .(…) Seine Rhetorik kam faschistischen Motiven schon sehr nen Ungarn, d .h . vor allem der Ungarn in den benachbarten nahe . Er sagte, die Menschen sollten zwischen einer sozialis- Ländern . Der Verbreitung der nationalistischen Ideologie die- tischen und bürgerlichen Zukunft wählen, wobeierstere die nen das von der Regierung eingerichtete »Amt zur Förderung Herrschaft des Großkapitals repräsentiere, genau so wie zwi- des Images Ungarns« und das am 1 . Januar 2002 in Kraft schen 1994 und 1998 unter Gyula Horn .«31 getretene »Statusgesetz« (Gesetz »Über die Ungarn, die in den Nachbarstaaten leben«), das den Angehörigen der unga- rischen Minderheit soziale und andere Vergünstigungen zu- Gewaltsame Machtübernahme scheitert 2006 sichert, wenn sie nach Ungarn kommen 27. Die Orbán-Regie- rung beteiligte sich auch an der von ÖVP/FPÖ (Jörg Haider) Das rechtsextreme und rechtspopulistische Lager organisier- und CDU/CSU initiierte revisionistische Kampagne gegen te sich nach der Wahlniederlage 2002 neu und vergrößer- die Benesch-Dekrete .28 Die schon von der Antall-Regierung te seine politische und geistige Hegemonie über große Tei- eingeleitete Geschichtsrevision setzte Orbán fort . Rehabili- le der ungarischen Bevölkerung . Fidesz formierte sich 2003 tiert wurde der nach dem Zweiten Weltkrieg verurteilte un- mit der Zusatzbezeichnung FIDESZ-Ungarische Bürgeralli- garische faschistische Kriegsverbrecher Ferenc Kisbarnaki anz Fidesz- MPSZ als ein Bündnis aller rechten Organisati- (1892–1980), der ehemalige Regierungsbevollmächtigte des onen . Nach dem Vorbild von Silvio Berlusconis »Forza Italia« Pfeilkreuzler-Regimes »für Evakuierung« . Er fällte als Kriegs- rief Parteiführer Orbán auf, »bürgerliche Vereine« unter dem richter Todesurteile gegen Soldaten und Offiziere, die den Motto »Vorwärts, Ungarn!« ins Leben zu rufen . Nachdem in Krieg nicht mehr fortführen wollten . Er war zudem verant- den Wahlen 2006 erneut der Versuch zur Machteroberung wortlich für die Verschleppung der ungarischen Kronjuwelen auf parlamentarischem Wege gescheitert war (nur 164 bzw . nach Deutschland . Zur Hinterlassenschaft der Rechtspopu- zusammen mit MDF 188 der 386 Parlamentssitze konnten listen gehört das am 24 . Februar 2002 eröffnete Budapester gewonnen werden), versuchte Fidesz-MPSZ zum 50 . Jah- Museum »Haus des Terrors« .29 Hier wird Ungarns Geschich- restag des »historischen Jahres 1956« – ähnlich wie frühe- te des 20 . Jahrhunderts auf die Geschichte der Regime der re völkisch-faschistische bzw . extrem-nationalistische Be- »Pfeilkreuzler« (Oktober 1944 bis März 1945) des Stalinis- wegungen – in koordinierter Aktion mit neofaschistischen

20 Organisationen, die aus den Wahlen im April 2006 hervorge- kriegsähnlichen Randale betrug 37 Millionen Euro 32. Die Op- gangene neoliberale Regierung unter Ferenc Gyurscány ge- position unter FIDESZ forderte nun erneut die im April 2006 waltsam zu stürzen . gewählte Regierung auf, innerhalb von 72 Stunden zurückzu- treten und organisierte seit dem 6 . Oktober 2006 Massen- Es begann am 18 . september 2006 zunächst mit einer fried- kundgebungen ihrer Anhänger . lichen Massenkundgebung vor dem Budapester Parlaments- gebäude . Die rechtsextreme »Jugendbewegung 64« (die- se Organisation will die Wiederherstellung »Groß-Ungarns« Zweite Machteroberung der Rechtsnationalisten 2010 mit seinen 64 Komitaten vor dem Frieden von Trianon 1920 erreichen) stürmte die Fernsehstation . Erst nach fünf Stun- Die internationale Wirtschafts- und Finanzkrise traf in Osteu- den konnte die Polizei am 19 . september gegen 4 Uhr früh ropa zuerst Lettland und Ungarn besonders hart . Das von EU das Gebäude zurückerobern . Zwar gab es keine Toten wie im und Weltbank bereitgestellte Hilfspaket von 20 Milliarden Eu- Oktober 1956, aber mehr als 200 Verletzte, darunter auch ro rettete den einstigen »Musterschüler« Ungarn vorerst vor 125 Polizisten . 98 Personen wurden verhaftet . Die rechte pri- dem Staatsbankrott im Herbst 2008 33. Nicht Budapest, son- vate Fernsehanstalt Hir-TV übertrug die Gewaltorgie live . In dern Brüssel diktierte seitdem direkt das Budget des Staates, der Nacht zum 20 . september 2006 ging eine Demonstra- dem sich auch das im April 2009 eingesetzte Kabinett des tion von 15 .000 Menschen erneut in Straßenkämpfe über . Privatunternehmers György Bajnai (Budapester Airport AG) Der Versuch die Parteizentrale der Sozialistischen Partei unterwarf . Er war zuvor Wirtschaftsminister der abgedankten MSZP zu besetzen (man erinnert sich an die Lynchmorde, sozialdemokratischen Gyurscány-Regierung . begangen an 22 Kommunisten während der Einnahme des Parteihauses­ am 30 . Oktober 1956), konnte durch Wasser- Diese grundlegend veränderten Bedingungen, vor allem auch werfer, Tränengas, Gummiknüppel und einer Reiterstaffel ab- das Fehlen einer politischen Kraft links der verbrauchten So- gewendet werden . Unter Leitung eines der rechtsextremen zialdemokratie und Linksliberalen, ermöglichten den unauf- Terroristen, György Budahházy, zogen etwa 5 .000 Angehö- haltsamen Vormarsch der extremen Rechten . Die rechten rige von Jobbik, der MIEP, der aus ihr 2003 abgespaltenen Oppositionsparteien erhielten bei den Regionalwahlen im Ok- »Ungarischen Nationalen Front« und Skinheads zum sowje- tober 2006 in 18 der 19 Komitate! Sie erreichten 52,6 Pro- tischen Ehrenmal auf dem Freiheitsplatz und zerstörten es . zent der abgegebenen Stimmen, während die Parteien der re- Höhepunkt der Gewaltorgie zu den bevorstehenden Kom- gierenden sozialliberalen Koalition nur noch 37,7 Prozent der munalwahlen am 24 . eptembers 2006 in Budapest waren Stimmen auf sich vereinen konnten . Die Wahlen zum Europa- die Massenveranstaltungen am gleichen Tage in der unga- Parlament im Juni 2009 (Wahlbeteiligung 36 Prozent) zeigen rischen Hauptstadt, an denen nun auch Abordnungen aus bereits den unaufhaltsamen Vormarsch der extremen und allen Teilen des Landes teilnahmen . Der »Ungarische Bau- populistischen Rechten: Fidesz 56,4 Prozent (14 der 22 un- ernverband« MAGOSZ und die rechtsextreme »Ungaristen- garischen Sitze) und Jobbik 14,8 Prozent (3 Sitze) . Die Par- Vereinigung« sorgten für die Verpflegung der Bewegung . Die lamentswahlen im April 2010 (Wahlbeteiligung 64 Prozent) schwarz uniformierten »Ungaristen« erinnerten in ihren Auf- brachten schließlich das Comeback der extremen und popu- tritten an die »orangene Revolution« in der Ukraine und er- listischen Rechten: Fidesz-MPSZ erhielt im Wahlbündnis mit klärten selbstbewusst, dass hier »unser Kiew« sei . Budaházy den Christdemokraten 52,7 Prozent der Wählerstimmen und forderte, »die Polizei möge nicht mich, sondern Ferenc Gy- 262 der 386 Mandate (67,9 Prozent) . Die neue neofaschis- urscány verhaften« . Der nächste Redner verlangte, man sol- tische Kernpartei Jobbik zog mit 47 Abgeordneten (17 Pro- le jene schützen, die die Polizei wegen des Sturmes auf das zent der Wählerstimmen) in das Parlament ein . Zur Oppositi- Fernsehzentrum suche, denn er und die hier Versammelten on gehören die Sozialisten MSZP (19,3 Prozent der Stimmen) seien »die Helden des Geistes von 1956« . Laszlo Toroczkai, und die neue ökologische Partei »Politik kann anders sein« Chef der revanchistischen »64 Komitate«, gab bekannt, man (7,4 Prozent, 16 Mandate) . Die kommunistische »Arbeiterpar- habe eine diesbezügliche Petition dem öffentlich-rechtlichen tei« erhielt nur 0,1 Prozent der Wählerstimmen . Fernsehen überreicht, die am Abend verlesen werde . Die ext- remen und populistischen Rechten haben, wie kaum jemand In der am 16 . Juni 2010 vom Parlament und der Regierung zuvor, Ereignisse für ihre Machteroberung instrumentalisiert, verabschiedeten Politischen Deklaration wird die Machtüber- um die aus den im April 2006 durchgeführten Parlaments- nahme von Fidesz als die entscheidende Wende in der un- wahlen hervorgegangene Regierung zu stürzen . Die Orga- garischen Geschichte deklariert: »Am Ende des ersten Jahr- nisationen dieser Aktionen ernannten einen »Ungarischen zehnts des 21 . Jahrhunderts, nach sechsundvierzig Jahren Nationalen Ausschuss« à la 1956, der die Macht an einen Besatzung und Diktatur und zwei verworrenen Jahrzehnten neuen »Nationalen Runden Tisch« wie 1989 aushandeln soll- des Übergangs hat sich Ungarn das Recht und die Fähigkeit te . Bei dieser rechtsextremen Aktion wurden 326 Zivilisten der Selbstbestimmung zurückerobert . Die ungarische Nati- und 399 Polizisten verletzt . Der Gesamtschaden der bürger- on hat ihre Lebenskraft wieder gesammelt und eine Revoluti-

21 on in den Wahlkabinen vollbracht .(…) Das Parlament erklärt, nen Auslandsungarn eingeführt – und seit 2010 wird der Tag dass bei den Wahlen im April ein neuer Gesellschaftsvertrag der Unterzeichnung des Vertrages von Trianon als »Tag der zustande gekommen ist, mit dem die Ungarn ein neues Sys- nationalen Einheit« begangen . tem, das ›System der Nationalen Zusammenarbeit‹ beschlos- sen haben .«34 Regierungs- und Parteichef Orbán sieht seine Seit ihrer Machtübernahme organisiert Fidesz eine systema- Partei in der Kontinuität der »tausendjährigen Geschichte Un- tische politische Säuberung in den Medien, der Justiz, in den garns« und der »historischen Sendung« seines Landes, vor Staats- und Wirtschaftsorganen und sichert sich so dauer- allem seit der Revolution von 1848: »Seit dem europäischen haft eine »führende Rolle« . Das neue Wirtschaftsprogramm Einbruch des Kommunismus haben wir Ungarn mehr als al- vom 8 . Juni 2010 richtet sich gegen den »spekulativen Kapi- le anderen europäischen Nationen für die Freiheit und Unab- talismus« und will in Ungarn einen »produzierenden Kapitalis- hängigkeit und mehr Opfer für sie erbracht . Getreu unserem mus« durchsetzen . Erste Maßnahmen zur Durchsetzung wa- Eid haben wir es nicht geduldet, dass uns 1848 aus Wien dik- ren: Die Einschränkung der Unabhängigkeit der Nationalbank, tiert wurde, wir haben es auch 1956 und 1989 nicht geduldet, 29 . Juni ­2010; Kürzung der Vorstandbezüge um 75 Prozent, dass uns von Moskau diktiert wurde . Jetzt lassen wir es nicht 17 . Juli 2010; Abbruch der Verhandlungen mit EU und Inter- zu, dass uns aus Brüssel oder sonst woher irgendjemand et- nationalem Währungsfonds über einen »Notkredit«, 18 . Okto- was vorschreibt .(…) Wir sind dafür angetreten, den Jahren der ber 2010; Sondersteuer für ausländische Energie- und Tele- Hoffnungslosigkeit ein Ende zu bereiten und die zwanzigjäh- kommunikationsunternehmen sowie Einzelhandelsketten . Die rige Übergangsperiode abzuschließen, wir haben unsere ge- EU reagierte auf diese Entwicklungen in Ungarn – anders als wählten Abgeordneten und unsere Vertreter damit betraut, seinerzeit in Österreich beim Zusammengehen von ÖVP und die Grundlagen für ein neues und endgültiges System zu le- FPÖ – nicht mit Boykottmaßnahmen . In EU-Führungskreisen gen . Wir sind dafür, dass in Ungarn endlich wieder das Inte­ löste der schon erkennbare Übergang zu einem autoritären resse der Ungarn an erster Stelle steht . Wir haben uns für un- nationalistischen Regime in Budapest vor allem deshalb Un- ser Lnd eingesetzt, als wir uns in Ordnung und in Würde vom behagen aus, weil die Orbán-Regierung für das erste Halbjahr Internationalen Währungsfonds verabschiedeten .(…) Mit un- 2011 turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft antrat . Anlass serem entschlossenen Eintreten schlossen wir 2010 die Zeit zur Kritik war zunächst das neue Mediengesetz, das ein Instru- des Übergangs ab und fanden den Weg zur vollständigen Er- mentarium zur Einschränkung der bürgerlichen Presse-, Infor- neuerung Ungarns .(…) Wir haben verstanden, dass wir ein mations- und Meinungsfreiheit darstellt . Die von der Fidesz- neues Grundgesetz brauchen, das nicht nur den Rahmen un- Mehrheit im August 2010 geschaffene »Staatliche Behörde seres gemeinsamen Lebens vorgibt, sondern mit den Sätzen Medien und Nachrichtenübertragung« übernahm die Funkti- des Nationalen Glaubensbekenntnisses zugleich auch auf die onen der bisher getrennten Regulierungsbehörde für Rund- seit zwanzig Jahren offenen Fragen antwortet . Wir bekennen, funk und Fernsehen sowie die Telekommunikation . Zusätzlich dass die Grundlage der Stärke der Gemeinschaft und der Eh- erhielt sie umfangreiche Kontrollkompetenzen gegenüber den re eines jeden Menschen die Arbeit und die Leistungen des Öffentlich-Rechtlichen Medien, die Nachrichtenagentur und menschlichen Geistes ist (…). Es ist eine Grundwahrheit, dass alle in Ungarn zugelassenen Medien . Der neue Medienrat, der man eine Nation unter zweifache Weise unters Joch zwingen polizeiliche Befugnisse besitzt, und die »Staatliche Behörde kann: mit dem Schwert und mit den Schulden . Wenn jemand, für Medien und Nachrichtenübertragung« werden von einem dann haben wir Ungarn diese Lektion gelernt .«35 Präsidenten geleitet, der nicht mehr vom Parlament gewählt, sondern vom Ministerpräsidenten für eine Amtszeit von neun Die rechtspopulistische Regierung führt die neoliberale Wirt- Jahren berufen worden ist . Orbán übertrug den Posten an sei- schafts- und Sozialpolitik nach Maßgabe Brüssels weiter . Zu- ne Parteigängerin Annámaria Szalai . Informantenschutz und gleich ist aber auch erkennbar, dass sie unter Ausnutzung Redaktionsgeheimnis gibt es nicht mehr . Die Gleichschaltung ihrer Zweidrittelmehrheit Kurs darauf nimmt, die parlamen- ging einher mit Massenentlassungen von Journalisten – allein tarische Demokratie in ein autoritäres Herrschaftsregime von Mai bis November 2011 verloren 900 von ihnen ihre Ar- umzubauen . Das geschah durch eine neue Verfassung (das beit! An den entsprechenden Schalthebeln sitzen Anhänger »Grundgesetz Ungarns« trat am 1 . Januar 2012 in Kraft), von Fidesz und Jobbik .36 Orbán konnte diesen dreisten Schritt Gleichschaltung bzw . Einschränkung der Befugnisse des Ver- wagen, weil es in den meisten EU-Ländern fast alles gibt, was fassungsgerichtes, eine neue Wahlgesetzgebung (Verkleine- in seinem Pressegesetz enthalten ist, wie sein Pressespre- rung des Parlamentes, Neueinteilung der Wahlkreise zuguns- cher erklärte: »Das neue Mediengesetz ist ein wahrhaft eu- ten von Fidesz), die Abschaffung der Gewaltenteilung und des ropäisches Gesetz . Es enthält keinen einzigen Passus, der Zivilgesetzbuches, die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten nicht auch in der Gesetzgebung einzelner europäischer Mit- durch das Kirchen- und das Mediengesetz sowie durch die gliedsstaaten gefunden werden kann .« Auch in solchen Mit- Auflösung von 35 gemeinnützigen Stiftungen . Das Regime gliedsländern wie Frankreich, Italien oder Schweden würde postuliert Ansprüche auf ein »Großungarn« – am 25 . mai die Arbeit verschiedener Medienbereiche reguliert . In Polen, 2010 wurde die doppelte Staatsbürgerschaft für 3,5 Millio- Finnland oder auch Deutschland wären Strafzahlungen und

22 Entzug von Lizenzen möglich . Letztlich entscheidet über den einer Milliarde Euro . Nun stimmte der Rechtspopulist gegen- medialen Einfluss, wer die Medien bezahlt und auch mittels über dem hochrangigen kommunistischen Regierungschef Parteiposten real kontrollieren und beeinflussen kann . Wen Jiabao ein »Lob auf den Kommunismus« Chinas an: »Wir kenne kein Beispiel in der Geschichte, wo es gelungen wäre, Weitaus mehr Sorgen als die autoritäre Entwicklung bereitet innerhalb so kurzer Zeit so viele Menschen von der Armut auf einigen führenden Politikern der EU die von der Orbán-Re- einen würdevollen Lebensstandard zu heben .«38 gierung Sondersteuer zu Lasten der internationalen Kapital- eigner (rückwirkend zum 1 . Januar 2010), um den EU-Forde- Obwohl es ernsthafte Differenzen und Machtkonkurrenzen rungen zur Haushaltssanierung nachzukommen . Allein die zwischen Fidesz und Jobbik gibt, besteht zwischen ihnen auch Energiekonzerne Deutschlands (Eon, RWE, EnBW) und Öster- eine Art Rollenverteilung . In den von Fidesz staatskontrollier- reichs (ÖMV) rechnen mit zusätzlichen Belastungen in Höhe ten Massenmedien erhalten die neofaschistischen Hetzer der von 100 Millionen Euro, die Telekom-Branche mit 220 Millio- Jobbik-Partei die Möglichkeit, sich zu artikulieren . Sie werden nen Euro und der Finanzsektor sogar mit 735 Millionen Euro . auch vom Regime mehr als nur toleriert; viele ihrer Kader er- Auch die in Ungarn operierenden Einzelhandelskonzerne sol- halten im Zuge der politischen Säuberungen neue staatliche len rückwirkend mit einer Sondersteuer mit 2,5 Prozent des Posten oder werden mit hohen staatlichen Auszeichnungen Nettoumsatzes zur Kasse gebeten werden . Da etwa 79 Pro- dekoriert . So erhielt im März 2013 der Journalist Ferenc Sza- zent der Investitionen in Ungarn aus der EU kommen, da- niszló, der Programmverantwortliche des regierungsnahen von allein ein Viertel aus Deutschland, beschwerten sich drei- Senders »Echo-TV« und bekannt durch seine Anti-Roma und zehn europäische Konzernchefs aus Deutschland, Österreich, antisemitische Hetze, den Milháy-Tánsci-Preis . Das löste Pro- Frankreich und den Niederlanden gleich zu Jahresbeginn bei teste nicht nur in Ungarn aus . Erst jetzt sah sich Orbáns Mi- der Europäischen Kommission . Sie sehen in den Entscheidun- nister für Humanressourcen Zoltán Balog (übrigens mit dem gen der Orbán-Regierung einen Trend, ausgewählte Branchen Bundesverdienstkreuz vom Bundespräsidenten der BRD aus- und besonders ausländische Unternehmen dazu zu nutzen, gezeichnet) sich veranlasst, die Preisverleihung wieder rück- den eigenen bankrotten Staatshaushalt wieder in Ordnung gängig zu machen . Er redete sich damit heraus, dass er von zu bringen und politisch handlungsfähig zu sein . Da diese den rassistischen Äußerungen des »Geehrten« nichts gewusst Maßnahmen, »der Idee des Binnenmarktes, dem Prinzip der habe . Balog aber war vor seiner Amtsübernahme im Mai 2012 Rechtssicherheit und dem Schutz der legitimen Erwartungen schon seit 2010 als Staatsminister für Soziale Inklusion, d .h . massiv zuwider(liefen)«, müsse Ungarn veranlasst werden, auch für Roma-Fragen zuständig . Balog tolerierte jedoch die diese »ungerechten Belastungen rückgängig zu machen .«37 anderen Auszeichnungen für Rechtsextreme: Der Sänger und Die EU-Kommission kündigte bereits an, ein formelles Verfah- Bassgitarrist der Band »Karpátia János Petrás« wurde mit dem ren vorzubereiten . EU-Kommissarin Neellie Kroes hatte sich Goldenen Verdienstkreuz ausgezeichnet . Eines ihrer Verdiens- allerdings schon im Oktober 2010 in Budapest über die neuen te als »nationale Rockgruppe« war, dass sie 2007 die Hymne Belastungen für die Konzerne der Telekommunikationsbran- der neofaschistischen »Ungarischen Garde« komponierte . Der che beschwert . Die Automobilindustrie ist jedoch nicht davon Archäologe Kornél Bakay, der seit Jahren völkisches Gedanken- betroffen . Ihr ist bis zu 10 Prozent der jeweiligen Investitions- gut verbreitet (u .a . verherrlichte er 2003 in einer Ausstellung summe eine staatliche Subvention zugesichert worden . Für Horthy und Szálasi), erhielt den Ungarischen Verdienstorden . das angeblich »produktive ungarische nationale Kapital« pro- filierte sich die Orbán-Regierung als Steuersenkungspartei Am 1 .Februar 2012 wurde der rechtsextreme György Dörner (Einkommenssteuer auf 16 Prozent, Körperschaftssteuer auf Direktor des Budapester Theaters . Er hatte angekündigt, den 10 Prozent) . Die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 27 Pro- Gründer und Führer der neofaschistischen MIÉP, Istvan Csur- zent hingegen trifft die Masse der ungarischen Bürger . Wenn ka, als Intendanten einzusetzen . Da dieser jedoch drei Tage es um die Durchsetzung seiner rechtsnationalistischen Poli- später verstarb, wurde der ebenfalls sehr umstrittene Schrift- tik geht, ändert der »Vezer« (»Führer« bzw . »Stammesführer«) steller Zolt Pozsgai mit dieser Aufgabe betraut .39 Orbán auch einmal seine politischen Grundsätze . Noch im Als Orbán gefragt wurde, wie er mit Neofaschisten der Jobbik April 2011 hatte er in aller Öffentlichkeit erklärt: »Der Kommu- umgehen werde, gab er genau die Antwort, die der Diktator nismus war das größte Unheil in der Geschichte der Mensch- Horthy für den Umgang mit den faschistischen »Pfeilkreuz- heit, und wir könne gar nicht genug feiern, dass er zu Ende lern« parat hatte: »Sie kriegen von mir zwei Ohrfeigen, damit ist .« Doch angesichts der schwer lösbaren Wirtschafts- und hat sich’s .«40 Finanzkrise erklärte er das kommunistische China zum neu- Die Doppelbödigkeit der Politik von Fidesz und die Arbeits- en strategischen Partner seines Landes . Als die hochrangi- teilung im rechtsextremen Lager charakterisiert die Publi- ge chinesische Delegation auf ihrer Europareise im Juni 2011 zistin Karin Rogalska meines Erachtens mit folgenden Wor- auch in Budapest Station machte, wurde vereinbart, das chi- ten in treffender Weise: »Rechtes Gedankengut ist in Ungarn nesisch-ungarische Handelsvolumen bis 2015 auf 20 Milliar- höchst populär .(…) Das erklärt – rechtfertigt jedoch nicht – den Euro zu verdoppeln . Ungarn erhielt einen Kredit von über warum Angehörige der ungarischen Regierung sich nicht ein-

23 deutig von rechtsradikalen Parteien und Personen aus dem 11 Zitiert nach Gregor Mayer u . Bernhard Odehnal: Aufmarsch . Die rechte Gefahr rechtsradikalen Milieu distanzieren . In den Reihen des Fidesz aus Osteuropa, St . Pölten 2010, s . 45 . 12 s ein eigentlicher Name ist Gábor Zazrivecz und erinnert an seine slawische herrscht offenbar die Überzeugung, dass es vertretbar, ja so- Herkunft . Da er sich als Ur-Ungar präsentiert, nahm er den Familiennamen gar geboten sei, den rechten Positionen immer dann keine seines leiblichen Großvaters Vona an . 13 Zitiert nach Peter Bognar: Des Nazis Freund und Helfer, in: http://jungleworld . Absage zu erteilen, wenn dies dem Machterhalt und der Zu- com/artikel/2009/23/35207 .html . rückdrängung des Jobbik dienen könnte .(…) Um an den Ur- 14 Zitiert nach Gregor Mayer u . Bernhard Odehnal: Aufmarsch, s . 84 . nen die Stimmen dieser Menschen (die offen mit rechtem 15 Zitiert nach Gründungsurkunde der »Ungarischen Garde«, in: www .magyar- gards .hu . Gedankengut sympathisieren-K .H .G .) zu erhalten, verzichtet 16 siehe Gregor Mayer u . Bernhard Odehnal: Aufmarsch, s . 91 ff .; European Ro- die Orbán-Regierung darauf, sich vor ungarischem Publikum ma Rights Centre 2011 . 17 Zu den Roma-Pogromen siehe Gregor Mayer u . Bernhard Odehnal: Aufmarsch, ausdrücklich von antisemitischen und romafeindlichen Ten- s . 51 ff . u . 91 ff . Siehe auch Konstantin Schmied: Polizei als Handlanger von denzen zu distanzieren . Das geschieht ebenfalls dann, wenn Jobbik, in: http://www .sozialismus info/?sid-4327. . es unabwendbar ist, um weiteren Schaden für das Ansehen 18 siehe Karl Pfeiffer: Ein Idol und ein Beispiel, in: http://jungle-world .com/Arti- kel/72008/52/32357 .html . Ungarns im Ausland abzuwenden . In Ungarn selbst tut Fidesz 19 siehe Gregor Mayer u . Bernhard Odehnal: Aufmarsch, s . 84 f . jedoch kaum etwas, um Vorurteilen und dem inzwischen weit- 20 http://welt de/politik/auskand/article7153204/. Ungarn-muss-not… 41 21 Zitiert nach: NPD freut sich über den Wahlerfolg der Jobbik-Partei, in: NPD- verbreiteten Kultur des Hasses entgegenzuwirken .« Landesverband Rheinland-Pfalz, 11 .4 2010. (http://www .npd-in-rlp .de/index . Diese Einschätzung sollte sich zuletzt beim Auftreten von Re- php/menue/58/thema/69 .anzeigemon . gierungschef Orbán auf der Tagung des Jüdischen Weltkon- 22 s iehe Osteuropa, Heft 6/2010, Karte 3 u . 4, Wahlen in Ungarn, Fidesz und Jobbik . 42 gresses im Mai 2013 in Budapest bestätigen . 23 Die größten ausländischen Investoren (in Klammern die Anzahl der Beschäf- tigten im Jahre 2001) sind General Electric Ungarn (13 .000), Electronics Inter- national (8 400),. Philipps Ungarn (7 .200), Audi Hungaria (4 .400), Electrolux Karl-Heinz Gräfe Lehel Kühlschränke (4 .100), Plus Lebensmittel Discounter (3 500),. Strabag Bau (3 300),. Metro Holding (2 .600), IBM Storage Products (2 300),. Alcoa Ko- fém (ca . 1 .900), Unilever (1 .500), Nestlé Hungaria, (1 .300), Siemens Ungarn (1 .000), Dreher Bier (1 .500), Henkel (900), Linde Gas (700) . Siehe László An- dor u . Károly Lóránt: Enklaven für das Auslandskapital, in: Ost-West-Gegenin- 1 siehe Fischer Weltalmanach 1990, Frankfurt a .m . 1989 . formationen, Nr . 4/2001, s . 23 ff . 2 Die Redaktion der Zeitschrift »Osteuropa« hat in ihrem Doppelheft Nr .5/6-2013 24 lászló Andor: Vom Modell zum Problemfall, in: ebenda, Nr . 3/2000, s . 9 ff . (»Durchschaut: Der Kommunismus in seiner Epoche«) analoge Fragen dazu auf- 25 Zitiert nach Reinhold Vetter: Konfliktgeladene Wahlen in Ungarn, in: Osteuro- geworfen: »Die Sowjetunion als Hauptmacht musste nicht kollabieren . Mit Gas pa, Heft 6/2002, s . 811 . und Öl sowie der üblichen Dosis an Repression hätte sie bis heute existieren 26 siehe ebenda, s . 806 ff . können . Vielleicht wäre schon alles anders gekommen, wenn statt eines gewis- 27 Das Dokument ist in deutscher Sprache abgedruckt in: Herbert Küpers: Ge- sen Michail s . Gorbatschow der ideologische Hardliner Jegor Ligatschow zum setz 2001 LXII über die Ungarn, die in den Nachbarstaaten leben, in Osteuro- Generalsekretär der KPdSU gewählt worden wäre … Keineswegs war es selbst- pa-Recht, Heft 5/2001, s . 424 ff . verständlich, dass die Volksrepubliken Ostmitteleuropas 1989 im Dominoeffekt 28 siehe Karl-Heinz Gräfe: Die Osterweiterung der Europäischen Union und die fielen (…). Was wäre gewesen, wenn die Montagsdemonstrationen am 9 . Okto- sog . Benesch-Dekrete, in: Marxistische Blätter, Heft 1/2004, s . 60 ff . ber 1989 in Leipzig von den kampfbereiten Truppen niedergemetzelt worden 29 siehe http://www .terrorhaza .hu/muzeum; Budapest 2003 . wäre? Hätte die Bundeswehr mit der Nato im Rücken eingegriffen? Eines ist 30 Von den 14,5 Millionen Einwohnern Ungarns waren 900 .000 Juden (6,2 Pro- sicher: Die historische Pressekonferenz, auf der Günter Schabowski später die zent), von denen bis 1945 57 Prozent ermordet wurden . Das Horthy-Regime Öffnung der Grenze erklären sollte, hätte nicht stattgefunden .« (Ebenda, s . 5) trägt die Verantwortung für die Ermordung von 75 Prozent der Juden in den 3 Katharina Blum u . Vera Trappmann: Kapitalismus in Mitteleuropa, in: Osteuro- ländlichen Gebieten (450 .000 Personen) . Die von dem »Reichsverweser« im pa, Heft 6/2010, s . 68 . Oktober 1944 eingesetzte »Pfeilkreuzler«-Regierung unter Ferenc Szálasi trägt 4 Das New Yorker »Freedom House« registrierte für 1977 von den 155 Staaten allerdings zusammen mit den deutschen Besatzern die Hauptverantwortung der Welt nur 43 als »freie Staaten« (28 Prozent), für 2012 nur 90 von 195 . für die Ermordung eines Drittels der über 300 .000 Budapester Juden . Horthy 5 Karl Heinz Gräfe: Vom Donnerkreuz zum Hakenkreuz . Die baltischen Staaten war nicht bereit, die der christlichen Kirche angehörenden Juden zu vernichten . zwischen Diktatur und Okkupation, Berlin 2010, s . 370 ff . u . 383 ff . 31 lászlo Andor: Die hegemoniale Rolle der Fidesz-MPSZ, in: Ost-West-Gegenin- 6 m urat Cakir: Die Last des Eurozentrismus, in: Neues Deutschland, formationen, Nr . 3/2004, s . 22 . 22 ./23 .6 .2013, s .11 . 32 s iehe Gregor Mayer u . Bernhard Odehnal: Aufmarsch, s . 48 ff,; Thomas v . 7 György Konrad: Von einer Demokratie kann keine Rede mehr sein, in: Berliner Ahn: Demokratie oder Straße? Fragile Stabilität in Ungarn, in: Osteuropa, Heft Zeitung, 24 .12 .20120 . 10/2006, s . 89 ff . 8 Orbán (geb . 1963) war in seiner Schulzeit Sekretär der Kommunistischen Ju- 33 s iehe Kai Olaf Lang: Rechtsruck . Die Parlamentswahlen in Ungarn 2010, in: gendorganisation KISS und studierte nach seinem Militärdienst Jura . Danach Osteuropa, Heft 6/2010, s . 3 ff . u . Karten 1–4 . arbeitete er im Landwirtschaftsministerium . 1988 wurde er Gründungsmit- 34 Zitiert nach: Politische Deklaration Nr .1/2010 über die Nationale Zusammen- glied und Sprecher von FIDESZ . Als Vertreter der Universitätsjugend wurde er arbeit »Es sei Friede, Freiheit und Eintracht«, in: Osteuropa, Heft 12/2011, Do- durch seine Rede anlässlich der Feierlichkeiten zur Umbettung der sterblichen kument zwischen s . 192 u . 193 . Überreste von Imre Nagy am 16 . Juni 1989 (200 .000 Teilnehmer!) landesweit 35 auszüge aus der Rede von Premier Viktor Orbán zum Jahrestag der Märzrevo- bekannt . 1989 erhielt er ein Stipendium der Soros-Stiftung in London . 1990 lution 1848, in: Budapester Zeitung, 20 .3 .2011 . bis 1993 Fraktionsvorsitzender, 1993 bis 2000 Vorsitzender von FIDESZ, 1998 36 s iehe Mária Vásárhelyi: Angriff auf die Pressefreiheit . Die Medienpolitik der bis 2002 und seit 20120 erneut Ministerpräsident . Seit 2011 Vorsitzender der Fidesz-Regierung, in: =steuropa, Heft 12/2011, s . 157 ff . rechtspopulistischen Partei FIDESZ-MPSZ . 37 Zitiert nach http://www .manager-magazin de/politik/artikel/. ­ 9 s iehe Karl-Heinz Gräfe: Der Vormarsch der ungarischen Faschisten und rechts- 0,2828,736434,oohtml; siehe auch H .W . Bein: Meuterei gegen Orbán, in: Süd- bürgerlichen Nationalisten, in: Rundbrief, Heft 3–4/2010, s .28 ff .; derselbe: Vom deutsche Zeitung, 2 1. .2011 . Musterschüler zum Problemfall der EU?, in: ebenda, Heft 2/2011, s .38 ff .; dersel- 38 Zitiert nach Budapester Zeitung, 26 6. .2011 . be: Populistische und neofaschistische rechte in Ungarn, in: Halbjahresschrift für 39 s iehe Karin Rogalska: Lippenbekenntnisse . Die Orbán-Regierung und der südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, Heft 1–2/2011, s .176 ff . Rechtsextremismus, in: Osteuropa, Heft 4/2013, s . 41 ff . 10 Zitiert nach: László Lengyel: Überflüssige Unannehmlichkeiten, in : Europäi- 40 Zitiert nach Laszlo Kornitzer: »Ihr Programm heißt Destruktivität« . Ungarns sche Rundschau, Heft 2/2006, s .54 . Bereits in einer Festansprache zum un- Rechte und die politische Kultur, in: Osteuropa, Heft 6/2013, s . 21 . garischen Nationalfeiertag in New York am 15 . märz 12986 und in seinen in 41 Karin Rogalska: Lippenbekenntnisse, s . 46 f . den USA veröffentlichten Schriften hat Csurka diese Debatte entfacht und war 42 siehe Gabor Kerenyi: Viktor Orbán bekämpft das Böse – in Worten, in: Neues deshalb von der Kadar-Regierung mit Publikationsverbot belegt worden . Deutschland, 7 .5 2013,. s . 2 .

24 Nichts Goldenes an dieser »Goldenen Morgenröte« – Zur Aktualität des Neofaschismus in Griechenland

Unter dieser Überschrift veröffentlichten Ende 2012 Grie- kreditiert . Zwar konnte noch einmal das Nationale Lager (»Et- chen, die seit vielen Jahren in Deutschland leben, einen Auf- niki Parataxis«) im Jahre 1977 mit einer fünfköpfigen Fraktion ruf gegen eine neue faschistische Gruppierung in Griechen- in das griechische Parlament einziehen, aber in den Folgejah- land, die Chrysi Avgi (c .a), . übersetzt »Goldene Morgenröte« . ren führte die extreme Rechte bei Wahlen eher ein Schatten- Diese Gruppe macht nicht erst seit den überraschenden dasein . Mitte der 80er Jahre entstand auf Initiative von Pa- Wahlerfolgen in der Krisensituation in Griechenland von sich padopoulos, der selber in Haft saß, die Nationale Politische reden . In diesem Beitrag soll es darum gehen, Wurzeln, Ideo- Union (»Ethniki Politiki Enosis« – EPEN): »Sie war diejenige logie und politische Anknüpfungspunkte dieser neofaschisti- Partei, die die Entstehung neuer Parteien im rechtsradikalen schen Gruppe aufzuzeigen . und rechtsextremen Spektrum stark beeinflusst hat . EPEN gehörte auch eine Jugendorganisation an, deren erster Se- Geschichte faschistischer Bewegungen in Griechenland kretär der spätere Generalsekretär der Goldenen Morgenrö- Faschistische Bewegungen existieren in Griechenland schon te war .«2 seit vielen Jahrzehnten, obwohl dieses Land zu den Opfern der faschistischen Aggression Italiens und später der deut- Zur Vorgeschichte und Anfänge schen Faschisten gehörte und zahlreiche Orte zu Märtyrer- der »Goldenen Morgenröte« städten wurden, an denen Massenverbrechen gegen die Zi- Die erste politische Gruppe, die mit rechtspopulistischen und vilbevölkerung begangen wurden . Die ältesten faschistischen rassistischen Thesen erneut einen gewissen Masseneinfluss Strömungen und Gruppen beziehen sich auf das klerikal-auto- erhielt, war die »Volksorthodoxe Sammlungsbewegung« (Lai- ritäre Regime von Ioannis Metaxas, der von 1936 bis 1941 ein kos Orthodoxos Synagermos – l .a .O .s .), deren Entstehung am Faschismus orientiertes autoritäres Regime in Griechen- vergleichbar mit anderen rechtspopulistischen Parteien in Eu- land errichtet hatte . Zwar kritisieren auch die extrem-rechten ropa war . Es handelte sich um eine extrem-rechte Abspal- Gruppen die faschistische Besetzung des Landes, gleichzeitig tung von etablierten Rechtsparteien, in diesem Fall der »Nia meinen sie hierin doch auch eine »Verteidigung« griechischer Dimokratia« . LAOS konnte mit einem offenen Anti-Europa- Werte gegen den »bolschewistischen Vormarsch« entdecken Kurs und nationalistischen Parolen, die sich gegen die Tür- zu können . Der Chef von Chrysi Avgi meinte gar, Griechen- kei, gegen Albanien und die Selbstständigkeitsbestrebungen land hätte besser an der Seite der »Achsenmächte« im Zwei- der ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien richte- ten Weltkrieg kämpfen sollen 1. ten, 2004 und 2009 Mandate zum Europäischen Parlament Der tief im Volk verwurzelte Partisanenkampf in Griechen- erringen . Die Partei vertrat das Prinzip der »nationalen Prio- land und die Tradition der Demokratischen Armee führten in rität«‚ und verlangte die sofortige Ausweisung aller »illegalen den Folgejahren jedoch dazu, dass offen faschistische Kräf- Einwanderer« . Vergleichbar mit anderen rechtspopulistischen ten viele Jahre keine gesellschaftliche Basis fanden . Dass Gruppen kritisierten sie zwar die Globalisierung, die Macht die faschistische Krisenlösung jedoch immer eine politische der Banken und das Finanzkapital, setzten sich aber gleich- Option der reaktionären Kräfte des Landes war, zeigten der zeitig für den freien Markt ein . Zudem propagierte sie einen Putsch am 21 . april 1967 und die Zeit der militär-faschis- offenen Militarismus, den Irredentismus und eine expansive tischen Junta unter Georgios Papadopoulos . Bezeichnend Rüstungspolitik 3. für diese Art faschistischer Herrschaft war jedoch, dass sie Gleichzeitig bediente der Parteivorsitzende Georgios Karatz- sich allein auf die Macht des Militärapparates und den da- aferis antisemitische Stereotype von einer angeblichen »Be- mit einhergehenden Terror stützte, jedoch keine Massenba- herrschung« des Landes durch »die Juden« . sis durch eine faschistische Partei oder Organisation aufzu- Insbesondere durch die Erfolge bei den Europa- und Parla- bauen versuchte . mentswahlen, bei denen sie im Oktober 2009 15 Abgeord- Mit dem Sturz der Junta, der nicht zuletzt durch den Aufstand nete stellte, wurde LAOS für andere extrem-rechte Gruppen der Studenten im Politechnion im November 1973 ausgelöst interessant, sodass es zu taktischen Bündnissen u .a . mit der wurde, war eine faschistische Krisenlösung auf lange Zeit dis- »Griechischen Front« (Elliniko Metopo) kam 4.

25 Der politische Einfluss von LAOS wurde so groß, dass diese Wahlen zu profilieren, waren bis 2009 faktisch erfolglos . Die Partei im November 2011 in die neue Koalitionsregierung von Ergebnisse lagen zum Teil deutlich im Promillebereich . Einzig Loukas Papadimos mit insgesamt vier Ministern eintrat . Be- zur Europawahl 1999 konnte in einem Wahlbündnis eine Zahl reits nach drei Monaten entzog LAOS der Regierung jedoch von 48 .000 Wählern landesweit erreicht werden . wieder die Unterstützung, da man nicht bereit war, die Spar­ auflagen der »Troika« mitzutragen . Zwei Minister von LAOS Zu den Zielen, Methoden und zum traten daraufhin zur Nea Dimokratia über . Masseneinfluss der Partei Dieser politische Schritt erwies sich für den Masseneinfluss Die Strategie der Organisation zielte jedoch primär nicht auf der Partei als äußerst problematisch . LAOS galt damit in den Wahlerfolge, sondern auf die Rekrutierung von »Kämpfern«, Augen vieler Wähler und Anhänger, die sich selbst im beson- die für die tägliche Auseinandersetzung auf der Straße gewon- deren Maße als Opfer der Finanzkrise sehen, als Teil der eta- nen werden könnten . Und hier verfolgte die Partei die Strate- blierten Kräfte, die an Korruption und Finanzspekulation be- gie, sich in zwei lokalen Schwerpunkten der Stadt Athen, den teiligt waren . In der Konsequenz wurde die Partei bei den 4 . und 6 . tadtbezirk,s in denen ein hoher Anteil von Migran- folgenden Wahlen massiv abgestraft . Während bei der Parla- ten leben, als »Ordnungsmacht der Griechen« zu etablieren . mentswahl im Mai 2012 sich die besser situierten Anhänger Dass sie damit erfolgreich war, zeigten die Kommunalwahlen von LAOS der Partei »Unabhängige Griechen« anschlossen, 2010, als die Partei in Athen mit knapp 5,3 Prozent der Stim- wanderte die Masse der offen faschistischen Anhänger zu ei- men in den Gemeinderat gewählt wurde . ner »neuen«, weitaus aggressiveren und offen faschistischen Durchaus vergleichbar mit der faschistischen »Kampfzeit« Variante, der »Goldenen Morgenröte« (Chrysi Avgi – CA) . Ende der zwanziger Jahre in Deutschland provozierte Chry- Neu ist diese Partei tatsächlich nicht, wobei sich dies nicht si Avgi in diesen Jahren Straßenkämpfe mit Migranten und nur auf ihre ideologischen Grundlagen, die im Faschismus antifaschistischen Kräften . 1998 verletzte der stellvertreten- wurzeln, zurückführen lässt . Die Gründung der Organisation de Vorsitzende Antonios Androutsopoulos bei einem solchen geht auf ein Ideologieprojekt im Umfeld einer seit 1980 er- Überfall einen linken Studenten schwer . Erst acht Jahre spä- schienenen, gleichnamigen Zeitschrift zurück . Mitte der 80er ter kam es zu einem Gerichtsverfahren, bei dem Androut- Jahre entstand daraus eine Organisation, die sich im Januar sopoulos letztlich zu 12 Jahren Haft wegen Körperverletzung 1993 als Partei registrieren ließ . verurteilt wurde . Schon damals zeigte sich der gute Draht von Chef der Organisation ist Nikolaos Michaloliakos, der in den Chrysi Avgi zur Polizei, denn sonst hätte der Täter sich nicht späten 70er Jahren wegen Waffenbesitz und Körperverlet- so lange erfolgreich verstecken können 7. Diese Grundhaltung zung im Gefängnis saß und der seit den Anfängen die Zügel prägte das Auftreten der Organisation auch in den folgenden in der Hand hält . Ursprünglich gegründet als Theoriezirkel in Jahren: Militanz und gewalttätige Provokation sind Kennzei- der Tradition der französischen »Nouvelle Droite« (Alain de chen der Chrysi Avgi . Und im Mai 2012 zeigte dieses Konzept Benoist, GRECE etc .) schlossen sich bald auch Anhänger der zum ersten Mal landesweit Wirkung . Bei der Parlamentswahl »Partei des 4 . ugust«,a die sich offen auf Ioannis Metaxas be- kam die Partei aus dem Stand auf knapp 7 Prozent, d .h . über zogen, dieser Gruppe an 5. 441 .000 Stimmen und 21 Mandate . Bei der Neuwahl im Ju- In dieser Zeit nahm man auch internationale Kontakte zu of- ni 2012 reichte es immer noch für 425 .000 Stimmen und fen neofaschistischen Gruppen auf . So gibt es mehrere Hin- 18 Mandate, während LAOS in die politische Bedeutungslo- weise auf enge Verbindungen zu den Strukturen des »Blood sigkeit abgefallen war . and Honour«- Netzwerkes . 2004 war Chrysi Avgi an der Bil- In einem Interview erklärt der griechisch-jüdische Kommu- dung der »Europäischen Nationalen Front« beteiligt, der die nist Savas Michael-Matsas (66) den Aufstieg von Chrysi Avgi NPD, die spanische Falange, die italienische Forza Nuova, die folgendermaßen: rumänische Nuoa Dreapta und weitere Organisationen ange- »Ihr Aufstieg ist untrennbar mit der Zerstörung der Lebens- hören . Im Februar 2005 demonstrierte man in Spanien gegen standards der Bevölkerung verbunden . In den letzten drei Jah- die geplante Europäische Verfassung . Die Beteiligung war je- ren der Durchsetzung drakonischer Sparmaßnahmen durch doch mit knapp 500 Teilnehmern bescheiden . Als im Febru- die Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internati- ar 2013 eine erste Parteigruppe von Chrysi Avgi in Nürnberg onalem Währungsfonds sind Millionen Menschen, vor allem aufgebaut werden sollte, nahm man offenbar auch Kontakt aus der Mittelschicht, in Arbeitslosigkeit und Elend gestürzt zum »Freien Netz Süd« und zu anderen NPD-Funktionären worden . Das bürgerliche System ist dadurch völlig diskredi- auf, die schon im Herbst 2012 nach Athen gepilgert waren, tiert . Ein großer Teil der Bevölkerung wählte die linksrefor- um zu »lernen«, wie eine faschistische Schlägerpartei auch mistische Partei SYRIZA zur offiziellen Opposition, aber ein Masseneinfluss bekommen kann 6. anderer großer Teil wendet sich der extremen Rechten zu . Denn erst der Wandel von einer extrem-rechten tendenziell Die Neonazis haben Verbindungen zum Staatsapparat seit akademischen »Denkfabrik« zu einer Partei, die über eine re- der Diktatur von 1967 bis 1974 . Aber seit der Jugendrevol- ale Massenbasis verfügt, machte Chrysi Avgi handlungsfähig . te 2008 wurden diese Verbindungen nochmals gestärkt . Vor Alle Versuche, sich zuvor als Partei bei den verschiedenen dem Hintergrund der Krise bekommen die Neonazis Hilfe

26 vom Staat: Sie werden vor Strafverfolgung geschützt, wäh- Diskreditierung der Proteste seien . Dies wurde vor allem dort rend Staatsanwälte Anklage gegen Antifaschisten erheben . sichtbar, wo sich die Neofaschisten bei Streiks und betrieb- Es ist kein Zufall, dass die Hälfte der Polizei bei den letzten lichen Abwehrmaßnahmen gegen Entlassungen und Lohn- Wahlen für die »Goldene Morgendämmerung« stimmte .«8 abbau als Streikbrecher betätigten oder versuchten, die Der griechische Wirtschaftswissenschaftler Yorgos Mitralias sozialen Inhalte der Kämpfe rassistisch zu konterkarieren erklärte das Phänomen, das er nicht allein auf Griechenland (»Griechische Arbeit nur für Griechen!«) . begrenzt sieht, in einem »Antifaschistischen Europäischen Zu den Elementen der sozialen Demagogie gehörten im ver- Manifest« im Februar 2013 folgendermaßen: gangenen Jahr auch zahlreiche Aktionen, die sich vorgeblich »Nicht anders als in den 20er und 30er Jahren rührt diese an die sozial Schwächsten richteten, nämlich die Errichtung neofaschistische und rechtsextreme Bedrohung von der tie- öffentlicher Suppenküchen und kostenlose Lebensmittelaus- fen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und auch morali- gaben in Stadtgebieten mit hoher Arbeitslosigkeit . Das Ras- schen und ökologischen Krise des Kapitalismus her, der die sistische an diesen Aktionen ist jedoch, dass nur diejenigen, Schuldenkrise als Vorwand vorschiebt, um nun eine beispiel- die sich als »Griechen« ausweisen konnten, in den Genuss lose Offensive gegen den Lebensstandard, gegen die Freihei- dieser Hilfestellung kommen sollten . Alle anderen Bedürf- ten und Rechte der Arbeiter, gegen die alle da unten zu füh- tigen wurden durch Schlägertrupps vertrieben . Im Oktober ren! Unter Ausnutzung der Angst der Besitzenden vor den 2012 wurde bekannt, dass die Partei eine eigene Arbeits- Risiken sozialer Explosion, der Radikalisierung der durch die agentur einzurichten plant, die Arbeitsplätze ausschließlich Krise und die drakonischen Austerity-Maßnahmen ausgezehr- an Griechen vermitteln soll . ten Mittelklassen sowie der Hoffnungslosigkeit ausgegrenzter In der Politik von Chrysi Avgi findet sich damit eine Kombina- und verarmter Arbeitsloser breiten sich rechtsextreme, neo- tion von sozialer Demagogie und rassistischer Gewalt . Damit nazistische und neofaschistische Kräfte in ganz Europa aus; richtet man sich nicht nur an sozial Bedürftige, sondern auch sie erringen einen massiven Einfluss bei den benachteiligten an Kleingewerbetreibende, die es in Griechenland in großer Schichten, die sie gegen traditionelle und neue Sündenböcke Zahl gibt . Beispielsweise berichteten Zeitungen davon, dass (Migranten, Muslime, Juden, Homosexuelle, Behinderte usw .) es im September 2012 in der griechischen Stadt Rafina zu sowie gegen soziale Bewegungen, linke Organisationen und gewalttätigen Angriffen auf Marktverkäufer mit vermeintli- Arbeitergewerkschaften systematisch aufhetzen .”9 chem Migrationshintergrund durch Mitglieder der Chrysí Av- So richtig diese politischen Einschätzungen insgesamt sind, gí kam . Zuvor betätigten sich Abgeordnete der Chrysi Avgi in so auffällig ist jedoch das Ergebnis der Wähleruntersuchung, behördlicher Funktion und kontrollierten die Verkaufslizen- die für die Parlamentswahlen im Jahre 2012 zu dem Ergeb- zen von Marktteilnehmern . Gleichzeitig verübten ihre Schlä- nis kommt, dass nicht die wirklich Bedürftigen und die am gertrupps gewalttätige Ausschreitungen gegen Asylbewerber schlimmsten betroffenen Opfer des Staatsbankrotts die An- und Flüchtlinge, insbesondere diejenigen, die noch ohne Auf- hängerschaft von Chrysi Avgi ausmachen, sondern Angestell- enthaltspapiere (»sans papiers«) angetroffen wurden . te, auch leitende Angestellte, Freiberufler und öffentlich Be- Diese Art von rassistischer Gewalt und Sozialdemagogie dienstete im höheren Maße diese neofaschistische Partei kann man in den vergangenen Jahren mit zunehmender Stei- gewählt haben . Zudem verfügt die Mehrheit der Wähler über gerung verfolgen . Im März 2013 berichtete der Schweizer eine technische Bildung oder sogar Abitur 10. Zu den Wählern »Tagesanzeiger« über eine Fernseh-Dokumentation bei Chan- dieser Partei gehören also in besonderem Maße diejenigen, nel 4, bei der ein griechischer Filmemacher die Partei über die sich durch die Finanzkrise tendenziell in ihrer bisher gesi- ein Jahr begleitet hatte und zahlreiche solcher Szenen auf- cherten sozialen und ökonomischen Position infrage gestellt nehmen konnte . Gleichzeitig wurde auf den Report von Hu- sehen . Diese Gruppe ist nur bedingt offen für einen politi- man Rights Watch vom Sommer 2012 »Hate on the Streets: schen Systemwechsel . Ihnen geht es vielmehr um die Bewah- Xenophobic Violence in Greece» verwiesen . rung des status quo und die Abwehr möglicher »Feinde«, die »Darin wurde explizit der Bezug hergestellt zur rechtsradika- diesen status quo gefährden könnten . len Partei Chrysi Avgi . Diese wird jedoch laut der NGO noch zu wenig haftbar gemacht für fremdenfeindliche Übergriffe . Der Rassismus der »Goldenen Morgenröte« Neben der Gewalt von Chrysi Avgi und anderen ›Bürgergrup- Und so agiert Chrysi Avgi tatsächlich als offen faschistische pen‹ kritisierte der Bericht aber vor allem die Arbeit von Poli- Alternative zu den linken Protestbewegungen gegen die Aus- zei und Justiz, welche die zunehmenden Angriffe gegen Mig- wirkungen der Finanzkrise . Die Anhänger beteiligten sich an ranten weder verhindere noch bestrafe . Human Rights Watch Protestaktionen, agierte aber oftmals so, dass die Polizei befragte 59 Menschen, die zwischen August 2009 und Mai hinreichend Gründe hatte, mit großer Gewalt die friedlichen 2012 fremdenfeindliche Vorfälle erlebt hatten . Die meisten Proteste zum Beispiel der PAME (kommunistischer Gewerk- Vorfälle seien von offizieller Seite gar nicht erst untersucht schaftsverband) anzugreifen . In verschiedenen Stellung- worden . Die Organisation forderte damals die Regierung zu nahmen wird auch der Verdacht geäußert, dass die Schlä- mehreren Maßnahmen auf, um das Problem fremdenfeind­ gertrupps der Chrysi Avgi bezahlte Provokationstruppen zur licher Gewalt in den Griff zu bekommen «. 11

