Plenarprotokoll 18/200

Deutscher

Stenografischer Bericht

200. Sitzung

Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 36: c) Antrag der Abgeordneten Özcan Mutlu, , Beate Walter-Rosenheimer, Dritte Beratung des von der Bundesregierung weiterer Abgeordneter und der Fraktion eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationaler zes zur Änderung arzneimittelrechtlicher Bildungsbericht – Bildungsinstitutionen und anderer Vorschriften zukunftsfest machen – Für eine gerechte Drucksachen 18/8034, 18/8333, 18/8461 und soziale Gesellschaft Nr. 1.5, 18/10280, 18/10056...... 19995 B Drucksache 18/10248...... 20004 B (CDU/CSU)...... 19995 D (CDU/CSU)...... 20004 B Birgit Wöllert (DIE LINKE)...... 19997 A Dr. (DIE LINKE). . . . 20009 A Martina Stamm-Fibich (SPD)...... 19998 A Dr. (SPD) . . . . 20011 A Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 19999 A Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... Dr. (SPD)...... 20000 A 20012 C Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin DIE GRÜNEN)...... 20000 B BMBF...... 20013 B (CDU/CSU)...... 20000 C Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 20015 B Dr. (SPD)...... 20001 C (Peine) (SPD) ...... 20016 D (CDU/CSU)...... 20002 D (CDU/CSU) ...... 20018 D Namentliche Abstimmung ...... 20003 C Dr. (SPD) ...... 20020 B Dr. (CDU/CSU)...... 20021 A Ergebnis ...... 20006 C

Tagesordnungspunkt 38: Tagesordnungspunkt 37: Beratung der Antwort der Bundesregierung a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: auf die Große Anfrage der Abgeordneten Nationaler Bildungsbericht – Bildung in , , , weiterer Deutschland 2016 und Stellungnahme Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: der Bundesregierung Umsetzung der Empfehlungen des 2. Par- Drucksache 18/10100...... 20004 A lamentarischen Untersuchungsausschusses b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: der 17. Wahlperiode zur Verbrechensserie Bericht zum Anerkennungsgesetz 2016 des Nationalsozialistischen Untergrundes Drucksache 18/8825...... 20004 A Drucksachen 18/6465, 18/9331 ...... 20022 B II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 in Verbindung mit Nächste Sitzung ...... 20041 C

Zusatztagesordnungspunkt 11: Anlage 1 Zweite und dritte Beratung des von den Ab- Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . 20043 A geordneten , Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs Anlage 2 eines Gesetzes zur Änderung des Aufent- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten haltsgesetzes – Aufenthaltsrecht für Opfer und Dr. Eva Högl (beide SPD) rechter Gewalt zu der namentlichen Abstimmung über den Drucksachen 18/2492, 18/10288 ...... 20022 B von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Petra Pau (DIE LINKE)...... 20022 B wurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arz- neimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Weil am Rhein) (Tagesordnungspunkt 36)...... 20043 D (CDU/CSU)...... 20023 B (BÜNDNIS 90/ Anlage 3 DIE GRÜNEN)...... 20024 D Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Uli Grötsch (SPD)...... 20025 D und Sabine Weiss (Wesel I) (Dortmund) (beide CDU/CSU) zu der namentlichen Ab- (CDU/CSU)...... 20027 B stimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes Frank Tempel (DIE LINKE)...... 20029 A zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an- Susann Rüthrich (SPD)...... 20030 A derer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36)...... 20044 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 20031 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU)...... 20032 B Anlage 4 Frank Tempel (DIE LINKE)...... 20033 A Erklärungen nach § 31 GO zu der namentli- chen Abstimmung über den von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher Tagesordnungspunkt 39: und anderer Vorschriften Erste Beratung des von der Bundesregierung (Tagesordnungspunkt 36)...... 20044 D eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (SPD) ...... 20044 D Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Ar- Alexander Funk (CDU/CSU) ...... 20045 A beitsuchende nach dem Zweiten Buch So- Hubert Hüppe (CDU/CSU)...... 20045 C zialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch Bernhard Kaster (CDU/CSU)...... 20046 A Drucksache 18/10211...... 20034 A (CDU/CSU)...... 20046 B , Parl. Staatssekretärin (SPD)...... 20046 D BMAS...... 20034 B (SPD)...... 20047 A Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) ...... 20035 A (DIE LINKE)...... 20048 B Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU)...... 20036 B Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU). . . . 20048 D Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (DIE LINKE)...... 20049 A (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). . . . . 20037 C Dr . (CDU/CSU) ...... 20049 B (Wetzlar) (SPD) . . . . . 20038 C (CDU/CSU)...... 20039 B Anlage 5 Markus Paschke (SPD)...... 20040 C Amtliche Mitteilungen...... 20049 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 19995

(A) (C)

200. Sitzung

Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Beginn: 9.02 Uhr

Präsident Dr. : höre ich keinen Widerspruch, also können wir so verfah- Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. ren. Auf diesem Wege mache ich zumindest akustisch den größeren Teil der Kolleginnen und Kollegen, der Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie noch nicht im Plenum ist, über die Lautsprecher in den herzlich zu unserer 200. Sitzung. Ich hoffe, dass der Ju- Büros vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass wir etwa biläumscharakter dieser Plenarsitzung mindestens die gegen 9.40 Uhr die namentliche Abstimmung durchfüh- Stimmung fördert, vielleicht auch die Tonlage besonders ren werden. freundlich stimmt. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion. darauf verständigt, während der Haushaltsberatungen, die wir in unserer nächsten Sitzungswoche abschließend (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) durchführen, wie in den Haushaltswochen üblich, keine (B) Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und Maria Michalk (CDU/CSU): (D) auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als Prä- Schönen guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolle- senztage sind die Tage von Montag, den 21. November ginnen und Kollegen! Es ist mir eine besondere Ehre, in 2016, bis Freitag, den 25. November 2016, festgelegt dieser 200. Sitzung die erste Rede halten zu dürfen. Ich worden. Ich vermute, dass Sie alle damit einverstanden erinnere daran, dass wir Christen heute, am 11.11., den sind. – Ich stelle das hiermit fest. Damit ist auch der Ab- Martinstag begehen. Da sind Teilen und Nächstenliebe lauf der Haushaltswoche gesichert. in unserem Kopf und in unseren Ohren, und mit diesem Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf: Duktus möchte ich gern jetzt meine Rede halten. Dritte Beratung des von der Bundesregierung ( [CDU/CSU]: Und in unseren eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes Herzen!) zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an- – In den Herzen sowieso, lieber Kollege Tino Sorge. – derer Vorschriften Ich glaube, es ist wichtig, mit diesem Duktus die dritte Drucksachen 18/8034, 18/8333, 18/8461 Lesung zu einem Gesetz zu beginnen, nämlich, kurz ge- Nr. 1.5, 18/10280 sagt, der vierten AMG-Novelle, die viele Dinge beinhal- tet, die uns in der zweiten Lesung sehr stark beschäftigt Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- haben, aber auch Einzelregelungen für den Arzneimittel- ses für Gesundheit (14. Ausschuss) markt und die Gesundheitspolitik insgesamt, auf die ich Drucksache 18/10056 dann kurz eingehen möchte. Es ist wichtig, festzustellen, dass wir uns gerade für Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion dieses Gesetz, das die Umsetzung einer EU-Verordnung Bündnis 90/Die Grünen vor. darstellt, sehr viel Zeit genommen haben, uns intensivste Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung werden Beratungen – inhaltlich, auch zeitlich – genehmigt ha- wir nachher namentlich abstimmen. Die in der zwei- ben; das war wichtig und richtig. Deshalb liegt uns heute ten Beratung am vergangenen Mittwoch beschlossenen eine Beschlussempfehlung vor, über die wir namentlich Änderungen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung abstimmen werden. Als Christin werde ich ihr guten Ge- können Sie der Zusammenstellung in der Drucksa- wissens zustimmen; das sage ich gleich am Anfang. che 18/10280 entnehmen. Uns ist wichtig, zu sagen, dass es ein nicht alltäglich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für vorkommendes Verfahren ist; denn in der Regel haben die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Auch dazu wir die zweite und dritte Lesung in einem Block. Inso- 19996 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Maria Michalk (A) fern finde ich es unfair, wenn immer noch laut gesagt und Mechanismen, unter welchen Voraussetzungen das (C) wird, dieses Gesetz sei nicht ordentlich beraten worden. in Deutschland ermöglicht wird. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE Ich füge hinzu: Uns als Union ist es wichtig, dass auch GRÜNEN]: Wer sagt das denn?) in Deutschland für Krankheiten, die wir heute kennen, aber auch für Krankheiten, die heute in unseren Köpfen Ich stelle fest: Das kann von denjenigen im Parlament, noch nicht so präsent sind, für Stadien, die sich später die bei diesem Prozess dabei waren, niemand behaupten. entwickeln – es ist nicht nur die Demenzerkrankung, die (Beifall bei der CDU/CSU) im späten Stadium in unterschiedlichen Formen auftritt; es sind auch andere Krankheiten –, Medikamente gefun- Die Regeln in diesem Gesetz umfassen unter anderem den werden, die für die betroffenen Menschen eine Hei- Vorgaben aus der EU-Verordnung, deren Umsetzung not- lung oder eine Leidlinderung ermöglichen. wendig ist; denn wenn wir sie nicht geregelt hätten, griffe Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn Menschen sofort die EU-Verordnung durch, und das würde unseren sagen: Ich habe Angehörige zu Hause oder Freunde, die Standards, vor allen Dingen unseren ethischen Standards, ganz schwer erkrankt sind und die in diesen Situationen nicht entsprechen. Wir sind eines der wenigen Länder der der Demenz auch das Umfeld beeinflussen; sie leben ja Europäischen Union, die dieses Recht wahrnehmen. in ihrer eigenen Welt. Viele sagen: Ich möchte, dass dafür Ich möchte Ihnen aber trotzdem in Erinnerung rufen, geforscht wird, damit die Krankheit abgewendet werden dass in diesem Gesetz ganz wichtige Dinge enthalten kann, die Menschen geheilt werden oder zumindest die sind, zum Beispiel die Regelung des Status des Apo- Symptome behandelt werden können, damit die Krank- thekers; das stellen wir klar. Die Änderung der Bun- heit einen menschlicheren Verlauf hat. Das ist uns wich- des-Apothekerordnung, also im Grunde genommen der tig. Berufsordnung, die klare Vorgaben vorsieht, ist Bestand- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- teil dieses Gesetzes. Das ist gerade in dieser Zeit ganz ordneten der SPD) wichtig. Ich sage auch: Es ist freiwillig. Niemand muss es Ich möchte auch darauf hinweisen: Wir haben mit machen. Selbst wenn jemand eingewilligt hat, kann er Änderungen an mehreren anderen Gesetzen die Teleme- jederzeit seine Einwilligung zurückziehen. Das kann er dizin, die Nutzung von elektronischen Kommunikations- auch, wenn er nicht mehr im vollen Bewusstsein seines möglichkeiten, erlaubt und geregelt. Aber – das ist uns Geistes ist, wenn er in dieser nebulösen Welt lebt. Durch mit Blick auf die Zukunft wichtig – in diesem Gesetz le- körperliche Bewegung, durch Abwehrhaltung kann man gen wir unter anderem auch fest, dass die Verschreibung genau erkennen, was dem Menschen guttut und was er (B) (D) und die Abgabe von verschreibungspflichtigen Arznei- nicht will. mitteln nur möglich sind, wenn zuvor wenigstens ein ers- ter Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden hat. Es ist uns Wir regeln, dass die betroffenen Angehörigen bzw. – wichtig, diese Vertrauensbasis zwischen Patienten und Arzt in den Mittelpunkt zu stellen. Ansonsten können Präsident Dr. Norbert Lammert: die Möglichkeiten der modernen Kommunikation ge- Frau Kollegin Michalk. nutzt werden. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass Teleshopping und auch das Werben für Teleshopping in (CDU/CSU): Deutschland nicht gewünscht, nicht erlaubt sind. Maria Michalk – sofort – Wir haben im parlamentarischen Verfahren besonders geregelt, welche Maßnahmen im Falle von gefälschten (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Ab- Arzneimitteln ergriffen werden müssen – wir denken geordneten der LINKEN) immer, das käme nicht vor, aber es kommt leider doch auch die Betreuer genau diesen Wunsch des erkrankten immer wieder vor –, und sehen ein klares Rückgriffsrecht Menschen zu respektieren haben. Deshalb ist es ein gutes und Verfolgungsrecht vor. Auch das ist Bestandteil des Gesetz. Wir senken nicht die Standards. Ich bitte herzlich Gesetzes. um Ihre Zustimmung. In dem Gesetz wird noch einmal klargestellt, wie das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Verhältnis der Arbeit der Ethikkommissionen ist. Wir haben die Bundesbehörden, und wir haben die Landes- Präsident Dr. Norbert Lammert: ethikkommissionen, die in einem Stufenverfahren mit- Ich bitte um Verständnis, dass ich trotz der Jubiläums- einander in Abstimmung stehen. Wir regeln auch, dass sitzung nicht jedem Redner eine deutlich erweiterte Re- von den drei Ärzten, die in diesen Ethikkommissionen dezeit zubilligen kann. sein müssen, mindestens einer ist, der sich mit toxikolo- gischen Dingen auskennt, und mindestens einer ist, der (Tino Sorge [CDU/CSU]: Aber Frau Michalk Erfahrung in klinischer Forschung hat. Das ist deshalb schon!) wichtig, weil der Kern dieses Gesetzes ja darauf abzielt: Die Kollegin Wöllert ist die Erste, die dieser Hinweis Unter welchen Voraussetzungen sind klinische For- trifft. Das gilt aber auch für alle nachfolgenden Redner. schungen an nicht einwilligungsfähigen Personen, die Bitte schön. keinen eigenen Nutzen davon haben, möglich? Einerseits wollen wir und schaffen wir jetzt ganz strenge Verfahren (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 19997

(A) Birgit Wöllert (DIE LINKE): Auch der marketingorientierte Missbrauch von Beobach- (C) Sehr geehrter Herr Präsident, ich gebe mir große tungsstudien bleibt weiter möglich und kann die klini- Mühe, diesen Hinweis zu beachten. sche Forschung daher eher diskreditieren oder in Verruf bringen, wie man so schön sagt. Das bringt für den ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf samten Forschungsbereich mehr Schaden als medizini- den Zuschauertribünen! „Änderung arzneimittelrechtli- schen Fortschritt. cher und anderer Vorschriften nach Europarecht“ ist ja (Beifall bei der LINKEN) ein ziemlich sperriger Titel, und kaum einer kann sich vorstellen, worüber wir denn bei diesem Tagesordnungs- Durch das Gesetzgebungsverfahren hatten wir die punkt eigentlich reden. Aber es ist etwas, was uns alle Chance, bekannte Missstände abzubauen und damit das angeht. Es geht nämlich darum: Wie wird medizinischer Vertrauen in die Forschung zu erhöhen. Die Änderungen Fortschritt auch künftig gesichert, und wie ist er mit dem bei den Meldevorgaben begrüßen wir, doch leider lösen Schutz von Menschen in Einklang zu bringen, die an Stu- sie das eigentliche Problem nicht. dien teilnehmen, um diesen Fortschritt zu ermöglichen? Um nicht mehr und nicht weniger geht es heute. Der Probandenschutz ist in Deutschland grundsätz- lich gut ausgeprägt. Sicher trägt das auch dazu bei, dass Wir haben am Mittwoch 90 Minuten zu einem Aus- Deutschland zu den Spitzenreitern bei der Durchführung schnitt aus diesem Gesetz diskutiert. Es war eine der von klinischen Studien gehört. Umso mehr müssen alle Sternstunden der Diskussion – so stand in einer Zei- Regelungen sehr kritisch hinterfragt werden, die das Ver- tung –, weil freigegeben würde, wie sich die einzelnen trauen in die ethische Beurteilung beschädigen könnten. Abgeordneten verhalten. Deshalb werde ich heute auf Ohne Not werden in diesem Gesetz Schritte unternom- diesen Punkt nicht mehr eingehen. In den fünf Minuten, men, ein gut funktionierendes System in eine problema- die mir zur Verfügung stehen, möchte ich über die vielen tische Richtung zu verändern. Die zustimmende Empfeh- anderen wichtigen Aspekte im Gesetz sprechen, die auch lung der Ethikkommission hätte deshalb verbindlicher heute zur Abstimmung stehen. Teil des Genehmigungsprozesses bleiben müssen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Dr. Karl Lauterbach [SPD]) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Klinische Prüfungen sind immer ethisch sensibel. Das Warum es eine Verordnungsermächtigung für die Ein- öffentliche Interesse am medizinischen Fortschritt muss richtung einer Bundesethikkommission geben soll, er- gegen die Risiken für die Menschen, die an Versuchen schließt sich nun gar nicht. In der Gesetzesbegründung oder an Forschungsreihen teilnehmen und sich freiwillig wird ausgeführt, eine solche Kommission würde nur (B) zur Studienteilnahme bereit erklärt haben, abgewogen gebraucht, wenn nicht genug Landesethikkommissionen (D) werden. registriert sind. Warum, zum Teufel, trauen Sie auf ein- mal den bisher hervorragend arbeitenden Landesethik- (Tino Sorge [CDU/CSU]: Dafür macht man kommissionen nicht mehr? ja dieses Gesetz!) (Beifall bei der LINKEN) Umso wichtiger ist das Vertrauen in der Bevölkerung, Sowohl die schwächere Bindung an das Votum einer dass die Gesundheit der sogenannten Probandinnen und Ethikkommission als auch die Drohkulisse der Einrich- Probanden – so nennt man diese Teilnehmer – nicht tung einer Bundesethikkommission wird die Länder­ unnötig aufs Spiel gesetzt wird. Ein durchweg hohes ethikkommissionen spürbar unter Druck setzen. Schutzniveau für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu gewährleisten, bedeutet, dass in jedem einzelnen Fall Die Regelungen, die nichtklinische Forschungen be- eine unabhängige ethische Abwägung getroffen werden treffen, sind aus unserer Sicht in Ordnung. Wir begrüßen muss. Das bedeutet auch, Menschen zu gewinnen, die etwa das Verbot der Abgabe von Arzneimitteln über Te- freiwillig und gut informiert ihre Zustimmung zur Teil- leshopping und die Neudefinition des Apothekerberufs. nahme an einer Studie geben. Es lagen uns 17 Änderungsanträge der Koalition vor. Jede Studie, die sich mit einer anderen doppelt, ist In einem Großteil davon wird die Kritik des Bundesrates ethisch hochproblematisch; denn Risiken für die Studi- ernst genommen. Positiv hervorzuheben sind die vorge- enteilnehmer und -teilnehmerinnen wären vermeidbar. schriebene Zusammensetzung der Ethikkommissionen, – Auch aus diesem Grund ist die Forderung nach einem umfassenden Studienregister in diesem Gesetz so wich- Präsident Dr. Norbert Lammert: tig. Frau Kollegin. (Beifall bei der LINKEN) Birgit Wöllert (DIE LINKE): Aber leider haben Pharmaunternehmen nach wie vor die – Vorgaben für die Meldung von Beobachtungsstudien Möglichkeit, unliebsame Studienergebnisse der Öffent- und die Möglichkeit, dass der Ethikkommission Aufla- lichkeit vorzuenthalten. Das ist eine verpasste Chance. gen gemacht werden. Das ist das Gegenteil von Transparenz, die für Vertrauen unabdingbar ist. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN) Frau Kollegin. 19998 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

(A) Birgit Wöllert (DIE LINKE): Laut einer aktuellen Umfrage können 94 Prozent der (C) Ich komme wirklich zum Schluss. Apotheker mehrmals pro Woche Medikamente nicht auf- treiben. Dann heißt es auf den Zetteln an den leeren Re- galfächern und in den Medikamentenlagern: Hersteller Präsident Dr. Norbert Lammert: defekt. Besonders davon betroffen sind die Impfstoffe. Aha. Acht sind es laut einer aktuellen Liste des Paul-Ehr- (Heiterkeit) lich-Instituts mit Humanimpfstoffen, bei denen es Lie- ferengpässe gibt. Diese Liste beruht bislang auf einer freiwilligen Meldung der Arzneimittelhersteller. Doch Birgit Wöllert (DIE LINKE): Lieferengpässe können Leben gefährden; denn Krank- Bei der Einbringung des Gesetzentwurfes sagte meine heiten richten sich nicht nach der Verfügbarkeit von Arz- Kollegin Kathrin Vogler: Es gibt hier noch viel Ände- neimitteln auf dem Markt. rungsbedarf. – Einiges davon wurde im Gesetzgebungs- verfahren umgesetzt, vieles hätten wir uns noch ge- Mit dieser AMG-Novelle schaffen wir nun die Rechts- wünscht. Das Glas ist nicht halb voll und nicht halb leer. grundlage für mehr Transparenz über die verfügbaren Deshalb empfehlen wir: Enthaltung. Arzneimittel. Die Ständige Impfkommission und die medizinischen Fachgesellschaften sollen künftig Hand- (Beifall bei der LINKEN) lungsempfehlungen zum Umgang mit Lieferengpässen geben können. Das ist richtig und wichtig; denn wer Präsident Dr. Norbert Lammert: nicht weiß, was fehlt, kann auch keine Schritte zur Ver- Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Stamm- meidung von Lieferengpässen in die Wege leiten. Trans- Fibich das Wort. parenz und die Veröffentlichung von Informationen sind ein wichtiger Schritt, um Versorgungsengpässe künftig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu vermeiden. der CDU/CSU) Bis zuletzt habe ich mich in der Debatte über diesen Gesetzentwurf für die Abschaffung des Fernverschrei- Martina Stamm-Fibich (SPD): bungsverbots eingesetzt. Ich bleibe dabei, dass ohne Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Notwendigkeit eine berufsrechtliche Regelung zur Fern- Kollegen! Verehrte Besucher auf der Tribüne! Diese Wo- behandlung in den Gesetzentwurf aufgenommen wur- che steht voll und ganz im Zeichen des Themas „Arznei- de. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass eine Abgabe von mittel und Gesundheit“. Ich kann mich nicht erinnern, verschreibungspflichtigen Arzneimitteln nicht erfolgen (B) dass wir uns schon einmal in einer Woche so oft im Ple- darf, wenn vor der ärztlichen Verschreibung kein direk- (D) num zusammengefunden haben. ter Kontakt zwischen dem Arzt und der Person, für die das Arzneimittel verschrieben wird, stattgefunden hat. ( [CDU/CSU]: Zum Thema Hiervon darf in begründeten Fällen jedoch abgewichen Gesundheit! Sonst schon!) werden, insbesondere wenn die Person dem Arzt aus Wir sind fleißig: Am Mittwoch haben wir über die grup- vorangegangenen Kontakten hinreichend bekannt ist pennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen und es sich um eine Wiederholung oder Fortsetzung der Erwachsenen debattiert. Ich denke – da gebe ich der Behandlung handelt. Dem Wortlaut des Gesetzentwurfs Kollegin Wöllert recht –, das war eine ordentliche und nach muss es zunächst einen nicht definierten begründe- anständige Debatte. Über die vorliegenden Änderungs- ten Ausnahmefall geben. Erst dann greift die Wiederho- anträge wurde abgestimmt. Auch ich hätte mir ein ande- lung oder Fortsetzung. Aus meiner Sicht kann das im Fall res Ergebnis gewünscht; aber so ist das in der Demokra- einer Schmerztherapie durchaus hinderlich sein. Durch tie, und die Debatte stand diesem Haus gut an. diese Koppelung wird bereits eine leichte Dosiserhöhung ausgeschlossen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das gilt auch in Amerika, dass das Demokratie ist!) Die Neuregelung in § 48 Arzneimittelgesetz weitet damit das ärztliche Berufsrecht auf weitere Leistungser- Gestern folgte die erste Lesung des Arzneimittelversor- bringer aus, nämlich auf die Apotheker. Sie werden so gungsstärkungsgesetzes. Heute kommen wir zu Teil drei, nicht wollend zu einer Kontrollinstanz. Liebe Kollegin- zur dritten Lesung des Entwurfs des Vierten Gesetzes zur nen und Kollegen, kann der Apotheker an der Nasenspit- Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschrif- ze erkennen, ob ein Patient vorher beim Arzt war? Nein, ten, kurz: AMG-Novelle. Auch ich finde diesen Begriff das kann er nicht. Aus meiner Sicht ist die Telemedizin recht sperrig. ein wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung, Verbes- Vieles in diesem Gesetzentwurf ist unstrittig und wird serung und Verkürzung von Versorgungswegen, gerade erhebliche Verbesserungen in unserer Versorgungsland- vor dem Hintergrund des demografischen Handelns. schaft mit sich bringen. Aus meiner Sicht ist die Debatte (Beifall bei der SPD) über die gruppennützige Forschung ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass Fragestellungen nicht nur Erst vor knapp einem Jahr haben wir das E-Health-Ge- politisch angegangen werden, sondern auch möglichst setz verabschiedet und uns ausdrücklich zum Potenzial frühzeitig gesellschaftlich debattiert werden. Ich möch- digitaler Anwendungen für die Qualität und die Wirt- te zwei Punkte aus diesem Gesetzentwurf herausgreifen, schaftlichkeit der Patientenversorgung bekannt. Dies ist über die es sich nachzudenken lohnt. besonders in ländlichen Regionen von Relevanz, in de- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 19999

Martina Stamm-Fibich (A) nen Fahrtwege zu Ärzten und Wartezeiten zunehmend zu interdisziplinären und unabhängigen Ethikkommission (C) Zugangshürden werden. Ich kann bis heute nicht verste- abhängig bleibt. hen, warum dieses Verbot es ins Gesetz geschafft hat. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halte dieses Verbot von Fernverschreibungen für nicht sowie bei Abgeordneten der SPD und der zielführend. Ansonsten, glaube ich, dass wir mit der vier- LINKEN) ten AMG-Novelle ein gutes Gesetz gemacht haben, das für viele Verbesserungen in diesem Land sorgen wird. Wir brauchen klinische Studien, damit der medizini- sche Fortschritt bei den Menschen ankommt. Aber wir Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. brauchen auch Vertrauen in Forschung. Das bindende (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Votum von Ethikkommissionen trägt hierzu bei. Die der CDU/CSU) Ethikkommissionen haben für dieses Vertrauen gesorgt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Präsident Dr. Norbert Lammert: SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Das Wort hat nun die Kollegin Schulz-Asche für die Mit diesem Gesetz zerstören Sie in mehrfacher Hinsicht Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. das Vertrauen in die Forschungslandschaft in Deutsch- land. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ha! Ha!) NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- Zum Verbot von Fernbehandlungen und Fernver- leginnen und Kollegen! Ich hoffe, dass Sie heute Morgen schreibungen hat Frau Stamm-Fibich alles gesagt. beim Frühstück den Kommentar von Jan Heidtmann in (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!) der Süddeutschen Zeitung gelesen haben, der sich noch einmal mit dem Thema befasst, über das wir hier am Die Tatsache, dass die SPD an der Stelle geklatscht hat, Mittwoch namentlich abgestimmt haben, nämlich mit führt vielleicht dazu, dass Sie das Gesetz ablehnen wer- der Frage, inwieweit die Forschung mit Menschen, mit den. Erwachsenen, die nicht mehr einwilligungsfähig sind, er- Ich möchte noch auf ein Thema eingehen, das Sie leichtert werden soll, wenn sie keinen individuellen Nut- nicht angehen, und zwar die sogenannten Anwendungs- zen mehr davon haben. Die Mehrheit dieses Hauses hat beobachtungen. Die Bundesregierung versäumt zum am Mittwoch ein Gesetz gebrochen: Wenn man bewährte wiederholten Male – sie lässt die Chance erneut verstrei- Gesetze hat, sollte man diese nicht ändern. Das ist hier chen –, die Korruptionsanfälligkeit solcher Studien zu (B) leider geschehen. Ich fordere Sie weiterhin auf, dafür zu beheben. Solche Studien sind intransparent in Bezug auf (D) sorgen, dass das derzeitige hohe Schutzniveau, das wir die beteiligten Ärztinnen und Ärzte und auf die mögliche in Deutschland haben, erhalten bleibt. Ich bitte Sie, mit Beeinflussung von Verschreibungsverhalten. Zuletzt hat Nein zu stimmen. eine gemeinsame Recherche von Correctiv, NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung gezeigt, in welchem Ausmaß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pharmaunternehmen mithilfe von Anwendungsbeobach- sowie bei Abgeordneten der SPD und der tungen Einfluss auf Ärztinnen und Ärzte nehmen. Was LINKEN) ist mit der Aufklärungspflicht gegenüber den Patientin- Nun werden einige von Ihnen sagen: Wir haben bei nen und Patienten? Die Bundesregierung ist bisher nicht uns in den Bundesländern Ethikkommissionen, die sich gewillt, diese Lücke zu schließen und Transparenz bei ohnehin damit befassen. Sie begutachten diese ganzen Anwendungsbeobachtungen zu schaffen sowie zur Ge- Arzneimittelstudien. Sie machen eine super Arbeit. Ihre währleistung von Patientensicherheit beizutragen. Kompetenzen werden durch das Gesetz noch ausgewei- Herr Lauterbach hat kürzlich ein Interview – es um- tet. – Aber wenn Sie das Gesetz richtig gelesen haben, fasst zwei Seiten – zu den Anwendungsbeobachtungen dann wissen Sie, dass die Ethikkommissionen, so wie wir gegeben. Es trägt die Überschrift: Das ist eine Form der sie kennen – sie leisten vorbildliche Arbeit in allen Bun- legalen Korruption. desländern –, durch dieses Gesetz entmachtet werden. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Herzlichen Glück- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Aha!) wunsch! Wieder alle unter Generalverdacht – Dann lesen Sie einmal das Gesetz. – Künftig soll das gestellt!) Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Ich frage Sie, wie Sie hier als mitregierende Fraktion mit einer entsprechenden Begründung vom Votum einer heute einen Gesetzentwurf verabschieden wollen, in dem Ethikkommission abweichen Sie genau dieses Thema nicht aufgreifen, in dem Sie die (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist die ab- Korruptionsanfälligkeit dieser Anwendungsbeobachtun- solute Ausnahme! Stimmt doch nicht!) gen nicht angehen. Das ist meine Frage. Auch deswegen werden wir mit Nein stimmen. und eine Studie unabhängig von der Stellungnahme und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entscheidung einer Ethikkommission zulassen können. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie heute mit Nein, damit die Genehmigung einer klinischen Studie weiterhin von Meine Damen und Herren, der Arzneimittelbereich ist der positiven bindenden Stellungnahme der zuständigen in großer Bewegung. Wir haben es mit vielen Innovati- 20000 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Kordula Schulz-Asche (A) onen zu tun und stehen vor großen Herausforderungen. Thema in diesem Gesetzentwurf eben nicht aufgegriffen (C) Umso wichtiger ist es, dass wir die Unabhängigkeit von haben. Deswegen werden wir mit Nein stimmen. Forschung und die Patientenrechte in den Mittelpunkt stellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir sind uns der hohen Bedeutung klinischer Prüfun- Ich halte das einmal als vorbildliches Beispiel für eine gen bewusst. Das Gesetz zerstört aber Vertrauen, wo wir Kurz-Intervention fest und empfehle das als leuchtendes Vertrauen brauchen. Beispiel für ähnliche Annäherungen an diese Möglich- keit unserer Geschäftsordnung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Heiterkeit im ganzen Hause – Beifall bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt Kurzinter- Jetzt hat der Kollege Erich Irlstorfer für die CDU/ vention!) CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Präsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Karl Lauterbach [SPD]) Zu einer Kurzintervention erhält Herr Lauterbach das Wort. Machen Sie es aber bitte wirklich kurz, Herr Erich Irlstorfer (CDU/CSU): Lauterbach. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach gründlichen Beratungen und intensiv geführten Dr. Karl Lauterbach (SPD): Debatten beschließen wir heute das Vierte Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschrif- Weil ich erwähnt wurde, will ich zum einen darauf ten. Darin setzen wir unter anderem den Grundstein für hinweisen, dass ich in diesem Interview im Kölner die Weiterentwicklung hochwertiger klinischer Studien. Stadt-Anzeiger, das angesprochen wurde, ganz konkrete Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir Vorschläge dazu unterbreitet habe, wie man dem Pro- nicht nur beiläufig Anpassungen an die beiden EU-Ver- blem des Missbrauchs der Anwendungsbeobachtungen ordnungen über klinische Prüfungen mit Humanarznei- begegnen kann. Die Legislaturperiode läuft ja noch. mitteln vor, sondern bringen wir auch richtungsweisende (B) Zum anderen möchte ich sagen: Das Gesetz, das wir Entscheidungen auf den Weg. (D) heute beschließen, An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten par- (Maria Michalk [CDU/CSU]: Hat damit gar teiübergreifend noch einmal für den konstruktiven Aus- nichts zu tun!) tausch danken. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit den beschlossenen Regelungen zur gruppennüt- beschäftigt sich nicht mit dem Problem, das im Interview zigen Forschung einen wichtigen Schritt in Richtung angesprochen wurde. Forschungsförderung getan haben, ohne unsere hohen Schutzstandards, verehrte Kollegin Schulz-Asche, in (Tino Sorge [CDU/CSU]: Das heißt, wer Deutschland zu gefährden. lesen kann, ist klar im Vorteil!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Darin ging es nicht um dieses Problem. Es kann nicht sowie des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) angehen, dass hier der Eindruck erweckt wird, als ob ich Ich bitte Sie deshalb darum: Schüren Sie weder Angst dort das Gesetz, das wir heute auch mit meiner Stimme noch Verunsicherung. Ich glaube, dass ist nicht ange- beschließen werden, aufgrund von Unvollständigkeit kri- bracht. tisiert hätte. Gerade bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Demenzen entstehen bei den Betroffenen Veränderun-

Präsident Dr. Norbert Lammert: gen im Verhalten und Erleben, die in späteren Stadien oft Okay. – Frau Kollegin Schulz-Asche noch einmal. Angst, Agitation und Aggression mit sich bringen, also Bitte schön. ganz andere Erscheinungen als bei leichten Demenzen. Aus diesem Grund bin ich der Auffassung, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass eine Forschung mit Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): ausschließlich leicht Erkrankten nicht ausreicht, weil die Ergebnisse nicht auf die Behandlung im fortgeschritte- Sehr geehrter Kollege Lauterbach, Sie haben recht, nen Stadium anwendbar sind. dass das in dem vorgelegten Gesetzentwurf tatsächlich nicht enthalten ist. Das habe ich gerade ja auch kritisiert. Wie die Redner, die am Mittwoch für den beschlosse- nen Änderungsantrag gesprochen haben, bereits klarge- Das Arzneimittelgesetz, das heute geändert wird, ent- stellt haben, werden auch in Zukunft nichteinwilligungs- hält allerdings die Regelungen zur Anwendungsbeob- fähige Patienten in Deutschland nicht an fremdnützigen achtung, und mein Vorwurf war genau, dass Sie dieses Studien teilnehmen dürfen. Bei gruppennützigen Studien Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20001

