NEUERSCHEINUNG MUSIKWISSENSCHAFT

Richard Strauss im Arbeits- zimmer seiner Garmischer Villa.

Edition „In der Partitur steht es genau, wie ich es haben will“

Die ersten Bände der Kritischen Ausgabe der Werke von sind erschienen.

Von Andreas Pernpeintner und Stefan Schenk

Der Dom zu Speyer.

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sind das insbesondere , Nichts, , Allerseelen, Ständchen, Ruhe, meine Seele!, Cäcilie, , Mor- gen! oder Traum durch die Dämmerung. Fast SEIT MÄRZ 2017 LIEGEN die ersten beiden ebenso bekannt sind die Mädchenblumen- Bände des Akademieprojekts Kritische Ausga- Lieder op. 22, von Strauss einst als „eigen- be der Werke von Richard Strauss vor. Wissen- tümliche Experimente“ bezeichnet. Erstmals schaftlich erarbeitet wurden die Editionen an arbeitete er bei ihrer Drucklegung mit dem der Forschungsstelle Richard-Strauss-Ausgabe, Verleger Adolph Fürstner zusammen, der die die seit 2011 unter der Leitung von Hartmut Lieder vom Komponisten Otis Bardwell Boise Schick an der Ludwig-Maximilians-Universität überarbeiten ließ. Strauss war darüber nicht Undatierte Beilage (um 1944) München besteht und von Gremien der erfreut, akzeptierte jedoch einige Änderun- zu einem Brief von Kurt Soldan Akademie begleitet wird. Finanziert wird das gen – unter der Bedingung, dass es zusätzlich an Richard Strauss, von Richard Vorhaben im Akademienprogramm von Bund eine Ausgabe exakt nach seinem Autograph Strauss mit Kommentaren und Ländern. versehen.

Viele editorische, technische und administrative Weichenstel- lungen gingen mit den beiden Pilotbänden einher, die zwei der zentralen Schaffensbereiche von Richard Strauss (Lieder und große Orchesterwerke) zum Gegenstand haben: • Lieder op. 10 bis op. 29, heraus- gegeben von Andreas Pern- peintner • op. 23, herausgegeben von Stefan Schenk und Walter Werbeck.

Begleitend – ganz im Sinne einer modernen Hybrid-Ausgabe – wurde die Online-Plattform zur Ausgabe freigeschaltet: www. richard-strauss-ausgabe.de. Sie enthält ein ergänzendes Angebot zu den gedruckten Notenbän- den: Briefe, Rezensionen, Bilder und andere Dokumente zu den edierten Bühnen- und Orches- terwerken, Dokumentationen der Gesangstexte zu den Vokal- werken. Ein Jahr nach Erscheinen der Bände werden hier, gemäß der Open-Access-Strategie des Akademienprogramms, auch die Einleitungen und Kritischen Be- richte frei zugänglich gemacht. So lassen sich auch nach Erscheinen der Bände neueste Forschungser- gebnisse präsentieren.

Lieder op. 10 bis op. 29

Richard Strauss komponierte rund 200 Lieder, einige davon gehören zum Standardreper-

ABB.: RICHARD-STRAUSS-ARCHIV; VERLAG DR. RICHARD STRAUSS, WIEN; MÜNCHNER STADTBIBLIOTHEK, MONACENSIA MÜNCHNERWIEN; STADTBIBLIOTHEK, RICHARD DR. STRAUSS, VERLAG RICHARD-STRAUSS-ARCHIV; ABB.: toire. Aus dem aktuellen Band

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ins Jahr 1895. Erstmals wurden Lieder von Richard Strauss nach modernem wissenschaftlichen Standard ediert; rund 60 Quellen waren heranzuziehen. Die Lieder erscheinen in originaler Stimm- lage und in originaler Sprache. Der eingebundene Kritische Be- richt legt über jeden editorischen Schritt Rechenschaft ab.

Gedichtlektüre als Grundlage der Lieder

Es war die Gedichtlektüre, die bei Strauss am Beginn eines Liedes stand. Im Garmischer Richard- Strauss-Archiv existieren noch viele Gedichtbände aus seiner Handbibliothek. Manche ent- halten sogar erste musikalische Skizzen. Die Liedkomposition begann, noch während Strauss das Gedicht in Händen hielt. Diese Textvorlagen werden auf der Online-Plattform der Richard- Strauss-Ausgabe nachgewiesen und den Liedertexten gegen- übergestellt. Unterschiede lassen sich dort farbig hervorheben, bis hin zu kompositionsbedingten Eingriffen (Wort- und Verswie- derholungen). Wie Strauss aus Gedichten Musik machte, lässt sich so leichter verstehen.