27 Wörtlich heißt es im Griechenland-Report von Human Rights Im Oktober 2012 provozierte Ilias Kasidiaris während einer Watch: »Bislang haben weder Polizeianalysen noch Gerichts- Parlamentssitzung damit, dass er in seinem Redebeitrag in urteile die ›Bürgergruppen‹ oder die Partei Goldene Morgen- der Auseinandersetzung um die Aufhebung der parlamenta- röte mit Übergriffen gegen Migranten und Asylsuchende in rischen Immunität von Chrysi Avgi Abgeordneten, denen Ge- Verbindung gebracht . Allerdings gibt es Hinweise darauf, walt und andere Straftaten, unter anderem die Zerstörung dass Mitglieder oder ihnen nahestehende Personen für ras- von Marktständen von Einwanderern, vorgeworfen wurden, sistische Angriffe verantwortlich sind . Dafür sprechen unter aus dem antisemitischen Pamphlet »Die Protokolle der Wei- anderem die Parteibindungen der Verteidiger im Rahimi-Fall sen von Zion« vorlas 13. und die Festnahmen von Mitgliedern von Goldene Morgen- Im November 2012 verursachte der Abgeordnete Christos röte, die verdächtigt werden, an mehreren Angriffen beteiligt Pappas, der in einer früheren Veröffentlichung gewesen zu sein .«12 als »Visionär« gelobt hatte, einen Skandal, indem er bei einer Gewalt und politische Provokationen werden auch gezielt ein- Veranstaltung auf Kreta die Flagge der griechischen Militär- gesetzt, um sich scheinbar von den »Etablierten« abzugren- junta entrollte . Dass auch andere Chrysi Avgi Abgeordnete zen . Auch in bundesdeutschen Medien konnte man die Bil- der faschistischen Tradition und Hitler nahe stehen, zeigte der der Schlägerei sehen, die sich der Parteisprecher Ilias sich im Mai 2013, als der Abgeordnete Panagiotis Iliopoulos Kasidiaris im Juni 2012 mit zwei linken Parlamentarierinnen und weitere Mitglieder der Fraktion den Sitzungssaal unter während einer Live-Fernsehdebatte lieferte . Die Partei ver- »Heil Hitler« – Rufen verließen, nachdem der Vizepräsident teidigte diese Provokation und verklagte – ohne Erfolg – den des Parlaments die Chrysi Avgi – Abgeordneten gerügt hat- Fernsehsender . te . Zuvor beschimpften die Abgeordneten noch Abgeordnete Mehrfach adaptierte Chrysi Avgi auch faschistische Symbo- gegnerischer Fraktionen als »Banden«, »Nieten« und »Ziegen- liken und ideologische Versatzstücke des Faschismus . Der herde« 14. Parteivorsitzende Nikolaos Mihaloliakos trat auf einer öffent- Neben diesen geschichtsrevisionistischen Ansätzen gehört lichen Veranstaltung der Parteijugend auf und zeigte, während auch ein aggressiver Chauvinismus in das ideologische Re- er alle etablierten politischen Kräfte der Korruption beschul- pertoire der Chrysi Avgi . Dieses zeigt sich an verschiedenen digte, den Hitler-Gruß . Dazu kommentierte er: »Unsere Hände Aktivitäten, bei denen insbesondere in der Albanien- und Ma- können manchmal in dieser Weise grüßen, aber diese Hände zedonien-Frage »groß-griechische« Vorstellungen propagiert sind sauber – nicht schmutzig . Sie haben nichts gestohlen .« wurden . Auch gegenüber der Türkei wird ein aggressiver Kurs

28 verfolgt, wobei diese Haltung mit einer rassistischen Verfol- ten sich beispielsweise Dorfbewohner auf der von Türken gung von allen Menschen mit Migrationshintergrund verbun- und Griechen bewohnten Insel Thassos im März 2013 gegen den wird . Ende Mai 2013 marschierten hunderte Neonazis die kostenfreie Verteilung von Lebensmitteln »nur an Grie- mit rassistischen und nationalistischen Parolen durch die chen« .18 Da diese Aktionen erkennbar zunehmenden sozialen griechische Hauptstadt Athen . Der Fackelzug sollte an den Unfrieden stiften, haben nun auch die Verwaltungen begon- 460 . Jahrestag des Falls von Konstantinopel erinnern . Die nen, solchen Propagandaaktionen einen Riegel vorzuschie- Teilnehmer skandierten Parolen wie »Griechenland gehört ben . Kurz vor Ostern kam es bei einer Essensausgabe »nur den Griechen« und »Blut, Ehre, Goldene Morgenröte« .15 an Griechen« in Athen bereits zu Auseinandersetzungen mit der Polizei . Als Mitte Mai 2013 die Polizei in Athen einen Last- Was ist zu tun? wagen der Chrysi Avgi, der zu einer Lebensmittelaktion un- Nach einer Phase der politischen Irritation durch den Wech- terwegs war, stoppte, warfen die Nazis die Nahrungsmittel sel der extrem-rechten Hauptakteure LAOS und Chrysi Avgi einfach auf die Straße .19 Im Juli 2013 verbot die Stadt Athen haben die antifaschistischen Kräfte damit begonnen, politi- endgültig solche »illegalen, rassistischen und fremdenfeind- sche und praktische Gegensignale gegen den Vormarsch der lichen« Veranstaltungen – so die offizielle Begründung . Auch Neonazis zu entfalten . Die Gewerkschaftsbewegung entwi- das Ministerium für öffentliche Ordnung schloss sich diesem ckelt Schutzmaßnahmen gegen Aktionen neofaschistischer Verbot an, sodass diese Propaganda-Aktionen auf absehbare Provokateure, gemeinsam mit griechischen Antifaschisten Zeit nicht mehr stattfinden können 20. beginnen sich Migrantenorganisationen gegen rassistische Übergriffe konkret zu wehren . Dass die Polizei dabei in aller Solch staatliches Handeln erfolgt jedoch nur, weil der anti- Regel die Antifaschisten verhaftet und die Neonazis unbehel- faschistische Widerstand gegen den Vormarsch der Neofa- ligt lässt, beklagte Savas Michael-Matsas in dem oben zitier- schisten auf den Straßen und in der Gesellschaft erfreulich ten Interview . Das ist jedoch angesichts der guten Beziehun- wächst . Dabei muss es den Antifaschisten auch darum ge- gen von Chrysi Avgi in den Polizeiapparat nicht überraschend . hen, der Chrysi Avgi den Nimbus zu nehmen, sie böten ei- Zum politische Widerstand gehört aber auch, solche neo- ne reale Alternative zur gegenwärtigen Finanzkrise und stän- faschistischen Umtriebe öffentlich zu denunzieren . Einen den für eine »saubere« Politik ohne Korruption und Filz . Um wichtigen Beitrag dazu leistete der Aufruf von Exilgriechen: zu verhindern, dass die extrem-rechte Krisenlösung als »Aus- »Nichts Goldenes an dieser Morgenröte« vom Herbst 2012, weg« gesehen wird, müssten die linken Kräfte gemeinsam ei- der von mehreren hundert Menschen unterzeichnet wurde . ne überzeugende Alternative formulieren, die auch auf klein- Darin heißt es: bürgerliche Kräfte ausstrahlen kann . »Glücklicherweise gibt es Menschen, die den Mut haben, sich zu wehren und gewalttätige Angriffe gegen ihre Mitbürger ab- Ulrich Schneider zuwenden . Es ist wichtig, dass solche Taten Nachahmer fin- den . Keine Gesellschaft kann frei sein, wenn sie zulässt, dass Menschen in Gefahr sind, weil sie sich aufgrund ihrer Her- kunft, ihrer Gedanken, ihres Geschlechts, unterscheiden . 1 siehe The Guardian, 26 10. .2012 . 2 Vassiliki Georgiadou: Populismus und Extremismus am rechten Rand – Der Heute die ›Anderen‹, morgen wir, du, ich . Faschismus keine rasante Aufstieg der Goldenen Morgenröte im Krisenland Griechenland, in: Meinung, sondern ein Verbrechen . Nichts ist golden an dieser Rechtsextremismus in Europa, hrsg . v . Ralf Melzer und Sebastian Serafin, Ber- lin 2013, s . 85 . Morgenröte. Deshalb sagen wir NEIN zur Chrysi Avgi, und zu 3 siehe ebenda, s . 88 . jeder Chrysi Avgi .«16 4 s iehe Werner t . Bauer: Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Auch der Verfasser des »Antifaschistischen Europäischen Ma- Europa, Wien 2011, s . 71 f . 5 siehe The Guardian, 26 10. 2012. . nifests«, Yorgos Mitralias, formulierte als Ziel, »eine europäi- 6 S iehe den Bericht hierzu auf http://de .indymedia .org/2013/02/341288 .shtml . sche antifaschistische, demokratische und einheitliche Mas- 7 siehe Georgiadou, s . 93 . 8 Junge Welt, 17 .7 .2012, s . 8 . senbewegung zu bilden, die imstande sein soll, die aus dem 9 http://www .ag-friedensforschung .de/themen/Rassismus/europa6 .html . Schoß unseres Kontinents kriechende braune Pest zu bekämp- 10 siehe Georgiadou, s . 99 f . fen und zu besiegen . Wir werden alles tun, damit der Grün- 11 tagesanzeiger, 19 3. .2013 . 12 http://www .hrw .org/de/news/2012/07/10/griechenland-migranten-leben- dungskongress dieser so bitter nötigen Europäischen antifa- angst . schistischen Bewegung im Frühjahr in Athen stattfindet und 13 s iehe International Human Rights Movement »World Without Nizism’ . Moni- toring of social basis of the revival of Nazi sentiments, xenophobia and extre- mit einer europäischen antifaschistischen Großdemonstration mism, October 2012, s . 44 . in den Straßen der griechischen Hauptstadt gekoppelt ist «. 17 14 siehe Süddeutsche Zeitung, 13 .5 2013. . Die Großdemonstration umfasste zwar nur einige tausend 15 siehe Neues Deutschland, 30 5. .2013 . 16 http://www .blaetter .de/archiv/jahrgaenge/dokumente/«nichts-goldenes- Teilnehmer, aber wichtig war, dass Antifaschisten aus ver- an-dieser-morgenroete« . schiedenen europäischen Ländern vertreten waren . 17 http://www .ag-friedensforschung .de/themen/Rassismus/europa6 .html . 18 siehe Deutsch-türkische Nachrichten, 2 4. .2013 . Auch in Griechenland selbst beginnt der Widerstand gegen 19 siehe Süddeutsche Zeitung, 17 .5 2013. . die Propaganda und die Aktionen der Chrysi Avgi . So wehr- 20 siehe Junge Welt, 25 7. .2013 .

29 Das Phänomen des Berlusconismus

Der inzwischen 76 Jahre alte Milliardär Silvio Berlusconi ist kommunismus und politikstrategisch auf den Klientelismus . In bisher der einzige unter den europäischen Rechtspopulisten, seiner älteren Form beruht Klientelismus auf einem vertikalen dem es mit Hilfe seines Medienimperiums gelungen ist, sich Netzwerk zwischen einem Patron und seinen Klienten, die dem über mehrere Legislaturperioden an der Macht zu halten . Auch Patron ihre Stimme gegen bestimmte Vergünstigungen verkau- wenn er mit seinem Jugendlichkeitswahn, seinen Face-Liftings, fen . In moderner Form tritt er als Massenklientelismus auf, bei seinen transplantierten Haaren vielfach als peinliche »Lach- dem die Parteien in einem personellen Beziehungsgeflecht lo- nummer« galt, war er durchaus ernst zu nehmen . Er verkör- kaler Parteiführer die Rolle des Patrons übernehmen . perte ein politisches Phänomen, das nur am sichtbarsten eine Dieses von den Parteien getragene Patronagesystem beruhte allgemeine, schleichende Veränderung der westlichen Demo- in Italien auf der Okkupation des öffentlichen und parastaatli- kratien zum Ausdruck bringt . »Es sind Herausforderungen, die chen Sektors (parastato, sottogoverno) und des für westliche nicht dem Aufstieg antidemokratischer und autoritärer Bewe- Verhältnisse untypisch hohen Staatssektors in der Indust- gungen entspringen, sondern den gefährlichen Mutationen im rie, die als Pfründe unter den Parteien des Bürgerblocks auf- Herzen der liberalen Demokratie selbst .«1 Allerdings entsprach geteilt wurden 4. Der aufgeblähte Staatssektor als Folge und der Berlusconismus nicht der gängigen Definition des Populis- zugleich als Grundlage des Klientelismus hat in allen nach mus, versteht man darunter »[…] eine Ideologie, die davon aus- diesem Modell funktionierenden Ländern, derzeit am sicht- geht, dass die Gesellschaft in zwei homogene, antagonistische barsten in Griechenland, aber eben auch in Italien, zu einer Gruppen getrennt ist, das ›reine Volk‹ und die ›korrupte Elite‹, überdurchschnittlich hohen Staatsverschuldung geführt . und die geltend macht, dass Politik ein Ausdruck der volonté générale oder des allgemeinen Volkswillens sein soll .«2 Das italienische Modell des consociativismo (Konzertierung, Weder fand man bei Berlusconi die Beschwörung des »rei- Konsenspolitik) geriet Ende der 1980er, Anfang der 1990er nen Volkes« im Gegensatz zur »korrupten Elite«, zu der er als Jahre in eine Krise: Erstens brach nach dem Mauerfall der An- drittreichster Mann Italiens selbst gehört, noch den im Po- tikommunismus als ideologischer Kitt weg, zweitens wurden pulismus mehr oder weniger ausgeprägten Antimodernismus . im Zuge der neoliberalen Welle und der Maastricht-Kriterien Vielmehr gehört das Phänomen Berlusconi in eine Reihe mit der EU die Privatisierung von Staatsbetrieben und der Ab- dem von den Niederlanden ausgehenden postmodernen, in- bau der Staatsverschuldung akut, so dass die Klientelen nicht dividualistischen Populismus . Beginnend mit Pim Fortuyn ver- mehr in gewohnter Form bedient werden konnten . Drittens sucht dieser heute mit Geert Wilders von der »Partei für die geriet der Fordismus der norditalienischen Großindustrie in Freiheit« erfolgreich, im liberalen Lager Fuß zu fassen, und eine Krise und viertens versank die DC mit ihren Satelliten in geht dabei marktstrategisch vor . Schon die Entstehung von einem Sumpf von illegalen Parteispendenaffären, Korruption Berlusconis erster Partei Forza Italia beruhte auf akribischen und Verbindungen mit der Mafia . Populismus ist immer die Marktanalysen 3. Zu den Merkmalen des Populismus gehören Folge eines massiven Elitenversagens, wenn auch keine not- aber auch Institutionenfeindlichkeit und Antipolitik, die im wendige Folge . Last but not least geriet auch die Linke nach Berlusconismus in besonderer Weise ausgeprägt waren . 1989 in eine Identitätskrise und sucht bis heute nach einem Kompass zwischen kommunistischer Neugründung, Sozialde- mokratie und Sozialliberalismus . 1. Hintergründe Die Restrukturierung des Landes konnte aber aus Gründen der politischen Kultur nicht ausschließlich nach dem angel- Italien galt bis zum Zusammenbruch des gesamten Parteien- sächsischen, von Margaret Thatcher und Ronald Reagan ge- systems der Ersten Republik Anfang der 1990er Jahre in mehr- prägten Modell erfolgen . In Italien hat der Liberalismus als facher Hinsicht als Anomalie . Politisch stand es mehr als vierzig elitäre, antiklerikale Ideologie der Großbourgeoisie nie die Jahre lang unter der unangefochtenen Hegemonie der christ- Mittelschichten an sich binden können, die nach 1945 einem demokratischen Partei Democrazia Cristiana (DC), die wech- katholisch geprägten Nationalismus (catto-nazionalismo) an- selnde Koalitionen mit kleineren Parteien einging . Ein regulärer hingen . Die Diskrepanz zwischen einer modernen, individuali- Wechsel zwischen Regierung und Opposition war undenkbar, sierten Konsumgesellschaft und der alten ideologischen For- galt die starke kommunistische Partei doch als nicht regie- mel der DC musste also überbrückt werden . Diese Funktion rungsfähig . Diese Anomalie einer faktischen Einparteienherr- übernahm der Berlusconismus und bot den ideologisch ver- schaft stützte sich auf zwei Säulen, ideologisch auf den Anti- waisten Mittelschichten eine neue Heimat . Dagegen haben

30 sich zahlreiche von den linken Parteien enttäuschte Arbeiter der Freiheit« ist ein geschickter semantischer Schachzug und eher der Lega Nord zugewandt . kontaminiert den Begriff des Volkes mit dem der Freiheit . Die Als politischer Außenseiter besetzte Berlusconi das von den Polarisierung erfolgt also nicht mehr zwischen Volk und Elite, Parteien der Ersten Republik hinterlassene Vakuum und ver- sondern zwischen dem Volk als Hüter der Freiheit und den sprach, mit dem alten, bürokratischen Parteienklientelismus Feinden der Freiheit, die eo ipso auch als Feinde des Volkes zu brechen . Er sagte dem consociativismo den Kampf an und sowohl außerhalb als auch innerhalb Italiens am Werk sind . setzte stattdessen auf Polarisierung und plebiszitäre Führung . Mit dem Begriff der Freiheit trägt Berlusconi der soziokultu- Mit diesem Erneuerungsprogramm stieß er auf großen Wider- rellen Individualisierung und seinem eigenen Selbstverständ- hall, nicht zuletzt auch, weil dies einen Bruch mit dem antifa- nis als Liberaler Rechnung . Zugleich schlägt er damit eine schistischen Konsens innerhalb der DC bedeutete . Die Entta- Brücke zum soziokulturell konservativen Katholizismus, der buisierung der faschistischen Vergangenheit Italiens erfolgte sich ebenfalls als Anwalt der Freiheit gegen den atheistischen im Berlusconismus nicht durch offene Rechtfertigung, sondern Kommunismus versteht . Berlusconi verklammerte die sozio- durch Trivialisierung . Dennoch ging die weit verbreitete Politik- kulturellen Gegensätze zwischen beiden Lagern durch den verdrossenheit und Parteienkritik nicht mit Systemkritik und Antikommunismus . 2005 erklärte er: »Wenn die Linke an die dem Ruf nach einem Regimewechsel einher, sondern entzün- Regierung gelangte, wäre dies das Ende: Not, Terror, Tod . Wie dete sich vor allem an mangelnder Effizienz des öffentlichen es überall geschieht, wo der Kommunismus herrscht . Es wäre Sektors: »Es gab ein Klima in Erwartung radikaler Neuerungen, nicht der liberale Staat, den wir wollen .«7 verbunden mit der Forderung nach administrativer Vereinfa- Mit seiner antikommunistischen Rhetorik schien der Medien- chung des öffentlichen Lebens, die im Ergebnis zu einer Ideali- tycoon vielen aus der Zeit gefallen zu sein . Indessen verfolg- sierung der Figur des politischen Managers führte […] und, pa- te er mit dieser antiquierten, in anderen rechtspopulistischen rallel dazu, zu einer Aufwertung des charismatischen Führers, Parteien nicht mehr akuten Polarisierung das Ziel, sich in die der ein neues Gefühl der Zugehörigkeit bietet – eine Identität, Kontinuität der alten, von ihm nur regenerierten bürgerlichen die nicht mehr an die Parteien gebunden ist «. 5 Volkspartei zu stellen, was bedeutete, auch konservativ-ka- Seit den 1970er Jahren hatte auch in Italien ein Individualisie- tholische Wähler anzusprechen und sich das Wohlwollen der rungsschub eingesetzt . Die zivilgesellschaftlichen Netzwerke Kirche zu sichern . Zugleich setzte er auf den neuen, von den der alten Parteien erodierten und der neue, konsumorientierte Niederländern Fortuyn und Wilders konstruierten Pol des An- Lebensstil wurde und wird nicht zuletzt von Berlusconis eige- ti-Islamismus: »Wir dürfen nicht die zwei Kulturen, die islami- nen Medien kräftig gefördert . Zugleich musste der politische sche und unsere, auf die gleiche Ebene stellen […] . Unsere Quereinsteiger aber dem Katholizismus Rechnung tragen . Kultur muss sich auf jene ausdehnen, die wenigstens 1 .400 Auch hier war es zwar zu einer Pluralisierung und zur Aufkündi- Jahre in der Geschichte zurückgeblieben sind «. 8 Ähnlich wie gung der Loyalität linker Katholiken gegenüber der DC gekom- Wilders ließ auch Berlusconi an seiner pro-amerikanischen men . Dennoch muss der Berlusconismus als Projekt zur Rege- und pro-israelischen Loyalität keine Zweifel aufkommen, was nerierung der bürgerlichen Hegemonie auf die Kirche und ihre ihm im September 2003 die jüdische Anti Defamation League konservativen Anhänger Rücksicht nehmen, sind doch wähler- in New York mit der Verleihung des Preises für »den besten soziologisch in der PdL bildungsferne, männliche, vorwiegend Staatsmann des Jahres« (Distinguished Statesman Award) ge- ältere, moderat praktizierende Katholiken überrepräsentiert 6. dankt hat . Nachdem Berlusconi zunächst mit der auf ihn persönlich zu- geschnittenen Partei Forza Italia angetreten war, hat er diese 2.2 Anti-Politik und politische Emotionalisierung Sammlungsbewegung 2009 in Popolo della Libertà (PdL) um- Der Gegensatz zwischen liberalem Individualismus und benannt und zugleich nach rechts verschoben . Der stärkste sozialmoralisch-katholischem Konservatismus wurde im Koalitionspartner, die postfaschistische Alleanza Nazionale Berlusconismus übertüncht und entpolitisiert . Berlusco- (AN), löste sich auf und ging in die PdL ein, hat sie aber 2011 ni instrumentalisierte die Aversion vieler Italiener gegen die wieder verlassen . Auch die Duce-Enkelin Alessandra Musso- ›Parteienherrschaft‹ (partitocrazia) und trat als Antipolitiker lini trat mit ihrer neofaschistischen Kleinpartei Azione Sociale auf . »Ich bin kein Politiker, ich kümmere mich nicht um Kritik . in das neue Rechtsbündnis ein . Ich sage das, was die Leute denken .«9 Der zur offiziellen Par- teihymne erhobene Song »Für Silvio« verbreitete refrainartig die Botschaft: »Gut, dass es Silvio gibt« . Der Autor Andrea 2. Restrukturierung der bürgerlichen Hegemonie Vantini arbeitete gezielt mit Antipolitik und ließ Berlusconis Fans singen: »Ich interessiere mich nicht für Politik und ha- 2.1 Die Ideologie des Berlusconismus be auch keine Immobilien . Ich habe nur die Musik . […] Es le- Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass sich Populis- be Italien, ein Italien, das entschlossen ist, an diesen Traum mus in einem neuen, provokanten oder saloppen Politikstil er- zu glauben . Wir sind das Volk, das liebt und glaubt und will, schöpfe . Berlusconi vertritt zwar einen neuen Stil, aber durch- dass der Traum in Erfüllung gehe […] Daher singe ich mit der aus auch ideologische Inhalte . Schon der Parteiname »Volk Macht, die nur der hat, der nichts zählt .«10

31 Die im letzten Satz noch erkennbare Kritik an fehlender politi- und genießen Sie die Nacht . Ich [dagegen] bin inzwischen ein scher Repräsentation wurde in der endgültigen Fassung ent- Heiliger«, ein augenzwinkerndes Eingeständnis, dass er eben politisiert zu: »[…] die nur der hat, der reinen Geistes ist«11 . kein Heiliger sei, sondern nur zu müde für nächtliche Vergnü- Worin der Traum besteht, wurde nicht konkretisiert, aber gungen . Aufsehen erregte auch sein Diktum: »Ich bin der Je- Berlusconi verstand darunter das Ideal der ›Firma Italien‹ (Azi- sus Christus der Politik, ein Opfer, das sich für alle aufopfert .« enda Italia) . Das Land müsse dem politisierenden Zugriff der Ironisch fügte er hinzu: »Morgen werden die Zeitungen titeln: Parteien entzogen und von einem erfolgreichen Unternehmer Berlusconi hält sich sogar für Jesus Christus .« Als bei einem wie ihm als effizienter Betrieb geführt werden – ein Ziel, das Sardinienbesuch Kinder auf ihn zukamen, um Fotos zu ma- in Österreich und den USA auch die Populisten Henry Ross chen, scherzte er mit dem Bibelwort: »Lasset die Kindlein zu Perot und Jörg Haider verfolgt haben 12. mir kommen« und kommentierte: »Jetzt werden sie [die Jour- nalisten] mir nachsagen, dass ich mich mit Jesus vergleiche .«14 Antipolitik ist eine Strategie zur Überwölbung von Gegen- sätzen, die von der Politik in den Bereich zwischenmensch- Mit dieser Mischung aus religiösen Versatzstücken und iro- licher Emotionen abgedrängt und durch ein auf den Staat nischer Distanz schweißt Berlusconi seine heterogenen An- übertragenes Familienideal entschärft werden . Im Berlusco- hänger zusammen: Dem unpolitischen »Volk« erschien er im nismus waren daher zwei weitere Leitbegriffe zentral: Liebe Modus Glaube/Liebe/Hoffnung als von Gott gesandter Cha- und Freundschaft . Damit kam Berlusconi sowohl der Kirche rismatiker, der Träume wahr werden lässt und eine Mission als auch dem unpolitischen Harmoniebedürfnis seiner Wäh- erfüllt . Im Parteiprogramm der PdL von 2008 wurden daher ler entgegen . Liebe im weiteren Sinne evoziert den Traum nicht sieben Ziele, sondern sieben »Missionen« aufgelistet 15. einer durch den Individualismus verloren gegangenen Zuge- Dem katholischen Klerus präsentierte er sich dagegen im Mo- hörigkeit zu einer Gemeinschaft; im engeren Sinne spricht dus Glaube/Hierarchie/Heteronomie als kirchentreuer Ga- sie die patriotische Liebe zu Italien an . 2004 veröffentlichte rant der katholischen Identität des Landes . Seinen bürgerlich- der Medienzar das Buch La forza di un sogno (»Die Macht ei- liberalen, in Italien traditionell kirchenfeindlichen Anhängern nes Traums«) . 2010 folgte sein Werk L’amore vince sempre signalisierte er schließlich im Modus Freiheit/Effizienz/Auto- sull’invidia e sull’odio (»Die Liebe siegt immer über Neid und nomie, dass er als hedonistischer, der Libertinage frönender Hass«) . Nachdem auf dem Mailänder Domplatz ein Anschlag Liberaler diese widersprüchlichen ideologischen Botschaften auf ihn verübt worden war, wollte er damit die Liebe der Men- nicht für bare Münze nimmt und rein instrumentell einsetzt . schen dokumentieren, die ihm mit Blumen und unzähligen Im Berlusconismus wurden die zentralen Ideologeme »Volk« Emails ihr Mitgefühl bekundet hatten . und »Freiheit« von »Liebe‘« und »Freundschaft« umspannt und Purer Kitsch, erklärte Gustavo Zagrebelsky 2011 auf einer zu einer antipolitischen Vereinigungsformel amalgamiert . Da- Anti-Berlusconi-Tagung in Florenz .13 Die emotionsgeladene mit ist es dem Antipolitiker erstmals in der italienischen Ge- Sprache der Plebs sei heute ›politisch korrekt‹ geworden . schichte gelungen, zwei bis dahin antagonistische politische Dagegen müsse die Linke auf rationale Argumentation set- Lager unter dem Dach seiner PdL zu vereinigen: Liberale zen – aber möglicherweise an den Herzen und Träumen vie- und Katholiken, die sich in Strömungen (correnti) organisie- ler Menschen vorbei! Eben dies haben Populisten der Linken ren, einer konservativ-katholischen und einer marktlibera- voraus: Sie lassen sich weder vom Vorwurf des emotionalen len . Im Unterschied zu genuinen Populisten wie Sarah Palin Kitsches noch von den Standards rationaler Argumentation in den USA oder Umberto Bossi von der Lega Nord beruft sich beirren, sondern holen in direkter Ansprache das ›Volk‹ dort Berlusconi aber gerade nicht den auf den common sense des ab, wo es steht, aber auch bleiben soll: in der von vagen, in- Volkes, sondern setzt als diskursive Waffe dessen Gegenteil haltsleeren Träumen beherrschten Antipolitik eines populisti- ein: die Ironie . Sie ist das Mittel zur Überwölbung der Gegen- schen Paternalismus . sätze zwischen Modernisten und Traditionalisten, Liberalen und Klerikalkonservativen, zwischen Effizienz (Azienda Italia) 2.3 Ironie als Mittel zur Umklammerung von Gegensätzen und unpolitisch-emotionaler Vergemeinschaftung . Kritiker heben die pseudo-religiösen Aspekte in Berluscon- is Diskurs hervor, entgehen aber nicht der Gefahr, die Am- 2.4 Institutionenfeindlichkeit und Polarisierungspraxis bivalenz seiner Botschaften zu übersehen . Er halte sich für Wie eingangs erwähnt, folgt Berlusconi nicht der klassisch einen Mann der Vorsehung, für einen vom Herrn Gesalbten, populistischen Polarisierung zwischen dem »reinen Volk« gar für einen Heiligen . Diese Kritik misst Berlusconis Diskurs- und der »korrupten Elite« . Sein Gegenpol ist vielmehr die mit führung am historischen Faschismus und verkennt, dass er, Kommunismus gleichgesetzte Linke, die nicht nur auf Partei- wie vor ihm schon Pim Fortuyn, ein liberaler, postmoderner enebene, sondern als der generalisierte Andere auch in den Ironiker ist, der religiöse Topoi nur zitiert, um sich sogleich Institutionen des liberalen Rechtsstaats, vor allem in der Jus- ironisch von ihnen zu distanzieren . Nach seiner Rückkehr von tiz, aktiv sei . Die Justiz sei kommunistisch unterwandert und einem G8-Treffen verabschiedete er 2008 die spätabends auf verfolge ihn nicht wegen zahlreicher Gesetzesverstöße (Bilanz- ihn wartenden Journalisten mit den Worten: »Nun gehen Sie fälschung, illegale Parteienfinanzierung, Steuerhinterziehung,

32 Bestechung, Meineid, Richterbestechung, Prostitution einer unterschiedlicher Provenienz allein durch die Treue zum Vorsit- Minderjährigen, Amtsmissbrauch), sondern als politischen zenden zusammengehalten werden; träte Berlusconi von der Gegner . In einer Täter-Opfer-Umkehr sah sich Berlusconi als politischen Bühne ab, so wäre ihr Überleben unmittelbar in Fra- Opfer politischer Machenschaften, die sich hinter dem Schutz- ge gestellt, denn er allein verkörpert […] in seiner Person das schild der vermeintlich unpolitischen Justiz verbergen . Erneuerungsversprechen einer ›italienischen Revolution‹ .«22 Seine notorischen Ausfälle gegen die »roten Richter« sind Le- Dieses Erneuerungsversprechen ist nicht eingelöst worden gion und können hier nur exemplarisch belegt werden . 2004 und von »Revolution« kann nur als Traumgespinst die Rede sagte er über Italien: »Exzessive Staatspräsenz, unangemes- sein . Vor allem die wirtschaftspolitischen Ziele (Abbau der Ar- senes Gewicht der Gewerkschaften, exzessiver Sozialstaat, beitslosigkeit, insbesondere der hohen Jugendarbeitslosigkeit Infiltration aller Staatsorgane, angefangen bei der Justiz, von fast 30 Prozent und der Staatsverschuldung) sind nicht durch die Kommunisten .«16 2009 erklärte er: »Nicht ich bin erreicht worden 23. Dagegen hat sich die Schere zwischen arm die italienische Anomalie . Es sind die kommunistischen Rich- und reich weit geöffnet . Auch der Klientelismus prägt nach ter und die kommunistische Staatsanwaltschaft .«17 2011 for- wie vor die italienische Politik bis hin zum persönlichen Stim- derte er, die »Kaste der Justiz« sei ein »Krebsgeschwür«, das menkauf, um sich die parlamentarische Mehrheit zu sichern . herausgerissen werden müsse . Sie »missbraucht das Recht, Populistische Mobilisierung beruht auf einer direkten, unver- um mich zu stürzen . Es ist erschreckend, aber wir sind im mittelten Beziehung zwischen Führer und Volk, die interme- Bürgerkrieg, von der Linken gegen mich ausgelöst .«18 diäre Gruppen umgeht und autonome Institutionen, z .B . die Die Interessenverflechtung zwischen Berlusconis Wirtschaft- Rechtsprechung, unterminiert 24. Auch Berlusconi hat mit zahl- simperium und seinem politischen Amt ist in zahlreichen Un- reichen zivilgesellschaftlichen Clubs und Zirkeln diese Mobili- tersuchungen dokumentiert worden und kann hier nicht auf- sierung vorangetrieben . Gelangt der Populismus aber an die gegriffen werden 19. Strukturell bedeutsam ist aber, dass der Macht, kehrt er zur Klientelpolitik als Mittel zur Konsensbe- politische Entrepreneur den Staat nicht, wie noch die Partei- schaffung zurück, bedient sich also derselben Praxis wie die en der Ersten Republik, als Parteienpfründe, sondern nach alten, oligarchisch geführten Parteien . Die Überwindung des Art des Patrimonialismus als seine höchstpersönliche Pfrün- Klientelismus setzt voraus, dass lokale Führer entmachtet de und sich selbst als außerhalb des Gesetzes stehend be- und in Parteikader transformiert werden . Gerade dies kann trachtete . Sein wichtigster Hebel war die »Entpolitisierung« und will eine führerzentrierte Partei aber nicht leisten, beruht der Justiz zum Zweck ihrer Repolitisierung im Interesse sei- sie doch auf einem persönlichen Treue- und Gefolgschafts- nes Wirtschaftskonglomerats . »Die von Berlusconi beklagte verhältnis . Daher kommt es unweigerlich zur Herausbildung ›Politisierung‹ der Justiz soll ausgerechnet dadurch bekämpft neuer Klientelgruppen, die sich ihre Loyalität erkaufen las- werden, dass die Regierungsmehrheit einen umfassenden sen und, wie es sich in der Endphase des Berlusconismus politischen Zugriff auf die Justiz erhält .«20 gezeigt hat, das sinkende Schiff umgehend verlassen, sobald der Führer ihnen keine dauerhaften Pfründen mehr garantie- 3. Der Berlusconismus als Übergangsphänomen ren kann . Je pragmatischer und unideologischer eine populis- Populismus ist immer janusköpfig . Er bietet ein Ventil, über tische Sammlungsbewegung auftritt, desto schneller erodie- das nicht nur der Unmut über eine abgeschottete Elite, son- ren die »Treue« und die Gefolgschaft der Anhänger . dern auch über mangelnde Leistungen und Ineffizienz dieser Für die These eines Übergangsphänomens spricht auch, dass Elite abgelassen werden kann . Ausschlaggebend für die Ero- das Parteipersonal nicht mehr, wie noch in der Anfangspha- sion des alten Bürgerblocks war in Italien aber vor allem, dass se der Forza Italia, vom »Chef« nach Gutsherrenart aus Ange- in Zeiten knapper Kassen der klientelistischen Tauschpolitik stellten seines Wirtschaftsimperiums oder attraktiven Show- der Boden entzogen wurde . Die von der DC geführte politi- girls seiner Fernsehsender rekrutiert wurde . In der PdL waren sche Elite reagierte darauf mit höheren Steuern und sinken- längst erfahrene, aus den Parteien des alten Bürgerblocks den Leistungen und entfremdete sich so von ihren Wählern 21. hervorgegangene Berufspolitiker tonangebend, die sich nicht War der Berlusconismus nur ein Übergangsphänomen zwi- mehr kritiklos dem autokratischen Führungsstil des großen schen dem alten Parteiensystem der Ersten Republik und einer Kommunikators beugen wollten . Nach dessen Zerwürfnis mit künftigen, durch den Berlusconismus regenerierten und mo- Gianfranco Fini, dem ehemaligen Vorsitzenden der AN, sind dernisierten Partei der bürgerlichen Mitte? Für die These eines die Fini-Anhänger aus der PdL ausgetreten und haben Anfang Übergangsphänomens sprechen die an die Person Berluscon- 2011 die Partei »Zukunft und Freiheit für Italien« (Futuro e Li- is gebundenen Merkmale: autoritärer Führungsstil, Personali- bertà per l’Italia) gegründet . Sollte es dazu kommen, dass sich sierung der Politik mit Tendenzen zum Führerkult, persönliche weitere Gruppen aus den sich bipolar gegenüberstehenden Ausstrahlung und nicht zuletzt seine Medienmacht, Merkmale Blöcken der demokratischen Linken (Partito Democratico) und also, an die nach seinem Rückzug aus der Politik nicht nahtlos Berlusconis PdL ablösen, ist eine neue Partei der bürgerlichen angeknüpft werden kann . Schon 2003, als Berlusconis Partei Mitte vorstellbar . Für Außenstehende schwer abschätzbar ist noch Forza Italia hieß, stellte Michael Braun fest: »Forza Italia dagegen das katholische »Lager«, d .h . die nach wie vor exis- ist und bleibt eine Partei ad personam, in der die Seilschaften tierenden Christdemokraten sowie der hohe Klerus . Dieser

33 befand sich in der Zwickmühle zwischen konservativer Sexu- verschärften, Situation schlägt, wie auch in Griechenland, die almoral und Berlusconis ausschweifendem Lebensstil . Stunde der »unpolitischen« Technokraten . Ihre Aufgabe ist es, Unter rein funktionalen Gesichtspunkten werden dem Popu- den Augiasstall von politischer und wirtschaftlicher Interes- lismus auch positive Aspekte abgewonnen . Er überwinde ein senverflechtung auszumisten und überfällige strukturelle Re- sklerotisiertes, durch Absprachen- und Konsenspolitik verfilz- formen vor allem in der Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik (ende- tes politisches System, motiviere unpolitische, passive Bür- mische Steuerflucht, überaus laxe Steuermoral, aufgeblähte, ger zu politischer Beteiligung und setze vernachlässigte The- aber ineffiziente bürokratische Strukturen, dramatisch hohe men auf die Agenda 25. Anders formuliert: Er macht einen im Jugendarbeitslosigkeit etc .) auf den Weg zu bringen . Für diese Sumpf steckengebliebenen politischen Karren wieder flott, technokratische Interimslösung steht seit dem unrühmlichen entschlackt ihn von festgefahrenen Strukturen, schafft neue Ende Berlusconis der ehemalige EU-Kommissar Mario Monti . ideologische Bündnisse und hebt soziopolitische Blockierun- 20 verlorene Jahre – diese Bilanz gilt aber auch für die unter- gen auf, wenn auch um den Preis von Polarisierung, Emotio- einander zerstrittene demokratische Linke, die bis 2013 loy- nalisierung und Personalisierung der Politik . al die Monti-Regierung unterstützten will . Aber wie lauten ih- Allerdings gilt dies nur für die Anfangsphase eines populis- re Alternativen? Welche Visionen, wenn sie denn welche hat, tischen Regimes . Je länger es an der Macht ist – und der verfolgt sie für die Zukunft Italiens? Wie glaubwürdig ist ei- Berlusconismus hat es für italienische Verhältnisse zu dem ne Linke, die sich wählersoziologisch auf die gesellschaftliche Rekord von rund 16 Jahren gebracht – desto deutlicher zeigt Mitte, vor allem auf Beamte und Angestellte im Staatssektor er die gleichen Defizite wie das »alte« Regime: Ineffizienz, stützt, aber die von Prekarität bedrohten Unterschichten der Verfilzung, Klientelismus, persönliche Bereicherung der Pa- rechtspopulistischen Lega Nord überlässt? Und was bedeuten ladine, Unterminierung des Rechtsstaats, Manichäismus von die kryptischen Worte des ehemaligen Kommunistenführers Freund und Feind, Entpolitisierung großer Teile der Bevölke- und heutigen Linkspolitikers Massimo D’Alema: »Die Lega äh- rung und wachsenden Zynismus der »organischen Intellektu- nelt sehr der Linken; sie ist kein Fluch . Zwischen der Lega und ellen« dieses Machtblocks . Der Populismus ist nur das sicht- der Linken besteht eine große soziale Nähe . Die größte Arbei- bare Zeichen einer allgemeinen Krise der Repräsentation, an terpartei des Nordens ist die Lega, ob es gefällt oder nicht .«?28 der die Eliten nicht unschuldig sind, ja die sie, so René Cupe- Aber kein Wort, wie es dazu hat kommen können und welchen rus, selbst auslösen und fördern 26. Anteil die Linke an dieser Entwicklung hat . Italien gilt als Land Populistische Führer sind Außenseiter und gehören auch des »trasformismo«, einer seit dem 19 . Jahrhundert gängigen dann nicht zum Establishment, wenn sie, wie Berlusconi, Praxis der Elitenzirkulation und der Absorption gegnerischer über immensen Reichtum verfügen . In der Regel handelt es Eliten in ein System der Absprachen, der Kompromisse, der sich um Aufsteiger aus »kleinen« Verhältnissen, die ihre bio- Taktiererei und der Sicherung von Pfründen zu Lasten des Ge- graphische Nähe zum Volk als Trumpfkarte ausspielen und meinwohls . Auf den Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lam- politisch das Ideal des self-made-man vertreten . Aber sie pedusa geht das geflügelte Wort zurück: »Es muss sich alles sind keine Vertreter des etablierten Groß- und Finanzkapi- ändern, damit alles bleibt, wie es ist .« tals . In Italien stand der Industriellendachverband Confindus- tria dem Aufsteiger mit den undurchsichtigen Quellen seines Karin Priester Reichtums und seinen dubiosen Verbindungen zur Loge P2 immer kritisch gegenüber . Diese Skepsis war aber nicht nur seinem parvenühaften Habitus, sondern auch einer anderen politischen Strategie geschuldet . Das italienische Großkapi- Literatur tal verspricht sich von einer neokorporativen Absprachen- politik oder »konzertierten Aktion« unter Einschluss der Ge- Braun, Michael (2003): Populismus an der Macht . Das werkschaften einen störungsfreieren, berechenbareren Kurs . Phänomen Berlusconi . In: Internationale Politik und Gesell- Daher wundert es nicht, dass gerade Luca Cordero di Mon- schaft, 3, s . 110–133 . tezemolo, ein Fiat-Manager und ehemaliger Vorsitzender der Bremer, Jörg (2011): Geschwüre vor Gericht . Berlusconi Confindustria, sich in der Endphase des Berlusconismus zum kritisiert mal so, mal so . In: FAZ, Nr . 108 (10 .05 .2011) . Sprachrohr eines Wechsels gemacht hat . Cuperus, René (2011): Der populistische Dammbruch . Die Dass Italien und andere südeuropäische Länder im Zuge der niederländischen Volksparteien unter Druck . In: Wielenga, Banken- und Finanzkrise seit 2008 unter den internationalen Friso/Hartleb, Florian (Hrsg .): Populismus in der modernen Druck von Rating-Agenturen, aber auch der EU geraten sind, Demokratie . Die Niederlande und Deutschland im Vergleich, steht auf einem anderen Blatt und kann hier nicht vertieft wer- Münster, s . 163–178 . den . Tatsache ist aber, dass Berlusconi das Land in einem Doerfler, Kordula (2011): Italien – 20 verlorene Jah- desolaten Zustand hinterlassen hat . »20 verlorene Jahre« bi- re . In: Frankfurter Rundschau (11 .11 .2011), http://www . lanzierte die Frankfurter Rundschau die Ära Berlusconi .27 In fr-online .de/meinung/analyse-zwei-verlorene-jahrzehn- einer solchen, von den internationalen Finanzmärkten noch te,1472602,11131008 html. [16 .02 .2012] .

34 Grimm, Markus (2009): Il Popolo della Libertà . Die Aufer- Zagrebelsky, Gustavo (2011): La neolingua dell’età berlusco- stehung der Democrazia Cristiana?, Gießen (Occasional Pa- niana . In: Ginsborg, Paul und Enrica Asquer (Hrsg .), Berluscon- pers No . 8, hrsg . von Alexander Grasse) . ismo . Analisi di un sistema di potere, Rom/Bari, s .223–234 . Krastev, Ivan (2007): Die Stunde des Populismus . In: Transit 33 ([18 09. .]2007), http://www .eurozine .com/ articles/2007-09-18-krastev-de html. [10 .08 .2011] . La Repubblica (1995): Un conclave per la sinistra 1 Ivan Krastev: Die Stunde des Populismus . In: Transit 33 ([18 09. ]2007),. ht- tp://www .eurozine .com/articles/2007-09-18-krastev-de html. [10 .08 .2011] . (01 .11 .1995), s . 13, http://ricerca .repubblica .it/repubblica/ 2 cas Mudde: The Populist Zeitgeist . In: Government and Opposition 39 (2004), archivio/repubblica/1995/11/01/un-conclave-per-la-sinist- Nr . 3, s . 541–563, hier s . 543 . 3 markus Grimm: Il Popolo della Libertà . Die Auferstehung der Democrazia Cris- ra .html [16 .02 .2012] . tiana?, Gießen 2009 (Occasional Papers No . 8, hrsg . von Alexander Grasse), La Repubblica (2004): Berlusconi riscende in campo: s . 6 . Im Folgenden zitiert als Grimm 2009 . »Contro comunisti e giudici« (24 .01 .2004), http://www .re- 4 Karin Priester: Populismus . Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frank- furt am Main/New York 2007, s . 159–163 (im Folgenden zitiert als Priester pubblica .it/2004/a/sezioni/politica/festaforza/discocon- 2007); Jens Urbat: Rechtspopulismus an der Macht . Silvio Berlusconis Forza Ita- ve/discoconve .html [04 .10 .2011] . lia im neuen italienischen Parteiensystem, Hamburg/Münster 2007, s . 85–99 . 5 marco Tarchi: L’Italia populista . Dal qualunquismo ai girotondi, Bologna 2003, La Repubblica (2005): Berlusconi: »Con la sinistra mise- s . 161 . ria, morte e terrore« (16 .01 .2005), http://www .repubblica . 6 m ichael Braun: Populismus an der Macht . Das Phänomen Berlusconi . In: In- it/2005/a/sezioni/politica/dibacdldue/berlaprodi/berla- ternationale Politik und Gesellschaft 3 (2003), s . 110–133, hier s . 121–124 (im Folgenden zitiert als Braun 2003); Renato Mannheimer: Chi vota il Popolo prodi .html [30 .09 .2011] . della Libertà? . In: Corriere della Sera (08 03. .2008); Grimm 2009, s .27 f . La Repubblica (2009): Berlusconi a sorpresa a Ballarò . 7 l a Repubblica: Berlusconi: »Con la sinistra miseria, morte e terrore« (16 01. .2005), http://www .repubblica .it/2005/a/sezioni/politica/dibacdl- »Mills? I giudici sono comunisti« (27 .10 2009),. http://www . due/berlaprodi/berlaprodi html. [30 .09 2011]. . repubblica .it/2009/10/sezioni/cronaca/processo-mills/ 8 matteo Tonelli: Casa, pensioni, Iraq e tante altre autosmentite di Berlusconi . berlusconi-ballaro/berlusconi-ballaro .html [04 .10 .2011] . In: La Repubblica (15 .11 .2005), http://www .repubblica .it/2005/k/sezioni/ politica/berlusmentite/berlusmentite/berlusmentite html. [01 .11 .2011] . La Stampa (2009): Da unto del Signore a non sono santo . 9 Ebenda . Quando Berlusconi parla di Santità (22 .7 .2009), http://www . 10 a ndrea Vantini: A Silvio, Musik-Veröffentlichung 2008, http://lyricskeeper . de/de/andrea-vantini/a-silvio .html [20 .12 .2011] und die Fassung www .orro- lastampa .it/redazione/cmsSezioni/politica/200907articoli rea33giri .com/2008/04/andrea-vantini-silvio-2008 html. [02 10. 2011]. . /45766girata .asp [01 .10 .2011] . 11 Ebenda . Mannheimer, Renato (2008): Chi vota il Popolo della Li- 12 Vgl . Priester 2007 . 13 Gustavo Zagrebelsky: La neolingua dell’età berlusconiana . In: Ginsborg, Paul bertà? In: Corriere della Sera (08 .03 .2008) . und Enrica Asquer (Hrsg ),. Berlusconismo . Analisi di un sistema di potere, Mouzelis, Nicos (1985): On the Concept of Populism: Po- Rom/Bari 2011, s . 223–234 . 14 alle Zitate: La Stampa: Da unto del Signore a non sono santo . Quando Berlus- pulist and Clientelist Modes of Incorporation in Semiperiphe- coni parla di Santità (22 .7 .2009), http://www .lastampa .it/redazione/cmsSe- ral Polities . In: Politics & Society, 14 (3), s .329–348 . zioni/politica/200907articoli/45766girata asp. [01 .10 2011]. . Mudde, Cas (2004): The Populist Zeitgeist . In: Govern- 15 p rogramm der PdL: www .pdl .it/speciali/PROGRAMMA2008 .pdf (2008) [07 .10 2011]. . ment and Opposition 39 (3), s .541–563 . 16 l a Repubblica: Berlusconi riscende in campo: »Contro comunist e giudici« Priester, Karin (2007): Populismus . Historische und aktu- (24 01. .2004), http://www .repubblica it/2004/a/sezioni/politica/festafor. - za/discoconve/discoconve .html [04 10. 2011]. . elle Erscheinungsformen, Frankfurt am Main/New York . 17 l a Repubblica: Berlusconi a sorpresa a Ballarò . »Mills? I giudici sono comu- Programm der PdL (2008): www .pdl .it/speciali/PRO- nisti« (27 .10 2009),. http://www .repubblica .it/2009/10/sezioni/cronaca/ GRAMMA2008 pdf. [07 .10 .2011] . processo-mills/berlusconi-ballaro/berlusconi-ballaro .html [04 .10 .2011] . 18 Jörg Bremer: Geschwüre vor Gericht . Berlusconi kritisiert mal so, mal so . In: Schmitter, Philippe C. (2006): A Balance Sheet of the Vi- FAZ, Nr . 108 (10 .05 2011). . ces and Virtues of ›Populisms‹, http://www .eui eu/Docu. - 19 Vgl . Braun 2003, s . 113 . 20 Ebenda, s . 127 . ments/DepartmentsCentres/SPS/Profiles/Schmitter/PCS- 21 Vgl . Braun 2003, s . 121 . BalanceSheetApr06 .pdf [16 02. 2012]. . 22 Ebenda, s . 115 . Tarchi, Marco (2003): L’Italia populista . Dal qualunquismo 23 Die Staatsverschuldung ist mit 119,0 Prozent nach Griechenland die zweit- höchste in Europa . Die Arbeitslosenrate liegt bei insgesamt 8,6 Prozent, davon ai girotondi, Bologna . aber 29,4 Prozent Jugendarbeitslosigkeit (Stand: 2010) . Tonelli, Matteo (2005): Casa, pensioni, Iraq e tante altre 24 Vgl . Nicos Mouzelis: On the Concept of Populism: Populist and Clientelist Modes of Incorporation in Semiperipheral Polities . In: Politics & Society 14 autosmentite di Berlusconi . In: La Repubblica (15 11. .2005), (1985), Nr . 3, s . 329–348 . http://www .repubblica it/2005/k/sezioni/politica/berlus. - 25 p hilippe c . Schmitter: A Balance Sheet of the Vices and Virtues of ›Popu- mentite/berlusmentite/berlusmentite .html [01 .11 .2011] . lisms‹, http://www .eui .eu/Documents/DepartmentsCentres/SPS/Profiles/ Schmitter/PCSBalanceSheetApr06 .pdf [16 02. 2012]. . Urbat, Jens (2007): Rechtspopulisten an der Macht . Silvio 26 René Cuperus: Der populistische Dammbruch . Die niederländischen Volks- Berlusconis Forza Italia im neuen italienischen Parteiensys- parteien unter Druck . In: Friso Wielenga/Florian Hartleb (Hrsg ):. Populismus in der modernen Demokratie . Die Niederlande und Deutschland im Vergleich, tem, Hamburg/Münster . Münster 2011, s . 163–178, hier s . 170–178 . Vantini, Andrea (2008): A Silvio, Musik-Veröffentlichung 27 Kordula Doerfler: Italien – 20 verlorene Jahre . In: Frankfurter Rundschau 2008, http://lyricskeeper .de/de/andrea-vantini/a-sil- (11 .11 .2011), http://www .fr-online .de/meinung/analyse-zwei-verlorene-jahr- zehnte,1472602,11131008 html. [16 .02 .2012] . vio html. [20 .12 .2011] und die Fassung www .orrorea33giri . 28 Zitiert nach La Repubblica: Un conclave per la sinistra (01 .11 .1995), s .13, ht- com/2008/04/andrea-vantini-silvio-2008 .html [02 .10 .2011] . tp://ricerca repubblica. .it/repubblica/archivio/repubblica/1995/11/01/un- conclave-per-la-sinistra .html [16 .02 2012]. .