Erich Irlstorfer (A) wollen wir Patienten aber die Möglichkeit geben, in ei- Meine sehr geehrten Damen und Herren, am Mittwoch (C) nem frühen Stadium selbst zu entscheiden, ob sie zum haben wir über die strittigen Punkte des Gesetzentwurfes Nutzen anderer Betroffener an ihnen teilnehmen wollen. eine Entscheidung herbeigeführt. Die übrigen Abschnit- Und es bleibt dabei, dass nichteinwilligungsfähige Pati- te der AMG-Novelle halte ich für nicht kontrovers. Sie enten zu jeder Zeit aus gruppennützigen Forschungsstu- bringen wichtige Klarstellungen der Rechtslage. Ich bitte dien aussteigen können, wenn sie ihren Unwillen kund- Sie daher um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz. tun. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sowie der Abg. Dr. [DIE LINKE]) der SPD) Die Voraussetzungen, meine sehr geehrten Damen und Herren, für eine solche Entscheidung der Betroffenen Präsident Dr. Norbert Lammert: sind ganz klar und auch streng geregelt, sodass wir hier Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege aus meiner Sicht weder ein ethisches noch ein praktisches Edgar Franke. Problem haben. Deshalb vertreten wir diese Lösung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Ein anderer Aspekt, der mir ein wichtiges Anliegen ist CDU/CSU) und der in den vergangenen Tagen in der politischen De- batte etwas in den Hintergrund rückte, ist der Patienten- schutz, der durch dieses Gesetz auch weiterhin gestärkt Dr. Edgar Franke (SPD): wird. Mit der Umsetzung der AMG-Novelle setzen wir Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- für die Diagnose und die Indikation bei einem Menschen ren! Zunächst möchte ich in Richtung von Frau Schulz- einen direkten Arzt-Patienten-Kontakt voraus. Das be- Asche, die die Anwendungsbeobachtungen angespro- deutet natürlich nicht, liebe Kollegen, dass wir uns Inno- chen hat, sagen, dass wir in diesem Haus mit dem § 299a vationen und der Digitalisierung im Gesundheitswesen im StGB einen eigenen Tatbestand der Bestechlichkeit verschließen wollen. Ganz im Gegenteil: Wir sehen in im Gesundheitswesen geschaffen haben. der Telemedizin die Chance, den Zugang zu innovativen (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE Therapien und neuen Beratungsleistungen für Patienten GRÜNEN]: Aber nicht für die Anwendungs- zu verbessern. Wir haben im E-Health-Gesetz aber einen beobachtungen!) behutsameren Ansatz gewählt: Es sollen erst einmal die notwendigen IT-Strukturen geschaffen werden, bevor der Viele Tatbestände sind in diesem Paragrafen geregelt. Markt von Unternehmen aufgerollt wird. Das war ein Erfolg für die Lauterkeit im Gesundheits- (B) wesen. (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, ich spre- che auch in Ihrem Namen, wenn ich sage, dass die Digi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der talisierung im deutschen Gesundheitswesen hinsichtlich CDU/CSU) Dynamik, aber auch hinsichtlich des Abbaus bürokrati- scher Hürden noch erhebliche Ausbaupotenziale in sich Das möchte ich ausdrücklich hier betonen, weil es wirk- trägt. Nichtsdestotrotz bin ich der festen Überzeugung, lich schwierig war, das auch durchzusetzen. dass ein direkter Arzt-Patienten-Kontakt für die erste Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, liebe Kollegin- Diagnose und medizinische Beratung eines Menschen nen und Kollegen, werden in erster Linie Anpassungen unabdingbar ist. Es hat seinen Grund, warum der direk- im Arzneimittelrecht vorgenommen. Es geht um kli- te Arzt-Patienten-Kontakt jeher die Grundlage jeglicher nische Prüfungen und Humanarzneimittel. Das haben Therapieentscheidung war und auch bleiben wird. schon mehrere gesagt, auch die Kollegin Stamm-Fibich Wir können auch nicht – ganz zu Recht – bei jeder hat darauf hingewiesen. Ich möchte noch einmal drei As- Gelegenheit die Stärkung der sprechenden Medizin for- pekte erwähnen. dern und dann bei so einer grundsätzlichen Frage wie der Der erste Aspekt ist ein ganz wichtiger: Arzneimit- Verschreibung von Arzneimitteln komplett auf echten telsicherheit. Mit diesem Gesetz wollen und werden zwischenmenschlichen Kontakt und die therapeutischen wir sicherstellen, dass ein begründeter Fälschungsver- Effekte der Arzt-Patienten-Begegnung verzichten. dacht ausreicht – auch Maria Michalk hat darauf hin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gewiesen –, um ein Arzneimittel wieder vom Markt zu der SPD) nehmen. Es ist momentan wirklich so, dass überall ge- fälscht wird, dass gefälschte Arzneimittelpackungen in Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit der jetzt legale Vertriebsketten kommen, nicht in erster Linie in gefundenen Regelung stärken wir die Sicherheit der Pa- Deutschland, vor allen Dingen aber in Europa. In ganz tienten, indem wir dem Risiko der Fehldiagnosen aus der vielen Fällen haben Kriminelle sich, teilweise sogar aus Ferne begegnen; denn in einer Onlinevideosprechstunde dem Internet, Druckvorlagen von Pharmafirmen be- kann der Patient zwar seine Beschwerden äußern, aber schafft. Das ist ein Problem, das wir in der Praxis haben. der Arzt kann diese bisher weder überprüfen noch im- Denn mit bloßem Auge kann man die Fälschungen nicht mer mögliche Begleiterscheinungen erkennen. Wir wür- erkennen. Die WHO schätzt den Anteil der Fälschungen den als Gesetzgeber Risiken für beide Seiten billigend in auf 10 Prozent. Gerade in der Onkologie, wo Zytostati- Kauf nehmen, was aus meiner Sicht äußerst fragwürdig ka eingesetzt werden, geht es um Leben und Tod; es ist wäre. ganz wichtig, dass wir hier handeln. Wir haben eine gute 20002 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Dr. Edgar Franke (A) Regelung geschaffen, meine sehr verehrten Damen und Ausübung meines Selbstbestimmungsrechtes habe, das (C) Herren, und sie wird auch wirksam sein. Denn der Rück- im Grundgesetz verankert ist. Jeder hat ja nach Artikel 2 ruf ist darin ausdrücklich geregelt. Grundgesetz das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Dies ist nicht geringzuschätzen: Es ist ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nes der Grundrechte in unserem Grundgesetz. CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Wir packen ein weiteres Problem an. Wir alle wissen, wie der Abg. Martina Stamm-Fibich [SPD]) dass immer wieder darüber geklagt wird, dass nicht aus- reichend Medikamente und gerade auch Impfstoffe zur Eine Beschneidung dieses Freiheitsrechts, das ganz vor- Verfügung stehen. Jetzt ist Herbst, und bald fängt der ne im Grundgesetz steht, muss immer – das wissen nicht Winter an. Wir schaffen insofern Transparenz, als die nur die Juristen – sehr gut begründet sein. Ständige Impfkommission und auch medizinische Fach- Abschließend: Meine sehr verehrten Damen und Her- gesellschaften künftig Handlungsempfehlungen geben ren, man sollte niemandem verbieten, seine Bereitschaft können. Das brauchen die Patienten; denn die Patienten zur Teilnahme an Forschungsstudien zu erklären, die das müssen sicher sein, dass sie im Krankheitsfall Medika- Schicksal künftig Betroffener lindern könnte. Deswegen mente bekommen; die Patienten müssen sicher sein, dass ist das ein guter und ausgewogener Gesetzentwurf, dem sie mit wirksamen Impfstoffen geimpft werden. Das ist man wirklich zustimmen kann. eine wirklich gute Regelung, liebe Kolleginnen und Kol- legen, die wir in den Gesetzentwurf aufgenommen ha- Ich danke Ihnen. ben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) CDU/CSU) Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede noch ein- Präsident Dr. Norbert Lammert: mal auf einen strittigen Punkt zurückkommen: die beab- Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist sichtigte Zulassung gruppennütziger Forschung an nicht- der Kollege Stephan Albani für die CDU/CSU-Fraktion. einwilligungsfähigen Menschen. Meine sehr verehrten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Damen und Herren, der EU war bewusst, dass gerade wir Deutschen aufgrund unserer Vergangenheit sehr sensibel Ich bitte noch einen Augenblick um Aufmerksamkeit, mit Forschung an Menschen umgehen müssen, die ihren bis wir dann zu den Abstimmungen über den Gesetzent- Willen nicht mehr eindeutig mitteilen können. Deshalb wurf kommen. – Bitte schön, Herr Kollege Albani. (B) hat sie auch den nationalen Parlamenten einen breiten (D) Spielraum eingeräumt. Seit dem Frühsommer haben Stephan Albani (CDU/CSU): wir in diesem Hause im Ausschuss, aber auch öffentlich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäs- ganz, ganz engagiert das Für und Wider diskutiert. Ich te auf den Tribünen! Als ich vor einigen Tagen erfuhr, finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Diskussionen dass ich heute den letzten Redebeitrag zu dieser Debatte nicht nur in den Anhörungen im Gesundheitsausschuss leisten darf, war ich voller Sorge. Voller Sorge nicht des- haben gezeigt, dass wir uns ernsthaft und mit Niveau und wegen, weil es immer hart ist, vor einer namentlichen in der Tiefe mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben. Abstimmung gegen den allgemeinen Störlärm anzure- Wir haben vergangenen Mittwoch mehrheitlich ent- den. Nein, das war nicht meine Sorge. Meine Sorge war: schieden – auch das hat Frau Schulz-Asche angespro- Über welchen Gesetzentwurf wird hier heute debattiert? chen –, dass nichteinwilligungsfähige Menschen an Vor Ihnen steht nicht nur ein Wissenschaftspolitiker, gruppennützigen Studien teilnehmen können, wenn sie der in der heutigen Gesundheitsdebatte sprechen darf, im gesunden Zustand, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräf- sondern vor Ihnen steht auch – ich bekenne das – ein te ihre Einwilligung zur Teilnahme erklärt haben. Dabei Wissenschaftler, der in seinem Leben zahllose Ethikan- setzen wir enge Grenzen, wann die Teilnahme erlaubt ist träge gestellt hat. Wir haben Experimente mit Menschen und welche Untersuchungen im Rahmen einer solchen gemacht, glücklicherweise oder einfacherweise für mich Studie möglich sind. in Bereichen, wo die Patienten einwilligungsfähig waren, nämlich im Bereich der Fehlhörigkeit. Aber das Ziel der Zunächst schreiben wir eine verpflichtende ärztliche Wissenschaft ist am Ende, zu heilen. Wir wollen die gro- Aufklärung über alle Risiken einer Studienteilnahme vor. ßen Geißeln der Menschheit überwinden. Insofern habe Dann muss auch noch eine eigenständige schriftliche ich, als ich überlegte, was ich an dieser Stelle sagen kann, Einwilligung abgegeben werden. Man kennt zwar den mich entschieden: Ich möchte genau auf diese Zielset- Forschungsinhalt einer künftigen Studie dann noch nicht, zung eingehen. aber auch die Betreuer müssen später umfassend aufge- klärt werden, bevor sie für den Betreuten in die konkrete Wir haben eine gute Debatte geführt. Wir haben am klinische Prüfung einwilligen. Man hat also noch eine Mittwoch ordentliche Argumente ausgetauscht. Aber es Hürde eingebaut. kamen zwei Dinge vor, derentwegen ich nun konkreter werden möchte. Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist eine gute Regelung. Es ist auch eine ausgewogene Das eine war: Es wurde davon gesprochen, dass Alz- Regelung für die Wissenschaft. Für mich bedeutet die- heimer-Demenz irreversibel ist. Nach heutiger Kenntnis se Entscheidung, dass ich jederzeit die Möglichkeit zur ist das so. Aber vor 50 Jahren war auch Taubheit unüber- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20003

Stephan Albani (A) windbar. Heute ist nur eine Routineoperation notwen- Diese Debatte haben wir – das möchte ich allen Betei- (C) dig, um Taube wieder hörend zu machen. Wir können ligten sagen – in weiten Teilen stilvoll und auf vernünfti- in Kürze Blinde wieder sehend machen. Wir wollen in ge Art und Weise geführt. Es waren auch geschichtliche Zukunft solche Geißeln wie Tuberkulose und Kinderläh- Repliken dabei. Ich möchte an dieser Stelle sagen: Ja, mung überwinden. So muss es auch das Ziel sein, Alz- wir haben in Deutschland vor dem Hintergrund unserer heimer-Demenz und andere neurodegenerativen Krank- Geschichte eine besondere Verantwortung, mit diesem heiten zu heilen. Thema sensibel umzugehen. Wir haben nicht nur in der Gegenwart, sondern zu allen Zeiten die Verpflichtung, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit den Menschen, die unseres Schutzes bedürfen, ver- der SPD) antwortungsvoll umzugehen. Aber wir haben auch die Wenn wir das tun wollen, dann brauchen wir auch die Verantwortung für die Gesundheit zukünftiger Genera- Möglichkeit, Studien mit Patienten durchzuführen, die tionen. Die nun vorliegende Regelung hilft uns explizit, zum Zeitpunkt der Studiendurchführung nicht mehr ein- diese Verantwortung wahrzunehmen. willigungsfähig sind. Danke schön. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja jetzt erlaubt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Es hieß dann am Mittwoch – das war das andere, was mir aufgefallen ist –, dass, wenn wir das durch das Gesetz Präsident Dr. Norbert Lammert: zulassen, Menschen zu medizinischen Versuchsobjekten gemacht werden. Bei dieser Aussage wird im Deutschen Ich schließe die Aussprache. der passive Aspekt betont: Wir machen die Menschen zu Wir kommen damit zur etwas. – Das ist unwahr. Die Patienten bzw. die Men- schen haben zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch im Schlussabstimmung Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, die Möglichkeit, über den von der Bundesregierung eingebrachten Ent- selbst zu entscheiden, ob sie an solchen Studien teilneh- wurf eines Gesetzes zur Änderung arzneimittelrecht- men. licher und anderer Vorschriften. Wir stimmen nun über Im Prinzip gibt es zwei Zielgruppen. Die einen sagen: den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der Okay, ich kenne aus meinem eigenen Umfeld Menschen, CDU/CSU und SPD namentlich ab. Ich bitte die Schrift- die an der gleichen Krankheit wie ich leiden. Ich selbst führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze bin noch in einem leichten Stadium der Erkrankung. Des- einzunehmen. – An mehreren Abstimmungsurnen fehlen (B) halb möchte ich mich zur Teilnahme an einer entspre- insbesondere noch Vertreter der Opposition. – Sind die (D) chenden Studie bereit erklären. – Andere sagen so wie Plätze an den Urnen jetzt besetzt? – Das ist der Fall. Da- ich: Ich kenne Wissenschaft, ich weiß, wie sie betrieben mit eröffne ich die Abstimmung und weise darauf hin, wird und dass ich von ihr nicht missbraucht werde. Also dass mir zahlreiche persönliche Erklärungen nach § 31 bin ich dazu bereit. unserer Geschäftsordnung zu dieser Abstimmung vorlie- gen, die wir, einer guten Übung folgend, dem Protokoll Selbst dann sagen wir: Nein, das reicht nicht. Du be- beifügen.1) kommst noch eine medizinische Aufklärung darüber, was mit dir geschehen kann. Du kannst Dinge ausschließen, Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das sei- du kannst Dinge für Dich nicht in Anspruch nehmen, du ne Stimme nicht abgegeben hat? – Jawohl. Das sind er- kannst das frei entscheiden. – Wenn danach jemand in schöpfte Haushälter, die unmittelbar nach Beendigung Kenntnis all dieser Dinge sagt: „Ich entscheide mich da- der Bereinigungssitzung soeben noch mit hängender für“, dann ist das eine Sache der Selbstbestimmung. Da- Zunge die Abstimmungsurnen erreichen. – Weitere Be- für muss eine Probandenerklärung unterschrieben wer- wegungen sehe ich hier im Plenarsaal aber nicht. Ich den, die genau dies beinhaltet. Die Form für diese muss frage noch einmal: Ist noch jemand da, der wegen gleich- jetzt noch erarbeitet werden, damit sie diesem Anspruch zeitiger Staatsgespräche den Zeitpunkt verpasst, an dem genügt. die Urnen geschlossen werden? – Dann schließe ich jetzt die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er- der SPD) gebnis der Abstimmung teilen wir Ihnen später mit.2) Ich bin der Meinung, mit der Frage der Gruppennüt- Wir kommen jetzt zu dem Entschließungsantrag zigkeit ist auch die Frage des Altruismus verbunden: Mir der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksa- kommt es nicht darauf an, dass es mir hilft. Für mich ist che 18/10292. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- es völlig in Ordnung, wenn es den nächsten Generatio- trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit nen, meinen Kinder oder anderen, hilft; dafür stelle ich ist der Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koa- mich zur Verfügung. – Das generell ist ein Bestandteil lition bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. klinischer Studien; denn man kann im Vorhinein nie- mals hundertprozentig sagen, dass es einem Probanden Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 c nutzt. „Eigennützig“ bedeutet in diesem Fall, dass davon auf: ausgegangen wird, dass es dem Probanden nutzt. Aber Wissenschaft und Forschung beinhalten immer auch die 1) Anlagen 2 bis 4 Möglichkeit, dass dies danebengeht. 2) Ergebnis Seite 20006 C 20004 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- chen Bildungschancen eröffnen, unabhängig von seiner (C) gierung Herkunft und seinen materiellen Möglichkeiten. Nationaler Bildungsbericht – Gute Bildung – das heißt für uns mehr als notwen- Bildung in Deutschland 2016 dige Allgemeinbildung. Wir müssen gut auf das spätere Berufsleben vorbereiten. Wir wollen Aufstieg durch Bil- und Stellungnahme der Bundesregierung dung ermöglichen. Wir stehen dabei für eine Vielfalt an Drucksache 18/10100 Bildungsangeboten, auch beim lebenslangen Lernen. Überweisungsvorschlag: Meine Damen und Herren, zum sechsten Mal wird Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- uns mit dem aktuellen Bildungsbericht eine umfassende zung (f) empirische Bestandsaufnahme des deutschen Bildungs- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales wesens vorgelegt. Wir haben damit eine wertvolle Da- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tenbasis für Bund und Länder, um weiter die Qualität Ausschuss für Tourismus des Bildungsangebotes zu verbessern. Dafür vorweg ein Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union herzliches Dankeschön an die Autorengruppe. Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss Digitale Agenda (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Haushaltsausschuss bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- GRÜNEN) gierung Ich danke an dieser Stelle auch allen relevanten Bil- Bericht zum Anerkennungsgesetz 2016 dungsakteuren: Erziehern, Lehrerinnen, Dozenten, Pro- fessorinnen und nicht zuletzt den Eltern. Drucksache 18/8825 (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Überweisungsvorschlag: bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung (f) GRÜNEN) Innenausschuss Der Bericht reicht von der frühkindlichen Erziehung Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über den Schulbereich, die berufliche Ausbildung und die Ausschuss Digitale Agenda Hochschule bis zu den verschiedenen Formen der Wei- terbildung im Erwachsenenalter. In diesem Jahr lautet c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Özcan das Schwerpunktthema: Bildung und Migration. Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, (B) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Wie bereits im OECD-Bericht wird uns wieder ein po- (D) NIS 90/DIE GRÜNEN sitives, ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt. Nationaler Bildungsbericht – Bildungsinstitu- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tionen zukunftsfest machen – Für eine gerech- NEN]: Mal nicht übertreiben!) te und soziale Gesellschaft Bildungsstand und Bildungsbeteiligung sind über einen Drucksache 18/10248 längeren Zeitraum kontinuierlich gewachsen und haben sich positiv entwickelt. Das ist das Ergebnis einer Viel- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zahl positiver Entwicklungen in allen Bildungsbereichen. zung (f) Das ist doch prima. Darüber können wir uns doch freuen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Wir Mitglieder im Bildungsausschuss sind ja da meist diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Das findet von ruhiger Sachlichkeit. Aber wenn es solch positive Er- offenkundig Zustimmung. Also können wir so verfahren. gebnisse gibt, können wir uns auch gerne einmal freuen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Die Bildungsausgaben des Bundes lagen 2015 gut Kollegen Xaver Jung für die CDU/CSU. 80 Prozent über dem Wert von 2008. Dafür haben wir gesorgt, und darauf sind wir stolz. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Xaver Jung (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Meine Damen und Herren, wir wissen: Hochwertige ren! Gute Bildung ist ein Menschenrecht und darüber hi- Bildung beginnt in frühen Kindesjahren. Wir fördern seit naus das wichtigste Kapital unseres Landes. Sie ist eine vielen Jahren die Kitas. So freut uns, dass wir 2015 ei- gesellschaftliche Notwendigkeit. nen neuen Höchststand an pädagogischen Fachkräften verzeichnen können. Wir müssen noch an den Arbeits- (Beifall des Abg. Özcan Mutlu [BÜND- bedingungen der Fachkräfte arbeiten; da sind die Länder NIS 90/DIE GRÜNEN]) dann gefordert. – Ja, da muss man klatschen. – Wir wollen jedem Kind (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sehr rich- und jedem Erwachsenen in Deutschland die bestmögli- tig! Volle Zustimmung!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20005

Xaver Jung (A) Aber nicht nur der quantitative, sondern auch der qua- erneut über den von uns geplanten Zahlen gelegen; im (C) litative Ausbau der Kindertagesbetreuung ist wichtig. Grunde keine schlechte Sache. Hier müssen wir die Lese- und Sprachförderung weiter ausbauen. Der Anteil der Personen mit Hochschulzugangsberech- tigung oder Studienabschluss ist weiter gestiegen. Im Be- Wir freuen uns, dass die Bildungsbeteiligung der un- reich der Promotionen sind wir sogar spitze in Europa. – ter Dreijährigen um weitere 3,6 Prozentpunkte auf nun- Da kann man auch mal klatschen; das muss man sogar. mehr 32,9 Prozent gestiegen ist. Das ist ein guter Zwi- (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu schenschritt. Auch der Ausbau von Betreuungsplätzen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Fraktion für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr muss schläft noch!) weiter vorangetrieben werden. Kinder mit Migrations- hintergrund und Kinder aus bildungsfernen Elternhäu- Gute Nachrichten gibt es auch im Bereich der Wei- sern müssen bereits im Kindergartenalter besser geför- terbildung. Die Gesamtteilnahmequote ist auf 51 Prozent dert werden. Programme wie „Kultur macht stark“ oder im Jahr 2014 angestiegen und liegt damit über dem von „Lesestart“ der Stiftung Lesen sind hierfür ein richtiger der Bundesregierung gesetzten Ziel. Auch in den Berei- Ansatz. chen Migration und Integration werden Erfolge bestätigt; dazu werden nachher meine Kollegen noch etwas sagen. Der Bericht bestätigt einen kontinuierlich voranschrei- tenden Ausbau der Ganztagsangebote in allen Schular- Ich könnte noch lange weitere positive Nachrichten ten. Das freut uns. Wir sind jetzt schon bei 60 Prozent. aufzählen. Leider lässt das die Redezeit nicht zu. Das muss noch mehr werden. Meine Damen und Herren, nichts ist so gut, dass es (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann nicht noch besser werden könnte. Das gilt selbstver- [SPD] – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja, ma- ständlich ganz besonders für unser Bildungssystem in chen wir!) Deutschland – ein System, das von vielen als zu kompli- ziert und unübersichtlich kritisiert wird, andernorts da- Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischen Hin- gegen als ideologisch einseitig wahrgenommen wird, ein tergrund haben aufgeholt. Sie konnten ihre Lesekom- System, das einerseits als verstaubt, andererseits aber als petenzen bei PISA deutlich verbessern. Immer weniger zu experimentierfreudig kritisiert wird. Dennoch hält der Jugendliche verlassen die Schule ohne Hauptschulab- Bericht die vielfältigen Anstrengungen von Bund, Län- schluss. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler ohne dern und Kommunen für geeignet, das Bildungsniveau Hauptschulabschluss hat sich von 8 Prozent 2006 auf in Deutschland weiter zu verbessern. 5,8 Prozent in 2014 reduziert. Das sind doch alles gute (B) Nachrichten. Den Bundesländern hat der Bericht die Aufgabe auf- (D) getragen, die regionalen Ungleichheiten auszugleichen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und die Erreichbarkeit von Bildungseinrichtungen für ordneten der SPD) Bildungsangebote vor allem im ländlichen Raum zu er- möglichen. „Kurze Beine – kurze Wege“ muss hier der Die Situation von Schulabgängerinnen und Schulab- Leitsatz sein. gängern bei der Ausbildungsplatzsuche hat sich ebenfalls deutlich und kontinuierlich verbessert. 686 000 junge Ebenso brauchen Kinder und Jugendliche aus Risiko- Menschen nahmen 2015 eine duale oder überbetriebliche lagen eine besondere Förderung. So ist es trotz erkenn- Ausbildung auf. Der Rest Europas beneidet uns darum, barer Fortschritte leider noch nicht gelungen, den engen auch um unsere niedrige Jugendarbeitslosigkeit. Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bil- dungserfolg nachhaltig aufzubrechen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Die Stellungnahme des Kabinetts zum Bericht hebt hervor, dass man folgende Handlungsfelder ausgemacht Unser wichtiges und einzigartiges duales Ausbil- hat: einen weiteren Ausbau und bessere Qualität in der dungssystem trägt weiterhin gute Früchte. Besonders frühen Bildung schaffen, mehr Chancengerechtigkeit viele junge Menschen arbeiten nach ihrer Ausbildung di- durch bessere Bildung erreichen, Berufsausbildung stär- rekt im gelernten Beruf, meist sogar im Ausbildungsbe- ken, Übergänge verbessern, Attraktivität und Qualität des trieb selbst. In Problemfällen brauchen wir individuelle Hochschulstudiums sichern sowie Weiterbildung stärken Unterstützung. Unsere Initiative Bildungsketten bietet da und transparent gestalten. den richtigen Ansatz. Wir sehen: Die Regierung kennt die Herausforderun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen. Selbstverständlich werden wir als CDU/CSU-Frak- Die Übernahmequoten nach erfolgreichem Ausbildungs- tion die Regierung auf ihrem weiteren Weg gern aktiv abschluss sind in den ostdeutschen Ländern gestiegen und konstruktiv begleiten. Auch für uns steht weiter- und nähern sich langsam den westdeutschen Zahlen. Das hin die Qualität des Bildungsangebots im Vordergrund. freut nicht nur die Menschen in Ostdeutschland. Wenn wir es jetzt noch schaffen, die regionalen Bil- dungsungleichheiten zwischen den einzelnen Bundeslän- 2014 erhielten 41 Prozent der Absolventinnen und Ab- dern durch vergleichbare Abschlüsse, durch vergleichba- solventen an allgemeinbildenden und beruflichen Schu- re Lernleistungen auszugleichen und wenn der Abschluss len die allgemeine Hochschulreife. 2006 waren es nur in Deutschland irgendwann in allen Bundesländern von 29,6 Prozent. Die Studienanfängerzahlen haben damit der Qualität her gleichwertig ist, dann wird sich auch in 20006 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Xaver Jung (A) der Bevölkerung Enthusiasmus in Bezug auf unser Bil- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) dungssystem zeigen. Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe, (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- möchte ich gern das von den Schriftführerinnen und NEN]: Das ist eine leidenschaftliche Rede!) Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Ich bin sicher, wenn wir all das, was wir geplant ha- Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Bun- ben, umsetzen, dann werden wir uns auch beim nächsten desregierung zur Änderung arzneimittelrechtlicher und Bericht wieder so wie heute freuen dürfen. anderer Vorschriften bekannt geben: abgegebene Stim- men 542. Mit Ja haben gestimmt 357, mit Nein haben Vielen Dank. gestimmt 164. 21 Kolleginnen und Kollegen haben sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. der Stimme enthalten. Damit ist der Gesetzentwurf an- Hubertus Heil [Peine] [SPD]) genommen.

Endgültiges Ergebnis Rüdiger Kruse Abgegebene Stimmen: 543; Dr. (Chemnitz) davon Mark Helfrich Dr. Roy Kühne ja: 358 Ingrid Fischbach Jörg Hellmuth Günter Lach nein: 164 Dirk Fischer (Hamburg) Uwe Lagosky enthalten: 21 Dr. Dr. Dr. h.c. Karl A. Lamers Klaus-Peter Flosbach Andreas G. Lämmel Ja Dr. Dr. Norbert Lammert Dr. Robert Hochbaum CDU/CSU Dr. Hans-Peter Friedrich Alexander Hoffmann Ulrich Lange (Hof) Stephan Albani Thorsten Hoffmann Barbara Lanzinger (Dortmund) Hans-Joachim Fuchtel Dr. Franz-Josef Holzenkamp Alexander Funk Dr. Ingo Gädechens Dr. Philipp Graf Lerchenfeld (B) Günter Baumann (D) Dr. Margaret Horb (Börde) Charles M. Huber Matthias Lietz Anette Hübinger Dr. André Berghegger Cemile Giousouf Erich Irlstorfer Dr. Dr. Josef Göppel Ursula Groden-Kranich Sylvia Jörrißen Wilfried Lorenz Hermann Gröhe Dr. Dr. Claudia Lücking-Michel Klaus-Dieter Gröhler Xaver Jung Dr. Jan-Marco Luczak Michael Grosse-Brömer Dr. Egon Jüttner Astrid Grotelüschen Bartholomäus Kalb Dr. Maria Böhmer Markus Grübel Steffen Kanitz Thomas Mahlberg Klaus Brähmig Dr. Thomas de Maizière Dr. Monika Grütters Bernhard Kaster Dr. Volker Kauder Hans-Georg von der Marwitz Dr. Fritz Güntzler Dr. Stefan Kaufmann Dr. (Altötting) Reiner Meier Cajus Caesar Dr. Rainer Hajek Maria Michalk Alexandra Dinges-Dierig Dr. Jürgen Klimke Dr. h.c. Jürgen Hardt Dr. Marie-Luise Dött Carsten Körber Karsten Möring Hansjörg Durz Dr. Stefan Heck Hartmut Koschyk Dr. Dr. Volker Mosblech Hermann Färber Dr. Günter Krings Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20007

(A) Carsten Müller Dr. (C) (Braunschweig) Christian Frhr. von Stetten Bärbel Bas Stefan Müller (Erlangen) Joachim Poß Dr. Rita Stockhofe (Heidelberg) Dr. Dr. Wilhelm Priesmeier Michaela Noll Stephan Stracke Dr. Karl-Heinz Brunner Helmut Nowak Dr. h.c. Dr. Dr. Georg Nüßlein Matthäus Strebl Jürgen Coße Dr. Simone Raatz Lena Strothmann Petra Crone Mechthild Rawert Florian Oßner Michael Stübgen Dr. Carola Reimann Dr. Dr. Sabine Sütterlin-Waack Sönke Rix Martin Dörmann Petra Rode-Bosse Astrid Timmermann-Fechter Dr. h.c. René Röspel Dr. Martin Pätzold Dr. Hans-Peter Uhl Petra Ernstberger Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Dr. Volker Ullrich Michael Roth (Heringen) Sibylle Pfeiffer Dr. Bernd Rützel Dr. Elke Ferner Axel Schäfer (Bochum) Michael Vietz Christian Flisek Dr. (Kleinsaara) (Erfurt) Alois Rainer Sven Volmering Dr. Edgar Franke (Spandau) Dr. Christel Voßbeck-Kayser Dr. Johannes Röring Iris Gleicke Rita Schwarzelühr-Sutter Kathrin Rösel Karl-Heinz Wange Dr. Norbert Röttgen Uli Grötsch Erwin Rüddel Dr. h.c. Dr. Frank-Walter Steinmeier (B) Rita Hagl-Kehl (D) (Hamburg) Christoph Strässer Anita Schäfer (Saalstadt) Hubertus Heil (Peine) Dr. Dr. Wolfgang Schäuble Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Karin Thissen Gabriele Hiller-Ohm Carsten Träger Karl Schiewerling Karl-Georg Wellmann Rüdiger Veit Christina Jantz-Herrmann Norbert Schindler Waldemar Westermayer Dirk Vöpel Johannes Kahrs Christian Schmidt (Fürth) Peter Wichtel Gabriele Schmidt (Ühlingen) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Dr. Jens Zimmermann Bernhard Schulte-Drüggelte Marina Kermer Elisabeth Winkelmeier- Manfred Zöllmer Dr. Klaus-Peter Schulze Becker Armin Schuster (Weil am Dr. Bärbel Kofler Rhein) Anette Kramme Nein Dagmar G. Wöhrl Christina Schwarzer Helga Kühn-Mengel CDU/CSU Heinrich Zertik Christian Lange (Backnang) Gudrun Zollner Dr. Karl Lauterbach Michael Brand Bernd Siebert Steffen-Claudio Lemme Thomas Dörflinger SPD Gabriele Lösekrug-Möller Iris Eberl Tino Sorge Jutta Eckenbach Ingrid Arndt-Brauer Carola Stauche Bettina Hornhues Dr. Bettina Bähr-Losse Dr. Hubert Hüppe Dr. Wolfgang Stefinger Heinz-Joachim Barchmann Dr. Dr. Matern von Marschall 20008 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

(A) Dr. Detlef Müller (Chemnitz) (C) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Tabea Rößner Corinna Rüffer Mahmut Özdemir (Duisburg) Dr. Gesine Lötzsch Elisabeth Scharfenberg Markus Paschke Birgit Menz Dr. Dr. Jeannine Pflugradt Cornelia Möhring Kordula Schulz-Asche (Minden) Dr. Alexander S. Neu Dr. Wolfgang Strengmann- Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Kuhn Klaus-Peter Willsch Stefan Rebmann Azize Tank Hans-Christian Ströbele Gerold Reichenbach Dr. Harald Terpe SPD Kathrin Vogler Dr. Jürgen Trittin Dr. Heike Baehrens Katrin Werner Annette Sawade Doris Wagner Jörn Wunderlich Dr. Hans-Joachim Beate Walter-Rosenheimer Schabedoth Dr. Enthalten Dr. Karamba Diaby BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Siegmund Ehrmann Dr. Dorothee Schlegel CDU/CSU Michaela Engelmeier (Köln) () Dr. Ute Finckh-Krämer Matthias Schmidt (Berlin) Dr. Dagmar Schmidt (Wetzlar) Ekin Deligöz Angelika Glöckner Katja Dörner Elfi Scho-Antwerpes SPD Kerstin Griese Katharina Dröge Susann Rüthrich Gabriele Groneberg Martina Stamm-Fibich Michael Groß Norbert Spinrath Dr. Thomas Gambke Wolfgang Gunkel (B) Kai Gehring (D) Ulrich Hampel Katrin Göring-Eckardt DIE LINKE Franz Thönnes Britta Haßelmann Dr. Michael Hartmann Dr. (Wackernheim) Bärbel Höhn Waltraud Wolff (Wol- mirstedt) Gülistan Yüksel Sven-Christian Kindler Dr. Rosemarie Hein Heidtrud Henn Maria Klein-Schmeink Susanna Karawanskij Dr. Eva Högl DIE LINKE Tom Koenigs Katrin Kunert Jan van Aken Sylvia Kotting-Uhl Matthias W. Birkwald Christian Kühn (Tübingen) Dr. Petra Sitte Eva Bulling-Schröter Renate Künast Sevim Dağdelen Monika Lazar Frank Tempel Dr. Birgit Wöllert Birgit Kömpel Wolfgang Gehrcke Dr. Sabine Zimmermann Dr. Hans-Ulrich Krüger Dr. André Hahn Nicole Maisch (Zwickau) Heike Hänsel Peter Meiwald Inge Höger Irene Mihalic BÜNDNIS 90/ Beate Müller-Gemmeke DIE GRÜNEN Bettina Müller Sigrid Hupach Özcan Mutlu Dr. Valerie Wilms

Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt . Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20009