Bei der Edition sämtlicher Strauss-Lieder kann man sich im besonderen Maße auf den Kom- ponisten berufen, denn Strauss selbst zeigte in den 1940er Jahren größtes Interesse an einer Gesamtausgabe seiner Lieder. Der Kapellmeister Kurt Soldan Autograph und Neusatz Breit hatte für die Verlage C. F. Peters über mein Haupt, Spätfassung. geben solle. Dazu kam es nicht. Deshalb und Universal Edition eine solche Ausgabe ist die Manuskript-Fassung in der Richard- so gut wie fertiggestellt, bevor das Projekt Strauss-Ausgabe nun erstmals erschienen. in den Kriegswirren unterging. Strauss hatte Die Unterschiede zur etablierten Fassung sind sich stark engagiert, Korrekturabzüge kontrol- fein, doch galt es, Strauss’ Wunsch nach einer liert, persönlich editorische Entscheidungen Bereinigung der Lieder von Eingriffen fremder von letzter Hand getroffen. Einige davon sind Hand zu erfüllen. durch alte Korrespondenz greifbar und wur-

den nun berücksichtigt. WIEN RICHARD DR. STRAUSS, VERLAG WIEN; RICHARD DR. STRAUSS, VERLAG / MÜNCHNER STADTBIBLIOTHEK ABB.: Der neue Liederband setzt mit den ersten Lie- dern ein, die Strauss publizierte, den Liedern op. 10 von 1885, und er reicht mit op. 29 bis

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Strauss als Interpret seiner musikalischen Inhalt betreffen: neue Dyna- eigenen Lieder mikangaben oder Vortragsanweisungen, mit- unter sogar geänderte Töne der Singstimme. Tatsächlich beschäftigte sich Strauss sein Le- Natürlich handelt es sich um Spezialitäten für ben lang mit Liedern, vom Weihnachtslied des Paulines Interpretationen, nicht um dauerhafte Sechsjährigen bis zu seiner letzten vollendeten Eingriffe. Doch immerhin war es der Komponist Komposition, dem Lied Malven von 1948, als er selbst, der diese Eintragungen als Klavierbe- 84 Jahre alt war. Nur zwischen 1906 und 1918 gleiter guthieß oder sie sogar eigenhändig in komponierte er keine Lieder. Die Gründe dafür die Noten schrieb. Dieser exklusive Einblick liegen wohl darin, dass er sich damals auf in Strauss’ Lied-Interpretationen wird durch Opern konzentrierte und dass sich seine Gattin die neue Edition erstmals allen Interessierten Pauline, die ihm als die ideale Sängerin seiner ermöglicht: als Dokumentation im Kritischen Lieder galt, von den Bühnen zurückgezogen Bericht, in musikalisch substanziellen Fällen hatte. Gerade in Pauline zeigt sich auch, dass sogar direkt im Notentext. dem Lied für Strauss ein persönliches Moment innewohnte. Nicht nur, dass er ihr etliche Lieder In einer weiteren Hinsicht spielt Strauss’ widmete, er führte die Lieder auch mit ihr Musizierpraxis eine Rolle: Auch nachdem zusammen auf. So gingen öffentliches Konzer- Pauline nicht mehr auftrat, begleitete er seine tieren und häusliches Musizieren des Ehepaars Lieder in Konzerten. Es wird berichtet, dass Strauss eine Verbindung ein. Es gibt Noten er dabei geradezu improvisatorisch spielte. aus Pauline Strauss’ Besitz, die davon Zeugnis Einem Umblätterer flüsterte er einmal zu: „Sie Blick in die Kritische Ausgabe geben, denn wie alle Musiker machten sich die dürfen aber nicht in die Noten schauen, denn der Werke von Richard Strauss: Straussens darin Notizen. Diese reichen von ich spiel’s ganz anders.“ So geschah es auch Zweite und dritte Fassung der Atemzeichen bis hin zu Eintragungen, die den beim Lied Breit über mein Haupt op. 19 Nr. 2 Tondichtung Macbeth in synop- tischer Darstellung.

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Die Tondichtung Macbeth op. 23

Unter den Tondichtungen von Ri- chard Strauss, groß orchestrierten Orchesterwerken, deren populäre Vertreter wie Till Eulenspiegels lus- tige Streiche, Also sprach Zarathus- tra oder Eine Alpensinfonie selbst für renommierte Orchester eine Herausforderung darstellen, spielt der weniger bekannte Macbeth eine besondere Rolle. Mit diesem Stück sah sich der junge Strauss auf einem „ganz neuen Weg“. Sein ganz eigener Zugang zu dieser von poetischen Texten oder Ideen inspirierten Gattung war mit dem Macbeth gefunden. Nicht weniger als drei Anläufe brauchte Strauss, um zu einer endgültigen Fassung zu gelangen; jedes Mal schrieb er eine vollständige Partitur. Beson- ders der Schritt von der zweiten zur (gültigen) dritten Fassung zeigt, wie sich Strauss hier zu einem Meister der virtuosen Orchesterbehandlung entwickel- te – der direkte Vergleich liefert geradezu eine Lehrstück, wie aus einer bereits guten Partitur eine außerordentlich gute entsteht. So ergab sich für die Kritische Ausgabe die Herausforderung, Letzte Fassung der Tondichtung mehrere Werkfassungen von Macbeth: ein unspielbarer aus dem Jahr 1888. Tatsächlich existieren zwei sehr unterschiedlicher Quellenlage zu edieren Ton im Autograph, darunter Tonaufnahmen dieses Liedes, bei denen Strauss und sie benutzerfreundlich anzuordnen. Im die missglückte Korrektur im das Klavier spielt. 1921, mit dem Sänger Robert Macbeth-Band ermöglicht es nun eine synopti- alten Druck, unten die Kritische Hutt, folgt er noch recht exakt dem originalen sche Darstellung, die beiden letzten Partituren Ausgabe. Notentext. 1942 jedoch, mit dem Sänger Anton synchron zu lesen: auf den rechten Seiten die Dermota, klingt Breit über mein Haupt anders. dritte, endgültige Fassung, dazu auf den linken Singstimme und Harmonik sind unverändert, Seiten die vorhergehende, zweite Fassung. die Figuration des Klavierparts ist neu: Aus liegenden Akkorden wird harfenartiges Arpeg- Edition dreier Fassungen gio, ruhige Achtelfiguren werden zu filigranen Läufen – typisch für Strauss’ ausschmückende Beim Edieren der drei Fassungen mussten Spielweise. Bei Breit über mein Haupt aber blieb unterschiedliche Verfahrensweisen angewandt es nicht beim Improvisieren. Strauss schrieb werden: Die Edition der dritten, gültigen Fas- die neue Begleitung im Jahr 1944 tatsächlich sung entstand – mit dem Ziel, den Komponis- nieder – zwei Jahre nach der Einspielung mit tenwillen bestmöglich zu rekonstruieren – aus Dermota, über 50 Jahre nach der Kompositi- der differenzierten Bewertung und Kombina- on. So wurde aus einer Improvisationslaune tion der wichtigsten Quellen: Erstdruck von eine wirkliche Spätfassung. In der Kritischen Partitur und Orchesterstimmen sowie das in Richard-Strauss-Ausgabe ist sie nun erstmals New York aufbewahrte Autograph. Dagegen im Druck erschienen. liegt bei der zweiten, verworfenen Fassung der Schwerpunkt auf der Dokumentation ihrer einzigen zugänglichen Quelle, einer Film-

Rückvergrößerung des Partiturmanuskripts. Die PRIVATBESITZ WIEN; RICHARD DR. STRAUSS, VERLAG STAATSBIBLIOTHEK; BAYERISCHE NY; LIBRARY MORGAN ABB.:

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erste Fassung wiederum liegt nur in Fragmen- musikalisch richtig gedacht – und so steht DIE AUTOREN ten vor: sieben autographe Partiturseiten, von er auch bei Strauss im Autograph. Dagegen Dr. Andreas Pernpeintner und denen drei nur noch als Katalogabbildungen hatte man beim alten Druck einfach das b- Dr. Stefan Schenk sind seit verfügbar sind. Hier entschied man sich für die Vorzeichen weggelassen – dann wäre der Ton Projektbeginn 2011 wissen- Faksimile-Wiedergabe und eine Kommentie- gerade noch spielbar, doch falsch. Die Quellen schaftliche Mitarbeiter der von rung im Rahmen der Einleitung. bieten aber noch mehr: In den alten Orches- der Bayerischen Akademie der terstimmen existiert eine weitere Variante, Wissenschaften getragenen Die synoptische Darstellung von zweiter und die musikalisch akzeptabel scheint und die Kritischen Ausgabe der Werke dritter Fassung lädt vor allem zum Vergleich insofern autorisiert ist, als Strauss nachweislich von Richard Strauss an der LMU ein. Einer der auffälligsten Unterschiede be- an den Stimmen mitgewirkt hat. Die Kritische München und edieren die Lieder steht darin, dass Strauss für die dritte Fassung Ausgabe löst nun den Konflikt: Im Notentext bzw. die Tondichtungen. Beide (neben zusätzlichem Schlagzeug) eine Bass- erscheint wieder das musikalisch korrekte (un- geben Lehrveranstaltungen am trompete als neues Instrument hinzugefügt spielbare) Motiv, so wie es vom Komponisten Institut für Musikwissenschaft hat – mit erstaunlicher Wirkung: Sie ergänzt im gedacht ist. In einer Fußnote ist die spielbare der LMU München. ursprünglich sehr scharfen Blechbläserklang Variante aus der Stimme angegeben. Man die tiefen Spektralanteile und wirkt dadurch kann also sagen: Die Partitur zeigt das Ideal, die klangmildernd, wo es erwünscht ist. In vielen Stimme das Mögliche. anderen Situationen (so bereits auf der ersten Seite) unterstützt sie diejenigen Motive, denen Bislang unveröffentlichte vierhändige es noch an Volumen und musikalischer Kontur Klavierbearbeitung gefehlt hatte. Ebenfalls im Band Macbeth befindet sich die Bei einer vertieften Betrachtung des musikali- bislang unveröffentlichte vierhändige Klavier- schen Satzes sind vielerlei kleine Detailverän- bearbeitung der zweiten Fassung, von Strauss derungen zu entdecken, darunter rhythmische, selbst erstellt – eine Besonderheit, denn später dynamische und harmonische Verschärfungen, delegierte er solche Arbeiten. Seinerzeit benutz- sogar zusätzliche Takte – alles im Sinne einer te man derartige Klavierauszüge dazu, um bei größeren motivischen Transparenz, einer raf- geringerem Aufwand Höreindrücke von einem finierteren Dramaturgie und einer insgesamt Orchesterstück zu vermitteln – und für die noch düstereren und wuchtigeren Klang- Aufführung eines Werkes zu werben. Das wirkung, wie sie dem schaurigen hat auch Strauss, der aufstrebende Drama von Shakespeare gut Komponist, versucht. In einem entspricht. Brief an seinen Vater vom 12. Oktober 1889, nachzule- Ein unspielbarer Ton sen auf der Online-Plattform zur Ausgabe, erwähnt er An einer Stelle (T. 278) findet einen Besuch beim Wei- sich in der gültigen Fassung marer Intendanten Hans ein Kuriosum: Die zweite Bronsart von Schellendorf: Violine soll hier ein Motiv „Gestern war ich mit Lassen spielen, dessen letzter Ton bei Bronsart Abends einge- (ges) für die Geige zu tief liegt: laden, wo ich Macbeth u. Don einen Halbton unter der tiefs- Juan vorspielte.“ Freilich weiß ten Saite. Solche unspielbaren man, dass sich Bronsart für den Töne kennt man bei Strauss (in progressiven Macbeth noch nicht gibt es einige), und in erwärmen konnte. Für heutige der Regel hat er sie durchaus Ohren hat die virtuose Klavier- bewusst gesetzt. Hier liegt bearbeitung, die damals im der Fall klar, wie die Synopse kleinen Rahmen erklang, einen zeigt: In der früheren Fassung eigenen musikalischen Reiz. Das lag das Motiv in der Bratsche. zeigte unlängst ihre öffentliche Der unspielbare Ton ist also Erstaufführung am 21. Juni 2017 durch Julian Riem und Lukas Maria Kuen beim Präsentationskonzert für die ersten beiden Bände der Kritischen Ausgabe. Mutigen Pia- Büste von Richard Strauss. nisten sei sie empfohlen. n

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