35 Aufstieg des Rechtspopulismus auch in Deutschland? Die AfD und die Bundestagswahl 2013

Mit dem Ergebnis von 4,7 Prozent bei den Bundestagswahlen ist der Alternative für Deutschland (AfD) ein Erfolg im rechten Land Zweitstimmen Wählerspektrum gelungen, den die Union mit der Maxime, Schleswig-Holstein 4,6 Prozent rechts neben ihr dürfe sich kein erfolgreiches Parteiprojekt etablieren, über viele Jahrzehnte zu verhindern wusste . Da- Hamburg 4,1 Prozent bei ist der Zuspruch zur AfD zunächst weniger auf Kosten der CDU/CSU als vielmehr auf die von FDP und LINKER gegan- Niedersachsen 3,7 Prozent gen . Dennoch handelt es sich bei der AfD eindeutig um eine Formation der politischen Rechten, die mit dem schillernden Bremen 3,7 Prozent aber inzwischen gebräuchlichen Begriff des Rechtspopulis- Nordrhein-Westfalen 3,9 Prozent mus bezeichnet werden kann . Die AfD ist in ihrer gegenwär- tigen Ausprägung keine Partei der extremen Rechten, sie ist Hessen 5,6 Prozent weder neofaschistisch ausgerichtet, noch finden sich bisher Formen der NS-Verherrlichung oder eines völkischen Natio- Rheinland-Pfalz 4,8 Prozent nalismus oder völkischen Rassismus . Baden-Württemberg Mit gut 2 Mio . Wählerstimmen hat die AfD nur sieben Mona- 5,2 Prozent te nach ihrer Gründung ein Ergebnis erreicht, das auf dem Bayern 4,3 Prozent Niveau der knapp aus dem Parlament ausgeschiedenen FDP liegt . Thematisch bisher völlig auf die Kritik an der EU-Ret- Saarland 5,2 Prozent tungspolitik, den damit verbundenen potenziellen Kosten für Deutschland und die Ablehnung des Euro in seiner jetzi- Berlin 4,9 Prozent gen Form fixiert, bringt die AfD eine Kritik an der EU-Politik Brandenburg 6,0 Prozent zum Ausdruck, wie sie sich in vielen europäischen Ländern findet . Der ideologische Hintergrund einer solchen Kritik Mecklenburg-Vorpommern 5,6 Prozent von rechts ist national-chauvinistisch und neoliberal grun- diert, womit sich die AfD mit vielen anderen Parteien des Sachsen 6,8 Prozent Rechtspopulismus in Europa trifft . Weniger deutlich ausge- prägt ist bisher eine islamfeindliche, ethnopluralistische und Sachsen-Anhalt 4,2 Prozent auf eine Ethnisierung der sozialen Frage angelegte Ausrich- Thüringen 6,2 Prozent tung, wie sie für zahlreiche Parteien des Rechtspopulismus typisch ist .

Die Ergebnisse der AfD Hessen (5,6 Prozent) und Baden-Württemberg (5,2 Prozent) . Mit 4,7 Prozent der Zweitstimmen (1,9 Prozent Erststimmen) Hier deutet sich schon die Heterogenität in der Wählerschaft und einem absoluten Stimmenanteil von 2 052. .372 Stim- der AfD an, die vor allem Stimmen von FDP und LINKEN ab- men (809 817. Erststimmen) hat die AfD den Einzug in den ziehen konnte . Bundestag nur knapp verpasst . Beim Blick auf die Landes- Bei der Wählerwanderung ergibt sich für die AfD folgendes ergebnisse zeigt sich, dass die AfD in Ostdeutschland leicht Bild: während von der FDP 430 000. Wählerinnen und Wähler besser abgeschnitten hat als im Westen . In Sachsen konnte zur AfD wechselten, waren es bei der LINKEN 340 .000 . Es folgt sie mit 6,8 Prozent ihr bestes Landesergebnis erzielen, ge- die Union mit 290 .000 Stimmen und erst dann kommt das folgt von Thüringen (6,2 Prozent) und Brandenburg (6,0 Pro- Spektrum der bisherigen NichtwählerInnen, aus dem die AfD zent) . Starke und über dem Bundesdurchschnitt liegende Er- 210 .000 Stimmen auf sich vereinigen konnte . SPD und Grüne gebnisse gab es aber auch in den strukturstarken Ländern folgen mit 180 .000 bzw . 90 .000 Stimmenverlusten an die AfD .

36 500 .000

400 .000

300 .000

200 .000

100 .000

0 Grüne spD nichtwähler cDU/CSU linke FDP

Soziale Herkunft, Interessenlage und Erwartungen der frü- Neben Lucke spielen u .a . Konrad Adam und Alexander Gau- heren WählerInnen von FDP und LINKE dürften sehr unter- land wichtige Rollen in der AfD . Adam, früher u .a . Redakteur schiedlich sein und zeigen erneut die Spannbreite und die der FAZ und Welt, ist ein ausgewiesener Konservativer . Sei- unterschiedlichen Erwartungen der Wählerschaft der AfD ne antidemokratischen Vorschläge zur Einschränkung des bei dieser Wahl . Dies spiegelt sich auch in der sozialen Zu- Wahlrechts für »Inaktive und Versorgungsempfänger« mach- sammensetzung der AfD-Wählerschaft: Mit 6 Prozent stellen ten weithin Schlagzeilen und stehen für den elitären Politi- Arbeiter die größte Gruppe, gefolgt von Selbständigen, An- kansatz der AfD generell . Gauland gehörte jahrelang zum gestellten und Beamten mit jeweils 5 Prozent . Unterdurch- konservativen Flügel der Union, war Büroleiter des Frank- schnittlich vertreten sind Rentner (4 Prozent) und Arbeits- furter Oberbürgermeisters Walter Wallmann und Geschäfts- lose (3 Prozent) . Nimmt man DIE LINKE als Vergleich, dann führer der Märkischen Allgemeinen Zeitung . Insgesamt zeigt sich hier eine wesentlich stärkere Differenzierung und entstammt die Führungsriege der AfD eindeutig dem geho- eine eindeutigere soziale Zusammensetzung, die mit dem Po- benen Bürgertum, dessen Interesen sich in der Partei wie- litikangebot der LINKEN korrespondiert (Arbeiter 12 Prozent, derspiegeln . Arbeitslose 23 Prozent) . Die Erwartungen an die Europapo- Wie bei allen Parteiprojekten rechts der Union ist auch die litik der AfD (nur mit diesem Punkt war sie im Wahlkampf AfD Anziehungspunkt für zahlreiche Gestalten der konserva- wahrnehmbar) speisen sich sowohl aus einer neoliberal grun- tiven und extremen Rechten . Der Umgang mit diesem Per- dierten ordnungspolitischen Vorstellung, als auch aus einem sonal wird für den weiteren Weg der AfD entscheidend sein . chauvinistisch aufgeladenen Abwehrnationalismus: »Kein Schon heute finden sich in ihren Reihen Personen mit ei- deutsches Geld für faule Griechen« . ner deutlich rechten Geschichte . Personal des ehemaligen Bundes freier Bürger oder Vertreter der Berliner Rechtspar- Parteiführung und Programm der AfD tei »Die Freiheit« haben sich auf den Weg zur AfD gemacht, Mit Bernd Lucke hat die AfD einen Vorsitzenden, der nicht und auch für frühere Mitglieder von DVU und Reps dürfte als charismatische Gestalt im Sinne eines Jörg Haider, Jean der Weg zur AfD attraktiv sein . Wenn sich die Partei in die- Marie LePen oder Umberto Bossi bezeichnet werden kann . se Richtung weiter öffnet, werden über kurz oder lang auch Lucke ist Professor für Volkswirtschaft an der Universität deutlich rassistischere und islamfeindlichere Töne von der Hamburg und seit Jahren Vertreter einer harten neoliberalen AfD hörbar sein, die sich heute schon in der Partei finden Ordnungspolitik . Schon 2005 trat Lucke als Mitinitiator des lassen . Hamburger Appells auf, in dem von Seiten einiger Wirtschaft- Programmatisch ist die AfD weitgehend auf die aktuelle Eu- wissenschaftler eine strengere Fiskalpolitik der Bundesregie- ro-Krise und die damit verbundene Politik fixiert . Die AfD tritt rung gefordert wurde . Lucke sammelte 2012 eine Reihe von für eine Auflösung des Euro in seiner jetzigen Form ein . An neoliberalen Ökonomen für einen Appell an Bundeskanzlerin dessen Stelle soll wahlweise die alte D-Mark oder ein klei- Merkel zur Änderung ihrer Eurorettungspolitik im Sinne der nerer und von Deutschland noch stärker dominierter Wäh- marktradikalen Ideologie . rungsverbund treten . Der »Schutz der Steuerzahler« steht in

37 der Propaganda der AfD ganz vorne, womit sie sowohl die lich nicht in der neoliberalen Finanzpolitik und der völligen Interessen des Mittelstands als auch die Ängste und Sorgen Entfesselung der Märkte gesehen . Stattdessen wird auf die der Kleinsparer bedient . Keine Bankenrettung mit Steuergel- verfehlte und verschwenderische Politik der Südländer ver- dern, diese Forderung – auch der LINKEN – kommt gut an . wiesen, denen gegenüber es einer härteren deutschen Gang- Die Verantwortung für die Euro-Krise wird von der AfD natür- art bedürfe . Ein Europa der Nationen ist die Leitvorstellung der AfD, womit jedoch kein völkischer Na- tionalismus im Sinne der extremen Rech- ten verstanden wird . Rückführung der Ent- scheidungskompetenz auf die nationalen Parlamente und Abgrenzung gegenüber der Brüsseler Bürokratie sind hier die Po- sitionen .

Im Gegensatz zur völkischen extremen Rechten tritt die AfD für eine geregelte Zuwanderung »qualifizierter und integrati- onswilliger« Fachkräfte ein, will jedoch ei- ne »Einwanderung in unsere Sozialsyste- me« verhindern . Die AfD bewegt sich damit ganz im Rahmen der Unionspolitik . Die von der AfD vertretene Forderung, dass Asylbe- werber in Deutschland arbeiten dürfen, wä- re für die NPD unvorstellbar . Insgesamt ist die programmatische Fest- legung der AfD sehr dünn und vom Be- mühen gekennzeichnet, in viele politische Richtungen offen zu sein . Die offensive Unterstützung der AfD durch die Famili- enunternehmer zeigt die ideologische und wahrscheinlich auch finanzielle Basis der Partei, die nicht unerheblich von der Spen- denbereitschaft ihrer begüterten Anhän- ger profitieren konnte . Auch in der konser- vativen Presse (FAZ, Welt) fand die AfD im Wahlkampf eine wohlwollende Aufmerk- samkeit . Auch von Seiten der verbliebe- nen Konservativen in der Union könnte die AfD zukünftig Unterstützung bekommen, und hier gibt es ein Potenzial nur noch lo- cker mit der Union verbundener Wähler, für die die AfD zu einer Alternative werden könnte .

Rechtspopulismus? Der Aufstieg des Rechtspopulismus in Eu- ropa seit den 1990er Jahren war durch die Verschmelzung neoliberaler Ideologie mit Politikelementen der extremen Rechten gekennzeichnet . Herbet Schui u .a . haben diese Entwicklung als erste ausführlich dar- gestellt (»Wollt ihr den totalen Markt?«) . Im Gefolge der FPÖ haben eine ganze Reihe von Rechtsparteien in Europa Erfolge feiern können und es bis in Regierungsverantwor-

38 tung gebracht . Unter dem Stichwort Rechtspopulismus wer- gibt sich dabei nicht allein über die Inhalte, die in ähnlicher den dabei so unterschiedliche Parteien wie die FPÖ, die Däni- Form auch von den Etablierten angeboten werden, sondern sche Volkspartei, die Lega Nord, der Front National, die Partei durch den Ausschluss vom alten System der Volksparteien, für die Freiheit von Geert Wilders und viele andere gefasst . das immer weniger Bindungskraft besitzt . Nur durch diese Die Schnittmenge der AfD zu diesen Parteien besteht gegen- Abgrenzung kann sich der Rechtspopulismus zum Sprach- wärtig im chauvinistischen Abwehrnationalismus, in der Hal- rohr von »denen da unten« machen, die sich selbst als Aus- tung zur EU und generell im politischen Stil, der, zusammen geschlossene begreifen . mit der inhaltlichen Ausrichtung, als Rechtspopulismus be- zeichnet wird . Reaktion der LINKEN auf den Erfolg der AfD Populismus als Begriff beinhaltet den Bezug auf die Masse der Mit 340 .000 Stimmen hat DIE LINKE nach der FDP die zweit- Bevölkerung, ihre Wünsche, Sehnsüchte, Bedürfnisse sollen meisten Stimmen an die AfD verloren . Der AfD ist es schein- zum Ausdruck gebracht werden . Populistische Argumentatio- bar vor allem im Osten gelungen, enttäuschte WählerInnen nen unterliegen dabei einer Freund-Feind-Gegenüberstellung, der LINKEN für sich zu gewinnen . Die damit verbundene die es erlaubt, die verschiedenen politischen Problemfelder Erwartungshaltung dürfte in der von der AfD verkörperten einer klaren Einteilung in gut und böse, in dafür und dage- Schutzfunktion vor den finanziellen Zumutungen der Eurokri- gen zu unterstellen . Weiter kennzeichnet sich der Populismus se und generell der Angst vor einem immer anonymer und durch eine klare Gegenüberstellung von oben und unten, von undurchschaubar agierenden Kapitalismus liegen, für den »wir hier unten«, die Beherrschten, und »die da oben«, die die EU und Brüssel die geeignete Projektionsfläche abgeben . Herrschenden . Diese Gegenüberstellung erlaubt die Selbst- Dass die Politik der EU maßgeblich von Deutschland domi- einschätzung als ausschließliches Objekt von Politik, und die niert wird, dass es deutsche Kapitalfraktionen sind, die für populistische Partei oder Bewegung vertritt die Interessen die Krise in Europa ein großes Maß an Verantwortung tra- der kleinen Leute gegen »die da oben« . gen – all das bleibt hinter der Schuldzuweisung an EU und Eine spezifische Mischung aus personalisierten und kollek- Brüssel verborgen . Für DIE LINKE ist es deshalb wichtig, ne- tivistischen Argumentationen ist ein weiteres Kennzeichen ben dem bereits genannten chauvinistischen Abwehrnationa- des Populismus . Charismatische Persönlichkeiten und kol- lismus die soziale Herkunft der AfD (Professorenpartei, Par- lektive Identitäten (Nation, Volk, »Rasse«) ergänzen sich hier . tei der Besserverdienenden) und ihre finanzielle Verankerung Schließlich greift populistische Agitation Ängste und irratio- (Großbürgertum, Familienunternehmer) herauszustellen, um nale Vorstellungen auf und ist selbst weitgehend anti-intel- so die von der AfD vertretenen Interessen zu verdeutlichen, lektualistisch . die gerade nicht die der abhängig Beschäftigten oder vom Ar- Für den Rechtspopulismus sind diese Stilelemente politischer beitsmarkt Ausgegrenzten sind . Agitation vielfältig nutzbar . Die Freund-Feind-Gegenüberstel- lung und die Gegenüberstellung des »wir« und »die da« lässt Die AfD ist keine Nazipartei und sollte von uns auch nicht als sich für ganz unterschiedliche Argumentationen nutzen . Im solche bezeichnet werden . Langfristiger Effekt solcher Etiket- traditionellen Rechtsextremismus findet sich hier die Ein- und tierungen ist die Schleifung des Tabus der extremen Rechten . Ausschließung von Bevölkerungsgruppen entlang völkischer Offensiv sollte dagegen die Frage gestellt werden, in welche Kriterien . Die homogene völkisch-ethnisch definierte Nation Richtung sich die AfD entwickeln wird und darauf hingewie- wird von den nicht Dazugehörigen, den Ausländern, Fremden, sen werden, dass hier eine weitere Rechtsentwicklung nicht Anderen unterschieden . auszuschließen ist . Wer mit welchen Positionen in der AfD Diese traditionelle völkische Argumentation kann durch ei- Einfluss gewinnen wird, muss von uns beobachtet und öffent- ne stärker den neoliberalen Leistungsgedanken betonende lich thematisiert werden . Teile der neuen und auch der extre- Argumentation ergänzt werden: Hier sind es dann vor allem men Rechten beziehen sich schon heute positiv auf die AfD . die »Schmarotzer«, »Leistungsunwilligen« und Außenseiter Der Umgang mit diesen Personen wird der Maßstab dafür der Gesellschaft, die als nicht dazugehörig identifiziert wer- sein, ob die AfD in Richtung extreme Rechte tendiert oder den . Beide Argumentationen finden sich bei allen Parteien eine rechtskonservative, aber demokratische Partei bleibt . des Rechtspopulismus . Inhaltlich zentral wird es hier sein, ob sich die AfD dem im Der aktuelle Rechtspopulismus knüpft vor allem an die weit Rechtspopulismus vorherrschenden Antiislamismus, einer verbreitete Politikverdrossenheit und das Misstrauen gegen Ethnisierung der sozialen Frage (soziale Zugangsrechte nur die politische Klasse an . Der erfolgreiche Rechtspopulis- nach ethnischer Zugehörigkeit) und einem völkischen Ver- mus ist dabei durch seine Frontstellung gegen das etablier- ständnis der Nation annähert . te politische Parteiensystem der jeweiligen Länder gekenn- Auch wenn die AfD diese Entwicklung nicht nehmen sollte, zeichnet . Die Rede von den korrupten und reformunfähigen bleibt sie eine Partei der politischen Rechten, die soziale In- »Altparteien«, vom verknöcherten System, soll den eige- teressen vertritt, die konträr zur LINKEN liegen . nen Standpunkt außerhalb dieses Systems bezeichnen . Die Glaubwürdigkeit und Attraktivität des Rechtspopulismus er- Gerd Wiegel

39 Historisches zu Faschismus und Antifaschismus Käte Duncker als Abgeordnete des II. Landtags von Thüringen (1921–1923)

Käte Duncker war als Mitglied der Fraktion der KPD Abge- Deshalb verband Käte Duncker – soweit ihr das zeitlich und ordnete des II . Landtags von Thüringen von Dezember 1921 physisch möglich war – ihre Tätigkeit als Abgeordnete stets bis zu seiner Auflösung im Dezember 1923 .1 Eigentlich hat- mit einem beachtlichen außerparlamentarischen Engage- te sie nicht damit gerechnet, nominiert zu werden, sich zu- ment . Sie leitete Kurse7, sprach in kleineren und großen Ver- erst auch gesträubt und schließlich doch zugestimmt, für den sammlungen, unterstützte Kontrollausschüsse und andere Landtag zu kandidieren . Dabei brachte sie solide Vorausset- Basisaktivitäten, sprach mit Frauen und Männern vor Ort und zungen für diese für sie durchaus neuartige Tätigkeit und die beriet sich mit kompetenten Partnern (Gemeindevertretern, damit verbundene Verantwortung mit . Dazu zählten ihr Allge- Betriebsräten, Lehrern, Schulärzten u .a .) .8 In ihren Reden meinwissen; ihre Kenntnis der sozialistischen und sozialwis- vor dem Plenum des Landtags wies sie immer wieder darauf senschaftlichen Literatur ihrer Zeit; ihre eigenen Studien und hin, daß Parlamentsbeschlüsse und Gesetze nur dann ihren Veröffentlichungen zu Fragen der Frauen- und Kinderarbeit, Zweck erfüllen können, wenn sie durchgesetzt sowie den da- zum Schutz von Müttern und Kindern sowie zu Fragen der Er- von unmittelbar Betroffenen zugleich Mitwirkungs- und Kont- ziehung; ihre Erfahrungen als Lehrerin und als Kursleiterin im rollrechte zugestanden werden 9. Rahmen der proletarischen Erwachsenenbildung . Käte Dun- Ihre Einstandsrede im Thüringer Landtag hielt Käte Duncker cker hatte gute, enge Kontakte zu den Menschen – vor allen am 12 . Januar 1922 zum Entwurf eines Wohlfahrtspflege- in Gotha und Umgebung (wo schon ihr Großvater mütterli- gesetzes . Für die 38 . plenartagung am 31 . Januar hatte sie cherseits als Senator für Armenwesen gewirkt hatte), aber es übernommen, den Antrag der KPD-Fraktion zum 2 . aget - auch darüber hinaus –, deren Interessen sie nun im Landtag ordnungspunkt – »Maßnahmen zur Bekämpfung des Kinde- vertreten sollte . Sie war eine geübte und überzeugende Red- relends« – einzuführen und zu begründen .10 Sie konnte sich nerin, und sie konnte glaubhaft auf Kenntnisse und Erfahrun- dabei auf nahezu 30 Jahre Erfahrungen bei der Bekämpfung gen verweisen, über die sie als Mutter von drei Kindern ver- des Kinderelends stützen und somit auch vor dem Trugschluß fügte . warnen, Kinderelend etwa nur als »eine Folge des Krieges« zu betrachten . Es gab aber auch Umstände, die ihre Aktivitäten als Abgeord- nete beeinträchtigten . Käte Duncker mußte einen Haushalt Anhand von Fakten, Beispielen und Untersuchungsergeb- und großen Garten versorgen und sich als faktisch alleinerzie- nissen charakterisierte Käte Duncker das Kinderelend als hende Mutter2 außerdem um zwei noch schulpflichtige Jun- »Teilerscheinung des proletarischen Massenelends« . Um es gen kümmern, diese Bürde hatten ihre männlichen Kollegen wenigstens zu mildern forderte sie, eine »nahrhafte Schul- im Landtag nicht zu schultern 3. Schließlich wohnte sie im Fle- speisung« zu gewährleisten sowie »Kinderkrippen und Kinder- cken Siebleben bei Gotha, in einem für die Abgeordnetentä- horte« vor allem zur Entlastung der werktätigen Mütter ein- tigkeit verkehrstechnisch recht ungünstig gelegenen Ort . Sie zurichten . Eindringlich ermahnte sie die sozialdemokratische war wesentlich älter als ihre fünf Fraktionskollegen4 und in- Regierung, »einen Plan für die systematische Kinderfürsorge folge der Belastungen der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre auszuarbeiten und dem Landtage zur Genehmigung vorzule- gesundheitlich nicht in bester Verfassung . gen« . Doch »wir geben uns keiner Illusion hin, daß das Kin- derelend durch Annahme unseres Antrages, auch wenn er in Gleichwohl trat Käte Duncker, nachdem sie sich entschieden weitestgehendem Sinne in die Tat umgesetzt wird, ganz aus hatte, als Nachrückerin in den Landtag einzuziehen, ihr Man- der Welt geschafft wird . […] Solange die Mehrzahl der Men- dat mit gutem Gewissen und dem festen Vorsatz an, sich voll schen nur dazu da ist, Güter für eine Minderzahl zu schaf- einzubringen und erfolgreich tätig zu sein . Der Ratschlag ih- fen und von diesen Dingen nichts zu haben, kurz, solange res Mannes: »Man kann aber auch ›faul‹ sein im Parlament, die Dinge über den Menschen stehen, werden wir das Kinde- und das ist prinzipiell auch oft das Richtige«,5 entsprach nicht relend nicht ausrotten . Aber den furchtbarsten Auswüchsen ihren Vorstellungen und Ansprüchen . Das schloß nicht aus, des Kinderelends muß gegengesteuert werden, die schreck- daß sie sich der Grenzen ihrer parlamentarischen Tätigkeit, lichste Zukunftsgefahr muß bekämpft werden .«11 vor allem aber ihrer Wirkungsmöglichkeiten unter den damals Wie die Geschäftsverteilung in der Fraktion geregelt war und herrschenden Verhältnissen, bewußt war .6 in welchen Landtagsausschüssen Käte Duncker mitwirkte,

40 ließ sich nicht mehr ermitteln .12 Ihre Reden im Plenum las- Zu zwei Themen, die ihr aus tiefster Überzeugung besonders sen belegen, daß sie für Fragen der Volksbildung und soziale am Herzen lagen, äußerte sich Käte Duncker mehrfach in ih- Angelegenheiten, vor allem wenn sie Kinder, Frauen und jun- ren Plenarreden: den Auswirkungen des imperialistischen ge Mädchen betrafen, verantwortlich zeichnete . Sie sprach Krieges und der Notwendig grundsätzlicher gesellschaftli- mehrmals zur Gesetzesvorlage zur Minderung des Kinde- cher Veränderungen als unabdingbare Voraussetzung für ein relends; zur Verbesserung der Schuluntersuchung und medi- kulturvolles, glückliches Leben der Mehrheit des Volkes . Sie zinischen Betreuung der Schüler (insbesondere in den Volks- verwies dabei stets auf die Verursacher und Profiteure des schulen); zur Einstellung zusätzlicher Lehrer, vor allem an den Krieges und stellte deren Einkünfte und Entschädigungen der Volksschulen, um die Klassenfrequenzen verringern zu kön- ständig zunehmenden Verarmung und Verelendung der ar- nen; zur Einrichtung von Förderschulen (Berufsschulen) für beitenden Menschen in Stadt und Land gegenüber . Dieser Mädchen; zur Abschaffung der §§ 218/219; zum Entwurf ei- Zustand werde sich nicht ändern, argumentierte sie, solan- nes Hebammengesetzes; zur Verwendung von Lichtbildern ge wir nicht »zu einer Wirtschaftsweise übergehen, die den und Lehrfilmen in den Schulen, vornehmlich zur Qualifizie- Menschen in den Mittelpunkt ihrer Aufgabe stellt, die nicht rung des naturwissenschaftlichen Unterrichts . mehr im Profit, im Gewinn die Aufgabe des wirtschaftlichen Lebens sieht, sondern in der Erzielung eines gesunden, kräf- Käte Duncker setzte sich außerdem für die Entschädigung tigen, schönen, geistig und moralisch hochstehenden Men- der Opfer des Kapp-Putsches, aber auch für die pünktliche schengeschlechts .«17 Auszahlung der Gehälter der Angestellten und Beamten des Sie wußte und befürwortete aber auch, »daß man mit allen Staates ein, als sich herausstellte, daß die dafür aus dem Kräften wenigstens versucht, was auf dem Boden der heu- Staatshaushalt an private Banken überwiesenen Gelder von tigen Gesellschaftsordnung zu machen ist« .18 Ihren politi- diesen einbehalten und zu Spekulationszwecken verwandt schen Gegner, mit dem es sich auseinanderzusetzen und worden waren . den es zu bekämpfen galt, sah Käte Duncker grundsätzlich Besonders engagiert und couragiert handelte Käte Duncker im herrschenden System und in seinen Mandatsträgern im in der Schlußphase ihrer Abgeordnetentätigkeit – Mitte No- Parlament . Die sozialdemokratische Regierung unter Minis- vember/Anfang Dezember 1923 –, als sie die »zahllosen terpräsident August Frölich tolerierte sie und beförderte de- Verhaftungen, Haussuchungen […], Drohungen und körper- ren Maßnahmen, soweit ihr das möglich schien . Wenn sie lichen Mißhandlungen« durch Reichswehreinheiten nach die Regierung kritisierte, dann vornehmlich deshalb, um sie deren Einmarsch in Thüringen vor Ort wie auch die Behand- zu weitergehenden Schritten zu bewegen, »denn solange sie lung der »Schutzhäftlinge« untersuchte, dokumentierte und sich an die engen Schranken hält, die ihr durch die Reichs- dem Landtag unterbreitete .13 Die persönlichen Gespräche verfassung gezogen sind im Interesse des geheiligten Privat- mit den Betroffenen, besonders in den Gefängnissen, er- eigentums, das man nirgends antasten darf, solange kann sie forderten Mut und Umsicht . Käte Duncker hatte ihr »Ma- nicht zu durchgreifenden Wohlfahrtsregelungen gelangen . Ei- terial« vorsorglich sicher verwahrt, um es dem Zugriff der ne Regierung, die auf der Arbeiterklasse aufbaut und aus ihr Reichswehr zu entziehen, die dann auch am 23 . Novem- hervorgegangen ist, die sich als Vertreterin der Arbeiterklas- ber, dem angekündigten Termin ihrer Rede im Landtag, früh se fühlt, würde es verstehen, die Mittel dort zu holen, wo sie um 6 Uhr – ungeachtet ihrer parlamentarischen Immuni- zu holen sind .«19 tät – durch ein Spezialkommando eine Haussuchung bei ihr durchführen ließ . Den sozialdemokratischen Minister für Volksbildung, schätz- Alle Reden Käte Dunckers im Plenum des Landtags waren te und unterstützte Käte Duncker, mit ihm und anderen Ver- gründlich vorbereitet, durchdacht und sachlich formuliert, tretern seines Ministeriums arbeitete sie konstruktiv zu- sie vermied billige Polemik . Ihre Forderungen, ihre Argumen- sammen .20 Wenn Max Greil ihrer Meinung nach jedoch zu tation waren schlüssig und stets belegt – anhand konkreter zögerlich handelte, warnte sie auch, daß es dazu kommen Fakten, statistischen Materials, wissenschaftlicher Untersu- könne, »daß wir den Stall reinmachen, wenn die Kühe tot chungen und eigener Erfahrungen . Sie verblüffte die »Kolle- sind, d .h . daß wir mit unserer Arbeit an der Kinderpflege zu gen« aus den bürgerlichen Parteien durch ihre Sachkennt- spät kommen .«21 nis und ihr Wissen, das sie befähigte, nicht nur Statistiken auszuwerten, Befunde anerkannter Wissenschaftler zu zitie- Im II . Landtag von Thüringen – auch das ein Spiegelbild jener ren, auf einschlägige Gesetze in den USA bzw . Sowjetruß- Zeit – waren lediglich drei weibliche Abgeordnete vertreten: land zu verweisen, sondern auch Hinweise des Kronprinzen Emma Sachse (SPD), Dr . Marie Schulz (Deutsche Demokra- und nachmaligen Kaisers aus seiner Korrespondenz mit Kanz- tische Partei) und Käte Duncker (KPD) .22 Da alle drei Frauen ler Bismarck14 oder Verse bzw . Bemerkungen des Weimarer in ihren Fraktionen für die gleichen Themen zuständig waren, Dichterfürsten Goethe in ihre Ausführungen einfließen zu las- ergab sich für die drei »Landtagsweiber« ungeachtet unter- sen 15. Gehässige Zwischenrufe und Repliken wußte sie zu pa- schiedlicher Positionen und Parteizugehörigkeit die Möglich- rieren 16. keit, sich in Sachfragen zu verständigen, aber auch die Not-

41 wendigkeit, gemeinsam in dem männerdominierten Landtag Hundesteuer! Um solchen Dreck sitzt man nun hier!« (Brief 22 ./23 . Okto- bzw . gegenüber der Verwaltung elementare Verbesserungen ber 1922) . »Nächste Woche beginnt die parlamentarische Volksküche wieder, aber sie kocht nur Papier!« (Brief Nr . 2117 v . 9 1. .1923) . zu erstreiten . Eine dieser »Errungenschaften« kommentierte 7 anhand der Angaben in den Briefen und in anderen Quellen leitete K . D . in den Käte Duncker in ihrem Brief vom 22 ./23 . Oktober 1922 mit Jahren 1922/1923 spezielle Frauenkurse in Apolda, Eisenach, Erfurt, Gotha, Jena, Ohrdruf, Siebleben und Weimar . den Worten: »Einziger Fortschritt im Landtag: Ein Damenklo- 8 s . 1172; 3936; 3945; 4187; 4620; 4702; 5415 . Diese und andere Seitenan- sett ist da!« gaben beziehen sich auf: Stenographische Berichte über die Sitzungen des II . Als die Regierung Frölich am 7 . Dezember 1923 zurückgetre- Landtags von Thüringen, Bd . I-V . Zu den Gesprächen von K . D . mit Betroffe- nen vgl . auch ihren Brief Nr . 2182 v . 23 .11 .1923 sowie ihre Ausführungen im ten war und der Landtag vorzeitig aufgelöst wurde, erlosch Plenum s . 5758-5762; 5890-5891 . auch das Mandat von Käte Duncker . Nun mußte Bilanz ge- 9 Ebenda s . 797 . Vgl . dazu auch die Antwort von K . D . an die sozialdemokra- tische Kollegin Emma Sachse, die der KPD unlautere Motive beim Einbrin- zogen, geprüft und entschieden werden, wer für die KPD zu gen von Petitionen an den Landtag vorgeworfen hatte . Wir, d .h . die Fraktion den für den 10 . Februar 1924 anberaumten Wahlen zum III . der KPD, fassen »unsere Tätigkeit hier nicht so auf […], daß wir im Landtage Landtag von Thüringen kandidieren sollte . Gegen eine erneu- nur unsere Reden halten, sondern wir müssen uns stützen auf die Mitarbeit in den Mitgliedschaften . […] Dabei wird keine Parteisuppe gekocht, ist auch te Kandidatur von Käte Duncker gab es sowohl in der Bezirks- von keiner künstlichen Mache die Rede, sondern wir stützen uns eben nicht leitung als auch der Zentrale der KPD Vorbehalte, während auf die paar Leute, die wir im Landtag haben, sondern wir stützen uns auf die Wünsche, auf die Nöte der breiten Masse draußen; wir verlangen aber, daß das Reichsfrauensekretariat sie wünschte und unterstützte . die breite Masse hier ihre Nöte zum Ausdruck bringt «. (ebenda, s . 3945) . All Eine sachlich-kritische Aussprache mit ihr hat offensichtlich diese Aktivitäten mußten von den Abgeordneten selbst unternommen werden . weder in der Fraktion noch in der Bezirksleitung der Partei Ihnen standen damals keine persönlichen oder wissenschaftlichen Mitarbeiter zur Verfügung . stattgefunden . 10 Drucksache 97 vom 20 . Dezember 1921 . In: Drucksachen des II . Landtags von Thüringen (1921–1913), Bd . I, s . 115 . K . D . hatte eine erweiterte Neufas- sung eines bereits im Juli 1921 in den I . Landtag von Abgeordneten der dama- Doch auch ohne Landtagsmandat blieb Käte Duncker aktiv, ligen USPD eingebrachten Antrags zum Kinderelend vorgelegt . sie wirkte weiter als Autorin und Übersetzerin, als Leiterin 11 stenographische Berichte, s . 1170, 1174 . von politischen Kursen vorwiegend für Frauen und Mädchen, 12 Zu den Ausschüssen des Landtags und ihren Beratungen stehen keine Quellen zur Verfügung . K . D . verwies in ihren Ausführungen mehrfach auf ihre Mitar- später, wieder in Berlin, auch für Fichtesportler und an der beit in den Ausschüssen und dabei erreichte wenn auch nur begrenzte Ver- Marxistischen Arbeiterschule (MASCH) sowie als engagiertes besserungen der Vorlagen in Richtung der von der KPD-Fraktion geforderten Maßnahmen . Mitglied der Roten Hilfe . 13 stenographische Berichte, s . 5758-5762, 5838, 5890/5891 . 14 Ebenda, s . 1188 . Heinz Deutschland 15 Ebenda s . 3935; 4195 . 16 nur einmal war K . D . äußerst erregt, als ein junger sozialdemokratischer Kolle- ge sie provozierte und ihren Mann verleumdete . Vgl . Brief Nr . 2115 v . 18 . De- zember 1922 . 17 stenographische Berichte, s . 3938 . 18 Ebenda, s . 796 . 1 Zuerst auf Platz 3 der Landesliste der KPD nominiert, schließlich aber auf Platz 19 Ebenda, s . 3945 . Die im letzten Satz des Zitats vertretene Position belegt, 5 verwiesen, gelangte Käte Duncker (K . D .) erst als sogenannte Nachrücke- daß sich auch K . D . dem generellen Kurs der Zentrale ihrer Partei und den rin in den Landtag, nachdem Johannes (Hans) Müller nach parteiinternen Ent- sich aus der zugespitzten politischen und ökonomischen Situation der Jah- scheidungen auf sein Mandat verzichtet hatte . re 1922/1923 ergebenden eigenen Wünschen und Hoffnung auf einen be- 2 Heinz Duncker (H . D .) war seit September 1920 als Leiter von Bildungskursen vorstehen »deutschen Oktober« nicht völlig entziehen konnte . Vgl . dazu auch unterwegs und nur noch selten daheim . Ab Herbst 1922 wohnte er als Mitar- die folgende Passage in der dritten Rede von K . D . zur »Bekämpfung des Kin- beiter der Zentrale der KPD in Berlin . derelends« vom 8 . Februar 1922: »Es ist das kein besonderer Vorwurf gegen 3 Das traf auch auf ihre fünf Fraktionskollegen zu, mit Ausnahme von Dr . Theo- die Thüringer Regierung, denn sie ist ebensowenig wie irgendeine andere der dor Neubauer, der nach dem Tod seiner ersten Frau im Mai 1923 kurze Zeit sozialistischen Regierungen, die wir in den letzten Jahren gehabt haben, ein allein für zwei Kleinkinder zu sorgen hatte . wurzelechter Baum, der seine Kraft saugt aus dem starken Mutterboden der 4 theodor Neubauer war 19, Alfred Bochert 16, Albin Tenner 14 und Otto Geit- Arbeiterklasse, sondern sie ist ja nur ein schwächliches Reis, aufgepfropft auf hner wie auch Richard Zimmermann je fünf Jahre jünger als K . D . Ungeachtet dem Stamm der kapitalistischen Klassenherrschaft «. (s . 3933) Sie beendete gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten verstand sich K . D . offensichtlich diese Rede mit der bereits zitieren Passage (vgl . Anmerkung 17) . Zur Haltung gut mit allen Fraktionskollegen, besonders aber mit Otto Geithner, Alwin Ten- von K . D . zu der kurzzeitigen Koalitionsregierung von SPD und KPD in Thürin- ner und Theodor Neubauer, wenn sie auch bei den letzen beiden gelegentlich gen (16 . Oktober bis 12 . ovembern 1923) äußerte sich K . D . sehr kritisch im »echten Akademikerhochmut« auszumachen meinte . Brief v . 21 . Oktober 1923 . 5 H . D . im Brief v . 13 ./14 . september 1921 (SAPMO, NY 4445/145, Bl . 189) . 20 Gleichzeitig ist aus Briefen von K . D . ersichtlich, daß sie Sozialdemokraten wie 6 Einige »Stoßseufzer« in ihren Briefen verweisen darauf: »Im Landtag wird Karl Hermann (Innenminister) kritisch-ablehnend gegenüberstand . weiter geschwätzt, sogenannte demokratische Gesetzentwürfe werden an- 21 stenographische Berichte, s . 3947 . genommen – lauter leere Schläuche, in die dann die reaktionäre Bürokratie 22 K . D . verwies bereits in ihrer ersten Rede am 12 .Januar 1922 auf diesen ana- doch füllt, was sie will . Es ist ein aussichtsloses Geschäft, dieser Parlamen- chronistischen Zustand . »Die Zusammensetzung des Landtags selbst zeigt, tarismus .« (Brief an den Sohn Karl Duncker, v . 10 .–12 . april 1922 (SAPMO, wo man mit der Gleichberechtigung der Frau Ernst macht und wo nicht .« NY 4445/237, Bl . 117) . »3 . punkt der Tagesordnung [der Landtagssitzung]: Ebenda, s . 798) .

42 Ein US-Dollar für eine Million Mark! Deutschland im Sommer 1923 – Hunger und Verelendung beherrschen das Land1

»Über der Stadt lag – trotz früher Stunde und klaren Him- »Bleigewicht der Milliarden …« mels – ein trüber Dunst . Der Brodem eines verelendeten Vol- Ein wichtiger Grund für den rasanten Verfall der Mark be- kes stieg nicht gen Himmel, er haftete träg an den Häusern, stand in der Art und Weise der Finanzierung des Ersten Welt- kroch durch alle Straßen, sickerte durch die Fenster, in jeden krieges . atmenden Mund . Der Dollar steht auf 414 000. Mark . Am Ulti- Im Juli 1914 war die politische und militärische Führung des mo, in einer Woche, gibt es Gehalt – wie wird der Dollar dann Deutschen Kaiserreiches der Auffassung, dass der bevorste- stehen? Werden wir uns zu essen kaufen können? Für vier- hende Krieg nach wenigen Monaten siegreich abgeschlossen zehn Tage? Für zehn Tage? Für drei Tage?« sein würde 5. »Weihnachten sind wir wieder daheim!« Diese Re- dewendung kursierte in der Presse und unter den Soldaten, Mit diesen Worten schilderte Hans Fallada in seinem Roman die an die Fronten geschafft wurden . Wegen solcher vollkom- »Wolf unter Wölfen« die Atmosphäre im Berlin des Sommers men realitätsfremder Annahmen existierten zunächst auch 1923 .2 Und tatsächlich: Für immer größere Teile der Bevöl- keine ausgereiften Pläne für eine länger andauernde Organi- kerung wurden Hunger und Not zu ständigen Begleiterschei- sation der Volkswirtschaft unter Kriegsbedingungen 6. Deshalb nungen ihres Lebens . Der Wert der Mark sank ins Bodenlose . stellte sich die Frage der Kriegsfinanzierung auch nicht mit Wer über keine Devisen oder Wertsachen verfügte, die er ge- der gebotenen Dringlichkeit . Doch es zeigte sich: Der deut- gen US-Dollars oder britische Pfund eintauschen konnte, hat- sche Imperialismus hatte seine militärischen, politischen und te Probleme, Lebensmittel oder andere Güter des täglichen besonders seine ökonomischen Potenziale bei weitem über- Bedarfs zu erwerben . schätzt – nicht zum letzten Mal im 20 . Jahrhundert . Als die Strategie des »Blitzkrieges« gegen Frankreich geschei- Es kam hinzu: Die Spargroschen der Arbeiter und Angestell- tert war und aus dem »Bewegungskrieg« ein lang andauernder ten, die Rücklagen der Kleingewerbetreibenden und der An- »Stellungskrieg« wurde, stellte sich die Frage der Kriegsfinan- gehörigen Freier Berufe waren inzwischen fast völlig entwer- zierung mit aller Schärfe . Denn jeder Kriegsmonat erforder- tet worden . Renten und Pensionen wurden erst mit großen te 1914 Ausgaben für Waffen, Ausrüstungen, Munition und Verzögerungen dem Währungsverfall angepasst . Armut im Al- Sold in Höhe von 1,2 Milliarden Mark . 1917 waren es bereits ter war zur Normalität für Hunderttausende geworden . Die ei- 3 Milliarden und 1918 sogar 5 Milliarden Mark .7 Grundsätz- nen flüchteten sich in die Apathie, die anderen verzweifelten lich zwei Varianten standen zur Auswahl, um diese Ausgaben und stürmten vor Hunger Lebensmittelgeschäfte und Markt- zu finanzieren: Steuererhöhungen oder Kredite . Dass sich die stände 3. Wiederum andere liefen den Faschisten und anderen Reichsregierung für letzteres Modell entschied, war kein Zu- reaktionären Organisationen nach . Sie versprachen eine »Lö- fall . Steuererhöhungen – das hätte bedeutet, dass auch die sung« der Probleme, indem sie die Juden als die Verursacher Besitzer von großen Vermögen und Einkommen, Großindu- der wirtschaftlichen und finanziellen Misere bezeichneten . Ih- strielle und Großagrarier, in beträchtlichem Maße zur Steu- re Macht müsse gebrochen werden . Die antisemitische Zei- erzahlung herangezogen worden wären . Die Kriegsgewinne tung »Der Reichsbote« schrieb in diesem Sinne: »Zwei Rich- der großen Konzerne wären zu einem Teil abgeschöpft wor- tungen in der Arbeit des Judentums haben uns in die Tiefe des den . Dies sollte jedoch unbedingt vermieden werden, denn Abgrunds gestoßen: erstens das internationale, verflochte- der »Patriotismus« der Herrschenden endete am eigenen ne, auf die Instinkte des Proletariats abzielende Judentum in Geldbeutel . Stattdessen wurde ihnen die Möglichkeit offe- Presse, Parlament, öffentlichem Leben; zweitens das in Hän- riert, dem Staat Geld zu leihen, das zurückgezahlt und ver- den der Juden angesammelte Großkapital . Beide Strömungen zinst werden musste . Mit anderen Worten: Der Krieg sollte griffen zu gemeinsamer Arbeit ineinander, geleitet vom Stre- ihre Vermögen vermehren . Zwar wurden zum ersten Mal 1916 ben, die Macht an sich zu reißen .«4 so genannte Kriegssteuern eingeführt, um die aufkommende Wie auch immer die politischen Überzeugungen der Zeitge- Empörung über die »Kriegsgewinnler« abzumildern; ihr Ertrag nossen sein mochten, sie stellten immer von neuem die Fra- war jedoch zu niedrig, um einen relevanten Beitrag zur Kriegs- ge: Wie hatte es zu dieser Katastrophe kommen können? finanzierung leisten zu können 8. Worin bestanden die Ursachen der bis dahin beispiellosen Die Einnahmen des Reiches durch die insgesamt neun ge- Hyper-Inflation? zeichneten Kriegsanleihen (September 1914 bis September

43 Die Rote Fahne, 15 . August 1923

1918) blieben hinter den Erwartungen zurück . Erzielt wurden befreit bleiben, die der Krieg anwachsen ließ . Das Bleigewicht knapp 100 Milliarden Mark . Dass diese Summe zu geringfü- der Milliarden haben die Anstifter dieses Krieges verdient . Sie gig war, lag auch an der zeitlichen Differenz zwischen dem mögen es durch die Jahrzehnte schleppen, nicht wir .«10 Zeitpunkt der Ankündigung einer neuen Anleihe und den spä- Das Protokoll des Reichstages vermerkt an dieser Stelle ter gelegenen Verkaufsterminen . In der Zwischenzeit war der »Sehr-gut«-Rufe . finanzielle Bedarf des Reiches für die Kriegsfinanzierung so Im Lichte der späteren, vor Nationalismus triefenden Agitati- weit angestiegen, dass der Erlös der Anleihe deutlich hinter on bürgerlicher Parteien und Organisation gegen die von den den mit ihrer Hilfe zu regulierenden Kosten zurückblieb . Die Alliierten auferlegten Reparationen, bekommt diese Aussage Differenz zwischen den Erlösen aus den Staatsanleihen und Helfferichs, der übrigens von 1908 bis 1915 dem Direktori- den anderen Einnahmen des Reiches einerseits sowie den um der Deutschen Bank angehörte11, eine besonders delika- tatsächlichen Kriegskosten andererseits wurde durch immer te Note . neue kurzfristige Kredite (vor allem so genannte Schatzan- weisungen) überbrückt, die von der Reichsbank gewährt wur- »Gold gab ich für Eisen« den . Vor allem seit dem Herbst 1916 blieb »der Ertrag der An- Neben der Zeichnung von Kriegsanleihen wurden alle Mög- leihen hinter den Kriegsausgaben zurück .«9 lichkeiten ausgeschöpft, die »innere Finanzierung« des Krie- Die Tilgung und Verzinsung der Schulden plante man, den ges zu organisieren . Dazu gehörte die Einziehung der Gold-, Kriegsgegnern aufzubürden, vor allem Frankreich . Der Silber- und Kupfermünzen, deren Metallgehalt für die Pro- Staatssekretär im Reichsschatzamt, Karl Helfferich, äußerte duktion kriegswichtiger Güter benötigt wurde . Darüber hin- hierzu am 20 . August 1915 im : »Wie die Dinge lie- aus wurde nach dem Motto »Gold gab ich für Eisen« in der gen, bleibt vorläufig nur der Weg, die endgültige Regelung der Bevölkerung für die Abgabe von Schmuckstücken und ande- Kriegskosten durch das Mittel des Kredits auf die Zukunft zu ren metallenen Gegenständen geworben, da die Einfuhr von schieben, auf den Friedensschluss und auf die Friedenszeit . Edelmetallen und Erzen nur eingeschränkt möglich bzw . sehr Und dabei möchte ich auch heute wieder betonen: Wenn Gott kostspielig war . Um hier den notwendigen Nachdruck zu er- uns den Sieg verleiht und damit die Möglichkeit, den Frieden zeugen, wurde Soldaten an der Front von ihren Offizieren ge- nach unseren Lebensnotwenigkeiten zu gestalten, dann dür- raten, ihren Angehörigen den Verkauf aller edelmetallnen Ge- fen wir auch die Kostenfrage nicht vergessen . Die künftige Le- genstände dringend zu empfehlen . Angeblich werde bald eine benshaltung unseres Volkes muss von der ungeheuren Bürde Ablieferungspflicht verordnet . Dann sei mit stichprobenarti-

44 gen Durchsuchungen privater Haushalte zu rechnen . Die ge- hen getauscht hatten . Häufig war es nur noch der goldene wünschte Wirkung blieb nicht aus, der Nutzen all dieser Maß- Ehering, der im Notfall gegen Nahrungsmittel getauscht wer- nahmen war jedoch begrenzt . den konnte . Natürlich betraf die galoppierende Geldentwer- Alles in allem nahm die Verschuldung des Deutschen Rei- tung auch die in Lebensversicherungen angelegten Summen . ches, je länger der Krieg dauerte, nie gekannte Dimensionen Es kam hinzu: Da auch Banken, Versicherungen, Krankenkas- an . Sie stieg von 4,3 (1913) auf schließlich 156,1 Milliarden sen, Körperschaften des öffentlichen Rechts, kleine und mit- Mark im Jahre 1918 . Davon betrug allein die kurzfristige Ver- telständische Betriebe zu den Zeichnern von Kriegsanleihen schuldung in Form der »Schatzanweisungen« etwa 63,7 Mil- gehörten, kam es auch hier zu einer Entwertung ihres Eigen- liarden Reichsmark . Um zahlungsfähig zu sein, borgte sich kapitals und ihrer Rücklagen . Auch nicht wenige Waisen wa- die Reichsregierung immer wieder kurzfristig Geld bei der ren betroffen: Ihr ererbtes Vermögen hatten Notare häufig Reichsbank . Finanzpolitiker und Wirtschaftswissenschaftler als Treuhänder in angeblich mündelsichere Kriegsanleihen in- sprachen in diesem Zusammenhang verniedlichend von der vestiert . Jetzt standen sie plötzlich mittellos da . Es stellt sich »schwebenden« Schuld des Deutschen Reiches . Der wach- die Frage: sende Geldnotenumlauf und gestiegene Preise bei gleichzei- Gab es angesichts dieser Entwicklungen auch »Inflations- tig sinkendem Güterangebot für den zivilen Bedarf führte zur gewinner«? Die Antwort lautet: Allerdings! Die rasante Ent- Entwertung des Geldes und damit der Löhne, Gehälter, Ren- wertung des Geldes bot Großindustriellen und Spekulanten ten und Pensionen . Die periodische Erhöhung dieser Einkom- eine noch nie gekannte Chance zur hemmungslosen Berei- men durch den Staat und die Unternehmen hielt mit der infla- cherung . tionären Entwicklung nicht mehr Schritt, auch wenn sich der Bestand an Bargeld von 1913 bis 1918 von 13 auf mehr als »Mark ist Mark« 60 Milliarden Mark fast verfünffachte . Zugleich begann der Während die Angehörigen der Arbeiterklasse, die Rentner »Schwarzhandel« mit illegal geschlachtetem Fleisch und an- und Pensionäre, Kleingewerbetreibenden, Kleinbauern und deren Nahrungsgütern sowie mit gehorteten Waren aus der Freiberufler ihre oft mühsam über viele Jahre ersparten Gut- Vorkriegszeit . Wer es sich leisten konnte, lebte so, als befän- haben zum größten Teil verloren hatten, stellte sich die Situa- de man sich im tiefsten Frieden . tion bei den Eigentümern von Sachwerten, besonders für die »Schlotbarone«, anders da . Inflation bleibt bestehen Der Staat beeilte sich, sie für den Verlust ihrer Werke in Elsaß- Nach dem Ende des Krieges, der so ganz anders endete, als Lothringen, an der Saar und in Oberschlesien zu entschädi- dies Karl Helfferich vor dem Reichstag vorhergesagt hatte, gen, die jetzt, gemäß den Bestimmungen des Versailler Ver- erdrückte die aufgehäufte Schuldenlast den Staatshaushalt . trages, auf dem Territorium Frankreichs bzw . Polens lagen . Allein im Jahr 1919 waren 57 Prozent des Reichshaushaltes Nicht weniger als 1,5 Milliarden Mark erhielten deutsche für die Tilgung und Verzinsung der Kriegsschulden vorgese- Reedereien für ihre Schiffe, die »durch Kriegsereignisse« hen . Die im Gefolge des Versailler Vertrages nötig werdenden verloren gegangen waren . Nutznießer war selbstverständ- Zahlungen, deren genaues Ausmaß von den Alliierten noch lich auch die größte Reederei des Landes, die »Hamburg- festgelegt werden musste, waren in dieser Summe noch nicht Amerikanische Paketfahrt AG« (HAPAG) . Ihr seit Dezember einbegriffen!12 Es stiegen auch die Ausgaben für die zahlrei- 1918 amtierender Generaldirektor Wilhelm Cuno wurde üb- chen Kriegsinvaliden . Zwar wurden sie mit geringen Renten- rigens am 22 . November 1922 zum Reichskanzler berufen . zahlungen abgespeist, dennoch schwoll diese Ausgabe des Zwar wurden durch die vom neuen Reichsfinanzminister Mat- Staates an . Die Folge all dessen: Die Parität der Mark zum thias Erzberger (katholische Zentrumspartei) im Herbst 1919 US-Dollar betrug im Januar 1919 9:1 (1914: 4,2:1), im Mai durchgesetzte Finanzreform erstmals die Kapitaleigner in ge- 1919 bereits 14:1 und im Dezember desselben Jahres 50:1 . wissem Umfang zur Steuerzahlung herangezogen . Die Sache 1920 und im ersten Halbjahr 1921 beruhigte sich die Situa- hatte allerdings mehrere Haken: Zum einen war die Steuer- tion ein wenig . Aber im November 1921 waren es 270 Mark, zahlung zum Zeitpunkt ihrer Fälligkeit durch die anhaltende die ein US-Dollar kostete, im Juli 1922 420 und im November Inflation bereits wieder entwertet worden . Zum anderen war 1922 bereits 7 .000 Mark! auch die Lohnsteuer für Löhne und Gehälter eingeführt wor- Der Wert der Mark sank jetzt immer weiter . Einer aufgebläh- den . Sie wurde als »Quellensteuer« monatlich an die Finanz- ten Menge Geldes stand eine anhaltende Verringerung der ämter abgeführt und wurde zu einer wichtigen Grundlage Warenmenge gegenüber . Die vielen Inhaber von Kriegsanlei- der in den Jahren 1920/1921 steigenden Staatseinnahmen . hen sowie die Kontensparer verfügten über festverzinsliche Etwas anderes kam hinzu: Die durch die Inflation niedrigen Wertpapiere und Bankguthaben, die faktisch wertlos gewor- Löhne und Gehälter wirkten wie Lohndumping und gestatte- den waren . Besonders tragisch war das Schicksal vieler Klein- ten es der deutschen Industrie, ihre Waren vergleichsweise bürger und Landwirte, die mit fester Überzeugung an den günstig auf den Auslandsmärkten anzubieten . Zeitweilig ent- Sieg der »deutschen Waffen« geglaubt und deshalb ihre Wert- wickelte sich ein kleiner »Exportboom« für deutsche Indus- gegenstände gegen jetzt wertloses Bargeld oder Kriegsanlei- trieprodukte .