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Nächste Rednerin ist die Kollegin Rosemarie Hein für Bildung aber ist eine Aufgabe der öffentlichen Da- (C) die Fraktion Die Linke. seinsvorsorge. Dazu gehört eine ordentliche Bildungsin- frastruktur. Wenn Sie jetzt beschließen, sozusagen rück- (Beifall bei der LINKEN) wirkend noch einmal 3,5 Milliarden Euro in den Schulbau zu geben, dann ist das sicherlich eine schöne Sache, und Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): die Kommunen werden sich freuen. Aber es hilft nicht, Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und diesen Investitionsstau aufzulösen. Dazu brauchen wir Kollegen! Liebe Gäste! Herr Jung hat eben ein Loblied eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung im Grundgesetz. auf den Bildungsbericht und die vermeintlichen oder tat- sächlichen Bildungsfortschritte gesungen. Ich habe den (Beifall bei der LINKEN) Bericht anders gelesen. Nicht nur bei Schulen gibt es diesen Bedarf, den wir hier (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wie im- decken müssen. mer! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE Das größte Problem für das deutsche Bildungssystem GRÜNEN]: Er hat mit der CDU-Brille gele- ist nach wie vor die große Abhängigkeit des Bildungs- sen!) erfolges von der sozialen Herkunft. Das ist kein neuer Es gibt auch in diesem Jahr sehr viel Grund zu kri- Befund. Aber man gewinnt den Eindruck, die Bundesre- tischem Nachfragen; der Bericht enthält auch sehr viel gierung gewöhnt sich langsam daran. Aus der Stellung- Kritisches. Ich kann nur auf einige wenige Befunde ein- nahme geht hervor: Es wird analysiert, geforscht, verste- gehen. tigt, aber viel Neues gibt es nicht. In ihrem Bericht betont die Bundesregierung, dass Kinder aus einem Akademikerhaushalt haben immer sich Investitionen in die Bildung auszahlen. Das stimmt noch um ein Vielfaches bessere Chancen, zum Abitur zu ohne Zweifel. Sie wollten ja eigentlich 10 Prozent des gelangen. Sie beginnen deutlich häufiger ein Hochschul- Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung aus- studium und erreichen öfter den Masterabschluss. Absol- geben. In dem Bildungsbericht wird nun festgestellt, dass venten mit einem Master haben bessere Beschäftigungs- Sie dieses Ziel auch 2014 nicht erreicht haben. Da feh- chancen in ihrem Fachgebiet als Bachelorabsolventen; len allein über 26 Milliarden Euro, die Bund und Länder all das kann man im Bildungsbericht nachlesen. Aber es mehr hätten ausgeben müssen. gibt zu wenige Masterstudiengänge, um überhaupt jedem Bachelorabsolventen den Master zu ermöglichen. Auch (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Das wa- hier ist die soziale Disparität, die soziale Ausgrenzung ren die Länder!) offensichtlich. (B) Das sind Bund und Länder den Menschen in diesem Lan- (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Das war (D) de schuldig geblieben. Selbst das würde nicht ausreichen, ja auch nicht die Idee von Bologna!) um eine auskömmliche Bildungsfinanzierung sicherzu- stellen. Allein 34 Milliarden Euro fehlen für die Investiti- – Ja, das ist nicht Ihre Idee, unsere aber schon. onen in Schulgebäude. Das ist keine Zahl, die die Linken (Beifall bei der LINKEN) irgendwie zusammengerechnet haben, sondern eine Fest- stellung der KfW-Bankengruppe aus einer Studie vom Die soziale Ausgrenzung durchzieht alle Bildungsbe- September dieses Jahres. reiche. Besonders deutlich wird das bei der Armut von Kindern. Eines von vier Kindern wächst unter Bedin- Nun ist der Schulbau zwar eine kommunale Aufga- gungen mindestens einer von drei Risikolagen auf. Das be, aber die Kommunen können das offensichtlich nicht heißt, die Eltern sind entweder arbeitslos, oder sie haben stemmen. einen niedrigen Bildungsabschluss, oder sie sind schlicht (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört! und ergreifend arm. Vor allem die Zahl armer Familien Hört!) mit Kindern ist gegenüber dem Vorjahr angewachsen. Fast 19 Prozent der Kinder unter 18 Jahren sind davon Sie tragen ohnehin einen deutlich höheren Anteil als der betroffen. Meine Damen und Herren, das ist ein Ergebnis Bund an der gesamten Bildungsfinanzierung, nämlich Ihrer Niedriglohnpolitik 29 Milliarden Euro, während der Bund 19 Milliarden Euro trägt. Auch das muss man einmal zur Kenntnis neh- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) men. und nicht ein Ergebnis schlechter Bildungspolitik. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Das hat etwas (Beifall bei der LINKEN – Xaver Jung [CDU/ mit unserer Verfassung zu tun, Frau Kollegin!) CSU]: Und ich dachte immer, die Löhne ma- – Dann wollen wir sie doch einmal ändern. Auch das ist chen die Tarifvertragsparteien!) ein Weg. Darunter leiden diese Familien; denn deshalb sind auch (Beifall bei der LINKEN) die Bildungschancen ihrer Kinder deutlich schlechter. Es geht eben nicht nur um Defizite in der Bildungspolitik, Die Folge ist, dass viele Schulen in unserem Land sondern auch um Defizite in der Gesellschaftspolitik. unsaniert bleiben und – noch schlimmer – dass viele öf- Hier müssen wir genauso etwas ändern wie im Schul- fentliche Schulen in der Fläche verschwinden. In der Not system. entstehen dort Privatschulen, damit es vor Ort überhaupt noch ein Schulangebot gibt. (Beifall bei der LINKEN) 20010 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Dr. Rosemarie Hein (A) Von den Menschen im Alter von 25 bis 35 Jahren ha- das ist angesichts des wachsenden Betreuungsbedarfs (C) ben 1,6 Millionen keinen Berufsabschluss, und die meis- unglaublich. Wieso eigentlich? ten von ihnen werden ihn auch nicht nachholen; auch das Noch schlimmer ist die Arbeitssituation der Lehrkräf- geht aus dem Bildungsbericht hervor. Die vorhandenen te in der Weiterbildung. Förderprogramme des Bundes und der Bundesagentur für Arbeit bieten dafür offensichtlich keine Gewähr. Aber (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Wir sind hier ein grundlegendes Umdenken findet nicht statt. nicht im Landesparlament! Wir sind im Deut- schen Bundestag!) Noch schwieriger ist es für junge Menschen mit Migrationshintergrund, einen Bildungserfolg zu erzielen; Sie sind häufig auf Honorarbasis oder in Teilzeit ange- auch das ist kein neuer Befund. Sie erreichen häufiger stellt. Sehr prekär ist auch ihre Bezahlung. nur niedrige Bildungsabschlüsse, erhalten seltener ei- (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Wir sind hier nen Ausbildungsplatz und absolvieren noch seltener ein nicht im Landtag!) Studium. Wenn sie aber einen Studienplatz bekommen haben, dann erbringen sie genauso gute Leistungen und – Sie müssen sich einmal damit befassen. Dann werden haben genauso große Chancen, das Studium zu schaffen, Sie merken, dass das auch eine Bundesaufgabe ist. wie ihre Kommilitonen ohne Migrationshintergrund. (Beifall bei der LINKEN) Nun frage ich Sie: Warum gelingt es uns eigentlich Wenn Sie einen Handwerker brauchen, werden Sie nicht, den Menschen, die nach Deutschland zugewandert feststellen: Sein Arbeitslohn beträgt um die 60 Euro die sind, die gleichen Bildungschancen zu geben, die sie hät- Stunde. Lehrkräfte in der Weiterbildung werden aber ten, wenn sie hier geboren und aufgewachsen wären oder mit 14 Euro Mindestlohn abgespeist. Das ist der Stun- deutsche Eltern hätten? Es geht bei weitem nicht nur um denlohn, der im Schnitt für Weiterbildungsmaßnahmen sprachliche Defizite, sondern wir müssen endlich auch der Bundesagentur für Arbeit zu zahlen ist, und das auch lernen, kulturelle Vielfalt als eine Bereicherung anzuer- nur, wenn die Weiterbildungsträger mehr als 50 Prozent kennen und nicht Vorurteile zu kultivieren. ihrer Maßnahmen im Bereich der beruflichen Bildung (Beifall bei der LINKEN) anbieten. Das Innenministerium hat nun die Honorare für Lehrkräfte in den Integrationskursen auf immerhin Zu den Unmöglichkeiten gehört leider auch, dass die 35 Euro erhöht. Aber auch damit bleibt man hinter den Regierung meines Bundeslandes Sachsen-Anhalt ei- Erfordernissen weit zurück; denn davon müssen sie auch nen großen Teil der im vergangenen Jahr eingestellten alle Sozialabgaben und Arbeitgeberanteile zahlen. Sprachlehrkräfte nicht weiter beschäftigen wollte. Bis Im Bildungsbericht wird festgestellt: Das monatliche (B) heute ist noch nicht klar, ob sie bleiben können. (D) Einkommen von Haupterwerbstätigen in der Weiterbil- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Fragen Sie dung liegt weit unter dem Durchschnittseinkommen an- mal bei Bodo Ramelow in Thüringen nach! derer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch- Da ist das ganz genauso!) land. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wertschätzung von Bildungsarbeit sieht anders aus. Ich finde das unverantwortlich; denn das Erlernen der deutschen Sprache ist eine längerfristige Aufgabe. Au- (Beifall bei der LINKEN) ßerdem droht ein gewaltiger Unterrichtsausfall, weil Es ist an der Zeit, den Flickenteppich in der Weiterbil- diese Lehrkräfte inzwischen auch schon im allgemeinen dung zu beenden, endlich einen Branchentarifvertrag für Unterricht aushelfen. die Weiterbildung auszuarbeiten Im Bildungsbereich wird man letztlich in kaum einem (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das können Bundesland ohne Seiteneinsteiger bei den Lehrkräften Sie ja gerne machen!) auskommen. Die Versäumnisse in der Lehramtsausbil- dung der letzten Jahrzehnte wird man so schnell nicht be- und ihn dann – das ist unsere Aufgabe – für allgemein- heben können. Deshalb muss man Möglichkeiten schaf- verbindlich zu erklären, damit alle in der Weiterbildung fen, dass diese Lehrkräfte ihren pädagogischen Abschluss Tätigen ein gutes Einkommen haben. nachholen, berufsbegleitend und im Rahmen besonderer (Beifall bei der LINKEN) Programme. Insgesamt muss deutlich mehr getan wer- den, um pädagogische Fachkräfte für alle Bildungsberei- Der Bildungsbericht stellt fest, dass die fünf zentralen che auszubilden. Das gilt nach wie vor insbesondere für Herausforderungen nach wie vor bestehen: Qualitätssi- Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte für Deutsch als cherung in der frühkindlichen Bildung, aber ein Quali- Zweitsprache und sozialpädagogische Fachkräfte. tätsgesetz lehnen Sie ab; –

(Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Man muss sie besser bezahlen und fest anstellen. Frau Kollegin. Der Bildungsbericht stellt fest, dass gerade jüngere (DIE LINKE): Fachkräfte im Kitabereich oft befristet angestellt sind; Dr. Rosemarie Hein – ich bin sofort am Ende meiner Rede – Ganztags- (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Was hat denn schulen, aber das Kooperationsverbot erlaubt uns nicht das mit dem Bund zu tun?) die Finanzierung; Übergang von Schule in die berufliche Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20011

Dr. Rosemarie Hein (A) Bildung, aber einen Rechtsanspruch auf einen Ausbil- Darüber hinaus will ich das Augenmerk am Anfang (C) dungsplatz wollen Sie nicht usw. usf. auf zwei Punkte richten, die uns Sozialdemokraten be- sonders wichtig sind. Für all das brauchen wir die gemeinsame Verantwor- tung von Bund, Ländern und Kommunen. Für ein zu- Herr Jung und Frau Hein, Sie haben den engen Zu- kunftsfestes Bildungssystem könnten wir uns überlegen, sammenhang zwischen sozialer Herkunft, sozialer Lage ob man nicht ein bundesweites Bildungsrahmengesetz und Bildungschancen angesprochen, der sich zwar schon schafft, in dem die sozialen und rechtlichen Bedingungen aufzulösen beginnt, aber sich noch weiter auflösen muss. für die Arbeit in der Bildung sowie die Rechtsansprüche Dass es immer noch Risikofaktoren gibt – sie wurden festgeschrieben sind, schon genannt: Arbeitslosigkeit, Armut, Bildungsferne, Kopplung an die soziale Schicht –, kann uns nicht zufrie- (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Zentralis- denstellen. In diesem Nationalen Bildungsbericht finden mus! Planwirtschaft!) sich Vorschläge und Maßnahmen. damit die Bildung in allen Bundesländern besser, ver- gleichbarer und gerechter wird. Wir setzen in der Großen Koalition an einer Schlüs- selstelle an. Wenn zusätzlich 3,5 Milliarden Euro mobili- Vielen Dank. siert werden sollen, um in finanzschwachen Kommunen Bildungsstätten, Bildungsinfrastruktur zu ertüchtigen, (Beifall bei der LINKEN – Albert Rupprecht dann ist das keine Kleinigkeit. [CDU/CSU]: Gehen Sie nach Bayern! Da ler- nen Sie, wie es funktioniert!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die 4 Milliarden Euro für die Ganztagsschulen waren Ernst Dieter Rossmann hat nun das Wort für die auch keine Kleinigkeit. 3,5 Milliarden Euro mehr für die SPD-Fraktion. Ertüchtigung von Schulen in Regionen, in denen Bil- dungsarmut und andere Bildungsrisikofaktoren beson- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ders stark ausgeprägt sind, sind entsprechend auch ein der CDU/CSU) richtig großer Erfolg.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Damit Sie die Kronzeugenschaft für diese Leistung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Las- nicht nur immer sozialdemokratisch verorten: Auch Ole von Beust, ehemaliger Bürgermeister von Hamburg, (B) sen Sie mich mit leichter Ironie sagen: Wenn Frau Hein (D) hier eine tiefschwarze Rede hält und Herr Jung ein Bild hatte erkannt, wie wichtig es ist, in Problemstadtteilen eher in Rosafarben zeichnet, dann ist in der Farbenlehre Schulen zu Leuchttürmen zu machen, indem sie attrak- hier irgendetwas schiefgelaufen. tiver gemacht und aufgewertet werden. hat jetzt noch einmal entsprechende Überlegungen in die (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Regierung hineingetragen, um dafür zu sorgen, dass es ein Gemeinschaftsprojekt werden kann. Deshalb möchte ich mich lieber an das halten, was uns der Nationale Bildungsbericht in differenzierter Weise Denn Bildungsarmut kann man dadurch ganz prak- vorgibt. tisch bekämpfen, dass finanzschwache Kommunen mit einem höheren Anteil an Bildungsarmen, an armen Kin- (Beifall bei der SPD) dern und arbeitslosen Jugendlichen dieses nicht durch Wir wollen vor allen Dingen erkennen, dass Bildungs- den Zustand ihrer Schulen dokumentieren müssen. Das politik auf dem gemeinsamen Zusammenwirken von ist doch eine Perspektive. Das ist doch etwas, wofür wir den freien Kräften, von den Kommunen, von den Län- gemeinsam werben. dern und vom Bund beruht und dass wir etwas bewirken (Beifall der Abg. Elfi Scho-Antwerpes [SPD]) können: mehr Bildung in den Krippen, bessere Qualität in den Kindertagesstätten, mehr Ganztagsschulangebo- Ich möchte auf einen zweiten Punkt hinweisen, an te, mehr Lesekompetenz, mehr Schulabschlüsse, mehr dem wir noch mehr arbeiten müssen. Das ist das große Möglichkeiten, im Studium anzukommen, mehr Mög- Thema Bildungsintegration für Migranten, für Schutz- lichkeiten, das Studium erfolgreich abzuschließen, mehr suchende und für Flüchtlinge. Der Nationale Bildungs- Weiterbildung. Dieses Mehr ist doch ein gemeinsamer bericht weist aus, dass wir in diesem Bereich noch viel Erfolg. tun müssen und sehenden Auges auch wissen können, Wenn wir eine weitere Begeisterung im Engagement was wir tun müssen. Bitte schauen Sie sich hierzu die für Bildungsveränderung wollen, dann dürfen wir die ak- Seiten 201 und 202 an. Dort wird die Schlüsselstelle he- tuelle Situation nicht rosarot und auch nicht tiefschwarz rausgearbeitet, nämlich: Was passiert beim Einstieg in zeichnen, sondern wir müssen die Dynamik positiv her- die berufliche Bildung? In Sachen Kindertagesstätten, in vorheben. Ich finde, diese Große Koalition hat mit vielen Sachen Schule gibt es geregelte Abläufe, und wir werden anderen Kräften hier Gutes dazu beigetragen. Das dürfen dort gute Erfolge erzielen können. Der Einstieg in die be- wir hier gemeinsam feststellen. rufliche Bildung ist die entscheidende Klippe; denn viele junge Menschen stehen aktuell ohne die Chance da, in (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ein Berufsausbildungsverhältnis einzutreten. 20012 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) Das Konsortium für den Nationalen Bildungsbericht Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) empfiehlt uns, für rund 70 000 dieser jungen Menschen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- ein- bis zweijährige berufsvorbereitende Maßnahmen zu be Kollegen! Lieber Herr Kollege Rossmann, auch ich ermöglichen und auch für 80 000 bis 90 000 zusätzliche halte gar nichts von Schwarz-Rosa-Malerei, und deshalb Berufsbildungsplätze zu sorgen. Und wir wissen alle: will ich auch gar nicht bestreiten, dass es in den letzten Dies wird im dualen System so schnell nicht geschehen. Jahren in der Bildungspolitik im Zusammenspiel der Diesbezüglich enthält der Nationale Bildungsbericht Bundesländer und der Kommunen Fortschritte gegeben den Vorschlag, dort stärker außer- und überbetriebliche hat. Aber ich bin es eben auch total leid – ich denke, Kapazitäten zu mobilisieren. Ich glaube auch, dass dies da stimmen Sie mir auch zu –, dass wir in jedem Bil- richtig ist. Wir dürfen nicht geschehen lassen, dass diese dungsbericht, in jeder Bildungsstudie immer wieder le- jungen Menschen keine Chance erhalten. Wir müssen an sen müssen, dass in fast keinem anderen Industrieland den Stellen anknüpfen, an denen wir seitens des Bundes der Bildungserfolg noch immer so sehr von der sozialen mit Ländern und Sozialpartnern zusammen etwas tun Herkunft abhängig ist wie in Deutschland. Ich finde das können. unwürdig für unser Land. Wir verschleudern die Potenzi- Ich habe eben Ole von Beust als Vorkämpfer für das ale der Kinder und Jugendlichen, und wir nehmen ihnen bezeichnet, was Sigmar Gabriel jetzt durchgesetzt hat. Lebenschancen. Ebenso erinnere ich mich daran: Roland Koch – ich muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kein Sympathisant von ihm sein – hat schon früh gesagt und bei der SPD) hat, dass wir die jungen Leute, wenn es denn im dualen System nicht funktioniert, nicht ins Leere laufen lassen Ich finde, das muss ein Ende haben. Da könnte und müss- dürfen, sondern ihnen etwas anbieten müssen, was die te die Bundesregierung tatsächlich mehr tun. Verbindlichkeit einer Ausbildung hat. Er hat nämlich au- Es ist gut, dass die Anstrengungen der letzten Jahre ßerbetriebliche und überbetriebliche Ausbildung gefor- beim Kitaausbau mittlerweile Früchte tragen und dass dert, als es schon einmal dieses Problem gab. Daran soll- immer mehr Kinder aus den sogenannten bildungsfernen ten wir uns erinnern. Da sollten wir auch etwas machen. Schichten und Kinder mit Migrationshintergrund früh- Der Bildungsbericht weist an der Stelle aus, dass es kindliche Bildungseinrichtungen besuchen. Aber auch um eine Summe von 1,5 Milliarden Euro geht, die be- das ist bei weitem kein Grund, die Hände in den Schoß nötigt werden, um den 70 000 jungen Menschen jetzt je- zu legen. Im Gegenteil: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, weils Jahr für Jahr eine reale Ausbildungsperspektive zu vor allem in die Qualität der Kitas zu investieren. Mei- geben. Wir müssen zusammen darüber nachdenken, ob ne Fraktion versteht überhaupt nicht, warum wir immer es Ländern, Bund und BA möglich ist, diese Mittel für noch hier im Deutschen Bundestag auf ein Kitaqualitäts- (B) ein Perspektivprogramm zu mobilisieren. gesetz warten müssen. (D) Wir haben einen Bericht 2006, in dem schon be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stimmte Probleme in Bezug auf die Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufgezeigt wurden, und einen Be- Wir müssen aber auch alles daransetzen, die hohe richt 2016, in dem insbesondere die aktuelle Flüchtlings- Bildungsbeteiligung, die es in den Kitas schon gibt, auf situation aufgearbeitet und angesprochen wird. Aber im die folgenden Bildungsetappen zu übertragen. An den Bericht 2026 darf nicht stehen, es gebe dort eine verlore- Übergängen in unserem Bildungssystem ruckelt es näm- ne Generation, weil wir uns an der Stelle nicht konzen- lich immer noch ganz gewaltig. Da finde ich es schon triert darangemacht haben, jetzt hier Mittel aufzubringen, fast etwas unredlich, dass sich die Regierungsfraktionen um eine Perspektive für diese viele tausend jungen Leute zwar dafür feiern, dass die Zahl ausländischer Schulab- rechtzeitig zu schaffen. brecherinnen und Schulabbrecher im Vergleich zu 2006 gesunken ist, dabei aber verschweigen, dass sich diese Das Werben der Sozialdemokratie lautet: Machen wir Zahl von 2013 auf 2014 wieder vergrößert hat. Das ist dies jetzt gemeinsam, und setzen wir jetzt dort ein sicht- ein Schritt vor und ein Schritt wieder zurück, und das ist bares Zeichen! Wer herkommt, soll über den Einstieg in keine zukunftsweisende Bildungspolitik, liebe Kollegin- eine duale, vollzeitschulische oder vorbereitende berufli- nen, liebe Kollegen. che Bildung eine Chance erhalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie wissen genauso gut wie ich: Wo ein politischer Herr Kollege. Wille ist, gibt es auch ein gerechtes Bildungssystem. Diesen politischen Willen vermissen wir aber. Das bes- te Beispiel dafür ist das Geschacher um das Kooperati- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): onsverbot. Statt das Kooperationsverbot in der Bildung Danke schön. beherzt aufzuheben und den Weg beispielsweise über ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ganztagsschulprogramm und damit für eine ganz zentra- der CDU/CSU) le wichtige Maßnahme für mehr Bildungsgerechtigkeit freizumachen, Präsident Dr. Norbert Lammert: (Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Reden Katja Dörner spricht nun für die Fraktion Bündnis 90/ Sie doch mal mit Herrn Kretschmann darüber, Die Grünen. und dann kommen Sie wieder!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20013

Katja Dörner (A) einigen sich die Ministerpräsidenten und Ministerpräsi- tieren können. Nicht nur bezogen auf ein Jahr, sondern (C) dentinnen mit der Bundeskanzlerin auf einen müden For- bezogen auf den Zeitraum seit 2006, also im zeitlichen melkompromiss. Längsschnitt, sehen wir: Was hat sich verändert? Was hat sich verbessert? (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Ideologi- sches Geschnatter!) Da kann man – egal aus welcher Richtung man kommt – eine Aussage nicht wegreden: Es ist so, dass Statt wenigstens diesen Formelkompromiss ernsthaft sich der Bildungsstand und die Bildungsbeteiligung in auszufüllen, schaltet die SPD in den Wahlkampfmodus den letzten Jahren kontinuierlich verbessert haben. und feiert sich für die Abschaffung des Kooperationsver- bots, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Zurufe von der SPD) Herr Rossmann sagte, dass es immer mehr geworden ist. Damit muss man nicht unbedingt zufrieden sein. Aber es und die Union tut so, als sei überhaupt nichts Relevantes ist immer mehr geworden. Das ist eine ganz klare Ten- beschlossen worden, und geht gleich auf den Koalitions- denz. partner los. Ministerin Wanka spricht noch ganz moderat von einer Missdeutung seitens der SPD. Über die Wort- Ich fand nicht, dass Herr Jung eine rosarote Brille auf- wahl des bayerischen Kultusministers muss man sich hatte; er hat nur die Fakten genannt. Da er die Fakten wirklich extrem wundern, der der SPD dann gleich – Zi- so schön aufgezeigt hat, will ich nicht alles wiederholen, tat – „feuchte Wunschträume“ andichtet. Liebe Kollegin- sondern nur noch ein, zwei Punkte nennen. nen, liebe Kollegen, da fehlt offensichtlich jede Ernsthaf- Wir haben zum Beispiel immer mehr Kinder unter drei tigkeit, sich mit zentralen Herausforderungen in unserem Jahren – mittlerweile beträgt ihr Anteil über ein Drittel –, Bildungssystem zu beschäftigen. die Betreuungsangebote in der Kita wahrnehmen. Wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wir sagen, wir wollen keine Abhängigkeit vom Hinter- Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist denn grund des Elternhauses, dann ist das genau die richtige mit Herrn Kretschmann? – Albert Rupprecht Stelle, um anzusetzen: Die Kinder, die zu Hause Eltern [CDU/CSU]: Der bayerische Kultusminister haben, die viel mit ihnen sprechen, singen oder ihnen macht einen Superjob! Daran sollten Sie sich etwas vorlesen, brauchen diese Angebote nicht so sehr. einmal ein Beispiel nehmen!) Wir bieten die Angebote zwar auch für diese, aber vor allem für diejenigen Kinder an, die das Pech haben, nicht Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Aufhebung des so ein Elternhaus zu haben. Das ist ein ganz wichtiger Kooperationsverbots muss aus Sicht der grünen Bundes- Punkt. Man muss am Anfang ansetzen, und das kann man (B) tagsfraktion unbedingt kommen. Bis dahin müssen wir nicht mit irgendwelchen Rahmenplänen tun, sondern hier (D) das nun geöffnete Fenster – da spreche ich auch ausdrü- muss man ganz konkret handeln. cklich vom Bildungs- und Teilhabepaket – nutzen. Seit 2010 gibt es dieses mühselig und untauglich gebaute (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu Konstrukt, mit dem der Bund versucht, seine soziale Ver- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Handeln ist pflichtung bei der Bildungsgerechtigkeit zu erfüllen. Wir gut! Dann fangen Sie mal an!) wissen aber alle: Antragshürden, Unwissenheit, Sprach- Ein weiteres Beispiel: Auch die Zahl der Kinder mit probleme und Scham verhindern, dass die Kinder das be- sonderpädagogischen Bedarfen, die inklusiv beschult kommen, was ihnen zusteht, worauf sie ein Recht haben. werden, hat sich in den letzten Jahren erhöht. Für diese Deshalb sollten wir die MPK und die Bundeskanzlerin müssen Ausbildungsplätze etc. geschaffen werden. beim Wort nehmen und zumindest bei dieser Bundes- aufgabe die bestehenden Hürden in Bezug auf Bildungs- Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Wir sind auf und Teilhabechancen für Kinder beseitigen. Es ist jetzt an einem guten Weg. Da sind beide beteiligt, also Bund und Ihnen, wenigstens an dieser Stelle kleine Schritte zu tun. Länder; denn Bildung ist keine Sache, die der Bund allei- ne verordnet, sondern Bund und Länder müssen zusam- Vielen Dank. menarbeiten. Jeder hat seine Aufgaben. Man kann sagen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben hier eindeutige Erfolge. Es sollte aber keine Selbstzufriedenheit aufkommen – Präsident Dr. Norbert Lammert: das wäre wirklich nicht angemessen –, sondern man soll- Das Wort hat nun die Bundesministerin Frau te auch sehen, dass dieser Bildungsbericht – darin liegt ja Dr. Wanka. gerade sein Wert – auf Schwächen aufmerksam macht, dass er die Herausforderungen benennt. Wenn ich im An- (Beifall bei der CDU/CSU) trag der Grünen lesen, dass Sie die unverzügliche Um- setzung der Empfehlungen des Bildungsberichts fordern, Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung dann muss ich sagen: Falsch, es gibt überhaupt keine und Forschung: Empfehlungen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um etwas (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- über die Situation der Bildung in Deutschland zu erfah- NEN]: Sicher, es gibt Empfehlungen!) ren, haben wir den Bildungsbericht. Ich sage, Gott sei Dank, weil wir deshalb nämlich nicht auf Polemik ange- Das ist die dezidierte Absprache. Es gibt eine Darstel- wiesen sind, sondern aufgrund handfester Fakten disku- lung des Sachverhalts. Daraus abzuleiten sind Entschei- 20014 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) dungen, die politisch zu treffen sind, zum Beispiel in der zeigt doch, dass der Bedarf und auch der Wunsch danach (C) KMK, zum Beispiel hier im Bundestag. vorhanden sind. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist NEN]: Deshalb unser Antrag!) aber an der Stelle genau nicht der Fall!) Ich will einmal ein Beispiel nennen: Ganztagsschul- Zum Schwerpunkt Bildung und Migration. Wir, KMK ausbau. Der Anteil der Ganztagsschulen – es wird bi- und Bund, können entscheiden, welche Sonderuntersu- lanziert, wie die Situation ist – beträgt bei den Integ- chung wir durchführen wollen. 2006 haben wir Maßnah- rierten Gesamtschulen 87 Prozent, bei den Schulen mit men gestartet, um die Bildungsleistungen von Menschen mehreren Bildungsgängen 78 Prozent. Dann schreiben mit Migrationshintergrund zu verbessern. Nach zehn die Autoren in ihrem Bericht: Bislang werden aber die Jahren haben wir die Ergebnisse evaluiert. Man sieht: erweiterten Lern- und Fördermöglichkeiten von einem Verbesserungen sind möglich. Aber man sieht auch ganz Großteil dieser Schulen nicht genutzt. – Ich wiederho- deutlich: Das braucht Zeit. Es geht bei der Bildungsbio- le: Sie werden von einem Großteil dieser Schulen nicht grafie von Migrantinnen und Migranten sichtbar voran, genutzt. Das heißt, hier besteht Bedarf, und wir als Bund aber das braucht Zeit. machen auch etwas. Wir geben Millionen dafür aus, dass Es liegen uns Zahlen vor, die wir vor zehn Jahren nicht Konzepte entwickelt werden, aber nicht an jeder Ecke für möglich gehalten hätten. 90 Prozent – ich sage es noch neu. Vielmehr sollen sie über die Transfereinrichtungen einmal ganz deutlich: 90 Prozent! – der drei- bis unter oder andere Einrichtungen verbreitet werden. Die drit- sechsjährigen Kinder mit Migrationshintergrund besu- te Förderphase des Forschungsprogramms „Studie zur chen eine Betreuungseinrichtung. Damit ist für Chancen- Entwicklung von Ganztagsschulen“ hat in diesem Jahr gerechtigkeit gesorgt. Oder, Frau Hein: Vor Jahren war es begonnen. so, dass der Anteil der Jugendlichen, die einen mittleren Der Grundtenor der Forderungen ist: Der Bund muss Abschluss schaffen, bei den deutschen Jugendlichen bei mit einsteigen. Der Gedanke im Hinterkopf ist: Der Bund über 50 Prozent lag, während er bei ausländischen Ju- muss mitfinanzieren. Das kann man sich ja wünschen. gendlichen bei 36 Prozent lag. Jetzt liegen diese Jugend- Aber wenn man wirklich glaubt, dass ein zentrales Bil- lichen mit den deutschen Jugendlichen gleichauf. Wenn dungssystem, dass eine starke Stellung des Bundes das hier also rhetorisch gefragt wird: „Warum schaffen wir Allheilmittel ist, das nicht?“, dann kann ich nur sagen: Wir arbeiten daran, aber die Erfolge werden sich nicht von heute auf morgen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das glaubt einstellen. Ich finde, es motiviert aber immer, wenn es doch keiner!) Erfolge gibt, wenn wir sehen: Der Weg ist richtig. Dafür (B) dann sollte man sich die Situation in den Ländern an- und auch wenn wir sehen, wir müssen etwas ändern, ist (D) schauen, in denen das so organisiert ist, zum Beispiel der Bildungsbericht ganz entscheidend. unter anderem in Frankreich. Dann sieht man: Das funk- Zu den Leistungssteigerungen bei Jugendlichen mit tioniert nicht. Migrationshintergrund bei PISA. Sie haben aufgeholt. Es (Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel gibt zwar immer noch eine große Diskrepanz, aber sie [SPD]: Das ist Ideologie!) haben ihre Leistungen schneller gesteigert als die Deut- schen in der Zeit. Anhand dieser Fakten könnte man sa- Es soll keiner sagen: Chancengerechtigkeit ist ein gen: Wenn das Bildungssystem gut ist, dann ist es für alle Thema für den Rest der Legislaturperiode. Chancenge- gut, dann erledigt sich das alles von selbst. Schauen wir rechtigkeit ist ein ganz zentrales Thema. Das habe ich nach Finnland. Alle glauben ja, dass Finnland ein super vom ersten Tag an gesagt. In diesem Bereich haben wir Schulsystem hat, aber die Diskrepanz zwischen den Leis- viel erreicht. Ich will gar nicht aufzählen, was wir alles tungen derer mit und ohne Migrationshintergrund ist im erreicht haben. Das ist in der Kurzzusammenfassung des finnischen Schulsystem mit am größten. Das heißt, das Bildungsberichts gut nachlesbar. Schulsystem allein kann nicht alles leisten. Deswegen An den Ergebnissen des Bildungsberichts besonders würde ich darum bitten, die Stellungnahme der Bundes- erschreckend waren für mich die hohen regionalen Un- regierung zum Bildungsbericht zu lesen. Wir haben dort terschiede; denn es ist ja auch ein Stück Ungerechtigkeit, detailliert aufgelistet, was alles gemacht wird, und zwar wenn der Bildungserfolg sehr stark vom Wohnort, von ressortübergreifend. der Region abhängt. Frau Hein, Sie haben sinngemäß ge- Eine Erkenntnis aus dem Bildungsbericht ist auch sagt, es gebe nur noch Privatschulen. Als ob die schlecht ganz wichtig: Vergleicht man die Bildungsbeteiligung sind. von 15-jährigen Jugendlichen mit und ohne Migrati- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das hat sie onshintergrund, die den gleichen sozioökonomischen doch gar nicht gesagt! – Dr. Rosemarie Hein Hintergrund haben, dann stellt man fest: Sie ist in den [DIE LINKE]: Nein! Die sind aus der Not ent- jeweiligen Bildungsgängen immer gleich. Das heißt, der standen!) sozioökonomische Hintergrund ist mittlerweile entschei- dender als der Migrationshintergrund. – Sie hat es so dargestellt, als ob alles ganz katastrophal sei. Natürlich ist Daseinsvorsorge eine gesellschaftliche Das Thema Kinder und Jugendliche mit Migrations- Aufgabe, der überall nachgegangen werden muss. Aber hintergrund ist wichtig, und es beschäftigt uns schon die Tatsache, dass gerade in den neuen Bundesländern lange. Es gibt exzellente Forschung in diesem Bereich, christliche oder andere Privatschulen entstanden sind, zum Beispiel in Osnabrück, Bielefeld, Mannheim und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20015

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) Nürnberg, die sich sehr stark mit den Nachkommen der Einwanderungsgesellschaft gemacht werden muss. Der (C) Arbeitsmigranten beschäftigt. Weniger beschäftigt man Schwerpunkt des Bildungsberichts – Bildung und Migra- sich mit denen, die im letzten Jahr gekommen sind, die in tion – ist auch für die aktuelle Debatte in Deutschland einer ganz anderen Konstellation zu uns gekommen sind. von großer Bedeutung. Wir haben hier auch wenig belastbare Ergebnisse. Wir wissen aber, dass in zwei Jahren ein großer Schwung aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Schule kommt. Deswegen haben wir die Mittel für sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann den Bereich Migrationsforschung, der ohnehin schon gut [SPD]) aufgestellt ist, sofort erhöht. Allein von 2016 bis 2019 Deshalb müssen wir die Empfehlungen der Autorin- stehen 18 Millionen Euro für diesen Bereich zur Ver- nen und Autoren des Berichts nicht nur ernst nehmen, fügung. Große Projekte laufen bereits. Wir bekommen Frau Wanka, sondern wir müssen sie auch zügig umset- repräsentative, aussagekräftige Ergebnisse. Wir werden zen. auch die Bildungsverläufe derer, die gerade in Deutsch- land angekommen sind, weiterverfolgen. In der nächsten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Woche veröffentlichen wir eine neue Ausschreibung mit sowie bei Abgeordneten der SPD) einem Volumen von 12 Millionen Euro, bei der es um die Nur so haben wir eine Chance. Nur so können wir die Frage geht, wie wir die Herausforderungen hinsichtlich Fehler der Vergangenheit vermeiden. Gute Bildungs- unseres Zusammenlebens, unserer Werte, unserer Vor- politik ist Integrationspolitik, ist Sozialpolitik, ist Wirt- stellungen, unserer Kultur, also des gesellschaftlichen schaftspolitik. Gute und gerechte Bildung ist auch eine Zusammenhalts unter den jetzt entstandenen Bedingun- Investition in die Sicherheit unseres Landes und schützt gen bewältigen können. Das sind ganz konkrete Maßnah- vor Radikalismen unterschiedlichster Art; Salafismus men, die auch in diesem Hause registriert werden sollten. und Rechtsextremismus wären da zwei Beispiele. Zum Schluss noch eine Bemerkung: Vor kurzem hat (Xaver Jung [CDU/CSU]: Oder Linksextre- die britische Regierung eine Untersuchung in Auftrag mismus!) gegeben. Die Chancen für junge Menschen auf der gan- zen Welt wurden verglichen. Es wurde gefragt: Welche Die Befunde des Bildungsberichts belegen, wie zahl- Bildungschancen und -möglichkeiten haben die jungen reiche Studien zuvor, dass das deutsche Bildungssystem Menschen? Welche Jobchancen haben sie? Wie ist die immer noch nicht in der Lage ist, alle Schülerinnen und gesundheitliche Präferenz? Welche Möglichkeiten ha- Schüler teilhaben zu lassen und soziale Disparitäten aus- ben sie, sich politisch zu beteiligen? Wie ist es um die zugleichen. Wir als Grüne sagen: Das können und dürfen Möglichkeiten für ein bürgerschaftliches Engagement wir nicht länger hinnehmen. (B) bestellt? – 183 Staaten wurden untersucht. Erster Platz: (D) Deutschland. Ganz so schlimm kann es also nicht sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen eine gerechte, offene, demokratische Gesell- schaft und keine gespaltene, in der der Geldbeutel der Eltern über den Bildungserfolg entscheidet. Dass das so

Präsident Dr. Norbert Lammert: ist, das ist ein großes Problem, und das müssen wir ge- Der Kollege Mutlu ist der nächste Redner für die meinsam anpacken. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Segregationsentwicklungen sind auch regional sicht- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man bar. Auch Ministerin Wanka hat das endlich erkannt sich den aktuellen Bildungsbericht anschaut, kann man in der Tat einige Fortschritte im deutschen Bildungssystem (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – feststellen – immerhin. 15 Jahre nach dem PISA-Schock Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist unge- in einem der reichsten Länder der Welt wurde das auch heuerlich!) Zeit. Von „Bildungsrepublik“ kann allerdings immer und möchte diese Tendenzen beobachten – ich zitiere –, noch keine Rede sein. „damit nicht neue Ungerechtigkeit entsteht“. Beobach- (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ein ten? Mit Verlaub, Frau Ministerin, das ist keine nachhal- Quatsch!) tige Strategie. Deswegen dürfen wir uns auch nicht zurücklehnen und (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- mit den Ergebnissen zufrieden sein, Kollege Jung. SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Warum warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen LINKEN) ist? Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Hand- lungsdefizit. Hier müssen Sie endlich handeln und Ihren Zwischenzeitlich sind zwei allgemeine Erkenntnisse warmen Worten Taten folgen lassen. in allen Köpfen angekommen – dabei schaue ich insbe- sondere in die Reihen der CDU/CSU-Fraktion –, erstens, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – dass Bildungsungerechtigkeit das Problem im deutschen Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wegwei- Bildungssystem ist, zweitens, dass unser Land fit für die sende Erkenntnisse!) 20016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Özcan Mutlu (A) Wir müssen jetzt etwas ändern. Wir müssen jetzt handeln, Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) damit nicht weitere Regionen in Deutschland entstehen, Herr Kollege Mutlu. die Kindern und Jugendlichen kaum bis keine Chancen bieten. Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufga- be. Das sagt auch Ministerin Wanka. Ich sage: Absolut Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dʼaccord. Deshalb müssen wir im Interesse unserer Kin- – damit es nicht immer wieder diese Mogelpackungen der und Jugendlichen endlich jenseits von ideologischen gibt. – Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank an Grabenkämpfen schauen, die CDU/CSU-Fraktion. Hoffentlich hat sie gut zugehört und etwas gelernt. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – dass es bei der Bildung in Deutschland weitergeht. Dr. Stefan Kaufmann [CDU/CSU]: Man weiß vorher schon, was kommt! Da muss man nicht Mit der Reform der Bund-Länder-Finanzierung und zuhören!) der Ankündigung des Digitalpakts, der noch nicht haus- halterisch unterlegt und wohl eher ein Wahlkampfge- schenk ist, sind erste Schritte getan. Aber das reicht nicht. Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie mogeln sich mit diesen Maßnahmen am Kooperati- Mit der Frage, warum nur immer die grandiosen onsverbot vorbei und belegen damit im Grunde die Ab- Schlusssätze erst deutlich jenseits der verfügbaren Rede- surdität des Verbots der Kooperation in der Bildung. zeit im Manuskript vorgesehen werden, werde ich einmal den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages konfron- (Zuruf des Abg. Tankred Schipanski [CDU/ tieren. CSU]) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Zugleich kommt der Finanzminister um die Ecke und CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE kündigt zusätzliche 3,5 Milliarden Euro für die Schulsa- GRÜNEN]: Die Regierungsfraktionen ma- nierung an. chen es vor!) (René Röspel [SPD]: Ist doch gut! – Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die Dr. Karamba Diaby [SPD]: Freut euch doch!) SPD-Fraktion. Das ist absolut löblich, Kollege Rossmann, aber in An- (Beifall bei der SPD) betracht des bundesweit riesigen Sanierungsbedarfs und Investitionsstaus in den Schulen, der bei 34 Milliarden Hubertus Heil (Peine) (SPD): (B) (D) Euro liegt, ist das kein allzu großer Wurf. Da muss mehr Herr Präsident! Es hat einen Grund. Es gibt einen geliefert werden. Spruch aus unserer Jugend, der heißt: Wer hat an der Uhr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gedreht? Ist es wirklich schon so spät? Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Na, ja!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Noch immer investieren wir viel zu wenig in unsere Das geht uns allen hier manchmal so, und zwar fraktions- Bildungseinrichtungen. Statt die Zielvorgabe – Kollegin übergreifend. Dörner hat es schon gesagt –, dass die Bildungsinvesti- tionen 10 Prozent des BIP betragen sollen, zu erreichen, Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Ich glaube, stagnieren wir weiterhin bei 9,1 Prozent. Damit liegen dass dieser Nationale Bildungsbericht in gerade dieser wir im internationalen Vergleich immer noch unter dem Zeit Anlass ist, über einen Zusammenhang zu sprechen, OECD-Durchschnitt. Das reicht nicht. der uns alle bewegt, jedenfalls die demokratischen Par- teien von rechts bis links in diesem Hause. Ich meine die (Zuruf des Abg. Dr. Thomas Feist [CDU/ Tatsache, dass wir in einer Zeit leben, in der die Werte CSU]) der Aufklärung, die Werte von Freiheit und Gleichheit und auch Toleranz, die Werte des 17. und 18. Jahrhun- Deshalb sagen wir: Lassen Sie es uns gemeinsam anpa- derts wieder an Bedeutung gewinnen und uns vor allen cken und mehr in die Bildung, also in die Zukunft unse- Dingen die rechtspopulistischen autoritären Erscheinun- res Landes, investieren. gen in verschiedensten westlichen Demokratien ernsthaft umtreiben müssen.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Es gibt zwei zentrale Sätze der Aufklärung. Der erste Herr Kollege. von Immanuel Kant lautet: Besinne dich darauf, dich dei- nes eigenen Verstandes zu bemühen. Der zweite war von Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sir Francis Bacon: Wissen ist Macht. – Erst Wissen und Bildung befähigen Menschen, sich des eigenen Verstan- Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Lassen Sie des zu bedienen. Deshalb ist die Förderung von Bildung uns gemeinsam eine Bildungsoffensive starten, damit und Wissenschaft für das Gelingen von freiheitlichen De- Bildungsungerechtigkeit in unserem Land endlich der mokratien wichtig. Vergangenheit angehört. Lassen Sie uns endlich gemein- sam das Kooperationsverbot in der Bildung in Gänze (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der abschaffen, – CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20017

Hubertus Heil (Peine) (A) Warum sage ich das? Die Bundeskanzlerin hat, wie abschlüsse, der fehlenden beruflichen Bildung und der (C) ich finde zu Recht, darauf hingewiesen, dass das, was wir Lebensverläufe nach wie vor festzustellen ist. beispielsweise im amerikanischen Wahlkampf erlebt ha- ben, nämlich dass Wahrheit und Fakten keine Rolle mehr Das hat etwas mit der Frage zu tun, welche Rolle Bil- spielen, dass Hass, Respektlosigkeit und Lügen – die dung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft hat. Eine Bundeskanzlerin hat es mit dem Begriff „postfaktisch“ Gesellschaft, in der soziale Ungleichheit nicht überwun- beschrieben – zum Kennzeichen der politischen Ausei- den wird, eine Gesellschaft, die auseinanderdriftet, eine nandersetzung geworden sind. Da müssen wir gegenhal- Gesellschaft, die so funktioniert, wie wir das leider Got- ten mit den Werten der Aufklärung, mit Freiheit, mit To- tes in anderen Ländern in und außerhalb Europas noch leranz, mit Respekt und eben mit der Idee von gleichen schlimmer erleben, schafft das Klima für Radikalismus Chancen für alle. Das gilt auch für den Bildungsbereich. und Extremismus, schürt Ängste vor der Zukunft und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten führt zu Unzufriedenheit. Gerade in solchen Zeiten ist der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ die Überwindung sozialer Ungleichheiten – auch im Bil- DIE GRÜNEN) dungssystem – nach wie vor eine der vordersten Aufga- ben, der wir uns für alle Kinder und Jugendlichen in die- Der Nationale Bildungsbericht beschreibt das sehr dif- sem Land – egal welcher Herkunft – zu widmen haben. ferenziert. Frau Ministerin Wanka, ja, es gab in vielen Bereichen Fortschritte, auf die wir gemeinsam stolz sind: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die frühe und individuelle Förderung von Kindern und in der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE vielen Bereichen auch das längere gemeinsame Lernen, GRÜNEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE der neue Stellenwert frühkindlicher Förderung und Bil- GRÜNEN]: Da klatscht die CDU/CSU nicht dung in diesem Land, der Ausbau im Bereich der Kinder- einmal! Peinlich!) tagesstätten und Kindergärten und – seit dem Programm von Edelgard Bulmahn – auch die Fortschritte beim Aus- Das heißt konkret: Ja, wir haben auch in dieser Koali- bau von Ganztagsschulen haben mit dafür gesorgt, dass tion eine ganze Menge auf den Weg gebracht – Herr Kol- wir heute, nach diesen Jahren, zu besseren Ergebnissen lege Mutlu, jetzt hören Sie einmal genau zu –, auf das wir kommen als noch vor einigen Jahren. zu Recht stolz sind, zum Beispiel die Reform des BAföG. Aber richtig ist auch – da haben die Kollegin von Wir haben jetzt die Chance, noch mehr zu tun, und zwar der Linkspartei, der Kollege von den Grünen und Ernst nicht nur im Bereich der frühkindlichen Bildung, für den Dieter Rossmann vollkommen recht; auch Sie haben es sich vor allen Dingen Ministerin Schwesig in den letzten erwähnt –, dass sich soziale Ungleichheiten in diesem Jahren sehr erfolgreich engagiert hat, sondern auch im (B) Land nach wie vor gerade auch im Bildungssystem kon- Bereich der schulischen Bildung, und hier geht es nicht (D) servieren. Wir sind bei dem Vorhaben, dies zu überwin- um irgendwelche Ideologien zwischen Zentralismus und den, weitergekommen, aber noch nicht weit genug. Föderalismus. Wir können das anhand der Zahlen feststellen. Nach Die Hauptverantwortung für die schulische Bildung in wie vor wächst jedes vierte Kind – 25 Prozent! – unter diesem Land bleibt bei den Ländern. Schulträger sind im mindestens einer Risikolage auf, was zu einer – das be- Regelfall die Kommunen; das ist gar keine Frage. scheinigt der Bildungsbericht – finanziell, sozial oder durch die Eltern begründeten Bildungsferne führt, mit der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Folge, dass es deutlich schlechtere Bildungschancen und der CDU/CSU) damit auch deutlich schlechtere Chancen auf ein selbst- bestimmtes Leben hat als andere Kinder und Jugendli- Ich sage das hier einmal ganz explizit, Frau Ministerin che. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund Wanka, weil Sie denjenigen, die sich für das Aufbrechen sind bei allen Fortschritten deutlich stärker davon betrof- des Kooperationsverbotes engagieren, immer wieder un- fen. Frau Ministerin, der Expertenstreit, ob der Migra- terstellen, dass sie sich für ein Bundesschulamt einset- tionshintergrund oder die sozioökonomische Schwäche zen. Es geht nicht um ein Bundesschulamt. Man kann in der Familie die wichtigere Ursache dafür ist – natürlich der Bildungspolitik auch zentralistisch ganz viel falsch sind es vor allen Dingen soziale und nicht kulturelle Ur- machen. sachen –, ist am Ende des Tages ein akademischer Streit. Es geht um konkrete Lebenslagen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) NEN]: Richtig!) Frau Ministerin Wanka, man muss hier auch einmal Das sagt über die Qualität noch gar nichts aus. selbstkritisch feststellen, dass Ziele, die man sich selbst gesetzt hat, nicht erreicht wurden. Sie erinnern sich an Es geht auch nicht um Zentralismus oder Föderalis- den Nationalen Bildungsgipfel aus dem Jahre 2008 un- mus, sondern darum, dass Bund, Länder und Kommunen ter der schönen Überschrift „Bildungsrepublik“. Damals an einem Strang ziehen und arbeitsteilig so etwas wie hat man sich das Ziel gesetzt – das ist nachlesbar –, bis eine nationale Bildungsallianz organisieren können. zum Jahre 2015 die schulischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund denen an- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derer Jugendlicher gleichzustellen. Das haben wir nach der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE wie vor nicht erreicht, was anhand der Zahl der Schul- GRÜNEN) 20018 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Hubertus Heil (Peine) (A) Ja, die Länder sind nach wie vor verantwortlich für das Der ist der Einzige, der dazu eine Protokollerklärung (C) Schulsystem und für die Inhalte. Schulträger sind die abgegeben hat. Gemeinsam sind wir stark, Herr Mutlu. Kommunen. Ich setze auf Ihre Überzeugungskraft gegenüber dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten auf dem (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Parteitag. NEN]: Das soll auch so bleiben!) Der Bund kann mit der jetzt getroffenen Vereinba- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung innerhalb der Bund-Länder-Finanzbeziehungen der CDU/CSU) mithelfen, die schulische Infrastruktur gezielt und nicht Zum Schluss: Wir brauchen angesichts dieses Natio- auf Umwegen zu verbessern, mit der Gewissheit, dass nalen Bildungsberichts eine nationale Bildungsallianz, das Geld auch dort ankommt, wo wir es haben wollen. um die Chancen zu nutzen, die die Digitalisierung bietet. Dadurch können wir mithelfen, den Sanierungsstau in Frau Wanka, daran müssen wir noch ein bisschen arbei- den Schulen aufzulösen, Schulen zu sanieren und zu mo- ten. Dass wir 3,5 Milliarden Euro für die Schulsanierung dernisieren – vor allen Dingen in den Kommunen, die haben, ist das eine; die 5 Milliarden Euro für digitale Bil- es besonders schwer haben. Das ist ein konkreter Bei- dung, die Sie angekündigt haben und die wir ausdrücklich trag dafür, Lernorte zu verbessern. Mit der Kombination begrüßen, nicht nur weil in einigen Tagen der IT-Gipfel der Mittel von Bund, Ländern und Kommunen können stattfindet und digitale Bildung ein zentrales Thema ist, wir dafür sorgen, dass die soziale Herkunft nicht zum sind das andere. Die Kombination dieser Mittel auf einer Schicksal für die Bildungschancen in diesem Land wird, Zeitschiene vom Jahr 2017 bis 2021, ungefähr 8,5 Milli- und dafür setzen wir uns ein. arden Euro, würde einen Riesenschritt bedeuten, mit dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir viel Geld hebeln könnten. der CDU/CSU) Meine herzliche Bitte ist: Machen Sie solche Konzep- Herr Mutlu, Frau Dörner, Sie haben von Missverständ- te nicht für irgendwann oder nach der Bundestagswahl. nissen geredet. Ich kann das aufklären. Der Blick in die Die besten Wahlversprechen sind die, die man vor der Bund-Länder-Vereinbarung, die übrigens 16 Minister- Wahl hält. Deshalb müssen wir dafür kämpfen, dass die präsidenten aller möglichen Parteien dieses Hauses und 3,5 Milliarden Euro der erste Schritt sind, dass wir zu- die Bundesregierung unterschrieben haben, zeigt, dass sätzlich Geld für Ganztagsschulangebote und digitale wir 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen – das wer- Bildung in diesem Land bekommen, damit auch die Di- den wir über einen Nachtragshaushalt tun –, um entspre- gitalisierung der Bildung nicht zu neuen Ungleichheiten, chende Möglichkeiten für Investitionen zu schaffen. Das sondern zu neuen Chancen führt. Das ist der Weg, auf den wir uns machen wollen. Alle Gutwilligen sind einge- (B) ist allein das Geld des Bundes. Einige Bundesländer – (D) vor allen Dingen Nordrhein-Westfalen – engagieren sich laden, ihn mitzugehen. ganz massiv für zusätzliche Mittel zur Schulsanierung. Herzlichen Dank. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD) NEN]: Rot-Grün-regiert!)

In dieser Kombination müssen wir den Investitionsstau Präsident Dr. Norbert Lammert: von 34 Milliarden Euro auflösen. Für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Cemile Wir ermöglichen, dass das Geld gezielt in den Kom- Giousouf die nächste Rednerin. munen ankommt, indem wir das Grundgesetz ändern; auch das steht deutlich darin. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. René Röspel [SPD]) (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Cemile Giousouf (CDU/CSU): Wir nennen das das „Aufbrechen des Kooperationsver- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und botes“, weil es die Chance schafft, Schulen nicht nur zu Kollegen! Da jetzt viel gesagt worden ist, was, ich will sanieren, sondern auch zu modernisieren und über diese nicht sagen: am Thema vorbeigeht, aber was ein wenig Legislaturperiode hinaus Geld des Bundes zum Beispiel den Blick vom Bildungsbericht abgelenkt hat, möchte ich für Ganztagsschulangebote zur Verfügung zu stellen. Ich gern auf den Kern der heutigen Debatte zurückkommen bin dem Koalitionspartner ausdrücklich dankbar dafür, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Zunächst mal den Bericht lesen!) (Dr. Karamba Diaby [SPD]: So ist es!) und die Reden meiner Kolleginnen und Kollegen von der Alle Ministerpräsidenten haben das unterschrieben. Opposition, in denen sie viele Dinge kritisiert haben, die Herr Mutlu, wenn Sie mithelfen wollen, dass wir das in die Zuständigkeit der Länder fallen, so deuten, dass jetzt auch gut hinbekommen – Ihr Parteitag beginnt ja der Bund eben seine Hausaufgaben gemacht hat. heute –: Reden Sie einmal mit dem baden-württembergi- schen Ministerpräsidenten Kretschmann. (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Übererfüllt! – Özcan Mutlu (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt NEN]: Das tun wir gerne!) Herr Jung dazu?) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20019

Cemile Giousouf (A) Uns liegt ein guter Bericht vor. Deshalb erlauben Sie Bereicherung. Das müssen wir uns von den Linken be- (C) mir, kurz die guten Ergebnisse und Fakten zusammen- stimmt nicht erklären lassen. zufassen. Die Ausgaben für Bildung, Forschung und (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rosemarie Wissenschaft sind im Jahr 2013 auf 257,4 Milliarden Hein [DIE LINKE]: Ich denke schon!) Euro und nach vorläufigen Berechnungen auf 265,5 Mil- liarden Euro im Jahr 2014 gestiegen. Das sind jeweils Dennoch dürfen wir uns nicht auf unseren Erfolgen 9,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. ausruhen. Da sind wir uns auch alle einig; denn dieser Bericht zeigt eben auch, dass immer noch ein Zusam- Das Ergebnis: Der Bildungsstand der Bevölkerung hat menhang von sozioökonomischem Status und schuli- sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Bei den scher Bildung besteht. Abschlussquoten an Schulen bleibt der Trend zu höheren Schulabschlüssen ungebrochen. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ach was!) Ich glaube, es ist ein Unterschied – da bin ich nicht Ih- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rer Meinung, Herr Kollege Heil –, ob Kinder aus einem NEN]: Stimmt gar nicht!) Akademikerhaushalt stammen oder ob sie ausländische Im Jahr 2014 erhielten 41 Prozent der Schülerinnen und Wurzeln haben. Letztere sind benachteiligt. Die Zahlen Schüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schu- des Berichts zeigen, dass ausländische Kinder mehr als len die allgemeine Hochschulreife. 2006 waren es noch doppelt so häufig die Schule ohne Hauptschulabschluss 29,6 Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung. Der An- verlassen. Sie erreichen dreimal seltener die Hochschul- teil der Schülerinnen bzw. Schüler ohne Hauptschulab- reife. schluss hat sich von 8 Prozent in 2006 auf 5,8 Prozent (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber es geht in 2014 reduziert. Wir sind linker Schwarzmalerei zum um konkrete Lebenslagen!) Trotz auf einem sehr guten Weg, Bei den Drei- bis Fünfjährigen haben insbesondere (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Schulabschluss NEN]: Sie wollten die Zahl halbieren! – sowie mit nichtdeutscher Muttersprache Sprachförder- Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist bedarf. Der Anteil liegt bei jeweils 39 Prozent. Auch in auch Ländersache!) der Berufsausbildung ist die Abbruchquote 50 Prozent höher als die der Deutschen. Bei der dualen Ausbildung nicht zuletzt dank der guten Arbeit unserer Ministerin liegt der Anteil der Lehrlinge mit Migrationshintergrund und ihres Hauses. mittlerweile bei 24 Prozent. Hier gibt es laut dem Bericht aber starke regionale Unterschiede. Ministerin Wanka ist (Beifall bei der CDU/CSU) (B) darauf eingegangen. (D) Die Bildungsbeteiligung und der Bildungserfolg von Durch die starke Zuwanderung im vergangenen Jahr Menschen mit Migrationshintergrund haben sich ver- steht das deutsche Bildungssystem nach Ansicht der bessert. Mehr unter Dreijährige mit Einwanderungsge- Forscher vor zusätzlichen Herausforderungen. Für die schichte besuchen Betreuungsangebote. Integration der im Jahr 2015 Zugewanderten fallen der Studie zufolge jährlich zusätzliche Kosten von 2,2 bis (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Länder- 3 Milliarden Euro an. Aber diese Ausgaben werden sich sache!) lohnen. Auch wenn dies nicht kurzfristig der Fall sein Das ist eine Verdoppelung seit 2009 auf 22 Prozent. Das sollte, so zeigt sich doch immer wieder in der Bildungs- resultiert aus der Tatsache, dass wir Dinge, die Ländersa- politik: Wir müssen langfristig investieren. Wir werden che sind, mit unterstützen. sehen – auch das sagen die Forscher; auch wenn es bei ihnen unterschiedliche Einschätzungen gibt –, dass sich (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Sie eine nachhaltige Bildungspolitik natürlich auch bei den- nennen nur die positiven Ergebnisse, die Ih- jenigen, die neu zu uns kommen und Asyl suchen, mittel- nen gefallen! – Zuruf des Abg. Özcan Mutlu und langfristig auszahlen wird. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir müssen die Weichen stellen. Hier müssen wir an- Es stellt sich nur die Frage, warum Sie die positiven setzen und weiter daran arbeiten. Ergebnisse der Bundesebene nicht anerkennen. Die Bil- Auf dem Weg dorthin – das möchte ich noch einmal dungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund betonen – haben wir viel geschafft. Als Berichterstatte- im Kindergartenalter liegt 2015 sogar bei 90 Prozent. Da- rin für die Begabtenförderung bin ich hier in besonderer rüber hinaus haben sich sowohl im Grundschul- als auch Weise involviert. Die Begabtenförderwerke und Stiftun- im Sekundarbereich die Kompetenzen der Schülerinnen gen machen es sich mehr und mehr zur Aufgabe, auch und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte verbessert. jungen Erwachsenen aus weniger gut betuchten Familien die Möglichkeit eines Stipendiums zu geben. Jeder hat Die Rede unserer Ministerin hat gerade sehr deutlich in Deutschland die Möglichkeit, ungeachtet seines sozi- gemacht, dass sich das integrationspolitische Schlüs- alökonomischen Status eine qualitativ hochwertige Aus- selministerium dieser Aufgabe nicht nur im aktuellen bildung zu erhalten. Kontext stellt; bereits seit vielen Jahren setzt die uni- onsgeführte Bundesregierung bei der Integration auf (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Bildungsbereich. Für uns ist kulturelle Vielfalt eine NEN]: Hier widersprechen Sie sich aber!) 20020 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Cemile Giousouf (A) Nehmen wir exemplarisch das BMBF-Förderpro- teilhaben. Wir wissen: Investitionen in Bildung lohnen (C) gramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“. Wir sich für jeden Einzelnen und für unsere Gesellschaft. werden bald im Hohen Hause einen Antrag zur kulturel- len Bildung für Geflüchtete diskutieren. Derzeit profitie- (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] ren von dem Programm 300 000 bildungsbenachteiligte [SPD]) Kinder und Jugendliche. Eine Zwischenbegutachtung Investitionen in Bildung verbessern die Chancen auf des Programms ergab, dass 92 Prozent der Bündnisse Teilhabe der Menschen an der Gesellschaft, und Inves- Kinder und Jugendliche erreichen, die ansonsten nicht an titionen in Bildung stärken den sozialen Zusammenhalt. Angeboten der kulturellen Bildung teilgenommen hätten. Ich verdeutliche das anhand von vier Maßnahmen: Das BMBF hat nunmehr auch zusätzliche Angebote für junge Flüchtlinge im Programm. So können junge Erstens. Es beginnt damit, dass wir die Schulen sa- Menschen beispielsweise auch in meinem Wahlkreis im nieren müssen. Sigmar Gabriel hat es gut auf den Punkt Emil Schumacher Museum in die Kraft der Kunst gebracht: Die Schulen müssen die Kathedralen unserer und Bilder kennenlernen. Kinder und Jugendliche wer- Städte und Gemeinden werden. Sie müssen lebenswerte den in Workshops aktiv an kulturelle Bildung herange- und lebensnahe Lernorte sein. Dafür stellen wir ab 2017 führt. rund 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Besser als das Zweitens. An einigen Schulen gibt es soziale Proble- Betreuungsgeld!) me. Diese müssen wir in den Griff bekommen. Der Bund Von 2013 bis 2017 stellt der Bund insgesamt bis zu muss die Länder und Kommunen hier unterstützen. Das 230 Millionen Euro für das Programm bereit. On top Ziel muss sein: Keine Schule ohne Schulsozialarbeiter! werden im Rahmen von „Kultur macht stark Plus“ Maß- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Özcan nahmen der kulturellen Bildung für geflüchtete junge Er- Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wachsene bis einschließlich 26 Jahre angeboten. Drittens. Wir müssen die berufliche Bildung stärken; Zum Ende meiner Rede möchte ich noch einmal auf denn sie hat eine enorm wichtige Bedeutung für die Teil- das Instrument des Anerkennungsgesetzes hinweisen. habe der Menschen. Sie ist der Schlüssel zur persönli- Auch da bin ich gemeinsam mit meinem Kollegen Diaby chen Entwicklung, und sie ist die Voraussetzung, um in dabei, die Bedingungen und Möglichkeiten des Anerken- einer digitalisierten und globalisierten Arbeitswelt zu nungsgesetzes weiter auszuschöpfen. Die Anerkennung bestehen. Die Schüler müssen sich in den Berufsschulen von Abschlüssen ist ein wichtiges Instrument, um Men- wohlfühlen. Die Schulen brauchen eine bessere Ausstat- schen das Ankommen in unserem Land zu erleichtern. (B) tung. Und die Berufsschullehrer müssen bei ihrer wichti- (D) Wir haben – das möchte ich abschließend sagen – gen Arbeit besser unterstützt werden. bisher deutlich gemacht, dass Deutschland jedem diese (Beifall bei der SPD) Chancen geben will. Wir werden trotz aller polarisieren- den, populistischen und auch politischen Entwicklun- Unsere Forderung lautet: Kein Schüler darf künftig ohne gen weiter daran arbeiten. Wir können eine Gesellschaft einen Abschluss unsere Schulen und Berufsschulen ver- schaffen, in der es eben nicht zählt, ob man aus einem lassen. Akademikerhaushalt kommt oder nicht. (Beifall bei der SPD) Vielen Dank. Viertens. Auch für die Integration ist gute Bildungspo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. litik ein zentraler Baustein. Die Anerkennung der beruf- Hubertus Heil [Peine] [SPD]) lichen Qualifikationen ist von großer Bedeutung für die Teilhabe an der Gesellschaft. Wir haben diese Bedeutung Vizepräsident Johannes Singhammer: erkannt. Aber auch hier gibt es Verbesserungsmöglich- Der Kollege Dr. Karamba Diaby spricht jetzt für die keiten. Das zeigt der Bericht zum Anerkennungsgesetz. SPD. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesregierung künftig die Kosten für die Verfahren finanziell unterstüt- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Michaela zen wird. Dafür stehen 5 Millionen Euro im Haushalt be- Noll [CDU/CSU]) reit. Das finden wir sehr gut. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Dr. Karamba Diaby (SPD): CDU/CSU) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ergebnisse des Bildungsberichts Es ist aber auch kein Geheimnis, dass die SPD mehr zeigen, dass wir weiterhin vor großen Herausforderun- will. Wir müssen die Menschen unterstützen, die keine gen stehen. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstren- Leistungen nach SGB II oder SGB III beziehen. Wenn gung für Bildung. Wir brauchen eine nationale Bildungs- das Anerkennungsverfahren dazu führt, dass man sein allianz. Essen oder seine Miete nicht bezahlen kann, werden die Menschen das Anerkennungsgesetz leider nicht nut- (Beifall bei der SPD) zen. Wir wissen also, was zu tun ist. Im nächsten Schritt Denn Bildung ist die Voraussetzung dafür, dass Men- müssen wir auch die Lebenshaltungskosten unterstützen, schen später gute Arbeit finden und an der Gesellschaft zum Beispiel durch ein Stipendium oder ein Darlehen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20021

Dr. Karamba Diaby (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass alle hat eine so geringe Jugendarbeitslosigkeit wie Deutsch- (C) Menschen an der Gesellschaft teilhaben. Investitionen in land. Bildung sind dafür der Schlüssel. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Danke schön. sowie des Abg. René Röspel [SPD]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich finde, das alles kann sich wahrlich sehen lassen und der CDU/CSU) zeigt: Wir sind auf einem erfolgreichen Kurs. Natürlich dürfen wir uns nicht ausruhen, und das tut von uns auch keiner. Die Herausforderungen für unser Bildungswesen Vizepräsident Johannes Singhammer: sind komplexer und vielschichtiger geworden, vor allem Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der seit letztem Jahr, als mehrere Hunderttausend Menschen Kollege Dr. Wolfgang Stefinger für die CDU/CSU. aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind. Diese Herausforderungen gelten natürlich auch für die (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu berufliche Ausbildung; denn immer weniger Jugendli- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hoffentlich che beginnen eine duale Berufsausbildung. Nach wie vor nicht wieder eine Märchenstunde!) bleiben viele Lehrstellen unbesetzt. Viele Ausbildungs- betriebe klagen über Lehrlingsmangel. Zugleich suchen viele junge Menschen nach einer Ausbildungsmöglich- Dr. Wolfgang Stefinger (CDU/CSU): keit. Sie fragen sich, wie das zusammenpasst? Demogra- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und fische Faktoren und mitunter ausgeprägte regionale und Kollegen! Wir verfügen über ein qualitativ hochwertiges berufsspezifische Unterschiede spielen dabei eine wich- Bildungssystem sowie über gute Aus- und Weiterbil- tige Rolle. dungsmöglichkeiten. Das bescheinigt uns der Nationale Dies alles kann weitreichende Folgen für unsere Wirt- Bildungsbericht. Es ist ein Bildungssystem, um das uns schaft und die Gesellschaft mit sich bringen. Ohne eine viele beneiden. Es ist ein Bildungssystem, das Deutsch- ausreichende Anzahl bestens qualifizierter Fachkräfte land zu einem attraktiven Standort macht. Wir alle wis- geht es nicht. Was wir daher brauchen, ist eine Ausgewo- sen: Eine gute Bildung ist eine unabdingbare Vorausset- genheit von akademischer und beruflicher Bildung. Das zung für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg, Leben beginnt nicht erst mit dem Abitur. aber auch für gelungene Integration. Dass wir eine solche Erfolgsgeschichte schreiben können, verdanken wir vor (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) allem drei Dingen: erstens umfangreichen Investitionen Wir brauchen Ingenieure und Ärzte, aber eben auch (B) in Bildung und Forschung, zweitens einer Vielzahl von (D) Programmen, Maßnahmen und Initiativen und drittens Handwerker und Mittelständler. Ich möchte noch auf den vielen Menschen, die sich im Bildungsbereich enga- immer wieder geäußerte Begrifflichkeiten eingehen, an gieren. Vielen Dank dafür! denen ich mich massiv störe. Ein solcher Begriff ist zum Beispiel der des Bildungsabsteigers oder des Bildungs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. verlierers. Warum ist ein Kind, das aus einem Akademi- Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) kerhaushalt kommt und eine berufliche Lehre machen möchte, ein Bildungsabsteiger? Es wurde an dieser Stelle schon mehrfach gesagt: Noch nie wurde hierzulande so viel in Bildung und damit (Beifall bei der CDU/CSU) in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes investiert wie Das kann nicht so weitergehen. heute. In den letzten elf Jahren haben sich die Ausgaben des Bildungs- und Forschungsministeriums mehr als ver- Auch deswegen sind wir gefordert, das Image der doppelt. Für das nächste Jahr sind im Bundeshaushalt beruflichen Ausbildung nicht schlechtzureden; bei jeder über 17,5 Milliarden Euro veranschlagt, also noch einmal Auslandsreise wird man darauf angesprochen. Ich darf über 1 Milliarde Euro mehr als im laufenden Jahr. darauf hinweisen: Nicht umsonst wollen viele andere Länder von uns lernen, wie die duale Ausbildung funk- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tioniert. Denn sie wissen: Deutschland kann Berufsaus- bildung. Ich möchte den Haushältern danken, die bis heute früh um drei Uhr den neuen Haushalt festgezurrt haben, über Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in den wir in der nächsten Sitzungswoche beraten dürfen. den letzten Jahren auch viel für die Durchlässigkeit der beruflichen Ausbildung getan und tun dies weiterhin. Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- möchte nur ganz kurz an die Allianz für Aus- und Wei- ordneten der SPD) terbildung erinnern, an die Studiengänge für Handwerks- meister, die in Zusammenarbeit mit den Handwerkskam- Auch im diesjährigen OECD-Bericht schneidet mern entstanden sind, oder auch an die Novelle zum Deutschland gut ab. Als eine seiner großen Stärken gilt Meister- bzw. Aufstiegs-BAföG. die berufliche Bildung, die maßgeblich zum wirtschaft- lichen Erfolg beiträgt und vielfältige Aufstiegschancen Ich habe die Herausforderungen durch die Digitalisie- ermöglicht. In kaum einem anderen Land gehen so vie- rung erwähnt. Wir stärken mit einem Sonderprogramm le junge Menschen zur Schule, machen eine Ausbildung zur Digitalisierung die überbetrieblichen Bildungsstät- oder haben einen Job. Kein anderes europäisches Land ten. Wir haben das Programm „Digitale Medien in der 20022 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Dr. Wolfgang Stefinger (A) beruflichen Bildung“ fortgeführt; um nur einige Beispie- bedingungsloser Aufklärung. Doch davon kann bisher (C) le aus diesem Bereich zu nennen. keine Rede sein. Es wird geschwiegen, geleugnet und vertuscht – auf Landes- und Bundesebene. Sie sehen, wir haben die Herausforderungen im Blick. Wir kennen unsere Stärken, und wir dürfen darauf auch Beim Verfassungsschutz werden Belege geschreddert, stolz sein. In diesem Sinne lassen Sie uns weiterarbeiten wird also Recht gebeugt. Die Justiz hält, wie im Fall und dieses Land noch besser machen. „Lothar Lingen“, die schützende Hand darüber. Damit Danke schön. wird die Bundeskanzlerin in den Meineid getrieben. Was noch schlimmer ist: Die Betroffenen werden ein weiteres (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Mal verhöhnt. Das ist eine Schande! ordneten der SPD) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Johannes Singhammer: und der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Damit schließe ich die Aussprache. Der erste NSU-Untersuchungsausschuss hat im Sep- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen tember 2013 fraktionsübergreifend einen Bericht mit auf den Drucksachen 18/10100, 18/8825 und 18/10248 47 Schlussfolgerungen vorgelegt. Darin ging es um an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- rechtliche und strukturelle, auch um mentale Änderun- geschlagen. – Widerspruch sehe ich keinen. Deshalb sind gen in den Sicherheitsbehörden. Alle diese 47 Vorschläge die Überweisungen so beschlossen. wurden vom Bundestag einstimmig, einmütig bestätigt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 sowie den Zu- Nun wollte die Linke wissen, was davon umgesetzt satzpunkt 11 auf: wurde. Die Antwort der Bundesregierung liegt vor. Sie 38. Beratung der Antwort der Bundesregierung auf ist auch für alle, die uns im Netz folgen, nachlesbar. die Große Anfrage der Abgeordneten Petra Pau, Ich konzentriere mich jetzt auf drei Aspekte, die Martina Renner, Jan Korte, weiterer Abgeordne- durchaus strittig sind. ter und der Fraktion DIE LINKE Erstens. Ob Kriminalämter oder Justizbehörden – Umsetzung der Empfehlungen des 2. Parla- fast niemand wollte oder konnte erkennen, dass die mentarischen Untersuchungsausschusses der NSU-Morde rassistisch motiviert waren. Auch deshalb 17. Wahlperiode zur Verbrechensserie des Na- gibt es die Forderung nach dem Mentalitätswechsel. Nun tionalsozialistischen Untergrundes kann man Mentalitäten schlecht messen. Aber allein ein (B) Drucksachen 18/6465, 18/9331 Blick nach Sachsen zeigt, wie viel noch zu tun bleibt. (D) Naziaufmärsche werden goutiert, Gegenkundgebungen ZP 11 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- dagegen düpiert – und das alles von Amts wegen –, und neten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, Politiker beschwichtigen. Konsequenzen sehen anders weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE aus. LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Auf- (Beifall bei der LINKEN) enthaltsrecht für Opfer rechter Gewalt Im Untersuchungsausschuss waren wir uneins, ob wir Drucksache 18/2492 es mit institutionellem Rassismus zu tun haben, also auch Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- in Behörden. Die Linke meint Ja, CDU/CSU und Teile schusses (4. Ausschuss) der SPD meinen Nein. Wir sollten dies nicht als Mehr- heitsentscheidung abhaken, sondern vom Deutschen In- Drucksache 18/10288 stitut für Menschenrechte untersuchen lassen. Die Linke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für hat dafür Mittel bei den finalen Haushaltsberatungen be- die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Widerspruch antragt. Ich hoffe auf die Zustimmung aller Fraktionen sehe ich keinen. Dann ist das somit beschlossen. und Kolleginnen und Kollegen. Ich eröffne damit die Aussprache und erteile als erster Zweitens. Im Zentrum des Staatsversagens agierten Rednerin das Wort der Kollegin Petra Pau für die Frak- die Ämter für Verfassungsschutz. Damit wäre ich beim tion Die Linke. zweiten großen Dissens. (Beifall bei der LINKEN) CDU/CSU und SPD haben 2016 ein neues Gesetz für das Bundesamt für Verfassungsschutz beschlossen. Es erhält dadurch mehr Geld, mehr Personal und mehr (DIE LINKE): Petra Pau Kompetenzen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kürzel NSU steht für Nationalsozialistischer Unter- Zugleich wurde die schmierige V-Mann-Praxis, also grund, mithin für eine bislang beispiellose rechte Terror- die Kumpanei mit Nazis, legalisiert. Die Linke bleibt da- serie und ein tödliches Staatsversagen. Das alles wurde bei: Die Ämter für Verfassungsschutz sind als Geheim- vor fünf Jahren offenbar. dienste aufzulösen. Die V-Mann-Praxis ist sofort zu be- enden. Ebenso zum fünften Mal jährt sich demnächst das Versprechen von Bundeskanzlerin nach (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20023

