Europäische Hochschulschriften 439

Christoph Schlingensief und seine Auseinandersetzung mit

Mit einem Nachwort von Anna-Catharina Gebbers und einem Interview mit Carl Hegemann

Bearbeitet von Kaspar Muehlemann

1. Auflage 2011. Taschenbuch. 163 S. Paperback ISBN 978 3 631 61800 4 Gewicht: 230 g

Weitere Fachgebiete > Musik, Darstellende Künste, Film > Theaterwissenschaften > Schauspieler, Regisseure, Theaterleitung

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1. Einleitung

Die künstlerische Welt von Christoph Schlingensief ist geprägt von seiner beeindruckenden Vielseitigkeit. Von Kindesbeinen an drehte er etliche Filme, ab den 1980er-Jahren auch fürs Kino. Er trat als ­Theater­regisseur, Schauspieler, Hörbuchautor, Kolumnenverfasser, TV-Moderator­ und Aktionskünstler in Erscheinung und fungierte seit seiner Berufung nach Bayreuth (2004) auch als Opernregisseur. Da­rüber hinaus betätigte er sich als bildender Künstler und Autor eigener Stücke. Alle künstlerischen Felder, in denen sich Schlingensief bewegte, flossen in seine Projekte ein, die wiederum nahtlos ineinander übergehen. Bei näherer Betrachtung von Schlingensiefs Werk zeigt sich deut- lich, dass Joseph Beuys darin einen zentralen Stellenwert einnimmt. Allerdings wäre es falsch, von einem Einfluss zu sprechen, den Beuys auf Schlingensief ausgeübt habe. Michael Baxandall wies in seinem „Exkurs wider den Einfluss“ darauf hin, dass der häufig verwendete Terminus „Einfluss“ eine verzerrte Sicht auf die Relationen verschie- dener Künstler zueinander evoziert.1 Die vorliegende Beziehung defi- niert sich über die aktive Auseinandersetzung Schlingensiefs mit Beuys, der darauf keinerlei Einfluss ausüben konnte. Während das Werk von Beuys in der bildenden Kunst seinen Ausgang nahm, wurzelt Schlingensiefs künstlerische Tätigkeit in der Beschäftigung mit Film. Trotz abweichender künstlerischer Herkünfte ließen sich zahlreiche Parallelen zwischen den beiden deutschen Kunst- schaffenden aufzeigen, wie dies Rahel Leupin unternommen hat.2 Das Ziel dieser Studie ist allerdings keine direkte Gegenüberstellung der

1 Cf. Michael Baxandall: Ursachen der Bilder. Über das historische Erklären von Kunst, : Reimer 1990, S. 102–105. 2 Cf. Rahel Leupin: Grenzgänge zwischen Kunst und Politik. Joseph Beuys und Christoph Schlingensief, in: Andreas Kotte (Hrsg.): Theater im Kasten: Rimini Protokoll – Castorfs Video – Beuys & Schlingensief – Lars von Trier (­Materialien