45 Die Rote Fahne, 16 . August 1923

46 Doch diese scheinbare Besserung der Staatsfinanzen und die Inflationsrate an!15 Dies bedeutete nicht anderes, als das die nicht mehr wachsende Geldentwertung hielten nicht die Unternehmenskäufe, also der Erwerb von wertbeständi- lange an . Seit Mitte des Jahres 1921 setzte die »galoppie- gen Sachwerten durch die Stinnes und Co ., mit Hilfe immer rende« Inflation mit neuer Intensität ein . Die kurzfristige wertloser werdenden Geldes staatlich subventioniert wur- Verschuldung des Reiches überschritt bald die 200-Milliar- den . Wie kaum etwas Anderes verdeutlicht diese Politik der den-Marke . Regierung und der Reichsbank, in wessen Interesse sie ihre Jetzt nahte die Stunde der großen Spekulanten . Ihr wichtigs- Amtsgeschäfte betrieben . ter Exponent war der Industrielle Hugo Stinnes . Bei ihm han- delte es sich, nicht nur nach der Auffassung der britischen Stinnes, ein bekennender Chauvinist und Antisemit, war im Zeitung »The Manchester Guardian« vom 12 . März 1921, um Übrigen davon überzeugt, dass die an Frankreich, Polen und den »mächtigsten Mann in Deutschland« .13 Stinnes hatte im Belgien im Ergebnis des Versailler Vertrages abgetretenen Weltkrieg riesige Profite gescheffelt, unter anderem durch Gebiete eines Tages wieder »deutsch« werden würden . Hier- die rücksichtslose wirtschaftliche Ausbeutung in den von den für sei erneut ein Krieg vorzubereiten . Einem seiner Direkto- deutschen Truppen besetzten Gebieten in Frankreich und Bel- ren vertraute er kurz vor seinem Tode im April 1924 an: »Ich gien, aber auch als Lieferant von Steinkohle und Rüstungsgü- bin zu der Erkenntnis gekommen, dass uns aus unserer Lage tern fast jeder Art . Wohl kein anderer Großindustrieller hatte nur ein Krieg herausführen kann . Ich bin gewiss, dass wir die- Kriegsgewinne in einem Umfang realisieren können, wie dies sen Krieg gegen die Franzosen gewinnen werden und dass bei Stinnes der Fall war . wir Alles wieder kriegen, das Ruhrgebiet, Elsass-Lothringen Jetzt lautete seine Losung: »Mark ist Mark!« Er lieh sich hohe und noch mehr, wenn wir nur in dem Augenblick Könner an Kredite, kaufte damit andere Unternehmen auf, die insolvent der Spitze haben, Kerle, frei von Gefühlen, mit starken Ner- zu werden drohten oder bereits zahlungsunfähig geworden ven und klarem Verstand .«16 Einer dieser »Kerle« hockte be- waren, und schuf auf diese Weise einen der weltweit größten kanntlich bereits in Bayern in den Startlöchern: ein gewisser Konzerne . Das Rückgrat seines Imperiums bildete die Rhein- Adolf Hitler und seine »Nationalsozialistische Deutsche Arbei- Elbe-Union GmbH, zu deren Besitz auch das größte Unter- terpartei« (NSDAP) . nehmen für Steinkohleförderung in Deutschland gehörte, die Gelsenkirchener Bergwerks AG . Die Rückzahlung der Darle- Für Stinnes galt in besonderem Maße die folgende Einschät- hen konnte er zum Spottpreis mit dem inzwischen entwer- zung des US-amerikanischen Historikers Gerald D . Feldman: teten Markbeträgen quasi aus der Portokasse zurückzahlen . »Die verhängnisvolle Rolle, die die Schwerindustrie in der po- Andere Industrielle machten es Stinnes nach . So begünstig- litischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Weimarer te die Inflation zugleich den Prozess der Konzentration des Republik gespielt hat, ihre dominierende Rolle bei der For- Kapitals . Als »rechte Hand« des Herrn Stinnes agierte Albert mulierung der Politik der Unternehmer …, wären nicht mög- Vögler, der einige Jahre später Vorstandsvorsitzender der Ver- lich gewesen ohne die Vorteile, die sie aus Krieg und Inflation einigten Stahlwerke AG werden sollte, des größten schwerin- zu erringen wusste .«17 dustriellen Konzerns in Europa . Seit 1920 war Stinnes für die Deutsche Volkspartei auch als Abgeordneter des Reichsta- Natürlich gab es neben den großen Spekulanten à la Hugo ges engagiert . Stinnes auch kleine »Schieber«, die mit Gold und Devisen, mit Im April 1923 löste Hugo Stinnes einen großen Skandal aus, dem Tauschen von vergleichsweise kleinen Markbeträgen ge- als er an der Börse eine ungewöhnlich große Menge Devi- gen ausländisches Geld sowie mit gehorteten und Luxuswa- sen kaufte . Dadurch sackte der Kurs der deutschen Währung ren aller Art dubiose Geschäfte machten . Während in Berlin noch weiter in den Keller; die von ihm in großem Umfang ge- Hunderttausende hungerten, Bettler und Kriegsinvaliden in kauften Devisen wurden allerdings noch werthaltiger . Die- ständig wachsender Zahl in den Wohnvierteln der Wohlha- se »überaus gefährlichen Machenschaften gegen die Mark«, benden, auf den Flaniermeilen und vor den großen Hotels und so nannte der sozialdemokratische »Vorwärts« am 26 . Ap- Restaurants in der Innenstadt um Pfennige oder ein Stück ril 1923 die Finanzspekulationen des Herrn Stinnes, wurden Brot baten, waren diese Herrschaften Stammkunden in Deli- nicht geahndet .14 Gab es überhaupt einen Paragraphen im katessenläden . Auch dieses Thema begegnet uns in Falladas Strafgesetzbuch, der dies ermöglicht hätte? So viel zum »Pa- Roman »Wolf unter Wölfen«: »Man ging in ein Delikatessen- triotismus« deutscher Industrieller in einer Zeit, als die Mas- geschäft – und das Geld mochte noch so wertlos geworden se des deutschen Volkes im wahrsten Sinne des Wortes ums sein, hier standen alle Fächer brechend voll: grüner Spargel Überleben kämpfte . aus Italien, Artischocken aus Frankreich, Mastgänschen aus Polen, Helgoländer Hummer, englische Jams – die ganze Welt »… dass wir Alles wieder kriegen …« gab sich hier ein Stelldichein . Selbst der Kaviar aus Russland Die Inflations- und Spekulationsgewinne wurden staatlich ge- war wieder da – und die seltenen, knappen Devisen, die man duldet, ja gefördert . Bis zum August 1923 passte die Reichs- nur aus Freundschaft und sinnlos teuer bekam – hier konnte bank die von ihr ausgeliehenen Kredite wertmäßig nicht an man sie zentnerweise aufessen .«18

47 1923 – Geld ohne Wert gust 1923 erreichte zum ersten Mal die Parität des US-Dol- Das Jahr 1923 brachte eine neue Entwicklungsstufe der Geld- lars zur Mark 1:1 .000 .000! Arbeiter und Angestellte erhielten entwertung . Sie mutierte von einer Inflation »im gestreckten jetzt mindestens einmal täglich ihren Lohn, der in Taschen Galopp« zu einer bisher nie dagewesenen »Hyper-Inflation« . und Schubkarren transportiert und sofort in Waren umge- setzt wurde . Die seit den Jahren des Ersten Weltkrieges datierenden Be- Die Inflation entwertete jetzt beinahe stündlich den verdien- lastungen des Staatshaushaltes waren nach wie vor nicht aus ten Lohn .22 Millionen Menschen waren mit der Organisierung der Welt geschafft worden . Immer noch existierte zwischen ihrer Grundbedürfnisse befasst . Wie schrieb Hans Fallada: der Staatsschuld und den Einnahmen aus Steuern, Zöllen und »Werden wir uns zu essen kaufen können?« anderen Abgaben eine immer größer werdende Differenz . Aber inzwischen war von den Alliierten die Höhe der Repara- Doch die entscheidende Frage blieb im Katastrophensommer tionen festgelegt worden, die eine schwindelerregende Höhe 1923 unbeantwortet: Gibt es aus Not und Hunger, aus Pers- aufwiesen 19. Insgesamt 132 Milliarden Goldmark waren nach pektivlosigkeit und Zukunftsängsten einen Ausweg? Und was dem »Londoner Zahlungsplan« vom 5 . Mai 1921 fällig, wo- geschieht mit den Herren Stinnes und Co .? Bleibt es dabei, von 2 Milliarden Reichsmark plus 26 Prozent des Wertes der dass im Ergebnis des Ersten Weltkrieg und der Hyperinflati- jährlichen deutschen Ausfuhr als zusätzliche Leistung fällig on eine gewaltige Umverteilung des Vermögens von unten wurden . Als Sicherheit wurden die deutschen Zolleinnahmen nach oben stattgefunden hatte? Oder werden die Kapitaleig- reklamiert . ner endlich zur Finanzierung der öffentlichen Güter heran- gezogen? Müssen die Banken und Großkonzerne sozialisiert Die Reichsregierung unter Wilhelm Cuno verweigerte bzw . und die Kriegs- und Inflationsgewinne eingezogen werden, verzögerte die fälligen Leistungen . An der Jahreswende wie es vor allem die KPD wiederholt in den Jahren der Infla- 1922/1923 war bei der Begleichung der Reparationen ein tion vorgeschlagen hatte? Im Sommer 1923 standen die Zei- Rückstand in Höhe von circa 20 Prozent eingetreten . Während chen auf Sturm . Ereignisreiche Monate im Herbst und Winter die USA und Großbritannien noch keinen Anlass sahen, der sollten folgen . deutschen Regierung ihren Willen abzusprechen, die festge- legten Güter (u .a . Steinkohle, Holz, Telegraphenmasten, Pro- Reiner Zilkenat dukte der chemischen und pharmazeutischen Industrie, le- bendes Vieh) abzuliefern20, ergriff die französische Regierung die Gelegenheit, den deutschen Konkurrenten ökonomisch zu schaden und politisch zu demütigen . Mit der Assistenz Bel- giens marschierten französische Truppen ins Ruhrgebiet ein, Die Berliner Ortsausschüsse des Allgemeinen um »produktive Pfänder« zu nehmen .21 Die in den Kohlegru- Deutschen Gewerkschaftsbundes an Reichskanzler ben geförderte Steinkohle und die in den Fabriken hergestell- Wilhelm Cuno, 26. Februar 1923 ten Waren wurden nach Frankreich bzw . Belgien verbracht und das Ruhrgebiet wirtschaftlich von Deutschland abge- »Mit der Preissteigerung hat die Erhöhung der Löhne und trennt Auch eine Zollgrenze wurde errichtet . Die Regierung Gehälter nicht Schritt gehalten, ihr realer Wert ist im- Cuno proklamierte den »passiven Widerstand« . Deutsche mer weiter unter den der Vorkriegszeit gesunken . Das Staatsbedienstete in den besetzten Gebieten hatten die An- hat und musste zur Folge haben, dass die Arbeitnehmer- weisung, keinerlei Befehlen der Besatzungstruppen Folge zu schaft sich immer weniger das zum Leben Notwendige leisten . Überall in Deutschland kam es zu Produktionsausfäl- kaufen kann und die Unterernährung mit Riesenschritten len, ja Fabrikschließungen, da Kohle, Eisen und Stahl aus dem fortschreitet . So ist es denn auch bereits so weit gekom- Rhein-Ruhrgebiet nicht zur Verfügung stand und die Devisen men, dass selbst in Lohn und Gehalt stehende Arbeit- für die Einfuhr dieser Güter nicht oder nicht ausreichend zur nehmer ihren Kindern nicht mehr die für sie so notwen- Verfügung standen . Die Löhne der Arbeiter wurden immer ge- dige Milch kaufen können . Das ist, so furchtbar es auch ringer, die Kaufkraft sank dramatisch . ist, das aussprechen zu müssen, Kindermord, der noch grausamer ist als der bethlehemitische Kindermord, weil Das wichtigste Resultat dieser Entwicklungen bestand in ei- die Kinder, unsere Zukunft, dadurch zum langsamen Hin- ner Geldentwertung, die als »Hyper-Inflation« zu bezeichnen, siechen verurteilt werden . noch eine Untertreibung darstellt . Tag und Nacht liefen die Die Alten, Arbeitsunfähigen, Sozial- und Kleinrentner und Notenpressen der Reichsbank und auch privater Druckerei- die Arbeitslosen sind dem gleichen grausamen Schicksal en . Da das hier produzierte Geld für den Zahlungsverkehr überliefert, denn niemand wird behaupten können oder immer noch nicht ausreichte, wurde in vielen Gemeinden, wollen, dass sie mit den kargen Mitteln, die sie als Unter- Städten und Betrieben, z .B . bei der Deutschen Reichsbahn, stützung erhalten, sich auch nur das Notdürftigste zum eigenes »Notgeld« gedruckt . An der Monatswende Juli/Au-

48 Leben kaufen könnten . Auch sie sind also zum langsamen Die Berliner Ortsausschüsse des Allgemeinen Hungertode verurteilt . An Anschaffung von Kleidung und Deutschen Gewerkschaftsbundes an Reichskanzler Wäsche etc . kann überhaupt nicht gedacht werden . Man Gustav Stresemann, 17. September 1923 braucht sich darum nicht zu wundern, dass heute schon viele tausend Kinder der Ärmsten kein Hemd mehr auf dem »Und endlich ersuchen wir, rücksichtslos dagegen einzu- Leibe haben . (…) schreiten, dass für unentbehrliche Bedarfsgegenstände, Wir … erwarten, dass nunmehr endlich der Stimme der Ar- vor allem für Lebensmittel, Preise gefordert werden, die beitnehmerschaft Gehör geschenkt wird, bevor es zu spät über den Weltmarktpreisen stehen . Diese Preise müssen ist . Wir glauben umso mehr ein Recht zu dieser Forderung als Wucher gekennzeichnet und gegen diejenigen, die die zu haben, als auf der anderen Seite Riesengewinne erzielt Not des Volkes zu ihrem persönlichen Vorteil ausbeuten, werden und Luxus und Verschwendung…getrieben wird . unerbittlich mit der ganzen Schärfe des Gesetzes vorge- Und das sind dieselben Kreise, die es verstehen, sich den gangen werden . Die Löhne und Gehälter stehen in einem Pflichten gegenüber dem Staat und der Allgemeinheit zu so schreienden Missverhältnis zu der gegenwärtigen Teue- entziehen, indem sie zu Steuern nicht im Entferntesten das rung, dass es mit Recht die Erbitterung und Empörung der leisten, wozu sie nach ihrem Einkommen und ihrem Ver- Arbeitnehmer dagegen auslösen muss, deren Lage eine mögen verpflichtet wären . Das muss den Volkszorn bis zur geradezu trostlose geworden ist . Wie dann die Lage der Siedehitze steigern .« Kurzarbeiter, Unterstützungs- und Rentenempfänger sein muss, darüber glauben wir kein Wort verlieren zu brau- Aus: Die Gewerkschaften in den Anfangsjahren der chen .« Republik 1919–1923, bearbeitet von Michael Ruck, Köln 1985 (Quellen zur Geschichte der deutschen Aus: Die Gewerkschaften in den Anfangsjahren Gewerkschaftsbewegung im 20 .Jahrhundert, Bd . 2), der Republik 1919–1923, Dokument 97, s . 933 f . Dokument 81, s . 805 ff .

Aus einem Leitartikel der dem Alldeutschen Aus dem Aufruf der Zentrale der KPD Verband nahestehenden »Deutschen Zeitung« vom vom 31. August 1923 16. November 1923

»Soll Ordnung gebracht werden in die Wirtschaft Deutsch- »Die Ordnung im Innern wird nicht geschaffen, indem man lands, so kann das nur mit proletarischen Methoden ge- einfach die Zustände, wie sie 1914 waren, wieder herbei- schehen: Ohne Kontrolle des Handels und der Industrie zuführen sich bestrebt . Das Deutschland mit den Ordnun- durch die Arbeiter und Angestellten; ohne Erfassung der gen von 1914 ist endgültig zerschlagen, ist im Krieg besiegt Sachwerte, Beschlagnahme der Devisen unter Kontrol- und würde, selbst wenn es wiederhergestellt würde, in den le der Arbeiter und Angestellten; ohne Beschlagnahme großen kommenden außenpolitischen Wandlungen untüch- der großen Vermögen; ohne Sicherstellung der Ernährung tig sein . (…) Wir gebrauchen eine Innenpolitik, die sich auf durch Brechung der Anbausabotage der Großagrarier kön- die Arbeiter und auf den Mittelstand stützt . Diese Schich- nen nicht einmal die ersten Schritte zur Reinigung des Au- ten sind wirtschaftlich und kulturell an das Bestehen des giasstalles gemacht werden . Reiches gebunden . Eine auf diesen Gruppen fußende, ein- Aber keiner dieser Schritte kann durch bürokratische Schritte deutig nationale Politik wird die Landwirtschaft und auch ersetzt werden: Die Kontrolle der Produktion kann nur durch weiteste Kreise der Industrie auf ihre Seite bekommen . Das die Betriebs- und Angestelltenräte durchgeführt werden, und Schwierige ist nur die Frage, wie in der Arbeiterschaft das nur gestützt auf diese Klassenorgane der werktätigen Mas- in ihr schlummernde, durch eine falsche Behandlung und se kann eine Regierung den Anfang machen zur Besserung die darauf fußende erfolgreiche sozialdemokratische und der Lage .« gewerkschaftliche Agitation verdeckte Nationalbewusst- sein, der Wille, sich rückhaltlos für das Reich einzusetzen, Aus: Dokumente und Materialien zur Geschichte der wieder geweckt wird .« deutschen Arbeiterbewegung, Bd . VII, 2 . Halbband, hrsg, vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Aus: Deutsche Zeitung, Nr . 505, 16 . ovembern 1923, Berlin-DDR 1966, Nr . 367, s . 411 . Dr . Fr . Nonnenbruch: Nationale Politik .

49 12 s iehe Ursula Büttner: Weimar . Die überforderte Republik 1918–1933 . Leis- 1 stark erweiterte Fassung eines Beitrages, der zuerst in der »jungen welt« am tung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Bonn 2012, 30 .7 .2013, s .10 f ., unter dem Titel »Arbeiten, um zu hungern« erschienen ist . s . 153 ff . In den großen Zusammenhang der beträchtlichern Einflussnah- 2 Erstes Kapitel: »Man erwacht in Berlin und anderswo«, 3 . abschnitt . me der industriellen Verbände und Großunternehmen auf die Regierungs- 3 Hierzu findet sich reichhaltiges Material in den Beständen »Reichsministe- politik wird diese Thematik von Manfred Nussbaum: Wirtschaft und Staat in rium des Innern« (R 1501) und »Reichskommissar für Überwachung der öf- Deutschland in der Weimarer Republik, s .87 ff ., gestellt . fentlichen Ordnung« (R 1507) im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, z .B . R 13 manchester Guardian, 12 .3 .1921: The most powerful man in (From 1507/217 u . 218 . our Berlin Correspondent), in: Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv, Pres- 4 Der Reichsbote, Nr . 420, 28 .8 .1919: Das Judentum – Deutschlands Verderb semappe 20 . Jahrhundert, http://webopac .hwwa .de/DigPersPDF/017164/ (Exemplar in: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 8034 II/1484, Bl . 11) . PIC/P01716400210000000H .pDF . 5 siehe Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht . Die Kriegszielpolitik des kaiser- 14 Vorwärts, Nr . 194, 26 .4 .1923: Stinnes und der Marksturz . lichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1967 (Sonderausgabe), s . 87 ff .; 15 s iehe Fritz Blaich: Der Schwarze Freitag . Inflation und Wirtschaftskrise, Wolfgang J . Mommsen: Die Kontinuität des Irrtums . Das Deutsche Reich an s . 45 . der Schwelle zum totalen Krieg, in: derselbe: Der Erste Weltkrieg . Anfang vom 16 Zitiert nach: Unternehmer im Nationalsozialismus, hrsg . von Lothar Gall u . Ende des bürgerlichen Zeitalters, Bonn 2004, s . 79 ff . Als marxistische Ana- Manfred Pohl, München 1998, s .98 . lyse siehe Alfred Schröter: Krieg-Staat-Monopol 1914–1918 . Die Zusammen- 17 Gerald D . Feldman u . Heidrun Homburg: Industrie und Inflation . Studien und hänge von imperialistischer Kriegswirtschaft, Militarisierung der Volkswirt- Dokumente zur Politik der deutschen Unternehmer 1916–1923, Hamburg schaft und staatsmonopolistischem Kapitalismus in Deutschland während 1977, s . 170 . des ersten Weltkrieges, Berlin-DDR 1965, bes . s . 40 ff . 18 Drittes Kapitel: »Jäger und Gejagte«, 5 . abschnitt . Außer auf Hans Falladas 6 s iehe hierzu die mit vielen interessanten Details gespickte Darstellung von Roman »Wolf unter Wölfen« sei hier ausdrücklich auf Joseph Roths »Rechts Karl Helfferich: Der Weltkrieg, II . Bd ., Berlin 1919, s . 22 ff ., bes . 34 ff . und links« (Erstveröffentlichung 1929) sowie auf Erich Maria Remarques »Der 7 Die Zahlengaben in diesem Text folgen zumeist: Manfred Nussbaum: Wirt- schwarze Obelisk« (Erstveröffentlichung im US-amerikanischen Exil) hinge- schaft und Staat in Deutschland während der Weimarer Republik, Berlin- wiesen, die das Thema »Inflation« literarisch aufgearbeitet haben . DDR 1978; Fritz Blaich: Der Schwarze Freitag . Inflation und Wirtschaftskri- 19 Zum Folgenden siehe die insgesamt sehr sachliche zeitgenössische Darstel- se, München 1985 sowie Prof . Dr . Rainer Goemmel: Deutsche Wirtschaft lung von Carl Bergmann: Der Weg der Reparation . Von Versailles über den und Wirtschaftspolitik 1914–1945, Regensburg 2009/2010 (http://www- Dawes-Plan zum Ziel, Frankfurt a .m . 1926, bes . s .95 ff . (zum »Londoner Zah- wiwi .uni-regensburg .de/images/institute/angegliedert/goemmel/Deut- lungsplan« 1921) u . 271 ff . (zum Dawes-Plan 1923/1924) . Zum Gesamtzu- sche_Wirtschaft_und_Wirtschaftpolitik_1914–1945-komplette_vorlesung . sammenhang sind nach wie vor als Standardwerke unverzichtbar: Karl-Hein- pdf . In der einschlägigen Fachliteratur finden sich zu den gleichen Sachver- rich Pohl: Weimars Wirtschaft und die Außenpolitik der Weimarer Republik halten nicht selten unterschiedliche Zahlenangaben . In der Regel dürfte das 1924–1926 . Vom Dawes-Plan zum Internationalen Eisenpakt, Düsseldorf der Ausdruck der im Vergleich zu heute mangelnden Exaktheit in der Arbeit 1979 u . Werner Link: Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutsch- unterschiedlicher statistischer Ämter sein bzw . zeugt von verschiedenartigen land 1921–1932, Düsseldorf 1970, s . 44 ff . u . 203 ff ., bes . 260 ff . Grundlagen bei der Erhebung der betreffenden Daten . 20 Von den »Sachleistungen« profitierten neben Frankreich und Belgien beson- 8 siehe Karl Helfferich: Der Weltkrieg, II .Bd ., s .153 ff ., bes . 160 ff ., mit z . t . in- ders Serbien (Jugoslawien) und Italien . teressanten Eingeständnissen . 21 s iehe Wolfgang Ruge: Deutschland von 1917 bis 1933, 3 . ufla ., Berlin-DDR 9 Ebenda, s .159 . 1978, s . 200 ff .; Hans Mommsen: Aufstieg und Untergang der Republik von 10 Derselbe: Reden und Aufsätze aus dem Kriege, Berlin 1917, s . 145 . Weimar 1918–1933, 2 . usgabe,a München 2001, s .169 ff . 11 Zu Helfferich siehe auch Karl Helfferich zum Gedächtnis . Reden am Sarge 22 s iehe Andreas Kunz: Verteilungskampf oder Interessenkonsensus? Einkom- in Mannheim am 30 . april 1924, Berlin o .J . Zu den Trauerrednern gehörte mensentwicklung und Sozialverhalten von Arbeitnehmergruppen in der Infla- neben anderen Prominenten Emil Georg von Stauß, Direktor der Deutschen tionszeit 1914 bis 1924, in: Die deutsche Inflation . Eine Zwischenbilanz, hrsg . Bank, der später Vorstands- bzw . Aufsichtsratsvorsitzender dieses Finanzin- v . Gerald D . Feldman u .a ., Berlin u . New York 1982, s .347 ff ., bes . die Schau- stituts wurde . Helfferich war überdies der Schwiegersohn des langjährigen bilder u . statistischen Daten, s . 373 ff . Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Georg von Siemens .

50 Staatsarchiv Potsdam, Rep 30, Bln . C Nr . 7488, Bl . 15 (jetzt im Landesarchiv Berlin)

51 Der faschistische Werkschutz – ein Mordinstrument in der Judenvernichtung

Auch der Werkschutz, das »betriebliche Terrororgan« in der auf dem Erdölgebiet« zu befriedigen, wurde die deutsche Öl- Zeit zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und den be- wirtschaft in einem staatsmonopolistischen Unternehmen setzen Gebieten, war an der Judenvernichtung des faschis- zentralisiert . Diese riesige Monopolgesellschaft, die Kon- tischen Staates beteiligt . Der Werkschutz übernahm als ein tinentale Öl AG, sollte gemäß der Weisung Görings »unter Organ in den Betrieben geheimpolizeiliche, polizeiliche, mili- staatlicher Leitung stehen, jedoch im übrigen völlig nach tärische und ökonomische Funktionen, um letztendlich die Ar- privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten von der Privatwirt- beiterklasse zu unterdrücken . Er agierte ganz im Sinne Hein- schaft geführt werden .« Die Dresdner Bank rühmte sich mit rich Himmlers als innere Wehrmacht . Dafür wurde er ab 1933 ihrer »führenden Rolle bei der Finanzierung dieser Unterneh- sukzessive in den deutschen Betrieben durch den faschisti- mung .« Sie war mit einem Drittel an der Monopolgesellschaft schen Staat in Übereinstimmung mit Kreisen des Finanzkapi- beteiligt . Die ständige Federführung lag jedoch bei der Deut- tals aufgebaut 1. Unter dem Begriff Werkschutz subsumieren schen Bank, die der Dresdner Bank nur eine »Mitführung« zu sich die Positionen des Hauptabwehr- bzw . Konzernabwehr- gestand 5. Die Kontinentale Öl AG expandierte rasch Richtung beauftragten in wenigen Großbetrieben wie der I .G . Farben, Osten . Sie erhielt vom Wirtschaftsministerium die Ausbeu- Daimler Benz AG, Junkers AG, oder der Krupp AG, die Abwehr- tungsrechte für die reichen sowjetischen Erdölfelder . 1941 beauftragten, die ihm unterstellten oder in Personalunion ver- erhielt sie die Anweisung, spezielle Betriebe unter der Hol- bundenen Werkschutzleiter und die hauptamtlichen und ne- ding für die Ausbeutung verschiedener Ölregionen in den benamtlichen Werkschutzmänner . Dieses Personal war bei besetzten Gebieten aufzubauen unter anderen für die Balti- den jeweiligen Betrieben angestellt .2 Die Stärke des Werk- schen Staaten . Für dieses Gebiet wurde im Juli 1941 die Bal- schutzes stieg bis 1945 rapide an . Allein aus dem Bereich der tische Öl- GmbH gegründet . Staatspolizeistelle Darmstadt wurden 1944 2000 Werkschut- Für die Ausplünderung der baltischen Ölschiefervorkommen zangehörige gemeldet .3 wurden vor allem sowjetische Kriegsgefangene und »Ostar- Seine über den Betrieb hinausgehende staatliche Funktion beiter« zur Zwangsarbeit eingesetzt . Im Herbst 1943 wurden zeigte sich nicht nur an der Durchführung von Morden an den mehr als 10 000. Zwangsarbeiter in den estnischen Ölschie- Juden, wie die Massenhinrichtungen an jüdischen Häftlingen fergruben ausgebeutet . Insgesamt sollen in der Zeit der Be- durch den Werkschutz der HASAG auf dem Werksgelände, satzung 3,22 Millionen t Ölschiefer gefördert worden sein 6. sondern der Werkschutz war an groß angelegten Mordaktio- Dieser massive Einsatz von Zwangsarbeitern bedurfte natür- nen unter der Führung des RSHA in den »Ostgebieten« betei- lich eines Terrororgans und somit den Aufbau eines Werk- ligt . Es kam sogar zu seiner organisatorischen Einbettung in schutzes . Dafür griff die Kontinentale Öl AG auf das Spitzen- die Einsatzgruppen in den besetzten Gebieten der Sowjetuni- personal des RSHA zurück, zu dem man beste Verbindungen on, in Form von Einsätzen von Abwehrbeauftragten . Dies war pflegte . Da so eine Stelle in der Industrie eine hohe Bezah- nur die folgerichtige Entwicklung, da es Reinhard Heydrich, lung versprach, war es nicht schwer, Freiwillige zu finden . dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD, spätesten 1939 Diesen Schritt in die »freie Wirtschaft« wagte auch SS-Sturm- gelang, die Abwehrbeauftragten und somit den Werkschutz bannführer Heinz Wossagk .7 Er war von 1932 bis 1941 haupt- als »Hilfsorgan« strukturell an die Gestapo und den SD zu bin- amtlich im SD tätig . Nach der Tätigkeit in einer Außenstelle den, und so zu einem Instrument der faschistischen Geheim- leitete er die Technische Abteilung im SD . Später wurde er polizei zu machen . Diese Entwicklung fiel nicht zufällig mit »im Rahmen seines Amtes« mit Sonderaufgaben betraut . Da- der Gründung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), dem zu gehörten Einsätze in Österreich, Sudetenland und in Prag . organisatorischen Abschluss der Zentralisierung und Verein- Dabei handelte es sich um Mordkampagnen an politischen heitlichung des geheimpolizeilichen Apparates, zusammen 4. Gegnern der Faschisten . Nach dem deutschen Überfall auf Polen war Wossagk im Stab der Einsatzgruppe IV tätig, die Öl, Zwangsarbeit und Massenmord – für die Ermordung von 80 000. Menschen verantwortlich war . Der Werkschutz der Kontinentale Öl AG Während seiner Mordtaten hatte sich Wossagk »durch Fleiß Das drängendste Problem des faschistischen Staates blieb und Gewissenhaftigkeit ausgezeichnet« . Die »ihm gestellten bis zum Ende die Versorgung der Industrie und der Militär- Aufgaben« hatte er »stets zur Zufriedenheit seiner Vorgesetz- maschinerie mit Öl . Um die »Gesamtinteressen Deutschlands ten ausgeführt .« Im November 1941 schied Wossagk auf ei-

52 genen Wunsch aus dem hauptamtlichen Dienstverhältnis des rung pflegte und die HASAG als »Hauslieferant der Waffen- RSHA aus, um »die Tätigkeit eines Abwehrbeauftragten bei SS« galt . Hohe und gut dotierte Positionen in der Verwaltung der Baltischen Öl-GmbH übernehmen zu können .« Wossagk wurden auf Betreiben Budins und Himmlers mit ausgemus- blieb in seiner Funktion als Abwehrbeauftragter ehrenamtli- terten SS-Generälen besetzt . In einem Schreiben an SS-Ober- cher Mitarbeiter des Amtes VI im RSHa . Im Februar 1942 er- gruppenführer Wolff hob Budin dann auch hervor, das die HA- hielt er das Kriegsverdienstkreuz 2 . Klasse 8. SAG-Werke »von SS-Kameraden in leitender Position und in Im Juni 1943 befahl Himmler die Auflösung der noch im Bal- sonstigen Stellungen« durchsetzt war, so dass er häufig »von tikum verbliebenen Juden-Ghettos . Die arbeitsfähigen Juden anderer Seite die Angaben entgegennehmen musste, das die sollten auch in den Ölschieferwerken der Baltikum Öl-GmbH HASAG mehr und mehr zu einem SS-Betrieb wird «. 13 Auch im eingesetzt werden . Am 19 . september wurde dazu das KZ Va- Bereich des Werkschutzes wurde früh auf die Kooperation ivara errichtet . Das KZ wurde unter der Führung des Abwehr- mit der SS, insbesondere den Nachrichtendienst, dem SD, beauftragten Wossagk und des ihm unterstellten Werkschut- gesetzt . 1938 stellte Budin den zum SD gehörenden SS-Un- zes aufgebaut . Für diese Tätigkeit wurde Wossagk gemäß tersturmführer Axel Schlicht als Werkschutzleiter des Leip- Runderlass »als ehrenamtlicher Mitarbeiter zur Dienstleis- ziger Hauptwerkes an . Im selben Jahr wurde Budin in die SS tung« zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei nach Riga aufgenommen . In Polen, wo die HASAG Betriebe besaß, war kommandiert 9. Offensichtlich konnten Gestapo und SS ohne Budin bereit, eine »harte Linie« gegenüber den Zwangsarbei- Bedenken den Werkschutz der deutschen Industrie in die Er- tern zu fahren . Im November 1939 schrieb er SS-Hauptsturm- richtung ihrer Mordstätten einbeziehen . führer Schallermeyer im persönlichen Stab Himmlers, dass Dieses einmütige Handeln von Staat und Wirtschaft zeigte es »dringend notwendig« sei, in Kamienna zwei Gestapo-Leu- sich auch im Einsatz des Werkschutzes in der Judenvernich- te einzusetzen . Die Fabrik in Kamienna war im Auftrag des tung außerhalb der betrieblichen Einrichtungen . Die Konti- OKH und des RLM sofort durch die HASAG und die Firma nentale Öl AG konnte auf einen ausgebildeten Stamm von Röchling »in Gang zu setzen« . Es waren bisher 1000 Polen zur Werkschutzmännern zurück greifen . Dafür wurde ein Werk- Zwangsarbeit eingesetzt . Da »schnell und zielbewußt« gear- schutzausbildungslager in Moderowka in der Nähe von Kra- beitet werden sollte, war mit einem »stetigen Wachstum« zu kau errichtet . Dieses Gebiet war ein Zentrum der Judenver- rechnen . Die HASAG wollte daher »auch auf dem politischen nichtung . Im Sommer 1942 wurden im Distrikt Krakau zwei Gebiete von Anfang an unbedingt Klarheit haben« . »Sei es »Aussiedlungsaktionen«, die Deportation nach Belzec und zum Schutze der zahlreich eingesetzten deutschen Kaufleu- Ermordung von polnischen Juden vor Ort, durch die Gesta- te und Techniker [oder] sei es zur Überwachung der Polen po durchgeführt . Der Außenstelle Jaslo des Kommandeurs und der wertvollen Fabrikanlagen, dies umso mehr, da wir der Sicherheitspolizei in Krakau wurden zu dieser Aktion die mit Pulver und mit Sprengstoff arbeiten .« Die zwei »Gestapo- Werkschutzmänner des Ausbildungslagers in Moderowka un- Kameraden« sollten sich bei ihrem Eintreffen sofort mit dem terstellt . Der Werkschutz war in den Orten Zmigrod, Bobow, dortigen Stellvertreter Budins, dem Betriebsführer der HA- Krosno, Strokoka und Gorlice an der Verschleppung der jü- SAG in Skarzysko- Kammienna, SS-Standartenführer Dalski, dischen Familien aus den Wohnungen, dem Abtransport der in Verbindung setzen . Der dortige Werkschutz sollte personell Menschen in das KZ Belzec, der Verschleppung der Opfer durch SS-Männer gestellt werden . zu den Erschießungsstellen, deren Umstellung während der Im November 1939 schrieb Budin in dieser Sache an den per- Massaker und deren Ermordung beteiligt 10. In Gorlice wurden sönlichen Stab Himmlers . Es wäre ihm »lieb, wenn Sie veran- die Juden auf einem öffentlichen Platz zusammen getrieben, lassen würden, das sofort 30 SS-Männer … von Krakau oder ihrer letzten Habseligkeiten, wie Schmuck und andere Wert- Lodsch, am besten Lodsch, freigemacht werden, um in Ka- gegenstände beraubt und dann abtransportiert 11. mienna als unsere Werkschutzbeamten in der früheren pol- Nach dem Krieg lebte Heinz Wossagk von den Justizbehörden nisch-staatlichen Munitionsfabrik … angesetzt zu werden .« der BRD unbehelligt in München . Die Staatsanwaltschaft der Sie sollten ledig, im Alter von 25–35 Jahren und körperlich DDR ermittelte dagegen in den obengenannten Kriegsverbre- rüstig und gut ausgebildet sein . Zudem forderte Budin von chen gegen ehemalige Werkschutzangehörige der Kontinen- ihnen »Disziplin bis in die letzten Knochen«, Intelligenz und tale Öl AG . Einer der Beschuldigten war der am 3 .9 .1913 ge- vollen Willen zu Arbeit, sowie Fähigkeiten in der deutschen borene Oberwachführer Herbert Schneider . Er war im Lager und polnischen Sprache . Falls »Lodsch« von Himmler »ange- in Moderowka als Kompanieführer und Ausbilder tätig 12. wiesen wird, die Auslese zu treffen«, so sollte Dalski nach »Lodsch« fahren und das weitere hinsichtlich der Ausmuste- Der Werkschutz der HASAG – rung und der Mitnahme der Leute nach Skarzysko- Kammi- Massenmord auf dem Betriebshof enna regeln . »In seiner Begleitung würde sich der inzwischen Die HASAG war als einer der größten Munitionsproduzenten angesetzte Werkschutzleiter SS-Obersturmführer Krause be- Europas eng mit der Dresdner Bank, der sogenannten »SS- finden .« Zu weiteren Information teilte Budin mit, das bereits Bank«, verflochten . Es ist daher nicht überraschend, dass zehn Werkschutzmänner mit einem Wachführer in Skarzysko- der Generaldirektor Paul Budin beste Kontakte zu SS-Füh- Kammienna eingesetzt wurden, um in Zusammenarbeit mit

53 Soldaten der Wehrmacht »für die Sicherheit unserer Kaufleu- alle Häftlinge wurden daraufhin in den umliegenden Wäldern te und Techniker einzustehen .« Budin wollte »jedoch grund- vom Werkschutz ermordet 18. sätzlich den Werkschutz ausbauen, um Personen und Werks- anlagen mit eigenem Werkschutzpersonal zu schützen .«14 Die Abwehrbeauftragten bei den Einsatzgruppen Nachdem die polnischen Zwangsarbeiter ins Reich abgege- Die Chefs der Einsatzgruppen waren als Beauftragte der Si- ben wurden, setzte die HASAG Juden zur Arbeit ein . Insgesamt cherheitspolizei im Heeresgebiet mit sicherheitspolitischen überließ das WVHA der HASAG 25000 »Arbeitsjuden« in Polen, Aufgaben betraut, die über die unmittelbare Organisierung von denen mehr als die Hälfte beim Arbeitseinsatz starben . Bu- des Massenmordes hinausgingen . Dazu zählten nicht zu- din war, ganz Kapitalist, mit ihnen »mehr als zufrieden in Bezug letzt die »Sicherheitsinteressen« der deutschen Wirtschaft auf Leistung und Haltung« .15 In Skarzysko- Kammiena hatte die in den besetzen Gebieten der Sowjetunion . Hunderttausen- HASAG drei Werke in denen jeweils ein »Judenlager« mit einem de Zwangsarbeiter wurden dort in den geraubten Betrieben Lagerkommandanten der SS eingerichtet wurde . Für die Be- ausgebeutet 19. In diesem Kontext beteiligte sich die Einsatz- wachung der Häftlinge war der Werkschutz der HASAG unter gruppe B auch an der Überprüfung des »reichsdeutschen« einem SS-Hauptsturmführer zuständig . Die Stärke des haupt- Personals in »reichsdeutschen Betrieben«, die im Bereich der amtlichen Werkschutzes betrug ca . 180 Mann . Die Lager un- Heeresgruppe Mitte eingesetzt waren . Beim Chef der Einsatz- terstanden der Aufsicht des hiesigen SS- und Polizeiführers 16. gruppe B, SS-Oberführer Naumann waren 1942 »an einem In der folgenden Zeit war der Werkschutz der HASAG direkt Tag Listen mit ca . 300 zu überprüfenden Personen abgege- am Mord an den Juden beteiligt . Die jüdischen Zwangsarbei- ben« worden . Die Überprüfung konnte aus seiner Sicht nicht ter, unter ihnen viele Frauen, wurden in überbelegten und total vor Ort erfolgen, sondern musste mit Hilfe der reichsdeut- verdreckten Baracken untergebracht . Es fehlte an sanitären schen Dienststellen der Sicherheitspolizei und des SD vorge- Einrichtungen . Die Arbeiter waren unzureichend bekleidet und nommen werden . Das bedeutete, dass für jede einzelne Per- unterernährt . Die Frauen und Männer mussten täglich zwölf son von ihm »durch Fernschreiben oder Funkspruch bei der Stunden in der Granatenproduktion arbeiten . Besonders das zuständigen zentrale Dienstelle im Reich ein Überprüfungs- Werk C galt als die »Todesfabrik« . Jeden Tag starben dort 25 antrag gestellt werden« musste, die wiederum die regionalen bis 60 Menschen . Die »Vernichtung durch Arbeit« spiegelte Dienststellen an den entsprechenden Wohnorten der Perso- sich in den dortigen Arbeitsbedingungen wieder . Das Werk nen in Anspruch nehmen musste . Sollte der Befehlshaber im C war das »berüchtigste von allen Werken, tief im Wald ver- Heeresgebiet Mitte trotz dieses bürokratischen Weges dar- borgen … Gelbe Menschen in Papier gekleidet, das mit Strip- auf bestehen, dass eine Überprüfung dieser Kräfte durchzu- pen und Drähten zusammengehalten ist …Alles im Wald ist führen sei, sollten das OKW, sowie Himmler und Heydrich die gelb . Gelbe Baracken, Bäume und Blätter, so wirken die gifti- »notwendigen Abmachungen« treffen . »Zur Vermeidung von gen Substanzen, die aus den Werkhallen strömen … Die Frau- Unzuträglichkeiten, die aus dem Verhalten möglicherweise en sind rothaarig (Einwirkung des Pikrins auf Haar), haben ro- vorhandener einzelner Unzuverlässiger entstehen könnten« te Nägel, und sogar ihre Augen im gelben Gesicht scheinen hielt Naumann es für »zweckmäßig, wenn für jede einzelne gelb zu sein . In der Halle befinden sich zwei riesige Kessel, in hier mit reichsdeutschen Kräften eingesetzte Firma ein po- welche der Trotyl hineingeschüttet wird . Die Luft ist voller Tro- litisch-polizeilicher Abwehrbeauftragter eingesetzt werde .« tylstaub, der Tränen aus den Augen presst, den Atem beraubt »Mit der Einrichtung eines Abwehrbeauftragten, der sorgsam und Husten hervorruft . … Es wird ohne Schutzkleidung, Mas- ausgewählt werden müsste«, wäre nach seiner Meinung, »die ken, Brillen und Handschuhe gearbeitet … Die wenigen die aus Gewähr gegeben, dass möglicherweise vorhandene einzelne dem Lager und von der Arbeit mit Trotyl lebend davon kamen, unzuverlässige Elemente rechtzeitig erkannt und ausgeschal- hatten Tuberkulose .«17 War diese Arbeit nicht schon tödlich tet werden konnten .« Naumann schlug diese Vorgehenswei- genug, wurden die Arbeiter von Meistern, Vorarbeitern und vor se dem Kommandierenden General der Sicherungstruppen allem dem Werkschutz in mörderischer Weise terrorisiert . Die und Befehlshaber im Heeresgebiet Mitte sowie dem RSHA Brutalität und Mordlust brach sich in Ohrfeigen, Schlägen mit vor . Dem RSHA machte er zudem den Vorschlag, dass die dem Stock, Gummischlauch, Stahlrohr, Riemen oder Brech- Beauftragung mit der Tätigkeit eines politisch-polizeilichen stangen Bahn . Es kam zu öffentlichen Auspeitschungen der Abwehrbeauftragten zunächst provisorisch durch ihn ausge- Häftlinge . 1943 erhängte der Werkschutz zur Abschreckung sprochen wurde . Vier Wochen später gab Heydrich den Aus- und Disziplinierung sechs Menschen auf dem Werkhof . führungen von Naumann seine Zustimmung und veranlass- Der Werkschutz führte regelmäßige Selektionen durch . Im te in den anderen Einsatzgruppen ebenso so zu verfahren .20 Anschluss erschoss er die Arbeitsunfähigen und Kranken auf dem betriebseigenen Schießplatz . Die Opfer wurden in einem Betriebsurlaub für den »freiwilligen Osteinsatz« – Massengrab verscharrt . Eine letzte große Selektion fand im Der Konzernabwehrbeauftragte der Junkers AG Juli 1944 kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee statt . In als Führer von Einsatzkommandos der Nacht zum 30 . Juli unternahmen rund 250 Häftlinge des Otto Wendland bekleidete vor seiner Position als Sicherheits- Werks C einen Fluchtversuch . Dieser scheiterte jedoch . Fast direktor und Konzernabwehrbeauftragter der Junkers Flug-

54 zeug- und Motorenwerke AG leitende Funktionen innerhalb Wendland offenbar einer Strafverfolgung wegen seiner ver- des SD .21 1935 wurde er von der Allgemeinen SS zum SD brecherischen Tätigkeit im Faschismus entziehen 25. versetzt und übernahm die Stellung eines Außenstellenlei- ters . 1938 war er Führer des SD-Unterabschnittes Pommern- Stephan Jegielka West .22 Er galt laut seinen Vorgesetzten als »zielbewusster Unterabschnittsführer, der seinen Unterabschnitt in kurzer Zeit erfolgreich neu aufgebaut« hatte . Der »energische und zielbewusste SS-Führer mit guter weltanschaulicher Ausrich- 1 In einer Information an alle Dienststellen der Berliner Städtischen Gaswerke, Gasag, vom 31 . Oktober 1939 heißt es, das »zur Durchführung aller erfor- tung« war unter seinen Kameraden »besonders beliebt «. Sei- derlichen abwehrtechnischen Maßnahmen … mit sofortiger Wirkung die Abt . ne »gute soldatische Erscheinung« und sein »tadelloses Auf- Werkschutz gebildet« wurde . Zu deren Aufgabengebiet gehörte, »die Führung der Werkschutz-Wachmannschaften, die Ausstellung und Rückgabe sowie Än- treten« prädestinierten ihn für höhere Aufgaben . 1939 wurde derung von Werksausweisen, die Bearbeitung von Vorfällen kriminellen und er Führer des SD-Leitabschnittes Stettin . Am 1 . mai 1941 politischen Charakters, die Bearbeitung von Spionage- und Sabotagefällen« wurde er »bis auf weiteres« für den »hauptamtlichen Dienst sowie »die Bearbeitung von Fällen der Arbeitsverweigerung und der Störung des Arbeitsfriedens .« Ähnliche Schreiben gab es zum Beispiel bei der AEG . des SD/RFSS« beurlaubt, um eine Stellung als Sicherheits- Landesarchiv Berlin (LA Berlin), A Rep . 259 Nr . 400, Berliner Städtische Gas- direktor bei der Junkers AG in Dessau anzutreten . Das hielt werke, »An alle Dienststellen« Nr . 77/39, 31 .10 .1939 . Bundesarchiv Berlin (BA Lichterfelde), R58/797 Bl . 10, Dienstanweisung: Der Abwehrbeauftragte den SS-Oberabschnitt Mitte jedoch nicht davon ab, Wendland (Abwb) bei Rüstungsbetrieben, 20 .8 1935. . LA Berlin, A Rep . 227-02 Nr . 31, im Juni 1942 die kommissarische Führung des SS-Abschnit- AEG Apparatefabriken Treptow, Rundschreiben Nr . 377, 1 .9 1938. . LA Berlin, tes XVI, Dessau, ehrenamtlich zu übertragen . Vom 10 . Juni A Rep . 227-02 Nr .31, AEG Apparatefabriken Treptow, Rundschreiben Nr .354, Betrifft: Werkschutz, 21 .2 1939. . Klaus Drobisch: Der Werkschutz – betriebli- 1942 bis 10 . eptembers 1942 meldete sich Wendland für ches Terrororgan im faschistischen Deutschland, in: Jahrbuch für Wirtschafts- den »freiwilligen Osteinsatz .« Die Firma Junkers beurlaubte geschichte, Berlin 1965, s . 217–239 . Klaus Drobisch: »Kriegsschauplatz In- nerdeutschland« Sicherheitspolitische Vorbereitungen und Einübungen seit ihn für diese Zeit, in der er das Einsatzkommando 9 und das 1935/36, in: Kurt Pätzold: Der Weg in den Krieg, Köln 1989, s . 42 . Sonderkommando 7a der Einsatzgruppe B im mittleren Front- 2 In einem Konzern wie den I .G . Farben, der sich auf mehrere Werke bzw . Stand- abschnitt in der Sowjetunion »vertretungsweise« führte .23 orte verteilte, stand der Werkschutz der einzelnen Werke unter Führung der jeweiligen Abwehrbeauftragten, und diese unterstanden einem Haupt- bzw . Die Einsatzgruppe B, war seit dem faschistischen Überfall auf Konzernabwehrbeauftragten . Bei der I G. . Farben wurde das Vorstandmit- die Sowjetunion mit der Heeresgruppe Mitte in Richtung Os- glied Christian Schneider 1940 Hauptabwehrbeauftragter . Er leitete daneben die Zentrale Personalabteilung und war seit 1939 Hauptbetriebsführer der ten vorgestoßen . Bis Ende 1941 hatte sie in Weißrussland ca . I G. Farben. . Die Einsetzung der Werkschutzleiter und Werkschutzmänner er- 46 .000 Juden ermordet . Als Wendland seinen »Osteinsatz« folgte in der Zusammenarbeit der Betriebe mit dem SD, wobei in wichtigen Be- begann, ging die Ermordung der restlichen weißrussischen trieben SS-Führer im SD berücksichtigt wurden . Auch in diesem Bereich des faschistischen Staates wurde die Zentralisierung durch die Beteiligung mehre- Juden im Militärverwaltungsbereich und im Gebiet der Zivil- rer Organisationen verschleiert . Dazu passt die allgemeine Feststellung über verwaltung unvermindert weiter . Ein Trupp des EK 9 ermor- den Imperialismus, der »hinter einem Schwarm von Körperschaften verbor- gen« ist, »durch deren Wald von Abkürzungen sich der einfache Mensch nicht dete zwischen dem 29 . mai und 20 .Juni 1942 12 000. Juden . durchfindet . Er wird nur verschwommen gewahr, dass irgend etwas Merkwür- Das EK 9 tötete mit dem EK 8 in der zweiten Jahreshälfte diges mit seinem Lande vorgeht .« Biographie Christian Schneider, URL: ht- 1942 noch ungefähr 100 Juden pro Monat . tp://www .wollheim-memorial .de/en/christian_schneider_18871972, Stand: 16 .08 2013. . OMGUS: Ermittlungen gegen die I G. . Farben, Nördlingen 1986, Das Sonderkommando 7a operierte im Sommer 1942 im s . 173 . Palme Dutt: Großbritanniens Empirekrise, Berlin 1951, s . 83 . rückwärtigen Divisionsgebiet der 253 . Infanteriedivision . 3 HStAD G12B 45/4, Betrifft: Kombattanteneigenschaft der Angehörigen der Sicherheitspolizei und des SD . 26 9. .1944 . HStAD G12B 45/4, Betrifft: Kom- Dort fielen ihm Kommunisten, Juden, Zigeuner zum Opfer . battanteneigenschaft der Angehörigen der Sicherheitspolizei und des SD . Wendland vertrat in dieser Zeit den Führer der Einsatzgruppe 30 .9 .1944 . 9 SS-Obersturmbannführer Wilhelm Wiebens, der 1966 vom 4 BA Lichterfelde R58/797 Bl . 23–26, Richtlinien für die sicherheitspolitische Tätigkeit der Abwehrbeauftragten (Abwb), 1939 . HStAD G12B 15/6, Be- Schwurgericht Berlin wegen seinen Verbrechen in der Funkti- trifft: Richtlinien für den Werkschutzleiter betr . Aufbau des Werkschutzes, on als Kommandeur des EK 9 zu lebenslänglichem Zuchthaus 10 .1 .1939 . Zum Auf- und Ausbau des Werkschutzes und der dabei konkur- rierenden faschistischen Organisationen, wobei sich letztendlich die Gestapo verurteilt wurde . Beim Sonderkommando 7a vertrat Wend- und der SD, die faschistische Geheimpolizei, insbesondere gegenüber der Ab- land den SS-Obersturmbannführer Albert Rapp, der 1965 wehr von Canaris und dem Reichsluftfahrtministerium durchsetzte, bedarf es vom Landgericht Essen, wegen gemeinschaftlichen Mordes weiterer Ausführungen an anderer Stelle . Drobisch, Kriegsschauplatz, s . 65 . 5 Dresdner Bank und hielten je 35 Prozent Anteile . OMGUS, Er- aus »niedrigen Beweggründen« als Führer des SK 7a zu le- mittlungen gegen die Dresdner Bank, Nördlingen 1985, s . 65–66 . OMGUS: benslanger Haft verurteilt wurde 24. Ermittlungen gegen die Deutsche Bank, Nördlingen 1986, s . 265–267 . 6 Dietrich Eichholtz: Krieg um Öl . Ein Erdölimperium als deutsches Kriegsziel Nach seinem Einsatz in der Sowjetunion kehrte Wendland 1938–1943,Leipzig 2006, s . 88 . Rainer Karlsch: Faktor Öl . Die Mineralölwirt- zu Junkers in seine alte Funktion zurück . Der faschistische schaft in Deutschland 1859–1974, München 2002, s . 218 . Staat belohnte Wendland für seine mörderische Tätigkeit in 7 BA Lichterfelde BDC, SSO Heinz Wossagk . 8 michael Wildt: Generation des Unbedingten .Führungskorps des Reichssicher- der Zeit seiner betrieblichen Freistellung mit Auszeichnun- heitshauptamtes, Hamburg 2002, s . 425 . gen . Im Dezember 1942 erhielt Wendland das Kriegsver- 9 BA Lichterfelde BDC, SSO Heinz Wossagk . Ruth Birn: Vauvara-Stammlager, in: Wolfgang Benz: Der Ort des Terrors . Geschichte der nationalsozialistischen dienstkreuz 2 . Klasse mit Schwertern . Im Juli 1944 wurde Konzentrationslager, München 2008, s . 131–132 . er mit dem Kriegsverdienstkreuz 1 . Klasse mit Schwertern 10 BA Lichterfelde DP 3/2149 Bd . 28 . ausgezeichnet, das in »Fällen ganz besonders hervorragender 11 c .F . Rüter .: Justiz und NS-Verbrechen . Sammlung deutscher Strafurteile we- gen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Band 30, Amster- Bewährung« verliehen wurde . Nach dem Krieg konnte sich dam 2004, s . 11, 171 .