Petra Pau (A) Drittens. Wir waren uns einig, dass Initiativen zur Op- sequent auch nach der RAF-Mordserie oder nach dem (C) ferberatung, für Demokratie und Toleranz umfangreicher Oktoberfest-Attentat gehandelt hätten; da wäre das viel- unterstützt werden müssen. Die Bundesmittel dafür wur- leicht auch notwendig gewesen. den inzwischen erheblich aufgestockt. Das ist gut so. Die Was wir in Sachen NSU-Aufklärung tun, ist ein ganz Linke hat dem zugestimmt. schlechter Anlass, Frau Pau, um uns selbst zu beschimp- Gleichwohl erfahre ich auf meinen Wegen über das fen. Sie haben sich ja gerade eben selbst beschimpft. Das Land zu häufig, dass von den zusätzlichen Millionen halte ich nicht für angemessen. Es ist über Parteigren- bei den Initiativen kaum etwas ankommt. Hier muss zen hinweg, gerade im Untersuchungsausschuss, in den die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern drin- Untersuchungsausschüssen, alles unternommen worden. gend prüfen, woran es liegt, dass die Mittel, die wir hier Warum? Wir haben alle regiert, Sie auch. Wir waren alle einmütig beschlossen haben, nicht ankommen. Denn betroffen, nicht nur der Verfassungsschutz. Ich sage es entscheidend ist letztlich nicht das, was vorne hineinge- Ihnen ganz offen: Es ist ein Ausdruck von Feigheit, wenn steckt wird, sondern das, was hinten herauskommt – und wir hier mit dem Finger auf den Verfassungsschutz zei- dies umso mehr, da niemand garantieren kann, dass nicht gen und selbst nie in einem Innenausschuss eines deut- längst neue Nazizellen raubend und mordend unterwegs schen Parlaments die Mordserie als Tagesordnungspunkt sind, allemal da das rassistisch aufgeheizte Klima von ih- aufgerufen haben. Wer selbst so viel Grund hat, über sich nen als regelrechter Auftrag gedeutet werden könnte, wie nachzudenken, sollte nicht mit dem Finger andauernd auf damals beim NSU. andere zeigen. Danke. (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Zur Sache! Was läuft denn hier?) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Ich habe damals, im September 2013, von einem kom- ten der SPD) pletten Systemversagen gesprochen: der Justiz, der Exe- kutive, aber auch der Legislative. Deswegen finde ich die Vizepräsident Johannes Singhammer: Schuldzuweisungen ein bisschen billig, meine Damen und Herren. Der Kollege Armin Schuster spricht als Nächster für die CDU/CSU. (Beifall bei der CDU/CSU – Karin Binder [DIE LINKE]: Es geht nicht um Schuldzuwei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. sung, sondern um das Erkennen von Fehlern!) Susann Rüthrich [SPD]) Lassen Sie uns mal über die 47 Empfehlungen spre- (B) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): chen! Wir haben in diesem Haus 47 Empfehlungen ver- (D) abschiedet. Ich kenne keinen anderen Politikbereich, in Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- dem man in einem solchen Fall nach drei Jahren sagen ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 4. November – kann: Beinahe alles abgeräumt, meine Damen und Her- nicht lange her –: fünfter Jahrestag des Auffliegens der ren. – Ein Mammutreformprogramm haben wir gemacht. NSU-Mordserie. Das ist ein guter Termin für diese De- batte, drei Jahre nach dem Abschlussbericht, den der ers- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Was denn?) te NSU-Untersuchungsausschuss erarbeitet hat, und gut drei Jahre nachdem wir uns hier in aller Form persönlich Wie Frau Pau kann auch ich nicht alles aufzählen. Ich bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt haben. Wir bräuchte 90 Minuten Redezeit, um zu erklären, was wir haben im September 2013 zwei Versprechen abgegeben, alles getan haben. Sie haben auch nur 3 Punkte von 47 nämlich erstens, alles zu unternehmen, damit sich das herauspicken können. nicht wiederholt, und zweitens, alles zu unternehmen, (Zuruf der Abg. Karin Binder [DIE LINKE]) um diese Serie aufzuklären. Meine Damen und Herren, das ist auch ein Stück Er- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- folg: konsequente Umsetzung. Ich nenne es eine staatli- ordneten der SPD) che Entschuldigung. Wir haben uns bei den Angehörigen der Opfer persönlich entschuldigt. Es gibt aber auch eine Das erste Versprechen mündete in 47 Empfehlungen staatliche Entschuldigung, weil wir wahrmachen, was des NSU-Untersuchungsausschusses für Exekutive, Le- wir versprochen haben: mit der Einrichtung von Abwehr- gislative und Judikative. Alle hatten ihr Päckchen zu tra- zentren gegen rechts, mit der Rechtsextremismusdatei, gen. Heute ziehen wir Bilanz. mit anderen polizeilichen Informations- und Analysesys- Das zweite Versprechen, alles zu tun, um aufzuklären: temen, mit der Verfassungsschutzreform. Das sehen Sie in München vor Gericht. Das sehen Sie in Die Abschaffung von V-Leuten, Frau Pau: Nicht mal zwölf NSU-Untersuchungsausschüssen von Ländern und Ramelow setzt das um. im Bund. Sie sehen es an der akribischen intensiven Ar- beit des Bundeskriminalamts, des Bundesamts für Ver- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Oberlehrer spie- fassungsschutz und vieler Ländersicherheitsbehörden. len!) Meine Damen und Herren, diametral anders als Sie, Seien Sie ehrlich: Er ist als großer Tiger gestartet und Frau Pau, halte ich das, was wir seit Ende 2011 in diesem landet jetzt als Bettvorleger. Ich bin froh darüber, dass Land tun, um das alles zu klären, für historisch beina- Sie das Amt für Verfassungsschutz nicht aufgelöst haben. he einmalig. Ich hätte mir gewünscht, dass wir so kon- Ich bin auch froh darüber, dass die Thüringer erkennen, 20024 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) dass es V-Leute braucht. Das war ein Vorschlag zur Un- ebenso die Tatsache, dass wir mit etlichen Theorien, teil- (C) zeit. weise auch Verschwörungstheorien, aufräumen können. Auch ich hatte Theorien, die sich zerbröselt haben. Und (Frank Tempel [DIE LINKE]: V-Leute unter es ist wichtig, dass sie sich zerbröseln. Es ist wichtig, den Rechtsextremen sind in Thüringen abge- dass wir auf den Kern der Sache kommen. schaltet!) Meine Damen und Herren, Wolfgang Wieland, der Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand draußen Fraktionssprecher der Grünen in der letzten Legislatur- versteht, dass Sie das Amt jetzt, zur Hochzeit des Terro- periode, sagte – ich gebe ihn sinngemäß wieder –: Wir rismus, auflösen wollen. haben uns alle Mühe gegeben, herauszufinden, ob die (Frank Tempel [DIE LINKE]: Ein bisschen Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind sind. – mehr Sachkenntnis vielleicht!) Sein Befund war: Sie sind nicht auf dem rechten Auge blind, aber in einem gehörigen Maße betriebsblind, ja. Bundesjustizminister Maas hat ein umfangreiches Frau Dr. Högl, die hier sitzt, sagte damals, es sei ein Ver- Justizreformpaket verabschiedet. Wir haben hier letzte sagen mit strukturellen Ursachen gewesen; Rechtsextre- Sitzungswoche die Reform des Parlamentarischen Kont- mismus sei als Gefahr nicht gesehen worden. Aber die rollgremiums verabschiedet. Das Parlamentarische Kon- SPD-Fraktion und auch wir, die Union, haben nicht den trollgremium schon wieder zu reformieren, war nicht Befund erhoben: Hier gibt es institutionellen Rassismus. leicht. Aber es war eine Kernforderung des Empfeh- lungskatalogs des NSU-Untersuchungsausschusses aus (Dr. Eva Högl [SPD]: Doch, das haben wir der letzten Legislaturperiode. Meine Damen und Herren, immer gesagt!) so schlimm all das, was passiert ist, war – wir sind in der Das ist ein ganz schlimmer Vorwurf, der von den Grünen Lage, zu sagen: Wir haben enorm viel geleistet. Deswe- und Linken leider immer wieder erhoben wird. gen ist mein Befund ein völlig anderer als der der Linken. Meine Damen und Herren, in diesen Zeiten braucht (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Keine Sachkennt- es Politiker in Regierungen und Parlamenten, die Ver- nis, aber irgendwas erzählen!) antwortung vor Gesinnung stellen. Verantwortung vor Jetzt gehe ich auf die Frage ein: Was bringt eigent- Gesinnung heißt, Frau Pau, dass Sie sich hier am Red- lich der NSU-Untersuchungsausschuss dieser Legisla- nerpult genauso verhalten wie im Ausschuss. Warum Sie turperiode? Meine Damen und Herren, es geht um die hier teilweise anders sprechen, weiß ich nicht. Ehre der Opfer. Es geht um Schmerz, Wut und Trauer von Angehörigen, und es geht um die Frage der Haltung (Frank Tempel [DIE LINKE]: Macht sie unseres Staates. Solange wir nicht wissen, warum diese nicht! Macht sie definitiv nicht!) (B) (D) Menschen zu Opfern wurden, solange wir nicht genau Ich weiß auch nicht, welche Kundschaft Sie bedienen wissen, ob es genau diese drei Täter waren, solange wir müssen. Aber die kooperative und konstruktive Zusam- nicht genau wissen, wer wirklich geholfen hat, ist es eine menarbeit im Ausschuss gefällt mir sehr gut. Es passt Frage der Haltung, niemals aufzugeben, diese Fragen be- aber nicht zu dem, wie Sie hier reden. antworten zu wollen. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- NEN]: Sie kann reden, wie sie will!) wie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zum Abschluss. Meine Damen und Herren, ein wahr- scheinlich in diesem Haus einmaliger Reform- und Auf- Mit einem kleinen Augenzwinkern richte ich mich klärungsmarathon im Bereich Rechtsextremismus und jetzt an die Mitarbeiter vom Bundeskriminalamt, vom Rechtsterrorismus erfordert Ausdauer und Geduld. Diese Generalbundesanwalt, vom Bundesamt für Verfas- sollten wir bewahren. Ich glaube, dass das angesichts des sungsschutz und vieler Länderbehörden. Ja, wir Unter- Leids, das die Menschen, die Opfer wurden, erfahren ha- suchungsausschussmitglieder sind manchmal verdammt ben, nicht zu viel verlangt ist. müde. Es ist hart, vor allen Dingen donnerstagabends; das gebe ich zu. Auch ich habe dann Selbstzweifel. Aber Ich danke Ihnen. ich glaube, wir tun das Richtige. Wir werden uns nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wie bei der RAF in 10 oder 15 Jahren davon überraschen ordneten der SPD) lassen, dass plötzlich noch drei dieser Täter in der Ge- gend herumlaufen und ein paar Raubüberfälle begangen Vizepräsident Johannes Singhammer: werden. Das wird uns nicht passieren. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Der Auftrag, den wir uns gegeben haben, ist nicht, die Kollegin Irene Mihalic. das x-te Behördenversagen zu identifizieren. Nein, wir wollen jede Chance nutzen, dass eine der spektakulärsten Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und schlimmsten Mordserien der deutschen Nachkriegs- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- geschichte nicht unaufgeklärt bleibt. be Kollegen! Liebe Bundesregierung! Wenn man Ihre Noch ein Augenzwinkern. Wir wissen nicht, wie viele Antwort auf die Große Anfrage der Linken liest, dann Nachermittlungen wir durch unsere Arbeit im Untersu- wird schon sehr deutlich, was für Sie die Aufarbeitung chungsausschuss auslösen. Aber wir ahnen es. Allein die des NSU-Terrors in der Praxis bedeutet. Herr Schuster Tatsache, dass es Nachermittlungen gibt, ist ein Erfolg, hat sie ein „Mammutreformprogramm“ genannt. Ich nen- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20025

Irene Mihalic (A) ne sie ganz viel Kosmetik, ganz viel Bestandspflege, wie lichen Ausführungen der Amtsleitung des Bundes- (C) beim Bundesverfassungsschutzgesetz, ganz viel Augen- amtes für Verfassungsschutz in Medien, bei Diskus- wischerei, und mein Eindruck ist ein wenig „Haken dran sionsveranstaltungen und Vorträgen dar. und fertig“. Ja, das stimmt. Im Fernsehen und in überregionalen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Interviews ist Herr Maaßen ein häufig gesehener Ge- Das sage ich bei aller fraktionsübergreifenden Einigkeit, sprächspartner. Im Innenausschuss des Bundestages hat die ich im Untersuchungsausschuss erlebe. er sich dagegen schon lange nicht mehr blicken lassen. Ich ahne auch, warum. Schließlich sagt er ja selbst, dass Aber wir sehen das ganz anders. Für uns ist das Ende wir hier im Parlament nur die Arbeit seiner Behörde er- der Aufarbeitung dieser beispiellosen Terrorserie noch schweren würden. Ja was ist das denn für eine Haltung, lange nicht in Sicht. Wir sehen ja auch aktuell, wie ge- liebe Kolleginnen und Kollegen? fährlich eine solche Haken-dran-Mentalität heutzutage ist. Allein in diesem Jahr gab es 832 Angriffe auf Flücht- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lingsunterkünfte, und die Zahl der rechten Gewaltdelikte und bei der LINKEN) hat sich gegenüber dem Jahr 2015 bereits heute mehr als verdoppelt. Da ist es schon ein heftiger Kontrast, wenn Herr Schuster, Sie haben völlig recht: Das, was wir die Bundesregierung in ihrer Einschätzung aktuell nur tun – mit zwölf Untersuchungsausschüssen, die gearbei- 20 Gefährder im rechten Spektrum ausmacht. Liebe Kol- tet haben, ihre Arbeit abgeschlossen haben oder heute leginnen und Kollegen, diese Zahl zerschellt doch kra- noch an diesem Thema dran sind –, ist in der Tat histo- chend an der Realität. risch. Aber angesichts dieser Haltung des Behördenleiters einer Verfassungsschutzbehörde ist es doch kein Wunder, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass wir in dieser Logik bei der Aufklärung der Rolle des und bei der LINKEN) Verfassungsschutzes keinen Schritt weiterkommen. Dass der analytische Blick an den Tatsachen hart vor- beigeht, hat auch etwas damit zu tun, dass das Bundesamt Die Bundeskanzlerin hat vor fast fünf Jahren rück- für Verfassungsschutz bei der Aufklärung des NSU-Ter- haltlose Aufklärung versprochen. Heute, am fünften rors weiter mauert. Gesetzlich wird das Eigenleben des Jahrestag des vorsätzlichen Aktenschredderns, erwarte Verfassungsschutzes sogar noch gefördert. So können ich endlich ein unmissverständliches Wort der Kanzle- immer noch schwerstkriminelle Neonazis als V-Leute rin an den Verfassungsschutz, diese Blockadehaltung angeworben werden und mit staatlicher Unterstützung endlich aufzugeben und die Aufklärung nicht weiter zu rechnen. Wie gefährlich das sein kann, sehen wir bei blockieren. Wir jedenfalls machen dieses Spiel auf Zeit (B) unserer Untersuchungsausschussarbeit laufend. Deshalb nicht mit. Auch wenn die x-te Akte verspätet, gar nicht, (D) kann ich Ihnen sagen: Ich vertraue diesen sogenannten geschwärzt, durcheinander oder nur teilweise geliefert Vertrauensleuten nicht. wird oder wichtige Zeugen krank oder im Urlaub sind: Es dauert so lange, wie es dauert. Nicht abhaken, sondern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vollständig aufklären und verändern – das muss das Ziel und bei der LINKEN) sein. Aber was Regierung und Parlament zu dieser Praxis sagen, zählt laut Gesetz leider überhaupt nicht. Am Ende Herzlichen Dank. entscheidet der Verfassungsschutzpräsident im Allein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gang. Aber das kann doch kein Zustand sein, an dem wir und bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Eva ernsthaft festhalten wollen, liebe Kolleginnen und Kol- Högl [SPD]) legen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsident Johannes Singhammer: Wir brauchen die Novelle der Novelle des Bundesver- Nächster Redner ist der Kollege Uli Grötsch für die fassungsschutzgesetzes. Erst gestern hat eine ehemalige SPD-Fraktion. Leiterin einer Verfassungsschutzbehörde im Untersu- (Beifall bei der SPD) chungsausschuss treffend gesagt: So kann es nicht wei- tergehen. – Auflösen und neu starten, das wäre das, was man mit dem Verfassungsschutz machen müsste. Uli Grötsch (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NEN und bei der LINKEN – Renate Künast 19 Monate intensive Aufklärungsarbeit, 107 vernom- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen wir mene Zeugen und Sachverständige in fast 350 Stunden doch immer!) Sitzungszeit, rund 12 000 als Beweismittel beigezoge- ne Akten: Für all das und noch viel mehr steht der erste In der Antwort auf die Große Anfrage kann man auch NSU-Untersuchungsausschuss, den der Bundestag im etwas über Reformbemühungen lesen. Ich will einen Januar 2012 eingesetzt hat, für eine in der Geschichte des Satz zitieren: Parlaments wohl einmalige Art der Aufklärung und der Einen wesentlichen Beitrag zur Transparenz des Arbeitsweise. Und doch, Herr Schuster, der Ausschuss Verfassungsschutzes stellen die zahlreichen öffent- hat damals deutlich gemacht, dass es sich auch um insti- 20026 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Uli Grötsch (A) tutionellen Rassismus handelte und nicht nur um Ermitt- che Weiterentwicklung einen wichtigen Schritt, um die (C) lungspannen. Analyse- und Koordinierungsfähigkeit der Verfassungs- schutzbehörden fortlaufend zu verbessern. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Darüber hinaus haben wir durch das Gesetz zur Ver- GRÜNEN – Armin Schuster [Weil am Rhein] besserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus ne- [CDU/CSU]: Mit abweichenden Voten!) ben dem Aufbau der Rechtsextremismusdatei auch die Verarbeitung von Texten in NADIS-Verbunddateien Der Untersuchungsausschuss wurde als Erster in der durch Einbezug des Bereichs rechtsextremistischer Be- Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aufgrund strebungen erleichtert. Diese Ergänzung hat die Auswer- eines gemeinsam formulierten Antrags aller Fraktionen – tungs- und Analysefähigkeit in diesem Bereich deutlich einstimmig – mit dem einen Ziel eingesetzt, eine lücken- verbessert. lose, gründliche und vollständige Aufklärung staatlichen Versagens bei einer der schwersten Verbrechensserien zu Aber all diese gesetzgeberischen und technischen erreichen, die dieses Land je gesehen hat – eine Verbre- Maßnahmen können eines nicht ersetzen: Der vielbe- chensserie, die uns alle angeht und deren Aufarbeitung schworene Mentalitätswechsel, die Sensibilität für Ras- andauert, bis heute. Denn die Taten, die die Opfer und sismus und Menschenverachtung, ist und bleibt der zen- ihre Angehörigen unfassbares Leid haben erfahren las- trale Hebel dafür, dass alle Menschen in Deutschland sen, waren ein Anschlag auf uns alle, auf uns, für die es wieder mehr Vertrauen in ausnahmslos alle Sicherheits- selbstverständlich ist, dass Deutschland ein weltoffenes behörden in Deutschland haben. Ich spüre das Bemühen und vielfältiges Land ist und bleibt. der Sicherheitsbehörden bei meiner täglichen Arbeit im (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Bundestag. Aber ich möchte an dieser Stelle schon auch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE sagen, dass ich es für utopisch halte, in Behörden mit GRÜNEN) Tausenden von Mitarbeitern keine schwarzen Schafe zu haben. Aber auch wenn es wie eine Utopie klingt: Das Dieser Untersuchungsausschuss steht nicht nur für muss das Ziel sein. Diejenigen, die sich in den Sicher- den umfassenden Aufklärungswillen, sondern auch für heitsbehörden dafür einsetzen, die sich mit uns auf den 47 Handlungsempfehlungen. Diese 47 Empfehlungen Weg dahin gemacht haben, verdienen jede Unterstützung sind die Botschaft über die rund 1 300 Seiten Abschluss- von uns. bericht hinaus. Eine derartige Verharmlosung der Gefahr aus dem rechtsextremen Lager und das multiple Versa- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz, Politik, von der CDU/CSU und der LINKEN) (B) Medien und Gesellschaft dürfen sich niemals wiederho- Auch wenn durch die Umsetzung der Empfehlungen (D) len, liebe Kolleginnen und Kollegen. des ersten NSU-Untersuchungsausschusses ein umfas- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem sender Reformprozess bei Polizei, Verfassungsschutz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. und Justiz im Bund und in den Ländern angestoßen wor- Clemens Binninger [CDU/CSU]) den ist, will ich an dieser Stelle gar nicht abstreiten, dass wir uns keinesfalls darauf ausruhen dürfen. Wir haben Wo stehen wir heute, gut fünf Jahre nachdem sich vielmehr noch ein gutes Stück der Wegstrecke vor uns. die rechtsextreme Terrorgruppe NSU selbst enttarnt Dass wir noch lange nicht am Ende unserer Reformbe- hat? Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir uns insbe- strebungen angekommen sind, wird uns immer wieder sondere für eine bessere Schulung und Sensibilisierung in den Zeugenvernehmungen des zweiten NSU-Unter- von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Sicherheits- suchungsausschusses vor Augen geführt. Wir merken behörden eingesetzt. Wir haben die notwendige Reform seit geraumer Zeit beinahe jeden Tag beim Lesen der des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Gang gesetzt Zeitung, dass diese Notwendigkeit weiterhin besteht: sowie klarere und strengere Regeln für die Anwerbung Ein rechtsgesinnter „Reichsbürger“ erschießt einen Poli- und Führung von V-Personen und die Ausweitung der zisten; ein katholischer Bischof bekommt Todesdrohun- parlamentarischen Kontrolle erreicht. Dabei war es uns gen, weil er einen muslimischen Bundespräsidenten für auch wichtig, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger vertretbar hält; 832 Angriffe gegen Flüchtlingsheime in in funktionierende Sicherheitsbehörden wiederherzustel- Deutschland in den ersten zehn Monaten des Jahres 2016 len. zählt das Bundeskriminalamt – nur drei vermeintliche Außerdem haben wir zentrale Vorgaben mit Blick auf Höhepunkte der menschen- und demokratiefeindlichen den Einsatz von Vertrauenspersonen in den Sicherheits- Zeit, in der wir offenbar leben. behörden aufgegriffen. Klare gesetzliche Regelungen Weil bereits latent vorhandene rechtsextreme Einstel- haben wir nun nicht nur hinsichtlich der Bezeichnung lungen ein erhebliches Risiko für das friedliche Zusam- menschlicher Quellen. Wir haben diese darüber hinaus menleben in unserer Gesellschaft darstellen, haben wir auch mit Blick auf deren Auswahl, Führung und deren uns als SPD-Bundestagsfraktion im Zusammenhang mit Befugnisse. Mit dem Gemeinsamen Extremismus- und den Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsaus- Terrorismusabwehrzentrum etwa haben wir eine wichti- schusses vehement dafür eingesetzt, die Zivilgesellschaft ge Plattform für den Informationsaustausch geschaffen. zu stärken und die Präventionsarbeit endlich zu verste- Innerhalb des Verfassungsschutzverbundes bilden die tigen Inbetriebnahme eines runderneuerten nachrichtendienst- lichen Informationssystems und dessen kontinuierli- (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20027

Uli Grötsch (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder mit den Ruhrgebiets. Im Bereich von Waltrop erschoss er zwei (C) 47 Handlungsempfehlungen des ersten Bundestagsunter- weitere Kollegen. Dann nahm er sich in einem Waldstück suchungsausschusses zu den Taten des selbsternannten selbst das Leben. Nationalsozialistischen Untergrunds noch mit unserer aktuellen Befassung im Nachfolgeausschuss kann diese An dieser Stelle möchte ich an meine Kollegen Arbeit jemals abgeschlossen sein. Sie muss für uns alle Thomas Goretzky, Yvonne Hachtkemper und Matthias eine Daueraufgabe sein. Ich darf in diesem Zusammen- Larisch von Woitowitz erinnern. Sie haben sich für un- hang an die Worte der Bundeskanzlerin erinnern, die im sere Sicherheit eingesetzt. Sie verloren im Dienst ihr Le- Rahmen der Trauerfeier für die NSU-Opfer und deren ben. Es wurde ihnen von einem Wahnsinnigen genom- Angehörige im Februar 2012 Folgendes sagte: men. Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkei- Ich möchte auch noch einmal an Mehmet Kubasik er- ten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit innern, dessen Familie bis heute nicht weiß, warum diese sich so etwas nie wiederholen kann. irren Neonazis gerade den Ehemann, Vater und Freund Mehmet Kubasik ermordet haben. In beiden Fällen war Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir das Opfer keine gezielt ausgesuchte Person. Berger uns messen lassen. Dies sind wir nach wie vor dem gan- kannte die Polizisten nicht. Mundlos und Böhnhardt, zen Land schuldig, aber vor allem jenen, die meiner Mei- von denen wir heute wissen, dass sie Mehmet Kubasik nung nach aktuell zu sehr im Hintergrund stehen, nämlich erschossen, kannten ihn nicht. den Ermordeten Enver Simsek, Abdurrahim ­Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Meine Damen und Herren, die Arbeit des ersten ­Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik,­ NSU-Untersuchungsausschusses war unheimlich wich- Halit Yozgat, der getöteten Polizeibeamtin Michèle tig. Es waren viele Fragen offen; daran besteht gar kein Kiesewetter, dem schwerverletzten Kollegen, allen An- Zweifel. Das dürfen wir nicht verschweigen, und das gehörigen der Opfer sowie den bei den Sprengstoffan- machen wir ja auch nicht. Wir sind es den Hinterblie- schlägen in Köln zum Teil schwer verletzten Menschen. benen und der Bevölkerung schuldig, die Geschehnisse lückenlos aufzuklären; denn ich und wir alle – davon bin Vielen Dank. ich überzeugt – möchten, dass die Familien und Angehö- rigen der Opfer des NSU-Terrors Ruhe finden, endlich (Beifall im ganzen Hause) Ruhe finden. Ich möchte, dass sie wissen, dass wir als Staat und Gesellschaft alles tun, um diese grausamen Vizepräsident Johannes Singhammer: Taten aufzuklären. Ich möchte, dass sie wissen, dass in Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Hoffmann Deutschland jedes Leben gleich viel wert ist, sei es das (B) für die CDU/CSU. eines Polizisten oder das eines türkischen Kioskbesitzers. (D) (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall im ganzen Hause) Meine Damen und Herren, ich sage das hier auch des- Thorsten Hoffmann (Dortmund) (CDU/CSU): halb so deutlich, weil unser Staat und seine Institutio- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten nen nicht fremdenfeindlich und nicht rechtsradikal sind. Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn hier jemand meint, er könne die Taten des NSU Frau Pau, Frau Mihalic, einige Sachen sehe ich wirklich missbrauchen, um fragwürdige politische Ansichten zu komplett anders als Sie. – Das nur am Anfang. verbreiten, so erteilen wir ihm hier gemeinsam eine Ab- sage. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie haben ja jetzt neun Minuten!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in der Wer macht denn das?) Dortmunder Nordstadt heimtückisch ermordet. Zu dieser Zeit – jetzt werde ich mal persönlich – verrichtete ich als Wer dem Staat pauschal und vielleicht auch aus poli- Polizeibeamter meinen Dienst in dieser Stadt. Und wer tischen Erwägungen heraus ohne jeden Nachweis ab- sich dort ein wenig auskennt, der weiß, dass der Tatort, spricht, sich ernsthaft um die Aufklärung bemüht zu ha- der Kiosk der Kubasiks, auf der Mallinckrodtstraße liegt ben, spielt den Extremisten in die Karten. – Sie ziehen und diese Gegend als eher schwierig zu beurteilen ist. sich den Schuh ja möglicherweise an; ich weiß es nicht. Das haben Sie gerade gemacht. In die Ermittlungen zum Mord an Mehmet Kubasik war ich nicht eingebunden. Aber ich kannte und kenne (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- alle Ermittler aus der damaligen Mordkommission. Je- NEN]: Dann zitieren Sie mal! Wir fragen doch der von ihnen war mit ganzem Herzen dabei und hat ver- nur, wer das macht!) sucht, diese schreckliche Tat aufzuklären, um den oder die Täter zu ermitteln oder dingfest zu machen. Auch der NSU wollte den Staat treffen. Die Taten richten sich nicht nur gegen die Opfer, gegen Ausländer Als am 14. Juni 2000 Michael Berger, ein Neonazi aus in Deutschland und Mitbürger mit Migrationsgeschich- Dortmund, auf der Flucht einen Kollegen erschoss, war te, sondern auch ausdrücklich gegen unseren Staat. Der ich im Dienst. Mit meinem damaligen Partner und vielen Mord an Michèle Kiesewetter, der versuchte Mord an anderen Kolleginnen und Kollegen verfolgten wir Berger dem Polizisten Martin Arnold, meine drei von Michael durch Dortmund, Waltrop und einige andere Städte des Berger ermordeten Kollegen, das waren gezielte Mor- 20028 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Thorsten Hoffmann (Dortmund) (A) de und keine Kollateralschäden. Die Terroristen hassen Es braucht Zeit, bis sich Änderungen durchsetzen, bis sie (C) den Staat. Sie hassen, dass unser Staat jedem die gleiche in Fleisch und Blut übergehen. Veränderungen müssen Heimat gibt. Sie hassen, dass unserem Staat Ethnien und im Übrigen auch verarbeitet werden. Glauben Sie mir, Glaubensrichtungen gleich sind. Sie hassen, dass unser ich weiß, wovon ich rede; schließlich habe ich selbst ein- Staat und seine Institutionen alle seine Bürger schützt mal dort gearbeitet. und allen Freiheiten gewährt. Wir können aber nicht beim Thema Personal stehen- Meine Damen und Herren, es ist wahr, dass unser bleiben, das dürfen wir auch nicht. Zur Verbesserung der Staat durch den NSU eine herbe Niederlage erlitten hat. Struktur haben wir mit dem Gemeinsamen Extremis- Durch die Ergebnisse des ersten NSU-Untersuchungs- mus- und Terrorismusabwehrzentrum gegen Rechtsex- ausschusses wurden Schwachstellen erkannt, weil wir tremismus und Rechtsterrorismus ein hervorragendes einvernehmlich und gut zusammengearbeitet haben, und Instrument zur Früherkennung von politisch motivier- das machen wir jetzt auch im zweiten NSU-Untersu- ten Straftaten geschaffen. Mit dieser Einrichtung sind chungsausschuss. Größtenteils wurden diese Schwach- wir am Puls der Zeit; denn es ist nicht einfach nur eine stellen behoben. Wenige Lücken müssen wir noch schlie- neue Behörde, sondern es ist eine dauerhafte Kooperati- ßen, und da sind wir dran. onsplattform von Bund und Ländern. Sie vereinfacht die Die tatsächlich gemachten Fehler bei den Ermittlun- oft schwierigen und länderübergreifenden Ermittlungen. gen im NSU-Fall dürfen aber nicht dazu führen, dass Denn wie in anderen Kriminalitätsbereichen gilt auch wir denken, dass ganze Polizeibehörden, Staatsanwalt- hier: Der Rechtsextremismus macht nicht vor Länder- schaften, Gerichte, Verfassungsschutzämter und sonstige grenzen halt. staatliche Institutionen über Jahrzehnte hinweg schlecht Die Einrichtung des Polizeilichen Informations- und gearbeitet haben. Das ist definitiv nicht richtig. Das Analyseverbundes PIAV war deshalb notwendig. Es ist stimmt einfach nicht. gut, dass bis 2020 ein ambitionierter Ausbau von PIAV Wir haben in Deutschland eine hervorragende Auf- angedacht ist. Zugleich wird dadurch in den kommenden klärungsquote, wenn es zum Beispiel um Kapitaldelikte Jahren auch der Informationsfluss weiter verbessert. Zei- geht. Wir haben einen Verfassungsschutz, der auf recht- ten und Ressourcen werden dadurch deutlich eingespart. licher Grundlage immer wieder detailliert über die Ge- Mit all diesen Maßnahmen wollen wir die Zusammen- fahren von rechts und links und auch aus dem religiös arbeit der Polizeien der Länder, der Bundespolizei, des motivierten Extremismus berichtet. Wir sind doch jetzt BKA und der Geheimdienste noch weiter verbessern. qualitativ an einer ganz anderen Stelle. Dies ist der einzig richtige Weg, den größtmöglichen (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schutz vor Verbrechen und insbesondere vor Hasskrimi- (B) NEN]: Nein!) nalität zu gewähren. (D) Gerade auch das Bundesamt für Verfassungsschutz Ich komme zum Gesetzentwurf der Linken. Ich sage hat in den letzten Wochen und Monaten sehr gute Erfol- es von vornherein: Wir können ihm nicht zustimmen. ge vorzuweisen. Denken wir nur an die Zerschlagung des IS-Anwerbernetzes um Abu Walaa. Diese Erfolge sind (Frank Tempel [DIE LINKE]: Das ist ja eine eben auf diese veränderten Arbeitsweisen, die Verbesse- Überraschung!) rungen in der Informationsstruktur und auf die sensibili- – Das haben Sie sich gedacht; das habe ich mir wiederum sierte Arbeitsweise zurückzuführen. gedacht. – Wir können ihm nicht zustimmen, weil wir Um dies leisten zu können – das zeigt doch die Ant- Opfer von Gewalttaten nicht belohnen wollen, sondern wort der Bundesregierung ganz klar –, brauchen wir auch wir wollen die Straftaten im Vorfeld verhindern. Das ist und vor allem mehr Personal. Die Maßnahmen, die im für uns der richtige Ansatz. Dazu haben wir die richtigen Rahmen des personell Möglichen und im Rahmen des Maßnahmen eingeleitet. Deswegen haben wir im Bun- Zuständigkeitsbereichs der Bundesregierung vollstän- deskriminalamt die „Task Force Gewaltdelikte“ und die dig umgesetzt werden, verbessern die Arbeit der Ermitt- Clearingstelle „Straftaten gegen Asylunterkünfte“ einge- lungsbehörden weiter. Warum ist das wichtig? Zum ei- richtet. Das ist der richtige Weg. Man braucht nicht ein- nen dürfen wir von unseren ausgebildeten Beamten im mal böse von Menschen zu denken, wenn man erwartet, Einsatz nicht erwarten, dass sie die tägliche Arbeit wie dass diese versuchen würden, das von Ihnen angedachte zuvor leisten und zusätzlich noch zahlreiche Lehrgänge Gesetz zu missbrauchen. Deshalb müssen wir Ihren Ge- und Fortbildungen machen, wenn wir nicht durch zusätz- setzentwurf ablehnen. liches Personal Zeit dafür schaffen. Ich bin der Überzeugung, dass wir in der Umsetzung Richtig und wichtig ist, dass dieses Personal ausdrü- der Empfehlungen des ersten Untersuchungsausschusses cklich bei Menschen mit Migrationshintergrund gesucht wirklich weit gekommen sind. Die Bundesregierung hat wird. Dass die Bundespolizei in die Zukunft denkt – das hier ihre Aufgaben gemacht. Deshalb möchte ich an die- macht sie übrigens innovativ –, zeigt sich daran, dass sie ser Stelle – das ging fast unter – herzlichen Dank sagen bei der Anwerbung von Nachwuchs verstärkt das Poten- an alle ermittelnden Behörden, die uns tatkräftig bei der zial der sozialen Medien nutzen wird. Verbrechensaufklärung unterstützen. Herzlichen Dank dafür an dieser Stelle. Zum anderen braucht es allerdings Zeit, bis sich Ver- änderungen durchsetzen. Wir können nicht erwarten und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- verlangen, dass sich alles von heute auf morgen ändert. ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20029

Thorsten Hoffmann (Dortmund) (A) Ich möchte noch kurz auf die Länder zu sprechen nigen Monaten im Untersuchungsausschuss jedoch sehr (C) kommen. Auch diese sind auf dem richtigen Weg. Ich groß, als ich feststellen musste, wie gering das Wissen bin zuversichtlich, dass auch hier zeitnah alle möglichen des Zwickauer Kripochefs zur rechten Szene ist. Ich er- Verbesserungen umgesetzt werden. Wir sind nämlich innere an seine Antwort: Wir haben keine Schwerpunkt- nur im Verbund stark. Und wir leben – das darf man an lage rechts. dieser Stelle ruhig einmal sagen – in einem der sichers- ten Länder der Welt. Wenn man bedenkt, dass in Cali Dieses Desinteresse findet sich nicht nur in der Polizei in Kolumbien rund 1 600 Morde passieren und in ganz von Zwickau, und es ist schon gar nicht ein rein poli- Deutschland mit knapp 81 Millionen Einwohnern – in zeiliches Problem; wir finden es auch beim Verfassungs- Anführungszeichen; jeder ist zu viel – nur 282 Morde schutz und bei der Justiz immer wieder. passieren, dann zeigt das die Dimension. Wir wohnen in Ich muss es leider sagen: Viele Polizeibeamte, nicht einem der sichersten Länder der Welt. Darauf können wir alle, aber viele Polizeibeamte in den verschiedensten Be- stolz sein, und das dürfen wir ruhig auch mal sagen. reichen, mit denen ich gerade in den letzten Wochen per- Herzlichen Dank. sönlich gesprochen habe, sehen nach wie vor in Flücht- lingen in erster Linie erst einmal potenzielle Straftäter, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nicht Opfer. ordneten der SPD) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Na, na, na! Das glauben Sie doch selber nicht! –

Vizepräsident Johannes Singhammer: Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Belegen Sie Der Kollege Frank Tempel spricht jetzt für die Frak- das mal!) tion Die Linke. – Das ist tatsächlich so. In ganz vielen persönlichen Ge- (Beifall bei der LINKEN) sprächen war das immer wieder die Antwort.