9 ­Künstler. Im Zentrum steht das Werk von Schlingensief mit seinen Verarbeitungsweisen von Beuys’schem Material, das im Kontext der Verwendung auf seine Funktionen hin untersucht wird. Nach dem Forschungsstand im folgenden Kapitel demonstriert der erste Haupt- teil „Beuys im Werk von Schlingensief“ mit welchen Verfahren Schlin- gensief dem Erbe von Joseph Beuys begegnete. Dazu wurde das Gesamtwerk des Künstlers nach Beuys-Referenzen abgesucht, soweit dies die Dokumentationslage und die Zugänglichkeit der Materialien erlaubten. In der breit angelegten Analyse wird evident, dass die Bezug- nahmen Schlingensiefs auf Beuys zahlreich sind, sowie dass sie über einen längeren Zeitraum stattgefunden und vielfältige Zwecke erfüllt haben. Um der Übersichtlichkeit willen sind sie in fünf Kategorien gegliedert. Obschon Schlingensiefs künstlerische Beschäftigung mit Beuys ein überwiegend positives Verhältnis bezeugt, wird auch dem im einleitenden Zitat3 angesprochenen Zweifel, der sich in kritischen Bezugnahmen äußert, mit einer eigenen Kategorie („Beuys wird kriti- siert“) Rechnung getragen. Das vierte Kapitel als zweiter Hauptteil vertieft den Blick auf Schlin- gensiefs Auseinandersetzung mit Beuys. Es steht unter dem Motto „Zeige deine Wunde“, das sich von Beuys ableitet und das Schlingen- sief zu einem Leitmotiv für die Arbeiten nach seiner Krebserkran- kung machte. Zwei jüngere Theaterstücke werden dabei exemplarisch im Detail nach Beuys-Bezügen durchforscht: „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ (UA: 2008) und „Mea Culpa“ (UA: 2009). Die Ergründung von Funktion und Bedeutung der Beuys-Materia- lien erfolgt im Rahmen einer eingehenden Untersuchung, die unter Berücksichtigung des jeweiligen szenischen Kontextes sowie des über- geordneten Aufbaus der Stücke mit den im dritten Kapitel herausge- arbeiteten Arten der Bezugnahme operiert. Abschließend werden in der „Schlussbetrachtung“ die wesentlichen Erkenntnisse dieser Studie zusammengeführt.

des Instituts für Theaterwissenschaft Bern, Bd 9), Zürich: Chronos 2007, S. 219–290. 3 Cf. S. 5.

10 Folgende Medien dienten als Grundlage der Analysen: Filmmate- rialien4, Programmhefte5, Fotografien, Regiebücher6, Hörspiele7 von Schlingensief, eigene Aufzeichnungen zu Aufführungen von „Mea Culpa“8, publizierte Interviews mit Schlingensief bzw. Beuys und ein Gespräch mit Carl Hegemann9. Die verwendeten Materialien stammen von unterschiedlichen Bezugsorten: von den vielzähligen (Projekt-)­ Homepages Schlingensiefs, aus den Archiven der „Volksbühne Ber- lin“, des „Schauspielhauses Zürich“ und des „Burgtheaters Wien“, von Galerie-Vertretungen des Künstlers, von der Film- und Fernseh- Produktionsfirma „Avanti Media“, aus der Sekundärliteratur, aus Zei- tungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen. Teilweise stützen sich die Erörterungen von Schlingensiefs Theaterarbeiten und Aktionen auf filmische Aufzeichnungen, obschon diese, aufgrund der fehlenden „Feedback-Schleife“10 nur beschränkt die Bestandteile der Aufführun- gen wiedergeben können und durch Filmschnitt sowie Kameraführung die Aufmerksamkeit des Publikums entscheidend beeinflussen. Der große Vorteil der Arbeit mit Aufzeichnungen liegt darin begründet,

4 Diese umfassen 1. von Schlingensief gedrehte Filme, die teilweise in sons- tige Arbeiten integriert wurden, 2. Live-Mitschnitte (Volksbühne Berlin: „Atta Atta“ und „Kühnen ’94“; Wien: „Bambiland“; Schauspiel- haus Zürich: „“ und „Attabambi-Pornoland“; Theater am Neumarkt, Zürich: „Sterben lernen!“), 3. Fernsehaufzeichnungen (3sat: „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“; MTV: „U-3000“) und 4. veröffentlichte DVDs (Burgtheateredition: „Mea Culpa“; Filmgalerie 451: „Talk 2000“; Edition Salz- geber: „Freakstars“). 5 „Atta Atta“, „Bambiland“, „Area 7“, „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ und „Mea Culpa“. 6 „Mea Culpa“ und „Sterben lernen!“. 7 „Lager ohne Grenzen“ und „Learn German with a real german show-host“. 8 Als Mitwirkender konnte ich sämtliche Vorstellungen von „Mea Culpa“ im Burgtheater vom Bühnengraben aus mitverfolgen. 9 Das Interview findet sich im Anhang auf S. 141. 10 Erika Fischer-Lichte etablierte, als wesentlichen Bestandteil von Aufführungen, den Begriff „Feedback-Schleife“, der die untrennbare Relation zwischen der Performance der Aufführenden und der Reaktion des Publikums beschreibt. Cf. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen (Suhrkamp 2373), Frank- furt a. M.: Suhrkamp 2004.

11 dass diese es ermöglichen, in einem wissenschaftlich nachvollziehbaren Rahmen auch vergangene Aufführungen zu untersuchen. Aus diesem Grunde überwiegt der Nutzen gegenüber den genannten Problemati- ken und rechtfertigt sich die Berücksichtigung filmischer Mitschnitte, ohne die manche Projekte Schlingensiefs nicht oder nur unzureichend analysiert werden könnten. Die Suche nach einer geeigneten Fachterminologie, zur adäquaten Beschreibung der untersuchten künstlerischen Bezugnahmen, führte zu einem methodisch wenig befriedigenden Ergebnis. Christoph Zuschlag wies darauf hin, dass es zwar eine Vielzahl von Begriffen für die Rela- tionen verschiedener Kunstwerke zueinander gebe, dass allerdings deren Definitionen und Gebrauch in der Fachliteratur nicht einheitlich seien. 2006 führte er den Begriff der Inter­ikonizität ein, der als neu- traler Oberbegriff ganz allgemein den Bezug zwischen Kunstwerken, unabhängig von ihrer Sparte, umschreibt.11 Mit der Bezeichnung Inter­ ikonizität sollte, als Beitrag zur Entschärfung der genannten Problema- tik, der Ausgangspunkt einer noch zu erstellenden Theorie geschaffen werden. Mangels gesicherter Terminologie und theoretischer Grund- lage wird in dieser Studie ein zurückhaltender Umgang mit dem reich- haltigen Vokabular zur Beschreibung spezifischer künstlerischer Rück- griffe, gepflegt. Der Terminus Interikonizität erlaubt es, der Definition von Zuschlag folgend, eine Verbindung zwischen Kunstwerken, auch unterschiedlicher Medien, neutral anzuzeigen, ohne die jeweilige ästhe- tische Form oder die inhaltliche Funktion vorwegzunehmen. Aufgrund der hohen medialen Präsenz von Christoph Schlingensief und Joseph Beuys existieren von beiden Künstlern zahlreiche Eigenaus- sagen zu ihren verschiedenen Arbeiten. Einzelne ausgewählte Anmer- kungen wurden aufgenommen, wo dies fruchtbar erschien, obwohl die Frage der Relevanz solcher Autorenkommentare umstritten ist:

11 Weiter stellte Zuschlag fest, dass eine umfassende Theorie bis heute fehle, „auf deren Grundlage sich das Phänomen epochen- und gattungsübergreifend analysieren ließe“. Cf. Christoph Zuschlag: Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität, in: Silke Horstkotte, Karin Leonhard (Hgg.): Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, Köln (u. a.): Böhlau 2006, S. 90.

12 „Poststrukturalistischen Theoriemodellen zufolge sind Fragen nach dem Wissen und der Intention des Autors wie auch des Rezipienten, ja überhaupt die Kategorie des Subjektes, […] irrelevant und obsolet. […] Die Frage des Stellenwerts von Intentionalität und Autorschaft […] gehört meines Erachtens zu den schwierigsten überhaupt.“12 Da Schlingensiefs Werk stark autobiografisch geprägt ist, macht es, bei aller gebotenen Vorsicht, durchaus Sinn, seine Hinweise zu eige- nen Projekten, nicht ganz zu vernachlässigen. Sie werden keineswegs bestimmend in die Analysen integriert, sondern sollen diese lediglich um die interessanten Aspekte der künstlerischen Eigensicht und bio- grafischen Bezüge erweitern. Zu den vorgestellten Arbeiten finden sich jeweils in den Fußno- ten Angaben zu weiterführender Literatur und zu Projekthomepages­ des Künstlers. Die offizielle Webseite von Christoph Schlingen- sief bietet darüber hinaus eine Fülle an Bild-, Audio-, Film- und Textmaterialien.13

12 Christoph Zuschlag: Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität, 2006, S. 97. 13 Cf. http://www.schlingensief.com (Zugriff: 19.06.2011).

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