55 12 BA Lichterfelde DP 3/2149 Bd . 28 . Wildt, Unbedingten, s . 947 . de R58/242,Betrifft: Überprüfungen von Reichsdeutschen Personen, die bei 13 BA Lichterfelde, BDC, SSO Paul Budin, Schreiben Budins an Karl Wolff, reichsdeutschen Privatfirmen beschäftigt sind, die im Bereich des Heeresge- 24 .8 .1942 . Klaus-Dietmar Henke: Die Dresdner Bank im Dritten Reich, Olden- bietes Mitte eingesetzt sind, 15 .8 1942. . Christian Gerlach: Kalkulierte Morde, bourg 2006, s . 477 . Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 14 BA Lichterfelde, BDC, SSO Paul Budin, Schreiben Budins an SS-Reichsführung 1944, Hamburg 1999, s . 689–690 . -Persönlichen Stab-, 27 .11 .1939 . Carsten Schreiber: Elite im Verborgenen, 21 Die Junkers AG war in der Zeit des Faschismus sukzessive in »Reichsbesitz« München 2008, s .435–436 . gelangt . 1942 gehörte sie zu 100 Prozent der Bank der Deutschen Luftfahrt, 15 schreiber, Elite, s . 437 . einer staatlichen Bank die ganz im staatsmonopolistischen Sinn die risikorei- 16 Genauso war der Werkschutz in den Lagern in den Hermann-Göring-Werken in che Anschubfinanzierung in der Luftrüstungsindustrie auf Kosten der Steu- Starachowice dem SS- und Polizeiführer unterstellt . Schon in den 60igern hat- erzahler übernahm . Die Gründung der reichseigenen Luftfahrtbank dräng- te das Gericht in einem Kriegsverbrecherprozess gegen einen Werkschutzan- te keineswegs die privaten Banken aus dem Luftrüstungsgeschäft . Ihre gehörigen »den Eindruck gewonnen, dass der KdS Radom wenigstens faktisch Geschäftspolitik zeichnete sich vom ersten Tage »durch eine kooperative Aus- Befehlsgewalt über Abwehr und Werkschutz der Hermann-Göring-Werke« be- richtung«, besonders gegenüber der Dresdner Bank aus . Der Generaldirektor saß . c .F . Rüter: Justiz und NS-Verbrechen . Sammlung deutscher Strafurtei- der Junkerswerke, Heinrich Koppenberg saß daher im Aufsichtsrat der Dresd- le wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Amsterdam ner Bank . Johannes Bähr: Die Dresdner Bank in der Wirtschaft des Dritten Rei- 2008, s . 300–305 . ches, München 2006, s . 390–391 . 17 Gisela Bock: Genozid und Geschlecht, Frankfurt am Main 2005, s . 154–155 . 22 BA Lichterfelde, BDC SSO Otto Wendland . 18 Robert Seidel: Deutsche Besatzungspolitik in Polen . Der Distrikt Radom 1939- 23 BA Lichterfelde, BDC SSO Otto Wendland, Schreiben Wendlands an SS-Perso- 1945, Paderborn 2006, s . 360–365 . Felicja Karay: Death Comes in Yellow, nalamt, 4 .1 .1943 . Amsterdam 1996, s . 43 . 24 Gerlach, Morde, s . 683–686, s . 697, Christoph Rass: »Menschenmaterial« . 19 BA Lichterfelde R58/787 Bl .71–75 »Betrifft: Überprüfungen von Reichsdeut- Deutsche Soldaten an der Ostfront, Innenansichten einer Infanteriedivsion schen Personen« die bei reichsdeutschen Privatfirmen beschäftigt sind, die 1939–1949, Paderborn 2003, s . 341 . Kerstin Freudiger: Die juristische Auf- im Bereich des Heeresgebietes Mitte eingesetzt sind, 19 .8 .1942 . Thomas Ku- arbeitung von NS-Verbrechen, Tübingen 2002, s . 70–83 . czynski: Brosamen vom Herrentisch, Berlin 2004, s . 115–118 . 25 BA Lichterfelde, BDC SSO Otto Wendland, BA Lichterfelde NS 3/33 Betrifft: 20 BA Lichterfelde R58/242 Bl . 71–75 ,Betrifft: Überprüfungen von Reichsdeut- Auszeichnung von Abwehrbeauftragten, Werkschutzleitern und Werkschutz- schen Personen, die bei reichsdeutschen Privatfirmen beschäftigt sind, die im angehörigen mit Kriegsverdienstkreuzen, 18 10. .1944 . Bereich des Heeresgebietes Mitte eingesetzt sind, 19 .8 1942. BA Lichterfel-

Sobhanlal Datta Gupta Komintern und

Kommunismus in dietz berlin Indien 1919–1943

Die Politik der Kommunistischen Internationale auf dem Gebiet des nationalen Befreiungskampfes der kolonial unter­drückten Völker führte immer wieder zu internen Kontroversen.­ Denen mußte sich schon Lenin, der Autor der Kolonialthesen, stellen, als ihn der Inder Manabendra Nath Roy 1920 auf dem II. Kongress der Komintern mit eigenen Ergänzungsthesen herausforderte.

Gestützt auf reichhaltiges Quellenmaterial aus russischen, englischen, indischen und deutschen Archiven und einge­bettet in den Gesamtzusammenhang der Geschichte der Kommu­ nistischen Internationale, konzentriert sich die vorliegende Abhandlung auf den politisch-ideologischen Werdegang des indischen Kommunismus.

Sobhanlal Datta Gupta ist auf diesem Gebiet ein ausgewiesener­ Fachmann. Er präsentiert dem Leser neue Fakten und Ein­ Band XVII der Reihe sichten – nicht zuletzt im Zuge seiner Auseinandersetzung­ mit "Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus" dem Stalinismus - für die Diskussion der noch immer aktuellen 368 Seiten, Hardcover, 34,90 Euro ­Frage, warum der Kommunismus in eine Sackgasse lief. ISBN 978-3-320-02276-1

56 Berichte und Informationen Erinnerungen an Gerhard Fischer (17.4.1930–9.8.2013)

Gerhard Fischer gehörte zu den ältesten und den langjäh- len Menschen beispielsweise Gerhard Fischers Mitwirken in rigen Mitgliedern der Bundes-Arbeitsgemeinschaft Antifa- dem Alternativ-Gremium von Gesellschaftswissenschaftlern, schismus beim Vorstand der Partei DIE LINKE . die die Arbeit der Enquete-Kommission des Deutschen Bun- Der Gründergeneration der Christlich Demokratischen Union destages »Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der in der DDR seit 1946 angehörend, war es ihm immer wichtig, SED-Diktatur in Deutschland« kritisch begleitete . den Grundwert Antifaschismus Menschen aus unterschied­ lichen Generationen ans Herz zu legen . Deshalb auch hat er Bewundernswert ist die Zahl ehrenamtlicher Verpflichtungen, den Bund der Antifaschisten in Berlin mit ins Leben gerufen . die Gerhard Fischer gern und gewissenhaft wahrnahm . Bei Ihm musste man Antifaschismus nicht »verordnen« . Terminkonflikten konnte man sicher sein, dass er sich ent- schuldigte, wenn er an Beratungen unserer Bundes-AG nicht In unserer Zeitschrift »Rundbrief« hat Gerhard Fischer in ei- oder nur zeitweise teilnehmen konnte . nem Beitrag an verschiedene programmatische Dokumente Das Spektrum seiner Funktionen war weit gefächert, es reich- der CDU aus der unmittelbaren Nachkriegszeit erinnert, die te vom gewerkschaftlichen Engagement in der IG Medien bis in das Ahlener Programm der Partei vom Februar 1947 mün- zum regelmäßigen Wandern mit Gleichgesinnten – letzteres deten . Sie bezeugen, dass in beiden deutschen Staaten glei- diente wohl auch der Erholung . chermaßen Antifaschismus zu den ursprünglichen Zielen po- Es verwunderte auch nicht, Gerhard Fischer beispielsweise litischen Wirkens nach 1945 gehörte . in Dresden in den Reihen der Vielen zu finden, die gegen Auf- märsche von Rechtsextremisten protestieren . Tätiger Antifa- Gerhard Fischers Fazit zu Vergangenem: »Bloße historische schismus war seine Sache . Reminiszenzen? Wohl mehr als das – vielmehr Anzeichen da- Ich kannte Gerhard Fischer schon zu »DDR-Zeiten« als einen für, dass auch in christlichen Kreisen und namentlich bei je- anregenden Gesprächspartner, wenn es um Historisches und nen, die der CDU/CSU angehörten oder nahe standen, nach antifaschistische Erziehung der Nachgeborenen ging . Eine der Befreiung vom Faschismus das Bewusstsein dafür leben- »Blockflöte« war Gerhard Fischer nie und über solcherart Be- dig war, wo die Hauptschuldigen an Hitlerregime und Zwei- schimpfungen war er wohl auch erhaben . tem Weltkrieg zu suchen waren und was getan werden muss- Noch vor wenigen Wochen interessierte er sich für das Wahl- te, ihnen den wirtschaftlichen und politischen Einfluss zu programm der Partei DIE LINKE, er wollte persönlich nachle- nehmen . Etwa kein aktuelles Thema?« sen, ob dort zu wenig zum Antifaschismus drin steht . Und er Als Mitglied des Bundessprecherkreises der VVN-BdA hat Ger- freute sich auf die Lektüre eines Buches über Ilse Stöbe1 . Ihr hard Fischer großen Anteil an der organisatorischen wie inhalt- Förderer beim Berliner Tagesblatt, Theodor Wolff, war ein gu- lichen Zusammenführung von Antifaschisten aus Ost und West . ter Bekannter von Otto Nuschke, den auch Gerhard Fischer Die Debatte war sein Metier, und deshalb äußerte er auch später sehr verbunden war und über den er eine Biografie ge- einmal in einer Beratung unserer Bundes-AG seine Zufrieden- schrieben hat . heit darüber, dass nach einer erfolgreichen Kampagne zum NPD-Verbot, die viel Zeit und Kraft erfordert hatte, wieder Mir – wie vielleicht auch anderen – wird Gerhard Fischer als mehr Zeit und Raum für die Auseinandersetzung mit rechts- anregender Gesprächspartner und frühergeborener Mitstrei- extremistischen Grundpositionen gegeben war, an denen er ter fehlen . sich aktiv beteiligte . Aus der eigenen Jahrzehnte währenden Beschäftigung mit his- Horst Helas torischen Themen und ihrer Bedeutung für die ideologischen Auseinandersetzungen – nicht zuletzt zwischen beiden deut- schen Staaten – erwuchs sein Mitwirken an der Bekämpfung jeglichen Geschichtsrevisionismus sowie dem Widersprechen zu allen, zahlreichen Versuchen der pauschalen Verurteilung 1 s iehe: Hans Coppi/Sabine Kebir: Ilse Stöbe: Wieder im Amt . Eine Wider- standskämpferin in der Wilhelmstraße, Hamburg 2013 . von Allem, was in der DDR gewesen war . In Erinnerung ist vie-

57 Das Revolutionsdenkmal in Berlin-Friedrichsfelde

Am 17 . märz 2013 eröffnete das Museum in Berlin-Lichten- die Entstehungs- und Zerstörungsgeschichte des Denkmals berg im Stadthaus die Kabinettausstellung »Das Revolutions- dokumentieren will, sondern auch das Nachdenken über die denkmal von Ludwig Mies van der Rohe« . künstlerische Leerstelle anregen möchte . Die Ausstellung zur Geschichte des Denkmals ist ein beson- Der Landeskonservator der Stadt Berlin Prof . Dr . Jörg Haspel ders wertvoller Beitrag zum Themenjahr »Zerstörte Vielfalt« . betont in seinem interessanten Beitrag zutreffend, dass die Das Jahr 1933 verpflichtet alle Demokraten, sich an die ver- unerlässliche Diskussion und Erinnerungspflicht auf die »zer- hängnisvolle Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch störte Vielfalt« durch die NS-Diktatur stetig – nicht nur an Reichspräsident Paul von Hindenburg vor 80 Jahren und »runden« Gedenktagen – geführt werden sollte . den 75 . Jahrestag der barbarischen Novemberpogrome in Deutschland zu erinnern . In diesen thematischen Zusammen- Prof . Dr . Jürgen Hofmann, der seit Jahrzehnten die Geschichte hang gehört die hier rezensierte Exposition . des Friedrichsfelder Friedhofs erforscht und durch seine ak- ribische Recherchetätigkeit eine Fülle kaum bekannter oder Bewusst zerstörte das faschistische Regime das Denkmal des bewusst vergessener Fakten zum Revolutionsdenkmal zu Ta- Bauhausarchitekten Mies van der Rohe auf dem Zentralfried- ge förderte, schildert in sechs fundierten Beiträgen die wech- hof in Berlin Friedrichsfelde als ein Symbol des Gedenkens selhafte Geschichte des Denkmals und verweist zu Recht an die revolutionären Frauen und Männer, Arbeiter, Soldaten darauf, dass die Gedenkstätte der Sozialisten ein »zentra- und Matrosen, in den Monaten der Revolution von 1918/1919 . ler – wenn auch umstrittener – Ort – politischer Erinnerungs- Die Besucher der Ausstellung können an Hand von Skizzen kultur bleibt .« des renommierten Architekten die einmalige Ästhetik des Mahnmals ablesen . Besonders gelungen ist in der Ausstel- Martin Schönfeld berichtet in seinem Beitrag über die unter- lung die Einheit von Nachbildung, wie die des neu geschaffen­ schiedlichen Bemühungen Rosa Luxemburg und Karl Lieb- en Modells des Denkmals, und der Zuordnung von originalen knecht im öffentlichen Raum zu Ehren . Insgesamt liegt hier dreidimensionalen Sachzeugnissen, wie der Gedenksteine ein wichtiger Beitrag zum 80 . Jahrestag der faschistischen für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Dank mutiger Machteinsetzung vor . Friedhofsgärtner der Zerstörungswut des NS-Regimes ent- gangen sind . Sie stehen als Leihgaben des Deutschen His- Günter Wehner torischen Museums mit zahlreichen Skizzen und Fotos zur Entstehungsgeschichte und Gedenkort der deutschen und in- ternationalen Arbeiterbewegung im Mittelpunkt der Ausstel- lung . Der Abriss des Denkmals wird ebenfalls mit umfangrei- chen Fotos und Dokumenten dargestellt . Ferner wird der Umgang mit dem zerstörten Denkmal nach 1945 dokumentiert . Der Besucher erfährt, dass es vielfälti- ge Bemühungen zum Wiederaufbau des Revolutionsdenk- mals gab und wie es zu der Errichtung der gegenwärtigen Ge- denstätte der Sozialisten kam . Begleitet wird die ausgezeichnete Kabinettsausstellung durch eine Publikation, die durch ihre informative Sachlichkeit be- sticht . Der Leiter des Lichtenberger Museums Dr . Thomas Thiele verweist in seinem Vorwort auf die Problematik der hinter- lassenen Leerstelle durch die barbarische Vernichtung des einzigartigen Zeugnisses moderner Erinnerungskultur und den Lösungsweg eines Wiederaufbaues des zerstörten Re- volutionsdenkmals . Er betont, dass die Ausstellung nicht nur

58 Ausstellung »Europäischer Widerstandskampf«

Dass der Widerstandskampf gegen den Faschismus in den len, Norwegen, Dänemark, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Jahren bis 1945 nicht nur in Deutschland und Italien, sondern Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion, Ungarn, Albanien, insbesondere in allen von den faschistischen Mächten okku- Jugoslawien, Griechenland, Bulgarien und Rumänien . pierten Ländern stattgefunden hat, ist eine bekannte Tatsa- Die einführenden Texte sind kurz gehalten und in drei Spra- che . Weniger bekannt ist jedoch die Geschichte dieses anti- chen zu lesen . Zum einen war dies eine Vorgabe aus Belgien faschistischen Kampfes, der in den jeweiligen Ländern zum (das bekanntlich mehrsprachig ist) und zum anderen der zu- Teil recht unterschiedliche Ausprägung besaß . Auch waren künftigen Präsentation in verschiedenen europäischen Län- die Zugänge zum Widerstand, seine Formen und seine politi- dern geschuldet . schen Träger zum Teil sehr unterschiedlich . Die Ausstellung lebt durch gut 400 eindrucksvolle Bilder und Die Geschichte dieses Widerstands aufzuarbeiten, war in der reproduzierte Dokumente, die die knappen erläuternden Tex- Vergangenheit und bis heute ein Anliegen der Internationalen te unterstreichen . Bei der Auswahl der Illustrationen, die oft- Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) . Schon von 1959 mals von den nationalen Verbänden der Widerstandskämp- bis 1963 wurden zehn »Internationale Hefte der Widerstands- fer und Antifaschisten zur Verfügung gestellt wurden, wurden bewegung« herausgegeben, in denen Historiker und Vetera- besonders solche Bilder gewählt, die Männer und Frauen, nen des antifaschistischen Kampfes in ausführlichen Aufsät- nationale Besonderheiten des Kampfes und allgemeine Ten- zen die Geschichte des Widerstandskampfes in ihrem Land denzen zum Ausdruck bringen konnten . So findet man Fo- darstellten . Diese Hefte sind bis heute eine wichtige Quelle tos des Slowakischen Nationalaufstands, des Kopenhagener für diejenigen, die sich einen gesamteuropäischen Überblick Generalstreiks, der jugoslawischen Partisanenarmeen oder verschaffen möchten . das Flugblatt der KPD von 1938 »Wider die Judenpogrome«, eines der wenigen Beispiele des öffentlichen Protests gegen In den Folgejahren legten viele Mitgliedsverbände eigene Stu- diesen antisemitischen Terror in Deutschland . Die Ausstel- dien und Dokumentationen über die Widerstandsbewegung in lung erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, ihrem jeweiligen Land vor, ein europäischer Querschnitt konn- sie zeigt aber, dass der Widerstandskampf in allen europäi- te jedoch nicht mehr erarbeitet werden . schen Ländern in unterschiedlicher Form und unter Berück- Diesem Desiderat stellten sich vor gut drei Jahren das belgi- sichtigung der nationalen Besonderheiten stattgefunden hat . sche Institut des Vétérans und die Internationalen Föderation Bei der Eröffnung wurde die Bedeutung einer konsequen- der Widerstandskämpfer (FIR) – Bund der Antifaschisten, als ten Aufarbeitung der Geschichte mit einer klaren Botschaft sie im Rahmen verschiedener gemeinsamer Projekte das The- der politischen Erinnerung für heute unterstrichen . So dank- ma für eine Ausstellung vorbereiteten . Mitgliedsverbände der te der Vertreter des Parlaments den Initiatoren für dieses FIR in verschiedenen Ländern wurden angefragt, Materialien – eindrucksvolle Beispiel der Bewahrung der Erinnerung . Er insbesondere Bilder und spezifische Dokumente – zur Verfü- würdigte den Heroismus der damaligen Widerstandskämp- gung zu stellen . Mit großen Einrichtungen, wie dem nieder- fer aus den verschiedenen Ländern . Zwar schlug er in sei- ländischen Widerstandsmuseum, der ONAG in Frankreich und nen Begrüßungsworten auch den Bogen zur Notwendigkeit einem luxemburgischen Institut wurden Kooperationen verein- der Wachsamkeit gegenüber – wie er es nannte – »totalitä- bart . Dennoch dauerte die Arbeit an dem Konzept, der Materi- ren« Gefahren heute, vermied es aber, die reale Rechtsent- alsammlung und Sichtung sowie der Endredaktion gut drei Jah- wicklung in verschiedenen europäischen Ländern selber mit re, bevor nun Anfang Juli 2013 die Ausstellung »Europäischer deutlichen Worten zu thematisieren . Widerstandskampf gegen den Nazismus« im Foyer des Europä- ischen Parlaments in Straßburg eröffnet werden konnte . Michel Jaupart, der Leiter des Institut des Vétérans, unter- Nach einer Einführungstafel mit den Grußworten des Insti- strich in seinen Worten das inhaltliche Anliegen der Ausstel- tut des Vétérans und der FIR sowie einigen Thesen »Was ist lung, mit den hier gezeigten Bildern und Dokumenten die Widerstand?« dokumentiert die Ausstellung auf 50 Stellwän- historischen Erfahrungen an die zukünftigen Generationen den (2,15 x 1,20 m) den antifaschistischen Kampf in fast al- weitergeben zu können . len europäischen Länder der damaligen Zeit, die im Kampf Der Generalsekretär der FIR formulierte in seinem Beitrag, gegen den Nazismus eingebunden waren: Italien, Spanien, dass die Gemeinsamkeit des antifaschistischen Kampfes der Portugal, Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei, Po- Anti-Hitler-Koalition die Basis für die Entstehung der Idee ei-

59 nes neuen friedlichen Europas nach der Befreiung von Fa- Die Ausstellung wird 2013 zuerst in Belgien gezeigt werden . schismus und Krieg gewesen sei . Daraus leitete er die aktu- Die FIR plant die Übersetzung in weitere Sprachen und die elle Verpflichtung für die politisch Verantwortlichen und alle Herstellung eigener Kopien, sodass die Ausstellung zukünftig antifaschistischen Kräfte ab, wachsam und streitbar zu sein in verschiedenen europäischen Ländern zu sehen sein wird . gegen extrem rechte und rechtspopulistische Tendenzen in Abgeordnete der LINKEN haben bereits vorgeschlagen, diese den verschiedenen europäischen Ländern . Aus der Erinne- Ausstellung auch im deutschen Bundestag zu zeigen . rung an den Widerstand damals leite sich die Verantwortung für ein antifaschistisches Engagement heute ab . Ulrich Schneider

Helmut Bock Freiheit – ohne Gleichheit? Soziale Revolution 1789 bis 1989 Tragödien und Legenden

Seit 1789 ereigneten sich in Europa politische und soziale Revolutionen, die den Gang der Weltgeschichte nachhaltig beeinflußten. Die bürgerlichen Revolutionen sind durch illustre Begriffe wie die "Große", die "Schöne", die "Friedliche" bezeichnet, auf diese Weise jedoch hinsichtlich ihrer widerspruchsvollen, gar fragwürdigen Inhalte und Resultate kaum kritisch beurteilt. Indes werden Versuche der arbeitenden Klassen, gerechte Lebensverhältnisse durch gesellschaftliche Alternativen, notfalls auch soziale Empörung, zu gewinnen, von Staatsinstitutionen und Medien als "häßlich" und "verbrecherisch" abgeurteilt – oder in totale Vergessenheit verbannt. Das ist typisch für die Besitzbürger­ lichkeit in Politik und Geschichtsdenken. Losungen und Versprechen, die anfangs Millionen von Europäern in die Kämpfe und Umwälzungen hineinrissen, sind nach zwei Jahrhunderten für Milliarden von Erdbewohnern noch immer nicht eingelöst. So war "Liberté! Égalité! Fraternité!" ver­ heißungsvoller Dreiklang der Großen Französischen Revolu­ tion, Präludium für ein erhofftes Wohlergehen aller Menschen und Völker. Im Weltverständnis von heute mit einer Ernüchte­ rung vom mißlichen Vorspiel der "Moderne" verkleinert, kostet es Mühe, "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!" zumindest als ein utopisches Richtzeichen am dunklen Himmel der United 416 Seiten, Hardcover, 34,90 Euro, Nations zu erkennen. ISBN 978-3-320-02290-7

www.dietzberlin.de dietz berlin

60 Das Nationalkomitee »Freies Deutschland«

Anlässlich des 70 . Jahrestages der Gründung des National- DDR-Historikern (z .B . Dietrich Eichholtz, Heinz Petrick, Joa- komitees »Freies Deutschland« (NKFD) führte der Marxisti- chim Petzold) werden a priori als »unwissenschaftlich« diffa- sche Arbeitskreis zur Geschichte der deutschen Arbeiter- miert . Die Wirkungen des Terrors auf potenziell oppositionelle bewegung bei der Partei Die Linke in Zusammenarbeit mit Kräfte würden im Vergleich zur Bedeutung der »sozialpoliti- der Geschichtskommission beim Parteivorstand der DKP, der schen« Maßnahmen des Regimes stark unterschätzt . Auch Marx-Engels-Stiftung e . V . Wuppertal und der Redaktion der werde nicht hinreichend erkannt, dass alle Handlungen des »jungen welt« am 29 .Juni 2013 eine Konferenz durch . NS, vom ersten Tag seiner Existenz an, der Vorbereitung ei- nes erneuten Angriffskrieges dienten . In diesem Zusammen- Dr Michael Polster (Berlin) ging in seinem Referat auf die po- hang wäre auch der mitunter (hinter den Kulissen) mit Schär- litische Bedeutung der Gründung des NKFD ein und hob her- fe ausgetragene Gegensatz unterschiedlicher faschistischer vor, dass das NKFD eine politische Koalition auf breitester Apparate zwischen totaler Kriegsvorbereitung (Wehrmacht) Grundlage war . Dem NKFD gehörten Kommunisten, Sozial- und Pazifizierung der Arbeiterklasse (Deutsche Arbeitsfront) demokraten, Liberale wie konservative, christlich orientierte zu interpretieren . Persönlichkeiten sowie Republikaner, Berufsbeamte und ins- besondere Berufsoffiziere an . Der Referent verwies in sei- Hermann Kopp (Düsseldorf) ging in seinem Beitrag auf das nem Vortrag auf die prinzipielle unterschiedliche Wertung Wirken des Komitees »Freies Deutschland« für den Wes- des NKDD in der BRD und in der DDR . Offiziere und Gene- ten (CALPO) ein . Er erinnerte daran, dass bis zum Mai 1940 rale, die sich zum NKFD bekannten, wurden in der »alten« Frankreich und Großbritannien nicht aktiv in das Kriegsge- Bundesrepublik, aber auch von konservativen Kräften in der schehen eingriffen und in beiden Ländern die deutschen Emi- Gegenwart, nach wie vor als Verräter bewertet bzw . totge- granten interniert bzw . streng überwacht wurden . Erst nach schwiegen . der Okkupation Frankreichs konnten sich deutsche Antifa- m . Polster erinnerte daran, dass das NKFD, auch wenn es schisten der französischen Widerstandsbewegung anschlie- sein Hauptziel, die rasche Beendigung des Völkermordens ßen . Er erläuterte, dass im CALPO alle deutschsprachigen und den Sturz des faschistischen Regimes in Deutschland, Emigranten vereinigt waren und an der Seite der französi- nicht erreichte, dennoch einen bedeutsamen Beitrag im Rin- schen Widerstandskämpfer im Ringen gegen das Okkupati- gen gegen das NS-Regime leistete . Ferner verwies er auf die onsregime standen . Notwendigkeit, das Wirken des NKFD in seiner Vielfalt und in In der sehr lebhaften und lang andauernden Diskussion im An- Bezug auf viele weiße Flecken erneut zu erforschen . schluss an die Referate wurde u .a . auf die vorhandenen For- schungslücken im Bezug auf das NKFD eingegangen, dabei ins- Dr. Reiner Zilkenat (Berlin) hob in seinem Vortrag »Volks- besondere auf die Problematik der Auflösung des NKFD und gemeinschaft ohne Widerstand? Faschismus und Antifa- auf den Umgang seines politischen Erbes für die Gegenwart . schismus in der aktuellen bürgerlichen Geschichtsschrei- Auch Fragen der Einschätzung der wechselnden Interpretatio- bung der BRD« hervor, dass im zunehmenden Masse das nen der bürgerlichen Geschichtsschreibung in der BRD zur So- »Volksgemeinschafts«-Theorem an Bedeutung zunimmt, wo- zialpolitik, zu den Mechanismen, den Inhalten und den Erfol- bei der antifaschistischen Widerstandes gegen die NS-Dik- gen bzw . Grenzen der Massenbeeinflussung im Faschismus an tatur kaum beachtet bzw . die vielfältigen Formen wider- der Macht fanden große Beachtung und führten zu zahlreichen ständigen und abweichenden Verhaltens ausgeblendet bzw . Wortmeldungen . Dabei wurde u .a . dafür plädiert, Kontinuitäten unterschätzt werden . Er hob hervor, dass die Historiker und der Strategien des deutschen Imperialismus für die Massen- Publizisten, die die »Volksgemeinschaf« in den Mittelpunkt ih- beeinflussung kleinbürgerlicher und proletarischer Schichten rer Interpretation des »Dritten Reiches« stellen, diese nicht stärker zu berücksichtigen sowie neueste Forschungsergebnis- wissenschaftlich fundiert erklären und dabei seit langem ge- se zum Arbeiterwiderstand im »Dritten Reich« (z .B . von Stefan wonnene Erkenntnisse von bürgerlichen wie marxistischen Heinz zum Widerstand von Gewerkschaftern und seiner Konti- Historikern zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Fa- nuität nach 1939) in den Blick zu nehmen . Die Materialien der schismus an der Macht schlicht ignorieren (z .B Timothy W . Tagung werden in den nächsten Heften der »GeschichtsKorre- Masons Pionierstudien aus den 1970er Jahren oder die Ar- spondenz« zugänglich sein . beiten von Rüdiger Hachtmann, Stefan Heinz, Detlef Humann, Wolfgang Zollitsch) . Einschlägige Forschungsergebnisse von Günter Wehner

61 Auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg Die deutsche Sozialdemokratie zur wilhelminischen »Welt«- und Flottenpolitik 1897 bis 1900

Dass sich an der Wende vom 19 . zum 20 . Jahrhundert ein In diesem Beitrag soll ausschließlich von den Anfängen der grundlegender Wandel in den ökonomischen Strukturen der so genannten Weltpolitik und des damit zusammenhängen- fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten vollzog, nicht zuletzt den Flottenbaus in den Jahren von 1897 bis 1900 die Rede im deutschen Kaiserreich, der sich zeitgleich auch auf ihre In- sein bzw . davon, wie die Sozialdemokratie sich hierzu posi- nen- und Außenpolitik auszuwirken begann, gehört zu den Er- tionierte .8 Dieser Gegenstand war in jenen Jahren eines der kenntnissen marxistischer historischer Forschung1, aber auch bedeutendsten Themen, vielleicht sogar das bedeutsamste der Schule um den Hamburger Historiker Fritz Fischer2 sowie Thema in den politischen Auseinandersetzungen des wilhel- mancher der sozialgeschichtlich orientierten Geschichtswis- minischen Deutschlands . senschaftler in der BRD der 1960er und 1970er Jahre 3. Sie alle konnten in ihren Forschungsarbeiten auf wertvolle I. Studien zeitgenössischer Theoretiker zurückgreifen . Als der Admiral Alfred von Tirpitz9 im Juni 1897 von Kaiser Wil- helm II . zum Staatssekretär und Chef des Reichsmarineamtes Der damals sich vollziehenden Herausbildung des Finanzka- ernannt wurde, vollzog sich nicht allein ein personeller Wech- pitals als einer Verschmelzung von Industrie- und Bankkapi- sel in diesem Amt, sondern die Personalie Tirpitz signalisier- tal, der Tendenz zur wachsenden Konzentration des Kapitals te den Beginn einer qualitativ neuen Etappe in der wilhelmini- und zur Monopolisierung, dem sich rapide entwickelnden Ka- schen Außen- und Militärpolitik . Worum es ging, war der gegen pitalexport, den um sich greifenden Erscheinungen des au- Großbritannien gerichtete Bau einer Schlachtflotte mit eindeu- ßenpolitischen Abenteurertums und der innenpolitischen Re- tig aggressiver Zielstellung . Zugleich sollte das Budgetbewil- pressionen galt auch die Aufmerksamkeit des bedeutenden ligungsrecht des Reichstages durch die von der Regierung Theoretikers der internationalen Arbeiterbewegung Rudolf beantragte parlamentarische Zustimmung zur langfristigen Hilferding . Sein grundlegendes, 1910 publiziertes Werk »Das Finanzierung der neu zu bauenden Kriegsschiffe ausgehebelt Finanzkapital«4, diente nicht zuletzt auch als Anregung und werden . Mehr noch: nach einmal festgelegten Fristen sollte Grundlage der Forschungen anderer marxistischer Autoren5, die gewissermaßen automatische Modernisierung der Flotte von denen Lenins Schrift »Der Imperialismus als höchstes durch Neubauten ohne ein erneutes Votum des Reichstages Stadium des Kapitalismus – Gemeinverständlicher Abriss«6, ermöglicht werden (das so genannte Septennat bzw . Äternat) . veröffentlicht im Jahre 1917, bekanntlich den nachhaltigs- Deshalb titulierte Franz Mehring den Admiral Tirpitz in einem ten theoretischen und politischen Einfluss ausüben sollte . Artikel der »Neuen Zeit« hellsichtig als einen »Marine-Roon«, Im Vorwort der 1947 publizierten Neuauflage von Hilferdings dem die Aufgabe übertragen worden sei, wie der preußi- Werk schrieb kein Geringerer als Fred Oelssner, ungeach- sche Kriegsminister Albrecht von Roon in der Zeit des Hee- tet mancher der von ihm formulierten kritischen Einwände: res- und Verfassungskonfliktes der 1860er Jahre10, gegen »Man kann die Ökonomie und die sozialen Bewegungen un- den erklärten Willen der Mehrheit des Volkes und des Par- serer Zeit nicht richtig verstehen, ohne gründlich ›Das Finanz- lamentes groß dimensionierte Rüstungsmaßnahmen durch- kapital‹ studiert zu haben .«7 zupeitschen, koste es, was es wolle . Hiergegen müsse der Reichstag, so Mehring, »den Mut haben, der Regierung ein An dieser Stelle sei aber auch vermerkt, dass sich eine Fül- ›bis hierher und nicht weiter!‹ zuzurufen« . Er habe die Kraft le von oft hellsichtigen Beobachtungen und klugen Analysen aufzubringen, »diesen Standpunkt siegreich durchzufechten« . der weit reichenden wirtschaftlichen und politischen Evoluti- Das Parlament, so fuhr er fort, habe »noch einmal die vermut- onen in der damaligen Welt des Kapitals in den Spalten des lich letzte Gelegenheit, sich ein Stück Macht zu erobern .«11 »Vorwärts«, der »Neuen Zeit«, in anderen Publikationsorga- nen der deutschen Sozialdemokratie, aber auch in Reden und II. Dokumenten der SPD-Parteitage finden lassen, die nach mei- Worum ging es beim geplanten Aufbau einer schlagkräftigen ner Beobachtung in der Historiografie nicht immer die ange- Schlachtflotte? Nach dem Willen ihrer Befürworter sollte sie messene Beachtung gefunden haben . in nicht allzu ferner Zukunft in der Lage sein, im Kriegsfal-

62 le die mächtige, als unangreifbar geltende britische »home von Saarabien« bezeichnet, aber auch Finanzinstitute wie die fleet« zu neutralisieren, wenn nicht sogar in einer offenen Deutsche Bank und die Disconto Gesellschaft 17. Seeschlacht in der Nordsee zu besiegen .12 Zeitgleich mit der beginnenden Flottenrüstung gegen Groß- Öffentlich wurde dies strikt geleugnet . Der von April 1917 britannien griff das Deutsche Reich nach allen Landstrichen bis zum Juli 1918 amtierende Staatssekretär im Auswärtigen und Gebieten, so klein sie auch immer sein mochten, um Amt, Richard von Kühlmann, schrieb hierzu in seinen Memoi- das eigene Kolonialreich (Deutsch-Ostafrika, Kamerun, Togo, ren: »In Wirklichkeit war es sein (Tirpitzens-R Z. .) Wunsch und Deutsch-Südwestafrika) auszudehnen, das im Vergleich zu seine Hoffnung, die englische Flotte überbauen zu können . denen der Engländer und Franzosen einen eher bescheide- Ich habe mit eigenen Ohren gehört – damals als Student der nen Charakter aufwies: Kiautschou (1898), die Marianen- und Rechte in Berlin weilend –, wie er in einem Privathause im Karolineninseln, die Insel Palau, Südsamoa (jeweils 1899), vertrauten Kreise vor Reichstagsabgeordneten seine Hoff- ein kleiner Teil des französischen Kongo (1911) . nung, der englischen Flotte den Rang abzulaufen, offen und rückhaltlos darlegte .«13 III. Letztlich ging es um den Anspruch des deutschen Imperialis- Entschiedenste Opposition gegen diese unvermeidlich auf ei- mus, den Status der beherrschenden Weltmacht zu erlangen, nen Krieg hinsteuernde »Weltpolitik« wurde allein von der So- es ging um die Neuaufteilung der Welt zu Gunsten des Deut- zialdemokratie praktiziert . Der sich herausbildende deutsche schen Kaiserreiches, es ging perspektivisch um die Ersetzung Imperialismus wurde von Beginn an durch solche Politiker und der führenden imperialistischen Weltmacht Großbritannien Theoretiker der SPD scharfsinnig analysiert wie August Bebel durch die aufstrebende ökonomische wie militärische Groß- und Wilhelm Liebknecht, Paul Singer und Franz Mehring . Wil- macht Deutschland . helm Liebknecht hob in einer Rede vor dem Reichstag am Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Bernhard von Bü- 27 . april 1898 hervor, dass die so genannte Weltpolitik darin low, hatte in seiner berühmten Reichstagsrede vom 6 .Dezem - bestünde, »sich eigentlich in alles, was in der ganzen übrigen ber 1897 die Grundmelodie dieses politischen Kurses ein- Welt vorgeht, einzumischen, eine Politik, die sich einbildet, gängig mit folgenden, seither immer wieder zitierten Worten die Weltvorhersehung zu spielen, und die will, dass Deutsch- formuliert: »Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, land der Weltgendarm sein soll, der überall dafür zu sorgen aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne .«14 Al- hat, dass der deutsche Einfluss maßgebend ist .«18 lerdings lag es auf der Hand, »dass im Zeitalter der vollende- Und auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Mainz, der im ten Aufteilung der Erde … der ›Platz an der Sonne‹ so knapp September 1900 stattfand, analysierte Paul Singer: »Die Ent- geworden war, dass jeder Imperialismus, der mehr ›Sonne‹ wicklung des Kapitalismus hat dahin geführt, dass durch die für sich beanspruchte, diese einem anderen entzog .«15 An- Konzentration des Kapitals und durch die dem Kapital inne- ders gesagt: Der deutsche Imperialismus konnte nur mit Hil- wohnende Expansionskraft er seiner Gier nach Vermehrung fe kriegerischer Konflikte, womöglich eines Weltkrieges, dar- nicht mehr im Inland Ausdruck geben kann . Das Streben des auf hoffen, Einfluss-Sphären und Kolonien zu seinen eigenen Kapitalismus geht dahin, alle Ausbeutungsgelegenheiten zu Gunsten neu verteilen zu können – ganz zu schweigen von behaupten, welche es ihm ermöglichen, sich immer mehr zu Absichten, Territorien anderer imperialistischer Mächte Euro- konzentrieren . (…) Im Namen der Zivilisation geht man, in der pas, wie Frankreichs oder Russlands, zu annektieren . Seit der einen Hand die Bibel, in der anderen die Flinte, nach fernen Wende vom 19 . zum 20 . Jahrhundert entwickelte sich dabei Ländern; im Namen der Zivilisation raubt man den Leuten ihr der Gegensatz zwischen Deutschland und Großbritannien zur Land, und wenn sie sich dagegen wehren, schießt man sie Hauptquelle der Kriegsgefahr oder, wie es der Generalleut- wie die Hunde nieder; im Namen der Zivilisation zwingt man nant und Erste Generalquartiermeister der Dritten Obersten sie in die ökonomische Sklaverei der Eroberer …«19 Heeresleitung im Ersten Weltkrieg, Wilhelm Groener, signifi- Weite Verbreitung fanden auch mehrere Broschüren, die über kant formulierte: »Die Geschichtsschreibung wird die Perio- die tiefer liegenden ökonomischen und politischen Motive de von 1890 bis 1918 durch die Überschrift charakterisieren: aufklärten, die den maritimen Rüstungen zugrunde lagen . Zu ›Kampf Deutschlands mit England um den Weltmarkt‹ .«16 nennen sind hier insbesondere Alexander Helphands (Pseud- Maßgebliche Kreise der ökonomisch und politisch Herrschen- onym: Parvus) ebenso kurz gefasste wie präzise Analyse »Ma- den: der Kaiser und seine Entourage, die Spitzen der Admi- rineforderungen, Kolonialpolitik und Arbeiterinteressen«, die ralität und der Generalität sowie bedeutende Exponenten bereits 1898 publiziert wurde, Franz Mehrings Band »Welt- des Großkapitals, standen diesem Projekt, den »Griff nach krach und Weltmarkt« sowie Julian Marchlewskis (Pseudo- der Weltmacht« (Fritz Fischer) zu wagen, ungeachtet sei- nym: Karski) Buch »Flottenkoller und Weltmachtpolitik«, die nes höchst abenteuerlichen Charakters, nichtsdestoweniger beide im Jahre 1900 erschienen . mit großer Sympathie und Zustimmung gegenüber . Zu nen- nen wären hier zum Beispiel die von den maritimen Rüstun- IV. gen profitierenden Unternehmen der Herren Krupp und von Doch die kompromisslose Opposition der Sozialdemokratie Stumm-Halberg, letzterer von den Zeitgenossen als »Scheich gegen die »Welt«- und Flottenpolitik des wilhelminischen Rei-

63 ches traf innerhalb der SPD mittlerweile auf unüberhörba- ren Widerspruch . Im Zuge der Revisionismusdebatte20, die von Eduard Bernstein mit seiner in den Jahren 1896/1997 Imperialismus in der »Neuen Zeit« veröffentlichten Artikelserie, die den Titel »Probleme des Sozialismus« trug, ausgelöst worden war, ge- und Rassismus riet die parteioffizielle Haltung in diesen Fragen unter Druck . Bernstein, der fraglos neue Erscheinungen in der sozialen »von links«? Entwicklung Deutschlands erkannt und Verkrustungen in der Sozialdemokratische Befürworter Ideologie und Politik seiner Partei zutreffend beim Namen ge- nannt hatte, verkannte jedoch vollständig den Charakter und der »Welt«- und »Kolonialpolitik« in die Zielsetzungen des deutschen Imperialismus um die Jahr- den »Sozialistischen Monatsheften« hundertwende . In seinem 1899 publizierten Buch »Die Vor- 1912 bis 1918 aussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial- demokratie« propagierte er offen eine Zustimmung der SPD zur Kolonial- und Außenpolitik des wilhelminischen Reiches: Ludwig Quessel: Aufgaben sozialdemokratischer »Wenn wir berücksichtigen, dass Deutschland zur Zeit jähr- Kolonialpolitik (ursprünglich 1912), in: lich ganz erhebliche Mengen Kolonialprodukte einführt, so Sozialdemokratie und Kolonien. Mit Beiträgen von müssen wir uns auch sagen, dass einmal die Zeit kommen Eduard Bernstein u. a., Berlin 1919, S. 53 f.: kann, wo es wünschenswert sein mag, mindestens einen Teil »Wie sich die Sozialdemokratie auch zur kapitalistischen dieser Produkte aus eigenen Kolonien beziehen zu können .«21 Kolonialpolitik zurzeit stellen mag, der Pflicht, zivilisato- Und in seinem Aufsatz »Die türkischen Wirren und die deut- rische Kolonialarbeit zu treiben, unsere Kolonien und ih- sche Sozialdemokratie« begründete er die Legitimität von re Bevölkerung kulturell und wirtschaftlich zu heben, darf kolonialer Unterdrückung und überseeischer Expansion mit sich keiner unserer Abgeordneten entziehen .(…) Die Kul- dem »Recht« der »Kulturvölker«, »Wilde zu zivilisieren«: »Kul- turmenschheit kann heute die Produkte der Tropen nicht turfeindliche und kulturunfähige Völker haben keinen An- mehr entbehren, und so hoch wir auch die Freiheit und Un- spruch auf unsere Sympathie, wo sie sich gegen die Kultur er- abhängigkeit der eingeborenen Rassen stellen mögen, so heben . Wir erkennen kein Recht auf Raub, kein Recht der Jagd finden sie doch in der Sorge für das kulturelle Wohl der ge- gegen den Ackerbau an . (…) Wir werden bestimmte Methoden samten Kulturmenschheit ihre Schranken . Wären demnach der Unterdrückung von Wilden verurteilen und bekämpfen, die Produkte der Tropen, die die Kulturmenschheit gebiete- aber nicht, dass man Wilde unterwirft und ihnen gegenüber risch begehrt, wie Ölpflanzen zur Bereitung von Kunstbut- das Recht der höheren Kultur geltend macht .«22 ter und Seife, Baumwolle zur Kleidung, Kaffee, Tee, Kakao zur Bereitung anregender Getränke, nur durch den Planta- Von diesen noch allgemein formulierten Gedanken war es genbetrieb zu gewinnen, so müssten sich auch die Sozial- dann nur noch ein kleiner Schritt zu solchen Vorstellungen, demokraten mit dieser Form der landwirtschaftlichen Un- denen zufolge die Sozialdemokratie im Reichstag ihre Zustim- ternehmung aussöhnen .(…) mung zu den groß angelegten maritimen Rüstungen erteilen Die Eingeborenen zu produktiver Arbeit zu erziehen ist eine sollte . Dahinter verbarg sich die Vorstellung, dass angeblich erste Aufgabe dessen, was man unter sozialdemokratischer auch im Interesse der Arbeiterklasse eine Neuaufteilung der Kolonialpolitik verstehen kann . Wenn wir dahin wirken, ar- Welt zugunsten des deutschen Imperialismus auf der Tages- beiten wir in gleicher Weise im Interesse der menschlichen ordnung stünde . In den »Sozialistischen Monatsheften« hieß Zivilisation wie unserer nationalen Wirtschaft . Wer diese es hierzu 1899: Sollten die traditionellen Kolonialmächte und Aufgabe erfasst hat, muss aber auch die zu ihrer Erfüllung imperialistischen Großmächte wie Frankreich und Großbri- geeigneten Mittel ergreifen, und hier gilt es dann die Intran- tannien »dazu schreiten, den Markt der von ihnen besetzten sigenz endgültig zu verabschieden, die jeder positiven Kolo- Landstriche ausschließlich für ihre eigenen Industrien zu re- nialpolitik der Sozialdemokratie im Weg steht .« servieren, dann hieße es für die deutsche Exportindustrie und damit (!-R .Z ). für die deutsche Arbeiterklasse: gehe zugrunde August Winnig: Die Kolonien und die Arbeiter oder erzwinge Dir den Eingang mit der Waffe in der Hand!«23 (ursprünglich 1915), in: ebenda, S. 36 f.: Ein weiteres Argument wurde in wachsendem Maße vorge- »Die primäre Ursache der Kolonialpolitik unserer Zeit ist das tragen, um die propagierte Abkehr der Sozialdemokratie von zwingende Bedürfnis des Wirtschaftswesens der Industrie- einer entschieden antimilitaristischen Politik zu begründen: länder nach Rohstoffen . Die Notwendigkeit der Wirtschaft Die SPD könne mit ihrer Zustimmung zu den Flottengesetzen des Mutterlands durch Kolonialwirtschaft zu ergänzen von der Regierung Zugeständnisse in anderen Fragen erzie- und zu stützen liegt vor allem für unser Land in greifbarer len, vor allem auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der Erwei- terung demokratischer Rechte .