Frank Tempel (DIE LINKE): Von Rechtsextremisten werden augenscheinlich in erster Linie Linke, die Zivilgesellschaft und Menschen Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und mit Migrationshintergrund bedroht. Viele Bürger, auch Herren! Seit gut anderthalb Jahren sitze ich im zweiten Polizeibeamte, fühlen sich davon selbst nicht betroffen. Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum NSU. Sie haben keinen Blick dafür. Ich unterstelle da nicht ein- Im Abschlussbericht des ersten Untersuchungsausschus- mal bösen Willen. Verzerrte Wahrnehmung kennen wir ses wurden Empfehlungen ausgesprochen, verfestigte aus der Psychologie; wir wenden das hier nur nicht an. Einstellungen und Kurzsichtigkeit gegenüber rechtsex- (B) tremen und rassistischen Gewalttätern bei Polizei und (Zuruf des Abg. Clemens Binninger [CDU/ (D) Gerichten zurückzudrängen. CSU]) Rechtlich wurde auch einiges gemacht. Es wurden Wenn wirklich Vorurteile und verzerrte Wahrnehmun- „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschen- gen bei der Polizei abgebaut werden sollen, dann reichen verachtende“ Beweggründe und Ziele von Gewalttaten Empfehlungen nicht, dann liegt sehr viel Arbeit vor uns. ausdrücklich in den Katalog der Strafzumessungsumstän- de aufgenommen. Diese sollen von Staatsanwaltschaft (Beifall bei der LINKEN) und Gericht strafverschärfend berücksichtigt werden. Ein parlamentarischer Polizeibeauftragter könnte, neben- (Beifall der Abg. Susann Rüthrich [SPD]) bei bemerkt, als Frühwarnsystem gegen solche Entwick- lungen durchaus wirksam sein. Einseitige Wahrnehmung Doch was, Herr Schuster, sind solche Empfehlungen entsteht nun einmal durch subjektive Wahrnehmungen wert, wenn es keinen Mentalitätswechsel bei den staat- im Dienstalltag. Dem muss entgegengewirkt werden, um lichen Strukturen gibt? Empfehlungen alleine reichen wiederkehrende Schieflagen bei der Einschätzung rechts- eben nicht; extremer Straftaten zu beseitigen. (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) Es ist falsch, wenn Innenminister de Maizière auf die Petra Pau hat das in ihrer Rede bereits angesprochen. Aufforderung der Gewerkschaft der Polizei nach mehr politischer Bildung in der Bundespolizei antwortet, po- Als Kriminalbeamter aus Thüringen schaue ich natür- litische Bildung sei Privatpflicht der Beamten und nicht lich ganz besonders auf die Polizei. Ich erinnere mich mit von der Polizei zu leisten. Hier ist der Dienstherr gefragt, Unbehagen an ein konkretes Beispiel aus dem jetzigen meine Damen und Herren, und damit auch wir. Untersuchungsausschuss. Ich wohne nun einmal in der Nähe von Zwickau, also der Stadt, in der das Mordtrio so Danke schön. viele Jahre, völlig unbehelligt von den staatlichen Struk- turen, untertauchen konnte, und ich weiß als Beobach- (Beifall bei der LINKEN) ter von einer ausgeprägten rechtsextremen Szene, von Nazikonzerten, von einem rechten Hooliganmilieu. Wir Vizepräsident Johannes Singhammer: durften eigentlich erwarten, dass bei verantwortungs- Als Nächstes spricht die Kollegin Susann Rüthrich für voller Problemanalyse ganz besonders der zuständige die SPD. Dienststellenleiter der Kriminalpolizei diesen Schwer- punkt kennt und beachtet. Mein Erstaunen war vor we- (Beifall bei der SPD) 20030 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

(A) Susann Rüthrich (SPD): Gewalt können sich an Opferberatungen wenden. Damit (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und wurden unverzichtbare Strukturen geschaffen, um nach Kollegen! Die rechtsextreme Terrorgruppe NSU hat zehn einem Angriff handlungsfähig zu sein. Zum Glück wird Menschen umgebracht, mit Bomben Menschen verletzt der Wert all dieses Engagements zunehmend verstanden und Banken überfallen. Davon wissen wir jetzt genau seit und anerkannt. Wir sagen dafür Danke. fünf Jahren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Aber sind das alte Geschichten? Na ja, eher nicht. Es ten der LINKEN und der Abg. Monika Lazar gab über 800 Angriffe allein in diesem Jahr. Es wird im [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Moment Anklage gegen eine mutmaßliche Terrorgruppe Demokratieförderprogramme gehören deswegen auch aus Freital erhoben, die rassistische Überfälle umgesetzt, für uns mittlerweile zum Repertoire, um gegen men- politische Gegner angegriffen, Angst verbreitet hat. Mit- schenverachtende Gewalt vorzugehen. Das ist selbstver- glieder der Gruppe Oldschool Society sind angeklagt. ständlich. Wir werden die Mittel allein für das Programm Sie haben Angriffe auf Kirchen, Kindergärten und Ein- „Demokratie leben!“ in diesem Jahr von 50 Millionen richtungen für Menschen mit Behinderungen geplant. Euro auf 100 Millionen Euro verdoppeln. Damit ist eine Diese Angriffe wollten sie Musliminnen und Muslimen wesentliche Forderung aus dem NSU-Abschlussbericht und politischen Gegnern in die Schuhe schieben, um ei- erfüllt. Das ist auch nötig; denn wir wissen mittlerwei- nen Krieg in Deutschland anzustacheln. Diese Gruppen le, was funktionieren kann. Vieles ist vor Ort entstanden. konnten Gott sei Dank daran gehindert werden, Men- Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass das, was in Kom- schen zu töten. Ist das ein Beleg dafür, dass wir aus den mune A funktioniert, auch in die Gemeinde B übertragen Fehlern im Zusammenhang mit dem NSU gelernt haben? werden kann, und zwar ohne dass Kommune A aus der Reagieren unsere Behörden schneller? Ich will es hoffen. Förderung fällt, weil kein Geld mehr da ist. Außerdem Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt bei sind die Bedrohungen der Demokratie vielfältig, und mir ein flaues Gefühl. Wie würden wir reagieren, wenn neue Phänomene entstehen. Darauf müssen wir reagie- diese Taten nicht von rechten Menschenfeinden geplant ren können, und zwar nicht auf Kosten des Bewährten. worden wären, sondern etwa von Islamisten? Wie wür- Viele der Träger klagen seit Jahren darüber, dass eine den wir reagieren, wären Kirchen oder Kindergärten von Daueraufgabe in zeitlich begrenzte Projekte gepresst denen bedroht worden, wären Bomben in Freital vom IS werden muss. Beratungsarbeit, Bildungsarbeit, Demo- gelegt worden, wären in diesem Jahr 800 weiße Deut- kratieentwicklung, Radikalisierungsprävention – das sche aus Hass angegriffen worden? Meine Vermutung alles ist Beziehungsarbeit. Vertrauen zwischen den Men- ist: Dieses Land würde kopfstehen, und zwar völlig zu schen und zwischen den Gruppen muss wachsen können. Recht. Das wäre in Politik und Medien das Topthema. (B) Daueraufgaben müssen daher dauerhaft gefördert wer- (D) Wir würden es als das erkennen und benennen, was es den. ist: als Terror. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieser rechte Terror sendet eine Botschaft an die eh schon oft an den Rand gedrängten Gruppen: Ihr seid hier Der nächste Schritt muss also noch in dieser Le- nicht sicher. Geht! – Aber wir fühlen uns viel zu oft nicht gislaturperiode eine gesetzliche Lösung sein: ein De- angegriffen, sondern das sind Menschen, die zu viele von mokratiefördergesetz. Das haben wir einstimmig im uns für „andere“ halten. Genau das ist das Problem. NSU-Abschlussbericht bestätigt, und das steht auch im Koalitionsvertrag. Also machen wir das jetzt bitte auch. Die Taten des NSU können wir nicht rückgängig ma- chen. Wir können die Toten nicht lebendig machen, ge- Ein weiterer Punkt wurde am Fall NSU deutlich, und nauso wenig wie die vielen anderen Opfer rechtsextremer er ist bis heute problematisch. Es geht mir um die Op- Gewalt. Was wir aber den Opfern, den Angehörigen und fer und Betroffenen von rassistischer Gewalt nach einem Freunden schuldig sind, ist, aus den Taten zu lernen. Wir Angriff. Viele Punkte im Abschlussbericht beziehen sich mögen seit der Selbstenttarnung des NSU aufmerksamer auf einen angemesseneren Umgang mit den Opfern und geworden sein und vieles verändert haben, wir mögen Hinterbliebenen. Eines aber bleibt offen – das wurde im auch vieles aufgeklärt haben: Aber haben wir bereits ge- Gesetzentwurf der Linksfraktion erwähnt –: die Frage, nug getan? Ich denke: nein. ob die Menschen, die angegriffen wurden, oder die Hin- terbliebenen, wenn es denn zum Strafprozess kommt, Ich nenne zwei Bereiche, in denen ich noch Hand- überhaupt noch in unserem Land sind, überhaupt noch lungsbedarf sehe. Zum einen sehe ich ihn bei der Stär- hierbleiben dürfen. Es geht also um die Frage, ob ein kung der Zivilgesellschaft; dies ist eine der Handlungs- Heilen der oftmals auch unsichtbaren Wunden überhaupt empfehlungen. Denn was den NSU zu einer solchen möglich ist, wenn die Bleibeperspektive unsicher ist. Das Tragödie gemacht hat, ist aus meiner Sicht, dass nicht ist tatsächlich ein Problem. Zum Teil wird die Bleibeper- nur die Behörden versagt haben, sondern wir alle. Die spektive genau durch den Angriff erst genommen. Wenn dafür nötige Haltung, um es zu erkennen, ist zu ändern. etwa eine eigenständige Existenzgrundlage Vorausset- Dies fördern viele Vereine, viele Initiativen, viele Or- zung für ein Bleiberecht ist und genau diese durch den ganisationen mit seit Jahren wirksamer Aufklärung und Angriff zerstört wurde, dann drängen wir Opfer leider Bildung quer durch die Republik. Betroffene rechter wieder an den Rand. Wie oft geschieht das, ohne dass Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20031

Susann Rüthrich (A) eine so engagierte Ombudsfrau wie Frau John im Fall der Susann Rüthrich (SPD): (C) NSU-Hinterbliebenen darauf hinweisen kann? Solange sich nicht alle Menschen durch Gesetze und Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene Strukturen gleich geschützt fühlen, müssen wir weiter rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt macht vermuten, dass es institutionellen Rassismus gibt. in einem Papier, das mich gestern erreicht hat, auf ge- nau diese Frage der Bleibeperspektive aufmerksam. All- Liebe Kolleginnen und Kollegen, denen, die ich ges- zu oft sind diejenigen, die in einem Strafprozess gegen tern im Untersuchungsausschuss gesehen habe, muss ich einen rassistisch motivierten Täter aussagen könnten, nicht erklären, warum ich das so betone: Unsere Aufgabe zum Zeitpunkt des Prozesses bereits zur „freiwilligen“ ist es, nicht nur staatliche Institutionen zu schützen, son- Ausreise bewegt oder abgeschoben worden. Die strafpro- dern Menschen. zessualen Rechte der Betroffenen können so nicht mehr verwirklicht werden. Die Verurteilung des Täters wird Vielen Dank. massiv beeinträchtigt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich weiß nicht, ob dieses Problem über das Aufent- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- haltsrecht zu lösen ist, wie Sie es vorschlagen. Straf- NISSES 90/DIE GRÜNEN) rechtliche Probleme über das Aufenthaltsrecht zu lösen, erscheint mir zumindest fragwürdig. Man kann die Situ- Vizepräsident Johannes Singhammer: ation aber auch nicht so belassen, wie sie ist. Es geht da- rum, Schlagkraft durch die so oft erwähnte ganze Härte Als Nächste spricht die Kollegin Monika Lazar für die des Rechtsstaates gegen die Täter zu entfalten. Deswe- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. gen brauchen wir mindestens eine Regelung, die Opfern rechter Gewalt zusichert, dass sie während des laufenden Strafverfahrens hierbleiben können. Es muss das klare Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Signal an Täter und potenzielle Täter geben: Ihr erreicht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! euer Ziel nicht! Eure Gewalt wird bestraft! Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU sind noch immer viele Fragen unbeantwortet. Wurde seitdem genü- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie gend dafür getan, um rechten Terror künftig zu verhin- der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE dern? Was hat sich seitdem in den Behörden und unserer GRÜNEN]) Gesellschaft verändert?

(B) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn bereits Positiv ist, dass die Sensibilität für rechte Gewalt an (D) viel erreicht wurde, haben wir noch viel zu tun. Immer vielen Stellen gewachsen ist. Die mediale Berichterstat- noch werden Menschen wie ich am Bahnhof so gut wie tung über Rassismus und Gewalt erfolgt kontinuierlicher nie kontrolliert, Menschen mit dunklem Bart oder Kopf- als noch vor einigen Jahren. Strukturen gegen rechts tuch aber schon eher. Dieses Racial Profiling ist nicht werden solider gefördert, auch wenn im Detail weiterhin in Ordnung. Immer noch wird bei Hakenkreuzschmie- Luft nach oben ist. Dennoch ist die Gefahr nicht gebannt. rereien, zum Beispiel bei einem Angriff auf ein Bürger- Im Gegenteil: Die aktuellen Entwicklungen geben An- büro, nach einem Beleg für eine rechtsmotivierte Straftat lass zur Sorge. gesucht, als wenn nicht die Tat an sich das Bekenntnis wäre. Immer noch werden Menschen, die angegriffen 2015 stieg die Zahl rechter Gewalttaten laut BKA um wurden, im Anschluss gefragt, wie sie die Nazis denn mehr als 44 Prozent auf 1 485 Fälle. Die Dunkelziffer ist provoziert hätten, worauf sie sie angegriffen haben. Teil- höher, wie Erhebungen aus der Zivilgesellschaft belegen. weise werden Jugendliche, die sich zum Zwecke der Ge- Neonazis schlagen immer brutaler zu. Bis Anfang Okto- walt zusammentun, auch als eventorientierte Jugendliche ber dieses Jahres gab es bereits elf versuchte Tötungs- bezeichnet. delikte und damit vier mehr als im gesamten Jahr 2015. (Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mehrere Delikte richteten sich gegen Geflüchtete und NEN]: „Abenteuerlust“, wie wir gestern ge- Migranten, die zu den Hauptzielen rechter Attacken ge- hört haben!) hören.

Nein, es ist nicht erst dann jemand wirklich rechts, Die Brutalisierung und Häufung rassistischer Gewalt wenn er den Staat angreift. Nazis und Rassisten grei- kommt aus einer Gesellschaft heraus, in der die Abwer- fen Menschen an. Deren Würde ist durch Artikel 1 des tung bestimmter Menschengruppen zunehmend salon- Grundgesetzes geschützt. Da sie geschützt ist, müssen fähig erscheint. Im Juni wurden mit der aktuellen „Mit- wir jeden einzelnen Menschen gleich schützen. te“-Studie wieder alarmierende Ergebnisse präsentiert. Demnach hat eine deutliche Radikalisierung stattgefun- den, vor allem in Bezug auf Asylsuchende, Muslime Vizepräsident Johannes Singhammer: sowie Sinti und Roma. Ein zentraler Befund der Studie Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Redezeit. ist die enthemmte Gewalt in den zu Rechtsextremismus neigenden Milieus. Diese haben in AfD und Pegida eine (Frank Tempel [DIE LINKE]: Sie ist gut! Sie politische Heimat gefunden, sodass sie massiver und or- kann noch ein bisschen!) ganisierter auftreten können. 20032 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Monika Lazar (A) Wenn rechter Terror künftig verhindert werden soll, Der Ausgangspunkt ist die Fassungslosigkeit und das (C) müssen rechtsstaatliche Möglichkeiten konsequent aus- Entsetzen des Staates, aber auch der Zivilgesellschaft geschöpft werden. über diese beispiellose Mordserie. Die Aufklärung hat zwei wichtige Komponenten: Wir müssen und sollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wissen, was passiert ist, nicht im Sinne einer historisch sowie bei Abgeordneten der SPD und der richtigen Geschichtsschreibung, sondern wir sind es den LINKEN) Opfern und ihren Angehörigen schuldig, dass sie wissen, Ebenso brauchen wir wirksame Maßnahmen zum Schutz warum sie Opfer geworden sind und was die Beweggrün- der Menschengruppen, die besonders von Abwertung de für diese Taten waren. Aber der Staat hat auch zu ler- betroffen sind. Ein strukturierter Dialog zwischen staat- nen, damit er zukünftig Gefahren besser erkennen kann lichen Behörden und zivilgesellschaftlichen Initiativen und durch diese Erkenntnis der Gefahren neue Mordse- zur Bekämpfung von Rassismus und Gewalt gehört zu rien möglicherweise verhindern kann. Das ist unser Auf- den Maßnahmen, die die Bundesregierung fördern sollte. trag. Aber es gehört auch unsere gesamte Gesellschaft in den Wo stehen wir heute? Wir haben einen Blick auf die Blick. Rassistischer Hass und Gewalt gehen uns alle an, gesamtstaatliche Aufklärungsarbeit zu werfen. In Mün- nicht nur die direkt davon Betroffenen. chen geht der NSU-Prozess mittlerweile über 300 Ver- Die diesjährige Friedenspreisträgerin des Deutschen handlungstage. Insgesamt zwölf Parlamentarische Un- Buchhandels Carolin Emcke sagte darüber in ihrer Dan- tersuchungsausschüsse in sieben Ländern und zwei im kesrede – ich zitiere –: Bund haben zur Aufklärung beigetragen. Ich will heute aber auch nicht verschweigen, dass es eine große gesell- Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nicht schaftliche Beschäftigung mit dem Thema NSU gibt: im nur diejenigen, die er sich zum Opfer sucht, sondern Bereich Kunst und Kultur, durch Filme und Theaterstü- alle, die in einer offenen, demokratischen Gesell- cke, aber auch durch das Engagement der Bürgergesell- schaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen, schaft. Auch das sollten wir an dieser Stelle würdigen. Reinen, Völkischen verengt die Welt. … Es versieht Bürger des ganzen Landes fragen sich, wie das passieren die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziatio- konnte. nen und die anderen mit abwertenden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wer in einer so engen Gesellschaft nicht leben will, muss der SPD) aktiv gegensteuern. Wir haben uns die Frage zu stellen, wie weit wir ge- Um Taten wie die des NSU zu verhindern, muss viel kommen sind. Der Blick geht dabei zunächst auf die (B) getan werden; aber es genügen nicht Überwachung und Empfehlungen des ersten Untersuchungsausschusses des (D) Repression. Notwendig sind außerdem die Stärkung der Deutschen Bundestages. Dieser hat insgesamt 47 Emp- zivilgesellschaftlichen Kräfte, die eindeutige Distanzie- fehlungen abgegeben. Die Empfehlungen sind breit ge- rung von rechtspopulistischen Diskursen sowie eine le- fächert. Sie betreffen Fragen der Sensibilisierung der Be- bensnahe Vermittlung unserer demokratischen Werte und hörden für rassistische und rechtsextremistische Gewalt. politischer Bildung. Es geht um Fragen des Datenaustausches, um stärkere Befugnisse und, ja, auch um die Änderung unseres Straf- Danke. rechts. Wir haben heute festzustellen – darauf kann dieser Bundestag stolz sein –, dass praktisch alle Empfehlungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN umgesetzt sind. und bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) Vizepräsident Johannes Singhammer: Ich möchte auch Dankeschön für die vorbildliche Ein- Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, wie wir haltung der Redezeit sagen. zu der tatsächlichen Aufklärung stehen. Ja, es sind noch Fragen offen. Wir haben bislang nicht auf alle Vorkomm- Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der nisse Antworten gefunden, die uns zufriedenstellen. Aber Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU. möglicherweise müssen wir auch akzeptieren – selbst (Beifall bei der CDU/CSU) wenn wir es nicht akzeptieren wollen, weil wir innerlich dagegen sind –, dass vielleicht manche Fragen ungeklärt bleiben werden, weil es nicht mehr menschenmöglich Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): ist, sie aufzuklären. Trotzdem kann ich heute sagen: Was Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und dieser Staat an Aufklärung geleistet hat, das ist historisch Herren! Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU und beispiellos. Diese Aufklärung beweist eine starke in- haben wir heute eine gute Gelegenheit, über die Aufar- nere Kraft unseres Staates, daraus zu lernen und es für beitung und die Konsequenzen dieser Mordserie zu spre- die Zukunft besser zu machen. chen. Die Kernfrage ist, ob der Rechtsstaat, dem wir in (Beifall bei der CDU/CSU) diesem Lande den Begriff „wehrhafter Rechtsstaat“ zu- billigen, sich als wehrhaft und lernend erwiesen hat. Die Wir benötigen auch weiterhin eine wehrhafte Demo- Frage ist also: Haben wir das Versprechen dieses Staates, kratie und einen starken Rechtsstaat; denn die Feinde un- zur Aufklärung beizutragen, eingehalten oder nicht? serer Verfassung und eines friedlichen Zusammenlebens, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20033

Dr. Volker Ullrich (A) die Feinde desjenigen, der anders aussieht oder eine ande- gen das abschafft, für die Sicherheit der Thü- (C) re Herkunft hat, und die, die nicht akzeptieren möchten, ringerinnen und Thüringer! Unmöglich, was wie wir leben, werden sicherlich nicht ruhen. Deswegen Sie da machen!) muss dieser Staat konsequent gegen Verfassungsfeinde jeglicher Couleur vorgehen: gegen Rechtsextremisten, Linksextremisten und gegen den islamistischen Terror. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Dafür brauchen wir die entsprechenden Handlungsmög- Herr Kollege Tempel, es ist gar keine Frage, dass im lichkeiten des Staates. Umfeld der Terrorzelle NSU zahlreiche V-Leute und Wir brauchen weiterhin einen starken Verfassungs- auch ihre V-Leute-Führung schwere Fehler gemacht ha- schutz, und wir brauchen auch V-Leute in einem rich- ben. Diese schweren Fehler hat der erste Untersuchungs- tigen rechtlichen Rahmen, damit wir erkennen können, ausschuss aufgedeckt. Bei diesen Verfehlungen sind wir was passiert. Wer V-Leute abschaffen möchte und den im zweiten Untersuchungsausschuss auch nicht stehen Verfassungsschutz schwächt, der wird am Ende des Ta- geblieben. Aber das Versagen Einzelner und fehlerhafte ges auch dieses Land und seine Wehrhaftigkeit schwä- Zusammenarbeit zwischen Behörden können nicht da- chen. Das können wir nicht zulassen. rüber hinwegtäuschen, dass wir insgesamt zur Aufrecht- erhaltung der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie dieses (Beifall bei der CDU/CSU) Instrument brauchen. V-Leute sind kein Selbstzweck. Vielmehr brauchen wir sie, damit wir Einblick in gefähr- Vizepräsident Johannes Singhammer: liche Strukturen haben, in den rechtsterroristischen und Herr Kollege Dr. Ullrich, gestatten Sie eine Zwischen- den linksterroristischen Bereich, aber auch in den Be- frage des Kollegen Tempel? reich des islamistischen Terrors. Ohne V-Leute wären wir weniger wehrhaft. Deswegen hat der Bundestag, Herr Kollege Tempel, im letzten Jahr mit großer Mehrheit (CDU/CSU): Dr. Volker Ullrich eine Reform des Bundesamtes für Verfassungsschutz be- Bitte. schlossen und hat als Konsequenz aus dieser Mordserie und den Untersuchungsausschüssen wesentlich stärkere Frank Tempel (DIE LINKE): Restriktionen für V-Leute erlassen. Diese Beschränkun- Herr Dr. Volker Ullrich, vorhin hat der Kollege gen funktionieren in der Praxis. Schuster gesagt, dass die Kollegin Pau hier teilweise an- ders spricht als im Untersuchungsausschuss. Bei Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU – Frank Tempel habe ich den Eindruck, dass Sie da komplett durchschla- [DIE LINKE]: Tino Brandt wird in Thürin- (B) fen. Das gilt für die Sitzung des Untersuchungsausschus- gen nicht mehr finanziert vom Staat, von der (D) ses gestern genauso wie für die ganze Historie. CDU! Die CDU hat Tino Brandt bezahlt! – Gegenruf des Abg. Tankred Schipanski [CDU/ Sie verteidigen den Einsatz von V-Leuten gerade in CSU]: Nein, das müssen Sie sich anhören, diesem Bereich. Gerade die VP-Führer des Verfassungs- Herr Tempel!) schutzes tun sich durchweg schwer, V-Leute überhaupt als Extremisten einzuschätzen. Da kommt etwa als De- Nicht nur der Staat ist gefragt, sich für unsere freiheit- finition, dass V-Leute, wenn sie mit den staatlichen Be- lich-demokratische Grundordnung einzusetzen. Vielmehr hörden zusammenarbeiten, gar keine Extremisten sein ist jeder gefragt, an einem aktiven Eintreten für die Werte können. Es wird von „guten Jungs“ gesprochen, die unseres Grundgesetzes, die körperliche Unversehrtheit, vielleicht etwas abenteuerlustig oder hibbelig sind. Wir die Würde des Menschen und die Freiheit des Einzelnen sehen aber im Gegensatz dazu, dass dort mit Menschen teilzunehmen. Wir müssen außerdem in Bezug auf die gearbeitet wurde, die ganze Paletten von Straftaten be- Sprache sensibel sein. Kritik ist erlaubt. Meinungsfrei- gangen haben und Gewalttäter waren, im Waffenhandel heit ist ein hohes Gut. Wir müssen aber verhindern, dass tätig waren oder im Bereich gewalttätiger politisch moti- die Verrohung der Sprache in der Gesellschaft weiter um vierter Straftaten aktiv waren. Das sind gerade die Leute, sich greift. Wir haben die Verpflichtung, uns dem entge- von denen Sie eben hervorgehoben haben, wie wichtig genzustellen. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber sie für das Sicherheitssystem sind. Wir vernehmen diese den Opfern und ihren Angehörigen. Leute im Untersuchungsausschuss, und Sie bekommen dort dieselben Antworten wie wir. Das sind die Leute, Abschließend möchte ich zum Ausdruck bringen, dass die uns eine Gefahrenanalyse geben sollen und die die wir uns, obwohl die unternommene Aufarbeitung noch rechtsextremen Strukturen aufklären und in ihrer Gefähr- nicht zu Ende ist, auf einem guten Weg befinden. Ich bit- lichkeit einschätzen sollen. te diejenigen, die sich mit diesem Thema befassen, und Wenn Sie genauso wie wir die Antworten von diesen die Angehörigen der Opfer, uns abzunehmen, dass unsere Personen und von den Beamten des Verfassungsschutzes Haltung zu Aufklärung und Aufarbeitung als das gewer- im Untersuchungsausschuss hören, wie können Sie dann tet werden kann, was sie ist, nämlich ein wichtiger Bei- ernsthaft den Einsatz der V-Leute und dieses System trag, um unsere Verfassungsordnung, die Freiheit und die rechtfertigen? Würde des Menschen noch stärker zu machen. (Beifall bei der LINKEN – Tankred Schipanski Vielen Dank. [CDU/CSU]: Natürlich! Das muss er rechtfer- tigen! Das ist ja schlimm genug, dass Thürin- (Beifall bei der CDU/CSU) 20034 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

(A) Vizepräsident Johannes Singhammer: Genau das wird uns fälschlicherweise vorgeworfen im (C) Damit schließe ich die Aussprache. Zusammenhang mit den Regelungen zu Sozialleistungen für Bürgerinnen und Bürger aus anderen EU-Staaten, die Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- wir heute debattieren. Aber gerade das tun wir nicht, lie- tion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur be Kollegen und Kolleginnen. Im Gegenteil: Wir setzen Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Aufenthaltsrecht für auf Europa. Wir wollen, dass wir gemeinsam in Euro- Opfer rechter Gewalt. Der Innenausschuss empfiehlt in pa zu Problemlösungen kommen, die für alle tragen. Es seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10288, geht uns um die Stärkung der europäischen Idee. Dieses den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Druck- Ziel erreichen wir aber nur, indem wir die Akzeptanz der sache 18/2492 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die Arbeitnehmerfreizügigkeit als eine der fundamentalen dem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zustimmen Grundlagen der Europäischen Union schützen, und dazu wollen, jetzt um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- dient die Klarstellung des Zusammenhangs von Arbeit- gen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. nehmerfreizügigkeit einerseits und Ansprüchen auf Sozi- Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den alleistungen andererseits. Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ab- Ich will hier noch einmal betonen: Durch das geplan- gelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung te Gesetz bekräftigen wir die Intention des europäischen die weitere Beratung. Gesetzgebers. Er stellt nämlich einen unmittelbaren Zu- sammenhang zwischen Arbeitnehmerfreizügigkeit und Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39: Sozialleistungsansprüchen her. Die Kehrseite ist – darum geht es hier –, dass klar sein muss, dass Personen, die Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- kein Freizügigkeitsrecht und kein Aufenthaltsrecht auf- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege- grund der Freizügigkeitsrichtlinie haben, diese Ansprü- lung von Ansprüchen ausländischer Personen che gegenüber dem deutschen Sozialstaat nicht haben. in der Grundsicherung für Arbeitsuchende Gleichzeitig verlieren wir aber nicht aus dem Blick, wa- nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und rum Menschen aus anderen EU-Staaten nach Deutsch- in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch So- land kommen. zialgesetzbuch Drucksache 18/10211 Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frieden und Wohl- stand sollte Europa bringen. Vor allen Dingen im Süden Überweisungsvorschlag: des Kontinents, aber nicht nur dort sehen wir, dass das Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Wohlstandsversprechen Europas brüchig geworden ist. Innenausschuss (B) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Dieses Problem müssen wir angehen, gemeinsam in Eu- (D) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ropa. Dafür brauchen wir Handlungsfähigkeit, und zwar Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union dort, wo die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag be- troffen sind. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Widerspruch Wir müssen zum einen glaubhaft und erfahrbar ma- wird dagegen nicht erhoben. Dann ist das beschlossen. chen, dass sich die Gemeinschaft als soziale Wertege- meinschaft versteht und nicht als bloße Wirtschaftsge- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- meinschaft. nerin für die Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin Anette Kramme das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU) Von der Politik der vergangenen Jahre haben eben nicht Anette Kramme, Parl. Staatssekretärin bei der Bun- alle Menschen in Europa profitiert. Die Verbesserung so- desministerin für Arbeit und Soziales: zialer Standards stand ebenfalls nicht oben auf der Prio- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ritätenliste. Die schwierige soziale Lage in einigen Mit- Kollegen! Wir leben in besorgniserregenden Zeiten. Po- gliedstaaten verschärft die Armutsmigration innerhalb litiker mit nationalistischen Parolen erhalten Zulauf, und Europas, und diese greift die Solidaritätsbereitschaft der Institutionen wie die Europäische Union, die für Völker- Zielländer an. Dem steuern wir mit unserem Gesetzent- verständigung und für internationale Kooperation stehen, wurf entgegen, indem wir klarstellen: Wer kommt, um sind schwer unter Beschuss geraten. Deshalb gilt jetzt hier zu arbeiten, genießt selbstverständlich die Arbeit- mehr als jemals zuvor: Wir dürfen uns nicht aus Europa nehmerfreizügigkeit in Europa, mit den daraus folgenden zurückziehen. Wir dürfen nicht zurückfallen in Abschot- Ansprüchen an Sozialversicherung und Sozialstaat. Wer tung und Kleinstaaterei; denn der Rückzug auf das Natio- dagegen nur kommt, um hier höhere Sozialleistungen als nale befördert Europa- und Ausländerfeindlichkeit. in einem anderen Staat zu erhalten, der hat keinen An- spruch darauf; denn die Antwort auf soziale Probleme (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in Europa kann nicht mehr Armutsmigration sein. Dafür der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Strengmann- dürfen wir keine Anreize setzen. Das Ziel muss doch eine Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Neh- Anpassung der sozialen Mindeststandards nach oben men Sie jetzt Ihren Gesetzentwurf zurück? sein. Für den Aufbau einer europäischen Säule sozialer Das finde ich aber gut!) Rechte, die ihren Namen verdient, lohnt es sich, zu strei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20035

Parl. Staatssekretärin Anette Kramme (A) ten. Ich lade alle Kritiker ein, ihre Energie in den aktuel- mend genug. Schlimmer noch ist aber das Signal, das Sie (C) len Diskussionsprozess einzubringen. mit diesem Gesetz aussenden. Sie hauen damit genau in die Kerbe der Brexit-Befürworter in Großbritannien. Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bestätigen das Vorurteil, dass angeblich Hunderttausen- der CDU/CSU) de nach Deutschland kommen wollen, um hier Sozial- Ich bin überzeugt: Unsere Regelung dient dem sozi- leistungen abzukassieren. Sie bestätigen die verbreitete alen Fortschritt in Europa. Zugleich gibt sie den Kom- Wahrnehmung, dass die europäische Einigung im Inte- munen Klarheit und Rechtssicherheit, und sie stärkt die resse der Unternehmen vorangetrieben wird. Aber wenn Akzeptanz für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa. es um die kleinen Leute geht, die sich dort auf die Su- che nach Arbeit machen wollen, wo es wirtschaftlich gut Vielen Dank. läuft, dann ist Schluss mit der europäischen Idee. Dann (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zählen auf einmal wieder nationale Interessen. Die Brexit-Befürworter in Großbritannien haben ih- Vizepräsident Johannes Singhammer: ren Solidaritätsschein für Europa verbrannt. Mit diesem Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Gesetz gießen Sie Benzin in das gleiche Feuer. Das darf Zimmermann, Fraktion Die Linke. doch wohl nicht wahr sein. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Wachen Sie endlich auf! Stellen Sie sich den sozialen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Verpflichtungen, die ein zukunftsfähiges Europa mit sich Kollegen! Wenn das Bundessozialgericht urteilt, dass bringt! EU-Bürgerinnen und -Bürger Anspruch auf Sozialleis- Das menschenwürdige Existenzminimum ist im tungen haben, dann geht die Bundesregierung nicht etwa Grundgesetz festgeschrieben. daran, dieses höchstrichterliche Urteil umzusetzen. Nein, Sie machen sich das ganz einfach: Sie verändern die (Dagmar Ziegler [SPD]: Aber nicht für die Rechtslage. Ich frage Sie: Mit welchem Ziel? Doch ganz ganze Welt!) ausdrücklich mit dem Ziel, dass EU-Bürgerinnen und – Ich bin ja auch noch gar nicht fertig. – Es gilt für deut- -Bürger Deutschland wieder verlassen, wenn sie hier in sche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und ebenso für finanzielle Nöte geraten. Ich sage Ihnen: Das ist unsozial. ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die hier in Deutschland leben. Darüber sind wir alle uns doch wohl (B) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (D) NIS 90/DIE GRÜNEN) einig. Das heißt, das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Mit Ihrem Gesetz schließen Sie Tausende von EU-Bür- Existenzminimum wird geopfert. Frau Nahles macht den gerinnen und -Bürgern von jeder öffentlichen Hilfe aus. Seehofer und denkt, so bekommt sie die Wählerinnen Diese EU-Bürger leben bereits hier. Sie leben hier, weil und Wähler wieder zurück. sie in ihren Heimatländern keine Perspektive für sich und ihre Familien sehen. Diese Menschen werden aber auch (Widerspruch bei der SPD) nicht einfach abreisen, wie Sie es wollen. Wo sollen sie Ich sage Ihnen: Das funktioniert nicht. denn auch hin? Wenn Sie den Menschen alle Möglich- keiten und Perspektiven rauben, verrohen sie irgendwann (Beifall bei der LINKEN) und resignieren. Ich weiß nicht, ob Sie es merken: In die- Vor einigen Jahren hatte das Bundesverfassungsge- sem Klima sind wir schon längst angekommen. Auch die richt zum Asylbewerberleistungsgesetz zu urteilen. Folgen spüren wir. Wir spüren sie immer mehr und tag- täglich. Ich frage Sie: Können Sie das noch länger ver- (Katja Mast [SPD]: Peinlich!) antworten? – Hören Sie mir doch zu! Dann können Sie vielleicht (Beifall bei der LINKEN) noch etwas lernen. – Damals sprach der Verfassungsrich- ter Ferdinand Kirchhof die denkwürdigen Worte an die Die Kommunen haben zu Recht darauf hingewiesen, Bundesregierung: welche Kosten durch das BSG-Urteil auf sie zukämen. Viele Kommunen stehen finanziell bereits mit dem Rü- Das Motto, ein bisschen hungern, dann gehen die cken an der Wand. Das ist ein Problem, das wir alle ken- schon, könne es doch wohl nicht sein. nen. Die Linke fordert: Die Gemeinden müssen endlich Aber genau diesem Motto folgen Sie in dem vorliegen- wieder genug Mittel an die Hand bekommen, damit sie den Gesetzentwurf ein weiteres Mal. Unsozialer geht es ihren Aufgaben wieder nachkommen können. wirklich nicht, meine Damen und Herren! (Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Deswegen kriegen die auch eine Men- (Beifall bei der LINKEN) ge Geld vom Bund!) Wahrscheinlich müssen wir ein weiteres Mal damit Sie wissen doch, wie in diesen Bereichen gekürzt wird. rechnen, dass das Gesetz, das Sie jetzt entworfen haben, vor dem Bundesverfassungsgericht oder sogar vor dem Mit Ihrem Gesetzentwurf nehmen Sie den Auslän- Europäischen Gerichtshof landet. Das ist schon beschä- derfeinden und den Rechtspopulisten nicht den Wind 20036 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) aus den Segeln, sondern, im Gegenteil, verschärfen die keit einen wichtigen, einen ganz entscheidenden Beitrag (C) Schlagseite des europäischen Einigungsprozesses. Wa- zur wirtschaftlichen Dynamik, zur Entwicklung in unse- chen Sie endlich auf, ändern Sie den Kompass, oder Sie rem Land. fahren uns in einen Sturm hinein, in dem wir am Ende alle als Schiffbrüchige enden werden. (Beifall des Abg. Dr. Martin Rosemann [SPD])

Vizepräsident Johannes Singhammer: – Vielen Dank an die SPD! – Sie leisten damit einen Frau Kollegin Zimmermann, – Beitrag dazu, dass wir in der Bundesrepublik Deutsch- land heute eine Rekordbeschäftigung haben. In meinem Bundesland Berlin sind insgesamt 73 000 EU-Ausländer Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie werden vor Meine Damen und Herren, sozial geht anders. allen Dingen im Bereich der Kreativwirtschaft, in den Start-ups gebraucht und leisten hier ihren Beitrag zur Vizepräsident Johannes Singhammer: wirtschaftlichen Entwicklung. – gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Es gibt aber noch eine andere Seite. Das ist der Grund, Weiler, bevor Ihre Redezeit zu Ende ist? warum wir dieses Gesetz in der Form heute hier diskutie- ren. Auch die Staatssekretärin hat sehr deutlich gemacht, Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): was die Beweggründe sind. Wir diskutieren es deswe- Er kann ja auch eine Kurzintervention machen. gen, weil es auch 440 000 EU-Ausländer gibt, die über Hartz IV, über aufstockenden Leistungen, Sozialleistun- gen in der Bundesrepublik Deutschland beziehen. Vizepräsident Johannes Singhammer: Sie gestatten also keine Zwischenfrage. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aufstockende Leistungen, das heißt: Sie arbeiten!) Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): Nein. Ich bin jetzt fertig. Es sind 46 000 Personen in meinem Bundesland Berlin. Daran sieht man, dass dieses Thema vor allen Dingen in (Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit bei der Ballungsgebieten eine große und bedeutende Rolle spielt. CDU/CSU und der SPD) Laut meiner Kollegin Jutta Eckenbach aus Essen, Ich will Ihnen nur noch einmal sagen: Sozial geht an- mit der ich mich zu diesem Thema auch intensiv ausge- ders, und sozial geht nur mit der Linken. (B) tauscht habe, gibt es auch dort Herausforderungen für die (D) Danke. Kommunen, die wir gemeinsam gestalten und meistern müssen. Das, was von Ihnen, Frau Zimmermann, ange- (Beifall bei der LINKEN – Dagmar Ziegler sprochen wurde, dass wir die Kommunen entlasten müs- [SPD]: Das wird immer kindischer!) sen, das machen wir mit diesem Gesetz.

Vizepräsident Johannes Singhammer: (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau! Das tun wir!) Dann kommen wir zum Kollegen Dr. Martin Pätzold, der als nächster Redner für die CDU/CSU spricht. Ein Viertel der Kosten, die da anfallen, werden bisher von den Kommunen getragen, und die werden in Zukunft (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nicht mehr anfallen. Ich sage Ihnen: Sie haben es richtig ordneten der SPD) angesprochen. Wir setzen es auch um.

Dr. Martin Pätzold (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Dagmar Ziegler [SPD]) und Herren! Die bisherige Debatte hat deutlich gemacht, In Berlin erleben wir, dass es in einigen Bezirken, dass es am Ende um die Frage geht, wie wir die soziale etwa in Neukölln oder Friedrichshain-Kreuzberg, zu ei- Waage in Europa gestalten, wie wir sie ausbalancieren. ner Ballung kommt, wodurch sich Probleme herausbil- Zur Freizügigkeit ist erst einmal festzustellen, dass sie den, die – das wurde von der Staatssekretärin angespro- eine große europäische Errungenschaft ist. chen – durchaus denen Raum geben, denen wir keinen Raum geben wollen. Deswegen müssen wir handeln, und (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE wir handeln an dieser Stelle auch sehr sachlich und sehr GRÜNEN]: Genau!) abgewogen. Wir werden noch im Laufe dieser Debatte, in einer Anhörung im Ausschuss und in der weiteren par- Es sind 4 Millionen EU-Ausländer, die sich in der Bun- lamentarischen Befassung herausarbeiten können, wen desrepublik Deutschland aufhalten. es an dieser Stelle betrifft und für welche Personen es (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE keine Änderungen gibt. GRÜNEN]: Das sollte man nicht aufs Spiel Wir sind auch deswegen zum Handeln gezwungen, setzen!) weil es diese beiden bekannten großen Fälle Alimano- Von diesen sind 1,68 Millionen sozialversicherungs- vic und Dano gibt, in denen der Europäische Gerichtshof pflichtig beschäftigt. Sie leisten mit ihrer Erwerbstätig- festgestellt hat, dass es richtig ist, von SGB-II-Leistun- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20037

Dr. Martin Pätzold (A) gen auszuschließen, dass es aber über einen verfestigten das ist eine richtige und gute Ableitung aus diesem Ge- (C) Aufenthalt dazu kommen kann und nach sechs Monaten setzesvorschlag. muss, dass die Kommunen unterstützen müssen, um das Wir freuen uns auf die Debatte und leisten damit un- Existenzminimum zu finanzieren. seren Beitrag dafür, dass Europa, so wie es die Staatsse- Deswegen regeln wir mit diesem Gesetzentwurf, dass kretärin gesagt hat, sozialer wird und die Regeln klarer Personen, die nur zur Arbeitssuche nach Deutschland werden. Wir lassen nicht zu, dass Populisten die Ober- kommen, in den ersten fünf Jahren von Sozialleistungen hand gewinnen. nach dem SGB II oder SGB XII ausgeschlossen werden. Vielen Dank. Das ist eine sehr vernünftige und abgewogene Entschei- dung, auch wenn man bedenkt, dass wir für diejenigen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- die schon da sind oder die mit großen Hoffnungen zu uns ordneten der SPD – Beate Müller-Gemmeke kommen, einmalige Überbrückungsleistungen festset- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Zahlen zen. dürfen hier nicht genannt werden!) Diese sehr soziale Gesetzgebung hat das Ziel, für den- jenigen kurzfristig, nämlich innerhalb von vier Wochen Vizepräsident Johannes Singhammer: und einmalig innerhalb von zwei Jahren, die Deckung Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bünd- der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesund- nis 90/Die Grünen, spricht als Nächster. heitspflege, die Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung sowie die Kosten für die notwendigen Arztbe- Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ handlungen zu übernehmen. Das Wichtigste ist, diesen DIE GRÜNEN): Menschen ein Darlehen zu geben, wenn es darum geht, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein in ihre Heimat zurückzugehen und sich wieder eine Per- soziales Europa ist dringender denn je notwendig. Der spektive aufzubauen. Ich glaube, dass der Gesetzentwurf, Zusammenhalt zwischen den Ländern und den Men- den wir machen, sehr sozial und abgewogen ist. Es ist schen in Europa ist gefährdet. Nach der Wahl in Amerika richtig, dass wir bestimmte Gruppen nicht einbeziehen. in dieser Woche ist es vielleicht noch wichtiger, die euro- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- päische Einheit zu stärken und das soziale Europa stark NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das alles müssen zu machen. aber die Kommunen bezahlen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich habe den Zwischenruf aus der Grünenfraktion von und bei der LINKEN) vorhin über die aufstockenden Leistungen vernommen. (B) Es ist wichtig, dass das nicht nur in Sonntagsreden (D) Wir ändern – das ist vollkommen richtig – an dieser Stel- und in Gastbeiträgen passiert, sondern dass dem auch Ta- le nichts, weil es eben darum geht, dass Personen, die als ten folgen. Es ist schon ziemlich scheinheilig, dass die Arbeitnehmer aus Europa, aus der Europäischen Union, Ministerin an dem Tag, an dem dieser Gesetzentwurf im vielleicht mit Familie, hierherkommen und arbeiten, wei- Bundeskabinett beschlossen wurde, einen Gastbeitrag terhin eine Unterstützung bekommen, wenn die Bezah- für die FAZ geschrieben hat, in dem sie für einen stärke- lung im Beruf nicht auskömmlich ist. ren sozialen Zusammenhalt in Europa plädiert hat; denn Worüber wir reden müssen – das sehen wir dezidiert dieser Gesetzentwurf ist das genaue Gegenteil. anders als der Koalitionspartner, da gibt es inhaltlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) durchaus andere Auffassungen –, ist die Frage: Wie geht man mit Selbstständigen um? Ich spreche von Selbststän- Er setzt europapolitisch ein völlig falsches Signal. Er ist digen, die aus Griechenland, Spanien oder Italien nach sozialpolitisch verfehlt, und er erschwert die notwendige Deutschland kommen, hier aufstockende Leistungen be- Integration vor Ort. Ausbaden vor Ort müssen das letzt- antragen und deren Gewinnabsicht nicht immer so klar endlich die Kommunen. Deswegen ist Ihr Vorschlag für ist. die Kommunen nur eine Scheinlösung. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Einig sind wir uns darin, dass es Handlungsbedarf NIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstständige arbei- gibt. Es gibt das Urteil des Bundessozialgerichts. Es stellt ten auch!) auch keine gute Lösung dar, weil es keine Rechtsklarheit schafft. Dafür sind wir als Gesetzgeber verantwortlich. Die Frage ist: Gibt es in diesem Sinne eine Selbstständig- Es ist auch keine Lösung, zu sagen: Die Menschen sollen, keit? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir noch um ihr Existenzminimum zu sichern, was ein Grundrecht viel stärker die Unterstützung der Behörden und auch die ist – da hat die Kollegin Zimmermann völlig recht –, So- Möglichkeit, zu überprüfen, ob eine Selbstständigkeit zialhilfe beziehen können. Sozialhilfe ist keine Leistung mit dem Ziel einer Gewinnabsicht vorliegt. für erwerbsfähige Menschen, und sie muss komplett von Abschließend die Frage: Warum machen wir diesen den Kommunen bezahlt werden. Das ist keine gute Lö- Gesetzentwurf? Erstens. Wir wollen unser Sozialsys- sung, da besteht Handlungsbedarf. tem vor Missbrauch schützen. Zweitens. Wir stellen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fest und klar – dabei geht es um Rechtssicherheit –, wer und bei der LINKEN) anspruchsberechtigt ist und wer vor allen Dingen nicht anspruchsberechtigt ist. Drittens. Es gilt dann nach fünf Es besteht aus einem zweiten Grund Handlungsbe- Jahren der Grundsatz „Fordern und Fördern“. Ich glaube, darf, nämlich aufgrund der sozialen Situation vor Ort. 20038 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) Mein Wahlkreis ist Offenbach. Offenbach ist die Stadt cherung der Freizügigkeit. Wir brauchen mehr und nicht (C) mit dem höchsten Anteil an Bulgaren und Rumänen weniger soziales Europa. in ganz Deutschland. Man kann bei mir vor Ort sehen, welche Folgen es hat, wenn Menschen keine soziale (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Absicherung haben. Von irgendetwas müssen sie leben. und bei der LINKEN – Dagmar Ziegler [SPD]: Sonst leben sie in teilweise unwürdigen Verhältnissen. In Und das ausschließlich in Deutschland, oder Frankfurt gibt es ein Zeltcamp, in dem fast slumartige wie?) Zustände herrschen. In Offenbach müssen manche Men- schen in Schrottimmobilien wohnen; andere suchen auf Vizepräsident Johannes Singhammer: anderen Wegen nach Geld, durch illegale Tätigkeiten wie Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt Schwarzarbeit oder schlimmere Aktivitäten. Wir brau- für die SPD. chen soziale Unterstützung, um den Menschen zu hel- fen, integriert zu werden. Sie dürfen nicht ausgegrenzt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden, sondern müssen möglichst schnell Teil dieser der CDU/CSU) Gesellschaft werden und eine echte Chance auf dem Ar- beitsmarkt bekommen. Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen NEN sowie der Abg. Sabine Zimmermann und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frei- [Zwickau] [DIE LINKE]) zügigkeit innerhalb der EU ist zunächst einmal daran ge- bunden, dass man seinen Lebensunterhalt selbstständig Unser Vorschlag, unsere Alternative ist: Weil wir dafür bestreiten kann und möchte, und das ist auch richtig so. sorgen müssen, dass die Menschen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen, sollten sie Leistungen nach (Beifall bei der SPD) dem Sozialgesetzbuch II, vulgo Hartz IV, bekommen. Sozialleistungen erhält dann, wer Rechte aus Arbeit und Denn dann hätten sie eine Unterstützung, was Sozialleis- aufgrund von Sozialbeiträgen erworben hat. Ich glau- tungen, finanzielle Leistungen und Arbeitsmarktintegra- be, so ist das Gerechtigkeitsempfinden der allermeisten tionsleistungen angeht. Wir sagen: Nach drei Monaten Menschen. Jeder und jede, egal aus welchem EU-Land, soll es die Möglichkeit geben, Hartz IV zu beantragen. der oder die in einem anderen Land arbeitet, sich für Wenn die Betroffenen wirklich nach Arbeit suchen und längere Zeit dort niederlässt und dort seinen oder ihren eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, dann müssen Beitrag leistet, muss die gleichen sozialen Rechte haben. sie unterstützt werden. Die Arbeitsnehmerfreizügigkeit ist eine der größten Er- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rungenschaften der EU. (D) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wir sagen auch, dass in Einzelfällen – aber nur in Dr. Martin Pätzold [CDU/CSU]) Einzelfällen –, wenn nachgewiesen wird, dass die Men- Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer noch – ob- schen gar nicht nach Arbeit suchen oder dass sie trotz wohl die Sensibilität für soziale Fragen in der EU zu- aller Bemühungen der Jobcenter keine Chance auf dem nimmt – ist das Wohlstandsgefälle sehr groß. Immer Arbeitsmarkt haben, die Leistung wieder entfallen kann, noch sind in verschiedenen Ländern die nationalen sozi- weil dann auch das Recht auf Freizügigkeit entfällt. Aber alen Sicherungssysteme unzureichend. Immer noch wer- dies soll im Einzelfall entschieden werden und nicht eine den Minderheitenrechte, zum Beispiel die der Sinti und pauschale Diskriminierung darstellen, wie Sie sie in Ih- Roma, nicht geachtet und vonseiten der EU mit zu wenig rem Gesetzentwurf vorsehen; auch das ist uns wichtig. Nachdruck durchgesetzt. Das führt zu Wanderungsbewe- Natürlich muss man auf EU-Ebene endlich dafür sor- gungen, nicht nur aufgrund von Arbeit und Arbeitssuche. gen, dass die Menschen nicht aus finanzieller Not zu uns kommen. Auch da – die Staatssekretärin hat das eben Der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschus- zwar erwähnt – fehlen noch Aktivitäten auf bundespoliti- ses „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der In- scher Ebene. Es gibt noch keine Stellungnahme der Bun- anspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch desregierung zur Säule sozialer Rechte. Hier müssen wir Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ – ein schöner Ti- aber ansetzen. Wir müssen eine Mindesteinkommens- tel – stellte fest: Die Zuwanderung aus anderen EU-Staa- richtlinie haben, damit es überall angemessene Grund- ten nach Deutschland hat zugenommen. Der sogenann- sicherungssysteme gibt und die Menschen überall in te Sozialmissbrauch ist aber gering. Ganz überwiegend Europa vor Armut geschützt werden. Wir brauchen auch profitieren wir von der Zuwanderung, müssen aber auch Mindeststandards bei den sozialen Sicherungssystemen, mit den sozialen Problemen und Spannungen umgehen, um zu verhindern, dass Menschen aus finanzieller Not wie sie in einigen Städten Deutschlands entstanden sind. auswandern und ihr Land verlassen. Wir haben damals die Unterstützung für diese Städte ver- stärkt. Das war auch gut so; denn Integration ist die beste (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Antwort auf Zuwanderung. Wenn die Menschen aber zu uns kommen, dann müs- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katharina sen wir sie unterstützen – und zwar besser als bisher – Landgraf [CDU/CSU] – Dr. Wolfgang und den pauschalen Ausschluss, den es jetzt im SGB II Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gibt, abschaffen. Wir brauchen eine bessere soziale Absi- NEN]: Dazu gehört auch die soziale Siche- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20039

Dagmar Schmidt (Wetzlar) (A) rung, sonst funktioniert das nicht mit der In- Meine sehr verehrten Damen und Herren – ich zitie- (C) tegration!) re –: „Wirbel um Sozialhilfe für EU-Bürger“ und „Seid umarmt, ihr Rumänen!“ Das waren einige Reaktionen Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns mit der Presse nach dem Urteil des Bundessozialgerichts dem Gesetzentwurf in einem Spannungsverhältnis zwi- Anfang Dezember 2015. Die Rechtsprechung des Bun- schen dem Recht auf Existenzsicherung für jeden Men- dessozialgerichts ist abenteuerlich. Sie besagt, dass jeder schen, der sich in Deutschland aufhält, und der Kontrolle EU-Ausländer sich Sozialleistungen ersitzen kann, er darüber, wer sich aus welchem Grund rechtmäßig oder muss bloß sechs Monate hier in Deutschland sein. nicht rechtmäßig bei uns aufhält. Ich bin dem Ministe- rium dankbar dafür, dass es gerade nach den verschie- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- denen Urteilen zu dieser Frage mit diesem Gesetz eine NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Grundge- Klarstellung herbeiführen möchte. setz! Das ist das deutsche Grundgesetz!) Dennoch bleiben für uns einige Fragen offen: Wie ge- Dieses sozialpolitische Ergebnis der Rechtsprechung nau und mit welchem Verfahren unterscheide ich Wande- ist nicht hinnehmbar. Deswegen korrigieren wir es. Es ist rung zur Arbeitssuche oder Wanderung allein zur Inan- auch nicht mit dem Grundgesetz kollidierend. Wir tun es spruchnahme von Sozialleistungen? deshalb, weil wir unsere Kommunen vor ungerechtfertig- ten Mehrbelastungen schützen wollen. Darüber bestand (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- auch recht schnell Einigkeit innerhalb der Koalition. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Dass es am Ende fast ein Jahr gedauert hat und es vor Wie gehen wir mit Härtefällen um? Was passiert zum der Kabinettsbefassung noch einmal zur Diskussion zwi- Beispiel, wenn sich eine Frau von ihrem Mann trennt schen dem Bundesarbeitsministerium und dem Bundes- oder trennen muss, aber beide noch keine fünf Jahre in innenministerium gekommen ist, zeigt, dass es zwischen Deutschland waren? Was ist zukünftig der Status ihrer Union und SPD durchaus noch Unterschiede gibt, mit Kinder, die hier in die Schule gehen oder eine Ausbil- welcher Intensität Armutszuwanderung in die sozialen dung machen? In welchem Verhältnis steht das Gesetz Sicherungssysteme wirksam begrenzt werden soll. zur EU-Verordnung zu Wanderarbeitern? Wie wirken Die Haltung der CSU-Landesgruppe und der Union sich Unterbrechungen des Aufenthalts auf die Fünfjah- war eindeutig. Wir setzen alles daran, die Einwanderung resfrist aus? in unsere Sozialsysteme zu verhindern. Jeder Missbrauch Es sind also noch einige Fragen offen, die wir im in diesem Bereich gefährdet die Akzeptanz der Freizü- Gesetzgebungsprozess zu beantworten haben. Ich freue gigkeit. Es ist vor allem auch eine Frage der Gerechtig- mich auf eine gute und konstruktive Debatte. keit gegenüber unseren Bürgern; denn sie sind es, die mit (B) ihrer Arbeitsleistung einen Beitrag für unsere Sozialsys- (D) Glück auf! teme leisten. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. (Beifall bei der CDU/CSU) Katharina Landgraf [CDU/CSU]) Deshalb gilt für uns der Grundsatz: Nur diejenigen Vizepräsident Johannes Singhammer: sollen in den Genuss von Sozialleistungen kommen, die hier leben, arbeiten und Beiträge zahlen. Wer jedoch zu Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Stephan uns kommt und hier nie gearbeitet hat, aber dennoch So- Stracke. zialleistungen begehrt, für den soll es ein klares Stopp- (Beifall bei der CDU/CSU) schild geben: existenzsichernde Leistungen ja, aber nicht unsere Leistungen, nicht auf unserem Niveau, sondern Stephan Stracke (CDU/CSU): die des Heimatlandes. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Das ist das Signal, das wir mit diesem Gesetz in die ren! Deutschland hat sich für viele Menschen zum Sehn- Herkunftsländer aussenden: Armutsmigration nach suchtsort entwickelt; außerhalb der Europäischen Union, Deutschland lohnt sich nicht. Gleichzeitig senden wir ein aber auch innerhalb der EU. Seit der Wirtschaftskrise klares Signal an unsere Bürgerinnen und Bürger: Zuwan- kommen immer mehr EU-Ausländer zu uns und bleiben derung in unsere Sozialsysteme wollen wir nicht. Denn hier in Deutschland. unsere Bürger sind es, die mit ihrer Arbeitsleistung unse- re Sozialsysteme im Wesentlichen tragen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nennt man Arbeitnehmerfrei- Wir haben in der Vergangenheit in diesen Bereichen zügigkeit!) schon viel erreicht: befristete Wiedereinreisesperren, stärkere Bekämpfung von Schwarzarbeit und Schein- Waren es 2010 über 87 000, so sind es seit 2013 jedes Jahr selbstständigkeit und die Verhinderung des Doppelbezu- knapp 300 000, im letzten Jahr sogar fast 400 000 Men- ges von Kindergeld – alles Maßnahmen, die wir als CSU schen. Diese europäische Zuwanderung hat sicherlich eingefordert, durchgesetzt und umgesetzt haben. Wir Gründe: die Strahlkraft Deutschlands. Wir sind ein werden ja häufig für unsere klare Sprache gescholten, für weltoffenes Land, uns geht es gut, die Wirtschaft brummt pointierte Zuspitzungen, und der Wohlstand steigt. Weil das so ist, können wir uns hier in Deutschland ein höheres Sicherungsniveau leis- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- ten als viele andere Staaten in Europa. Das löst natürlich NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie stärken damit die auch einen Sogeffekt aus. Diesen wollen wir nicht. AfD! Das wissen Sie schon, oder?) 20040 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

Stephan Stracke (A) beispielsweise in Wildbad Kreuth. Aber letztlich kommt chen Lücken im nationalen Recht. Die Kommunen wer- (C) es bei der Bekämpfung der Armutszuwanderung auch den von Mehrbelastungen verschont. Und was natürlich immer auf klare Worte an. auch schön ist: Ein zentrales Anliegen der CSU-Landes- gruppe wird umgesetzt. Am Ende zählt vor allem das Ergebnis. Wir sind er- folgreich, im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger. Herzliches Dankeschön. Die Maßnahmen, die wir in der Vergangenheit in der Großen Koalition umgesetzt haben, sind richtig, und (Beifall bei der CDU/CSU) auch der vorliegende Gesetzentwurf ist richtig und drin- gend erforderlich, um die Rechtsprechung des Bundesso- Vizepräsident Johannes Singhammer: zialgerichts in diesen Fällen zu korrigieren. Zum Abschluss der Aussprache spricht der Kollege Was ist nun vorgesehen? Zum einen werden die beste- Markus Paschke für die SPD. henden Leistungsausschlüsse eindeutig geregelt. Damit werden dem Erfindungsspielraum Kassels entsprechende (Beifall bei der SPD) Grenzen gesetzt. Für die von den Leistungsausschlüssen betroffenen Personen gibt es Überbrückungsleistungen, Markus Paschke (SPD): also sehr wohl Leistungen, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die die Kommunen spruch auf Leistungen nach dem SGB II und Unterstüt- bezahlen müssen! Warum bezahlt das nicht zung bei der Arbeitsuche erhalten diejenigen, die ihren der Bund? Warum bezahlen das die Kommu- Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik haben. Grund- nen?) sätzlich sind da auch alle Europäer gleichzubehandeln. Das ist richtig, und das ist auch gut so. bis hin zur Ausreise, zur Übernahme der angemessenen Kosten der Rückreise in das Heimatland. Die damit ver- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE bundene Botschaft ist auch klar: Den Weg nach Deutsch- GRÜNEN]: Ja, dann muss man es halt auch land, allein um hier Sozialhilfe zu kassieren, kann man so machen!) sich von vornherein sparen. Erst nach fünf Jahren ge- Keinen Anspruch haben jedoch Ausländerinnen und Aus- wöhnlichen Aufenthalts ohne wesentliche Unterbre- länder, die sich nur zur Arbeitsuche hier aufhalten. chung wird ein Leistungsanspruch gewährt, (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (B) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wovon leben die NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber dafür ist doch (D) Leute in den fünf Jahren? Kommen Sie mal die Grundsicherung für Arbeitsuchende da! nach Offenbach! Da können Sie sehen, was „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ heißt die Leute machen, wenn sie keine Sozialleis- das!) tungen kriegen!) Auch das ist richtig, denn deren Lebensmittelpunkt liegt unabhängig davon, ob sich die Betroffenen rechtmäßig bisher nicht in Deutschland. oder unrechtmäßig aufgehalten haben. Nun hat das Bundessozialgericht den Betroffenen Das war am Ende letztlich auch der kitzelige Punkt in mehreren Fällen Anspruch auf Sozialhilfe nach dem zwischen Union und SPD. Wir wollten allein auf einen SGB XII zugestanden. Das Ziel dieses Ausschlusses im rechtmäßigen Aufenthalt abstellen. Das ist auch sinnvoll. SGB II war jedoch nicht, die Betreffenden in die Sozi- Der Gesetzentwurf stellt nun auf den tatsächlichen Auf- alhilfe zu drängen; denn da gehören sie auch nicht hin. enthalt ab und differenziert nicht mehr zwischen recht- Die Freizügigkeit innerhalb Europas ist an zwei Vo- mäßigem und unrechtmäßigem Aufenthalt. Allerdings raussetzungen gebunden. Es lohnt sich, das einmal wie- werden Zeiten, in denen sich Personen nicht rechtmäßig der nachzulesen. Das sind nämlich erstens eine beste- in Deutschland aufhalten, weil sie ausreisepflichtig sind, hende Krankenversicherung und zweitens ausreichend nicht auf den Fünfjahreszeitraum angerechnet. Am Ende Mittel für den Lebensunterhalt. Bisher war der Anspruch kann man sagen: Warum einfach, wenn es auch kompli- auf Leistung nach dem SGB II dauerhaft ausgeschlos- ziert geht? sen, wenn jemand nicht gearbeitet hat. Wir haben jetzt Der gefundene Kompromiss mag eine Einigung er- Rechtssicherheit. Nach fünf Jahren gilt Deutschland als leichtert haben; rechtssystematisch ist es dennoch nicht Lebensmittelpunkt. Damit es in Europa keine Migration der beste Weg. Bedauerlich ist auch, dass durch den Ge- in die Sozialsysteme gibt, brauchen wir verbindliche eu- setzentwurf die bisherige Systemabgrenzung zwischen ropäische Mindeststandards in der sozialen Sicherung, SGB II und SGB XII aufgehoben wird. Im Hinblick auf Mindeststandards, die allen Bürgerinnen und Bürgern Überbrückungsleistungen bedeutet dies einen nicht uner- Europas an dem Ort ihres Lebensmittelpunktes das heblichen bürokratischen Mehraufwand für Sozialämter sozio ­einer Bundesethikkommission kulturelle Existenz- und Jobcenter. Das wäre vermeidbar gewesen. minimum sichert. Trotz dieser Schwächen stimmt die Zielrichtung des Es muss außerdem sichergestellt sein, dass alle Euro- Gesetzentwurfs. Wir schließen mit dem Gesetzentwurf päer – egal, ob aus Portugal, Rumänien, Finnland oder die durch das Bundessozialgericht geschaffenen erhebli- Luxemburg, und egal, welcher Volksgruppe sie angehö- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20041

Markus Paschke (A) ren – die gleichen Chancen auf Bildung, Gesundheitsver- Danke schön. Ich wünsche, bevor es der Präsident tut, (C) sorgung und Zugang zum Arbeitsmarkt haben. allen ein schönes Wochenende.

(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Für mich ist deshalb klar: Wir brauchen eine europäische Vizepräsident Johannes Singhammer: soziale Sicherung. Das ist sehr fürsorglich gegenüber den Kolleginnen und Kollegen und dem Präsidenten. Beim vorliegenden Gesetzentwurf sind für mich noch einige Fragen offen, die sich auf Situationen beziehen, Damit schließe ich die Aussprache. die Härtefälle für die Betroffenen bedeuten können. Es Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- kann gute Gründe geben, warum man, auch wenn man wurfs auf Drucksache 18/10211 an die in der Tagesord- seinen Lebensmittelpunkt inzwischen hier hat, das Land nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere zwischendurch für eine gewisse Zeit verlassen muss, Vorschläge sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung so zum Beispiel weil es gilt, Familienangehörige zu pflegen beschlossen. oder andere Probleme zu lösen, die ein bisschen länger Wir sind damit zugleich am Schluss unserer heutigen dauern und wofür man durchaus seine Wohnung hier auf- Tagesordnung und am Schluss der 200. Sitzung dieser gibt. Solche Unterbrechungen sind bisher nicht berück- Legislaturperiode. sichtigt. Auch kann es eine Härte bedeuten, wenn zum Beispiel eine Ehe – aus welchen Gründen auch immer – Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- zerbricht und nur ein Partner Arbeit hat. tages, die 201., auf Dienstag, den 22. November 2016, 10 Uhr, ein. Kommen Sie alle gesund wieder. Zusammenfassend kann man, glaube ich, sagen: Der Die Sitzung ist geschlossen. Grundsatz in dem Gesetzentwurf ist okay. Über Details und offene Fragen müssen wir dann noch reden. (Schluss: 12.58 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20043

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 Nissen, Ulli SPD 11.11.2016 DIE GRÜNEN Özdemir, Cem BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN Paus, Lisa BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 Auernhammer, Artur CDU/CSU 11.11.2016 DIE GRÜNEN

Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 Petzold (Havelland), DIE LINKE 11.11.2016 DIE GRÜNEN Harald

Barthel, Klaus SPD 11.11.2016 Pitterle, Richard DIE LINKE 11.11.2016

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 Riesenhuber, Dr. Heinz CDU/CSU 11.11.2016 Marieluise DIE GRÜNEN Ripsam, Iris CDU/CSU 11.11.2016 Brantner, Dr. Franziska BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 DIE GRÜNEN Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 Claudia DIE GRÜNEN Bülow, Marco SPD 11.11.2016 Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 (B) Crone, Petra SPD 11.11.2016 DIE GRÜNEN (D) De Ridder, Dr. Daniela SPD 11.11.2016 Schmidt (Fürth), CDU/CSU 11.11.2016 Christian Drobinski-Weiß, Elvira SPD 11.11.2016 Schmidt, Dr. Frithjof BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 Fuchs, Dr. Michael CDU/CSU 11.11.2016 DIE GRÜNEN

Gohlke, Nicole DIE LINKE 11.11.2016 Schön (St. Wendel), CDU/CSU 11.11.2016 Nadine Groth, Annette DIE LINKE 11.11.2016 Steinbach, Erika CDU/CSU 11.11.2016 Hajduk, Anja BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 DIE GRÜNEN Verlinden, Dr. Julia BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 DIE GRÜNEN Hellmich, Wolfgang SPD 11.11.2016 Wawzyniak, Halina DIE LINKE 11.11.2016 Hintze, Peter CDU/CSU 11.11.2016 Zeulner, Emmi * CDU/CSU 11.11.2016 Ilgen, Matthias SPD 11.11.2016 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Janecek, Dieter BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 DIE GRÜNEN Anlage 2 Kurth, Markus BÜNDNIS 90/ 11.11.2016 DIE GRÜNEN Erklärung nach § 31 GO Liebing, Ingbert CDU/CSU 11.11.2016 der Abgeordneten Kerstin Griese und Dr. Eva Högl (beide SPD) zu der namentlichen Abstimmung Malecha-Nissen, Dr. SPD 11.11.2016 über den von der Bundesregierung eingebrachten Birgit Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung arz- neimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Ta- Nahles, Andrea SPD 11.11.2016 gesordnungspunkt 36) 20044 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

(A) Hinter dieser Abstimmung verbirgt sich eine brisan- 2. In § 40b Absatz 4 Satz 3 wird das Wort „solche“ (C) te ethische Frage. Der Gesetzentwurf will fremdnützige gestrichen. Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patient/innen Dieser Änderungsantrag wurde leider überstimmt und künftig erlauben. Die Unversehrtheit dieser besonders somit nicht angenommen. Er hätte für die größtmögliche schutzwürdigen Menschengruppe wäre mit diesem Ge- Beibehaltung der bisherigen Rechtslage in Deutschland setz nicht mehr gewährleistet. Das bedauern wir sehr. gesorgt, nach der eine gruppennützige Forschung an Gegen diese Neuregelung richtet sich der Änderungs- Nichteinwilligungsfähigen ohne potenziellen individu- antrag Schummer/Schmidt, den ich mit voller Überzeu- ellen Nutzen für die jeweiligen Studienteilnehmer aus- gung unterstützt habe. Wir möchten nicht, dass demenz- geschlossen ist. Die hohen Schutzstandards, die es in kranke Menschen, denn um diese handelt es sich in der Deutschland diesbezüglich gegeben hat, insbesondere Mehrzahl bei den „nicht einwilligungsfähigen Patient/ hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner körper- innen“, Proband/innen für eine Forschung werden, die lichen Unversehrtheit, wären erhalten geblieben. für sie nicht gut ist und von der sie selbst keine Verbesse- Eine gruppennützige Forschung an Nichteinwilli- rung haben. Hiermit würden wir einer Verzweckung von gungsfähigen ohne potenziellen individuellen Nutzen Menschen in der Forschung Tür und Tor öffnen. Wir sind löst in mir erhebliche ethische und rechtliche Bedenken besorgt, welche Entwicklung daraus folgen kann. Denn aus. Eine gruppennützige Forschung stellt nicht das Wohl es wird auch um weitere nichteinwilligungsfähige Men- des betroffenen Patienten, sondern das Wohl anderer in schen gehen. den Vordergrund. Eine solche Bereitschaft muss ein Pa- Wir sind der Ansicht, dass auch künftig ausschließlich tient widerrufen können. Dafür muss er noch zu einer einwilligungsfähige Menschen entscheiden, ob sie an kli- eigenen Willensbildung in der Lage sein. Wenn diese Vo- nischen Studien teilnehmen wollen, und dass nicht ein- raussetzung nicht gegeben ist, und davon ist bei demenzi- willigungsfähige Menschen nur dann an Medikamenten- ell Erkrankten ab einem gewissen Zeitpunkt auszugehen, tests teilnehmen können, wenn sie ihnen helfen können. darf keine Forschung stattfinden. Hier vertrete ich eine andere Auffassung als die im Ein zweiter wichtiger Grund ist für uns, dass es kei- vorliegenden Gesetzentwurf. Gleichwohl stimme ich nen Bedarf aus der Forschung gibt, hier eine Änderung diesem – wenn auch mit erheblichen Bedenken – zu, da vorzunehmen. Ohne Not wird eine ethische Hürde über- der Änderungsantrag Drucksache 18/10236 angenom- schritten. men wurde. Dieser stellt sicher, dass eine Teilnahme an Dazu können wir unsere Zustimmung aus Gewissens- klinischen Studien gegen den aktuellen, natürlichen Wil- gründen nicht geben. len eines Probanden verboten bleibt, unabhängig davon, (B) ob dieser Wille verbal oder nonverbal geäußert wird oder (D) ob die Person einwilligungsfähig ist.

Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO Anlage 4 der Abgeordneten Michaela Noll und Sabine Weiss Erklärungen nach § 31 GO (Wesel I) (beide CDU/CSU) zu der namentlichen zu der namentlichen Abstimmung über den von Abstimmung über den von der Bundesregierung der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines eingebrachten Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrecht- Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer licher und anderer Vorschriften (Tagesordnungs- Vorschriften (Tagesordnungspunkt 36) punkt 36) Dem heute zur Beratung vorliegenden Antrag der Bundesregierung stimme ich in der vorliegenden Form Heike Baehrens (SPD): Die heute zur Abstimmung zu. Meine Position in der Sache erkläre ich wie folgt: In stehende AMG-Novelle setzt wichtige europäische arz- der 2. Lesung des Gesetzentwurfs am 9. November 2016 neimittelrechtliche Vorschriften in nationales Recht um. habe ich den Änderungsantrag Drucksache 18/10233 un- Darüber hinaus werden Änderungen in der Bundes-Apo- terstützt. Darin heißt es: thekerordnung, dem Arzneimittelgesetz, der Arzneimit- tel- und Wirkstoffherstellungsverordnung und weiteren Artikel 2 Nummer 11 wird wie folgt geändert: Regelungswerken vorgenommen, denen ich zustimme. 1. § 40b Absatz 4 Satz 2 wird wie folgt gefasst: Gleichzeitig wird eine EU-Richtlinie zu klinischen „Eine klinische Prüfung darf an einer nicht ein- Prüfungen in nationales Recht umgesetzt, die ich für willigungsfähigen Person im Sinne des Artikel 2 höchst problematisch halte. Künftig soll es möglich sein, Nummer 19 der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 gruppennützige Forschung an volljährigen Personen nur durchgeführt werden, wenn wissenschaftli- vorzunehmen, die nicht in der Lage sind, Wesen, Bedeu- che Gründe vorliegen, die erwarten lassen, dass tung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen die Teilnahme an der klinischen Prüfung einen und ihren Willen hiernach auszurichten. Vorausgesetzt, direkten Nutzen für die betroffene Person zur die Betroffenen haben nach einer ärztlichen Beratung Folge hat, der die Risiken und Belastungen einer im früheren Zustand der Einwilligungsfähigkeit mittels Teilnahme an der klinischen Prüfung überwiegt.“ Patientenverfügung nach § 1901a BGB einer Teilnahme Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20045

(A) zugestimmt, können sie an Studien beteiligt werden, die fassung als die im vorliegenden Gesetzentwurf. Dennoch (C) ihnen keinen individuellen Nutzen bringen. stimme ich dem Gesamtgesetz zu. Es geht hier um Forschung an besonders verletzlichen Menschen – vor allem an Demenzkranken. Bisher ist For- Hubert Hüppe (CDU/CSU): Ich stimme heute in der schung an dieser Gruppe, wenn sie nicht zumindest mit dritten Beratung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur der Wahrscheinlichkeit eines individuellen Nutzens ver- Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschrif- bunden ist, aus ethischen Gründen grundsätzlich verbo- ten auf Drucksache 18/8034 mit Nein, obwohl ich als ten. Ich bin der Meinung, dass wir in Deutschland – nicht Berichterstatter den während des parlamentarischen Ver- zuletzt vor dem Hintergrund unserer Geschichte – gut fahrens erarbeiteten Änderungen, die sich in Beschluss- daran tun, diesen hohen Schutzstandard, insbesondere empfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner körper- auf Drucksache 18/10056 wiederfinden, zugestimmt habe. lichen Unversehrtheit, aufrechtzuerhalten. Grund meiner Ablehnung ist die Einführung von Auch praktisch besteht keine Notwendigkeit einer fremdnützigen klinischen Arzneimittelprüfungen an Öffnung, da es bislang keine bekannt gewordenen Fälle nichteinwilligungsfähigen Menschen, die ausschließlich gibt, in denen ein Forschungsvorhaben am Fehlen einer einen Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgrup- solchen Möglichkeit der gruppennützigen Forschung ge- pe, zu der die betroffene Person gehört, zur Folge ha- scheitert ist. ben wird, nicht jedoch für den nichteinwilligungsfähigen Probanden selbst, sogenannte gruppennützige klinische Deswegen habe ich im parlamentarischen Beratungs- Prüfungen. Diese lehne ich aus ethischen Gründen ab verfahren den Änderungsantrag unterstützt [Drucksa- und bekenne mich zu dem vom Deutschen Bundestag am che 18(14)0214.1], der sichergestellt hätte, das vorhan- 31. Januar 2013 einstimmig gefassten Beschluss: „Bei dene Schutzniveau aufrechtzuerhalten. Leider hat dieser Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen keine Mehrheit erhalten. und an Personen in Notfallsituationen ist ein direkter in- dividueller Nutzen vorauszusetzen.“ Weil es also nicht möglich war, diese entscheidende Änderung im Gesetzestext zu verankern, kann ich aus Die erkennbare Praxisuntauglichkeit der vorgesehe- ethischen Gründen dem vorliegenden Gesetzentwurf nen schriftlichen Verfügung nach ärztlicher Aufklärung nicht zustimmen. wird absehbar zu der Forderung führen, die schriftliche Verfügung einschließlich der ärztlichen Aufklärung als zwingende Voraussetzung gruppennütziger klinischer Alexander Funk (CDU/CSU): Dem heute zur Bera- Prüfungsteilnahme nichteinwilligungsfähiger Personen zu tung vorliegenden Antrag der Bundesregierung stimme (B) streichen. Dies ist umso naheliegender, als diese Forde- (D) ich in der vorliegenden Form zu. Meine Position in der rung von als vermeintlichen Befürwortern der jetzt getrof- Sache erkläre ich wie folgt: In der 2. Lesung des Gesetz- fenen Regelung vorgestellten Gruppen bereits während entwurfs am 9. November 2016 habe ich den Änderungs- der parlamentarischen Beratungen erhoben worden ist. antrag Drucksache 18/10233 unterstützt. Darin heißt es Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psy- Artikel 2 Nummer 11 wird wie folgt geändert: chotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DG- 1. § 40b Absatz 4 Satz 2 wird wie folgt gefasst: PPN) hielt in ihrer Stellungnahme zur 4. AMG-Novelle „Eine klinische Prüfung darf an einer nicht ein- vom 28. August 2016 fest, dass die vorgesehene gesetz- willigungsfähigen Person im Sinne des Artikel 2 liche Regelung gruppennützige Forschung an Menschen, Nummer 19 der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 die „nie einwilligungsfähig waren (wie bei Menschen nur durchgeführt werden, wenn wissenschaftli- mit geistigen Behinderungen)“, unmöglich mache, und che Gründe vorliegen, die erwarten lassen, dass stellte die rhetorische Frage: „Will also der deutsche Ge- die Teilnahme an der klinischen Prüfung einen setzgeber gruppennützige Forschung – anders als die ent- direkten Nutzen für die betroffene Person zur sprechende EU Richtlinie – wirklich so eng begrenzen?“ Folge hat, der die Risiken und Belastungen einer Das KKS-Netzwerk und der Medizinische Fakultäten- Teilnahme an der klinischen Prüfung überwiegt.“ tag schrieben am 18. Mai 2016 an den Gesundheitsaus- schuss, dass sie eigentlich die schriftliche Verfügung – 2. In § 40b Absatz 4 Satz 3 wird das Wort „solche“ und damit implizit auch die damit verknüpfte ärztliche gestrichen. Aufklärung – ablehnen: „Auch wenn wir uns eine ge- Dieser Änderungsantrag wurde leider überstimmt und nerelle Regelung ohne Patientenverfügung wünschen somit nicht angenommen. würden, so unterstützen wir den Vorschlag der Bundesre- gierung, die gruppennützige Forschung bei einer Unter- Aus meiner Sicht müssen die hohen Schutzstandards, gruppe der nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen auf die es in Deutschland bei klinischen Studien momentan der Basis einer Patientenverfügung zu erlauben.“ für nichteinwilligungsfähige Erwachsene gibt, insbeson- dere hinsichtlich der Würde des Menschen und seiner Der als Einzelsachverständiger zur Anhörung am körperlichen Unversehrtheit, dringend erhalten bleiben. 16. Oktober 2016 geladene Vorsitzende des Arbeits- kreises Medizinischer Ethik-Kommissionen, Profes- Um diesen größtmöglichen Schutz zu gewähren, müs- sor Dr. Joerg Hasford, empfahl in seiner schriftlichen sen klinische Prüfungen daher einen direkten Nutzen für Stellungnahme, “den Artikel 31 der EU-Verordnung den Betroffenen haben. Hier vertrete ich eine andere Auf- Nr. 536/2014 nicht mit eigener Gesetzgebung zu ergän- 20046 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

(A) zen“, also gruppennützige Forschung gemäß Artikel 31 nichteinwilligungsfähigen Patienten derzeit sinnvoll oder (C) der EU-Verordnung an allen nichteinwilligungsfähigen gar erforderlich ist. Im Gegenteil ist die klare Auskunft, Erwachsenen und Kindern, einschließlich solchen mit dass solche Studien insbesondere an Alzheimer Patienten sogenannter geistiger Behinderung, in Deutschland zu im weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium wegen der legalisieren. dann irreversiblen Zerstörung des Gehirnes sinnlos sind und dass vielmehr ganz andere Studien benötigt werden, Daher halte ich die Befürchtung für begründet, dass die um Ursachen kennenzulernen und Prävention zu verbes- heutige begrenzte Zulassung fremdnütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen der Türöffner sern. Allenfalls Studien an Patienten, bei denen gerade für die zukünftige Einbeziehung zusätzlicher besonders die Diagnose gestellt wurde, könnten sinnvoll sein. Die- vulnerabler Gruppen in fremdnützige Forschung ist. se aber wären dann ja zu Beginn der Studien einwilli- gungsfähig. Kurzum: Ein Gesetz, welches gruppennützi- ge Forschung an nicht Einwilligungsfähigen ermöglicht, Bernhard Kaster (CDU/CSU): Dem heute zur Bera- ist derzeit erkennbar nicht sinnvoll oder gar erforderlich, tung vorliegenden Antrag der Bundesregierung stimme es öffnet aber die Tür zu einem ethisch sehr problema- ich in der vorliegenden Form zu. Meine Position in der tischen Verfahren: Wehrlose Menschen sollen sich für Sache erkläre ich wie folgt: In der zweiten Lesung des andere als Versuchspersonen zur Verfügung stellen, also Gesetzentwurfs am 9. November 2016 habe ich den Än- ohne mit den Studien auch nur eine Erwartung an die derungsantrag Drucksache 18/10233 unterstützt. Darin Verbesserung ihrer eigenen Lage verbinden zu können. heißt es: Das ist übrigens auch der wesentliche Unterschied zu Artikel 2 Nummer 11 wird wie folgt geändert: den „klassischen“ Patientenverfügungen – Organentnah- me, Abstellen lebenserhaltender Maschinen –, die sich 1. § 40b Absatz 4 Satz 2 wird wie folgt gefasst: stets auf die eigene Person beziehen. Deshalb hatte ja der „Eine klinische Prüfung darf an einer nicht ein- Kollege Schummer einen Änderungsantrag gestellt, der willigungsfähigen Person im Sinne des Artikel 2 lediglich einen Punkt gegenüber der Regierungsvorlage Nummer 19 der Verordnung (EU) Nr. 536/2014 ändert, nämlich die Entscheidung zur Teilnahme freizu- nur durchgeführt werden, wenn wissenschaftli- stellen, aber sie eben auf Eigennützigkeit, also auf die che Gründe vorliegen, die erwarten lassen, dass eigene Person zu begrenzen. Dem hätte ich, wenngleich die Teilnahme an der klinischen Prüfung einen immer noch mit erheblichen Bedenken, zustimmen kön- direkten Nutzen für die betroffene Person zur nen. Der jetzige Gesetzentwurf widerspricht grundsätz- Folge hat, der die Risiken und Belastungen ei- lich meinen ethischen Vorstellungen, die ich aus christli- ner Teilnahme an der klinischen Prüfung über- chen Werten ableite. wiegt.“ (B) (D) 2. In § 40b Absatz 4 Satz 3 wird das Wort „solche“ gestrichen. Markus Paschke (SPD): Bisher ist eine sogenann- te gruppennützige Forschung an Nichteinwilligungsfä- Dieser Änderungsantrag wurde leider überstimmt und higen nach dem Arzneimittelrecht ausgeschlossen. Der somit nicht angenommen. Aus eigener Erfahrung weiß vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung will ich um die große Bedeutung des angemessenen Umgangs dieses Verbot nun insoweit aufweichen, dass zukünftig mit schwerstkranken Familienangehörigen. Mir persön- eine Teilnahme volljähriger Nichteinwilligungsfähiger lich ist es daher ein großes Anliegen, Menschen, die auf- auch ohne persönlichen Nutzen zulässig ist, wenn die grund ihres Alters und oder einer schweren Erkrankung, Betroffenen im früheren Zustand der Einwilligungsfä- welche ihre geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt, den higkeit mittels Patientenverfügung nach § 1901a BGB größtmöglichen staatlichen Schutz zukommen zu lassen. einer Teilnahme zugestimmt haben. Die Regelung wird Klinische Prüfungen müssen für mich daher einen direk- voraussichtlich vor allem Menschen mit neurodegene- ten Nutzen für den Betroffenen haben. Hier vertrete ich rativen, beispielsweise dementiellen Erkrankungen be- eine andere Auffassung als die im vorliegenden Gesetz- treffen. Ich lehne diesen Vorschlag klar ab. Die hohen entwurf. Dennoch stimme ich dem Gesamtgesetz zu. Schutzstandards, die es in Deutschland bei klinischen Studien momentan für nichteinwilligungsfähige Er- Matern von Marschall (CDU/CSU): Entsprechend wachsene gibt, insbesondere hinsichtlich der Würde des dem üblichen Verfahren zeige ich Ihnen hiermit an, dass Menschen und seiner körperlichen Unversehrtheit, müs- ich bei der namentlichen Abstimmung am Freitag, 11. No- sen erhalten bleiben. Bereits 2013 hat sich der Bundes- vember 2016, gegen den Gesetzentwurf der Bundesregie- tag – Drucksache 17/12183 – dazu ausgesprochen, dass rung zum Vierten Gesetz zur Änderung arzneimittelrecht- in solchen Fällen das Schutzniveau für diese Personen zu licher und anderer Vorschriften stimmen werde. erhalten ist. Von dieser Haltung darf nicht abgewichen werden. Würde und Sicherheit der Probandinnen und Dieses Abstimmungsverhalten entspricht meiner Po- Probanden müssen immer im Vordergrund stehen. Dieser sition in den vorangegangen Abstimmungen zu diesem Grundsatz ist gefährdet, wenn Menschen an Forschung Gesetz, bei denen ich dem Änderungsvorschlag der Uni- beteiligt werden, die nicht in der Lage sind, das Risi- onskollegen Schummer et al. gefolgt bin. ko und den Nutzen ihrer Teilnahme zu beurteilen, ohne Ich habe bei meinen intensiven Recherchen im Vorfeld selbst irgendeinen Nutzen aus der Teilnahme zu ziehen. der Gesetzgebung niemanden in Klinik, Wissenschaft Das Schutzniveau für diese besonders schützenswerte oder Verbänden getroffen, der gefordert oder mir schlüs- Patientengruppe muss in Deutschland weiterhin auf ho- sig dargelegt hätte, dass gruppennützige Forschung an hem Standard erhalten bleiben. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20047

(A) Zudem entbehrt eine solche Öffnung jeder Notwen- für die Einwilligung wesentlichen Umstände. Dazu ge- (C) digkeit. Artikel 31 Absatz 2 der hier umzusetzenden hören insbesondere die Aufklärung über das Wesen, die Verordnung (EU) Nr. 536/2014 erklärt nationale Verbote Ziele, den Nutzen, die Folgen, die Risiken und die Nach- einer gruppennützigen Forschung an Nichteinwilligungs- teile klinischer Prüfungen.“ fähigen ausdrücklich für zulässig. Diese EU-Verordnung Drittens. Als Drittes wird über den Änderungsantrag erlaubt die Forschung an Nichteinwilligungsfähigen, Dr. Georg Nüßlein, Professor Dr. Karl Lauterbach, Maria wenn die wissenschaftlich begründete Erwartung be- Michalk, Hermann Gröhe, Ingrid Fischbach, Annette steht, dass der oder die Betroffene einen direkten Nutzen Widmann-Mauz, Rudolf Henke, beschlossen, der eine aus der Prüfung hat, der die Risiken und Belastungen der verpflichtende ärztliche Beratung vorsieht. Studienteilnahme überwiegt (Eigennutzen). Gründe meines Abstimmungsverhaltens Auch praktisch besteht keine Notwendigkeit einer Öffnung, da es bislang keine bekannt gewordenen Fälle Seit Monaten wird in der Politik und Öffentlichkeit gibt, in denen ein Forschungsvorhaben am Fehlen einer über die Forschung an Demenz erkrankten Menschen solchen Möglichkeit der gruppennützigen Forschung ge- gestritten. Im Mittelpunkt steht die Streitfrage, ob Arz- scheitert ist. neimittelstudien – also keine an nicht mehr einwilli- gungsfähigen Erwachsenen – zum Beispiel an Demenz Aus den ausgeführten Gründen werde ich daher gegen Erkrankten – auch dann zulässig sein sollen, wenn sie den vorliegenden Gesetzentwurf stimmen. nur gruppennützig sind, den Betroffenen selbst also kei- ne Vorteile bringen. Das ist bislang in Deutschland ver- Mechthild Rawert (SPD): Es geht in den Plenarsit- boten und soll nach dem Willen der Bundesregierung zungen am 9. und 11. November 2016 um den Gesetz- nun mit dieser gesetzlichen Änderung künftig erlaubt entwurf der Bundesregierung „Entwurf eines Vierten werden. Grundsätzlich dürfen Menschen, die nie einwil- Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und an- ligungsfähig gewesen sind, zum Beispiel Menschen mit derer Vorschriften“ (18/8034), mit dem eine EU-Ver- kognitiver Beeinträchtigung, an solchen gruppenbezo- ordnung (Nr. 536/2014) umgesetzt werden soll. In der genen Forschungen nicht beteiligt werden. Sie sind als EU-Novelle wird die rein gruppennützige Forschung an Zielgruppe mit dieser Novelle nicht angesprochen. Jeg- nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen unter bestimm- licher Bezug auf experimentelle Forschungen an geistig ten Voraussetzungen erlaubt. Zugleich bleibt es den behinderten Menschen während der Zeit des Nationalso- EU-Staaten vorbehalten, auf nationaler Ebene strengere zialismus geht also am Inhalt der angestrebten Regelung Regeln zu beschließen. Laut Gesetzentwurf der Bundes- völlig vorbei. regierung soll die gruppennützige Forschung an nicht- Ich unterstütze grundsätzlich die im vorliegenden Ge- (B) einwilligungsfähigen Menschen auch in Deutschland (D) erlaubt sein. Es liegen hierzu drei Änderungsanträge vor. setzentwurf von Bundesgesundheitsminister Hermann Zu diesen hat am 19. Oktober 2016 eine öffentliche An- Gröhe geschaffene Möglichkeit zur Teilnahme von Men- hörung des Ausschusses für Gesundheit stattgefunden. schen an Arzneimittelstudien, wenn sie dies vorab im Ich stimme für den Änderungsantrag der Abgeordneten einwilligungsfähigen und gesunden Zustand in einer Hilde Mattheis und Sabine Dittmar. Verfügung festgelegt haben. Es handelt sich hierbei um die Erprobung von Medikamenten, nicht um invasivere Drei Änderungsanträge zur rein gruppennützigen For- Studien. Nur auf Grundlage dieser Vorabverfügung für schung an nichteinwilligungsfähigen Menschen: Studien für eine optimale medikamentöse Therapie dür- fen dann Messungen von Blutdruck, Puls oder Therapie Erstens. Über den Änderungsantrag der Abgeordneten erfolgen. Invasivere Maßnahmen oder Studien würden Uwe Schummer, Ulla Schmidt, Kathrin Vogler, Kordula mit dieser Regelung nicht erlaubt. Schulz-Asche wird zuerst namentlich abgestimmt. Er sieht vor, es bei der restriktiven Regelung in Deutsch- Ich erkenne in der Möglichkeit für eine gruppennüt- land zu belassen. Die unter Demenz leidenden Menschen zige Forschung an nicht mehr einwilligungsfähigen Er- müssten besonders geschützt werden. Aus medizinischer wachsenen keinen „ethischen oder rechtlichen Freibrief Sicht könnte diese Grundlagenforschung auch an ande- für eine Verzwecklichung der Forschung“. Sowohl bei ren PatientInnengruppen geleistet werden könne. der optionalen als auch bei der verpflichtenden ärztlichen Beratung – Änderungsantrag 2 bzw. 3 – trifft jeder Er- Zweitens. Der Änderungsantrag der Abgeordneten wachsene noch im gesunden Zustand diese Entscheidung Hilde Mattheis und Sabine Dittmar gestattet die rein als Vorausverfügung selbst. gruppennützige Forschung mit einer vorherigen Proban- dInnenverfügung mit optionaler ärztlicher Beratung und Für Arzneimittelstudien dieser Art gibt es zahlreiche wird danach abgestimmt. Der Deutsche Bundestag soll Hürden: Bei der Beantragung einer Studie muss eine unter anderem beschließen, dass „die betroffene Person obligate Beratung durch öffentlich-rechtliche Ethikkom- als einwilligungsfähige volljährige Person für den Fall missionen erfolgen. Die im gesunden Zustand getroffene ihrer Einwilligungsunfähigkeit schriftlich nach ärztli- Einwilligung zur Teilnahme an einer gruppennützigen cher Aufklärung oder ausdrücklichem Aufklärungsver- Forschung muss schriftlich vorliegen. Es muss zum Zeit- zicht nach Maßgabe des Paragrafen 630e Absatz 1 bis punkt der Teilnahme eine ärztliche Aufklärung der Pa- 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches“ festlegt, „dass sie in tientInnen und der BetreuuerInnen erfolgen. Es besteht bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht un- zu jeder Zeit die Möglichkeit, die Studie auch wieder mittelbar bevorstehende gruppennützige klinische Prü- abzubrechen – jede ablehnende verbale oder nonverbale fungen einwilligt. … Die Aufklärung umfasst sämtliche Äußerung der PatientInnen und StudienteilnehmerInnen 20048 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

(A) ist als entsprechender Wunsch zu werten. Zudem bin ich Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass die Erwei- (C) also aufgrund der für klinische Studien in Deutschland terung des Zugriffs der Pharmaforschung auf Menschen, geltenden strengen Regelungen davon überzeugt, dass es die Ziel, Wesen und Tragweite eines Arzneimittelver- einen systematischen Missbrauch kaum geben kann. suchs nicht erfassen und ihren Willen nicht danach aus- richten können, unethisch und unnötig ist. Die rein gruppennützige Forschung bei Minderjähri- gen ist seit der zwölften Novellierung des Arzneimittel- Manche Debattenbeiträge der Befürworter am Mitt- gesetzes (AMG) im Jahre 2004 in Deutschland explizit woch haben mich in meiner Position eher noch bestärkt. zugelassen. Es ist mir nicht einsichtig, weshalb eine Re- Wenn etwa Versuche an lebenden und leidensfähigen gelung für Minderjährige erlaubt und für Erwachsene Menschen gleichgesetzt werden mit Organspenden verboten sein soll. Verstorbener, dann sind wir nicht mehr weit entfernt von der Philosophie eines Peter Singer, der den Wert Die Entscheidung, später einmal in einem nicht mehr eines Menschen und sein Lebensrecht am Grad seiner einwilligungsfähigen Zustand, sei es wegen einer fort- Bewusstseins­entwicklung festmacht und zum Beispiel geschrittenen Demenz, sei es wegen eines schweren Ge- postuliert, dass die Tötung eines behinderten Säuglings hirnschadens, an einer rein gruppennützigen Forschung sehr oft gar kein Unrecht sei. Einer solchen selektiven teilzunehmen, ist für mich auch ein Ausdruck von in- Ethik kann ich, auch vor dem Hintergrund der deutschen dividueller Selbstbestimmung, wie ich es mit Voraus- Geschichte, nur schärfstens widersprechen. verfügungen wie dem Organspendeausweis oder einer Vorsorgevollmacht auch mache. Eine solch freiwillige Dann wurde in der Debatte recht oft darauf hingewie- Entscheidung ist auch Ausdruck gelebter Solidarität mit sen, dass ja die Ethikkommissionen schon für ausreichen- von der gleichen Krankheit betroffenen Menschen. Bei den Schutz der besonders verletzlichen Personen sorgen PatientInnen mit schweren Erkrankungen ist die Bereit- würden. Dabei hebelt dieser Gesetzentwurf gerade die schaft, auch ohne unmittelbaren Eigennutzen an der me- Unabhängigkeit der Ethikkommissionen teilweise aus. dizinischen Forschung zu ihrer Erkrankung mitzuwirken, Dieselbe Behörde, die auch die Arzneimittelstudien ge- durchaus weit verbreitet. nehmigt, soll künftig auch für die Registrierung der Lan- desethikkommissionen zuständig sein. Und die Voten der Aktuell gibt es noch keine zufriedenstellende Medi- Ethikkommissionen sollen nicht mehr verbindlich, son- kation für die unterschiedlichen Phasen der dementiellen dern nur noch maßgeblich berücksichtigt werden müssen. Erkrankungen. Aber auch Menschen in späteren Stadien der Demenzerkrankung sollen am medizinischen Fort- In der Kombination erst werden diese beiden schein- schritt teilnehmen können. Vielleicht gibt es in einigen bar kleinen Änderungen zu einem potenziell kritischen Einfallstor für unethische Forschung an menschlichen (B) Jahr(zehnt)en Möglichkeiten der Linderung, der Heilung. (D) Diese Chancen auf wichtige Erkenntnisgewinne zur Be- Versuchsobjekten. Als Gesundheitspolitikerin muss ich handlung der Erkrankung Demenz möchte ich ergreifen. die Würde des Menschen und den Respekt vor seinen individuellen und sozialen Rechten viel zu oft gegen die Deshalb stimme ich dem Änderungsantrag der Abge- Zumutungen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems ordneten Hilde Mattheis und Sabine Dittmar zu. verteidigen, das Krankheit als Rohstoff und Gesundheit als Ware behandelt und in dem der Mensch als Patien- tin oder Patient eben nur das Objekt widerstrebender Kathrin Vogler (DIE LINKE): Am Mittwoch haben wir hier in einer sehr kontroversen Debatte quer durch Geschäftsinteressen ist. Für mich sind Menschen, ganz alle Fraktionen über drei Änderungsanträge zu dieser hier gleich wie schwer beeinträchtigt, erkrankt oder behindert vorliegenden Novelle des Arzneimittelgesetzes debattiert sie sind, niemals als Objekt zu behandeln, auch nicht für und abgestimmt. Dabei ging es um die Frage, ob und unter einen vermeintlich guten Zweck. welchen Bedingungen nichteinwilligungsfähige Erwach- Deswegen stimme ich heute gegen den Gesetzentwurf sene als Versuchspersonen in klinische Arzneimittelstudi- der Bundesregierung. en einbezogen werden dürfen, auch wenn sie davon indi- viduell keinen Nutzen zu erwarten haben. Ich habe hier für die Annahme eines Änderungsantrags geworben, der dies Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Ich stimme auch weiterhin verbieten und damit die bisher in Deutsch- heute in der Dritten Beratung des Entwurfs eines Vierten land geltenden Gesetzeslage bestätigen sollte. Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und ande- rer Vorschriften auf Drucksache 18/8034 mit Nein. Die Mehrheit des Parlaments hat sich aber dafür ent- schieden, alle drei Änderungsanträge abzulehnen und mit Grund meiner Ablehnung ist die Einführung von dem ursprünglichen Regierungsentwurf diejenige Rege- fremdnützigen klinischen Arzneimittelprüfungen an lung zu wählen, die ich absolut für die schlechtestmögli- nichteinwilligungsfähigen Menschen, die ausschließlich che halte. Ehrlich gesagt, ich habe nicht damit gerechnet, einen Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgrup- dass die intensive Beratung in den Parlamentsgremien pe, zu der die betroffene Person gehört, zur Folge ha- über ein so brisantes Thema an der absoluten Mehrheit ben wird, nicht jedoch für den nichteinwilligungsfähigen des Hauses so komplett vorbeigehen kann. Probanden selbst, sogenannte gruppennützige klinische Prüfungen. Diese lehne ich aus ethischen Gründen ab Deswegen kann ich das ganze Gesetz heute nur ableh- und bekenne mich zu dem vom Deutschen Bundestag am nen, auch wenn sich meine Fraktion für eine Enthaltung 31. Januar 2013 einstimmig gefassten Beschluss: „Bei entschieden hat. Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 20049

(A) und an Personen in Notfallsituationen ist ein direkter in- Rücktritts. Dies ist bei nicht mehr einwilligungsfähigen (C) dividueller Nutzen vorauszusetzen.“ Patienten nicht gegeben. Die erkennbare Praxisuntauglichkeit der vorgesehe- Darüber hinaus öffnet diese Möglichkeit der fremd- nen schriftlichen Verfügung nach ärztlicher Aufklärung nützigen Forschung an nichteinwilligungsfähigen – und wird absehbar zu der Forderung führen, die schriftliche damit auch nicht rücktrittsfähigen – Patienten die Tür zu Verfügung einschließlich der ärztlichen Aufklärung als einem Präferenzutilitarismus, wie ihn der australische zwingende Voraussetzung gruppennütziger klinischer Philosoph Peter Singer vertritt. Dieser vertritt aber ein Prüfungsteilnahme nichteinwilligungsfähiger Personen zu Menschenbild, das mit der Würde des Menschen in ei- streichen. Dies ist umso naheliegender, als diese Forde- nem christlichen Verständnis nicht mehr vereinbar ist rung von als vermeintlichen Befürwortern der jetzt getrof- und zu Recht abgelehnt wird. fenen Regelung vorgestellten Gruppen bereits während der parlamentarischen Beratungen erhoben worden ist. Daher halte ich die Befürchtung für begründet, dass die Anlage 5 heutige begrenzte Zulassung fremdnütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen der Türöffner für die Amtliche Mitteilung ohne Verlesung zukünftige Einbeziehung zusätzlicher besonders vulnerab- Der Bundesrat hat in seiner 950. Sitzung am 4. No- ler Gruppen in fremdnützige Forschung ist. vember 2016 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- Katrin Werner (DIE LINKE): Der Deutsche Bun- satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: destag stimmt heute über einen Entwurf der Bundesre- gierung eines Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimit- – Gesetz zur Änderung des Kommunalinvestitions- telrechtlicher und anderer Vorschriften ab. Zu diesem förderungsgesetzes und zur Änderung weiterer Ge- Gesetz wurden mehrere Gruppenänderungsanträge ein- setze gebracht. – Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungs- Bisher ist eine sogenannte gruppennützige Forschung gesetz 2016/2017 (BBVAnpG 2016/2017) an Nichteinwilligungsfähigen nach dem Arzneimittel- – Gesetz zur weiteren Fortentwicklung der parla- recht ausgeschlossen. Der vorliegende Gesetzentwurf der mentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste Bundesregierung will dieses Verbot nun insoweit aufwei- des Bundes chen, dass zukünftig eine Teilnahme volljähriger Nicht- einwilligungsfähiger auch ohne persönlichen Nutzen – Gesetz zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklä- (B) zulässig ist, wenn die Betroffenen im früheren Zustand rung des Bundesnachrichtendienstes (D) der Einwilligungsfähigkeit mittels Patientenverfügung – Zweites Gesetz zur Änderung des Berufskraftfah- nach § 1901a BGB einer Teilnahme zugestimmt haben. rer-Qualifikations-Gesetzes Die Regelung wird voraussichtlich vor allem Menschen mit neurodegenerativen, beispielsweise dementiellen Er- – Gesetz über die elektromagnetische Verträglichkeit krankungen betreffen. von Betriebsmitteln (Elektromagnetische-Verträg- lichkeit-Gesetz – EMVG) Die Würde und Sicherheit der Probandinnen und Pro- banden muss immer im Vordergrund stehen. Forschung – Gesetz zur Änderung der Artikel 8 und 39 des an nichteinwilligungsfähigen Personen muss mit einem Übereinkommens vom 8. November 1968 über den erwartbaren Eigennutzen verbunden sein. Ansonsten droht Straßenverkehr eine Verzweckung von Menschen. Leider hat der Ände- Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie rungsantrag zur Erhaltung der derzeitigen hohen Schutz- gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von standards keine Mehrheit gefunden. Daher habe ich heute einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen gegen den Gesetzentwurf der Bundesregierung gestimmt. absehen:

Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Ich lehne die Haushaltsausschuss nicht fremdnützige Forschung an nicht mehr einwilli- gungsfähigen Patienten ab. Patienten müssen in der Lage – Unterrichtung durch die Bundesregierung sein, eine einmal gegebene Einwilligung jederzeit wieder Haushaltsführung 2016 zurückziehen zu können. Können sie dies nach dem Ver- lust ihrer Einwilligungsfähigkeit nicht und werden Ob- Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaus- jekte fremdnütziger Forschung, werden sie als Mittel für haltsordnung über die Einwilligung in eine über- Zwecke anderer benutzt. Dies ist mit der Menschwürde planmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 671 aus meiner Sicht nicht vereinbar. 03 – Erstattung der Kosten für Maßnahmen im Fi- schereisektor – bis zur Höhe von 8 Mio. Euro Dagegen kann auch nicht argumentiert werden, dass der Mensch sich altruistisch verhalten könne. Sosehr dies Drucksachen 18/9224, 18/9596 Nr. 1.4 zutrifft und etwa die freiwillige Teilnahme an fremdnüt- ziger Forschung oder die Spende von Organen bei Le- Ausschuss für Wirtschaft und Energie benden Beispiele eines solchen altruistischen Verhaltens sind, beruhen sie auf der Möglichkeit des jederzeitigen – Unterrichtung durch die Bundesregierung 20050 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016

(A) Sondergutachten der Monopolkommission gemäß Ratsdokument 8145/11 (C) § 62 Absatz 1 des Energiewirtschaftsgesetzes Drucksache 18/419 Nr. C.12 Ratsdokument 8160/11 Energie 2015: Ein wettbewerbliches Marktdesign Drucksache 18/419 Nr. C.13 für die Energiewende Ratsdokument 8163/11 Drucksachen 18/6432, 18/6605 Nr. 1.4 Drucksache 18/1393 Nr. A.24 Ratsdokument 7838/14 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpoli- Finanzausschuss tik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre 2015 Drucksache 18/9746 Nr. A.3 (Rüstungsexportbericht 2015) Ratsdokument 11583/16 Drucksachen 18/9160, 18/9595 Nr. 1.2 Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 18/2677 Nr. A.10 Sondergutachten der Monopolkommission gemäß Ratsdokument 12816/14 § 62 Absatz 1 des Energiewirtschaftsgesetzes Drucksache 18/4857 Nr. A.6 Energie 2015: Ein wettbewerbliches Marktdesign Ratsdokument 7634/15 für die Energiewende Drucksache 18/8140 Nr. A.13 EP P8_TA-PROV(2016)0064 Drucksache 18/6432 Drucksache 18/8293 Nr. A.8 hier: Stellungnahme der Bundesregierung Ratsdokument 7614/16 Drucksache 18/8293 Nr. A.9 Drucksachen 18/9870, 10102 Nr. 1.6 Ratsdokument 7616/16 Drucksache 18/8470 Nr. A.18 Ratsdokument 8100/16 Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 18/8470 Nr. A.19 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 8104/16 Drucksache 18/8936 Nr. A.20 Zwölfter Bericht der Bundesregierung über die Er- Ratsdokument 9610/16 fahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmer- Drucksache 18/8936 Nr. A.21 überlassungsgesetzes Ratsdokument 9611/16 (B) (D) Drucksachen 18/673, 18/817 Nr. 4 Drucksache 18/8936 Nr. A.23 Ratsdokument 9727/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.51 Ausschuss für Kultur und Medien Ratsdokument 10847/16 Drucksache 18/9605 Nr. A.52 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 11120/16 Weiterentwicklung der Konzeption zur Erfor- Drucksache 18/9746 Nr. A.4 schung, Bewahrung, Präsentation und Vermittlung Ratsdokument 11772/16 der Kultur und Geschichte der Deutschen im öst- Drucksache 18/10116 Nr. A.20 lichen Europa nach § 96 des Bundesvertriebenen- EP P8_TA-PROV(2016)0333 gesetzes Drucksache 18/10116 Nr. A.21 Ratsdokument 12153/16 Drucksache 18/7730 Drucksache 18/10116 Nr. A.22 Ratsdokument 12364/16 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Beratung abgesehen hat. Bau und Reaktorsicherheit Drucksache 18/9605 Nr. A.58 Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ratsdokument 10864/16 Drucksache 18/419 Nr. A.49 Drucksache 18/9605 Nr. A.59 Ratsdokument 17392/13 Ratsdokument 11482/16 Drucksache 18/419 Nr. A.50 Drucksache 18/9605 Nr. A.62 Ratsdokument 17618/13 Ratsdokument 11522/16 Drucksache 18/419 Nr. A.51 Ratsdokument 17621/13 Drucksache 18/419 Nr. A.52 Ausschuss für Bildung, Forschung und Ratsdokument 17633/13 Technikfolgenabschätzung Drucksache 18/419 Nr. C.9 Ratsdokument 8065/13 Drucksache 18/9141 Nr. A.35 Drucksache 18/419 Nr. C.10 Ratsdokument 10209/16 Ratsdokument 8066/13 Drucksache 18/9605 Nr. A.67 Drucksache 18/419 Nr. C.11 Ratsdokument 10826/16 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 200. Sitzung. Berlin, Freitag, den 11. November 2016 Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333