64 Deutlichkeit vor . Die dauernd starke Vermehrung der Bevöl- das wertvollste Inventarstück unserer Kolonien, nun in ei- kerung hat uns ein Wirtschaftssystem aufgenötigt, dass oh- nem anderen als dem rein unternehmerfreundlichen Sinn ne koloniale Ergänzungswirtschaft überhaupt nicht denkbar gebraucht wird . (…) Trotz vieler Vorbehalte und Bedenken und schlechthin unmöglich ist .(…) Wir können uns heute kei- müssen Presse und Fraktion um wichtiger Fortschritte wil- ne Entwicklung denken, die nicht zu einer Ausweitung und len sich entschließen können, manchmal weniger angeneh- Steigerung des Industrialismus führte, die uns in den Stand me Dinge mit in den Kauf zu nehmen . Sie dürfen sich nicht setzte, auf diese Rohstoffe und Produkte zu verzichten . Solan- dadurch kopfscheu machen lassen, dass man ihnen sagt, ge es menschliches Kulturleben geben wird, so lange wird es sie besorgten die Geschäfte des Kapitalismus . Das mag nur mit Hilfe der heutigen Kolonialgebiete möglich sein . Kein sein, Aber, wie wir gelernt haben, dass es in vielen Dingen Mensch, keine Klasse und keine Partei kann diese Tatsache eine Interessenidentität der Bauern und der Industriear- ignorieren . Vor allem kann sie keine Partei und keine Klasse beiter gibt, so müssen wir auch verstehen lernen, dass in unbeachtet lassen, die Anspruch auf Teilnahme an der Leitung manchen Dingen, zum Beispiel eben in kolonialen, eine In- und Verwaltung des öffentlichen Wesens erhebt . teressensolidarität des Bourgeois und des Proletariers be- Und am allerwenigsten kann sich die Arbeiterklasse und als steht .(…) ihr politischer Ausdruck die Sozialdemokratie über diese Tat- Der bedeutendste Aktivposten in der Bilanz des Kolonisati- sache und die aus ihr flie0enden Notwendigkeiten hinwegset- onswerkes in Afrika und Ost- und Südasien ist die christli- zen . Kann sich die Arbeiterklasse auf den Standpunkt stellen, che Mission . Sie ist für den besten Teil der gegenwärtigen dass es ihr ganz gleichgültig sei, ob die deutsche Volkswirt- Kolonisatoren, die Engländer, immer der Pfadfinder gewe- schaft die nötigen Rohstoffe erhalte oder nicht? Selbstver- sen; ihr haben ihre Methoden den Erfolg zu verdanken: ihr, ständlich wäre ein solcher Standpunkt unmöglich . Es kann der Methode der Humanisierung der schwarzen und gelben einfach der Arbeiterschaft nicht gleichgültig sein, unter wel- Menschen «. chen Bedingungen sich der Ablauf der wirtschaftlichen Funk- tionen vollzieht . Es berührt selbstverständlich das Interesse Wilhelm Jansson: Arbeiterklasse und Kolonialpolitik der Arbeiterschaft, ob die Industrie, von deren Gedeihen sie (ursprünglich 1916), in: ebenda, S. 28 f.: selbst abhängt, die nötigen Rohstoffe erhält, und ob sie sie zu »Die Kolonisation ist durchaus nicht nur kapitalistische Pro- günstigen Preisen erhält (…). Das entschiedene Bekenntnis zur fitmacherei, sondern sie ist trotz allen widerwärtigen Be- Humanität auch gegenüber den Eingeborenen, darf uns nicht gleiterscheinungen eine Kulturarbeit, die volkswirtschaft- verkennen lassen, dass an ihnen zunächst ein gutes Stück lich notwendig ist . (…) Die Neger an geregelte Tätigkeit zu Erziehungsarbeit zu leisten ist . Die Formel von der Gleichheit gewöhnen, ist schließlich auch eine Kulturarbeit, und Auf- all dessen, was Menschenantlitz trägt, ist sicherlich edel und gabe der Sozialdemokratie ist es, an dieser Frage aktiven hochherzig . Aber Jahrtausende fehlender anthropologischer Anteil zu nehmen . Es muss sich in unseren Reihen die Er- Entwicklung lassen sich nicht in einem Menschenalter aus- kenntnis durchsetzen, dass koloniale Arbeit nicht nur kapi- gleichen . Die notwendige wirtschaftliche Erschließung primi- talistische Gewinnsucht, sondern auch allgemeinen volks- tiver Länder ist ohne Eingriffe in die ›Rechte‹ und ›Freiheiten‹ wirtschaftlichen Bedürfnissen dient . Nur dann werden wir ihrer Bevölkerung ebenso wenig möglich wie die Erziehung positiv mitwirken und auch einen entsprechenden Einfluss des Kindes ohne Schulzwang und ohne Zucht .« auf die Gestaltung der Kolonialpolitik ausüben können .«

Herman Kranold: Krieg und Kolonisation Max Schippel: Eingeborenenpolitik und (ursprünglich 1915), in: ebenda, S. 31 ff.: koloniale Selbstregierung (ursprünglich 1918), in: »Schon lange war in der deutschen Sozialdemokratie ein ebenda, S. 11 f.: langsames Anwachsen des Verständnisses für die nationa- »Keine koloniale Selbstregierung hat bisher daran gedacht le und kulturelle Bedeutung der Kolonisation zu beobachten . und kann jemals daran denken den Eingeborenen, der ges- Man gewöhnte sich allmählich ab, an ihr nur die kapitalisti- tern noch Menschenfresser oder Kopf- und Skalpjäger im schen Motive und Wirkungen zu sehen .(…) Bann des Schädelkultus war, heute und morgen sofort Gewiss ist die negative Arbeit, die die sozialdemokratische mit allen politischen Rechten des Kulturträgers oder doch Partei in der Kritik der kolonialen Angelegenheiten bisher ge- Kulturteilnehmers auszurüsten, ihn zu allen Entscheidun- leistet hat, nicht niedrig einzuschätzen; die Partei darf es sich gen über die Fort- und Durchbildung der bisher erreichten mit Recht zugute halten, wenn auch in bürgerlichen kolonial- höchsten Wirtschaftsordnung mit heranzuziehen; etwa gar, freundlichen Kreisen Deutschlands sich allmählich ein bes- beim zahlenmäßigen Übergewicht des eingeborenen Bevöl- seres und werktätigeres Verständnis für die Aufgaben des kerungselementes, bis zur maßgebenden Entscheidung der Eingeborenenschutzes geltend gemacht hat . Ihr unablässi- höchsten Kulturfragen durch die vollkommene Kulturrück- ges Bohren hat bewirkt, dass das Wort, der Eingeborene sei ständigkeit und Kulturfeindschaft .«

65 Dieser politische Tauschhandel, »Kompensationspolitik« ge- Hervorgehoben sei an dieser Stelle eine Großkundgebung nannt, traf auf den energischen Widerspruch der linken Kräf- in Berlin am 1 . Februar 1898 . Als Referentin war Clara Zet- te innerhalb der Sozialdemokratie . Franz Mehring formulierte kin eingeladen worden, die zum Thema »Flottenvorlage, Ko- unmissverständlich in der »Neuen Zeit«: »Es ist vollständig in lonialabenteuer und die Interessen der Frauen des Volkes« der Ordnung, wenn die sozialdemokratische Partei die Rech- sprach . Anwesend war ein entschiedener Flottenbefürworter te, die das Proletariat heute schon besitzt, aufs Äußerste ver- und Propagandist deutscher »Weltpolitik«, der Vorsitzende teidigt und sie mit aller Kraft zu vermehren trachtet; aber es des »Nationalsozialen Vereins«, Friedrich Naumann . wäre das denkbar schlechteste Mittel der Verteidigung, von der prinzipiell schroffen und stolzen Haltung, der die Partei Clara Zetkin lehnte in ihrer Rede die Marinerüstungen aus alle ihre Erfolge verdankt, auch nur um Haaresbreite abzu- grundsätzlichen Erwägungen ab, forderte die Einleitung so- weichen, ihren sozialrevolutionären Charakter auch nur ei- zialer Reformen für die Arbeiterklasse und den Abbau steu- nen Augenblick zu verleugnen . Käme der wunderliche Stand- erlicher Belastungen . Anstatt Etatmittel für den Kriegsschiff- punkt, Volksrechte gegen Kanonen einzutauschen, jemals in bau zu verschwenden, sollten sie für die Belange der Frauen der Partei zur Geltung, es wäre der weitaus schlimmste Feh- genutzt werden: Ihnen solle endlich Versicherungsschutz ge- ler, den ihre Geschichte zu verzeichnen hätte, der weitaus währt, ihren Kindern müsse Bildung und Schulspeisung aus schwerste Nackenschlag, den die Partei sich jemals selbst öffentlichen Mitteln gewährt werden . zugefügt hätte .«24 Zur so genannten Weltpolitik erklärte sie: »Mit der übersee- ischen Weltmachtpolitik ist eine Schwächung und Hemmung V. der demokratischen Entwicklung des deutschen Volkes ver- Bei den Abstimmungen im Deutschen Reichstag am 28 . märz bunden . Mögen Professoren, Pastoren, Doktoren und andere 1898 und am 12 . Juni 1900 gab es ein ablehnendes Votum Toren sich gefallen in der Uniform freiwilliger See-Husaren: aller sozialdemokratischen Abgeordneten zu den Flottenvor- Die deutsche Arbeiterklasse und insbesondere die proleta- lagen . Noch hatten diejenigen Politiker der SPD, die auf die rischen Frauen werden diese Narrenjacke niemals anziehen . »Kompensationspolitik« ausgerichtet waren, keinen entschei- (Nicht endenwollender Beifall) .«27 Clara Zetkins Opponent denden Einfluss gewinnen können, zumal der Mainzer Partei- Friedrich Naumann fand sich mit seinem, den revisionisti- tag im Jahre 1900 noch einmal die prinzipiell negative Haltung schen Kräften innerhalb der Sozialdemokratie entlehnten zur imperialistischen Außen- und Militärpolitik bestätigt hatte . Vorschlag, die SPD solle mit der Regierung eine Kompensa- Auch muss hervorgehoben werden, dass zahlreiche Veran- tionspolitik vereinbaren und sich nicht länger mit dem blo- staltungen von der Partei gegen die »Welt«- und Flottenpolitik ßen Opponieren und Protestieren begnügen, als Rufer in der organisiert wurden, ja, dass Versammlungen von Flottenbe- Wüste wieder .28 fürwortern, zu denen nicht zuletzt prominente, als eher libe- ral geltende Professoren zählten, von sozialdemokratischen Analysiert man die Berichterstattung des »Vorwärts« sowie Parteimitgliedern aufgesucht und – wie man es später in Zei- andere Quellen über die Durchführung von Veranstaltungen ten der Studentenbewegung zu nennen pflegte – »umfunkti- der Sozialdemokratie zur Flottenpolitik, so entsteht der Ein- oniert« wurden 25. druck, dass ihre Zahl im Jahre 1900, als das 2 . Flottengesetz Dies war um so bedeutsamer und notwendiger, weil der im zur Verabschiedung im Reichstag anstand, im Vergleich zur April 1898 gegründete »Deutsche Flottenverein« eine Un- Veranstaltungswelle des Jahres 1898 stark rückläufig gewe- zahl von öffentlichen Vorträgen sowie Flottenbesuche orga- sen ist . Ungeachtet dessen waren vor allem in Berlin wiede- nisierte, systematisch in den Schulen agitierte, immer neue rum einige Kundgebungen organisiert worden, einschließlich Flugblätter und Broschüren in Massenauflagen vertrieb und des ungebetenen Besuch in Veranstaltungen des Deutschen in trauter Zusammenarbeit mit dem »Nachrichtenbureau« im Flottenvereins . Reichsmarineamt widerstrebende Reichstagsabgeordnete vor den entscheidenden Abstimmungen »bearbeitete« sowie Am 7 . Februar 1900 gelang es der Partei, insgesamt neun- den Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften mit großem zehn Großveranstaltungen des Flottenvereins, auf denen pro- Erfolg enthusiastisch formulierte Artikel und Kommentare zu minente Befürworter der maritimen Rüstungen auftraten, wie den Marinerüstungen anbot .26 Dass die Mitgliedschaft im zum Beispiel die führenden Wirtschaftswissenschaftler Gus- Flottenverein nicht selten durch Vorgesetzte von Arbeitern, tav Schmoller und Werner Sombart, »umzufunktionieren« und Angestellten und Beamten erpresst wurde, sei hier nur am eine Resolution zu verabschieden, in der die Flottengesetze Rande erwähnt . Hierzu finden sich in den Spalten des »Vor- grundsätzlich abgelehnt wurden . wärts« zahlreiche konkrete Beispiele . Dennoch waren Defizite im außerparlamentarischen Kampf Die SPD organisierte demgegenüber besonders im Vorfeld gegen die Flottengesetze nicht zu leugnen . Franz Mehring der Abstimmungen im Reichstag öffentliche Kundgebungen war es, der in einem Beitrag in der »Neuen Zeit« mit seiner gegen die Flottengesetze . Kritik an der insgesamt unzureichenden Versammlungstä-

66 tigkeit seiner Partei gegen das Flottengesetz von 1900 nicht Beiträge zur Bewältigung eines historischen Tabus – Aufsätze und Vorträge hinter dem Berg hielt . Er schrieb hierzu kritisch, dabei den aus drei Jahrzehnten, Düsseldorf 1077; derselbe: Bündnis der Eliten . Zur Kon- tinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871–1945, Düsseldorf 1979; Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik berücksichti- derselbe: Juli 1914: Wir sind nicht hineingeschlittert . Das Staatsgeheimnis um gend: Es »hätten energische und unablässige Massenkund- die Riezler-Tagebücher . Eine Streitschrift, Reinbek 1983; derselbe: Hitler war kein Betriebsunfall . Aufsätze, München 1992 . Von den Veröffentlichungen gebungen einen fühlbaren Druck auf den Reichstag ausüben der Schüler Fischers seien hier nur hervorgehoben: Immanuel Geiss: Der pol- können, und obgleich es – dank den Arbeitern – an solchen nische Grenzstreifen 1914–1918 . Ein Beitrag zur deutschen Kriegszielpolitik Kundgebungen keineswegs ganz gefehlt hat, so spürte man im Ersten Weltkrieg, Lübeck u . Hamburg 1960; derselbe, Hrsg .: Julikrise und Kriegsausbruch 1914 . Eine Dokumentensammlung, Hannover 1963, 2 Bde ;. an ihnen doch selten etwas von jener unfassbaren, aber kei- Dirk Stegmann: Die Erben Bismarcks . Parteien und Verbände in der Spätpha- neswegs unwirksamen Stimmung, die den Massenkundge- se des Wilhelminischen Deutschlands . Sammlungspolitik 1897–1918, Köln 1970; Peter-Christian Witt: Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches 1903– bungen etwa gegen die Umsturz- oder Zuchthausvorlage ih- 1913 . Eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschland, Lübeck re eigentümliche Wucht zu geben pflegt . (…) Vielleicht sind u . Hamburg 1970 . nie über eine verlorene Sache so viele Schweißtropfen ver- 3 Zu den sozialgeschichtlich orientierten Historikern der BRD und ihrer Sicht auf die von ihnen zuvörderst als »Sozialimperialismus« interpretierte »Weltpolitik« gossen worden, wie um den Versuch, ein Bruchteilchen des des wilhelminischen Reiches vgl . vor allem: Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Proletariats auf den Flottenleim zu locken: die gänzliche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1975 u .ö . sowie die folgende Kontroverse: Geoff Eley: Die »Kehrites« und das Kaiserreich: Bemerkungen zu einer aktu- Erfolglosigkeit aller dieser Anstrengungen ist ein schönes ellen Kontroverse, in: Geschichte und Gesellschaft . Zeitschrift für Historische Ehrenzeugnis für die politische Reife der deutschen Arbei- Sozialwissenschaft, 4 .Jg ,. 1978, s .91 ff .; Hans-Jürgen Puhle: Zur Legende von terklasse . Sie hat sich keinen Augenblick über ihre Lebensin- der »Kehrschen Schule«, in: ebenda, s . 108 ff . 4 Vgl . Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital . Eine Studie über die jüngste Entwick- teressen täuschen lassen, die zugleich die Lebensinteressen lung des Kapitalismus (1910) . Mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Fred der Nation sind . Was allein fraglich sein könnte, ist nicht so- Oelssner, Berlin 1947 u .ö . 5 Vgl . den zur ersten Information nützlichen Überblick von Hans-Christoph wohl eine Verkennung als eine Unterschätzung der Gefahr: Schröder: Sozialistische Imperialismusdeutung . Studien zu ihrer Geschich- wäre den Arbeitern immer gegenwärtig gewesen, wie eng te, Göttingen 1973 . Siehe auch Hans-Ulrich Wehler, Hrsg ;. Imperialismus, 3 . die Flottenvorlage mit der ganzen reaktionären Wirtschafts- Aufl ., Köln 1976 . 6 Wladimir I . Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus . politik der beiden letzten Jahrzehnte zusammenhängt, so Gemeinverständlicher Abriss, in: derselbe, Werke, Band 22, Berlin-DDR 1960, würden sie ihr dieselbe lebhafte und unermüdliche Opposi- s . 189 ff . 7 Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital, s .XLI . tion gemacht haben, wie den Lebensmittelzöllen oder dem 8 Hierzu ausführlich: Reiner Zilkenat: Das Flottengesetz von 1898 und seine Sozialistengesetz .«29 Novellierung im Jahre 1900 . Ihre Entstehungsgeschichte und die sozialdemo- kratische Politik und Publizistik, Magisterarbeit TU Berlin, Berlin 1979; dersel- be: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land!« Vor 70 Jahren: Die Entfesselung des ersten Weltkrieges im Juli 1914, in: Konsequent, Heft 2/1984, s . 100– Reiner Zilkenat 107; Werner Ruch: Mehrings Kampf gegen Militarismus und Krieg (2 Teile), in: Rundbrief, hrsg . von der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Bun- desvorstand der Partei DIE LINKE, Heft 3–4/2010, s . 41 ff . u . ebenda, Heft 1/2011, s . 43 ff . 9 Zur Biografie des Admirals vgl . Michael Salewski: Tirpitz . Aufstieg-Schei- 1 Vgl . Fritz Klein: Deutschland von 1897/1898 bis 1917 . Deutschland in der tern-Macht, Göttingen 1979 u . Baldur Kaulisch: Alfred v . Tirpitz und die im- Periode des Imperialismus bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, perialistische deutsche Flottenrüstung . Eine politische Biografie, Berlin-DDR 4 . ufla ., Berlin-DDR 1977, s .15 ff . bes . 33 ff .; Dieter Baudis u . Helga Nußbaum: 1982, 3 ., durchgesehene Aufl . 1988 . Eine ältere marxistische, aber metho- Wirtschaft und Staat in Deutschland vom Ende des 19 . Jahrhunderts bis zum disch wie inhaltlich unverändert anregende Studie zur Thematik wurde 1965 Ende des ersten Weltkrieges, Berlin-DDR 1977; Helga Nußbaum: Zur Imperi- nachgedruckt: Eckart Kehr: Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894–1901 . alismustheorie W . I . Lenins und zur Entwicklung staatsmonopolistischer Züge Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideo- des deutschen Imperialismus bis 1914, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, logischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930, Nach- Jg . 1970, Teil IV, s .25 ff .; Willibald Gutsche: Zur Erforschung des Verhältnisses druck Vaduz 1965 . von Ökonomie und Politik im deutschen Imperialismus vor 1917, in: Zeitschrift 10 s iehe Werner Gugel: Industrielle Herrschaft und bürgerliche Herrschaft: so- für Geschichtswissenschaft (im Folgenden: ZfG), 25 . Jg ., 1977, s .711 ff .; Auto- zio-ökonomische Interessen und politische Ziele des liberalen Bürgertums in renkollektiv unter der Leitung von Gustav Seeber: Der Kapitalismus der freien Preußen zur Zeit des Verfassungskonflikts 1857–1867, Köln 1975 u . Karl- Konkurrenz und der Übergang zum Monopolkapitalismus im Kaiserreich von Heinz Börner: Die Krise der preußischen Monarchie 1858 bis 1862, Berlin- 1871 bis 1897, Berlin-DDR 1988 (Deutsche Geschichte, Band 5), s .394 ff . Die DDR 1976 . herausragende marxistische Analyse zu dieser Thematik finden wir bei Willi- 11 Franz Mehring: Der Marine-Roon, in: Neue Zeit, 15 . Jg ., 1896–97, 2 . Bd ., bald Gutsche: Monopole, Staat und Expansion vor 1914 . Zum Funktionsme- Nr . 29, s . 65 u . 68 . chanismus zwischen Industriemonopolen, Großbanken und Staatsorganen in 12 Vgl . hierzu vor allem: Volker R . Berghahn: Zu den Zielen des deutschen Flot- der Außenpolitik des Deutschen Reiches 1897 bis Sommer 1914, Berlin-DDR tenbaus unter Wilhelm II ., in: Historische Zeitschrift, Band 210, 1970, s .34 ff ;. 1986 . Siehe auch derselbe: Zur Entfesselung des ersten Weltkrieges . Aktuel- derselbe: Der Tirpitz-Plan . Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisen- le Probleme der Forschung, in: ZfG, 33 . Jg ., 1985, H 9,. s . 779 ff . Eine unver- strategie unter Wilhelm II ., Düsseldorf 1971 . Siehe auch Baldur Kaulisch: Alf- zichtbare Quellensammlung ist nach wie vor: Willibald Gutsche u . Baldur Kau- red von Tirpitz, s . 78 ff . lisch, Hrsg .: Herrschaftsmethoden des deutschen Imperialismus 1897/1898 13 Richard v . Kühlmann: Erinnerungen, Heidelberg 1948, s . 293 . bis 1917 . Dokumente zur innen- und außenpolitischen Strategie und Taktik der 14 Fürst Bülows Reden . In Auswahl hrsg . von Wilhelm v . Massow, 1 . Bd ., Leipzig herrschenden Klassen des Deutschen Reiches, Berlin-DDR 1977 . o .J ,. s . 36 . 2 Zu Fritz Fischers aufsehenerregenden Studien über die Verantwortung des 15 Fritz Klein: Deutschland von 1897/1898 bis 1917, s . 58 . Deutschen Reiches an der Entfesselung des Ersten Weltkrieges sowie zu sei- 16 Wilhelm Groener: Der Weltkrieg und seine Probleme . Rückschau und Ausblick, nen Thesen über Kontinuitätslinien des deutschen Imperialismus vgl . der- Berlin 1920, s . 45 . selbe: Der Griff nach der Weltmacht . Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen 17 Zur Haltung der Großindustrie zu den Flottenrüstungen, insbesondere zur Ent- Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961 u .ö .; derselbe: Weltmacht oder Nie- wicklung ihrer durch sie immens gesteigerten Profite vgl . Reiner Zilkenat: Das dergang . Deutschland im ersten Weltkrieg, Frankfurt a .m . 1965, 2 . ufla . 1968; Flottengesetz von 1898 und seine Novellierung im Jahre 1900, s .89 ff ,. 144 ff . derselbe: Krieg der Illusionen . Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düssel- u . 155 ff . Inzwischen äußerte sich hierzu, mit zum Teil widersprüchlicher Argu- dorf 1969; derselbe: Der Erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild . mentation zu den materiellen »Wohltaten« des Flottenbaus für die Firma Krupp

67 sowie seltsamen Unterstellungen über das Verständniss von Politik und Öko- 23 Erich Rother: Zur Theorie der Flottenfrage, in: Sozialistische Monatshefte, nomie bei marxistischen Historikern: Michael Epkenhans: Großindustrie und 3 . Jg ., 1899, No . 12, s . 643 . Schlachtflottenbau 1897–1914, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Nr . 43, 24 Franz Mehring: Immer die Alten, in: Neue Zeit, 16 .Jg ,. 1897–98, 2 .Bd ., Nr .49, Heft 1/1988, s . 65 ff .; derselbe: Zwischen Patriotismus und Geschäftsinter- s . 707 f . esse . F . a . Krupp und die Anfänge des deutschen Schlachtflottenbaus 1897– 25 Vgl . Reiner Zilkenat: Das Flottengesetz von 1898 und seine Novellierung im 1902, in: Geschichte und Gesellschaft, 15 . Jg ., 1989, H . 2, s .196 ff ;. derselbe: Jahre 1900, s . 123 ff . u . 194 ff . Die wilhelminische Flottenrüstung 1908–1914 . Weltmachtstreben, industriel- 26 Vgl . Reiner Zilkenat: Kriegsideologie und Friedensdemagogie – Das Beispiel ler Fortschritt, soziale Integration, München 1991 . der Flottengesetze im wilhelminischen Deutschland 1898 bis 1900, Vortrag 18 stenografische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, IX . Legisla- für das Faschismus-Colloquium der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 1 . Ok- turperiode, V . Session 1897/1898, 3 . Bd ,. s . 1985 . tober 1984, Ms . Zu den am meisten verbreiteten, einschlägigen Broschüren 19 protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen zählten z .B .: Adolph v . Wenckstern: Heimatpolitik durch Weltpolitik . Reden Partei Deutschlands . Abgehalten zu Mainz vom 17 . bis 21 . september 1900, zur Flottenvorlage 1900, Leipzig 1900; W . Ph . Englert: Das Flottenproblem im Berlin 1900, s . 155 u .157 . Lichte der Socialpolitik, Paderborn 1900 . 20 Vgl . Peter Strutynski: Die Auseinandersetzungen zwischen Marxisten und Revi- 27 Vorwärts, Nr . 28, 3 .2 1898,. Beilage, s . 3 . sionisten in der deutschen Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende, Köln 28 Friedrich Naumann hatte in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Die 1976 . Zustimmend zu den Auffassungen Bernsteins: Helga Grebing: Der Revisi- Hilfe« am 14 . mai 1899 in dankenswert offener Weise seine Aufforderung onismus . Von Bernstein bis zum »Prager Frühling«, München 1977, s .16 ff . Sie- formuliert, alles zu tun, um die revisionistischen Kräfte innerhalb der Sozi- he auch Horst Heimann u . Thomas Meyer: Bernstein und der Demokratische aldemokratie zu unterstützen und letztlich die Partei in eine unspezifische, Sozialismus . Bericht über den wissenschaftlichen Kongress »Die historische antikonservative Sammlungsbewegung einzugliedern . Dafür sei es erforder- Leistung und aktuelle Bedeutung Eduard Bernsteins«, Bonn u . Berlin 1978 . Zur lich, dass die SPD »einen großen Teil unnützen Utopismus und Radikalismus« zeitgenössischen »parteioffiziellen« Kritik an Bernstein vgl . Karl Kautsky: Bern- abstreife . Es müssten von ihr »bestimmte nationalpolitische Aufgaben über- stein und das sozialdemokratische Programm (1899), Berlin u . Bonn 1979 . nommen werden, aus einer reinen Protestpartei muss sich eine schaffende, 21 Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der staatserhaltende sozialistische Partei gestalten – nationaler Sozialismus auf Sozialdemokratie (1899), Reinbek bei Hamburg 1969, s .180 . Siehe auch: So- freiheitlicher Grundlage «. Zitiert nach: Willibald Gutsche u . Baldur Kaulisch, zialdemokratie und Kolonien . Mit Beiträgen von Eduard Bernstein u .a ., Berlin Hrsgg .: Herrschaftsmethoden des deutschen Imperialismus 1897/1898 bis 1919 (Wiederabdruck von Beiträgen aus den »Sozialistischen Monatsheften« 1917, s . 65 . aus den Jahren 1900 bis 1919 mit pro-kolonialistischer Argumentation – R .Z .) . 29 Franz Mehring, Maifeld, in: Neue Zeit, 18 . Jg ,. 1899–1900, 2 . Bd ., Nr . 31, 22 Derselbe: Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, in: Die s . 98 . Neue Zeit, 15 .Jg ,. 1896–97, 1 .Bd ., Nr .4, s .110 . Hervorhebungen von mir-R .Z .

68 Sammelrezension Zerstörte Vielfalt 1938. Drei neue Bücher zur Vorgeschichte des Novemberpogroms

Am Ende der Weimarer Republik wurde er zur Gewohnheit: 1933 erklärtermaßen vor allem als Warnung gegenüber »dem Der Eifer staatlicher Stellen sowie der Aktionismus von Orts- Ausland« zu verstehen gewesen, das neue Regime nicht poli- verbänden der NSDAP zur wirtschaftlichen Entrechtung von tisch als grundsätzlich judenfeindlich zu verteufeln . Juden . Schließlich gab es im Juni 1938 in Berlin eine General- Hannah Ahlheim hat mit ihrem Buch, beruhend auf ihrer 2008 probe mit antisemitischen Schmierereien an Schaufenstern an der Ruhr-Universität Bochum verteidigten, preisgekrönten und Firmenschildern . (Ernst Fraenkel Prize in Contemporary History der Wiener Li- berary 2009) Dissertation ein Standardwerk vorgelegt, das Allen in diesen Publikationen beschriebenen Handlungen war unterschiedliche Aspekte des Themas analysiert . eines gemeinsam: Sie geschahen in aller Öffentlichkeit und Die vielen vorgestellten Einzelbeispiele (vor allem aus klei- fast keiner der Täter wurde bestraft . nen Städten) belegen eindrucksvoll, antisemitische Boykott- maßnahmen gehörten zum Alltag des Lebens im Deutschland der Weimarer Republik . Allmählich, aber stetig wurde eine At- mosphäre geschaffen, solches Vorgehen für normal und legi- Alltag in der Weimarer Republik: tim zu halten . Die Ereignisse vom April 1933 waren dabei ein »Deutsche, kauft nicht bei Juden!« herausragender Höhepunkt, kamen aber für die Masse der Hannah Ahlheim: »Deutsche, kauft nicht bei Juden!« Bevölkerung keineswegs überraschend . Zäsuren waren eher Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 undeutlich, die Kontinuität des Handelns vor wie nach 1933 bis 1935, Wallstein Verlag, Göttingen 2011. (und übrigens auch nach 1935) wurden nicht als so gravie- rend für Änderungen im eigenen Verhalten empfunden . Die Stoßrichtung dieser Forderung ist eindeutig, wie ihre Die Autorin hat ihre Arbeit in zwei Hauptabschnitte geglie- Botschaft der Verfassung von 1919 widersprach: Auch Juden dert, 1924 bis 1933 und 1933 bis 1935 . Sie unterscheidet waren gleichberechtigt, waren Deutsche, so sie die entspre- wirtschaftliche und politische Boykottmaßnahmen und be- chende Staatsbürgerschaft besaßen . nennt klar deren Impulsgeber: nationalsozialistische Partei- Mit Beginn der nationalsozialistischen Diktatur wunderte gliederungen verschiedener Ebenen, die freilich im Vorgehen sich dann kaum noch jemand über antisemitische Parolen . von Wirtschaftsverbänden und staatlichen Organen nicht Der Boykott vom 1 . april 1933, minutiös von der Parteizen- etwa massiven Widerstand zu überwinden hatten, sondern trale der NSDAP in München geplant, ist weithin bekannt . gleichgerichtetes Denken und Handeln vorfanden . Überall in Deutschland waren jüdische Einzelhandelsge- Die Autorin erläutert, warum sie zwischen antisemitischem schäfte und Firmen, Rechtsanwaltskanzleien und Arztpraxen Wirtschaftsboykott und antisemitisch begründetem politi- davon betroffen . Vorgegangen wurde in kleinen und großen schen Boykott unterscheidet: »Der antisemitisch motivierte Städten nach genau erarbeiteten Listen . Auch die Losungen Boykott währen der Weimarer Republik war ein zentrales Bei- waren vorgegeben und wurden über den »Völkischen Beob- spiel für einen … ›politischen Boykott‹ . Die Aufrufe zum Boy- achter« überall verbreitet: »Kauft nicht beim Juden!« und viel kott jüdischer Gewerbetreibender stellten schnell klar, dass allgemeiner: »Die Juden sind unser Unglück!« Letztere Be- ein Boykott in diesem Fall ›nicht bei wirtschaftlichen Fra- hauptung war schon 1879 von dem Historiker Heinrich von gen‹ haltmachen, sondern ›aus politischen Motiven die wirt- Treitschke als im Kaiserreich politisch angeblich vorherr- schaftliche Schädigung unbequemer Berufs- oder Volkskrei- schende Auffassung interpretiert worden . Seit damals galt se‹ herbeiführen sollte« … Was den ›politischen Boykott‹ der sie allen Antisemiten in Deutschland als Denk- und Hand- Antisemiten auszeichnete und von anderen, durchaus auch lungsmaxime . politischen Boykottaktionen unterschied, war die Tatsache, Zwei Vorgehensweisen fallen auf, die in der nationalsozialis- dass sie jüdische Geschäftsleute nicht etwa zum Umdenken tischen Propaganda auch bei anderen Massenaktionen und oder zu einer Änderung ihres geschäftlichen oder politischen Kampagnen angewendet wurden: Unterstellt wird, antisemi- Verhaltens bewegen wollten . Formuliertes Ziel der antisemi- tische Boykotte wären spontane Aktionen eines angeblichen tischen Boykotte war vielmehr der Ausschluss von Menschen verbreiteten »Volkswillens«, keineswegs zentral politisch ge- aus der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft um ihres ›Ju- lenkt . Und eigentlich wäre der reichsweite Boykott vom April dentums willen‹« . (s . 9 f .)

69 Die Betonung der fließenden Grenzen zwischen beiden Phä- Christoph Kreutzmüller und sein Team stellten dazu über nomenen durch die Autorin legt die Frage nahe, ob diese Un- 8000 Informationen ins Netz, nachdem sie über 44 .000 Ba- terscheidung überhaupt notwendig ist . Für das Nachvollziehen sisdaten analysiert und zugeordnet hatten . Unter www .2 .hu- einzelner historischer Ereignisse durch den Leser erscheinen berlin .de/djgb kann man sie benutzen, die Daten (und Hin- sie eher unerheblich . Schließlich beweist die Autorin eindrucks- weise auf die ausgewerteten Quellen) stehen im Archiv der voll: Juden in Deutschland hatten letztlich keinerlei Chance, »Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum« und im antisemitischem Boykott zu entgehen . In der Konsequenz war Landesarchiv Berlin zur Verfügung . es für die Betroffenen eher zweitranig, ob es dafür »nur« wirt- Die Monografie belegt, dass Wirtschaftsgeschichte nicht tro- schaftliche oder klar erkennbare politische Absichten gab . cken daher kommen muss . Zwei Aspekte werden als konzep- Bemerkenswert und wenig bekannt sind die Ausführungen tionelle Grundlagen angegeben . von Hannah Ahlheim zum Widersprechen betroffener Juden Zum einen wird am Beispiel jüdischer Gewerbetätigkeit die und ihrer Organisationen . Waren diese zwar insgesamt eher enge Verzahnung von Wirtschafts- und Politikgeschichte do- Äußerungen passiver Gegenwehr, Reaktionen auf Erlebtes, so kumentiert . Jeder, der sich an der Entrechtung und Vernich- hatten sie in der Gesetzlichkeit der Weimarer Republik auch tung jüdischer Gewerbebetriebe beteiligte, konnte sich hinter die berechtigte Grundlage für die Annahme, eigentlich Recht Gesetzen und Erlassen verstecken . Scheinbar war alles legi- gegen ihre Widersacher zu bekommen . Dass diese Annahme tim, es herrschten »Recht und Ordnung« . illusorisch war und nur selten zu einem Erfolg führte, wird in Und zweitens werden Einzelschicksale präsentiert, Firmenge- dem Buch nur allzu deutlich . schichten von der Gründung bis zur Zwangsenteignung und Deutlich gemacht wird durchgängig noch ein anderer indi- dem Lebensende jüdischer Gewerbetreibender skizziert . Wer rekter Aspekt nationalsozialistischer Boykottpolitik . Es ging aus Deutschland nicht rechtzeitig entkommen konnte, wählte nicht nur um »die Juden« in Deutschland, sondern auch um den Freitod oder wurde in die Vernichtungslager deportiert . die nichtjüdische Kunden und Geschäftspartner, deren all- Einleitend erklärt der Autor sein Vorgehen, verweist auf die mähliche »Erziehung« . Außerdem wurde schrittweise ein (ei- vorgefundene Quellenlage und den Forschungsstand . Dem gentlich nicht vorhandener) Unterschied suggeriert . Deut- folgend wird in vier Kapiteln (Rahmenbedingungen; Verfol- sche kaufen etwa zu Weihnachten nur in deutschen bzw . gung und Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit; Ab- christlichen Geschäften und meiden gerade zu den Feier- wehrstrategien jüdischer Gewerbetreibender und Beispiele tagen jüdische Einrichtungen . Weihnachtsbaum oder Weih- für Deportation) der Erkenntnisgewinn der Studie vorgestellt . nachtskugeln als Dekoration auch in den Auslagen jüdischer Wichtigste, weil relativ vollständig überlieferte Quelle sind die Geschäfte wurden nicht als Konzession an den Zeitgeist und Akten des Handelsregisters . Die Studie konzentriert natürliches Geschäftsinteresse empfunden, sondern als Pro- sich auf die im Handelsregister eingetragen kleinen und mitt- vokation bewusst missdeutet . leren Gewerbebetriebe, Unternehmen, die ein Betriebskapital Mit dieser Monografie wird für ein Hauptfeld antisemitischer von mindestens 4 .000 RM und einen Jahresumsatz von min- Propaganda und Politik nachgewiesen, wie »normale Men- destens rund 30 .000 RM präsentieren konnten . schen« der beschworenen »Volksgemeinschaft« zu Mittätern Wenn der Beginn des Untersuchungszeitraums mit 1930 an- geformt wurden, die auch andere Bereiche massiver antijü- gesetzt wird, dann wird diese Entscheidung plausibel und discher Politik am Ende von Weimar und in den Anfangsjah- faktenreich begründet . Auch schon am Ende der Weimarer ren der Hitlerdiktatur als gegeben hinnahmen, gegen die ent- Republik sahen sich jüdische Gewerbetreibende mit zwei schiedener Widerstand gefährlich war . Phänomenen konfrontiert . Von Staats wegen – und nur sel- Hannah Ahlheim hat für ihr Untersuchungsfeld eine Fülle ein- ten offen antisemitisch begründet – wurden ihnen immer wie- drucksvoller Belege dokumentiert und Erklärungsmuster ge- der Hindernisse für eine freie Gewerbeausübung in den Weg geben, warum die antijüdische Politik in Deutschland weitge- gestellt . Zugleich waren diese Restriktionen von Vorfällen of- hend konfliktlos im Holocaust enden konnte . fener Gewaltausübung begleitet, von Gliederungen der NS- DAP bzw . ihr naher Organisationen wie der SA oder der Hit- lerjugend begangen . Ähnlich wie beim Boykott jüdischer Einzelhandelsgeschäfte Ausverkauf jüdischen Gewerbes in Berlin änderte sich dieses duale Vorgehen ab Januar 1933 qualita- 1930 bis 1945 tiv, aber allmählich . »Verfolgung durch Verwaltung« (so eine Christoph Kreutzmüller: Ausverkauf. Überschrift in dem Buch) und offene Gewalt gegen jüdische Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin Gewerbebetriebe häuften sich von nun an . Der Autor verdeut- 1930–1945, Metropol Verlag, Berlin 2012. licht, dass scheinbar neutrale staatliche Institutionen, Wirt- schaftsverbände und Privatunternehmen, wie z .B . Banken, Jüdisches Gewerbe in Berlin – das waren bis zum Ende der die Ausgrenzungs- und Behinderungspolitik gegenüber jüdi- Weimarer Republik ca . 20 bis 25 Prozent aller einschlägigen schen Gewerbetreibenden systematisch verstärkten – oft in Firmen der Stadt . vorauseilendem Gehorsam .

70 Mit der Studie werden die einzelnen Etappen und die ver- nung der Bevölkerung . Stationen waren dabei in Berlin die schiedenen Methoden der schrittweisen Vernichtung jüdi- Teilnahme am reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte, Fir- schen Gewerbes in Berlin ausgebreitet . In der Zusammen- men sowie Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien am 1 . ap- schau vieler Einzelheiten ergibt sich ein Bild vom Handeln ril 1933, eine neue antisemitische Gewaltwelle Anfang 1935 vieler Institutionen und in ihnen tätiger Menschen . Es wurde und schließlich im April 1938 eine qualitativ neue gesetzliche alltäglich und viele waren daran beteiligt . Es gab dabei weni- Basis für die weitere Entrechtung von Juden: Goebbels er- ger Zuschauer als »stillschweigende Dulder« (s . 378 ). reichte Hitlers Zustimmung dafür, jüdische Unternehmen in Christoph Kreutzmüller kommt zu dem Schluss: »Sobald ein Berlin zu gegebener Zeit besonders zu kennzeichnen . Die für Staat – wie im vorliegenden Fall – eine bestimmte Gruppe ganz Deutschland erlassene »Verordnung zur Anmeldung des Gewerbetreibender nach willkürlichen und überdies nicht ein- Vermögens von Juden« vom 26 . april 1938 erlaubte außer- mal im Feld der Wirtschaft verankerten Kriterien vom Zugang dem von Amts wegen ein energischeres Vorgehen . Da dies zu Ressourcen oder zum Markt ausschließt, ist die Frage des unterblieb, ergriffen lokale Instanzen in Berlin die Initiative Primats geklärt (…) In diesem Sinne war die Vernichtung der und zwangen jüdische Einzelhändler dazu, ihre Geschäfte jüdischen Gewerbetätigkeit ein totaler und in ihrer Totalität selbst besonders zu kennzeichnen (s . 19) . vernichtender moralischer Ausverkauf .« (s .378 f ). . Die Fotos der Serien von Kurt Mirbach (12 Fotos) und Hans Bleibt die Empfehlung: Das Buch lesen, die Datenbank zum Spieldoch (11 Fotos) werden detailliert untersucht . Eine ge- jüdischen Gewerbe in Berlin (einschließlich ihrer Basisdaten) naue Bestimmung wird vorgenommen, auf Besonderheiten≈– eifrig nutzen und das selbst Erprobte zur Nachahmung wei- etwa die Tatsache, dass manchmal zwei Tätergruppen am glei- terempfehlen . chen Ort nacheinander handelten und die Aussagen einzelner Außerdem kann man sich nur wünschen: Auch für Berlin wird Schmierereien sowie verwendete Symbole sich wiederholten – (wie für Bayern verwirklicht), eine Gesamtdarstellung zum wird eingegangen . Kommentiert wird der jeweilige Standort Thema: Berlin in der NS-Zeit, als Zentrale der NS-Herrschaft des Fotografen, der es vermeiden musste, allzu nahe am Tatort und herausragendes Beispiel aller Facetten der Politik, in An- aufzufallen – schließlich war es Privatpersonen verboten, der- griff genommen . artige Dinge zu dokumentieren . Die Tatsache, dass es sich um Michael Kreutzmüller und sein Team haben dafür einen Bau- eher zufällig entstandene »Schnappschüsse« und nicht etwa stein geliefert . um Pressefotos handelte, machen den besonderen Reiz der Fo- tos aus . Jedes ist auf besondere Art und Weise einmalig . Ausdrücklich empfehlen die Autoren, die Fotoserien für die pädagogische Arbeit vor allem mit Jugendlichen zu nutzen . Berliner Generalprobe für den Novemberpogrom 1938 Christoph Kreutzmüller. Hermann Simon u. Elisabeth Weber: Horst Helas Ein Pogrom im Juni. Fotos antisemitischer Schmierereien in Berlin 1938, Verlag Hentrich und Hentrich, Berlin 2012.

Die Autoren fanden im Archiv des Centrums Judaicum zwei Fotoserien . Mit ihrer Dokumentation sind diese Bilddokumen- te jetzt jedermann zugänglich . Man kann Christoph Kreutz- müller, Hermann Simon und Elisabeth Weber nur dankbar dafür sein, dass sie sich der Mühe wissenschaftlicher Klein- arbeit unterzogen haben . Die Autoren sehen in den von Ihnen untersuchten zwei Rei- hen von Aufnahmen, die von Laien im Juni 1938 fotografiert wurden, für Berlin die Generalprobe für den Novemberpog- rom 1938 . Sie nehmen eine Berlinweite Aktion an und ver- weisen auf die Tatsache, dass die dokumentierten Schmie- rereien in aller Öffentlichkeit passierten und weitgehend ungeahnt blieben . Dokumentiert wird, dass antisemitische Aktionen gegen jü- dische Einzelhandelsgeschäfte und Firmen im Sommer 1938 keine unverhofften Ereignisse waren . Gab es in dieser Hin- sicht durchaus Kontinuitätslinien, die bis in die letzten Jah- re der Weimarer Republik zurückreichten, sorgte seit Beginn der Herrschaft der Nationalsozialisten 1933 eine zunehmen- de Zahl solcher Vorkommnisse für eine schleichende Gewöh-

71 Rezensionen Widerstand und Heimatverlust. Deutsche Antifaschisten in Schlesien Cornelia Domaschke, Daniela Fuchs-Frotscher, Günter Wehner (Hrsg.) (Rosa-Luxemburg-Stiftung. Texte 73). Karl Dietz Verlag, Berlin 2012, 207 Seiten.

In der unüberschaubaren Flut der Literatur über ehemalige seitern geworden . Dass setzte sie mehrfacher Gefahr aus, deutsche Gebiete im Osten ist diese Publikation eine Aus- hinderte sie aber nicht an illegaler Arbeit . Hoffnungen, am nahme . Sie behandelt ein Thema, das wenig erforscht und Neubeginn in ihrem Geburtsort Breslau mitwirken zu können, in der Regel vom Mainstream beschwiegen wird . Antifaschis- erfüllten sich für beide nicht . Für Fred Löwenberg schlossen tischer Widerstand in Schlesien und anderen Provinzen ge- sich sogar erneut Gefängnistore, nachdem er bei den polni- hört in die Erinnerung aufgenommen und Heimatverlust sollte schen Behörden denunziert worden war . Nachdem er endlich nicht allein Vertriebenenverbänden überlassen bleiben . Anti- wieder freikam, siedelte er nach München . Hier wurde sein faschisten waren auf spezifische Weise betroffen . Sie hatten Engagement für die VVN mit Misstrauen beobachtet . Die SPD das ihnen jeweils Mögliche getan, um faschistischer Barbarei schloss ihn aus . Wieder stand eine Übersiedlung an, diesmal entgegenzutreten, und dennoch mussten sie die Konsequen- in die DDR . Sein Bruder hingegen war nach einem Intermez- zen dieser verbrecherischen Politik ebenso mittragen, wie die zo in der sowjetischen Besatzungszone der Liebe wegen nach faschistischen Parteigänger und deren passive Mitläufer . Nun Bayern gezogen, wo auch die Mutter wohnte . Alten und neu- könnte eingewandt werden, Heimat sei für Internationalisten en Nazis entgegenzutreten, ist für ihn auch im hohen Alter ohnehin nicht besonders relevant . Dies ist aber ein Irrtum . selbstverständlich . Die in diesem Band vorgestellten Lebenswege und Schicksa- le – die Täter ausgenommen – sprechen eine deutliche Spra- Mit der Skizze zum Nachkriegsjahr 1945/1946 – als aus Bres- che . Widerstand und seine Wirkungsmöglichkeiten speisten lau Wrocław wurde – von Marek Ordylowski wird die kompli- sich nicht unerheblich gerade aus der Verbundenheit zur je- zierte Situation aufgehellt und sachkundig sowie differenziert weiligen Heimat und der Verwurzelung in ihr . Ich weiß, dass beschrieben, in der sich die polnische Verwaltung befand . Der dies für manchen Leser ein schwieriges Thema ist und sich Dualismus der Machtverhältnisse in den ersten Monaten, Epi- keinesfalls für eindimensionale Überlegungen oder für Kurz- demien, Raub, Übergriffe und Racheakte sowie der Bevölke- schlüsse eignet . Tabus bringen die Diskussion aber nicht wei- rungstransfer erschwerten den Neuaufbau der Verwaltung . ter . Der Buchtitel enthält deshalb m .E . auch einen Anstoß für Deutsche Tarnorganisationen waren nicht auf den ersten Blick konzeptionelle und theoretische Debatten . von antifaschistischen Initiativen zu unterscheiden .

Die Herausgeber(innen) wollen ein in der linken kritischen Ge- Reiner Zilkenat und Marcel Bois beleuchten das historische schichtswissenschaft »bisher wenig beachtetes Forschungs- Vorfeld, das die politische Situation prägte und aus dem Wi- thema« beleuchten (s . 7) . Dazu haben sie Beiträge über derstand teilweise schöpfen konnte . Zilkenat verweist darauf, verschiedene Akteure des Widerstands in Schlesien zusam- dass die auch anderswo in Deutschland anzutreffenden Ideo- mengestellt . Daneben versuchen mehrere Beiträge das Um- logien und Themen der politischen Rechten in Schlesien »ihre feld, die Bedingungen und die Vorgeschichte des Widerstands besondere Schubkraft durch eine aggressiv-nationalistische, zu umreißen . Dazu gehört auch das von Cornelia Domasch- vor allem gegen Polen gerichtete Komponente«, erhielten ke und Daniela Fuchs-Frotscher recherchierte Täterprofil des (s . 77) . Die Deutschnationale Volkspartei und der Stahlhelm Gestapokommissars Josef Kluske, der schon in der Zeit der hatten dem Faschismus den Boden bereitet . Und revanchisti- Weimarer Republik für die politische Abteilung der Kriminal- sches Gedankengut war nicht nur am rechten Rand virulent . polizei arbeitete und sich in den Jahren des kalten Krieges in Bois zeichnet die Entstehung und das Wirken der KPD-Oppo- der Bundesrepublik einer Verurteilung entziehen konnte . sition (KPO) in Schlesien nach . Auch dies ist ein Thema, das noch weiterer Forschungen für andere Teile Deutschlands be- Im ersten Beitrag stellt Fuchs-Frotscher die Breslauer Familie darf, zumal ihre Vertreter im antifaschistischen Widerstand Löwenberg vor . Die Brüder Martin und Fred Löwenberg waren keine unbedeutende Rolle spielten . Die kommunistische Op- mit ihrer Mutter sowohl durch ihre politische Haltung als auch position verdeutliche, »dass die KPD keineswegs der mono- durch die Stigmatisierung als »Halbjuden« ab 1933 zu Außen- lithische Block war, als der sie häufig erscheint« (s . 123) .

72 Etwas mehr Raum wäre der Diskussion um eine Faschismus- schließlich den Weg durch die KZ nur mit etwas Glück und Analyse zu wünschen gewesen, da nicht jeder Leser den Lite- solidarischen Beistand überlebt . Der Beitrag vermittelt dem raturverweisen nachgehen kann . Leser eine Ahnung, wie Alltag unter Verfolgung aussah und wie Hoffnung unter diesen Bedingungen bewahrt wurde . Uta Den Widerstandsaktivitäten in Breslau und anderen Orten Hermann lässt Fritz Maiwald, den sie 2002 interviewte, mit Schlesiens gehen Günter Wehner und Klaus Woinar nach . seinen Erinnerungen an den Widerstand zu Wort kommen . Der Leser erhält damit eine Ahnung vom Umfang des Wider- Maiwald wurde 1961 in der BRD wegen angeblichen Versto- standes . Wehner, der sich in den zurückliegenden Jahren be- ßes gegen das KPD-Verbot verurteilt . Sein Fazit: »Ich war im reits um die biografische Forschung zum Widerstand in Berlin Gefängnis, bin ein paar Mal festgenommen worden und habe verdient gemacht hat, konzentriert sich auf die Sozialistische eine Menge Prozesse hinter mir, aber kleingekriegt haben sie Arbeiterpartei, die Kommunistische Jugendopposition, den mich bis jetzt nicht …« (s .163) . Walter Schmidt, dessen Vater KJVD und die KPD und die ersten drei Jahre der NS-Dikta- vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt wurde, beschreibt tur im Raum Breslau . Er stützt sich dabei auf Akten aus dem den Widerstand in seinem Geburtsort Auras, etwa 20 km von Bundesarchiv . Neben der Härte der Verfolgung wird auch die Breslau entfernt . Der Beitrag ist ein Musterbeispiel, was sich soziale Breite des Widerstands sichtbar . Dass Robert Bialek trotz schlechter Quellenlage rekonstruieren lässt . Jeder ver- und Gerhard Heidenreich auch noch nach 1945 Opfer bzw . fügbaren Spur wird mit Präzision nachgegangen . So entsteht Akteure in den Auseinandersetzungen des kalten Krieges wa- ein Bild des Ortes und der dortigen Verhältnisse . Schmidt ren, erfährt der Leser leider erst an anderer Stelle . Eine Fuß- skizziert das Schicksal seines Vaters und würdigt besonders note zu solchen Personen der Zeitgeschichte kann hier Ab- den Widerstand des evangelischen Pfarrers Holm, der sich hilfe schaffen . Woinar, der ebenfalls aus dem Bestand des der Bekennenden Kirche anschloss, sowie dessen katholi- Bundesarchivs schöpft, breitet eine Fülle von Widerstands- schen Amtsbruders Scholl, der Nazi-Haft überstand, in den aktivitäten für den Zeitraum 1933 bis 1945 aus, die er aus letzten Tagen aber der zurückrollenden Kriegsfurie zum Op- den überlieferten Meldungen der Gestapo und des Reichs­ fer fiel . Den Beitrag ergänzen Dokumente . »Wenn wir über die sicherheitshauptamtes herausfiltert . Diesem Beitrag hätte ei- Widersacher und Gegner des Systems heute etwas mehr wis- ne stärkere Systematisierung und Kommentierung gut getan . sen als über die Mehrheit«, konstatiert Schmidt, »dann ver- Zwei Zwischenüberschriften und zwei Fußnoten sind nicht danken wir das nicht zuletzt der Tatsache, dass sie von den hinreichend . Potentiellen Lesern muss nicht unbedingt be- Herrschenden verfolgt wurden und dabei schriftliche Zeug- kannt sein, was den Fachleuten selbstverständlich ist . nisse entstanden …« (s . 179) .

In den drei letzten Beiträgen des Bandes wird der Faden der Diese Zeugnisse zu heben und sie in den Focus der Erinne- biografischen Forschung wieder aufgenommen, der im ers- rung zu rücken bleibt Aufgabe der Forschung . Der vorliegen- ten Beitrag über die Löwenberg-Familie gelegt wurde . Anne de Band hat dazu einen bemerkenswerten Beitrag geleistet . Hunger stellt die Erinnerungen von Irmgard Konrad vor, die Dass an ihm Historikerinnen und Historiker sowie Laienfor- als Tochter eines jüdischen Vaters zur sozialistischen Arbei- scher verschiedener Generationen mitgewirkt haben, deutet terjugendbewegung findet, sich an ersten Widerstandsaktio- auf den Nutzen solcher Kooperation . nen beteiligt, dadurch mehrfach ins Visier der Gestapo gerät, als stigmatisierte Halbjüdin Zwangsarbeit leisten muss und Jürgen Hofmann

73 Germanien, die Archäologie und der Nationalsozialismus1 Focke Museum Bremen, Hrsg., Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz, Theiss Verlag, Darmstadtt 2013, 192 Seiten.

Wie arbeiteten Archäologie und Nationalsozialismus zusam- spiele zu finden, wie z .B . Grabungsfunde sachlich falsch in men? Dieser Frage stellte sich die vielbeachtete Ausstellung die »passende« Richtung interpretiert wurden . Die Erfindung »Graben für Germanien . Archäologie unterm Hakenkreuz«, von Germanien als abgrenzbarem »Kulturraum« oder gar als die bis 8 . september 2013 in Bremen zu sehen war . Folgt »hochstehendes« und natürlich anderen überlegenes »Volk« man dem gleichnamigen, hier angezeigten, reichhaltig illus- und als Vorläufer der Deutschen, wurde von den Nazis für ih- trierten Begleitband, so kann das Ergebnis nur lauten: Die re imperialistischen Zwecke gern verwendet . Sie stilisierten prägenden Angehörigen der Fächer Archäologie, der Vor- das (angenommene) Verhalten der »Germanen«, etwa Wan- und Urgeschichte wurden nicht funktionalisiert, agierten al- derungsbewegungen, als Freiheitskampf und banden es im so nicht »unter dem Hakenkreuz«, wie es der Untertitel von Sinne ihrer Ziele in eine breite, diese Ziele begründende Aus- Buch und Ausstellung nennt, sondern »mit dem Nationalsozi- stellungs- und Bildungsarbeit ein, propagierten und transpor- alismus« und machten nach dessen Ende dann bruchlos um- tierten die Vorstellung von »Germanien« . so erstaunlichere Karrieren . Welche Rolle die Archäologie im Nationalsozialismus spielte, zeigen die Ausstellung und das Die disziplinäre Aufarbeitung der Zusammenarbeit von Ar- Begleitbuch erstmalig, und dies anschaulich und populärwis- chäologie und Nationalsozialismus begann vergleichsweise senschaftlich aufbereitet . spät, erst Ende der 1990er Jahre . Die personelle Kontinuität in den genannten Fächern ist frappierend . Bis auf vernachläs- Die fast zwei Dutzend Beiträge des Buches rufen viele Aspek- sigbare Ausnahmen kehren alle im Nationalsozialismus akti- te ins Bewusstsein . Sie reichen von der Ausplünderung der ven schnell und erfolgreich in gut dotierte Professuren zurück . besetzten Gebiete über einzelne Grabungen zwischen 1933 Das abwechslungsreiche Buch ist für alle Interessierten, auch und 1945 bis zum Konflikt zwischen hauptamtlichen Archäo- für jene, die sich noch nie mit Archäologie beschäftigt haben, logen und der völkischen Laienforschung . Die Zahl der ar- mit Gewinn zu lesen . Seine AutorInnen und vor allem seine chäologischen Lehrstühle verdreifachte sich zwischen 1933 ProduzentInnen haben einen wichtigen Beitrag zur Kritik völ- und 1945 auf 15 . Apropos Konflikt . Die Rivalität und der Kon- kischer Denkfiguren innerhalb ihres Faches vorgelegt . flikt zwischen dem von Himmler protegierten und grundsätz- lich erfolgreicheren der SS einerseits und dem Bernd Hüttner Amt Rosenberg andererseits durchzog die ganze Zeit des Na- tionalsozialismus .

Die »Germanen« sind und waren eine Erfindung, die Römer 1 Die Rezension erschien zuerst auf der Homepage von DIE LINKE . Bremen ­(siehe http://www .dielinke-bremen .de/politik/buecherkultur/) verwendeten diesen Begriff erstmals . Im Buch sind viele Bei-

74 »Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit- entscheidet Euch, eh` es zu spät ist.« Ulrich Chaussy/Gerd R.Ueberschär, »Es lebe die Freiheit!« Die Geschichte der Weißen Rose und ihrer Mitglieder in Dokumenten und Berichten, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 2013, 534 Seiten.

Die letzten Gründe dafür, warum Hans und Sophie Scholl am den, was am 22 . Februar 1943 geschah: Mit der Hinrichtung 18 . Februar 1943 Flugblätter vor den noch verschlossenen von Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst, vier Hörsälen und in den Gängen der Universität München ab- Stunden nach der Urteilsverkündung . So stellte der Ober- legten und dann weitere in deren Lichthof warfen, werden reichsanwalt beim Volksgerichtshof fest: »Es handelt sich im wir wohl nie erfahren . War es doch eine fast in der Öffent- vorliegenden Verfahren wohl um den schwersten Fall hoch- lichkeit stattfindende, geradezu leichtfertige Aktion, die dann verräterischer Flugpropaganda, der sich während des Krieges zur Festnahme der Geschwister durch den dortigen Pedell Ja- im Altreich ereignet hat .« kob Schmid und zur Übergabe an die herbeigerufene Gestapo Der Band folgt einer logischen Gliederung: die Ereignisse des führte . Dennoch machen neue Erkenntnisse, die das jüngst 18 .Februar 1943, die Flugblattaktionen, alle sechs Flugblätter von Ulrich Chaussy und Gerd R . Ueberschär mit dem Titel »Es in vollem Wortlaut, einschließlich des Flugblattentwurfes von lebe die Freiheit!« herausgegebene Kompendium vermittelt, Christoph Probst vom 28 ./29 .1 .1943 (nicht mehr vervielfäl- annähernde Vermutungen möglich . Alexander Schmorell und tigt), eine gestraffte Geschichte der Weißen Rose, biographi- Willi Graf waren in Vorhaben des Auslegens von Flugblättern sche Angaben über die Akteure der Widerstandsgruppe und eingeweiht, ein genauer Zeitpunkt aber nicht festgelegt wor- die NS-Verfolger Robert Mohr, Anton Mahler und Roland Freis- den, selbst nicht am Abend des 17 . Februar . Es gab lediglich ler, die kurze »Nachblüte« der Weißen Rose, die Anklageschrift vermeintliche Anzeichen, sich im Visier der Gestapo zu be- vom 21 .2 .1943, das Urteil des Volksgerichtshofes und die finden . Ein an sich selbst geschicktes Flugblatt – als Test ge- Wahrnehmung und Einschätzung der Weißen Rose von 1943 dacht – war bei Hans Scholl nicht angekommen . Gab es De- bis zum Kriegsende . Hervorzuheben ist besonders die Wieder- pressionen (der Widerhall der ersten fünf Flugblätter war sehr gabe der Vernehmungsprotokolle, die durch die Gestapo im gering) und Euphorie zugleich, denn bis zum 17 .Februar hatte Ergebnis der Verhöre der Hauptakteure der Widerstandsgrup- die Gestapo keine verwertbare Spur der Gruppe gefunden? pe erstellt wurden . Sie umfassen mehr als die Hälfte des 534 Welche Rolle spielte gar der nachgewiesene Tatbestand, dass Seiten umfassenden Bandes . Nach dem Krieg kamen diese Hans und Sophie Scholl Psychopharmaka einnahmen, um ex- Protokolle in die Hände der Roten Armee, wurden dann nach treme Belastungs-und Erregungszustände einzudämmen? Die Moskau verbracht und hier einem Sonderarchiv zugeordnet . These eines Selbstopfers als Fanal zum Widerstand, die zu- Jahre später übergaben die sowjetischen Behörden die Ver- weilen ins Spiel gebracht wird, gilt als widerlegt . nehmungsprotokolle der DDR (bis auf die Unterlagen über Ale- Worin besteht der Wert des von Chaussy und Ueberschär er- xander Schmorell, der deutsch-russischer Herkunft war) . Die arbeiteten Bandes? Zum ersten Male werden die zentralen Archivalien wurden in der DDR dem Zentralen Parteiarchiv des Dokumente der Widerstandsgruppe Weiße Rose kommen- IML beim ZK der SED und z . t . dem Archiv des MfS zugeord- tiert, historisch eingeordnet wiedergegeben und ihre bestim- net . Bis 1990 blieben die Dokumente unter Verschluss und menden Akteure vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens waren (bis auf ganz geringfügige Ausnahmen) der Forschung zusammengefasst biographisch porträtiert . Dadurch werden entzogen . Ergänzt werden die nun veröffentlichten Archivali- einerseits die verbindenden Elemente der Sozialisation der en durch ein von den NS-Behörden angewiesenes Gutachten bestimmenden Mitglieder der Gruppe, andererseits ihre un- über die Flugblätter, angefertigt von dem Altphilologen Prof . terschiedlichen Wege in den Widerstand, die kollektiven und Richard Harder . Die Anklageschrift im zweiten Prozess gegen individuellen Ziele ihres Wirkens sowie der unterschiedliche die Angehörigen der Widerstandsgruppe Alexander Schmo- Anteil herausgearbeitet . Das Ergebnis ist eine plastische Tie- rell, Wilhelm (Willi) Graf und Prof . Dr . Kurt Huber ist im Band fenschärfe der Akteure der Widerstandsgruppe . Des Weite- enthalten . Alle Genannten wurden ebenso zum Tode verurteilt ren wird die hektische Aktivität der NS-Bürokratie dargestellt, und hingerichtet . Zusammenfassend ist festzustellen : Das die Angehörigen der Weiße Rose in kürzester Zeit zu ermor- vorliegende Kompendium ermöglicht dem Leser quellengesi-

75 cherte neue Einsichten in die Widerstandsarbeit der Weißen Rose, z .B ., dass ihr Wirkungskreis weit über die Stadt Mün- chen hinausreichte und von Anfang an eindeutig politischen Charakter trug, was lange Zeit infrage gestellt wurde . Wesent- lich ist die Feststellung Chaussys, dass das zweite Flugblatt, im Juni 1942 verfasst, den einzigen, bis heute bekannten öf- fentlichen Protest des inneren deutschen Widerstandes gegen den Holocaust an den Juden enthält . Die Weiße Rose folgte nicht abstrakt-moralischen Motiven und Zielen . Sie reflektier- te sehr genau den Kriegsverlauf und die Politik Hitlerdeutsch- lands sowie der Staaten der Antihitlerkoalition . Insbesonde- re das fünfte und sechste Flugblatt zeigten einen deutlichen Zuwachs an politischer Konkretheit, verbunden mit dem Auf- ruf zum direkten Handeln für den Sturz der NS-Diktatur . Die Orientierung auf den passiven Widerstand wurde aufgegeben wie auch die einseitige Orientierung auf die bildungspolitische Elite, die ausschließlich mit einer abendländisch-christlichen, durchaus elitären Argumentation verbunden war . Eine weite- re Konkretisierung der Ziele erfolgte zum Zeitpunkt der sich abzeichnenden Kriegswende zugunsten der Alliierten . Insbe- sondere Alexander Schmorell und Hans Scholl, alleinige Ver- fasser der ersten vier Flugblätter und Mitverfasser der beiden folgenden, formulierten Aufgaben für ein Deutschland »nach Hitler«: dem baldigen Kriegsende müsse eine notwendige Zu- sammenarbeit mit den westlichen Siegermächten im Interes- se der »europäischen Idee« folgen, bei Verzicht auf imperialis- tische Machtpolitik, die Ausmerzung des Militarismus und die Herstellung bürgerlich-parlamentarischer Staatsverhältnis- se . Die Erkenntnisse gipfelten schließlich (nach Stalingrad) in der Hoffnung auf die Befreiung Deutschlands durch die West- mächte und auf einen Akt der Selbstbefreiung der Deutschen . Größe, aber auch Grenzen der Akteure der Weißen Rose wer- den sichtbar . Gewisse antisowjetische, antikommunistische Vorbehalte (bei gleichzeitig uneingeschränkter Verurteilung der Verbrechen der nazistischen Okkupationspolitik in der UdSSR) sind besonders bei Kurt Huber, aber auch bei Ale- xander Schmorell und Hans Scholl nicht zu übersehen . Die von Sophie Scholl geäußerte Hoffnung, dass der Mord an den Mitgliedern der Weißen Rose eine studentische Rebellion aus- lösen würde, erfüllte sich nicht . Doch ihre Tat bleibt unver- gessen und mahnt, dem alten und neuen Faschismus mutig zu trotzen . Schon wenige Wochen nach dem Justizmord von München war dieser weltbekannt . Im Juni/Juli 1943 warfen Flugzeuge der RAF das sechste Flugblatt der Weißen Rose über Nazideutschland in hunderttausenden Exemplaren ab . Das NKFD, etwa zeitgleich in der UdSSR gegründet, organi- sierte den Abwurf des Flugblattes in großer Stückzahl über der Frontlinie . Und Thomas Mann ehrte in seiner Rede über die BBC London (27 .6 .1943) die Studenten von München mit den Worten: »Brave, herrliche junge Menschen! Ihr sollt nicht vergessen, nicht umsonst gestorben sein…Es dämmert ein neuer Glaube an Freiheit und Ehre!«

Peter Fisch

76 Worte wie Stacheln Helmut Kellershohn, Hrsg., Die »Deutsche Stimme« der »Jungen Freiheit«. Lesarten des völkischen Nationalismus in zentralen Publikationen der extremen Rechten, Edition DISS, Unrast Verlag, Münster 2013, 330 Seiten.

Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung stellt sich in die »jungkonservative Tradition der sogenannten (DISS) legt mit einem Sammelband zum Vergleich der »Jun- Konservativen Revolution« (s . 7) der 1920er und 30er Jah- gen Freiheit« und der »Deutschen Stimme« – den »beiden re . Ihr Ziel: Anschlussfähigkeit nach rechts herzustellen und wichtigsten Leitorganen der extremen Rechten« – eine gründ- hegemoniale Diskurse dort anzuzapfen, wo eine »konserva- liche Tiefenbohrung in Sachen rechter Propaganda und ihrer tive Basisbewegung« bis in die sogenannte ›Mitte‹ ansprech- Themen vor . bar ist, um mit einer »Strategie der kleinen Schritte« (s . 21 f .) Als »Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissen die »ideologische Umorientierung der Eliten und ›Leistungs- und Debatte« liegt die »Junge Freiheit« beim Bahnhofs-Pres- träger‹ zu bewirken . Die Deutsche Stimme hingegen gibt sich sefachhändler auf dem Tisch für wöchentlich erscheinende als »Fundamentalopposition von Rechts« . Sie folgt dabei als Zeitungen zwischen der Jüdischen Allgemeinen und der Jun- Partei-Organ der Programmatik und den »Machteroberungs- gle World . Eine schlichte Beobachtung zur Alphabet-Reihen- konzepten« der NPD, die die »Abwicklung« des ›Systems‹ zum folge am Zeitungsstand, über die nur zürnen und kaum lachen Ziel haben (s . 23 ff .) . Dabei stellt sich auch die DS – wie ihre kann, wer sich ab und an die Mühe macht, die »Junge Frei- Partei – bisweilen mehr oder weniger offen in eine »dominant heit« (JF), zu lesen . 1986 als Schüler- und Studentenzeitung nationalsozialistische Tradition« (s .7) . gegründet und rasch in burschenschaftlichen Kreisen an bun- Schließlich sind es auch die unterschiedlichen Grund-Struk- desdeutschen Universitäten angekommen, verkauft sich das turen der Zeitungen, die einen Vergleich schwierig machen in Berlin erscheinende Rechtsaußen-Blatt mit intellektuell- könnten, wenn die JF als vorgeblich Parteien-unabhängiges konservativem Anstrich heute im Durchschnitt wöchentlich Blatt mit Hang zur Rückendeckung und zur intellektuellen über 21 .000 mal, Auflage steigend . Der Anblick der »Deut- Unterfütterung rechtspopulistischer (Partei-)Organisationen schen Stimme« (DS), die seit 1976 als Partei-Organ der NPD doch so viel breiter aufgestellt sein kann, als das NPD-Organ . monatlich erscheint, dürfte an Kiosken, in Pressezentren und Allein die von der JF für ihre eigene Arbeit vielbeschworene Supermärkten (so zum Beispiel in manchen Geschäften der Meinungsvielfalt, ihr »Binnenpluralismus«, auf der einen und Lebensmittelkette REWE oder in einzelnen Filialen der toom- der partei-offizielle Verlautbarungscharakter der DS auf der Baumärkte) dagegen künftig stetig seltener werden . Denn anderen Seite, sorgen für eine gewisse Schräglage des ver- trotz wiederholter Sanierungsbemühungen sehen die Bilan- gleichenden Blickes, wie Helmut Kellershohn einleitend ein- zen der NPD-»Monatszeitung für Politik und Kultur« für den räumt . DS-Verlag nicht gut aus . Doch die große Stärke des gesamten Bandes, den auch die Beide Zeitungen einer vergleichenden Analyse zu unterziehen, einzelnen Beiträge auszeichnen, federt diesen spontanen Ein- das haben sich die acht Autorinnen und Autoren um Helmut druck von den sprichwörtlich unvergleichbaren »Äpfeln und Kellershohn als Herausgeber des Sammelbandes »Die ›Deut- Birnen« deutlich ab: seine Begriffsschärfe . Als Beitrag zur sche Stimme‹ der ›Jungen Freiheit‹« zur Aufgabe gemacht . »Erforschung der extremen Rechten« hangelt sich das Buch Mit Blick auf die aktuellen ›Erfolgslagen‹ scheint dieser Ver- nämlich gerade nicht an einer zwingend unscharfen Grenze gleich zwischen der JF als dem »publizistischen ›Flaggschiff‹ entlang, wenn es darum geht, einen »verfassungsrechtlich der jungkonservativen Neuen Rechten« in Deutschland (s . 5) relevanten Begriff des Rechtsextremismus« vorauszusetzen, und der DS als scheinbar rostigem ›Kanonenboot‹ der Neona- um überhaupt einen Vergleich der beiden Zeitungen anstel- zi-Partei NPD zwei durchaus sehr unterschiedliche Propagan- len zu können . Denn die AutorInnen blicken nicht darauf, wo da-Stimmen des radikal rechten Lagers zusammenzubringen . Äußerungen so gerade eben noch oder so gerade eben nicht Und auch in ihrer Programmatik und Zielgruppen-Orientierung mehr demokratisch akzeptabel sind . Sie gehen vielmehr da- verbindet beide Blätter auf den ersten Blick wenig . Als Sprach- von aus, dass »Junge Freiheit« und »Deutsche Stimme« sich in rohr der »Konservativen«, heißt es etwa im »Leitbild« der Jun- ihren Positionen durchaus verschränken und die jeweils »ver- gen Freiheit, versteht sich die JF in ihrem Wertekanon als »nati- tretenen Inhalte in ein[em] ideologische[n] Kontinuum« (s .6) onal, freiheitlich, konservativ und christlich« (s .5, s .122) und zueinander stehen . Weniger akademisch gesprochen findet

77 sich aus Perspektive der AutorInnen mehr Gemeinsames litik . Hier wie dort wird deutlich, wie sehr beide Blätter mit als Trennendes, was einen Vergleich nicht nur rechtfertigt, Nischen spielen, »Denkverbote« konstatieren, sich als »Antise- sondern auch bitter nötig macht: Beide Blätter folgen einem miten« in ihrem Recht auf Meinungsäußerung eingeschränkt Rechts-Außen-Kurs . Beide sind im Verständnis der AutorIn- sehen, ihre strafrechtliche Verfolgung wegen Holocaust-Leug- nen »rechtsextrem«, ganz gleich, ob der Verfassungsschutz nung und Volksverhetzung skandalisieren oder den »Hitlermy- sie für relevant hält, oder nicht . thos« durch weniger »inkriminierende« Ersatzikonen wie den Bindende Klammer ist, so die Kernthese des Buches und »Widerstands-Märtyrer« Claus Schenk Graf von Stauffenberg seiner Einzelbeiträge, dass sowohl »Junge Freiheit« als auch umgehen – dabei zugleich aber nicht selten verblüffend unge- »Deutsche Stimme« ein gewisses »Kernideologem«, eine schickt den eigenen Standpunkt demaskieren . Grundidee verfolgen: den völkischen Nationalismus mit all Wo Regina Wamper einleitend Adorno zitiert, fällt schließlich seinen Bestandteilen – von der völkisch/rassistischen Kons- nicht zuletzt ein schwerer Stein ins Wasser, wenn mensch sich truktion einer Einheit von Volk und Nation und ihrer inneren fragt, ob und welche Bedeutung die Ergebnisse der Beiträge und äußeren Feinde, über die Verherrlichung einer überlege- für den Alltag »da draußen«, jenseits der akademischen For- nen »Volksgemeinschaft« bis hin zur biopolitischen Perspekti- schung, haben können . Was haben die Kopfgeburten aus der ve auf den »gesunden Volkskörper« mit seinen dazugehörigen »Jungen Freiheit« und der »Deutschen Stimme« denn nun mit Zugriffen auf Familien-, Geschlechter- und Bildungspolitik . den aktuellen rassistischen, menschenverachtenden, xeno- Mit ihren Darstellungen der unterschiedlichen »Lesarten des phoben und brandgefährlichen Situationen an den Flüchtlings- völkischen Nationalismus« in den von 2006 bis 2009 erschie- und MigrantInnenunterkünften in Berlin Hellersdorf, Duisburg, nenen Ausgaben beider Zeitungen schauen die AutorInnen hier und dort und überall, zu tun, die uns an die Pogrom-Stim- folglich ganz genau hin . Denn es geht ihnen, deren Beiträge im mung der 1990er Jahre erinnern? Adorno schreibt 1962 »Zur Umfeld der Arbeit des Duisburger Instituts für Sprach- und So- Bekämpfung des Antisemitismus heute« – übertragbar auch zialforschung entstanden sind, gerade um jene feinen Unter- auf alle anderen Strukturen der Ungleichheit: »Das Tuscheln, schiede der Ausdrucksformen dieses gemeinsamen Elemen- das Gerücht […], die nicht ganz offen zutage liegende Meinung tes – des völkischen Nationalismus mit all seinen Aspekten . war von jeher das Medium, in dem soziale Unzufriedenheiten So beschreiben sechs Beiträge eben jene Themenblöcke, die der verschiedensten Art, die in einer gesellschaftlichen Ord- den völkischen Nationalismus nach ihrem Verständnis aus- nung sich nicht ans Licht trauen, sich regen . Wer sich der- machen, mit großer sprachlicher Tiefenschärfe, wenn sie die art der Meinung, dem Gerücht zuwendet, wirkt von vornher- Artikel in der »Jungen Freiheit« und der »Deutschen Stimme« ein so, als ob er einer heimlichen, wahrhaften und durch die miteinander vergleichen . Mit der Betrachtung »Rechter Pers- Oberflächenformen der Gesellschaft nur unterdrückten Ge- pektiven einer ›souveränen‹ deutschen Außenpolitik« (Mark meinschaft angehöre . Darauf spekuliert tatsächlich einer der Haarfeldt) und der Darstellung rechter Kritik am Parlamen- wesentlichen Tricks von Antisemiten [und RassistInnen, Sexis- tarismus (Giesbert Hunold und Helmut Kellershohn) und sei- tInnen …] heute: sich als Verfolgte darzustellen; sich zu gebär- nen »Systemparteien« bzw . »Kartellparteien«, wie es in der den, als wäre durch die öffentliche Meinung, die Äußerungen »Deutschen Stimme« bzw . in der »Jungen Freiheit« so unter- des Antisemitismus [und des Rassismus …] heute unmöglich schiedlich heißt, sind dabei zwei wichtige Themenfelder ›klas- macht, der Antisemit [der/die RassistIn …] eigentlich der, ge- sischen‹ Zuschnitts abgedeckt . Doch gerade die vier Beiträge gen den der Stachel der Gesellschaft sich richtet, während im zu den völkisch/rassistischen, familien- und bildungspoliti- allgemeinen die Antisemiten [und RassistInnen …] doch die schen Komponenten eines völkischen Nationalismus machen sind, die den Stachel der Gesellschaft am grausamsten und den Band lesenswert . Wo Michael Lausberg die Äußerungen erfolgreichsten handhaben .« Auch mit Papier wird das Feld zum Thema Migration in der JF und der DS in den Blick nimmt, für Gewalt bestellt . Und selbst wenn der Band zu den »Les- ein bewusst falsch verstandenes »gender mainstreaming« arten des völkischen Nationalismus« in der »Deutschen Stim- zum Hassobjekt der »Jungen Freiheit« wird oder die »Deut- me« und in der »Jungen Freiheit« nach der Lektüre in all seiner sche Stimme« mit ihrem Ruf nach einer heteronormativen bür- akademischen Präzision doch recht schwer lesbar ist, über gerlichen Kernfamilie des »Vater-Mutter-Kind« fast nebenbei weite Strecken in der Beschreibung der einzelnen Fundstellen eine Kapitalismus-Kritik von rechts einfließen lässt (wie Paul in beiden Blättern verharrt und darüber hinaus reichende ana- Bey und Laurin Walter in ihrem Beitrag zu Geschlechterdis- lytische Blicke etwa auf Motive, Kalkül oder auch Gegenstra- kursen darstellen): immer wird anhand der intensiven Aus- tegien weitestgehend fehlen: Zu zeigen, in welcher ausgeklü- wertung erschreckend deutlich, was die LeserInnen vielleicht gelten oder dummdreisten Manier die beiden Zeitungen von schon ihrem Bauchgefühl nach ahnten – Nazis sind zugleich ganz Rechtsaußen kalkuliert-absichtlich oder stumpf-zufällig dumm und kühl berechnend, peinlich planlos und gefährlich Meinung machen, ist enorm wichtig, will mensch verstehen, zusammen, ganz gleich, ob sie sich Kameradschaft, NPD, oder aus welchem Material die Fackeln sind, mit denen da bis heu- schlicht »jungkonservativ« nennen . Besonders augenschein- te, wieder und immer noch gezündelt wird . lich wird das bei den Beiträgen von Regina Wamper zum An- tisemitismus sowie von Lenard Suermann zur Geschichtspo- Anke Hoffstadt

78 Fantifa – Eine vergessen Debatte? HerausgeberInnenkollektiv: Fantifa. Feministische Perspektiven antifaschistischer Politiken, Reihe Antifaschistische Politik, Band 5, Verlag edition assemblage, Münster 2013, 194 Seiten.

Faschismus ist ein zutiefst männliches Phänomen und auch nochmals ins Bewusstsein . Eine Debatte, die bis heute nichts der Antifaschismus ist zumindest in seinen aktionistischen von ihrer Dringlichkeit eingebüßt hat . Mit »Fantifa« liegt ein Teilen oftmals sehr männlich und dominant . Dies kritisieren lesenswertes Geschichtsbuch zu einem heute eher vergesse- linksradikale Frauen Ende der 1980er Jahre und gründen fe- nen Strang der radikalen Linken vor . ministische Antifa-Gruppen, die ihren Höhepunkt in den frü- hen 1990er Jahren haben und sich in der Regel dann bald Die im Faksimile abgedruckten Texte, die über ein Viertel des wieder auflösen . Diese Gruppen – und einige wenige Män- Buches einnehmen, könnten je nach Alter der Lesenden un- ner – debattieren vor allem zwei Themenkreise . Erstens sind terschiedliche Reaktionen auslösen . Werden sich die Älteren sowohl historisch als auch gegenwärtig Frauen Nazis und vie- eher nostalgisch an ihre Jugend erinnern, könnte es gut sein, le Nazis Frauen – und damit Frauen nicht weitgehend nur dass sich jüngere vermutlich wundern, dass man wirklich so Opfer . Diese Diskussion wurde und wird in der historischen schlecht layouten kann . und in der Frauenforschung unter dem Begriff der (Mit-)Tä- terschaft von Frauen an patriarchalen oder auch faschisti- Bernd Hüttner schen Verhältnissen geführt . Zum anderen kritisieren schon damals Frauen das dominante Verhalten von antifaschisti- schen Männern, die in ihrer Analyse und erst recht in der Ak- tion Menschen ausschließen; und nicht zuletzt in ihrem ge- waltförmigen körperlichen Auftreten ihren Feinden und der Polizei doch auch recht ähnlich seien .

Das HerausgeberInnenkollektiv des Buches besteht aus zwei Frauen und zwei Männern aus Bremen, Berlin und Nordrhein- Westfalen, die sich in der autonomen, antirassistischen und antifaschistischen Linken bewegen . Im ersten Block gehen sie verstreuten Spuren nach . Sie lassen Aktivistinnen aus fünf mittlerweile nicht mehr existierenden Fantifa-Gruppen in längeren Interviews zu Wort kommen, die das konkrete Ge- schehen und die Probleme schildern . Im zweiten Teil des Bu- ches werden die theoretischen Debatten dieses Feldes und die dieses Zeitraumes nochmals vertiefend geschildert .

Antisexistisches antifaschistisches Handeln ist eben kein »Frauenthema« . Linke Männer tragen die hegemonialen Männlichkeiten mit und halten diese aufrecht – zu Antifa- schismus und Männlichkeiten finden sich zwei spannende In- terviews im dritten Teil . Danach werden vier bekanntere, der- zeit aktive, antisexistische Antifa-Gruppen aus Leipzig, Wien, Marburg und Bremen interviewt und damit die Entwicklung der letzten 10 Jahre nachvollzogen und auch einige Blicke in die Zukunft gewagt . Alle Kapitel werden mit Originaldo- kumenten des jeweiligen Zeitraumes illustriert und ergänzt . Das Buch, dessen Herausgabe von der Rosa Luxemburg Stif- tung gefördert wurde, holt eine nahezu vergessene Debatte

79 Nicht Österreicher, nicht Ungar: eine jüdische Jugend unter der Herrschaft der Achse Karl Pfeifer, Einmal Palästina und zurück. Ein jüdischer Lebensweg, Wien 2013, Edition Steinbauer, 173 Seiten.

»Einmal Palästina und zurück« ist die Autobiographie des ös- wjetunion in ein Strafbataillon in der Ukraine verschleppt . terreichischen Journalisten Karl Pfeifer von seiner Kindheit Karl Pfeifer selbst muss in der paramilitärischen Levente die- im austrofaschistischen Ständestaat bis zu seiner Rückkehr nen, die für die mit einer gelben Armbinde gekennzeichne- nach Österreich 1951 . Anders als der etwas einseitige Titel ten jüdischen Jungen allerdings nicht mit Waffenausbildung, vermuten ließe, spiegelt sich darin mindestens ebenso die sondern mit allerlei Schikanen verbunden ist . Untergetaucht Geschichte Europas wie die des britischen Mandatsgebiets, bei Verwandten am Plattensee im November 1942 rät er ei- wohin der Autor sich mit 14 Jahren retten kann . Tatsächlich nem anderen Onkel mit erstaunlicher Hellsichtigkeit, das Ge- ist dies genau so gut eine Geschichte Österreichs wie auch schäft zu verkaufen und nach Rumänien zu ziehen; in Polen Ungarns, wie auch Karl Pfeifers antifaschistisches Engage- verbrenne man Juden in Öfen . Ohne Erfolg: »Hier ist nicht ment sich bis heute gegen eine Renaissance der völkischen Deutschland, hier ist nicht Polen, hier gibt es eine tausend- Bewegung in diesen Ländern richtet . jährige christlich-ungarische Kultur« . Und BBC hören sei im Eine Grundlage für die spätere fatale Entwicklung der Nach- Übrigen verboten . folgestaaten der k .& k -. Monarchie ist schon vor seiner Geburt Aber nicht wie behauptet vom BBC stammte die Informati- angelegt: die Niederschlagung der ungarischen Räterepublik on, sondern vom im Verborgenen agierenden Schomer Ha- unter Béla Kun und die darauf folgende Einrichtung des halb- zair, der hier wie anderswo in Osteuropa den Widerstand ge- feudalen autoritären Horthy-Systems . Karl Pfeifers Eltern, die gen die Vernichtung organisiert . Karl Pfeifer hat das Glück, einer gutbürgerlichen jüdischen Familie entstammen, haben mit einer Gruppe der links-zionistischen Bewegung in Kon- sich in Österreich niedergelassen . Ungeachtet einer grund- takt zu kommen und sogar als einer von insgesamt nur 175 sätzlichen Sympathie für die jüdische Nationalbewegung hal- Jugendlichen für einen Transport nach Palästina ausgewählt ten sie sich für vollkommen assimiliert . Mit dem »Anschluss« zu werden . Über Rumänien, Bulgarien und die Türkei geht die 1938 erweist sich das schlagartig als Illusion . Aus pragmati- riskante Fahrt im Bahnwaggon, während der er einem noch schen Erwägungen zieht die Familie zurück nach Ungarn, was jüngeren Jungen helfen muss, die falsche Identität auswen- offiziell nicht mehr zulässig ist . Karls älterer Bruder Erwin hat dig zu lernen . »Darf nie wieder in das ungarische Königreich sich, abgestoßen vom grassierenden Antisemitismus, schon zurückkehren« ist in ihre Pässe gestempelt . zuvor nach Palästina abgesetzt . Im Einwandererlager in Haifa werden die Neuankömmlinge Verwandte, Eltern, Lehrer bestärken den Jungen mit bes- von einer Frau in britischer Uniform befragt . Es ist Hannah ten Absichten, ein ungarischer Patriot zu werden . Tatsäch- Szenes, die sich ein Jahr später mit dem Fallschirm über Ju- lich sind zu diesem Zeitpunkt bereits die ersten antijüdischen goslawien absetzen lässt und bei dem Versuch, den ungari- Gesetze in Kraft . Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in schen Juden zu Hilfe zu kommen, den Pfeilkreuzlern in die Österreich genügt Karl Pfeifer der erste Schultag in Uniform Hände fällt und ihr Leben verliert . Im Kibbuz treffen sie spä- eines jüdischen Gymnasiums, um festzustellen, dass er auch ter auf einen anderen jüdischen Widerstandskämpfer, der auf hier nicht willkommen ist . Wenige Monate später dehnt die gleiche Weise Kontakt zu jugoslawischen Partisanen aufge- Regierung die Diskriminierung ungeachtet der Religion auf al- nommen hatte und bis zu seiner Rückkehr als Verbindungs- le Staatsbürger jüdischer Abstammung aus . mann des britischen Nachrichtendienstes fungierte . Erst im Die große Stärke des Buches besteht darin, die Schicksale September 1944 kann der Jischuv die Aufstellung einer eige- der jüdischen Bevölkerung des früheren Österreich-Ungarn nen jüdischen Kampfbrigade durchsetzen, die als Teil der alli- anhand der authentischen Geschichte einer einzigen weitläu- ierten Streitkräfte an der Befreiung Italiens teilnimmt . figen Familie wieder zu geben : Ein Onkel ist beim Einmarsch Im Kibbuz Schaar Haamakim trifft Karl Pfeifers Gruppe auf der Horthy-Truppen in Westungarn 1919 als jüdischer Sozial- Jugendliche, die mit Transporten aus Jugoslawien und Rumä- demokrat um ein Haar der Hinrichtung entkommen . Er wird nien, oder schon zuvor – vor der deutschen Besatzung – ins später im Konzentrationslager Jasenovac von Ustascha-Fa- Land gelangten . Andere waren noch vor Ausbruch des Krie- schisten ermordet . Ein Cousin wird beim Überfall auf die So- ges aus Deutschland oder Österreich geflüchtet oder kamen

80 als »Teheraner Kinder« aus Polen über die Sowjetunion und unfreiwilligen wie zufälligen Repatriierung . »Allez, vous êtes den Iran nach Palästina . Häufig die einzigen Überlebenden chez vous«, gibt ihm der französische Gendarm an der ös- ihrer Familien werden sie als junge Erwachsene wiederum terreichischen Grenze auf den Weg . Wie sich dieses »Zuhau- auch bosnischen Waffen-SS-Angehörigen, kroatischen Usta- se« darstellen würde, hatte ihm in Paris der österreichische scha-Faschisten und Veteranen der Wehrmacht gegenüber- Konsul dargelegt . Er selbst sei beileibe kein Antisemit, und: stehen, die als Söldner des Arabischen Hochkomitees den »eben weil ich es nicht bin, rate ich Ihnen, nicht nach Öster- Judenmord auf eigene Faust fortzusetzen suchten . reich zurückzukehren« . Dass sich die Kontinuität nationalsozialistischer Ideologie darin nicht erschöpft erfährt Karl Pfeifer im Zuge seiner so Torsten Lambeck

81 Zur Geschichte der afrikanischen Diaspora in Berlin Diallo, Oumar/Zeller, Joachim: Black Berlin. Die deutsche Metropole und ihre afrikanische Diaspora in Geschichte und Gegenwart, Metropol Verlag, Berlin 2013, 280 Seiten.

Die etwa seit einem Jahr anhaltende Diskussion über die an- Westberlin, zu berücksichtigen . Denn in beiden Teilen Ber- geblich unwürdige Behandlung von in der DDR-Wirtschaft lins gab es Afrikaner und schwarze Deutsche . Im Osten vor eingesetzten sogenannten Vertragsarbeitern aus Ländern allem nach 1960, als die DDR jungen Menschen aus Afrika der Dritten Welt hat einen neuen Polarisierungspunkt erhal- die Möglichkeit eröffnete, an ihren Universitäten zu studie- ten . Und zwar in Form eines Sammelbandes, den der Histori- ren oder eine Ausbildung zu absolvieren; im Westen gab es ker Joachim Zeller und der aus Guinea stammende Soziologe schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges »Schwarze«, denn und Geschäftsführer des Afrikahauses in Berlin-Moabit, Ou- die afroamerikanischen GIs hinterließen eine Reihe von Kin- mar Diallo, herausgegeben haben . Hier sind insgesamt etwa dern mit deutschen Frauen . Leider ist dieser Thematik kein 30 Beiträge eingeworben worden, die von einer wissenschaft- eigener Beitrag gewidmet . lichen Studie, über einige biographische Skizzen aus der af- rikanischen Diaspora, journalistischen Beiträgen bis hin zu Explizit beschäftigt sich eine Studie des Historikers Ulrich Interviews reichen . Demzufolge ist die Qualität sehr unter- van der Heyden mit den Vertragsarbeitern in der DDR-Haupt- schiedlich, zumal die einzelnen Artikel unterschiedlich um- stadt . Er lehnt den Begriff des Rassismus für die Verhältnisse fangreich und anscheinend ohne konzeptionelle Vorgaben er- in der DDR ab . Vielmehr bezeichnet er vereinzelt vorgekom- arbeitet worden sind . mene Angriffe auf Afrikaner als rassistische Ressentiments, Das Anliegen des Buches ist es, laut Herausgeber, zu bele- von denen indes zumeist erst gegen Ende der DDR einige gen, dass »Menschen afrikanischer Herkunft … schon seit Ge- Mosambikaner zu berichten wissen . Die Mehrzahl kann sich nerationen in Berlin (leben) und … die Spreemetropole und ih- auch bei intensivster Nachfrage an solche Erscheinungen in re Transkulturalität« prägen (s . 9) . früheren Zeiten, seit 1979 waren sie in der DDR, nicht erin- nern . Anhand von eingehender Auswertung der entsprechen- Der vorliegende Sammelband tat, was ein solcher bei so ei- den Akten, vor allem denjenigen aus der Gauck-Behörde und ner anspruchsvollen Themenstellung tun kann . Es werden in des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne, welches für den unterschiedlicher Intensität, abhängig von den vorhandenen Einsatz der Vertragsarbeiter zuständig war, sowie durch In- historischen Quellen und potentiellen Autorinnen und Auto- terviews mit Mosambikanern kann er belegen, dass es sich ren, die sie auszuwerten vermögen, die einzelnen Phasen der dabei nicht um ein Massenphänomen handelte, welches den afrikanischen Migration in den vergangenen drei Jahrhunder- Begriff des Rassismus rechtfertigen würde . Rassistische ten bis in die Gegenwart hinein beleuchtet . Dabei wurde viel Ressentiments bildeten sich jedoch erkennbar aus der zu- Neuland betreten . nehmenden Konsumkonkurrenz im Prozess der realsozialis- tischen Krise, die indes nur relativ selten gewaltsame For- Es fällt allerdings auf, dass so manche bereits vorliegen- men annahmen und mit den späteren rassistischen Orgien in de wissenschaftliche Ausarbeitung zur Thematik nicht zur Hoyerswerda oder Lichtenhagen absolut nicht vergleichbar Kenntnis genommen, zumindest nicht erwähnt worden ist . waren, heraus . Wenn es jedoch zu gewaltsamen Vorkomm- Denn es existieren bereits Bücher zur Geschichte der koloni- nissen kam, wurden diese streng geahndet . Jede dieser Aus- alen Erinnerungsorte sowie zur Geschichte der afrikanischen sagen ist mit Quellen belegt . Diaspora in der deutschen Hauptstadt sowie dazu unzählige Wie anders, ja geradezu konträr, liest sich dagegen in der Aufsätze . Zumeist enden die bisherigen Arbeiten mit dem En- Einführung der Herausgeber die Passage über die afrikani- de des Ersten, im besten Falle mit dem Zweiten Weltkrieg . schen Vertragsarbeiter in der DDR bzw . in deren Hauptstadt . Nunmehr befassen sich auch einige Beiträge explizit mit der Ohne Belege anzuführen, werden Behauptungen aufgestellt, Geschichte der afrikanischen Diaspora in Berlin in der zwei- die, wenn mit Quellenkritik gearbeitet worden wäre, in einem ten Hälfte des 20 . Jahrhunderts . Das ist ein Novum, zumal einen wissenschaftlichen Anspruch erfüllen wollenden Buch man sich bemühte, die Entwicklungen, sowohl in Ost- wie in nicht hätten vorkommen dürfen . Sie bemühen sich zu bele-

82 gen, dass es zu DDR-Zeiten Rassismus gegeben hat . Ist es wenigsten mit der eigenen Erfahrung; man stört dämonisie- nur Unkenntnis über die reale politische Situation der DDR- rende Fiktionen . Im unbedingten Willen, diese Leute wenigs- Gesellschaft? Aber sollte man sich dann anmaßen, wenn tens sanft zu korrigieren, habe ich nachgelassen . Es bringt auch nur zu ausgewählten Aspekten, darüber zu urteilen? nichts; weil die Weltsichten nicht zueinanderfinden, gibt es Denn nichts anderes ist es, wenn unbewiesene Behauptun- auch in Details keine Annäherung oder zumindest die Mühe, gen entweder direkt oder durch kommentarlosen Abdruck die Erfahrung und Interpretation des anderen zu tolerieren .« von entsprechenden Äußerungen wiedergegeben werden . Den Apartheid-Vergleich werden sicherlich Südafrikaner, die Somit wird ein Bild vermittelt, welches eher das der Auto- unter dieser Rassenpolitik, die übrigens von der Bundesrepu- ren über ihr Bild von der DDR darstellt, als das der Realität . blik in vielfältiger Weise unterstützt wurde, gelitten haben, als Damit liegen sie aber nicht außerhalb des mainstreams der Beleidigung empfinden . Solche plumpen Verbalien aus der gegenwärtigen DDR-Geschichtsaufarbeitung . Dadurch wird Zeit des Kalten Krieges gehören eigentlich nicht in ein wis- jedoch der insgesamt positive Gesamteindruck des Buches senschaftliche Ansprüche erhebendes Buch . geschmälert . Manche Formulierungen bzw . Aussagen in der Einführung Auf s . 13 ist zu lesen, dass in der DDR Ausländerfeindlich- sind geradezu lächerlich . So die Abbildung einer Karikatur keit und Rassismus »offiziell negiert wurden« . Zunächst ist auf s . 14 . Hier ist eindeutig die Zeit nach der Wende ge- falsch, von diesen Erscheinungen über die 40jährige Existenz meint . Sie zeigt Polizisten in Uniform, die einen ganz offen- der DDR zu schreiben . Es gab außer in den Köpfen heuti- sichtlich lädierten Afrikaner, der vermutlich Anzeige wegen ger Schreiber bis in die 80er Jahre hinein wohl nur in den eines rassistisch bedingten Überfalls erstatten will, nicht seltensten Fällen rassistische Ressentiments; wohl gemerkt: ernst nehmen . Dazu kann nur gesagt werden, dass die Poli- keinen Rassismus . Dieser hätte Netzwerke, entsprechende zisten nach der Wende stark verunsichert waren, Angst um Literatur, Blindheit der Justizorgane und der Polizei etc . vor- ihren Job hatten, auch Angst vor brutal vorgehenden Rechts- ausgesetzt . Die Ressentiments sind in der Tat erst seit etwa radikalen, was freilich alles keine Entschuldigung für solches Mitte der 1980er Jahre belegbar . Und zum anderen wurden Verhalten ist . Da mag dies so, wie in der Karikatur angepran- ausländerfeindliche Vorkommnisse nicht »negiert«, sondern gert, vorgekommen sein . Aber nicht in der DDR! Die Ver- zumindest in der örtlichen Presse behandelt, in öffentlichen fasser verkennen vollständig die gesellschaftliche Situation Aussprachen in Betrieben oder Schulen ausgewertet, in zu- in einer Diktatur . Welcher Polizist hätte sich gewagt, seiner gänglichen Gerichtsverhandlungen konnte sich jeder über die Dienstpflicht nicht nachzukommen? Außerdem deuten die Straftaten informieren . Selbst die FAZ berichtete darüber, un- Uniformen an, dass es sich nicht um Volkspolizisten aus der ter Berufung auf entsprechende Artikel in der »Bezirkspres- DDR handelt . se« . Es stimmt nicht, dass »von staatlicher Seite und den Me- Formulierungen wie »überhaupt sollen Afrikaner … Aversio- dien (dies) nicht öffentlich gemacht worden« ist . nen in der DDR-Bevölkerung ausgelöst haben« (s . 15) gehö- Ebenso unsinnig, weil unzutreffend, ist die Übernahme des ren nicht in einen geschichtswissenschaftlichen Artikel oder Begriffs »Kasernierung« durch die Verfasser der Einführung in ein wissenschaftlichen Anspruch reklamierendes Buch . Au- für die Charakterisierung der Unterbringung der meisten Ver- ßerdem, wenn man den Verfassern folgen mag, müssen dann tragsarbeiter in Wohnheimen . Sie lebten in Wohnheimen, wie etwa 1000 ostdeutsche Frauen (soviel deutsch-mosambika- deutsche Studenten und Arbeiter auch . Viele haben in ihrer nische Kinder gab es 1989) Aversionen erfahren haben . Im Heimat noch nie so einen Komfort gesehen . Jeder, der von Einzelfall mag dies durchaus zutreffend sein, aber Pauschali- Kasernierung spricht, wird wohl noch nie eine Kaserne oder sierungen lassen sich leichter behaupten, als die Zurkenntnis- ein Kasernenleben kennengelernt haben . nahme der Realität . Deutlich wird immer wieder, dass, wenn es sich um DDR-spezifische Themen handelt, man solche Be- Noch abwegiger ist die Aussage in der Fußnote 13, in der zu- hauptungen gefahrlos aufstellen kann . Wer sollte denn auch stimmend zitiert wird, dass »es eine DDR-spezifische Form widersprechen? Wenn dies nunmehr wissenschaftliche Krite- der Apartheid« in Bezug auf die Vertragsarbeiter gab . Kein rien sind, kann auch festgestellt werden, dass Marsmenschen Mosambikaner hat dies je so behauptet, aber heutige Ver- auf dem Alex gesichtet worden seien . Vermutlich sogar wäh- fasser meinen dies, ohne die geringsten selbst erlebten Er- rend eines SED-Parteitages! fahrungen oder die notwendige Quellenkenntnis zu besitzen . Die immer in der Literatur wiederholte »Gaststättenproble- Solche, den wissenschaftlichen Standards zuwider laufen- matik«, nach der Afrikaner in Lokalitäten nicht bedient wor- den Aussagen erinnern daran, was einst Hans Modrow an- den seien, sah auch ganz anders aus, wenn man sich der Mü- gesichts der Ignoranz einiger Menschen aus dem Westen, ihr he einer entsprechenden Recherche unterzogen hätte . Oder vorgefasstes Bild der DDR zu korrigieren, schrieb: »Aber in- sich von seinen Vorurteilen gelöst und sich damit beschäftigt zwischen weiß ich, dass es bei bestimmten Leuten im Zu- hätte, warum so etwas vorgekommen ist . sammenhang mit DDR-Strukturen festgefügte Wunschinter- Im Übrigen gibt es auf Grundlage von Interviews viel mehr ge- pretationen gibt, gegen die man nicht andiskutieren kann, am genteilige Beispiele über das angeblich schlechte Leben der

83 Vertragsarbeiter in der DDR . Aber man ner als Vertragsarbeiter ja etwas Posi- kann ja irgendetwas behaupten . Wenn tives erlebt haben, ganz zu schweigen es etwas Negatives zur DDR-Geschich- davon, was die DDR-Bevölkerung für sie te ist, wird keiner einen Widerspruch an Solidarität aufgebracht hat . wagen . Die – in der Regel unbewiesene – Kri- Diese Bewertung trifft auch auf die tik an den Zuständen der Vertragsarbeit Feststellung zu, dass aufgrund der ist zudem ein deutliches Indiz für eine Hautfarbe jemand nicht den Beruf er- paternalistische oder rassistische Ein- lernen durfte oder dasjenige Fach stu- stellung der Autoren . Denn es heißt ja dieren konnte, das er bevorzugte . Die nichts anderes, als dass die Afrikaner heutigen Experten haben anscheinend zu unwissend oder zu dumm gewesen noch niemals etwas von »Umlenkun- waren, um ihre Interessen durchzuset- gen«, Studienlenkungen und ähnlichem zen . Dies war jedoch mitnichten so! gehört, was heute in etwa mit dem Nu- Jeder kann sich zu bestimmten histori- merus Clausus vergleichbar ist . Im- schen Erscheinungen, Prozessen, Vor- merhin gab es in der DDR eine Plan- gängen in einer Weise äußern, wie er wirtschaft, in der keiner sein Studium es für richtig und angemessen hält . Be- abgeschlossen oder sein Ausbildung kanntlich gibt es stark divergierende absolviert habender junger Mensch Betrachtungen und Bewertungen der auf der Straße stehen oder mit Taxifah- Geschichte . Jedoch kann doch erwartet ren seinen Lebensunterhalt verdienen werden, gerade von Historikern, dass musste . Wenigstens auf diesem Gebiet nicht dem mainstream ohne Quellen- hat die Planwirtschaft einigermaßen belege oder Quellenkritik zum Munde funktioniert . geredet bzw . geschrieben wird . Dies ist besonders verwunderlich, wenn – wie Auf s . 16 der Einführung wird behaup- in diesem Falle – mit einem Satz darauf tet, dass es in der DDR »oftmals« Atta- hingewiesen wurde, dass durch die Ver- cken auf die Vertragsarbeiter gab . Als tragsarbeit tausenden von jungen Afri- Beleg in einer Fußnote wird auf zwei kanern das Leben, die Gesundheit, die Vorkommnisse verwiesen . Zukunft gerettet wurde . Da muss man Zwar haben sich die Herausgeber si- ja nicht einmal die Meinung von betrof- cherlich bemüht, vor allem in Form von fenen Afrikanern teilen, wie die kürzlich Interviews, auch Afrikaner und »schwar- veröffentlichte von I . D . Honwana, der ze Deutsche« zu Wort kommen zu las- seine Stellungnahme mit »Berlin – Er- sen, womit belegt ist, dass auf deren innerungen an ein Paradies« betitelte . Sicht Wert gelegt wird . Jedoch werden die Einschätzungen von ehemaligen Das Anliegen des Buches insgesamt ist Vertragsarbeitern über ihr Leben in der zu begrüßen und die Beiträge sind gut DDR, welche in der Einführung hätten geschrieben, verallgemeinern bisheri- verwendet werden können, vollständig ge Erkenntnisse oder legen neue vor . negiert . Zum Abschluss: Es bleibt der Ausweg, Dabei hätte bei Berücksichtigung der den Daniela Dahn aufzeigte: »Die heu- vorliegenden Meinungen festgestellt te dominierende Geschichtsschreibung werden können, dass das Verhältnis über die DDR … ist voll von Verzerrun- der schriftlich belegten (oder als Inter- gen, Verkürzungen und Verleumdun- view geführten) Aussagen von ehema- gen … Zuerst regt man sich noch auf, ligen mosambikanischen Vertragsar- dann schüttelt man nur noch den Kopf, beitern über die Einschätzungen »ihrer schließlich langweilt es einen, und man DDR«-Zeit etwa 1 zu 20 beträgt . War- sagt: Lass sie, sie reden über ein Land, um, so muss man fragen, versteifen in dem ich nicht gelebt habe «. sich die Herausgeber nur auf ein Zwan- zigstel der Meinungen? Ulrich Ramm Direkt ins Auge springt, dass darauf verzichtet wurde, dass die Mosambika-

84 Schicksalen wieder ein Gesicht gegeben Stiftung niedersächsische Gedenkstätten: Bergen-Belsen. Kriegsgefangenenlager 1940–1945. Konzentrationslager 1943–1945. Displaced Persons Camp 1945–1950. Katalog der Dauerausstellung, Wallstein Verlag, Göttingen 2009, 384 Seiten.

Als das Konzentrationslager Bergen-Belsen am 15 . pril a als »Aufenthaltslager« für jüdische Häftlinge gegründet, die 1945 von britischen Soldaten befreit wurde, bot sich ihnen gegen sog . Palästinadeutsche ausgetauscht werden sollten . ein grauenerregender Anblick . Das Lagergelände war mit Lei- Da die britische Regierung dem Vorschlag zustimmte, kam es chen übersät, Häftlingsbaracken mit Leichen vollgestopft, die in der Tat zweimal zu Austauschaktionen: 45 britische und 69 sich in unterschiedlichen Stadien der Verwesung befanden, deutsche Inhaber palästinensischer Pässe wurden im Dezem- insgesamt über 18 .000 Leichen . Seit März hatte man die To- ber 1941 bzw . im November 1942 gegen 300 »Palästinadeut- ten einfach liegenlassen oder zu Haufen getürmt . Bei der ho- sche« ausgetauscht . Daraufhin stellte Himmler sich im De- hen Sterblichkeit kamen täglich Hunderte hinzu . zember 1942 vor, bis zu 10 .000 Juden als »wertvolle Geiseln« In anderen Baracken lagen rund 60 .000 kranke oder todkran- in einem Lager zu versammeln . Er wies das Reichssicher- ke Menschen, eng zusammengepfercht, oft bis auf das Ske- heitshauptamt (RSHA) an, Juden für den weiteren Austausch lett abgemagert . Von ihnen starben auch nach der Befreiung in Listen zu erfassen . Auch das Auswärtige Amt befürwortete noch 14 .000 an Hunger, Erschöpfung und Seuchen . Diese diese Pläne . Häftlinge hatten seit vielen Tagen weder Verpflegung noch Das »Aufenthaltslager« war in mehrere, weitgehend vonein- Trinkwasser erhalten und waren schon über Monate hinweg ander getrennte Lagerabteilungen gegliedert, in denen die kaum verpflegt worden . Von hygienischen Verhältnissen zu »Austauschjuden« nach ihrer Nationalität untergebracht sprechen, ist angesichts des Mangels an Toiletten, Wasser waren . Auf Weisung des RSHA wurden diese »Lager inner- und medizinischer Versorgung, grassierenden Fleckfiebers halb des Lagers« unterschiedlich behandelt, je nach den und Durchfalls unangebracht . Die SS-Lagerführung unter- angestrebten Zwecken . Die »Austauschjuden« in den an- nahm so gut wie nichts, um die Seuchen einzudämmen . Häft- deren Lagerteilen unterstanden nicht der Inspektion der linge, die mehrere deutsche Konzentrationslager durchlitten Konzentrationslager, sondern unterlagen der Regie des hatten, nannten Bergen-Belsen das schmutzigste aller deut- Reichssicherheitshauptamtes­ . Da sie nicht arbeiten muß- schen Lager . ten, zeigten die Funktionäre der Amtsgruppe D (Inspektion Britische Sanitätssoldaten bemühten sich um die Rettung der Konzentrationslager) im Wirtschaftsverwaltungshaupt- der kranken Häftlinge; britische Korrespondenten schickten amt der SS keinerlei Interesse am Aufbau und Ausbau des die Bilder des Grauens in die ganze Welt . Seitdem wurde der Lagers, sie stellten nicht einmal Baumaterial zum Ausbau Name Bergen-Belsen zum Symbol für die Greuel der nazisti- der Baracken und für ausreichende sanitäre Anlagen zur schen Konzentrationslager . So wie die Fotos aus dem von der Verfügung . Sowjetarmee befreiten Majdanek bei Lublin 1944 der Weltöf- Neben den Einzellagern für »Vorzugsjuden« gab es in Bergen- fentlichkeit die Realität der faschistischen Vernichtungsstät- Belsen von Anfang an das sog . Häftlingslager, in dem Bau- ten auf polnischem Boden vor Augen führten, so prägten die kommandos mit 5 .000 russischen und polnischen Häftlingen Erfahrungen britischer Soldaten in Bergen-Belsen 1945 das untergebracht waren . Nur dieser Teil wurde wie ein Konzen- Bild des Massensterbens in einem deutschen Konzentrati- trationslager verwaltet . Die Häftlinge trugen Sträflingsklei- onslager . dung, erlitten grausame Mißhandlungen durch SS und Kapos Bergen-Belsen war zunächst seit 1940 ein Kriegsgefangenen- und mußten bis zur Erschöpfung arbeiten . Ihre Sterblichkeit lager . Auf der Suche nach einem geeigneten Platz für das im war sehr hoch . Frühjahr 1943 gegründete Konzentrationslager wurde das Die Austauschpläne erwiesen sich bald als fiktiv . 1944 wur- ehemalige Stammlager (Stalag) XI C/311 der Wehrmacht für de der Charakter des Lagers verändert: Größere Rüstungs- russische Kriegsgefangene ausersehen, weil es leer stand . betriebe, in denen die Häftlinge Zwangsarbeit hätten leisten Hier waren im Herbst und Winter 1941 rund 44 .000 russische können, gab es in der Umgebung nicht . Deshalb wurde Ber- Kriegsgefangene gestorben, an Fleckfieber, Ruhr und Typhus, gen-Belsen im März 1944 zum Aufnahmelager für kranke und vor allem aber wegen mangelnder Ernährung . erschöpfte, nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge anderer Kon- Anfänglich nahm Bergen-Belsen innerhalb des Konzentrati- zentrationslager bestimmt . In der folgenden Zeit erreichten onslagersystems eine gewisse Sonderstellung ein . Es wurde Transporte mit Häftlingen das Lager Bergen-Belsen, die we-

85 der untergebracht noch versorgt werden konnten . Es han- ren Katalog der Wallsteinverlag 2009 herausbrachte, stellt delte sich zunächst um Krankentransporte aus anderen KZ, die Geschichte dieses Ortes des Terrors in jeweils eigenen beginnend mit eintausend tuberkulösen Häftlingen aus dem Teilausstellungen für das Kriegesgefangenenlager, das Kon- Lager Dora bei Nordhausen . Bergen-Belsen besaß aber nicht zentrationslager und das DP-Camp vor . Auch der neue Ka- einmal die erbärmlichen medizinischen Versorgungseinrich- talog folgt dieser Gliederung . Die gegenwärtige Ausstellung tungen anderer Konzentrationslager; die hierher transportier- hatte mehrere Vorgänger . 1952 wurde eine auf einem größe- ten kranken Häftlinge waren sich selbst überlassen und star- ren Teil des ehemaligen Lagergeländes angelegte parkähnli- ben massenhaft . Die Inspektion führte zusätzlich den Mord che Friedhofsanlage dem Land Niedersachen übergeben und durch das »Abspritzen« kranker Häftlinge ein . im selben Jahr als erste Konzentrationslagergedenkstätte der Bundesrepublik überhaupt eröffnet . »Es gab keine historische Der zweite Strom ankommender Häftlingstransporte kam Kommentierung, keine Sichtbarmachung der historischen To- aus den Konzentrationslagern im besetzten Polen, die vor pographie des Lagers, keine Sicherung der baulichen Über- der herannahenden Roten Armee geräumt wurden . Obwohl reste als Bodendenkmäler . Die Toten in den Massengräbern die Massensterblichkeit in Bergen-Belsen seit dem Winter blieben anonym« – kommentiert der heutige Geschäftsführer 1944/1945 ein Ausmaß erreichte, das das anderen Lager der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Habbo Knoch, übertraf, blieb die Überfüllung durch die laufend eintreffen- im Vorwort des Katalogs die Gestaltung dieser ersten Ge- den Transporte bestehen und wurde weiter gesteigert . denkstätte . (9)

Mit den ersten Transporten aus Dora brachte die SS im März 1966 und 1990 eröffnete die Gedenkstätte jeweils eine neu- 1944 kriminelle Häftlinge nach Bergen-Belsen mit, die hier gestaltete Dauerausstellung, doch für beide gab es noch kei- das »wilde Kaporegime« anderer Konzentrationslager einführ- ne ausreichende Forschungsgrundlage . Dies sollte mit der ten, in denen die Häftlingsfunktionen vorwiegend Kriminel- Einrichtung eines Dokumentationszentrums 1990 verändert len übertragen worden waren . Mit dem Wechsel in der La- werden . Seit 2000 wurde die Gedenkstätte nicht nur vom gerführung am 2 . Dezember 1944 wurde diese Angleichung Land Niedersachsen, sondern auch von der Bundesrepub- an die anderen Konzentrationslager vollendet . An diesem Ta- lik finanziell gefördert . Das neue Dokumentationszentrum ist ge wurde der SS-Hauptsturmführer Josef Kramer als Lager- begehbar, es stellt dem Besucher in biographischen und the- kommandant eingesetzt, er hatte viele Jahre in verschiede- matischen Medienstationen jeweils ein Ensemble kommen- nen Konzentrationslagern Erfahrungen gesammelt, zuletzt in tierter Quellen zur Verfügung . Der Katalog veranschaulicht Auschwitz-Birkenau . Er war gegenüber den Häftlingen brutal Breite und Umfang dieses dokumentarischen Materials, auch und hemmungslos, gegenüber den SS-Vorgesetzten subal- wenn er jeweils nur punktuell auf diese Materialien zurück- tern und willfährig . Als erstes verwandelte Kramer die Reste greifen kann . des »Aufenthaltslagers« endgültig in ein »normales« KZ: Die knapp 6000 »Austauschjuden« waren nun keine »privilegier- Herausgeber und Autoren des vorzüglich gestalteten und ten« Lagerinsassen mehr, die Kapos prügelten sie wie die an- sehr reichhaltig mit Bildern, Karten, Faksimiles und Schema- deren . Die bescheidenen Institutionen jüdischer Selbstver- ta ausgestatteten Katalogs verfolgen zwei Anliegen: Erstens waltung wurden aufgehoben . die Toten der Massengräber und die namenlosen überleben- Nachdem die meisten Überlebenden von Bergen-Belsen in ih- den Häftlinge der Anonymität zu entreißen und möglichst re Heimat zurückgekehrt waren, blieben dort vor allem Polen vielen Opfern Namen und Gesicht wiederzugeben mit Da- und Juden zurück . Sie wurden in eine nahe Wehrmachtkaser- ten ihrer Biographie . Der Band ist so durch seine Bilderfol- ne gebracht und dort medizinisch versorgt . Wegen der gras- gen strukturiert, in erster Linie Porträts, sodann Fotos aus sierenden Seuchen im Lager haben britische Soldaten die La- dem Leben der Porträtierten, nicht zuletzt auch die Aufnah- gerbaracken verbrannt . men der britischen Journalisten nach der Befreiung im April 1945 . Alle Bilddokumente sind mit kurzen Informationen über Für die verbliebenen Überlebenden wurden im Sommer 1945 die Abgebildeten und die Quelle versehen . Auch die Schinder zwei getrennte Camps für Displaced Persons eingerichtet . der SS wie Kommandant Kramer werden mit Fotos kennt- Die aus ganz Europa nach Deutschland verschleppten KZ- lich gemacht . Zweitens verstehen es die Autoren, mit Karten Häftlinge und Zwangsarbeiter erhielten nach der Befreiung bzw . kartographischen Schemata die Herkunft und Wege je- von den Alliierten den Rechtsstatus einer »Displaed Person« ner Häftlinge nachzuzeichnen, die nach Bergen-Belsen trans- (DP) . Im polnischen Camp lebten zeitweise über 10 .000 Per- portiert wurden . Hervorgehoben sei, daß die Ausstattung mit sonen, es wurde 1946 wieder aufgelöst . Das Camp für jüdi- zahlreichen faksimilierten Dokumenten sowie mit Struktur- sche DP in Bergen-Belsen war das größte in Deutschland und schemata die Zusammenhänge von Bergen-Belsen mit ande- umfaßte bis zu 12 .000 Menschen . Nach Auswanderung der ren Lagern im KZ-System veranschaulicht . meisten jüdischen DP wurde es im Sommer 1950 aufgelöst . Seit 1995 gibt die Niedersächsische Landeszentrale für po- Die 2007 eröffnete Dauerausstellung der Gedenkstätte, de- litische Bildung unter Mitwirkung des Wissenschaftlichen

86 Beirats für Gedenkstättenarbeit in loser Folge die Bergen- Forschungsberichte publizieren, präsentiert der großzügig Belsen-Schriften heraus, in deren Bänden Tagebücher, Erinne- ausgestattete Katalog die medial gestalteten Stationen der rungsberichte der ehemaligen Häftlinge aus unterschiedlichen Ausstellung . »Kein individualisierbares Dokument ohne eine Ländern sowie Dokumente, Quellen und Forschungsarbeiten zumindest knappe Erläuterung zur Person – dieses Grund- veröffentlicht werden . Bisher erschienen sieben Bände, die prinzip der Ausstellung, einzelne Schicksale wieder sicht- meisten bei Vandenhoeck & Ruprecht . bar zu machen, ist für den Katalog übernommen worden, Im Unterschied zu den Dachauer Heften oder den Beiträgen verbunden mit einer Auswahl ausführlich vorgestellter Le- zur nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland bensgeschichten von Menschen, die als Kriegsgefangene, werden sie nicht von einer Gedenkstätte oder deren wis- KZ-Häftlinge oder Displaced Persons in Bergen-Belsen wa- senschaftlicher Einrichtung, sondern von einer Landeszent- ren .« (10) rale für politische Bildung herausgegeben . Während die Bän- de der Bergen-Belsen-Schriften vorrangig Erinnerungs- und Werner Röhr

87 Geschichte als Schlachtfeld Christian Lannert, »Vorwärts und nicht vergessen«? Die Vergangenheitspolitik der Partei DIE LINKE und ihrer Vorgängerin PDS, Wallstein Verlag, Göttingen 2012, 292 Seiten.

Der Titel läßt aufhorchen . »Vorwärts und nicht vergessen«? schiedenen Positionen zu vereinigen, was allzuoft einer Qua- hat der junge Historiker Christian Lannert seine Dissertati- dratur des Kreises gleich kommt . Mit bissigen Worten kriti- on genannt . Im Untertitel benennt er konkret den anvisier- siert der Autor die ihm zu vage erscheinenden Äußerungen ten Untersuchungsgegenstand, nämlich die Vergangenheits- zu den Opfern der Diktatur, zur MfS-Tätigkeit von teilweise politik und dem PDS Nachfolger DIE LINKE . Diese Angabe ist hochrangigen Parteimitgliedern, sowie die offene Klientelpoli- allerdings unvollständig, da er nicht nur deren externe Ver- tik für Mitarbeiter des DDR-Staatsapparats . Zuweilen übte die gangenpolitik, sondern auch den internen Geschichtsdiskurs Partei, die gleichzeitig vehement die Vereinigungspolitik der innerhalb der Partei untersucht . Droht nun also die Partei ihr Bundesregierung im wiedervereinigten Deutschland kritisier- historisches Erbe zu vergessen? te, in offiziellen Verlautbarungen nur sehr vorsichtige Kritik »Keine der im Bundestag vertretenen Parteien steht so sehr am autoritären Staatssozialismus und stieß damit nicht nur im Banne der Geschichte wie die Partei DIE LINKE und ihre Gegner, sondern auch eigene Anhänger vor den Kopf . Vorgängerin PDs .« Schon der Klappentext verweist auf die Um die Frage, wie es der PDS überhaupt gelang, als in sich besondere Bedeutung, die der zeitgeschichtliche Diskurs für zerstrittener und politisch lange Zeit ausgegrenzte Partei zu die Partei besitzt . Man darf also sicher sein, dass DIE LINKE überleben, verweist Lannert auf den von allen Strömungen nicht einfach vergißt woher sie kommt, aber natürlich bleibt geteilten antikapitalistischen Konsens aller Strömungen und die Frage, woran sie sich konkret erinnert . Wie steht die Par- bemerkt zu Recht, das dieses einigende Band in der medialen tei zu spezifischen historischen Ereignissen und wie verhält Berichterstattung oft völlig übersehen wird . Darüber hinaus es mit dem Geschichtsverständnis der Basis? skizziert er eine Art arbeitsteiliges Abkommen zwischen den Zu Recht verweist Lannert auf die Neigung politischer Partei- verschiedenen Flügeln, während sich »orthodoxe« Genos- en, Geschichte für ihre Zwecke zu instrumentalisieren . Demge- sen in Traditionspflege üben und politische Profil der Partei genüber sei es die Aufgabe des Historikers, ideologisch kon- schärfen, würden die Reformer pragmatische Konzepte zur notierte Geschichtsmythen zu dekonstruieren und die dahinter politischen Mitarbeit entwerfen und der Partei damit macht- versteckten Denkmuster offen zu legen . Der geschichtswis- politische Perspektiven eröffnen . senschaftliche Diskurs um die Partei wird, wie der Autor rich- Darüber hinaus habe die einseitige Dämonisierung der DDR tigerweise bemerkt, nicht selten von Historikern geführt, die als »Unrechtsstaat« und die Unfähigkeit des Westens, Er- der Partei entweder mit entschiedener Abneigung oder offe- rungenschaften der DDR und vor allem die Leistungen ihrer ner Sympathie begegnen . Er kritisiert den »missionarischen Ei- Bürger zu würdigen, viele Menschen in Ostdeutschland ent- fer« eines Hubertus Knabe, seine eigene Abneigung gegen DIE täuscht . Dagegen verteidigt er die Politik der Treuhand als not- LINKE und deren Vorgängerin kann er indes kaum verhehlen . wendig und hält Kritikern der Vereinigungspolitik die hohen fi- Dennoch ist der junge Autor sichtlich um eine differenzier- nanziellen Transferleistungen von westlicher Seite entgegen . te Auseinandersetzung bemüht . Seine Darstellung zeigt eine Gleichzeitig verweist er auf die enormen Herausforderungen, Partei – dies gilt für die PDS wie auch DIE LINKE – die von die der Transformationsprozeß vielen ehemaligen DDR-Bür- einer extrem pluralistischen Binnenlandschaft geprägt ist . ger abverlangte, die den völligen Verlust vertrauter politischer Unterschiedliche und in vieler Hinsicht gegensätzliche ideolo- Strukturen und gesellschaftlicher Wert zu verkraften hatten . gische Strömungen ringen dort um die Diskurshoheit und mü- Gerade diese Fehler hätten zum Überleben der PDS maßgeb- hen sich, aus den Ruinen des gescheiterten Staatssozialismus lich beigetragen, dabei wirft der Autor der PDS vor, diese habe zukunftsorientierte Sozialismuskonzepte zu konstruieren . Die wie auch die DIE LINKE berechtigte Kritik der Ostdeutschen Geschichtsdebatten innerhalb der Partei reflektieren diesen für die eigenen ideologischen Zwecke instrumentalisiert . Diskurs . Während der »orthodoxe«, marxistisch-leninistisch ori- Im antikapitalistischen Profil der Partei und der offenen Dul- entierte Flügel möglichst wenig ideologische Substanz aufge- dung marxistisch-leninistischer Positionen sieht der Autor Be- ben möchte und in Fragen zur DDR-Geschichte zumeist reine weise für deren zweifelhaftes Verhältnis zur Demokratie . Zu- Apologetik betreibt, üben die »Reformer« aus linksozialistisch- gleich nimmt gesteht er der Partei zu, sich sowohl strukturell, sozialdemokratischen Perspektiven vehemente Kritik an über- als auch programmatisch tiefgreifende Veränderungen vollzo- kommenen historischen und weltanschaulichen Positionen . gen und sich in vieler Hinsicht von der SED gelöst zu haben . Die Parteiführung sucht in ihrer Außendarstellung die ver- Keineswegs seinen dies rein taktische Manöver . Die Mehrheit

88 dietz berlin der Parteimitglieder wolle nicht zum Staatssozialismus der DDR zurück . Auf dem Schlachtfeld der Geschichte konfrontiert der Autor DIE LINKE und ihre Vorgängerin mit den Schatten ihrer Vergangenheit . Seine Darstellung zeigt die Widersprüchlichkeit einer Partei, die es erst allmählich vermochte, mit den tradierten autoritären Denkstrukturen und -systemen aus der DDR-Zeit zu bre- chen . Sehr viel Neues fördert der Autor Hermann Weber, Andreas Herbst Deutsche Kommunisten dabei nicht zutage, fast die Ereignisse Supplement zum Biographischen und Diskurs aber gut zusammen . Gele- Handbuch 1918 bis 1945 296 Seiten, 314 Abb., gentlich fragt man sich, ob er die von gebunden, 29,90 Euro ihm angeführten Primärquellen wirk- ISBN 978-3-320-02295-2 lich alle gelesen hat . Gesine Lötzschs Rede über »Wege zum Kommunismus« als Beispiel für unkritisches Geschichts- »Die beiden Autoren, der ›große alte Mann‹ einer KPD-Geschichtsschreibung jenseits bild aufzuführen widerspricht völlig der DDR-verpflichteter Mythen, Hermann Weber, und der gleichermaßen renommierte Andreas Herbst, haben ein Buch vorgelegt, das Geschichte schreibt, aber auch Geschich- in der Rede scharf geäußerten Kritik an te machen wird. Die Leser sind zu Ergänzungen und Korrekturen aufgerufen, weshalb realsozialistischen Zuständen . Weiter- dieser ersten Auflage sicher noch weitere folgen werden.« hin verwendet der Autor den Extremis- mus-Begriff vollkommen unkritisch, ob- Diese Prophezeiung eines Rezensenten aus dem Jahre 2004 wurde – in jeder Hin- wohl dieser inzwischen selbst zu einem sicht – schnell Wirklichkeit. 2008 folgte eine zweite Auflage. Obwohl – Autoren wie dem Verlag – klar war, dass nach der zweiten Auflage mit 1.168 Seiten eine weitere ideologisch Kampfbegriff der Konserva- nicht nur die Kunst der Buchbinder überfordern würde, herrschte Einigkeit: Das Pro- tiven geworden ist und von zahlreichen jekt war nicht abgeschlossen. Deshalb nun ein Supplementband: Er enthält 194 gänz- Wissenschaftlern abgelehnt wird . lich neue sowie 77 überarbeitete biographische Notizen. Die Zahl der biographierten Es hätte der Sachlichkeit seiner Arbeit Personen ist – wie auch schon im Handbuch – allerdings deutlich größer als die Zahl nicht geschadet, auch die eigenen poli- der Notizen, da dort, wo es möglich war, auch Angaben zu Angehörigen aufgenom- men wurden. 181 Notizen, die schon in der zweiten Auflage enthalten waren, konn- tischen und weltanschaulichen Positio- ten jetzt mit einem Foto versehen werden, insgesamt bietet das Supplement 314 Fotos. nen zu hinterfragen . Die maßgeblich auf Basis von NS-Gesetzen und vielfach von NS-Funktionsträgern in der BRD voran- getriebene Kommunistenverfolgung, die für tausende unschuldige Menschen, da- runter vielen Widerstandskämpfern ge- gen das NS-Regime, lange Haftstrafen, Arbeitsplatzverlust, Bespitzelung und, Rentenverlust brachte, als »rechtsstaat- liche« Verfolgung von »Stalinisten« zu be- zeichnen, ist weder historisch-politisch Hermann Weber, Andreas Herbst noch wissenschaftlich zu rechtfertigen . Deutsche Kommunisten Immerhin sprach der frühere Bundesin- Biographisches Handbuch 1918 bis 1945 nenminister Werner Maihofer in diesem 2., überarbeitete und stark erweiterte Auflage Zusammenhang von Zuständen, die ei- 1.168 Seiten, 898 Abb., gebunden, 70,00 Euro ISBN 978-3-320-02130-6 nes Polizeistaats würdig gewesen wä- ren . Derartige Entgleisungen sind glück- licherweise selten, weisen aber darauf Das Handbuch bietet die Lebensläufe von 1675 führenden deutschen Kommunisten. hin, dass der Autor selbst überholten Von ihnen kamen weit über 470, also fast jeder Dritte, auf gewaltsame Weise ums Le- antikommunistischen Geschichtsmy- ben. Die einschneidendsten Verluste erlitt das deutsche kommunistische Führungskorps then verhaftet zu sein scheint, die einer durch die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts: 256 führende Funktionäre wurden kritischen Aufarbeitung bedürfen . von der barbarischen Hitler-Diktatur ermordet, nicht weniger als 208 kamen im Schre- ckensregime Stalins um. Philipp Schaab

89 Eine seltene Broschüre neu aufgelegt Heinrich Vogeler und Johannes R. Becher »Das Dritte Reich«

Publizistische Dokumente des antifaschistischen Kampfes in denen – ergänzt durch die Verse von Johannes R . Becher – sind naturgemäß heute nur noch selten zu finden . In den Alltagssituationen, Widerstand und Verfolgung im »Dritten 80er Jahren hatten Verlage der DDR in Sammelmappen il- Reich« gezeichnet werden . Die Bilder selber waren sicherlich legale antifaschistische Flugblätter sowie Tarnschriften der nicht von hoher künstlerischer Qualität, auch die Verse von Be- KPD als Reprint herausgegeben . Doch immer wieder finden cher lassen nur wenig von dem Tiefgang vieler anderer seiner sich »Perlen« dieser antifaschistischen Arbeit, die einer Wie- Gedichte spüren . Es waren vielmehr einfache Bilder und Texte, derauflage würdig sind . die vornehmlich eine agitatorische Funktion erfüllen sollten . Unter den verschiedenen Beispielen antifaschistischer Flug- Auf den ersten Blick sollten die Betrachter das Wesentliche er- schriften und Publizistik aus den ersten Jahren der faschisti- fassen können . Auch wenn es dazu keine eigenen Aufzeichnun- schen Herrschaft hebt sich das hier annotierte Büchlein von gen gibt, dürften die Verse und Zeichnungen im dialogischen Heinrich Vogeler und Johannes R . Becher »Das Dritte Reich« Prozess zwischen Becher und Vogeler entstanden sein . deutlich ab . In der beeindruckenden Heinrich Vogeler – Ge- Der Reichstagsbrand oder die Vorgänge um den 1 . und 2 . mai samtschau 2012 in Worpswede fand sich diese Broschüre nicht 1933 finden sich ebenso in den Bildern wie die vielfältigen nur als Original in einer Vitrine, die einzelnen Seiten waren Formen des faschistischen Alltagsterrors . In den letzten sie- auch vergrößert reproduziert, so dass sie ihre Wirkung auch ben Illustrationen zeichnet Vogeler ein Bild des antifaschisti- auf den heutigen Betrachter entfalten konnten . Diese Broschü- schen Widerstands, wie er vom Exil aus gesehen wurde . Da- re versuchte nicht, mit mehr oder weniger deutlichen Worten bei legten Vogeler und Becher in diesen Bildern und Texten auf die Verbrechen des deutschen Faschismus in dieser Zeit auch ihre Hoffnung . So lautet die Botschaft im letzten Bild vor hinzuweisen, sondern sie arbeitet vor allem mit den Mitteln der dem Hintergrund eines skizzierten Thälmann-Portraits »Es le- Grafik und der Lyrik, mit Zeichnungen des Worpsweder Malers be die kämpfende Einheitsfront« . Auf diese Weise entstan- Heinrich Vogeler und Versen von Johannes R . Becher . den plakative Text-Bild-Kombinationen, die auch für den weni- Es war im Frühjahr 1934, als Heinrich Vogeler und Johannes R . ger belesenen Betrachter sofort eingängig waren . Einige der Becher im Moskauer Verlag »Zwei Welten« diese kleine Samm- Blätter fanden sich später in illegalen antifaschistischen Flug- lung von Zeichnungen und Versen vorlegten . Beide Künstler schriften und Broschüren oder auch als Klebezettel . waren aus unterschiedlichen Gründen in die Sowjetunion ge- Bereits in der Sonderausgabe der »Deutschen Volks-Zeitung« kommen . Vogeler war bereits im Jahre 1931 mit seiner zweiten zum 1 . mai 1934, die in Saarbrücken noch legal erscheinen Frau Sonja Marchlewska in die Sowjetunion übergesiedelt . Er konnte, fanden sich unter der Überschrift »Die Lüge angepran- bereiste im Auftrag sowjetischer Einrichtungen die Teilrepu- gert« vier Zeichnungen aus der Broschüre von Vogeler . Unter- bliken und dokumentierte in seinen Malereien den sozialisti- schrieben waren diese Zeichnungen jedoch mit Zitaten aus schen Aufbau . Johannes R . Becher verließ Deutschland im Ge- dem Mai-Aufruf des Reichsministers für Volksaufklärung und folge der Machtübertragung an die deutschen Faschisten . Als Propaganda, Joseph Goebbels . Auch die Zeichnung »Heraus Vorsitzender des Bundes proletarisch-revolutionärer Schrift- mit den politischen Gefangenen! Die Rote Hilfe lebt!« wurde in steller war er im Visier der faschistischen Verfolger . Nach kur- verschiedenen antifaschistischen Flugschriften »zitiert« . zen Zwischenstationen in der Tschechoslowakei, der Schweiz Mit der Neuauflage dieses Reprints soll ein kleiner Beitrag zur und Frankreich ging er im Sommer 1933 in die Sowjetunion ins Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand geleistet wer- politische Exil . Nun waren beide als Antifaschisten in diesem den, der – in diesem Fall – auch vom Exil aus unterstützt wurde . Land und versuchten mit ihren Mitteln einen Beitrag zum anti- faschistischen Kampf gegen die Naziherrschaft zu leisten . Vo- Bestellungen für den Reprint über den Herausgeber: geler hatte schon in den 20er Jahren mit Gemälden, Komplex- Ulrich Schneider, Kirchditmolder Straße 11, 34131 Kassel, Bildern und anderen Arbeiten für die KPD, die Internationale E-Mail: dr .u .schneider@arcor .de . Rote Hilfe bzw . die MOPR seine malerischen Fähigkeiten in den (Einzelexemplare: 8 Euro + 1 Euro Porto, Dienst der politischen Aufklärungsarbeit gestellt . 5 Exemplare: 25 Euro + Porto, 10 Exemplare: 50 Euro portofrei) Im Stile der Holzschnitte eines Frans Masereel gestaltete Hein- rich Vogeler für diese Broschüre 34 schwarz-weiß Zeichnungen, Ulrich Schneider

90 Hugo Geisslers Blutspur Siegfried Grundmann/Eugéne Martres: Hugo Geissler – vom Dresdner SA-Mann zum Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Vichy, Nora Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide 2012, 478 Seiten.

Das vorliegende Täterprofil eines gewissenlosen faschisti- Im Teil II der Publikation erfahren die Leser, dass Geissler schen Verbrechers wurde durch die gemeinsame Spurensuche vom 15 . märz 1939 an zur Einsatzleitung der Gestapo in Prag eines deutschen und eines französischen Historikers erstellt . gehörte . Knapp und dennoch präzise schildern die Autoren die Beteiligung des NS-Verbrechers bei der gnadenlosen Ver- Prof . Dr . Siegfried Grundmann hat erneut einen braunen Täter folgung von Juden und deutschen Emigranten in der annek- entlarvt . Er verfolgte mit dem französischen Historiker Prof . tierten Tschechischen Republik . Nicht wenige von ihnen hat- Dr . Eugéne Martres die langjährige Blutspur des H . Geissler . ten von der CSR aus Widerstandsaktionen in Deutschland zu Die Spurensuche erwies sich als außerordentlich schwierig, koordinieren versucht; einige waren selbst illegal nach Na- berichten die Autoren in Bezug auf den »richtigen« Geissler, zideutschland gereist, um Informationen und Materialien zu da es nicht wenige Personen mit diesem Namen gab, die mit übergeben sowie gefährdete Kameraden über die »grüne unterschiedlicher Schreibweise bei der Gestapo bzw . der Po- Grenze« in die Tschechoslowakei zu bringen . lizei tätig waren . Die Autoren schildern im Teil III mit einer Fülle sorgsam re- Einleitend skizzieren die Autoren den Werdegang des Man- cherchierter Fakten das verbrecherische Wirken Geisslers nes, der am 12 . Juni 1944 von französischen Widerstand- als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Vichy . kämpfern erschossen wurde . Sie berichten, dass der Verbrecher beim Pétain-Regime die Breiten Raum widmet Siegfried Grundmann dem brutalen Auslieferung der führenden Sozialdemokraten Rudolf Breit- Wirken des NS-Verbrechers Geisler von 1933 bis 1939 in scheid (ehemals außenpolitischer Sprecher der SPD-Reichs- Deutschland bei der Verfolgung deutscher Antifaschisten im tagsfraktion) und Rudolf Hilferding (ehemals Reichsfinanz- Raum Dresden bzw . in Sachsen insgesamt . Die akribische minister) an die Gestapo erzwang, die in den Kerkern des Spurensuche des Autors bringt eine bemerkenswerte Fak- NS-Regimes umkamen . tenfülle der verbrecherischen Tätigkeit des Kriminalkom- Unbarmherzig jagte Geissler die Kämpfer der Résistance, die missars Geissler zutage . Es ist schier unfassbar, wie vie- in der Haft brutal misshandelt wurden, bevor sie ermordet le Untaten auf sein Konto gehen, der seit 1933 im Dienste wurden . der Gestapo stand . Das Autorenteam belegt, wie gnaden- los Geissler bei der Zerschlagung antifaschistischer Grup- Am 12 . Juni 1944 erschossen französische Partisanen den pen des Sozialistischen Jugendverbandes (SAP), der »Roten Mörder, als er das Rathaus der Stadt Murat verlassen wollte . Wehr«, einer Nachfolgeorganisation des kommunistischen Die deutschen Besatzer nahmen furchtbare Rache . Einhun- Rot Frontkämpferbundes (RFB), des Kommunistischen Ju- dertvier Einwohner des Ortes wurden verhaftet und in das gendverbandes (KJVD), der KPD und der SPD in Deutsch- KZ-Neuengamme deportiert, dreiundsiebzig kamen dort um . land vorging . Die Autoren gehen auch auf die schwierige und lange in Frankreich beschwiegene Problematik der Kollaboration mit Die Autoren schildern Schicksale von Opfern Geisslers, des- den faschistischen besatzern ein und stellen abschließend sen raffinierten und brutalen Verhörmethoden dazu führten, fest, dass ihre Dokumentation über den NS-Verbrecher Geis- dass jene nach dem Sturz des NS-Regimes von ihren Mit- sler als Mahnung für die heutige Generation dienen möge . streitern zu Unrecht des Verrats beschuldigt wurden, wie zum Beispiel der Sozialist Horst Patzig sowie die Jungkommunistin Eine Literaturauswahl zur Thematik der vorliegenden Publi- Helene Fischer . kation regt sicher zum weiteren Nachforschen an . Dem Band Ausführlich wird geschildert, wie es Geissler gelang, V-Leute sind viele aufmerksame Leser zu wünschen . bzw . sich selbst in die Widerstandsgruppen einzuschleusen, um über ihre Pläne zuverlässige Informationen zu bekommen Günter Wehner und sie letztlich zu zerschlagen .

91 Innenansichten der Gestapo Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann u. Roland Maier, Hrsg.: Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2013, 477 Seiten.

In den vergangenen Jahren ist die Zahl von Veröffentlichun- pressionshandwerk, das ja viele Facetten aufweisen musste, gen zur Geschichte der Gestapo sprunghaft angestiegen .1 nicht in jedem Falle vorhanden war . Dies war umso nötiger, als die historische Forschung jahr- Auch die Kontinuitäten für die Zeit nach 1945 werden be- zehntelang eine weiten Bogen um diese Thematik machte . leuchtet . Manch ein Gestapo-Beamter konnte in der Bundes- Der vorliegende Band bereichert unsere Kenntnisse über die- republik bemerkenswerte Karrieren absolvieren . So wurde se wichtige Agentur des NS-Repressionsapparates beträcht- der ehemalige SS-Hauptscharführer Viktor Hallmayer Mit- lich . Am Beispiel Württembergs und Hohenzollerns analysiert arbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in Baden- er die Entstehungsgeschichte der »Geheimen Staatspolizei«, Württemberg . Zu seinen »Dienstjubiläen« erhielt er für seine schildert ihren Aufstieg zu einem mit fast schrankenlosen Be- »Leistungen« Dankschreiben des Ministerpräsidenten Hans fugnissen ausgestatteten Inlandsgeheimdienst, stellt uns die Filbinger übersandt . Skandalöserweise wurden bei der Be- Biographien der handelnden Personen vor – nicht allein des rechnung seiner Beamtenpension die in der Gestapo abge- Führungspersonals – und beschreibt mit großer Ausführlich- leisteten Jahre vollständig angerechnet! (siehe s . 319) Üb- keit die Verfolgung ehemaliger Mitglieder und Funktionäre rigens eine damals durchaus übliche Verfahrensweise . Ein der Arbeiterbewegung, aber auch von Geistlichen, die vom gewisser Albert Riester, als »V-Mann« für die Gestapo tätig, Regime als »unzuverlässig« oder »oppositionell« eingeschätzt war ebenfalls »geeignet« für den Verfassungsschutz, bevor er wurden . Neben der Verfolgung und Deportation der württem- als »Sicherheitsbeauftragter« zur Daimler Benz AG wechselte . bergischen Juden werden ebenso die Akte der Repression ge- (siehe s . 215 u . 219) genüber Homosexuellen, den Zeugen Jehovas, den Sinti und In einem abschließenden Kapitel »Personal und Wahrnehmung Roma, den angeblich »Arbeitsscheuen« sowie anderen Op- der Gestapo nach 1945« geht Sarah Kleinmann ausführlich fergruppen der Nazis in den Blick genommen und dabei der und systematisch den »Entnazifizierungs-Verfahren« für würt- jeweils spezifische Beitrag der Gestapo dargestellt . Auch die tembergische Gestapo-Beamte nach, wobei über die in der Re- Überwachung der Zwangsarbeiter und ihre Bestrafung, wenn gel milden Urteile nur der Kopf geschüttelt werden kann . Zum die von ihnen geforderten Verhaltensweisen nicht erbracht großen Teil dienten die »Entnazifizierungs«-Verfahren der sys- wurden, werden ausführlich geschildert . tematisch organisierten Exkulpation der »Angeklagten« . So le- sen wir, »dass es ein informelles Aussage- und Unterstützungs- Aus der Fülle des dargebotenen Materials seinen an dieser netzwerk gab, das für die Spruchkammerverfahren aktiviert Stelle nur einige Themen angesprochen . Zunächst bieten wurde .« (s . 438) Insgesamt gelang den Gestapoangehörigen die Biographien von Angehörigen der Gestapo viele konkre- nach 1945, wieder im Öffentlichen Dienst Fuß zu fassen: »Zwi- te Aufschlüsse über personelle Kontinuitäten . Ihr Handwerk schen 1949 und 1957 wurden 25 ehemalige Gestapobeamte der Bespitzelung, Unterdrückung und Verfolgung politisch un- im Polizeivollzugsdienst der Stadt Stuttgart eingestellt . Zwei liebsamer Bürgerinnen und Bürger hatten nicht wenige Ge- weitere ehemalige Gestapobeamte wurden beim Amt für Öf- stapoleute bereits innerhalb der Politischen Polizei der Wei- fentliche Ordnung angestellt .« (s .421) Und weiter: »Zu Beginn marer Republik, ja gelegentlich bereits im Kaiserreich erlernt des Jahres 1959 befanden sich 152 ehemalige Gestapoange- und praktiziert . Zwar teilten einige von ihnen nicht vorbe- hörige im Dienst des Landes Baden-Württemberg . 117 waren haltlos den schrankenlosen Terror des NS-Regimes . Aber als als Beamte, 31 als Angestellte und vier als Arbeiter tätig . Von »gestandene« Nationalisten, Antisozialisten und Gegner des den Beamten befanden sich zwei im höheren Dienst, 14 im ge- »Systems« von Weimar, verhaftet in autoritären Denkschema- hobenen Dienst und 101 im mittleren Dienst .« (s . 422) ta, hatten sie keine ernsthaften Probleme, in den Dienst des Wichtig sind die Passagen des Buches, in denen das gesell- NS-Regimes zu treten und entscheidend zu seiner Funktions- schaftliche Umfeld der Gestapo ausgeleuchtet wird . Das die- fähigkeit beizutragen . Natürlich wurde die Gestapo in wach- ses Repressionsinstrument des NS-Staates mit vergleichswei- sendem Maße mit »gestandenen Nazis« durchsetzt, deren se wenigen Mitarbeitern auskommen musste, war es umso politische und weltanschauliche Zuverlässigkeit außerhalb wichtiger, »Amtshilfe« Leistende aus anderen Bürokratien (sie- jeden Zweifels stand, wobei ihre fachliche Eignung für ihr Re- he z .B . s . 226, 326 f ., 330 ff . u . 346) sowie Zuträger aus allen

92 Bereichen der Gesellschaft zur Verfügung zu haben . Tatsäch- rus nicht um einen Deut herabmindern kann und darf, sei lich wären ohne die »V-Leute« und besonders ohne die vielen nur der Vollständigkeit halber erwähnt . Denunzianten, die Nachbarn und Arbeitskollegen »anschwärz- Die Autorinnen und Autoren haben neben der Literatur – da- ten«, die Tätigkeit der Gestapo nur schwerlich zu realisieren runter zahlreiche Publikationen lokal- und regionalgeschicht- gewesen (siehe z .B . s . 356, 358 f . u . 375) . Ein bitteres Ka- licher Provenienz – mit besonderer Intensität die einschlägi- pitel stellen in diesem Zusammenhang die vereinzelt wirken- gen Archivmaterialien ausgewertet . Das Resultat ist ein Band, den jüdischen V-Leute dar, wie z .B . der Stuttgarter Arzt Dr . dessen große Detailgenauigkeit ebenso besticht wie der prä- Erwin Goldmann, der sein Handeln mit seiner »nationalsozia- zise und zugleich differenzierende Blick auf die kriminelle Or- listischen Gesinnung« legitimierte (siehe s . 275 f .) Auch unter ganisation Gestapo und ihre Angehörigen . Man wünscht sich den ehemaligen Funktionären der Arbeiterbewegung fanden weitere Regionalstudien auf diesem Niveau . Es wäre deshalb sich Verräter, die der Gestapo ihr »Insider-Wissen« offenbarten zu begrüßen, wenn die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die dieses und zur Verfolgung ihrer Genossen beitrugen . Um informative Projekt und seine Veröffentlichung in Buchform finanziell un- Aussagen zu erhalten und Verhaftete zu veranlassen, als Spit- terstützte, weitere Regionalstudien zur Geschichte der Gesta- zel zu dienen, wurde vor allem gegenüber Kommunisten häufig po anregen und materiell absichern würde . die Folter angewandt, deren Methoden plastisch geschildert werden (s .190 u . 350 ff .) . Allerdings gingen einige der Betrof- Reiner Zilkenat fenen nur zum Schein auf entsprechende Angebote der Ge- stapo ein und informierten ihre Genossen über ihre Situation, »berieten, was der Gestapo mitgeteilt werden sollte, nutzten ihre gewonnene Bewegungsfreiheit, um weiter für die Partei 1 Genannt seien vor allem die unverzichtbaren Sammelbände von Gerhard Paul u . Klaus-Michael Mallmann, Hrsg :. Die Gestapo – Mythos und Realität, Darm- zu arbeiten . Andere verfassten lediglich harmlose Berichte und stadt 1995 u .ö ;. dieselben, Hrsg ;. Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg . »Heimat- gaben vor, nichts in Erfahrung bringen zu können .« (s . 175) front« und besetztes Europa, Darmstadt 2000 . Siehe auch Andreas Seeger: »Gestapo-Müller« . Die Karriere eines Schreibtischtäters, Berlin 1996 u . Joa- Doch ungeachtet des massiven Terrors gegen die Widerständ- chim Bornschein: Gestapochef Heinrich Müller . Technokrat des Terrors, Leip- ler aus der Arbeiterbewegung, kommen die Autoren zu der zig 2004 . Einschätzung, dass »es der Gestapo bis Kriegsende« nicht ge- 2 siehe hierzu z .B . Georg Denzler: Widerstand ist nicht das richtige Wort . Katho- lische Priester, Bischöfe und Theologen im Dritten Reich, 2003; Manfred Gai- lang, »die organisatorischen Verbindung gänzlich zu zerstören, lus, Hrsg .: Kirchliche Amtshilfe . Die Kirche und die Judenverfolgung im »Dritten noch alle Widerstandsaktivitäten zu unterbinden« . (s . 194) Reich«, Göttingen 2008; derselbe u . Armin Nolzen, Hrsg ;. Zerstrittene »Volks- gemeinschaft« . Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göt- Gibt es kritische Einwände zur vorliegenden Publikation? Ge- tingen 2011 . Siehe auch »Man war großzügig im Vergessen« (Interview Man- nannt sei eine mitunter zu sehr ins Einzelne gehende Dar- fred Gailus mit Reiner Zilkenat), abgedruckt u .a . in »Die Kirche«-Evangelische stellung, die »Verliebtheit« ins Detail . Dadurch leidet gele- Wochenzeitung Berlin, 13 .1 .2013, s . 15 u . »Evangelisches Sonntagsblatt in Bayern«, Nr . 4, 27 .1 .2013, s . 8 . gentlich die Lesbarkeit des Bandes . Der »rote Faden« droht, verloren zu gehen . Auch darf gefragt werden, ob die Darstellung der Kir- chen nicht kritischer hätte ausfallen müssen .2 War die katholische Kirche tatsächlich eine »Gegenmacht«, wie es auf Seite 220 heißt? Und: War sie wirk- lich, anstatt des »jüdischen Bolsche- wismus«, der »wichtigste weltanschau- liche Gegner« (s .247) des Faschismus an der Macht? Stärker hätte gerade bei den Kirchen zwischen den vier Stadien des Widerstandes (und seiner Vorfor- men) unterschieden werden müssen: »Punktuelle Unzufriedenheit«, »Nicht- anpassung und Selbstbehauptung«, »Protest und Verweigerung«, »Syste- mumsturz« . Bei einem Vergleich mit entsprechenden Zielsetzungen und Handlungen des Arbeiterwiderstandes liegen die qualitativen Unterschiede klar auf der Hand . Dass diese Interpre- tation das ehrende Andenken an die wenigen Widerständler aus dem Kle-

93 94 Bekannte Unbekannte dietz berlin

Jörn Schütrumpf (Hrsg.) Florence Hervé (Hrsg.) Jörn Schütrumpf (Hrsg.) Wladislaw Hedeler (Hrsg.) Rosa Luxemburg oder: Clara Zetkin oder: Jenny Marx oder: Jossif Stalin oder: Der Preis der Freiheit Dort kämpfen, wo das Die Suche nach dem Revolution als Verbrechen 2., überarbeitete und Leben ist aufrechten Gang 144 Seiten, Broschur ergänzte Auflage 3., erweiterte u. korrigierte 144 Seiten, 11 Abb. 10 Abb., 9,90 Euro 144 Seiten, 5 Abb., Auflage, 152 Seiten Broschur, 9,90 Euro ISBN 978-3-320-02266-2 Broschur, 9,90 Euro 9 Abb., Broschur, 9,90 Euro ISBN 978-3-320-02147-4 ISBN 978-3-320-02234-1 ISBN 978-3-320-02262-4

Dieser Titel erschien auch

Auf Türkisch: Rosa Luxemburg ya da: Özgürlüg˘ün bedeli 96 Seiten, Broschur ISBN 978-3-320-02143-6

Auf Englisch: Rosa Luxemburg or: The Price of Freedom 102 Seiten, Broschur ISBN 978-3-320-02146-7

Auf Spanisch: Rosa Luxemburg o el precio de la libertad 110 Seiten, Broschur ISBN 978-3-320-02094-1 Julia Killet, Wladislaw Hedeler (Hrsg.) Florence Hervé (Hrsg.) Helga W. Schwarz (Hrsg.) Lenin oder: Flora Tristan oder: Auf Französisch: Maria Leitner oder: Revolution gegen Der Traum vom femi­ Rosa Luxemburg ou le Im Sturm der Zeit das Kapital nistischen Sozialismus prix de la liberté 144 Seiten, Broschur 144 Seiten, 8 Abb. 144 Seiten, 9 Abb. 128 Seiten, Broschur 9,90 Euro Broschur, 9,90 Euro Broschur, 9,90 Euro ISBN 978-3-320-02258-7 ISBN 978-3-320-02292-1 ISBN 978-3-320-02294-5 ISBN 978-3-320-02293-8

95 Rundbrief ISSN 1864-3833 Der Rundbrief erscheint bei Bedarf, in der Re- gel einmal je Quartal, und wird herausgegeben von der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE . V .i .s .d .p . Dr . Reiner Zilkenat

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Gegenstand der Rundbriefe sind Analysen, Erfah- rungen, Nachrichten, Rezensionen und Untersu­ chungen zum Thema Rechtsextremismus und rechter Zeitgeist . Damit soll die antifaschistische Arbeit demokratischer Organisationen und ­interessierter Personen unterstützt werden . Der Rundbrief ist über die AG zu beziehen . Zuschriften und Beiträge sind willkommen . Layout und Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation