The Pennsylvania State University

The Graduate School

Department of Germanic & Slavic Languages & Literatures

THE REAL AND THE IMAGINARY IN THE LITERARY WORKS OF E.T.A.

HOFFMANN, JOSEPH EICHENDORFF, AND VLADIMIR ODOEVSKY

A Dissertation in

German

by

Vladislav N. Rozanov

© 2011 Vladislav N. Rozanov

Submitted in Partial Fulfillment of the Requirements for the Degree of

Doctor of Philosophy

December 2011

The Pennsylvania State University

The Graduate School

Department of Germanic & Slavic Languages & Literatures

DAS WIRKLICHE UND DAS IMAGINÄRE IN DEN LITERARISCHEN WERKEN

E.T.A. HOFFMANNS, JOSEPH EICHENDORFFS UND WLADIMIR ODOJEWSKIS

Dissertation in

Germanistik

von

Vladislav N. Rozanov

© 2011 Vladislav N. Rozanov

Submitted in Partial Fulfillment of the Requirements for the Degree of

Doctor of Philosophy

Dezember 2011

The dissertation of Vladislav N. Rozanov was reviewed and approved* by the following:

Daniel Purdy Associate Professor of German Dissertation Co-Adviser Chair of Committee

Martina Kolb Assistant Professor of German Dissertation Co-Adviser

Bettina Brandt Assistant Professor of German

Adrian Wanner Professor of Russian & Comparative Literature Head of the Department of Germanic & Slavic Languages & Literatures

*Signatures are on file in the Graduate School.

iii

Abstract (English):

This dissertation focuses on German and Russian literature of (1785 –

1837) and presents an analysis of the aesthetic values and literary functions of the imaginary and realistic spaces in the works of E.T.A. Hoffmann, J. Eichendorff, and V. Odoevsky. In the early 19th century, the literary interest in reasoning as the leitmotiv of the cultural movement in the age of Enlightenment shifted to the cryptic area of the human soul and its influence on individual behavior. In the absence of modern knowledge of psychology, writers of the time speculated that the human behavior was subject of influence of mystic power of nature. This provided perfect conditions for the development of certain literary themes.

Among these themes, the authors of Romanticism explored the reciprocal interaction between the day-to-day reality and the idealized, overwhelming, and threatening world of supernatural.

When reality is not perfect, where does our imagination lead us? Is it an extraordinary fantasy or even sublime that one can barely comprehend? Do we abandon all the conventional ideas about the perfect day-to-day life and its aesthetic demands? Or is our fantasy only another perfect version of the everyday idyll? Should one give up reason as a supreme force of our intellect in favor of intuition and imagination?

In their major works, authors such as Hoffmann, Eichendorff, and Odoevsky answer these questions in their unique literary manner. Two short stories The Mines at Falun (1819) and Sylph (1837) as well as the novel Of the Life of a Good-For-Nothing (1823) provide a rich context for measuring literary values of the romantic supernatural world and determining their connection to reality.

Beyond traditionally opposed spacial characteristics in the literary period, this research advances the fantasy-reality-relationship as an optimal model for categorizing a work of Romanticism from the point of author’s literary goals and intentions. This

iv dissertation proposes the following: when an author highlights imaginary objects it reveals an author’s emphasis on the protagonist’s inner world and psychology. The regulation of common sense, behavioral code, self-consciousness, creative urge, identity, and madness become central objects of these works. On the other hand, when an author underlines the dominance of the realistic space indicates an author’s focus on depiction of the protagonists’s external surrounding reality. Socio-cultural, political, and philosophical ideas are the central objects of literary examination in these works. The comparative analysis of three texts of

Hoffmann, Eichendorff, and Odoevsky aims to expand previos work on the interaction between imaginary and realistic spaces in the literature of Romanticism.

v

Abstract (German):

Die folgende Dissertation ist ein Beitrag zum Gebiet der deutschen und russischen

Literatur der Romantik (1785 – 1837). Sie stellt eine Analyse der ästhetischen Werte und literarischen Funktionen der imaginären und realistischen Räume in den Werken E.T.A.

Hoffmanns, J. Eichendorffs, and W. Odojewskis dar. Im frühen 19. Jahrhundert versetzte sich das literarische Interesse an der Vernunft als leitendes Prinzip der aufklärerischen vorbildlichen Weltanschauung in den Bereich der geheimen Seelenmotive, die das menschliche Verhalten nicht weniger als die bewussten Prozesse des Verstands beeinflussten.

Der Mangel an den Kenntnissen der Psychologie und ihre Ersetzung durch die Spekulationen

über die Einflüsse der unbekannten, mystischen Kräfte der Natur auf das menschliche

Verhalten schafften günstige Bedingungen für die Entstehung gewisser literarischer Inhalte.

In diesen Inhalten thematisierten die Autoren der Romantik die alltägliche vorhandene

Realität und die ihr gegenübergestellte, idealisierte, überwältigende und oft bedrohende Welt des Irrealen.

In welche Ferne führt uns unsere imaginäre Kraft, wenn die Realität unterdrückend und monoton ist? Ist es eine außergewöhnliche Phantasie oder sogar das Erhabene, das man kaum auffassen kann? Verzichtet man auf alle konventionellen Vorstellungen über die perfekte alltägliche Realität und ihren ästhetischen Bedarf? Oder mag unsere Phantasie eine andere Version der bekannten alltäglichen Idylle sein? Muss man das rationale Denken als leitendes Prinzip unseres Verstands aufgeben und anstattdessen unserer Intuition und

Einbildung folgen?

In ihren Hauptwerken beantworten die Schrifsteller wie Hoffmann, Eichendorff und

Odojewski all diese Fragen auf ihre unikale literarische Art und Weise. Zwei Erzählungen

Bergwerke zu Falun (1819) und Sylphide (1837) und der Roman Aus dem Leben eines

vi

Taugenichts (1823) bieten einen reichen Forschungskontext zur Bewertung der literarischen

Werte der romantischen übernatürlichen Welt und ihrer vielseitigen Beziehung zur Realität.

Die Forschung stellt sich die Aufgabe die Phantasie-Realität-Beziehung nicht nur als traditionell gegenübergestellte Raumcharakteristika in der kultur-geschichtlichen Epoche sondern auch als optimales Model zum Kategorisieren des Werks der Romantik vom

Standpunkt der Absichten und Ziele jedes einzelnen Autors aus zu betrachten. Unter anderem schlägt die Dissertation die folgende Hypothese vor. Die Hervorhebung der imaginären,

übernatürlichen Objekte im Werk der Romantik deutet auf das besondere Interesse des

Autors für die innere Welt des Protagonisten und seine, bzw. ihre Psychologie. Die

Regulation von dem Menschenverstand, den Verhaltensnormen, dem Selbstbewusstsein, dem

Kunstgefühl, der Identität und dem Wahnsinn werden zu den zentralen Objekten in den

Werken mit der überwiegenden Anzahl der übernatürlichen Bilder und Szenen. Im Gegenteil deutet die Dominanz des realistischen Raums auf das erhöhte Interesse des Autors für die umgebende Realität. In solchen Werken der Romantik sind sozio-kulturelle, politische und philosophische Ideen die zentralen Objekte der literarischen Forschung. Die vergleichende

Analyse der drei Texte Hoffmanns, Eichendorffs und Odojewskis stellt sich die Aufgabe zum wissenschaftlichen Wissen über die Wirklichkeit-Phantasie-Beziehung in der Literatur der Romantik beizutragen.

vii

Inhaltsverzeichnis

Einführung ...... 1

1. E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun: literarische Konstellation der Realität-Phantasie-

Beziehung ...... 8

1.1 Die Entstehungsproblematik der Faluner Geschichte und ihre Stelle im Zyklus Serapions-Brüder. 8

1.2 Bergwerke zu Falun im Kontext des Briefwechsels Hoffmanns während der Jahre 1818 - 1819 .. 14

1.3 Die Figurenkonstellation und Raumgestaltung in Bezug auf das literarische Werk von 1818 – 1819

20

1.4 Die Realität-Phantasie-Beziehung und ihre Projektion auf die Protagonisten und den

Handlungsraum ...... 25

1.5 Die Konstellation der idyllischen Motive ...... 30

1.6 Die romantische Dualität und das Motiv des Grenzgängers ...... 36

2. J. Eichendorffs Taugenichts: die idealisierte Wirklichkeit als Ziel des romantischen Strebens .... 48

2.1 Die Romantisierung der alltäglichen Realität ...... 52

2.2 Das Verhältnis des Taugenichts zur philiströsen Welt ...... 56

2.3 Die Rolle des Kunstgefühls in der Auffassung der umgebenden Welt ...... 59

2.4 Die Reflexion als Bestandteil der romantischen Weltanschauung ...... 65

2.5 Die Tageszeiten und der Handlungsraum in der Wirklichkeit-Phantasie-Beziehung ...... 68

2.6 Die Rolle der schönen Frau in der Suche nach dem romantischen Ideal: Eichendorffs Aurelie als

Personifizierung des phantasierten Ideals und Hoffmanns Ulla als Figur der alltäglichen Idylle ...... 77

2.7 Die Intensivierung der Gefühle und Empfindungen als Vorbereitung auf das Erlebnis der erhabenen Phantasie ...... 82

viii

2.8 Die Wechselwirkung des Mystischen und des Alltäglichen ...... 86

2.9 Die Phantasie als Befreiung vom Alltäglichen ...... 89

3. Die Beziehung zur Wirklichkeit und ihre Rolle im Leben des romantischen Protagonisten ...... 93

3.1 Die verlorene Heimat und die Gegenwart ...... 95

3.2 Ein Taugenichts oder gesellschaftlicher Außenseiter ...... 102

3.3 Die Irrealität als Ersatz der verlorenen und vermissten Heimat ...... 109

3.4 Die Phantasie als therapeutische Lösung der innerpsychischen Konflikte ...... 111

3.5 Der realistische Schauplatz und die wunderbaren Ereignisse ...... 114

3.6 Die Ähnlichkeiten und die Unterschiede in der Raumgestaltung zwischen den Werken Hoffmanns und Eichendorffs ...... 118

3.7 Die Charakteristik Elis und des Taugenichts in ihrer Wahrnehmung des Wirklichen und des

Wunderbaren ...... 120

4.W. Odojewskis Sylphide im Kontext der Werke Hoffmanns und Eichendorffs ...... 129

4.1 Die Entstehung der romantischen Bewegung in Russland ...... 129

4.2 Die russische Romantik im europäischen Kontext ...... 132

4.3 Die russische Romantik und die Dezember-Revolte von 1825 ...... 137

4.4 Die Rezeption W. Odojewskis in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Kritik ...... 141

4.5 Odojewskis Stellung zur Romantik ...... 149

4.6 Die Erkenntnislehre J. Böhmes als philosophischer Hintergrund des gotischen Zyklus ...... 151

4.7 Odojewskis Sylphide und der gotische Zyklus ...... 156

4.8 Die Großstadt und die Provinz als Objekte der sozialen Kritik. Die Konstellation der Gesellschaft in den Werken Odojewskis, Hoffmanns und Eichendorffs ...... 165

ix

4.9 Der Taugenichts, Elis und Michailo Platonowitsch in Bezug auf das Streben der romantischen

Protagonisten ...... 173

4.10 Odojewskis kritisches Verhältnis zur Natur und Rom als Objekte der traditionellen poetischen

Verherrlichung ...... 177

4.11 Das widersprüchliche Verhältnis zwischen der Normalität der Wirklichkeit und dem Wahnsinn der Phantasie ...... 181

5. Schlussfolgerung ...... 186

6. Bibliographie ...... 192

x

ACKNOWLEDGMENTS

I would like to thank my committee Dr. Daniel Purdy, Dr. Martina Kolb, Dr. Adrian Wanner, and Dr. Bettina Brandt for all their support, coordination, and advising. Very special thanks go to my friend Melissa Kilby and my family for being with me throughout my graduate school experience. Above all, I thank Dilyana Toneva, the love of my life, without whom it would have been impossible to complete this dissertation.

xi

Einführung

Abgesehen von den Gefahren und den Zweifeln sahen die Protagonisten der Romantik in den imaginären, irrealen und übernatürlichen Welten das Ziel ihrer lebenslangen Suche. In ihrer perfektionierten Form wurde die Welt der Phantasie zur Endstation entweder erfolgreicher oder erfolgloser Flucht aus der Wirklichkeit, in der sich die Helden der

Romantik verloren und unverstanden fühlten.

Zu solchen Helden gehören die gesellschaftlichen Außenseiter, die in sich die Züge der Künstler einschließen. Sie haben ein außerordentliches Talent, den alltäglichen Dingen und Ereignissen einen mystischen Charakter zu verleihen, in Novalis‘ Worten die Welt zu romantisieren. Die Suche der sozial gestrandeten Künstler nach einer besseren Wirklichkeit wird zum zentralen Objekt des literarischen Schaffens von Autoren wie E.T.A. Hoffmann

(1776-1822), Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857) und Wladimir Fjodorowitsch

Odojewski (1803-1869). Das Werk Odojewskis, des Vertreters der russischen literarischen

Tradition und des Verehrers der deutschen Romantik bringt eine zusätzliche Perspektive auf die komplexen Beziehungen zwischen Realität und Phantasie, Gesellschaft und Individuum,

Künstler und Philister.

Obwohl Hoffmann, Eichendorff und Odojewski unter unterschiedlichen sozialen und politischen Umständen geschrieben haben, haben die Werke dieser Autoren viele inhaltliche und strukturelle Gemeinsamkeiten. Im Mittelpunkt dieser Gemeinsamkeiten stehen die philosophisch-ästhetischen Fragen über den Sinn des menschlichen Daseins, seinen Bezug auf die umgebende Realität und ihre idealisierte Version als Resultat der Phantasie. Auf der

Suche nach der besseren Welt geraten die Protagonisten in einen Widerspruch mit den gebräuchlichen Normen und Sitten der Realität. Die Auseinandersetzungen zwischen der individuellen Weltanschauung der gestrandeten Künstler und der konventionellen Moral verursachen psychologische, seelische und geistige Koflikte mit dem Umfeld und mit sich

selbst. Zum Beispiel setzt sich Michailo Platonowitsch, der Protagonist aus dem Werk

Odojewskis Sylphide (1837), mit der dörflichen Gemeinde und ihrer verfallenen

Lebensordnung tief auseinander, bis er sich von der ganzen Welt in seinem Haus für immer ausschließt. Elis, der Protagonist aus Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (1819) findet hingegen in der Gesellschaft der Faluner Gemeinde seine Freude, seine Liebe und sein

Glück, woauf er zerrissen durch innere Konflikte und geheime Triebe plötzlich verzichtet.

Die sich verschärfenden Konflikte mit der vorhandenen Wirklichkeit und die gescheiterten

Versuche sich mit der Welt der Phantasie zu identifizieren, führen das Bewusstsein, die

Psyche, den Körper und das Leben zu unerwünschten und tragischen Konsequenzen. Die

Ursachen der Auseinandersetzung mit der Außenwelt und die Gründe für die Entstehung der inneren Triebe sind die zu analysierenden Themen in der vorliegenden Arbeit.

Während Eichendorff nach den Antworten auf die traditionellen Fragen der Romantik vor allem in der Harmonie des Menschen mit der Außenwelt suchte, sahen Autoren wie

Hoffmann und Odojewski die Lösung aller Konflikte in der Harmonie des Menschen mit der eigenen inneren Welt. Sie stellten diese Welt ins Zentrum ihrer literarischen Darstellung. Sie konzentrierten sich auf die Individualität des romantischen Außenseiters, seine Psychologie und die Motive der inneren Triebe, die der Auseinandersetzung mit der umgebenden

Wirklichkeit zugrunde lagen.

In der folgenden Analyse des romantischen Einzelgängers in Bezug auf die Ebenen der Wirklichkeit und der ihr gegenübergestellten Phantasie werden drei Werke untersucht.

Während sich diese Werke in ihrer Problemstellung ähneln, unterscheiden sie sich durch ihre literarische Art und Weise der Behandlung der traditionellen Konflikte zwischen Gesellschaft und Individuum, Moral und Trieb, Vernunft und Wahnsinn. Jeder der drei Autoren gibt seine eigene Interpretation dieser Konflikte und verteilt sie in der eigenen Reihenfolge des inhaltlichen und künstlerischen Wertesystems. Zusammen mit der vergleichenden Analyse

2 der Werke Hoffmanns, Eichendorffs und Odojewskis formen die Wirklichkeit-Phantasie-

Beziehung und ihre Widerspiegelung in den inhaltlichen Motiven den bestimmenden

Forschungsrahmen der vorliegenden Arbeit.

Die Wirklichkeitsebenen und die thematisierten Konflikte als selbstständige

Forschungsbereiche sind bekannte Themen im wissenschaftlichen Diskurs über die literarische Romantik. Unter anderem gehört das Wirklichkeit-Unwirklichkeit-Begriffspaar zur Reihe der ausführlich erforschten Themen. Ein vorbildliches Beispiel für solche

Forschung wäre Klaus Deterings Magie des Poetischen Raums. In seinem Einführungskapitel formuliert der Autor folgende zentrale Fragen.

Was bedeuten Wirklichkeit und Unwirklichkeit, „Realität“ und „Irrealität“? Was bedeuten „Außen“ und „Innen“ im Gesamtwerk E.T.A. Hoffmanns? Wie stehen die Bereiche zueinander in Beziehung?1

Indem der Autor diese Fragen beantwortet, richtet er seine Forschungsperspektive grundsätzlich auf das dialektische Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Unwiklichkeit und die Poetik dieses Begriffspaars. Wie mehrere literaturwissenschaftliche Kritiker, einschließlich Detlef Kremers und Iris Dennelers, betrachtet Detering das Wirklichkeit-

Unwirklichkeit-Thema vor allem als Resultat des ästhetischen, künstlerischen und poetischen

Werks Hoffmanns. Die Wirklichkeitsebenen werden hier den anderen zetralen Themen wie das „Wunderbare, das Innere, Kunst/ Künstler, Schauen, Ideal, Meister, rein, wahr, Gemüt,

Erkenntnis, phantastisch2“ gleichgestellt. In der vorliegenden Analyse ändere ich die

Forschungsperspektive auf die Wriklichkeitsebenen und trenne sie von der Reihe der romantischen Konflikte ab. Ich fokusiere mich auf die strukturierende, beziehungsweise instrumentale Funktion des Realen und des Irrealen. Ich untersuche den direkten

Kausalzusammenhang und die regulativen Prinzipien zwischen den Wirklichkeitsebenen und

1 Deterding, Klaus. Magie des Poetischen Raums. E.T.A. Hoffmann Dichtung und Weltbild. Heidelberg: Winter, 1999. 12. (Im folgenden als „Deterding“ abgekürzt) 2 Ebenda. 18. 3 den thematisierten Konfikten. Dieser Zusammenhang bleibt ein noch wenig erforschtes

Thema.

In der Tat befinden sich die Konflikte im engen Zusammenhang mit der

Raumgestaltung, insbesondere der Konstellation der Wirklichkeit-Phantasie-Beziehung. Die

Bereiche des Realen und des Irrealen haben in den zu analysierenden Werken unterschiedliche Proportionalität. Je nach der Dominanz eines der Bereiche korrelieren die inhaltlichen Leitmotive. Der vorliegenden Arbeit liegt die Analyse des

Kausalzusammenhangs zwischen der Wirklichkeit-Phantasie-Beziehung und den thematisierten literarischen Akzenten zugrunde. Unter anderem muss in der Analyse die folgende These über die Kausalität zwischen den Inhalten und ihren Handlungsräumen nachgewiesen werden. Je mehr der Autor den Grad des Phantastischen hervorhebt, je mehr die Elemente des Phantastischen ins alltägliche Leben der Protagonisten durchdringen, desto stärker wird der fundamentale Konflikt der Protagonisten mit sich selbst, beziehungsweise mit ihrer inneren Welt artikuliert. Die Analyse und die Nachweise solches Zusammenhangs beziehen sich vor allem auf Die Bergwerke zu Falun Hoffmanns.

Im Gegensatz kommen die Konflikte der Protagonisten mit der vorhandenen

Lebensordnung, beziehungsweise dem Umfeld und der gesellschaftlichen Moral in den

Vordergrund der Werke, in denen die Grenzen zwischen den Bereichen des Realen und des

Fantastischen angedeutet werden. In dem Fall kennzeichnet sich die Proportionalität der

Räume durch die Dominanz der Wirklichkeit und ihrer sozialen Problematik. Die Analyse und die Nachweise solches Raum-Inhalt-Zusammenhangs beziehen sich vor allem auf

Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts (1823) und Odojewskis Sylphide.

Im Vergleich zu den Werken Klein Zaches, genannt Zinnober (1819) und

Lebensansichten des Katers Murr (1820), in denen magische und soziale Realitäten noch

4 strengen Regeln folgen3, schiebt Hoffmann den Akzent der literarischen Analyse von der

Gesellschaftssatire auf die Untersuchung der psychologischen Motive und der inneren Welt des gesellschaftlichen Außenseiters. In den Werken wie Der goldne Topf (1814), Das öde

Haus (1817) und insbesondere Die Bergwerke zu Falun kreiert der Autor einen

Handlungsraum, in dem Wirklichkeit und Phantasie parallel existieren und die Grenzen zwischen den Bereichen verschwommen sind. In den Alltag vermischen sich die phantastischen Ereignisse und Objekte, die das Leben der Protagonisten unvoraussagbar beeinflussen. In solch einem Raum bekommen insbesondere die Konflikte zwischen dem romantischen Helden und seinem Umfeld, dem leidenschaftlichen Streben der poetischen

Seele und der gesellschaftlichen Meinung einen symbolischen, beziehungsweise sekundären

Charakter, während die Themen der dualen Zustände, des Wahnsinns und der

Indentifizierung mit dem Phantastischen eine höhere Priorität einnehmen. Alle diese Motive des psychologischen Verhaltens liegen in engem Zusammenhang mit der Individualität des romantischen Helden.

Die Themen der Individualität des romantischen Künstlers und seiner Distanzierung von den gesellschaftlichen Verhaltensmustern hängen in Aus dem Leben eines Taugenichts

Eichendorffs mit der Wirklichkeit-Phantasie-Beziehung eng zusammen. Die reichlich behandelte Thematik des Unheimlichen im Werk Hoffmanns wird von Eichendorff nur auf die seltenen Szenen der geheimnisvollen Natur und der exotischen Landschaften beschränkt.

Der Autor konzentriert sich grundsätzlich nur auf eine Wirklichkeitsebene, - die Ebene der vorhandenen Realität. Im Rahmen dieser Ebene bleibend, unterscheidet der Autor zwischen zwei Welten, - der alltäglichen gegebenen Realität und der imaginären idealisierten Welt. Auf dem Weg aus dem Heimatdorf in die unbekannte und faszinierende Ferne phantasiert der

3 Ostmeier, Dorothee. Zwischenwelten der Phantasie. In: Parapluie 21. Elektronische Zeitschrift für Kulturen, Künste, Literaturen. September, 2008. 5

Taugenichts von der besseren Welt, beziehungsweise der idealisierten Version der vorhandenen Realität. Er findet sie am Ende seiner langen Wanderung.

Die von Eichendorff dargestellte Ebene des Irrealen hat einen praktischen, angewandten Charakter. Das Irreale gleicht der Phantasie und ist ein Resultat der imaginären

Kraft eines Müllersohns. Die Intensität der imaginären Kraft steigt, weil das Bewusstsein des

Taugenichts durch die neuen Erfahrungen und die starken Erlebnisse in der fremden Welt

überwältigt und von der Unbestimmtheit, den Zweifeln und den Gefahren seines gewagten

Abenteuers ständig bedroht wird.

Im Werk Eichendorffs können die Grenzen zwischen dem Realen und dem Irrealen immer deutlich gezogen werden. Die Übergangsphasen von einem Bereich in den anderen werden durch die bestimmten Motive angekündigt. Dazu gehören sowohl die erlebten physiologischen Zustände wie die des Einschlafens, des Träumens und des Erwachens als auch die Tageszeiten. Unter anderem werden die meisten phantastischen Elemente durch die träumerischen Zustände und die nächtlichen Landschaften begleitet. Im Vergleich zu Elis, dem Protagonisten aus Die Bergwerke zu Falun, der dem Phantastischen plötzlich begegnet, ist der Taugenichts für seine Erlebnisse des Irrealen immer vorbereitet.

Im Vergleich zu Eichendorffs Minimierung der phantastischen Elemente verschärft

Odojewski die sozialen Konflikte wie Gesellschaft und Individuum, Künstler und Philister durch die Intensivierung des irrealen Bereiches und seiner Gegenüberstellung zur verfallenen

Wirklichkeit. Im Gegenteil zu Hoffmann werden hingegen die Sphären des Realen und des

Irrealen im Werk Odojewskis voneinander deutlich getrennt. Durch die klaren Grenzen zwischen den Wirklichkeitsebenen werden sowohl das unterschiedliche Verhalten des

Protagonisten im Rahmen jeder Sphäre als auch das Verhältnis zu den aktuellen Problemen jeder Sphäre verdeutlicht. Die beiden Bereiche werden höchst psychologisiert. Odojewskis

Fokus auf die Psychologie des Protagonisten und sein Verhalten unter den sozialen

6

Bedingungen bereichert den gefühlvollen und hoch sensitiven Charakter des romantischen

Helden und bringt ihn näher zum realistischen Bild.

Die vergleichende Analyse der Werke und die Untersuchung des psychologisierten und sozial geprägten Charakters von Odojewskis Protagonisten erlauben, das Verhalten der verallgemeinernd skizzierten Protagonisten Hoffmanns und Eichendorffs zu verdeutlichen.

Die Verdeutlichung der Charaktere und ihre Analyse in Bezug auf die soziale Wirklichkeit in den Werken Hoffmanns und Eichendorffs fördern die Erfüllung der zentralen Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Sie besteht in der Konkretisierung des regulativen Zusammenhangs zwischen den Handlungsräumen und den akzentuierten Konflikten. Die Konkretisierung solches Zusammenhangs fördert sowohl die präzise Interpretation der Grauzonen in der

Realität-Phantasie-Beziehung als auch die Erklärung ihrer Rolle in der Darstellung der zentralen Ideen der Romantik.

Zusammenschließend können die Fragen Deterings auf folgende Art und Weise umformuliert werden. Wie sehen die quantitativen Verhältnisse zwischen Wirklichkeit und

Unwirklichkeit in den Werken Hoffmanns, Eichendorffs und Odojewskis aus? Wenn diese

Verhältnisse nicht proportional sind, was bedeutet die Dominanz eines der Bereiche im literarischen Werk jeder der Autoren? Welche Bedeutungen haben Wirklichkeit und

Unwirklichkeit im Leben der Protagonisten? In Richtung welches der Bereiche tendiert das

Streben der Protagonisten? Ist die Ebene des Irrealen eine logische idealisierte Erweiterung der Realität oder ist sie der Realität antagonistisch gegenübergestellt? Die Antworten auf diese Fragen werden zwischen den Werken Hoffmanns, Eichendorffs und Odojewskis verglichen. Ein solcher Vergleich soll die Gemeinsamkeiten in der Darstellung der Realität-

Irrealität-Beziehung feststellen und die universellen Funktionen dieser Beziehung im literarischen Werk der deutschen und russischen Spätromantik benennen.

7

1. E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun: literarische Konstellation der

Realität-Phantasie-Beziehung

1.1 Die Entstehungsproblematik der Faluner Geschichte und ihre Stelle im

Zyklus Serapions-Brüder.

Die Bergwerke zu Falun wurden während jener Lebensjahre geschrieben, die allgemein als ungetrübt, erfolgreich und finanziell stabil charakterisiert werden. Die

Zeitperiode zwischen 1818 und 1819 ist in der Biographie Hoffmanns durch den größten

Aufstieg in seiner Jurakarriere und gleichzeitig durch die hohe Produktivität seines literarischen Werkes gekennzeichnet. Im Januar 1818 hat Hoffmann im „Kriminalsenat des

Kammergerichts “würdig den ersten Platz” eingenommen4“. Die Stelle eines

Kammergerichtsrats galt als der höchste berufliche Rang in der Jurakarriere Hoffmanns. Im

Februar 1819 erschien der erste Band der Serapions-Brüder, in den unter anderem die

Erzählung Die Bergwerke zu Falun aufgenommen wurde. Zu dieser Zeitperiode gehört auch die Niederschrift der zweiten Hälfte des I. Bandes des Kater Murr. Die Schrift erschien im

Juni 1819. Diese Zeittafel zeugt von dem professionellen Aufstieg und der literarischen

Produktivität des Autors. Unter anderen schöpferischen Gebieten erlebte der Schriftsteller den Ruhm des Komponisten, als die Uraufführung seiner Oper Undine einen großen Erfolg erhielt. In seinem Privatleben genoß Hoffmann die Vielfalt und die Geselligkeit des zur kulturellen Hauptstadt wachsenden Berlins. Der Gemütszustand des Autors kennzeichnete sich durch eine dauerhafte Periode der inneren Zufriedenheit und der künstlerischen

Begeisterung.

Die allererste Analyse des Briefwechsels Hoffmanns, der die Entstehung von

Bergwerke zu Falun chronologisch begleitet, zeugt vom oben erwähnten positiven emotionalen Hintergrund des Schriftstellers. Hiermit liefere ich zur Unterstützung der

4 Schnapp, Friedrich. (Hrsg.) E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel. Band II. München: Winkler, 1967. 158. (Im folgenden als „Hoffmanns Briefwechsel“ abgekürzt) 8 dargelegten These zwei Zeugnisse aus der Korrespondenz Hoffmanns. Der erste Brief

(Berlin, den 8. März 1818) geht der Erzählung voran und ist an den Bamberger Verleger C.F.

Kunz adressiert:

Dass Sie über meinen Nussknacker gelacht haben, freut mich sehr. Doch empfehle ich Ihnen mehr mein diesjähriges Märchen: das fremde Kind. Es ist reiner, kindlicher und eben deshalb für Kinder, fassen sie auch nicht die tiefere Idee des Ganzen, brauchbarer. Lesen kann ich bei meinen überhäuften Geschäfften wenig, Journale und Philisterblätter lese ich gar nicht. Eben an meiner vielfachen Arbeit (drey Monate hindurch habe ich, da unser Präsident verreiset, als ältester Rath neben meinem gewöhnlichen Geschäfft, auch die Präsidialgeschäffte übernehmen müssen) liegt es auch, dass ich so wenig geschrieben wie Sie wissen werden5.

Diese Quelle gibt eine deutliche Vorstellung über den Stand der gegenwärtigen

Realität Hoffmanns. Der Inhalt dieses Briefes zeugt von zwei wichtigen Details seines

Alltags. Einerseits war der Autor zurzeit in seinem beruflichen Leben als Kammergerichtsrat ungewöhnlich beschäftigt. Solche Umstände sollten die Aufmerksamkeit Hoffmanns vom literarischen Werk ablenken. Andererseits wurden die während dieser Zeitperiode geschriebenen Werke durch die lebensbejahende und positive Atmosphäre im Alltag des

Autors geprägt. Es soll nicht unbedingt die Tatsache sein, dass die Lebensumstände das Werk

Hoffmanns direkt beeinflussten. Doch können einige literarische Parallelen gezogen werden, die von der eher fröhlichen Zeit im Leben Hoffmanns zeugen.

Zum Beispiel kann die im Brief erwähnte märchenhafte Erzählung Das fremde Kind

(Herbst 1817) als eine Widerspiegelung der emotionalen Zustände bezeichnet werden. Schon der Anfang der Geschichte ruft beim Leser den Eindruck hervor, dass der Protagonist

Thaddäus von Brakel in einer idyllischen Wirklichkeit lebt:

Es war einmal ein Edelmann, der hieß Herr Thaddäus von Brakel und wohnte in dem kleinen Dörfchen Brakelheim, das er von seinem verstorbenen Vater dem alten Herrn von Brakel geerbt hatte, und das mithin sein Eigentum war. Die vier Bauern, die außer ihm noch in dem Dörfchen wohnten, nannten ihn den gnädigen Herrn, unerachtet er wie sie, mit schlicht ausgekämmten Haaren einherging und nur sonntags, wenn er mit seiner Frau und seinen beiden

5 Ebenda. 159-160. 9

Kindern Felix und Christlieb geheißen, nach dem benachbarten großen Dorfe zur Kirche fuhr, statt der groben Tuchjacke, die er sonst trug, ein feines grünes Kleid und eine rote Weste mit goldenen Tressen anlegte, welches ihm recht gut stand6.

Die Auswahl der Attribute verstärkt die festliche Atmosphäre des Sonntags und entfernt den Leser von den Gedanken über den üblichen Alltagstrott. Die rot-grünen Farben der Kleidung Thaddäus von Brakels verstärken den Eindruck über die Festlichkeit der

Atmosphäre. Man weiß noch nicht, wie die Geschichte enden soll; aber die allererste

Beschreibung des Protagonisten bestätigt sowohl seine emotionale Angehörigkeit zur umgebenden Welt als auch seine hoch respektierte Stelle in der Gesellschaft. Von den Bauern wird Thaddäus als “gnädiger Herr“ benannt. Es ist bemerkenswert, mit welcher Präzisität und

Inspiration Hoffmann das Bild der Familienidylle entwickelt. Bekanntlich fehlte diese idyllische Charakteristik im eigenen Leben des Autors und könnte in Das fremde Kind durch ein literarisches imaginäres Bild solcher Idylle ersetzt werden.

Bekanntlich litten die Stabilität und die Harmonie im Privatleben Hoffmanns wegen seiner Alkoholprobleme. Während seines ganzen Lebens konnte Hoffmann diese gesundheitsschädliche Gewohnheit nicht überwinden, was den Autor nicht zuletzt zum frühzeitigen Tod führte. Die Themen des Alkohols und der betrunkenen Gesellschaft finden ihre beste Widerspiegelung in Bergwerke zu Falun. Während Hoffmann in Das fremde Kind die Stimmung der Einführungsszene durch die Bilder der dörflichen Ruhe und der festlichen

Sonntagsidylle kreiert, setzt er das laute Getümmel der betrunkenen Leute in den

Vordergrund der ersten Szene des Bergwerke zu Falun.

Unterschiedlich zu Thaddäus sieht auch die allererste Beschreibung des Protagonisten

Elis aus. Hoffmann unterstreicht den Kontrast zwischen der laut jubelnden Stadt Göteborg und dem öffentlichkeitsscheuen und traurigen Elis. Während sich Thaddäus mit der

6 Hoffmann, E.T.A. Das fremde Kind. In: Sämtliche Werke. Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker, 2001. 570. (Im folgenden als „Hoffmann. Das Fremde Kind“ abgekürzt) 10

Gesellschaft vereinigt und sich als Mitglied der dörflichen Gemeinde identifiziert, entfernt sich Elis von seinem Umfeld und ist diesem Umfeld antagonistisch gegenübergestellt. Die

Auseinandersetzung mit der vorhandenen Realität findet man auch in den zu analysierenden

Charaktertypen des Taugenichts’ und Michailo Platonowitschs, der Protagonisten aus den

Werken Aus dem Leben eines Tagenichts und Sylphide. Hoffmann beschäftigt sich präzise mit dem Individualität-Gesellschaft-Kontrast und verstärkt ihn akkustisch durch die steigende

Ausbreitung des Tonfalls, der Klänge und der Geräusche. Im Höhepunkt der Geräuschkulisse führt er die Figur Elis ein, dessen Bild durch die Verschlossenheit, die Einsamkeit und die

Verlorenheit gekennzeichnet ist.

Da floss nun das schönste Öl in Strömen, und Bumper auf Bumper wurde geleert. Wie es denn nun bei Seeleuten, die heimkehren von weiter Reise, nicht anders der Fall ist, allerlei schmucke Dirnen gesellten sich alsbald zu ihnen, der Tanz begann, und wilder und wilder wurde die Lust und lauter und toller der Jubel. Nur ein einziger Seemann, ein schlanker hübscher Mensch, kaum mocht' er zwanzig Jahr alt sein, hatte sich fortgeschlichen aus dem Getümmel und draußen einsam hingesetzt auf die Bank, die neben der Tür des Schenkhauses stand7.

Im Gegensatz zu Thaddäus, der an der Sonntagsfeier aktiv teilnimmt, zieht sich Elis vom feiernden Getümmel zurück und konfrontiert damit seine Kameraden aus der ostindischen Kompanie, die ihn wegen seiner Weltfremdheit für keinen “ordentlichen

Seemann8“ halten können. Elis gehört zu der Reihe der gesellschaftlichen Außenseiter und

ähnelt sich in dieser Charakteristik dem Taugenichts und Michailo Platonowitsch.

Dieser Vergleich zwischen den Werken Hoffmanns wie auch andere im folgenden gebrachte Beispiele zielen in der Arbeit auf die Bestätigung der Absicht der Autoren, zwei funktionsfähige Wirklichkeitsbenen zu kreieren. Die Realität und die Irrialität sind nicht nur die Objekte der literarischen Darstellung, sondern auch die logisch gestalteten Räume für die

Interpretation der zentralen Themen des Werkes. Zu solchen Themen gehören die sozialen

7 Hoffmann, E.T.A. Bergwerke zu Falun. In: Sämtliche Werke. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker, 2001. 209. (Im folgenden als „Hoffmann“ abgekürzt) 8 Ebenda. 209. 11

Umstände der jeweiligen Zeit und die Stelle des romantischen Helden in der vorhandenen

Realität.

In der vorliegenden Arbeit wird die Tendenz nachgewiesen, dass die soziale

Problematik in den Werken Eichendorffs und Odojewskis im Vergleich zu Hoffmann größeres Gewicht bekommt. Der Charakter der dargestellten Wirklichkeit ändert sich je nach der Absicht, das Bild des aktuellen historischen Lebens hervorzuheben. Die Ebene des tatsächlichen Realen wird, zum Beispiel, in ihrem sozio-historischen Hintergrund von

Odojewski intensiver als von Hoffmann dargestellt. Wie die vergleichende Analyse zwischen den Werken Das fremde Kind und Die Bergwerke zu Falun zeigt, konzentriert sich der Autor auf die Protagonist-Umfeld-Beziehung, ohne diese Beziehung in den präzisen sozio- historischen Kontext zu setzen. Für Hoffmann ist die generelle Stimmung der Wirklichkeit viel wichtiger als die tatsächlichen historischen Umstände, die eine Wirklichkeit bestimmen.

Schon am Anfang jeder der zwei erwähnten Geschichten wie auch mehrerer anderer wird es dem Leser offensichtlich, welchen Charakter die Wirklichkeit trägt. Die vorhandene Realität ist entweder wohltuend, friedlich und erfreulich oder trübsinnig, feindselig und widerwärtig.

Zum Beispiel wird die erste Seite in Das fremde Kind der Gestaltung eines wohltuenden

Handlungsraums gewidmet.

Hatten nämlich schon im Wäldchen die schönen schlanken Birken mit ihren belaubten Ästen, wie mit zum Gruß ausgestreckten Armen und freundlich zugewinkt, hatten sie im frohen Rauschen und Säuseln uns zugewispert: “Willkommen, willkommen unter uns!” so war es denn nun vollends bei dem Hause, als riefen holde Stimmen aus den spiegelhellen Fenstern, ja überall aus dem dunklen dicken Weinlaube, das die Mauern bis zum Dach herauf bekleidete, süßtönend heraus: “Komm doch nur herein, komm doch nur herein, du lieber müder Wanderer, hier ist es gar hübsch und gastlich!”9

Hoffmann sympathisiert mit der Familie Brakels und vermittelt ihre Gastlichkeit und

Freundlichkeit durch die idyllischen Motive der umgebenden Landschaft und die

Gemütlichkeit ihres kleinen Häuschens. Die Frage ist, ob die Stimmung der Werke,

9 Hoffmann. Das fremde Kind. 570-571. 12 beziehungsweise des Handlungsraums einen Bezug auf den biographischen Hintergrund

Hoffmanns hat.

Parallel zum intensiven Beamtendienst eines Kammergerichtsrats schreibt Hoffmann vorzüglich die Werke, deren Inhalte einen lebensbejahenden und märchenhaft-glücklichen

Charakter haben. Unter anderen dazu gehörenden literarischen Werken und Projekten, die der

Entstehung von Bergwerke zu Falun kurz vorausgehen, müssen der von Hoffmann erarbeitete

Plan für Die Meister des Gesanges. Ein Roman für Freunde der Tonkunst (Januar 1818),

Fantasiestücke in Callot’s Manier (März 1818) und der Beginn der Arbeit an Klein Zaches

(Juni-Juli 1818) erwähnt werden.

Die Komposition verlangt wie jede, die so tief im Innern von dem Meister gefühlt wurde, auch tief aufgefasst und mit dem Gemüt, ich möchte sagen mit der rein ausgesprochenen Ahnung des Übersinnlichen, wie die Melodie es in sich trägt, vorgetragen zu werden. Auch wurde, wie der Genius des italienischen Gesanges es verlangt, sowohl in dem Rezitativ als in der Arie auf gewisse Verzierungen gerechnet; aber ist es nicht schön, dass wie durch eine Tradition die Art, wie der Komponist, der hohe Meister des Gesanges, Crescentini, die Arie vortrug und verzierte10.

In der Bemerkung Hoffmanns ist offensichtlich, dass sich der Autor mit den

Ausdrucksformen des „geahnten Übersinnlichen” in der Musik beschäftigt. Die Resultate seiner Tätigkeit als Komponist sind für Hoffmann sehr wichtig, weil der Autor in diesen seine schöpferische erfüllt und sein Streben nach der Verkörperung des

Wunderbaren ausdrückt. Das im Brief erwähnte Motiv des Übersinnlichen wird zu einem der

Mittelpunkte seines literarischen Werks, unter anderem der Erzählung Bergwerke zu Falun.

In der Tat hat diese Geschichte mit der tatsächlichen Realität Berlins nichts zu tun. Mit der

Auswahl des Handlungsraums, des durch die Ostsee entfernten unbekannten Schwedens betont Hoffmann die sekundäre Rolle der aktuellen sozialen Problematik der preußischen

Hauptstadt. Wie er es in seiner Tätigkeit des Komponisten erwähnt, interessiert er sich auch in seinem literarischen Werk vor allem für das Innere des Menschen. Die Szenen der

10 Hoffmann, E.T.A. Poetische Werke in 6 Bänden. Bd. 1. Berlin: Aufbau, 1963. 91. 13

Irrealität sind eine direkte Widerspiegelung der inneren Welt und der psychologischen

Motive.

In der Irrealität können die sinnlichen Wahrnehmungen verschärft und die Qualität der Empfindungen und der Gefühle, zum Beispiel, das von Wackenroder hervorgehobene

Kunstgefühl, erhöht werden. Die Irrealität ist auch der Raum für die Entwicklung und die

Bewahrung der Zustände der Freude und des Glücks, die in der Realität sonst augenblicklich und vergänglich sind. Doch können das Irreale und das Reale voneinander nicht völlig getrennt werden. Ihre endgültige Trennung ist utopisch und steht dem Genre des Märchens viel näher als der gotisch-mystischen und immerhin realistischen Stimmung des Bergwerke zu Falun. Hoffmann entfernt sich von seinem Berliner Alltag, aber nicht von der ganzen

Wirklichkeit.

Wie mehrere Schriftsteller der deutschen Romantik konzentriert sich Hoffmann auf die sinnlichen Wahrnehmungen der umgebenden Welt und ihre Fortsetzung im Irrealen. Die sprachlichen Ausdrucksformen, die Besonderheiten der dafür ausgewählten Erzählstile und die Inhalte selbst prägen den schöpferischen Versuch Hoffmanns, den Bereich des Irrealen im poetischen Raum zu schaffen. In diesem Bereich ist die Unvergänglichkeit der

Gemütszustände möglich und wird das Phänomen des Innern aufs höchste Niveau seiner sinnlichen und geistlichen Entwicklung gebracht.

1.2 Bergwerke zu Falun im Kontext des Briefwechsels Hoffmanns während

der Jahre 1818 - 1819

An dieser Stelle der Forschung kehre ich zur unmittelbaren Analyse der zwei einschlägigen Beispiele aus dem Briefwechsel Hoffmanns während der Jahre 1818 und 1819 zurück. Die vorliegende Analyse wird dem zweiten Brief gewidmet, der unmittelbar der

Entstehung von Bergwerke zu Falun folgt.

14

Im Brief an seinen „besten, bewährtesten und unwandelbarsten11“ Freund, Baron

Theodor von Hippel, schreibt Hoffmann am 27. Januar 1819, kurz nach der Entstehung von

Bergwerke zu Falun:

Du erhältst es jetzt in der Anlage, so wie zwey Taschenbücher, in denen Erzählungen von mir erhalten sind, und die ich deiner lieben, von mir hochverehrten Frau in meinem Nahmen zu überreichen bitte. Lies doch den Zinnober [Klein Zaches, genannt Zinnober], das tolle Mährchen wird Dir gewiss, ich darf es glauben, manches Lächeln abzwingen. Wenigstens ist es bis jezt das humoristischte, was ich geschrieben, und von meinen hiesigen Freunden als solches anerkannt12.

Unter allen zurzeit geschriebenen Werken empfiehlt Hoffmann seinem Freund die humoristischste Geschichte Klein Zaches, die anscheinend in diesem Moment des

Aufenthalts in Berlin seinen Gemütszustand am präzisesten widerspiegelt. Nach der Analyse des Briefwechsels wird offensichtlich, dass sich das Privatleben Hoffmanns durch eine gewisse emotionale Stabilität und Gelassenheit kennzeichnet. Dank der Bestimmtheit im beruflichen Dienst bekommt Hoffmann die zeitliche Perspektive, sich dem Familienleben und dem intensiven Schreiben zu widmen. Der Anfang von selbigem Brief zeugt von den

Merkmalen des gemütlichen Alltags und der innerlichen Erfülltheit.

Wohl geht es mir ebenso wie Dir, am Neujahrstage treten mit doppelter Frische und Lebendigkeit die Bilder des vergangenen Lebens hervor und man gedenkt der abwesenden Freunde mit wehmüthiger Freudigkeit! – Daher kommt es denn auch, dass ich schon seit mehreren Jahren vermeide, NeujahrsAbend und NeujahrsTag, wie es sonst wohl zu geschehen pflegte, in rauschender Gesellschaft zuzubringen. Ich gebe in dieser Zeit in meinem einsamen Zimmer ganz meinen inneren Gedanken Raum, und Erinnerungen sind es, die wir, meine Frau und ich, uns gegenseitig auffrischen13.

Im Vergleich zum oben zitierten Inhalt des Briefes an Hippel wird im Rahmen des

Zusammenhangs zwischen dem Briefwechsel und der Erzählung Bergwerke zu Falun der

Bezug des Protagonisten Elis auf seinen Alltag analysiert. Wie im früheren Kontext der

Integration Hoffmanns, beziehungsweise Elis in die umgebende Welt und die Gesellschaft

11 Hoffmanns Briefwechsel. 194. 12 Ebenda. 194. 13 Ebenda. 194. 15 finden sich auch im Aspekt der Gemütsebene einige rasante Unterschiede in der Stimmung zwischen dem realen Leben Hoffmanns und den Handlungsmotiven der Erzählung. Im

Vergleich zu Hoffmann erhält der innere Zustand Elis die gegenüberliegenden

Charakteristika des Gemüts. Unter anderem sind die innerliche Zerrissenheit und die

Unsicherheit über die Zukunft zu erwähnen. Während die meisten Matrosen aus der ostindischen Kompagnie feiern und jubeln, fühlt sich Elis, als “sprängen alle Adern in seiner

Brust, und er müsse sich verbluten14“.

Es ist von Interesse, dass Hoffmann eine solche Beschreibung Elis gerade im Moment seiner Harmonie, sowohl mit der inneren als auch der äußeren Welt, entwickelt. Elis will sich im Gegensatz dazu von der unerträglichen Gegenwart und der ihn verhöhnenden Gesellschaft der Seeleute entfernen.

„Ach“, begann er endlich, wie sich besinnend, „ach, mit meiner Freude, mit meiner Lust ist es nun einmal gar nichts. Wenigstens kann ich durchaus nicht einstimmen in die Toberei meiner Kameraden“15.

Mit einem systematischen Vorgehen gestaltet Hoffmann Elis Abgeschlossenheit von der gegenwärtigen Realität und seinen Wunsch, sich von dieser Realität zu verabschieden.

Auf die See mag ich nicht mehr, das Leben ekelt mich16.

Um dieselbe Zeit bestätigt der Schriftsteller in seinem Brief die positiven Resultate seines literarischen Schaffens, die nicht nur sein Inneres, sondern auch seine soziale Lage sicherstellen.

Überhaupt gewährt mir meine Schriftstellerei nicht allein Aufheiterung, sondern auch eine Geldzulage, die allein es mir möglich macht, in dem überteuern Berlin zu subsistieren17.

Im Gegenteil kann Elis von der Aufheiterung und dem alltäglichen Glück erst nur träumen. In der Situation seiner Unzufriedenheit mit der äußeren Welt und sich selbst richtet

14 Hoffmann. 212. 15 Ebenda. 211. 16 Ebenda. 213. 17 Hoffmanns Briefwechsel. 194. 16 der Protagonist seinen Blick logischerweise auf die mögliche Rettung in der Zukunft, die ihm nichts anderes als die vom mysteriösen und seltsamen Alten Torbern angebotene Arbeit des

Bergwerkarbeiters verspricht.

An dieser Stelle der Analyse der mit dem Werk gegenwärtigen Lebenssituation

Hoffmanns und seines diese Situation widerspiegelnden Briefwechsels werden die Fragen beantwortet. Welche Motive liegen der Widersprüchlichkeit zwischen dem Inhalt von

Bergwerke zu Falun und dem Leben Hoffmanns zugrunde? Welche literarischen Themen akzentuiert Hoffmann in diesem Moment seines literarischen Schaffens? Um diese zwei

Fragen zu beantworten, stelle ich zur Analyse der Entstehung von Bergwerke zu Falun noch eine Quelle aus dem Briefwechsel Hoffmanns bereit. Aufgrund ihres einzigartigen Inhalts hat diese Quelle eine große Bedeutung für die folgende Analyse, weil der Brief als einziger die

Entstehung von Bergwerke zu Falun erwähnt und seine Problematik simultan mit der

Entstehungszeit behandelt.

Es geht um den Brief vom 15. Dezember 1818 an Kralowsky, in dem Hoffmann seine

Erzählung zum Hauptthema des Briefes macht:

Ganz außerordentlich würden Sie mich, Verehrtester Herr und Freund verbinden, wenn Sie die Gefälligkeit hätten mir, Behufs einer literarischen Arbeit, aus Ihrem Vorrat, eine Reise durch Schweden zu senden. Den Hausmann (Reise durch Skandinavien) habe ich bereits von GR. Klügel erhalten. Dies Buch begreift bergwerkliche Gegenstände in sich. Außerdem wär mir aber daran gelegen, über die speziellen Sitten – Lebensweise, Tracht, Gebräuche der Bewohner des nördlichen Schwedens (Faluhn) etwas zu lesen18.

Damit bittet Hoffmann um die Beihilfe in der Zusammenstellung der dokumentierten geographischen und kulturellen Fakten für seine zukünftige Geschichte. Unter anderem betont er die Einzelheiten einer bestimmten Region in Schweden. Später im Werk finden die versammelten Tatsachen über die Stadt und die Umgebung Faluns ihre detaillierte

Darstellung. Auch im Aspekt des Handlungsraums findet sich der Kontrast zwischen der

18 Ebenda. 181 – 182. 17

Schilderung des deprimierenden Faluns und dem fast idyllischen Leben in Berlin. Mit akribischer Genauigkeit zeichnet Hoffmann die landschaftlichen Besonderheiten der

Erzgrube Faluns, was auf keinen Fall einen idyllischen Eindruck auf den Leser ausübt:

Bekanntlich ist die große Tagesöffnung der Erzgrube zu Falun an zwölfhundert Fuß lang, sechshundert Fuß breit und einhundertundachtzig Fuß tief. Die schwarzbraunen Seitenwände gehen anfangs größtenteils senkrecht nieder; dann verflächen sie sich aber gegen die mittlere Tiefe durch ungeheuern Schutt und Trümmerhalden. In diesen und an den Seitenwänden blickt hin und wieder die Zimmerung alter Schächte hervor, die aus starken, dicht aneinandergelegten und an den Enden ineinandergefugten Stämmen, nach Art des gewöhnlichen Blockhäuserbaues aufgeführt sind19.

Also setzt Hoffmann seinen Protagonisten in die öden Bergbaulandschaften des provinziellen schwedischen Nordens, wo die “zackigen Felsenmassen ringsumher emporragen20“. Es ist von Bedeutung, dass diese Beschreibung Faluns der Wirklichkeit vollkommen entspricht. Es ist kein Resultat der Einbildungskraft Elis. Der Autor vermeidet jegliche Art von Idealisierung des Ortes. In diesem Bild der Faluner Bergwerke gibt es keinen Platz für das romantische Abbilden der Landschaft, die idyllische Züge enthält. Im

Gegenteil können der Schutt und die Trümmerhalden Faluns als allegorische

Gegenüberstellung der romantischen Naturidylle bezeichnet werden.

Also kann das Bild der Bergwerke für den Anfang der vorliegenden Analyse als unheimlich und entmutigend bezeichnet werden. Hoffmann will in seiner schöpferischen

Absicht nämlich eine solche Reaktion der Ablehnung beim Leser hervorrufen. In dem Fall wird die literarische Klimax in der Schilderung der unvermeidlichen Abgeschlossenheit Elis von der Wirklichkeit als wichtiges Darstellungsmittel hervorgehoben. Das stimmt im gewissen Grad, weil die Lage Elis während der ersten vierzehn Seiten des Textes immer trauriger wird. Elis scheint sich von seinem fatalen Schicksal bezwingen zu lassen. Eben hat er sich von der Vergangenheit eines Seemanns verabschiedet und sich auf den Weg nach

19 Hoffmann. 220. 20 Ebenda. 220. 18

Falun zur möglich besseren Zukunft begeben. Jetzt steht er vor der deprimierenden Realität der Bergwerke, die er für die einzige Hoffnung auf die Verbesserung seines Lebens gehalten hat. Diese Realität scheint aber das Ende seiner Hoffnungen zu sein.

Wohl bedünkte ihm der Abgrund wie der Boden der von den Wellen verlassenen See, und das schwarze Gestein, die bläulichen, roten Schlacken des Erzes schienen ihm abscheuliche Untiere, die ihre hässlichen Polypenarme nach ihm ausstreckten21.

Das Zitat ist auch ein Beispiel des Unterschieds zwischen der realen Landschaft und dem durch die imaginäre Kraft Elis hervorgerufenen Bild. In den späteren Beschreibungen der Bergwerke entwickelt Hoffmann die romantische Perspektive, die weniger realistisch und mehr imaginär wird.

Die Beschreibung der Faluner Bergwerke enthält damit zwei Wirkungsmöglichkeiten.

Einerseits ist es ein detailliertes mimetisches Abbilden einer bestimmten schwedischen

Region. Dieses Abbilden beruht auf den im Briefwechsel versammelten tatsächlichen

Informationen über die Geographie, Kultur und Traditionen Faluns. Andererseits ist es das vom Protagonisten subjektiv gesehene Gemälde, das nicht zuletzt durch die psychologischen

Prozesse Elis und ihren destruktiven Charakter beeinflusst wird.

In Verbindung mit dem detaillierten Bild der Wirklichkeit Faluns ist die Frage zu beantworten, ob Hoffmann überhaupt die auf den ersten Blick deprimierenden Bergwerke in der symbolischen oder allegorischen Bedeutung benutzt und damit die Faluner Landschaft dem traditionellen romantischen Konzept der Idylle gegenüberstellt. Im Zusammenhang mit der subjektiven Vision Elis müssen solche Themen der Psychologie wie die

Angstbewältigung, die Zustände des Wahnsinns und der Lust behandelt werden.

21 Ebenda. 221. 19

1.3 Die Figurenkonstellation und Raumgestaltung in Bezug auf das

literarische Werk von 1818 – 1819

In der vorliegenden Behandlung der biographischen Tatsachen in den Jahren 1818 –

1819 muss die Einmaligkeit von Bergwerke zu Falun sowie die Besonderheiten des

Erzählstils genannt werden. Die paradoxe Situation der Diskrepanz zwischen den

Stimmungen im Leben und der Erzählung kann mehrere Erklärungen haben, einschließlich solcher kaum voraussagbaren Momente wie die schöpferische Logik und Begeisterung, mit denen das Meisterwerk geschaffen wird. Doch werden in meiner Analyse der

Entstehungsgeschichte von Bergwerke zu Falun mindestens die den Text beeinflussenden

Details ins Blickfeld gerückt, die als objektiv gelten können.

Erstens muss die Unabhängigkeit oder Selbständigkeit der Erzählung in der

Sammlung Serapions-Brüder hervorgehoben werden.

Das gilt beispielsweise für die Erzählungen Rat Krespel, Die Bergwerke zu Falun, Meister und Martin der Küfner und seine Gesellen, Das Fräulein von Scuderi. Diese Erzählungen behaupten ihr Eigenrecht auch unabhängig von ihrer Zuordnung zu der Sammlung. Ihre Eingliederung in die Buchausgabe der Gesammelten Erzählungen und Märchen nimmt ihnen nichts von ihrer Bedeutung. Man kann sie auch ohne den “Rahmen” lesen und bedenken. Aber der Rahmen selbst, in den sie eingefügt wurden, gibt ihnen zugleich eine andere Dimension, stellt sie in einen anderen Zusammenhang22.

Eine dieser “anderen“ Dimensionen besteht in der deutlichen Entgegensetzung des fremden Irrealen und der bekannten alltäglichen Realität. Mit anderen Worten werden die

Grenzen zwischen diesen zwei Bereichen klar gezogen. Diese Einstellung Hoffmanns widerspricht seiner gewöhnlichen poetischen Strategie, in der der “Inhalt des Wunderbaren” und die „unbesuchten Regionen“ durch die „Einbildungskraft, nämlich in ihrer Qualität als frei schwebende Phantasie23“ erreicht werden. Die Beispiele solcher literarischen Einstellung zum Phantasieren können fast in jedem Werk Hoffmanns ausgemacht werden.

22 Hoffmann. 1244. 23 Deterding. 112. 20

Das einschlägige Zeugnis davon wäre der satirische Roman Lebensansichten des

Katers Murr (1819 – 1821), in dem die Biographien des Kapellmeisters Johannes Kreisler und des Katers Murr miteinander verschränkt sind. Sowohl die chronologische Ordnung der autobiographischen Darstellung als auch die gegenübergestellten Ebenen der Realität und der

Phantasie werden miteinander vermischt. Schon am Anfang der Geschichte berichtet davon der Herausgeber des Manuskripts und bestätigt damit den Zusammenstoß des Realen mit dem

Irrealen.

Der Herausgeber versprach, sein Bestes zu tun für den schriftstellerischen Kollegen. Etwas verwunderlich wollt' es ihm nun wohl bedünken, als sein Freund ihm gestand, daß das Manuskript von einem Kater, Murr geheißen, herrühre und dessen Lebensansichten enthalte; das Wort war jedoch gegeben, und da der Eingang der Historie ihm ziemlich gut stilisiert schien, so lief er sofort, mit dem Manuskript in der Tasche, zu dem Herrn Dümmler Unter den Linden und proponierte ihm den Verlag des Katerbuchs24.

Die tatsächliche Existenz des Irrealen, aber mit Vorbehalt der satirischen Distanz, ist in der Kater Murr Geschichte eine offensichtliche Bedingung, die dem Darstellungsprinzip der “schwebenden Phantasie“ vollkommen entspricht und nochmals von der inneren

Aufheiterung Hoffmanns zur Zeit der Entwicklung des ersten Bandes des Romans zeugt. Im

Gegensatz zu den Lebensansichten Katers Murr und ihrer spielend phantasmagorischen

Handlung entspricht Bergwerke zu Falun eher dem Genre einer schauerlichen und unheimlichen Horrorgeschichte, in der der Protagonist nicht im Stande ist, seinem fatalen

Schicksal zu entfliehen. Diese Fatalität wird vor allem mit dem Trieb Elis verbunden, den

Rahmen der Wirklichkeit zu überschreiten und sich in der Welt seiner Visionen, beziehungsweise der Welt der Phantasie von der höchst mysteriösen, “unbeschreiblichen

Angst25“ zu befreien.

Die Problematik der Angstzustände wird in der Erzählung Hoffmanns zu einem umfangreichen Thema, deren Behandlung einige Sektionen der nächsten zwei Kapitel der

24 Hoffmann. E.T.A. Lebens-Ansichten des Katers Murr. In: Sämtliche Werke. Frankfurt/ Main, 1992. 11. 25 Hoffmann. 234. 21

Dissertation gewidmet werden. Das wichtige Detail muss aber schon jetzt in der vorliegenden

Diskussion über das Ideen- und Darstellungsprinzip erwähnt werden. Die Angst Elis hat ihren

Ursprung viel mehr im Bereich des Inneren als der fehlerhaften und unvollkommenen

Außenwelt. Darin bestehen eine der wichtigen Besonderheiten von Bergwerke zu Falun und damit seine Einmaligkeit. Hoffmanns Einstellung zum traditionellen Konflikt der Romantik zwischen dem erbärmlichen Alltag und der phantastischen Vollkommenheit ändert sich in dieser Geschichte zum Konflikt zwischen der Welt des Inneren und der umgebenden

Außenwelt. In dieser Einstellung können beide Seiten des Konflikts nicht als eine prinzipielle, zum ideologischen Streit gebrachte Auseinandersetzung definiert werden. Die akzentuierte Ironie des Katers Murr, mit der sowohl der Alltag als auch das sentimentale

Romantisieren der Wirklichkeit von Hoffmann behandelt werden, bekommt keinen Platz in

Bergwerke zu Falun. Die Dimensionen des Wirklichen und des Irrealen werden weder direkt verglichen noch vermischt, was, wie erwähnt, dem traditionellen Darstellungsprinzip

Hoffmanns widerspricht.

Wirklichkeit und Unwirklichkeit, dargestellte Realität und Irrealität, Anketten und Befreien fließen ineinander, ja vertauschen sich in ihren Positionen, werden zu einem Spiel des Geistes, der damit umgeht. So wird die Einbeziehung der Wirklichkeit zu einem konstitutiven Teil des schöpferischen Prozesses bei Hoffmann - nicht die Entgegensetzung der Bereiche „Phantasie“ und „Alltag“, selbst dann nicht, wenn eben diese Entgegensetzung betont wird!26

Diese These hat ihre Gültigkeit sowohl für Kater Murr als auch für Klein Zaches. Die beiden Werke gehören in dieselbe Zeitperiode wie Bergwerke zu Falun und spiegeln das

Prinzip des Zusammenfließens der Phantasie und Realität wider, was im letzteren Werk nur episodische Bedeutung bekommt.

Wenn der Handlungsraum in den Werken betrachtet wird, hat die Erzählung Klein

Zaches, genannt Zinnober nur eine relative Andeutung auf die geographische Lokalisierung.

26 Deterding. 112. 22

Obwohl der Handlungsraum an die deutschen Kleinstaaten des 19. Jahrhunderts erinnert, charakterisiert er sich als fiktiv und imaginär. Die wenigen Züge des realen Spielraums verbinden sich mit dem phantastischen Bereich. Die Welt des Realen durchdringt die

Zaubermacht der Feen; und umgekehrt verwandeln sich die Menschen auf wunderbare Weise in Schmetterlinge und Käfer. Die wunderbaren Ereignisse finden unmittelbar im Alltag statt, und im Gegensatz dazu verbreitet sich das wirkliche Leben auf das Gebiet des Wunderbaren und Märchenhaften.

Diese phantastischen Verwandlungen geschehen mit einer solchen

Selbstverständlichkeit, dass Hoffmann in seinem Brief an Hippel das Lächeln beim Lesen der

Erzählung garantiert. Eine solche Bemerkung über die unterhaltsamen Emotionen kann kaum in einer Empfehlung zum Lesen von Bergwerke zu Falun vorgestellt werden, was in keinem der Briefe Hoffmanns vorkommt. Im Gegenteil werden die Ironie und Satire durch eine dokumentarische Anschaulichkeit der Handlung ersetzt. Die sonst aufgehobenen Grenzen zwischen der Wirklichkeit und der Phantasie werden wiederaufgebaut und durch eine Reihe der Übergangsszenen genau bezeichnet. Das Durchdringen des Realen in das Gebiet des

Phantastischen ist in Bergwerke zu Falun erst relativ möglich. Wie erwähnt bezieht sich der

Prozess des Zusammenstoßes zwischen den zwei Dimensionen nur auf den Verstand Elis und nur in den Momenten seiner außerordentlichen Gemütszustände, die nicht zuletzt von den psychologischen Prozessen der Entgrenzungswünsche begleitet werden.

Hoffmann entwickelt in Bergwerke zu Falun eine für sich neue Art der literarischen

Begründung des romantischen Glaubens an die Verbesserung der unvollkommenen Realität und des fehlerhaften Verständnisses über die Endgültigkeit des irdischen Schönen. Im

Gegenteil zu seinen meisten Werken verzichtet der Autor auf die Elemente der Satire und der

Ironie, die sonst die Schilderung der Wirklichkeit, vor allem des sogenannten

23 kleinbürgerlichen Alltags begleiten. Solch ein Alltag wird zum Objekt der Darstellung, die in sich keine offensichtlichen Züge der scharfen satirischen Kritik enthält.

Die typische Auseinandersetzung des Künstlerideals mit der philisterhaften Profanität wird zu einem der wichtigen Leitmotive sowohl in Klein Zaches als auch im ganzen Zyklus der Kreisleriana. In Lebensansichten des Katers Murr wird die satirische Charakterisierung des spießbürgerlichen Milieus durch den Vergleich mit dem Leben eines Katers zum grotesken Bild vereint. Die alltäglichen Gewohnheiten eines Philisters, beziehungsweise im

Fall der Lebensansichten eines Katers, dominieren das Streben nach dem schöpferischen oder

ästhetischen Absolutum, so dass letzteres durch diese Abhängigkeit vom philisterhaften

Bewusstsein nie geahnt, gedacht oder erreicht wird. C. Clason sagt das in seinem Artikel The

Vignettes in E.T.A. Hoffmann’s Kater Murr.

No matter to what extent Murr pursues intellectual and artistic goals (the crowing achievements of human endeavor, in Hoffmann’s point of view), he cannot escape the desires and behavioral patterns necessitated by his felinity. As in Kreisler’s case, the polar opposition of body and mind engenders in Murr an inversely proportional relationship between artistic accomplishment and physical satisfaction27.

In Bergwerke zu Falun entfernt sich der Autor vom konventionellen Rahmen der romantischen Einstellung zur Wirklichkeit-Phantasie-Beziehung und fördert eine tolerante

Wahrnehmung der alltäglichen Werte. Nicht zufällig interessiert sich Hoffmann in seinem

Briefwechsel für die Bräuche und Traditionen der schwedischen Bergbaugesellschaft, die im zweiten Drittel der Erzählung in den Vordergrund tritt und dem Protagonisten die

Möglichkeit der Befreiung von seinen inneren Konflikten bietet. Vor allem wird die Einheit

Elis mit der Außenwelt in der Familienidylle Dahlsjö erreicht.

27 Clason, Christopher. The Vignettes in E.T.A. Hoffmann’s Kater Murr: Portraits of Artists and Lovers. German Studies Review, Vol. 15, No. 3 (Oct., 1992). 495. 24

1.4 Die Realität-Phantasie-Beziehung und ihre Projektion auf die

Protagonisten und den Handlungsraum

Die Bedeutung der Figuren Ulla und Pehrson Dahlsjö soll in Bezug auf Elis Suche nach seinem Glück nicht unterschätzt werden. Dem Protagonisten öffnen sich zwei mögliche

Wege, seinem bisher unglücklichen Schicksal zu entfliehen. Der eine Weg besteht im irrationalen Treiben nach dem imaginären Reichtum der Erzgrube. Der unbewusste Trieb und das geahnte Wissen über die bessere Dimension entsprechen damit den Charakteristika des romantischen Helden. Diese geheimnisvollen Motive finden sich in mehreren Werken

Hoffmanns und bekommen ihre Bestätigung in den Thesen A.W. Schlegels über die romantische Weltanschauung, in der neben der Vernunft auch die geistige Intuition als

Notwendigkeit zum Verständnis der Wahrheit gilt.

Die Menschen, welche solche geistige Intuition mit ungewöhnlicher Energie und Klarheit in sich hatten, sind von Zeit zu Zeit die wahren Erleuchter und Aufklärer der Welt gewesen28.

Also verlässt sich Elis einerseits auf die “Ahnungen und Wünsche, die er nicht zu nennen vermochte”, die aber doch sein “Inneres durchkreuzten29“. Andererseits, und das ist der zweite Weg zum Erlangen der inneren Ruhe, wird die Erlösung der inneren Konflikte mit der friedlichen und seelenruhigen Wirkung des idealisierten Alltags verbunden.

In der positiv wirkenden alltäglichen Realität als dem Darstellungsobjekt besteht die

Einmaligkeit von Bergwerke zu Falun. Das ganze Konzept der ausführlich gezeichneten

Wirklichkeit Faluns unterscheidet sich in seiner Keuschheit und Freundlichkeit von den satirisch und philisterhaft skizzierten Beispielen dieser Wirklichkeit in den meisten Werken

Hoffmanns.

Auch in der Schilderung der zwei Seiten des Faluner Alltags bleibt der Autor ganz präzise. Die eine bezieht sich auf den Schacht selbst und die harte Arbeit der

28 Schlegel, A. W. Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters. Stuttgart: Reclam, 1974. 64. 29 Hoffmann. 218. 25

Bergwerkarbeiter. Die zweite findet sich im Leben außerhalb der Bergwerke und wird durch die Szenen in der Familie Dahlsjö und der feiernden Gesellschaft Faluns geschildert. Es ist von großer Bedeutung, dass Hoffmann in seiner Charakterisierung der Faluner Gemeinschaft keine direkt betonte Intonation der ironisierenden Kritik benützt. Diese Gesellschaft hat keine offensichtlichen Züge der “bürgerlichen Philisterhaftigkeit30“. Im Gegensatz dazu erfüllt das erfolgreiche und versinnlichte Leben in Falun die Rolle einer Alternative zu der Attraktivität des unterirdischen Reiches, seiner Metalle und Edelsteine.

Die Familie Dahlsjö ist die Quelle der Liebe und Aufmerksamkeit, nach deren Elis in seinen Träumen und Reflexionszuständen immer gesucht hatte. Nicht zufällig schildert

Hoffmann die Vergangenheit Elis in ihren fatalen und tragischen Zügen. Der einsame und introvertierte Zustand des jungen Manns wird durch die Reihe der Tragödien in seiner

Familie verursacht. Elis verlor buchstäblich alle Verwandten. Sein Vater ist ein „tüchtiger

Steuermann gewesen, aber im Sturm umgekommen”. „Seine beiden Brüder waren als

Soldaten geblieben in der Schlacht31“. Nachdem sich Elis in der ostindischen Kompanie mit aller Kraft und Hoffnung auf die Heimkehr Mühe gegeben hat, Geld zu verdienen, bringt er seiner Mutter die sorgsam gesparten Dukaten. „Aber fremde Gesichter hätten ihn aus dem

Fenster angeguckt32“. Hoffmann ist ein Meister des Foreshadowings. Dem Autor gelingt es, den Leser in ständiger Spannung zu halten und die Übergangsphasen zwischen Freude und

Unglück, Harmonie und Ich-Losigkeit, Idylle und Tragödie zum Beantworten der Frage über das echte Glück zu benützen.

Eine junge Frau, die ihm [Elis] endlich die Tür öffnet und der er sich zu erkennen gibt, habe ihm mit kaltem rauem Ton berichtet, dass seine Mutter schon vor drei Monaten gestorben, und dass er die paar Lumpen, die, nachdem die Begräbniskosten berichtigt, noch übriggeblieben, auf dem Rathaus in Empfang nehmen könne. Der Tod seiner Mutter zerreiße ihm das Herz, er

30 Denneler, Iris. Die Kehrseite der Vernunft. Zur Widersetzlichkeit der Literatur in Spätaufklärung und Romantik. München: Wilhelm Fink, 1996. 116. 31 Hoffmann. 210. 32 Ebenda. 212. 26

fühle sich von aller Welt verlassen, einsam, wie auf ein ödes Riff verschlagen, hilflos, elend33.

Nachdem Elis Mutter gestorben ist, bleibt er in der fremden Welt allein; er hat weder

Lebenserfahrung, noch jegliche moralische, geistige oder materielle Unterstützung. Auf einer

Seite fügt er sich nicht seinem Schicksal. Auf der anderen Seite beginnt Elis, an das

Verdammungsurteil zu glauben und, um diesem zu entfliehen, vertieft er sich immer mehr in sein Inneres, in dem die phantasmagorische Welt der Visionen seinen Verstand bezaubert. In seinen Träumen findet Elis sowohl die seelische Erlösung der erbarmungslosen Realität, als auch die ersten unvergesslichen Visionen über die „Herrlichkeit der unterirdischen Welt34“, die zu seinem bestimmenden Gedanken wird.

Da die Gesellschaft der ostindischen Kompanie ihm weder gesellige Ermunterung, noch jedwede Gründe zur Lebensbegeisterung bringt, bleibt Elis nichts anderes übrig, als dem Rat des fremden Alten Torbern zu folgen und sich in Richtung Faluns auf die Suche der

“Welt von Liebe und Sehnsucht35“ zu begeben. Sein in den Thesen der Aufklärung betontes

Streben nach der aktiven Handlung erfährt in der Erzählung zwei

Entwicklungsmöglichkeiten. Die eine entspricht dem thematischen Kanon der Romantik und bezieht sich auf den Bereich der irrationalen Phantasie, während die zweite Möglichkeit für die Flucht aus der erbarmungslosen Realität die Suche nach einer besseren Welt ist, ohne dabei die Dimension des rationalen Wirklichen zu verlassen. Die beiden

Entwicklungsmöglichkeiten dieser Flucht aus der gegenwärtigen Realität werden in meiner

Analyse sowohl in ihrem Zusammenhang als auch in ihrer Selbständigkeit betrachtet. Im

Rahmen der Wirklichkeitsebene der Erzählung wird zuerst die Charakteristik der Faluner

Realität und ihrer Rolle als Erlösungsmotiv behandelt.

33 Ebenda. 212. 34 Ebenda. 218. 35 Ebenda. 216. 27

Der erste Eindruck der Faluner Bergwerke enttäuscht und beängstigt Elis und lässt ihn daran denken, nach Göthaborg zurückzukehren.

Elis gedachte in Falun zu übernachten und dann mit dem frühesten Morgen seinen Rückweg anzutreten nach Göthaborg36.

Die Umgebung und Landschaft widersprechen der Vorstellung von der romantischen

Idylle. Das eher abstoßend als anziehend dargestellte Bild des neuen Handlungsraums ist eine untypische Situation für den Romantisierungsprozess, in dem die traditionelle Flucht aus dem monotonen philiströsen Element schon in ihrer ersten Phase mit den angenehmen

Offenbarungen über die neue bessere Welt begleitet wird. Der Enthusiasmus eines romantischen Protagonisten, nach seinem Glück in einer neuen Welt zu suchen, wird in den meisten Werken der Romantik sofort durch positive Erlebnisse und Emotionen belohnt, so zum Beispiel im Taugenichts Eichendorffs. Der Protagonist verlässt sein Heimatdorf und erfährt über die Schönheit der ihm unbekannten Gebiete schon während seiner allerersten

Schritte in die neue Welt. Seine Gemütszustände bestätigen die Richtigkeit der Absicht, sich von seinem Daheim zu verabschieden.

Hinter mir gingen nun Dörfer, Gärten und Kirchtürme unter, vor mir neue Dörfer, Schlösser und Berge auf; unter mir Saaten, Büsche und Wiesen bunt vorüberfliegend, über mir unzählige Lerchen in der klaren blauen Luft - ich schämte mich, laut zu schreien, aber innerlichst jauchzte ich und strampelte und tanzte auf dem Wagentritt herum37.

Von Interesse ist die Gestaltung des Raums in den vom Taugenichts gesehenen

Landschaften. In dieser Beschreibung benutzt Eichendorff vier visuellen Perspektiven, mit deren Hilfe der Leser die vollendete Übersicht der umgebenden Natur bekommt. Während in der erwähnten Landschaftsbeschreibung Eichendorffs jede der vier Sichtperspektiven dem

Protagonisten Freude bereitet, richtet sich Elis Blick ständig nach unten, in Richtung der deprimierend wirkenden Erzgrube. Die “unzähligen Lerchen in der klaren blauen Luft”

36 Ebenda. 222. 37 Eichendorff, Joseph. Aus dem Leben eines Taugenichts. Kehl: SWAN Buch-Vertrieb GmbH, 1993. 69. (Im folgenden als „Eichendorff“ abgekürzt) 28 passen kaum zum Landschaftsbild der Faluner Bergwerke. Die Übersicht des Himmels wird durch die Anziehungskraft der entsetzenden alten Schächte vollkommen ausgeschlossen. Es bleibt Elis Fröbom nichts übrig, als im bezauberten Zustand in den „ungeheuren Schlund hinabzuschauen38“. Während sich die Landschaftsbilder im Roman Eichendorffs durch die unzähligen bunten Farben der aufblühenden Natur kennzeichnen, betont Hoffmann in der

Beschreibung der Faluner Realität das Fehlen jeder Art von Pflanzenwelt. Die Aussicht auf die Felsenmasse ist so erstaunlich einfarbig, monoton und kahl, dass nur die Einbildungskraft im Stande ist, Elis von der emotionalen Betäubung wegzubringen.

Kein Baum, kein Grashalm sprosst in dem kahlen zerbröckelten Steingeklüft, und in wunderlichen Gebilden, manchmal riesenhaften versteinerten Tieren, manchmal menschlichen Kolossen ähnlich, ragen die zackigen Felsenmassen ringsumher empor. Im Abgrunde liegen in wilder Zerstörung durcheinander Steine, Schlacken - ausgebranntes Erz, und ein ewiger betäubender Schwefeldunst steigt aus der Tiefe, als würde unten der Höllensud gekocht, dessen Dämpfe alle grüne Lust der Natur vergiften. Man sollte glauben, hier sei Dante herabgestiegen und habe das Inferno geschaut mit all seiner trostlosen Qual, mit all seinem Entsetzen39.

Die Parallele zum Inferno Dantes ist die einschlägige Metapher, die in ihrer lakonischen Bedeutung den Kontrast zwischen dem ersten Eindruck Elis von Falun und seiner späteren glücklichen Offenbarung im Kennenlernen der Familie Dahlsjö verstärkt. Wie im Fall Dantes steht Elis vor dem massiven unterirdischen Reich und überdenkt den Grund seiner Pilgerfahrt nach Falun. Dante ist seinerseits seiner Absicht bewusst, die in der Suche nach Beatrice besteht.

Vernimm, weshalb ich kam und was ich hörte, Als deiner mich zum erstenmal erbarmte. Ich weilte da, wo Freude nicht noch Pein ist. Da rief ein Weib mich, die so schön als selig, So daß, mir zu gebieten, ich sie ansprach. Ihr Auge leuchtete so hell als Sterne, Und leis' und langsam hub sie zu mir an Mit engelgleichem Laut in ihrer Rede: Du wohlgesinnte Mantuanerseele,

38Hoffmann. 220. 39 Ebenda. 220. 29

Von deren Ruhm die Welt noch itzt erfüllt ist Und bleiben wird so lang' als die Bewegung, Mein Freund, der aber nicht des Glückes Freund ist, Wird an dem wüsten Berghang so behindert In seinem Weg, daß er vor Furcht zurückweicht. Nach dem, was ich von ihm im Himmel hörte, Besorg' ich fast, er sei schon so verirret, Daß ich zu spät zur Hilfe mich erhoben. So eile denn, mit kunstgeübter Rede Und dem, was sonst zu seiner Rettung nottut, Ihm so zu helfen, daß ich sei getröstet. Ich bin Beatrix, die zu gehn dir aufträgt40.

Elis begegnet seiner Geliebten im unbekannten und auf den ersten Blick drohenden

Falun. Mit Ulla assoziiert sich das Motiv der Flucht aus der hoffnungslosen Finsternis der

Vergangenheit in die neue Welt der bedeutungsvollen und optimistischen Zukunft. Die unbekannte und öde Atmosphäre Faluns bekommt die ersten Züge der Freundlichkeit und

Gemütlichkeit. Mit der Erscheinung Ullas wird Elis Aufenthalt in Falun ersehnt. Die Stadt bekommt für Elis selbst die Bedeutung der Heimat:

Nun sei er, sprach sie, ja nicht mehr fremd sondern gehöre ins Haus und nicht mehr das trügerische Meer, nein! - Falun mit seinen reichen Bergen sei seine Heimat! - Ein ganzer Himmel voll Wonne und Seligkeit tat sich dem Jüngling auf bei Ullas Worten. Man merkte es wohl, dass Ulla gern bei ihm weilte, und auch Pehrson Dahlsjö betrachtete ihn in seinem stillen, ernsten Wesen mit sichtlichem Wohlgefallen41.

Mit der Einführung der Figuren Pehrson und seiner Tochter Ulla entwickelt sich in der Geschichte das Thema der alltäglichen Idylle. In ihrer spezifisch thematisierten Form unterscheidet sie sich vom traditionellen Konzept der romantischen Idylle vor allem, weil sie mit den Ideen der faszinierenden Landschaft und Natur wenig zu tun hat.

1.5 Die Konstellation der idyllischen Motive

An dieser Stelle der Analyse wird das Verhältnis Elis mit der Familie Dahlsjö zum

Ausgangspunkt im Ideal-Idylle-Gespräch gemacht. Diese thematische Ebene fungiert als

Hauptmotiv, das in der Erzählung deutliche Merkmale der Idylle enthält. Unter den

40 Dante, Alighieri. Die Göttliche Komödie. Die Hölle. Gesang 2. Berlin, 1916. 15. Digitalisiert. http://www.zeno.org/Literatur/M/Dante+Alighieri/Epos 41 Hoffmann. 226. 30

Nebenmotiven der Idylle kann wohl nur die Gemeinschaft der Bergleute erwähnt werden, die zum ersten Mal in der Geschichte auf Elis einen äußerst positiven Eindruck ausüben. Die

Szene mit den von der schweren Arbeit im Schacht zurückkehrenden Bergwerkern erfüllt die

Funktion einer Übergangsphase vom einsamen Lebensverlauf Elis, ausgedrückt durch eine

“lebenslängliche Melancholie“ mit dem „Gefühl freischwebender Unfreiheit42”, in die neue umgebende Atmosphäre der Aufmerksamkeit und Freundlichkeit. Das von Tarnowski-Seidel benutzte Oxymoron „freischwebende Unfreiheit“ charakterisiert und präzisiert Elis Zustand während seiner Reise aus Gothaborg nach Falun, aus der bekannten unerträglichen Existenz eines Seemanns in die unbekannte Tätigkeit eines Bergwerkarbeiters. Auf einer Seite ist der junge Mann frei von seinen ehemaligen Pflichten und kann jetzt ein neues besseres Leben anfangen. Auf der anderen Seite ist er immer noch abhängig von seinen schmerzhaften inneren Trieben und melancholischen Gemütszuständen, die durch den Wechsel weder des geographischen Ortes noch der beruflichen Tätigkeit überwunden werden. Die Gestaltung der folgenden Szene deutet auf eine solche Übergangsphase hin, die sich nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch ihrer stilistischen Struktur nach von der bisherigen Handlungsentwicklung wesentlich unterscheidet.

Ein langer Zug von Bergleuten in vollem Staat, mit Grubenlichtern in den Händen, Spielleute vorauf, hielt eben vor einem stattlichen Hause. Ein großer schlanker Mann von mittleren Jahren trat heraus und schaute mit mildem Lächeln umher. An dem freien Anstande, an der offenen Stirn, an den dunkelblau leuchtenden Augen musste man den echten Dalkarl erkennen. Die Bergleute schlossen einen Kreis um ihn, jedem schüttelte er treuherzig die Hand, mit jedem sprach er freundliche Worte43.

Solche äußerst positive Beschreibungen der episodischen Figuren kommen in der

Erzählung ziemlich spät in Bezug auf den früher dargestellten Inhalt. Keine der

Schilderungen, weder von Matrosen noch Göthaborgern, kann mit dem freundlichen und leuchtenden Bild des “echten Dalkarls” verglichen werden. Bisher hatten nur die Figur der

42Tarnowski-Seidel, Heide. Arthur Schnitzler: Flucht in die Finsternis. Eine produktionsästhetische Untersuchung. München: Wilhelm Fink, 1983. 44. (Im folgenden als „Tarnowski-Seidel“ abgekürzt) 43 Hoffmann. 222. 31

Dirne und ihr „süßes Gelispel” die Macht, ins „Innere Elis‘ hinein zu klingen44“. Die

Entwicklung ihres idyllischen Bildes verhindert aber Hoffmann mit der Erwähnung der

Trauer in ihren dunklen Augen.

Nicht lange dauerte es, so trat ein gar feines schmuckes Mädchen aus der Tür des Gästgifvaregard und setzte sich hin neben dem trübsinnigen Elis, der sich wieder, verstummt und in sich gekehrt, auf die Bank niedergelassen hatte. Man sah es dem Putz, dem ganzen Wesen der Dirne wohl an, dass sie sich leider böser Lust geopfert, aber noch hatte das wilde Leben nicht seine zerstörende Macht geübt an den wunderlieblichen sanften Zügen ihres holden Anlitzes. Keine Spur von zurückstoßender Frechheit, nein, eine stille sehnsüchtige Trauer lag in dem Blick der dunklen Augen45.

Die wichtigen Besonderheiten dieser Beschreibung bestehen in der doppeldeutigen

Stimmung des Bildes. Auf einer Seite wird das Mädchen durch die “wunderlieblichen sanften

Züge ihres holden Antlitzes” charakterisiert, was neben den ähnlichen attributiven

Merkmalen der Idealisierung die Vitalität der Außenwelt im Vergleich zur Erzgrube fördert.

Auf der anderen Seite erreicht die positiv wirkende Beschreibung kein idyllisches

Emporheben und wird im Moment der eventuellen Vervollkommnung durch die Züge der

Fatalität verhindert, die als eine “stille sehnsüchtige Trauer in dem Blick der dunklen Augen liegt“. Damit schafft Hoffmann den Effekt einer steigend-fallenden Stimmungsintonation, die ein einschlägiges stilistisches Zeugnis davon gibt, wie das Phänomen der idyllischen

Gemütszustände in der bestimmten Szene präsent ist, oder erst nur als eine Art Ahnung Elis angedeutet wird.

Die stilistischen Mittel in den Beschreibungen, sowohl der Protagonisten, als auch des

Handlungsraums, sind von großer Bedeutung für die Identifikation der zu erforschenden

Konzepte der Idylle und des Ideals, die ihrerseits die philosophischen und ästhetischen Ideen der Romantik im Werk versinnlichen. Bevor das Charakterisieren der Faluner Gesellschaft und der Familie Dahlsjö weiter unternommen wird, soll ein theoretischer Exkurs zur

44 Ebenda. 211. 45 Ebenda. 210. 32

Definition des Ideals gemacht werden. Dieser Exkurs ist wichtig für die Konkretisierung der abstrakten Begriffe der Idylle und des Ideals, weil die Erwähnung und die Einführung dieser

Konzepte dem systematischen Prozess der Ganzanalyse entsprechen sollen.

Das Ideal wird mit dem Begriff der Idylle verglichen und ihr in den bestimmten

Eigenschaften, sowohl der Entstehung, als auch der Wahrnehmung, gegenübergestellt. Die

Hauptunterschiede zwischen dem imaginären Absolutum und der alltäglichen Idylle können im Primärtext festgestellt werden. Dafür braucht die Analyse eine theoretische Begründung, die in ihren meisten Charakteristika auf den philosophisch-ästhetischen Theorien und Thesen der Aufklärung, Romantik und Moderne beruht. Im Rahmen der ersten romantischen Quelle wende ich mich zu diesem Zweck an W. Wackenroder.

Nur das Unsichtbare, das über uns schwebt, ziehen Worte nicht in unser Gemüt herab. Die irdischen Dinge haben wir in unsrer Hand, wenn wir ihre Namen aussprechen; aber wenn wir die Allgüte Gottes oder die Tugend der Heiligen nennen hören, welches doch Gegenstände sind, die unser ganzes Wesen ergreifen sollten, so wird allein unser Ohr mit leeren Schallen gefüllt und unser Geist nicht wie es sollte, erhoben46.

In dieser These muss vor allem der mehrdeutige Charakter des Überirdischen unterstrichen werden. In seiner Vielseitigkeit besteht der allererste semantische Unterschied des Ideals zur Idylle, die ihrer Natur nach durch eine Art der begrifflichen Klarheit charakterisiert wird. Vor allem bezieht sich die Klarheit in der Definition auf die

Wahrnehmungsprinzipien der Idylle. Ihre Wahrnehmung kennzeichnet sich durch ein objektives Wohlgefallen. Die rezeptive Funktion des Wohlgefallens spiegelt sich unmittelbar in der Erzählstruktur von Bergwerke zu Falun wider. Wie erwähnt, gehören die Szenen mit der Beteiligung der Familie Dahlsjö zum thematischen Bereich der Idylle. Also sollen sie demnach beim Leser das Gefühl des Wohlgefallens fördern.

46 Wackenroder, Wilhelm. Von zwei wunderbaren Sprachen und deren geheimnisvoller Kraft. In: Theorie der Romantik. Stuttgart: Reclam, 2005. 105. 33

Die allererste Erwähnung des Vaters Dahlsjö demonstriert alle Merkmale und

Funktionen einer zu erwartenden Familienidylle, die in der Erzählung unter anderen Arten der idyllischen Motive in den Vordergrund tritt. Außer den typischen lexikalischen Mitteln, die dem Spielraum einen höchst ungetrübten und freundlichen Charakter verleihen, bringt

Hoffmann in die Einführung Dahlsjös den direkten Vergleich zur unheimlich ekstatischen

Gesellschaft der Seeleute.

Die helle Fröhlichkeit, die, als Pehrson Dahlsjö hinaustrat, wie aufs neue angefacht, durch den ganzen Kreis aufloderte, war wohl ganz anderer Art als der wilde tobende Jubel der Seeleute beim Hönsning47.

Adjektive “wild” und “tobend” konstituieren sowohl eine irritierende als auch verführerische Wirkung. Im Fall der Verführung geht es um eine dynamisch steigende und unermessliche Macht der erhabenen unterirdischen Welt der Bergwerke. Im Fall der irritierenden Funktion werden die dynamischen Charakteristika den Beschreibungen der

Seeleute und der Götheborger Gesellschaft verliehen. Von Bedeutung ist, dass solche, die

Dynamik fördernde Adjektive wie “wild“ und “tobend“ nur in den Szenen benutzt werden, die ihrem Charakter nach dem Motiv der Idylle gegenübergestellt werden. Das heißt, die sprachlichen Mittel und die Erzählstruktur ändern sich mit dem Erscheinen der idyllischen

Perspektive. Im Vergleich zu den Szenen mit der erzwungenen Abgrenzung Elis von der

Außenwelt oder seinem unbewussten Trieb ins erhabene, unterirdische Reich, zielt die

Auswahl der lexikalisch-stilistischen Mittel in den Szenen der Faluner Idylle, vor allem der

Familienidylle, darauf, den Eindruck einer emotionalen Erholung Elis zu schaffen. Eine solche Beschreibung der erholsamen Gemütszustände Elis entspricht dem statischen

Charakter der ausgewählten Vokabeln.

Um die Dynamik-Statik-Konstellation in den Beschreibungen der Ebenen der realen und phantastischen Welt zu schildern, werden im folgenden die Szenen mit der Darstellung

47 Hoffmann. 222. 34 der Protagonisten Pehrson, Ulla und Torbern analysiert. Diese Protagonisten symbolisieren verschiedene Bereiche; Pehrson und Ulla Dahlsjö sind die wichtigsten Vertreter der

Wirklichkeit, während Torbern die Figur der irrealen Welt ist. Die Aufgabe der vorliegenden

Analyse richtet sich auf die emotionale Intensität, die in den Beschreibungen der erwähnten

Figuren durch die stilistischen Mittel erreicht wird.

Hoffmann betont mit dem Erscheinen des Vaters Dahlsjö die Gefühle der “hellen

Fröhlichkeit”, die zusammen mit anderen positiven emotionalen Charakteristika den

Gemütszustand Elis bestimmen.

Das Herz ging dem Elis auf bei Pehrson Dahlsjös Rede. Er dachte nicht mehr an die Schrecken des entsetzlichen Höllenschlundes, in den er geschaut48.

Während Pehrson Dahlsjö als Vermittler der idyllischen Seite der Realität gilt, erfüllt

Torbern die Funktion eines Begleiters in den Bereich der Phantasie, vor allem ihrer fremden und unheimlichen Seite. Das dynamische Herannahen Torberns wirkt auf den jungen Mann erschreckend und verursacht die Zustände, die von Unsicherheit und Zerrissenheit geprägt sind.

Da hörte er, wie aus noch tieferem Schacht ein Klopfen heraustönte, als werde mit dem Pochhammer gearbeitet. Da dergleichen Arbeit nun nicht wohl in der Teufe möglich und Elis wohl wusste, dass außer ihm heute niemand herabgefahren, da der Steiger eben die Leute im Förderschacht anstellte, so wollte ihm das Pochen und Hämmern ganz unheimlich bedünken. Er ließ Handfäustel und Eisen ruhen und horchte zu den hohl anschlagenden Tönen, die immer näher und näher zu kommen schienen. Mit eins gewahrte er dicht neben sich einen schwarzen Schatten und erkannte, da eben ein schneidender Luftstrom den Schwefeldampf verblies, den alten Bergmann von Göthaborg, der ihm zur Seite stand49.

Hoffmann deutet darauf hin, dass sich Elis im Schacht ungemütlich und unsicher fühlt. Diesem fremden Gefühl wird in der späteren Entwicklung der Erzählung ein besonders wichtiger Sinn verliehen. Torbern ist nicht nur der Begleiter in die überreale Dimension, sondern auch wie Vergil in Inferno Dantes der Jenseitsführer, der die Geheimnisse der

48 Ebenda. 224. 49 Ebenda. 227-228. 35 unterirdischen Welt verrät, und ihre Besitzrechte nicht Pehrson Dahlsjö, sondern der Königin der Bergwerke zuschreibt.

Ein anderer symbolischer Vergleich kann mit Homers Odyssee gezogen werden.

Diese Parallele bezieht sich auf die geographische Lage Faluns, das genauso wie Cimmerians in Odysseus als die allerletzte Stadt an der Grenze mit dem unterirdischen Bereich bezeichnet wird.

Saßen dann still, und ließen vom Wind und Steuer uns lenken. Und wir durchschifften den Tag mit vollem Segel die Wasser. Und die Sonne sank, und Dunkel umhüllte die Pfade. Jetzo erreichten wir des tiefen Oceans Ende. Allda liegt das Land und die Stadt der kimmerischen Männer.

Diese tappen beständig in Nacht und Nebel; und niemals Schauet strahlend auf sie der Gott der leuchtenden Sonne; Weder wenn er die Bahn des sternichten Himmels hinansteigt, Noch wenn er wieder hinab vom Himmel zur Erde sich wendet: Sondern schreckliche Nacht umhüllt die elenden Menschen.

Und wir zogen das Schiff an den Strand, und nahmen die Schafe Schnell aus dem Raum; dann gingen wir längs des Oceans Ufer, Bis wir den Ort erreichten, wovon uns Kirke gesaget50.

Der Unterschied zu Homers Handlung besteht darin, dass Elis in seiner Schiffsreise zuerst nach Götheborg kommt und sich erst danach, vom mystischen Torbern begleitet, auf den Weg nach Falun zu Fuß begibt. Dennoch muss aber hervorgehoben werden, dass sowohl

Inferno Dantes als auch die Unterwelt in Homers Odyssee erst als relative Prototypen zur

Geschichte Hoffmanns dienen können. Im Gegensatz dazu ist der Grad der mimetischen

Darstellung der Welt der Bergwerke ziemlich gering. Hoffmann entfernt sich von den klassischen Vorbildern der Unterwelt und beschäftigt sich mit seiner eigenen Sicht darauf.

1.6 Die romantische Dualität und das Motiv des Grenzgängers

Einerseits wird der Abstieg in die unterirdische Welt der Kristalle durch die gemischten Gefühle des Verlangens und der Angst begleitet. Die Szenen mit den Erlebnissen

50 Homer. Odyssee. Gesang 11. Digitalisiert. http://www.digbib.org/Homer_8JHvChr/De_Odyssee?k=Elfter+Gesang 36 des verborgenen Reiches der Metalle enthalten in ihrer Charakteristik die Komponenten der

Schmerzen und des Entsetzens, die Elis auf eine rationale Weise vom fremden erhabenen

Element abschrecken sollen. Zum Beispiel ist es immer der Fall beim Anschauen sowohl

Torberns als auch der Königin der Bergwerke.

Elis wollte sich entsetzen, aber in dem Augenblick leuchtete es auf aus der Tiefe wie ein jäher Blitz, und das ernste Antlitz einer mächtigen Frau wurde sichtbar. Elis fühlte, wie das Entzücken in seiner Brust, immer steigend und steigend, zur zermalmenden Angst wurde51.

Auf der anderen Seite geht es um die Zustände der Wonne und des unwiderstehlichen

Verlangens, an die Elis emotionell gebunden ist. Sein Streben nach dem unterirdischen

Reichtum der “blinkenden Metalle” ist ein unbewusster und sich immer wieder kräftigender

Prozess, der Elis über die Freude des perfekten Alltags vergessen lässt.

Ein unbeschreibliches Gefühl von Schmerz und Wollust ergriff den Jüngling, eine Welt von Liebe, Sehnsucht, brünstiges Verlangen ging auf in seinem Innern. – „Hinab - hinab zu euch“, rief er und warf sich mit ausgebreiteten Armen auf den kristallenen Boden nieder52.

Das “unbeschreibliche Gefühl von Schmerz und Wollust“ ist eines der einschlägigen

Beispiele der dualen psychologischen Zustände in der Erzählung.

In Verbindung mit dem gefährlichen, schmerzhaften, irrationalen Trieb nach der

Beherrschung der verborgenen Edelsteine ist die Frage zu stellen, in wie weit der Protagonist in seinem unbewussten Streben nach den Werten der idealisierten, phantastischen Welt auf seinen ungetrübten, idyllischen Alltag in der Familie Dahlsjö verzichtet. Können

Wackenroders “Allgüte Gottes” und “Tugend der Heiligen” auf die alltägliche Idylle projiziert werden, oder bleiben sie ausschließlich Gegenstände des phantastischen Bereichs, dessen Auffassung außerhalb der Fähigkeiten des menschlichen Verstands liegt? Mit anderen

Worten, hängen die Anstrengungen Elis, das Geheimnis des unterirdischen Reichs zu entziffern, mit dem Wunsch der Vervollkommnung seiner Realität und des Lebens der von

51 Hoffmann. 217. 52 Ebenda. 217. 37 ihm geliebten Menschen zusammen, oder ist dieser Prozess der Suche nach dem “schönsten

Gestein” nicht vom Projizieren auf die Wirklichkeit abhängig?

Im letzteren Fall müssen die Sehnsucht Elis und sein fanatisches Streben nach dem unterirdischen Reich als unbewusster Prozess bezeichnet werden. Damit wird Elis als

Grenzgänger nicht nur zwischen der Irrealität und der Realität, sondern auch zwischen den identitätsbewussten Erstrebenswerten und dem fortschreitenden Wahnsinn bezeichnet. Es ergibt sich so die Frage, “ob die Autonomie der Vernunft nur durch Selbstzerstörung, Freiheit nur im Wahn und Selbsterhaltung allein um den Preis der Selbstentfremdung zu erlangen sei53“. Diese Frage hat in ihrer symbolischen Bedeutung die Quintessenz der Analyse zu

Grunde liegenden Perspektive auf die romantische Dualität. Es ist offensichtlich, dass die von

Elis erfahrenen emotionalen und sensuellen Zustände kaum in den Rahmen der für ein behagliches Leben normalen psychologischen Konzepte passen. Die Visionen Elis verursachen seine Entgrenzung der Realität und seine Vertiefung in die imaginäre Welt.

Diesen Prozess bezeichnet Hoffmann als einen des Wahnsinns, was die anderen Figuren der

Erzählung mit der Entwicklung der Handlung immer wieder bestätigen.

Pehrson Dahlsjö selbst war es, der mit dem Steiger hinab kam, um den Jüngling, den sie wie im hellen Wahnsinn nach der Pinge rennen gesehen, zu suchen54.

Mit der Steigerung der Entgrenzungswünsche, zum Beispiel des Gefühls der

Einsamkeit, entfernt sich Elis immer mehr von der Gesellschaft, vor allem der Familie

Dahlsjö.

An dieser Stelle der Analyse kehre ich zu den biographischen Umständen Hoffmanns zurück, die den Inhalt des Werkes vom Standpunkt der romantischen Dualität aus erklären.

Das Experimentieren Hoffmanns mit dem „Genuss des Alleinseins55“ und der absichtlichen

Isolation Elis von der Außenwelt mag durch die schwebende Phantasie des Autors und das

53 Denneler. 111. 54 Hoffmann. 232. 55 Tarnowski-Seidel. 37. 38 damit erlebte Gefühl der poetischen Freiheit erklärt werden. Der schöpferische Prozess und die Zustände des poetischen Phantasierens bringen Hoffmann eine gewisse Zufriedenheit.

Der Prozess künstlerischen Schaffens fördert die Entwicklung der Phantasie, die den Autor in einem bestimmten Moment zur Befreiung des Verstands von der rationalen Betrachtung der

Dichtung, sowie der Realität bringt. F. Schelling erwähnt in diesem Zusammenhang zwei

Perspektiven bezüglich der dichterischen Schöpfung.

Man beschuldigt die Dichter der Übertreibung, und hält ihnen ihre bildliche uneigentliche Sprache gleichsam nur zugute, ja man begnügt sich ohne tiefere Untersuchung, ihrer Phantasie jene wunderliche Natur zuzuschreiben, die manches sieht und hört, was andere nicht hören und sehen, und die in einem lieblichen Wahnsinn mit der wirklichen Welt nach ihrem Belieben schaltet und waltet56.

Damit können die Szenen des irrationalen Verhaltens Elis durch eine schöpferische

Strategie und Absicht Hoffmanns bedingt werden. Letztere stellt sich zum Beispiel die

Aufgabe, mit Elis Tod die Unmöglichkeit der simultanen und konfliktlosen Existenz des

Protagonisten in den Bereichen des Realen und des Phantastischen zu zeigen.

Andererseits bekommt der dichterische Schöpfungsprozess den Status eines unvorhersehbaren, strategielosen Phantasierens, in dem das rein ästhetische Gefühl des poetischen Zustands den Ideengehalt des Werkes und seine planmäßige Gestaltung dominiert.

Der Autor folgt in seinem Schaffen der schwebenden Phantasie und ihren Gesetzen, die als irrational bezeichnet werden. Die Fähigkeit des schöpferischen Improvisierens ist für die

Genauigkeit in der Darstellung des “unaussprechlichen Verlangens“ des Protagonisten von großer Bedeutung. Im Gegensatz dazu verliert der Autor diese Genauigkeit, sobald er versucht, die romantischen Motive der unaussprechlichen Sehnsüchte rational zu schildern.

Also muss die Kraft der Phantasie vom Dichter entwickelt werden. Diese These betonen mehrere Romantiker, einschließlich Novalis. In seiner Philosophie der Kunst sagt er.

56 Novalis. Lehrlinge zu Sais. In: Schriften. Bd. 1. Stuttgart: Kohlhammer, 1960. 100. 39

aber mir scheinen die Dichter noch bei weitem nicht genug zu übertreiben, nur dunkel den Zauber jener Sprache zu ahnden und mit der Phantasie nur so zu spielen, wie ein Kind mit dem Zauberstabe seines Vaters spielt. Sie wissen nicht, welche Kräfte ihnen untertan sind, welche Welten ihnen gehorchen müssen57.

Die Szenen können so mit dem plötzlichen Übergang aus der konsequenten

Bearbeitung der idyllischen und lebensbejahenden Motive der Realität in das bedingungsfreie und beunruhigende Improvisieren des unterirdischen Reiches als Versuch Hoffmanns bezeichnet werden, mit den neuen schöpferischen Gemütszuständen zu experimentieren. In ihrem psychologischen Aspekt stehen diese Zustände den affektierten Gefühlen sehr nah, die

Hoffmann in der Schilderung Elis betont. Abgesehen davon, dass nämlich der alte Torbern

Elis nach Falun führt und ihm die erfolgreiche Karriere eines Bergmanns vorbereitet, wird

Torbern wegen seiner Macht über Elis zum Objekt des Zornes und Hasses. Über die

Leichtigkeit, mit der Elis in Wut ausbricht, kann man nur staunen. Auf seine zornige

Reaktion auf die Worte Torberns über die vollkommene Macht der Bergkönigin und des

Metallfürsten im unterirdischen Reich lässt sich nicht lange warten:

Dem Elis wallte der Zorn auf vor den schnöden Worten des Alten. „Was tust du“, rief er, „was tust du hier in dem Schacht meines Herrn Pehrson Dahlsjö, in dem ich arbeite mit aller Kraft und wie es meines Berufs ist? Hebe dich hinweg, wie du gekommen, oder wir wollen sehen, wer hier unten einer dem andern zuerst das Gehirn einschlägt“58.

Elis stellt sich der unterirdischen Macht gegenüber und erklärt damit seine

Angehörigkeit zur realen Welt, in der seine Liebe zu Ulla, aber nicht die Sehnsucht nach dem paradiesischen Reich der Bergwerke die treibende Kraft seiner mühsamen Arbeit im Schacht ist. Seine Suche nach der reichen Ader assoziiert Elis mit seinen Ideen über das zukünftige idyllische Leben mit Ulla. Hoffmann betont mehrmals die Tatsache, “wie unaussprechlich

Elis Ulla liebt und wie er alle Hoffnung des Lebens auf ihren Besitz gestellt hat59“.

57Ebenda. 58 Hoffmann. 228. 59 Ebenda. 227. 40

Mit seiner Darstellung des dimensionalen Zusammenstoßes akzentuiert Hoffmann die

Unvereinbarkeit des Realen mit dem Phantastischen. Im Bereich des Realen kann Elis rational planen, wie er durch den Besitz der Edelsteine das Leben in der Familie Dahlsjö vervollkommnet. Sobald er aber den Bereich des Phantastischen betritt, scheitern seine rationalisierten Träume. Diese Situation verursacht Elis Unzufriedenheit mit den Worten

Torberns, der die Pläne Elis für unmöglich und naiv hält. Dies spiegelt sich in den psychologischen Zuständen Elis wider, der seine Emotionen im Rahmen der unterirdischen

Welt nicht kontrollieren kann. Wenn der Protagonist den Gesetzen der Unterwelt nicht folgt und doch das phantastische Reich durch die Prinzipien der Logik und Vernunft zu betrachten versucht, versagt sein Verstand, was, zusammen mit seinen starken Leidenschaften, zur

Herausbildung seines Wahnsinns führt.

Werden die Leidenschaften zu mächtig, so hilft der Verstand wenig. Das musste schon Kant in seinem “Versuch über die Krankheiten des Kopfes” konstatieren60.

Als Fortsetzung des Gesprächs über das widersprüchliche Verhältnis der rationalisierenden Wahrnehmung der Phantasie und ihrer dem Verstand unzugänglichen

Natur werden die psychologischen Entgrenzungsmotive erwähnt, die von diesem Konflikt hervorgerufen werden. Die Kontrolle über seine Gemütszustände hat Elis anfangs, wenn auch nur in begrenztem Grad.

Moderne psychologische Theorien bestätigen, dass gerade die angeblich so authentischen Gefühle nur so lange als die je eigenen gelten, wie der Grad der Affekte kontrolliert werden kann61.

Das heißt, dass Elis in seiner Sehnsucht nach der unterirdischen Welt von der

Perspektive der modernen psychologischen Theorien aus vom Moment seines Aufenthalts in

Falun an unter die affektierten Zustände fällt und sein identitätsbewusstes Streben nach der

Perfektion der alltäglichen Realität nicht mehr kontrolliert.

60 Denneler. 113. 61 Denneler. 113. 41

Der Moment des stärksten Affekts und der Identitätszerstörung hängt mit der unerwarteten Nachricht Pehrson Dahlsjös über die Heirat seiner Tochter Ulla und des reichen

Handelsherrn Eric Olawsen zusammen. Durch diese schockierende Offenbarung stürzt Elis

Vorstellung über das idyllische Leben und sein Glück mit Ulla in sich zusammen.

Elis fühlte sein Inneres von tausend glühenden Messern zerfleischt – Er hatte keine Worte, keine Tränen62.

Diese Szene kann als einer der Wendepunkte in der Geschichte bezeichnet werden. Es geht grundsätzlich um Elis Abschied von der Wirklichkeit und seinen Hoffnungen auf das idyllische Leben in der Familie Dahlsjö. Elis emotionslose Wahrnehmung der Nachricht

“ohne Tränen“ über Ullas Heirat zeugt von seiner Bereitschaft für eine solche Entwicklung seines Schicksals. Der ständige Glaube an seine Fatalität wurde in diesem Moment die

Wahrheit.

Vermutlich kehrt Elis in die Gedanken über seine fatale Ausweglosigkeit zurück.

Dadurch wird seine Verzweiflung verstärkt. Doch bezieht sich seine zerstörte Illusion wenig auf die Erinnerung an seine unglückliche Vergangenheit. Eigentlich lässt Hoffmann Elis seinen Lebenslauf nicht mehr reflektieren. In seiner gegenwärtigen Wirklichkeit erlebte er schon die glückliche Periode seines Lebens, die seinen Glauben an die mögliche

Überwindung der hypochondrischen Zustände verstärkte. Mit der Heirat Ullas verliert der junge Mann sowohl seinen Glauben an die Zukunft als auch sein Interesse an der realen Welt.

Elis sucht nicht mehr in der idyllischen Realität Faluns nach seinem Glück. Nach dem

Ausweg vom fatalen Leben sucht er jetzt nur in der fremden Welt des unterirdischen Reichs.

Der Enthusiasmus und die rationale Verwirklichung der Träume über die alltägliche Idylle treten außer Kraft. Auf ihre Stelle kommen der verzweifelte Wunderglaube und die Agonie.

Diese Entscheidung ist ebenso emotional wie expressiv. Elis Verhalten widerspricht jeder

Logik, weil nämlich die Bergwerke und ihre entsetzlichen Figuren, Torbern und die Königin,

62 Hoffmann. 231. 42 die einzige Angst und Unruhe in Elis erwecken können. Die Verzweiflung und der steigende

Wahnsinn führen ihn in die Bergwerke.

In wilder Verzweiflung rannte er aus dem Hause fort - fort - bis zur großen Pinge. Bot das ungeheure Geklüft schon im Tageslicht einen entsetzlichen Anblick dar, so war vollends jetzt, da eingebrochen und die Mondesscheibe erst aufdämmerte, das wüste Gestein anzusehen, als wühle und wälze unten eine zahllose Schar grässlicher Untiere, die scheußliche Ausgeburt der Hölle, sich durcheinander am rauchenden Boden und blitzte herauf mit Flammenaugen und streckte die riesigen Krallen aus nach dem armen Menschenvolk63.

Diese Beschreibung der Bergwerke zeigt keine Spuren der traditionellen idyllischen

Naturmotive der Romantik. Im Gegenteil, es kann die “scheußliche Ausgeburt der Hölle” als regelrechte Anti-Idylle bezeichnet werden.

In der Gestaltung der Schlussszene erinnert die Erzählung Hoffmanns an die Werke

Lundwig Tiecks (1773 – 1853), Achim von Arnims (1781 – 1831) und Johann Peter Hebels

(1760 – 1826), die ihre Version zu selbiger dokumentierter Geschichte in den Erzählungen

Der Runenberg, Des ersten Bergmanns ewige Jugend und Unverhofftes Wiedersehen erarbeiteten. Obwohl sich die Fabeln und ihre Entwicklungen von der Version Hoffmanns wesentlich unterscheiden, einigen sich alle Autoren in entweder der unvermeidlichen

Entstehung des Wahnsinns oder dem tragischen Tod des Protagonisten, der als endgültiges

Rettungsmittel die Flucht in die imaginäre Welt des unterirdischen Reiches auswählt. Was die Gründe für eine solche Besessenheit durch die Idee der Erlösung in der fremden erhabenen Welt angeht, nähern sich die drei erwähnten Geschichten einander an. Abgesehen von rein psychologischen Motiven, Lebensangst und Todeswünschen, beruht die

Anziehungskraft der Bergwerke auf der Sehnsucht nach den Edelsteinen, deren Besitz für die

Protagonisten Elis, Christian, den jungen Bergmann (J.P. Hebel) und den Knaben (A. von

Arnim) die Verwirklichung des ehrgeizigen Strebens nach der Selbstbehauptung in der realen

Welt bedeutet.

63 Ebenda. 231. 43

Der Vater Christians in Der Runenberg erklärt die negative Änderung im Charakter seines Sohns durch seine Besessenheit mit dem unterirdischen Schatz und seinem Wunsch nach der materiellen Bereicherung.

„Ein unglückliches Gestirn war es“, sprach der Alte, „das dich von uns hinweg zog; du warst für ein stilles Leben geboren, dein Sinn neigte sich zur Ruhe und zu den Pflanzen, da führte dich deine Ungeduld hinweg, in die Gesellschaft der verwilderten Steine: die Felsen, die zerrissenen Klippen mit ihren schroffen Gestalten haben dein Gemüt zerrüttet, und den verwüstenden Hunger nach dem Metall in dich gepflanzt. Immer hättest du dich vor dem Anblick des Gebirges hüten und bewahren müssen, und so dachte ich dich auch zu erziehen, aber es hat nicht sein sollen. Deine Demut, deine Ruhe, dein kindlicher Sinn ist von Trotz, Wildheit und Übermut verschüttet“64.

Von Interesse sind die Irrationalität und die Beständigkeit, mit denen die

Protagonisten auf die Versuche verzichten, nach dem Ausweg aus dem deprimierenden

Verhängnis in der realen Welt zu suchen. Ihre Blicke werden ohne langes Überlegen auf die

Dimension des unbekannten Erhabenen gerichtet, mit dem sie vermutlich ihren Glauben an das erlösende Wunder verbinden. Die Eigenschaften der erhabenen Visionen erlauben den

Protagonisten, das Bewusstsein zu verlieren, so dass sie nicht mehr an ihrem tragischen

Schicksal leiden müssen. Als Resultat der Selbstidentifikation mit den Visionen bedenkt Elis kurz vor seinem letzten und tödlichen Abstieg in die Erzgrube seine Ängste vor der

Unterwelt, Torbern und der Königin.

Und doch wusste er wieder gar nicht, warum ihm der gespenstische Alte feindlich sein, was überhaupt sein Bergmannshantieren mit seiner Liebe zu schaffen haben soll65.

Für die erschöpfte und abgehetzte Seele ist die rationale Einstellung zur imaginären

Welt nicht mehr möglich, so dass sich die Bewertungskriterien Torberns für Elis ändern. In dem alten Bergmann sieht er jetzt seinen Retter. Bis zum Moment der Anerkennung der idyllischen Vergänglichkeit wirkt die unterirdische Welt auf Elis als “dämonisch-

64 Tieck, Ludwig. Der Runenberg. In: Der blonde Eckbert. Der Runenberg. Die Elfen. Märchen. Stuttgart: Reclam. 1992. 43. (Im folgenden als „Tieck“ abgekürzt) 65 Hoffmann. 234. 44 zerstörerische Kraft66“ ein. Ab dem Moment der Verzweiflung an der realen Welt kennzeichnet sich die Unterwelt durch ihre “verlockend-faszinierende67“ Kraft.

Genauso faszinierend wirkt die Unterwelt auf Christian in Runenberg. Im Gegensatz zu Elis ist Christian durch das erhabene Bild der Bergkönigin und ihres Reiches beim allerersten Treffen fasziniert und bezaubert.

Plötzlich sah er ein Licht, das sich hinter dem alten Gemäuer zu bewegen schien. Er sah dem Scheine nach, und entdeckte, dass er in einen alten geräumigen Saal blicken konnte, der wunderlich verziert von mancherlei Gesteinen und Kristallen in vielfältigen Schimmern funkelte, die sich geheimnisvoll von dem wandelnden Lichte durcheinander bewegten, welches eine große weibliche Gestalt trug, die sinnend im Gemache auf und nieder ging68.

Obwohl Tieck die Welt der Phantasie eher verlockend als dämonisch schildert, konstituiert sich der Hauptkonflikt zwischen der Realität und Irrealität auf eine der Erzählung

Hoffmanns ähnliche Weise. In den Vordergrund der Ideenproblematik treten die romantische

Dualität und das widersprüchliche Verhältnis der realen und phantastischen Ebenen. Wie in der Erzählung Hoffmanns bestätigen Tieck, Arnim und Hebel am Beispiel der Faluner

Geschichte die unvermeidliche Auseinandersetzung zwischen den gegenüberliegenden

Bereichen des Realen und Irrealen. In jedem dieser Werke scheitern die Versuche der

Protagonisten, simultan in beiden Bereichen zu existieren und dadurch ihr Leben zu perfektionieren. Ohne Ausnahme zahlen alle erwähnten Protagonisten ihre duale Existenz mit dem Leben. Die Zerstörung sowohl des realen Glücks, als auch der alltäglichen Idylle passiert auf tragische Weise gerade im Moment ihrer Höhepunkte.

Schon waren die Gäste versammelt, um das Brautpaar nach der Kopparbergskirche, wo nach gehaltenem Gottesdienst die Trauung vor sich gehen sollte, zu geleiten. Eine ganze Schar zierlich geschmückter Jungfrauen, die nach der Sitte des Landes als Brautmädchen der Braut voranziehen sollten, lachten und scherzten um Ulla her69.

66 Ebenda. 1329. 67 Ebenda. 1329. 68 Tieck. 32. 69 Hoffmann. 237. 45

Wichtig ist, dass Hoffmann das authentische Bild Faluns mit all den ausführlichen

Details wie z. B. “Kopparbergskirche“ bewahrt. Dieser mimetische Stil verleiht den fiktionalen, romantischen Ereignissen eine Natürlichkeit, so dass der Leser das Geschehene als Realität wahrnimmt und die Gefühle und die psychologischen Zustände Elis, Ullas und

Dahlsjös mitempfindet.

Die Musikanten stimmten ihre Instrumente und versuchten einen fröhlichen Hochzeitsmarsch. - Schon war es beinahe Mittag, noch immer ließ sich Elis Fröbom nicht sehen. Da stürzten plötzlich Bergleute herbei, Angst und Entsetzen in den bleichen Gesichtern, und meldeten, wie eben ein fürchterlicher Bergfall die ganze Grube, in der Dahlsjös Kuxe befindlich, verschüttet70.

In der allerletzten Szene treffen sich die Dimensionen des Realen und Überrealen,

Tatsächlichen und Imaginären, Idyllischen und Idealen. Der Körper Elis zerfällt erst in Staub, nachdem Ulla in ihm ihren unglücklichen Geliebten erkannt hatte. Damit bleibt der Körper des jungen Manns verzaubert und “ohne alle Spur der Verwesung“, mit keinen Zügen des

Leidens, als ob Elis alle 50 Jahre im Schlaf, Traum und der absoluten Welt verbracht hätte.

Diese Szene des Abschieds ist dem Motiv in der Erzählung Unverhofftes Wiedersehen Hebels

ähnlich.

Hebel akzentuiert die Wiedersehenszene, also die Begegnung der alt gewordenen Braut des Bergmanns mit dem jung gebliebenen Leichnam. Auf diese Weise wird die Zeitlosigkeit der Treue noch zusätzlich betont71.

Die symbolische Krönung der Erzählung Hoffmanns findet sich im baldigen Sterben

Ullas, die “ihr Leben auf dem Leichnam des erstarrten Bräutigams ausgehaucht hatte72“. Es kann vermutet werden, dass Hoffmann damit die gewünschte und doch unerreichte

Vereinigung der beiden, und damit die unerfüllte Idylle ausdrückt.

Seiner mysteriösen Fatalität nach erinnert das Werk an solche Novellen wie Der

Sandmann oder Das öde Haus und hätte damit in die frühere Sammlung Die Nachtstücke viel

70 Ebenda. 237. 71 Ebenda. 1326. 72 Ebenda. 239. 46 besser einpassen können. Doch widerspricht das Konzept von Bergwerke zu Falun weder seiner chronologischen Anpassung noch seiner thematischen Orientierung.

Das Sujet bietet sowohl eine reiche Auswahl der Spekulationen über die Kette der unwahrscheinlichen Ereignisse als auch eine Menge von den Landschaft- und Naturbildern an, die eine klare Vorstellung über zwei Regionen Schwedens im 18. Jahrhundert geben.

Andererseits öffnet die rein literaturwissenschaftliche Seite des Werkes ein weites Feld für mehrere Diskussionen über die auf den ersten Blick konventionellen und offensichtlichen

Probleme der Weltanschauung und der Realitätswahrnehmung.

Im Begriff des glücklichen Lebens besteht, meiner Meinung nach, die Hauptidee

Hoffmanns, der in dieser Geschichte nicht nur das dokumentierte Ereignis auf künstlerische

Weise bereichert, sondern auch seine persönliche Einstellung zum Problem des menschlichen

Glücks ausdrückt.

47

2. J. Eichendorffs Taugenichts: die idealisierte Wirklichkeit als Ziel des

romantischen Strebens

Die Wahl des Romans Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts ist für die vorliegende Forschung der Wirklichkeit-Phantasie-Beziehung nicht zufällig. Der wichtigste

Bestandteil dieses Interesses für das Werk charakterisiert sich durch die Figur des

Protagonisten selbst und seiner außerordentlichen Stelle in der umgebenden Welt und

Gesellschaft.

Einerseits wird im Roman eine Reihe der abenteuerlichen Szenen geschildert, die das

Sujet mit den simplifizierten und alltäglichen Ereignissen, eintönigen Reisen und dem höchst voraussagbaren Finale zusammenstellen. In diesem Zusammenhang hätte ich mich mit der

Definition Konrad Polheims einverstanden erklären können, der den Taugenichts als “so harmlos scheinendes dichterisches Werklein73” bezeichnet.

Andererseits bietet das Werk eine unikale und reiche Auswahl an Szenen mit allerlei

Gemütszuständen und Wahrnehmungsperspektiven an, die die Handlung auf eine hoch entwickelte psychologische Ebene bringen und damit die Erzähldynamik fördern.

Eichendorff konzentriert sich viel mehr auf die innere Entwicklung des Protagonisten als auf die Ereignisse der Außenwelt. Die tatsächliche Seite der Geschehnisse hat die Tendenz, sich in ihrer Mannigfaltigkeit und Einzigartigkeit zu beschränken und stattdessen sich auf die

“höhere Bedeutung des gegebenen Bildes” zu konzentrieren, die „halbvernehmbaren

Naturlaute und was in der Menschenbrust gleichsam wie in Träumen74” hervorzuheben.

Der Taugenichts ist ein typischer Außenseiter, was schon im seinem Namen formuliert ist. Das Motiv des Außenseiters ist eines der Themen für die vergleichende

Analyse zwischen den Werken Eichendorffs, Hoffmanns und Odojewskis. Wie die anderen

73 Polheim, Konrad. Kleine Schriften zur Textkritik und Interpretation. Bern: Lang, 1992. 200. 74 Karl, Sabine. Unendliche Frühlingssehnsucht. Die Jahreszeiten in Eichendorffs Werk. Paderborn: Schöningh, 1996. 20. (Im folgenden als „Karl“ abgekürzt) 48

Helden der Romantik verzichtet der Einzelgänger Taugenichts auf die Standards und die vorgeschriebenen Normen und macht sich auf die Suche nach der besseren Welt.

Sein Vater ist mit Taugenichts Unfähigkeit zum ordentlichen Leben eines Bauern unzufrieden. Damit iniziiert die Unzufriedenheit des Vaters Taugenichts ersten Schritt hinaus in die Welt.

Du Taugenichts! Da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und lässt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot75.

Wie der frühzeitige Abschied vom Heimatdorf sind alle Unannehmlichkeiten im

Leben des Taugenichts gemäßigt, so dass sich keine Situation zur Tragödie verwandelt.

Nun, sagte ich, wenn ich ein Taugenichts bin, so ist‘s gut, so will ich in die Welt gehn und mein Glück machen. Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehn76.

Das ist der rasante Unterschied zur Erzählung Hoffmanns, in der der Leser die

Annäherung eines tragischen Ereignisses ungewollt erwartet. Man bekommt den Eindruck, dass Eichendorff auf keinen Fall das unterhaltende und mildernde Lesen stören will. Umso kleiner ist sein Wunsch, das Erlebnis der Idylle zu verhindern. Wenn der Protagonist von den

Räubern verfolgt wird oder wenn er aus dem öden, dichten und dunklen Wald keinen

Ausweg findet, hat man immer das Gefühl, dass die glückliche Lösung und Rettung aus der oder jeniger gefährlichen Situation unbedingt kommt.

Die Harmlosigkeit der Handlung und die Rückversicherung in der Schilderung der

Außerordentlichkeit des Taugenichts sind nur die Folgen des ganzen Ideenkonzepts, das darauf zielt, die mühsame Suche nach der besseren Welt zu zeigen.

Zuerst arbeitet Eichendorff an jeweiliger Alltagsbeschreibung, die in sich

Landschaftsmotive, sittliche Besonderheiten der Gegend und die Beziehung des Taugenichts

75 Eichendorff. 66. 76 Ebenda. 66. 49 zu der umgebenden Welt enthält. Solche einführenden Szenen kennzeichnen sich durch eine

Aufzählung der Bilder, die das gewisse Realitätsgefühl und die Präsenz des Betrachters im konkreten Handlungsraum und in der bestimmten Tages- und Jahreszeit fördern. Die folgende Szene der Abenddämmerung spiegelt präzise die Stille des vergehenden Tages wider.

Es fing schon an zu dämmern. Die Vögel, die alle noch ein großes Geschrei gemacht hatten, als die letzten Sonnenstrahlen durch den Wald schimmerten, wurden auf einmal still77.

In den einführenden Szenen berücksichtigt Eichendorff alle Details des Alltags, einschließlich der Charakteristika der Menschen – ihrer Kleidung, Mentalität und Dialekte, so dass der Leser ein anschauliches Bild des aktuellen Geschehens sieht.

Ich schritt rascher fort, der Wald wurde immer lichter und lichter, und bald darauf sah ich zwischen den letzten Bäumen hindurch einen schönen grünen Platz, auf dem viele Kinder lärmten und sich um eine große Linde herumtummelten, die recht in der Mitte stand. Weiterhin an dem Platze war ein Wirtshaus, vor dem einige Bauern um einen Tisch saßen und Karten spielten und Tabak rauchten. Von der andern Seite saßen junge Burschen und Mädchen vor der Tür, die die Arme in ihre Schürzen gewickelt hatten und in der Kühle miteinander plauderten78.

In dieser Szene findet man eine ausführliche Darstellung eines Tagesablaufs im bäuerlichen Milieu. Nicht weniger präzise arbeitet Eichendorff an der Figur des Taugenichts.

Der Taugenichts ist keine psychologisch vereinfachte Figur. Er ist weder Dummkopf noch naiver Einfaltspinsel, der mit seiner Geige die Welt fasziniert und davon Stück Brot und Geld erwirbt. Sein aufklärerisches Streben nach dem Wissen und dem aktiven Leben kennzeichnet sich durch die ständige Selbstbildung und kosmopolitisch offene Einstellung zur Außenwelt.

Ich aber merkte nun, dass es Prager Studenten waren, und bekam einen ordentlichen Respekt vor ihnen, besonders da ihnen das Latein nur so wie Wasser von dem Munde floß. - Ist der Herr auch ein Studierter? fragte mich darauf der Waldhornist. Ich erwiderte bescheiden, dass ich immer besondere Lust zum Studieren, aber kein Geld gehabt hätte79.

77 Ebenda. 95. 78 Ebenda. 95. 79 Ebenda. 153. 50

Seine Weltanschauung ist viel höher, als es scheint. In der Komplexität des

Charakters und der Mannigfaltigkeit des Denk- und Gefühlsvermögens des Taugenichts liegt einer der Gründe, warum ich das Werk Eichendorffs für die vorliegende Analyse der

Romantik ausgewählt habe.

Im Vergleich zur viel mehr symbolischen Figur Elis ist der Taugenichts ein komplexer und sich dynamisch entwickelnder Charakter. Im Vergleich zu Michailo

Platonowitsch fehlen ihm hingegen die Charakteristika des sozialen Standes, der Mentalität und der persönlichen Einstellung zur aktuellen historischen Situation.

Viel wichtiger als die Psychologisierung des Protagonisten ist im Roman Eichendorffs die Frage über das gefundene Paradies. Am Ende seiner Wanderung ist der Taugenichts vom ursprünglichen Traumland Italiens enttäuscht.

Ich nahm mir nun fest vor, dem falschen Italien mit seinen verrückten Malern, Pomeranzen und Kammerjungfern auf ewig den Rücken zu kehren, und wanderte noch zur selbigen Stunde zum Tore hinaus80.

Die Phantasienwelt ist zum allmähligen Untergang verurteilt. Der Protagonist erklärt sich mit der Alltagsrealität einverstanden und akzeptiert ihre Normen und Bedingungen. In der Schlussszene ironisiert Eichendorff die erlangte Phantasie. Entspricht eine solche

Handlungsentwicklung der Kulmination in der Novelle Hoffmanns, in der die

Auseinandersetzung mit der umgebenden Welt den Protagonisten im unkontrollierten Trieb zum tragischen Finale führt? Oder symbolisiert die idyllische Schlussszene mit Aurelie das gefundene Paradies? Der Taugenichts scheint in seiner Übereinstimmung mit der

Alltagsrealität kein begehrtes Glück gefunden zu haben. Seine Verwandlung in einen ordentlichen Ehemann ist dasjenige einschlägige Symbol des akzeptierten sozialen Guten, das so oft in den Widerspruch und so selten in den Zusammenhang mit dem erhabenen Ideal

80 Ebenda. 150. 51 gerät. Im Zusammenhang mit den gestellten Fragen ist die vergleichende Analyse mit der

Erzählung Odojewskis von besonderem Interesse.

Der Roman Eichendorffs gilt damit als ein reiches Forschungsgebiet für die ewigen

Fragen über die Überwindung der begrenzten Realitätsnormen und die Befreiung der gequälten Seele vom Trieb nach dem absoluten und doch utopischen Ideal.

2.1 Die Romantisierung der alltäglichen Realität

Wie die Analyse von Hoffmanns Bergwerke zu Falun zeigt, spiegelt sich die

Phantasie-Realität-Beziehung unmittelbar in den erlebten Zuständen der Protagonisten wider.

Genauso wie in Hoffmanns Werk ist im Roman Eichendorffs der Zusammenhang zwischen der realen und phantastischen Ebene, sowie den sie begleitenden Gemütszuständen von wesentlicher Bedeutung. Indem sich Eichendorffs Protagonist, wie auch viele andere

Protagonisten der Romantik, der Suche nach der besseren Welt widmet, verbindet er seine

Suche nicht mit den überrealen Idealen, im Gegensatz zu Hoffmanns Erzählung, sondern mit der realen, alltäglichen Wirklichkeit. Die Perfektionierung dieser Wirklichkeit wird grundsätzlich zum Hauptziel des romantischen Strebens. Damit kennzeichnet sich

Eichendorffs Roman durch eine höchst romantisierte Realität und die Versuche des

Protagonisten, dem „Gemeinen einen hohen Sinn zu geben81“. Diese romantische

Voraussetzung aus Novalis Sicht spiegelt die Ansichten des Taugenichts auf die wirklichen

Lebensumstände und ihre Perfektionierung wider. Die gesuchte Perfektion bekommt ihren

Ausdruck in der Form der alltäglichen Idylle, mit anderen Worten des idealisierten Alltags.

Im Gegenteil zum abstrakten phantastischen Absolutum, nach dem Hoffmanns Elis jenseits der Realität sucht, findet der Taugenichts seine angestrebte Idylle innerhalb der Realität. Die

Bilder und die Formen der Idylle ändern sich mit jeder der Reisestationen, die der

Taugenichts auf seinem Weg vom Heimatdorf in die abenteuerliche Fremde erlebt.

81 Novalis. Das Leben ein Roman. In: Theorie der Romantik. 52. 52

Während Elis Fröbom im geheimnisvollen Trieb aus dem gelangweilten Dasein

Faluns die Genesung seiner seelischen Schmerzen mit dem jenseitsorientierten Leben im unterirdischen Reich verbindet, sucht der Taugenichts nach der Vervollkommnung seiner inneren Zustände in der Harmonie mit dem diesseits orientierten Leben. Nicht im phantasierten, sondern im wirklichen Leben findet die „Vermittlung des Sinnlichen mit dem

Übersinnlichen82“ statt. Unter dem Übersinnlichen werden das Transzendentale, das

Übernatürliche und das Erhabene verstanden. Alle diese Begriffe werden dem Realen,

Tatsächlichen und dem Vernünftigen gegenübergestellt. Das Übersinnliche ist ein einzigartiges Wissensgebiet, das erst durch die konsequente Verschärfung der sinnlichen

Fähigkeiten zu entdecken und im folgenden aufzufassen ist. Der Glaube an das Übersinnliche und die Entwicklung der spirituellen Zustände werden von solchen unerwünschten psychologischen Motiven wie Entfremdungszuständen, Traumversunkenheit und Depression begleitet. Im Kapitel zu Odojewski der vorliegenden Arbeit wird das Thema der spirituellen und kabbalistischen Erfahrung im Leben des romantischen Protagonisten präzise analysiert.

Im Vergleich zu Elis interessiert sich der Taugenichts nicht für die verkehrte Seite des

Verstandes und konzentriert sich auf die Entwicklung seines sinnlichen Vermögens. Damit schließt er aus seinem Leben den umstrittenen Bereich des komplexen Übersinnlichen aus.

Die Entwicklung des seelischen Vermögens wird durch die neuen Erfahrungen und

Erlebnisse angetrieben, die ihrer Intensität und Originalität nach als außerordentlich bezeichnet werden können. Zum Beispiel fördert Taugenichts Wandern durch verschiedene

Regionen die Sensualität des lyrischen Ich und “ermöglicht die seelische Bewegung aus der begrenzten Enge eines geschlossenen Raumes in die befreiende Weite83“. In den neuen

Landschaften, Ländern, Bräuchen und Sitten findet der Protagonist die Inspiration für das

Romantisieren der Realität. Er entwickelt in sich die seelische Kraft, die Welt um sich herum

82 Karl. 127. 83 Ebenda. 90. 53 zu perfektionieren. Das Wandern und das Lernen der unbekannten Kulturen bringen dem

Taugenichts Freude, die bis zum “ekstatischen Rausch84“ steigt. Solch eine ekstatische

Freude erlebt der Taugenichts während seines Spaziergangs durch die Straßen des ewigen

Roms. Eichendorff widmet dem Thema der seelischen Befreiung von den Grenzen des rationalen Verstands den ganzen ersten Absatz des achten Kapitels. Der Autor akzentuiert die hohe emotionale Dynamik in Taugenichts Verhalten und lässt den Protagonisten durch seine emporgehobene Sensualität die unbekannte Atmosphäre Roms wahrnehmen. Es ist von

Bedeutung, dass die Zustände des Protagonisten keine übersinnlichen Charakteristika enthalten, die für die seelischen Erlebnisse Elis typisch sind.

Ich war wie betrunken von Freude und von dem Rumor und rannte in meiner Fröhlichkeit immer gerade fort, bis ich zuletzt gar nicht mehr wusste, wo ich stand85.

Die Fröhlichkeit und Freude sind die notwendigen Voraussetzungen für die

Romantisierung der alltäglichen Realität, die in ihrem sonst gemeinen Charakter die Züge der

überrealen Welt enthält. Von dieser bezaubernden Welt hat der junge Mann in seinem

Heimatdorf geträumt. In dieser Welt sich der Protagonist von den routinemäßigen, langweiligen Daseinsformen der Heimat. Wie im Fall Elis und seiner Suche nach der besseren Realität in Faluner Bergwerken verbindet der Taugenichts seine Hoffnungen auf die

Verwirklichung seiner Träume mit dem Wandern in die weite Ferne. Auf den Straßen Roms hat seine Suche die ersten Erfolge. Die Träume werden Realität.

Es war wie verzaubert, als wären der stille Platz mit dem Brunnen und der Garten und das Haus bloß ein Traum gewesen86.

Der Taugenichts freut sich über die Atmosphäre der Stadt, in der er sich frei, glücklich und begeistert fühlt. Die überwundene alltägliche Enge und die erreichte künstlerische

Inspiration sind die ersten Schritte des erfolgreichen Romantisierens der Realität.

84 Ebenda. 91. 85 Eichendorff. 136. 86 Ebenda. 136. 54

Die traditionelle aufklärerische Vorstellung über die Idylle mit ihrer logischen

Betonung der inneren Stille des lyrischen Ich entspricht weder Hoffmanns noch Eichendorffs

Konzept der Traumwelt, nach der Elis und der Taugenichts leidenschaftlich suchen. “Der

Moment der Beschränkung ist es wohl, was die Fremdheit der Romantiker gegenüber der

Idylle bestimmt hat87“. Während des ekstatischen Laufens durch die Straßen Roms fühlt sich der Taugenichts anders im Vergleich zu den idyllischen Stunden, die er, seine Geige spielend, unter dem Laub der Bäume in der gemütlichen schattigen Kühle des Schlossgartens genossen hatte. Der Unterschied zwischen dem Erlebnis der Idylle in der Aufklärung und der Idylle im

Werk Eichendorffs wird umso offensichtlicher im Kontext der emotionalen Zustände, die den

Taugenichts begleiten.

Die traditionelle Idylle der Aufklärung fördert die innerliche Ruhe und das emotionale

Gleichgewicht. Eines der Grundprinzipien solcher Idylle besteht in der “rationalistischen

Natur88“. Die Idylle ist damit die “Repräsentation einer universalen

Vernunftgesetzlichkeit89“. Eichendorffs idyllische Szenen drücken solchen rationalistischen

Charakter der Natur im vollen Maße nur in paar seltenen Szenen aus. In diesen Szenen entspricht die Idylle den Grundlagen den aufklärerischen und frühromantischen

Idyllentheorien. Sie kann doch nicht als die angestrebte Idylle im Roman Eichendorffs bezeichnet werden, vor allem wegen ihrer engen Verbindung mit der Heimat, die mit dem

Attribut idyllisch nicht assoziiert werden kann. Von seiner Heimat ist der Taugenichts geflohen, weil sie neben den idyllischen Motiven auch die Charakteristika einer engen, im gewissen Maße philiströsen Welt enthielt. Die gesuchte, angestrebte und echte Idylle bekommt neue Züge im Roman Eichendorffs. Diese Züge demonstrieren einen emporragenden und stark emotionalen Charakter. Die idyllische Welt soll den Menschen

87 Böschenstein-Schäfer, Renate. Idylle. Stuttgart: Metzler, 1977. 113. 88 Schneider, Helmut. (Hrsg.) Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen: Gunter Narr, 1988. 44. 89 Ebenda. 44. 55 nicht befrieden, sondern in ihm die Energie für das tätige, aktive Leben erwecken. Nämlich nach solch einer Welt strebt der Protagonist im Roman Eichendorffs.

2.2 Das Verhältnis des Taugenichts zur philiströsen Welt

Die schöne erträumte Welt wird vom Taugenichts selbst Schritt für Schritt gebaut, so wie er sein Grundstück im Schlossgarten während des Dienstes als Zolleinnehmer sorgfältig errichtet. Mit Stolz und Freude berichtet der junge Mann, dass er die “Kartoffeln und anderes

Gemüse, das er in seinem kleinen Gärtchen fand, hinaus warf und es ganz mit den auserlesensten Blumen bebaute90”. Es findet sich Platz in dieser Beschreibung auch für die

Erinnerung an das Heimatdorf und seine Einwohner, die jetzt auf ihren Nachbarn stolz sein sollen. Der Grund, sich stolz zu fühlen, besteht für den Taugenichts darin, dass er endlich einen gewissen Lebensstandard erreicht hat, der für mehrere Vertreter seines sozialen Standes das Ziel des ganzen Lebens ist. Eichendorff ironisiert eine solche stark begehrte, aber wenig sinnvolle Lebensweise. Seine Ironie richtet sich auf die Werte des perfekten philisterhaften

Daseins, das traditionell durch solche sprachliche Charakteristika wie „Pantoffeln“,

„Schlafmütze” und „Schlafrock“ begleitet wird.

Ich bezog nun sogleich meine neue Wohnung und war in kurzer Zeit eingerichtet. Ich hatte noch mehrere Gerätschaften gefunden, die der selige Einnehmer seinem Nachfolger hinterlassen [hat], unter andern einen prächtigen roten Schlafrock mit gelben Punkten, grüne Pantoffeln, eine Schlafmütze und einige Pfeifen mit langen Röhren91.

Eine ähnliche Beschreibung der spießbürgerlichen Lebensordnung findet man in der

Erzählung Odojewskis Sylphide. Die Attribute der philiströsen Idylle enthalten die soziale

Konnotation, die von der Romantik der rationalen, kleinlich berechnenden Lebensweise zugeschrieben wurde und damit nicht als Objekt des Strebens nach der besseren Welt bezeichnet werden kann. In seiner Beschreibung des philiströsen Alltags schildert

Eichendorff “menschliche Existenzformen, welche Erfüllung und Glück ausschließlich an das

90 Eichendorff. 78. 91 Ebenda. 77-78. 56 irdische Dasein knüpfen92“. Das irdische Dasein gehört auf keinen Fall zu den

Charakteristika der besseren Welt. Der Taugenichts führt ein wohles Leben, von dem alle seine Dorfnachbarn nur träumen können. Zwischen dem Protagonisten und seiner sozialen

Umgebung besteht eine enge Verbindung, die in der Diskussion über das Romantisieren der

Realität eine negative Bedeutung hat. Der Bezug auf das standesgemäße Thema bekommt in

Eichendorffs Roman sogar stärkere Kritik, als es in Hoffmanns Bergwerke zu Falun der Fall ist. Während diese Kritik an der alltäglichen routinemäßigen Lebensweise der Faluner

Gesellschaft in Hoffmanns Erzählung einen milden, verallgemeinerten Charakter bekommt, entfaltet sich die höhnische Einstellung des Autors zum prosaischen Alltag im Werk

Eichendorffs in vollem Maße.

Im Rahmen der Philister-Künstler-Beziehung ist der Taugenichts eine dynamisch entwickelnde Figur. Seine Entwicklung kann schematisch auf folgenden drei chronologischen

Stationen geteilt werden: 1) der Aufenthalt im Schloss bei Wien als Gärtnerbursche und

Zolleinnehmer; 2) die Reise nach Italien als Freund von Leonhard und Guido; 3) die

Rückkehr nach Wien als Bräutigam von Aurelie.

Der Übergang von der einen Station zur anderen bedeutet eine gewisse

Transformation der sozial-ästhetischen Weltanschauung. Der Charakter und die

Weltanschauung des Taugenichts ändern sich von einem Vertreter des spießigen

Kleinbürgertums über den neugierigen Flaneur bis zu einem Künstler.

Vom Anfang der Geschichte bis zu seiner Abreise aus dem Schloss wird der junge

Mann immer noch vom System der kleinbürgerlichen Werte beeinflusst und geleitet. Seine

Vorstellung von einem erfolgreichen Leben entspricht den traditionellen ästhetischen

Voraussetzungen und Erwartungen des dörflichen Milieus, aus dem der Taugenichts herkommt.

92 Karl. 127. 57

Das alles hatte ich mir schon einmal gewünscht, als ich noch zu Hause war, wo ich immer unsern Pfarrer so bequem herumgehen sah. Den ganzen Tag (zu tun hatte ich weiter nichts) saß ich daher auf dem Bänkchen vor meinem Hause in Schlafrock und Schlafmütze, rauchte Tabak aus dem längsten Rohre, das ich von dem seligen Einnehmer vorgefunden hatte, und sah zu, wie die Leute auf der Landstraße hin und her gingen, fuhren und ritten. Ich wünschte nur immer, dass auch einmal ein paar Leute aus meinem Dorfe, die immer sagten, aus mir würde mein Lebtag nichts, hier vorüberkommen und mich so sehen möchten93.

Aus dem Zitat folgt, dass die kritisierten Merkmale des Volkes aus dem Heimatdorf immer noch im Charakter des Taugenichts zu finden sind. Die enge Verknüpfung an diese

Werte charakterisiert sich durch den Stolz Taugenichts auf seine neue soziale Position des

Zolleinnehmers und damit seinen Wunsch von seinem Vater und seinen ehemaligen

Nachbarn unbedingt gesehen zu werden. Die „Schlafmütze auf dem Kopfe” des Vaters ist jetzt auch eine unverzichtbare Komponente der Kleidung des Taugenichts. Der Unterschied zum ehemaligen dörflichen Leben besteht nur darin, dass anstatt der schweren Arbeit in der

Mühle seines Vaters nur die wenigen unwesentlichen Pflichten eines Zolleinnehmers im

Schloss erfüllt werden müssen.

Es muss aber nicht unterschätzt werden, dass der junge Mann im sozialen und beruflichen Leben einen großen Erfolg aufweist. Der Taugenichts kommt aus der Familie eines Müllers und wird als Zolleinnehmer angestellt. In seinem Artikel „Eichendorff’s

Taugenichts“ unterstreicht T. Mehigan die außergewöhnlichen Eigenschaften und Qualitäten des Protagonisten und sucht nach ihrem Ursprung in seinem angeborenen Talent des Denkers und seiner richtigen Familienerziehung.

The Taugenichts had an uncommonly enlightened upbringing for a poor man’s son and, indeed, must have learned at an early age to do a lot of thinking for himself94.

93 Eichendorff. 78. 94 Mehigan, Tim. Eichendorff’s Taugenichts; Or, the Social Education of a Private Man. The German Quarterly, Vol. 66, No. 1, From Mid-18th-Century to Romanticism (Winter, 1993), pp. 60-70. Oxford: Blackwell. 62-63. 58

Dank seinem musikalischen Talent und seiner guten Lernfähigkeit bekommt der

Taugenichts die Stelle des Zolleinnehmers, die er ohne seine Verdienste sonst nie bekommen hätte. Sein Talent wird von den Hofleuten sofort bemerkt, hochgeschätzt und belohnt. Der

Taugenichts ist ein vielseitiger und zielbewusster Mann. Unter anderem spielt er Violine, was von seinem Talent eines Künstlers zeugt.

He is proficient on the violin, an instrument notoriously difficult to master even for the fabulously talented95.

Seine meisterhafte Beherrschung des musikalischen Instruments liegt der

Bekanntschaft mit sowohl mehreren Hofleuten und Künstlern als auch der gnädigen Frau zugrunde, in die sich der Taugenichts demnächst verliebt.

2.3 Die Rolle des Kunstgefühls in der Auffassung der umgebenden Welt

Die Beherrschung der Geige ist eines der Merkmale der künstlerischen Begabung des

Taugenichts. Das musikalische Instrument begleitet ihn in seinem langen Reisen, seiner

Entwicklung als Künstler und seiner Suche nach der idealen Welt. Die Geige erfüllt eine vermittelnde Funktion im Zusammenhang zwischen dem Kunstgefühl und dem Streben nach der besseren Welt. Der Protagonist nimmt die umgebende Realität durch seine musikalischen

Empfindungen wahr. Diese Empfindungen erlauben ihm, die geheimen Seiten der neu entdeckten Welten zu entziffern und sich mit diesen Welten zu verständigen.

Jedes Mal, wenn sich der junge Mann in der fremden Gegend verloren und einsam fühlt, kehrt er zu seiner Geige zurück und findet die Tröstung im harmonischen Klang des

Instruments. Die rechtzeitig gefundene Tröstung und der Glaube an das eigene Talent unterscheiden den Taugenichts von Elis, der auf seiner langen Suche nach dem imaginären

Absolutum an seine Talente nie wirklich glaubt. Die musikalische Begabung des Taugenichts ist ein wichtiger Zug seiner Persönlichkeit. Das künstlerische Talent ist auch ein wichtiger

Bestandteil des harmonischen Gemüts. Das Kunstgefühl in der Verbindung mit dem

95 Ebenda. 60. 59 rationalen Denken fördert die Erhöhung des seelischen Vermögens des romantischen

Protagonisten.

Die schöne Kunst bildet nicht, wie der Gelehrte, nur den Verstand, oder wie der moralische Volkslehrer, nur das Herz; sondern sie bildet den ganzen vereinigten Menschen. Das, woran sie sich wendet, ist nicht der Verstand, noch ist es das Herz, sondern es ist das ganze Gemüht, in Vereinigung seiner Vermögen; es ist ein drittes aus den beiden zusammengesetztes. Man kann das, was sie tut, vielleicht nicht besser ausdrücken, als wenn man sagt: sie macht den transzendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen96.

Das Kunstgefühl des Taugenichts liegt der “Einheit mit sich selbst“ zugrunde und wirkt in Harmonie mit anderen Eigenschaften des Individuums. Der Taugenichts vereinigt in sich die Charaktersitika des Denkers, des Künstlers und der sozial bewussten Person. Das

“All der Gefühle ist alleiniges Kriterium von Erkenntnis97“. Der Glaube des Denkers an die

Existenz der besseren Welt, die ständige innere Sicherheit des begeisterten Künstlers und das starke Selbstbewusstsein des gesellschaftlichen Individuums sind die persönlichen

Voraussetzungen für den Erfolg des romantischen Strebens nach der Erkenntnis der äußeren, inneren und übersinnlichen Welt. Damit können das künstlerische Talent, die Lebensfreude, das Denkvermögen und die Innerlichkeit als wichtige Eigenschaften des romantischen

Protagonisten bezeichnet werden. Die harmonische Vereinigung dieser Eigenschaften im

Taugenichts unterscheidet ihn von mehreren anderen Helden der Romantik, vor allem der

Person Elis.

In Bezug auf die Begriffe des Selbstbewusstseins und Verstandes untersuche ich auch die Rolle des poetischen Gefühls und hebe dieses als wichtige Voraussetzung sowohl für die

Gestaltung der Identität, als auch für die Wahrnehmung der umgebenden Realität hervor.

Schlegel findet die Vielfalt des Menschen und seine Kreativität am besten in der Poesie verkörpert.

96 Fichte, Johann Gottlieb. Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre. In: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaft. Reihe 1, Bd. 5. Stuttgart: Friedrich Frommann, 1977. 307. 97Zeuch, Ulrike. Das Unendliche. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1991. 19. (Im folgenden als “Zeuch” abgekürzt) 60

Die Vernunft ist nur eine und in allen dieselbe; wie aber jeder Mensch seine eigne Natur hat und seine eigne Liebe, so trägt auch jeder seine eigne Poesie in sich98.

Das Poetische wird erlebt und gefühlt. Das Poetische gleicht der Phantasie. Mit anderen Worten wird die poetische Welt von dem Verstand wahrgenommen und von der

Einbildungskraft, der eigenen Poesie in sich gestaltet. Die phantasierten hohen Ideale sind die

Resultate des poetischen Denkens. Sie werden dank dem Kunsttalent zuerst in der Realität entdeckt und danach poetisiert. Für die Autoren der Romantik wird die Kunst zum

Mittelpunkt der Szene.

Art became the middle point or stage upon which something absent and intangible was made to appear present and graspable. It was, in other words, a material invocation of a sphere unavailable to the senses99.

Aus dem Zitat Pragers folgt, dass die Kunst, einschließlich der Dichtung, Malerei und

Musik ein Feld, beziehungsweise ein Instrument für die Auffassung der übersinnlichen

Motive und Objekte ist. Die Rückwendung auf das eigene Innere ist die Richtung der künstlerischen Auffassung. Das Vermögen der Vernunft und des Willens fördern, laut

Schlegel, die Bestimmtheit des übersinnlichen Gegenstands.

Das Ich, so Schlegel, wird sich im Akt der Anschauung seiner selbst bewusst; aus der Absicht einer Gegenstandswahrnehmung wird also stets eine Selbstwahrnehmung. Diese Rückwendung auf das Bewusstsein leistet die Vernunft. Sie ist der Anschauung subsumiert, deren Bestandteile der Sinn, eben die rezeptive Aufnahme des Gegenstandes, die Reflexion des Wahrnehmenden auf sich selbst bzw. auf den Inhalt seiner Wahrnehmung und schließlich der Wille als ein Vermögen, das willkürlich die Aufmerksamkeit auf jeweils eine Bestimmtheit des betreffenden Gegenstandes richtet, sind100.

Mit anderen Worten beruht die Auffassung des Übersinnlichen auf der heuristischen

Strategie, die in sich poetische und sachliche Algorithmen enthält. Diese Algorithmen

98 Schlegel, Friedrich. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe in 35 Bänden, E. Behler. Hrsg. Paderborn, 1958. 117. (Im folgenden als „Schlegel, F.“ abgekürzt) 99 Prager, Brad. Aesthetic vision and German Romanticism. Rochester: Camden House, 2007. 34. (Im folgenden als „Prager“ abgekürzt) 100 Zeuch. 63. 61 entziffern die an Informationen und Kenntnissen mangelnden Objekte der künstlerischen

Auffassung.

The idyll uses fictionality as an instructional device, a heuristic construction, the advertisement of an “ought”101.

Die im literarischen Werk dargestellte Idylle ist nicht nur imaginär und poetisch. Sie hat einen historischen sachlichen Hintergrund und kann im Zitat Wellberys unter der

Definition “ought” verstanden werden. Ein Beispiel solch eines tatsächlichen Hintergrunds ist

Hoffmanns Bergwerke zu Falun. Als dessen Vorlage diente eine dokumentarische Geschichte des 18. Jahrhunderts.

Sie [die Geschichte] behandelt ein historisches Ereignis, ein Bergwerksunglück, das zu dem Zeitpunkt, als Hoffmann die Erzählung eignes für die Publikation des ersten Bandes der Serapionsbrüder geschrieben hat, ziemlich genau 100 Jahre zurückliegt. Zudem macht sie ein Vergehen der Zeit zum wichtigen Thema. Auch hat Hoffmann sich wieder einschlägiger Quellen bedient, um das zeitliche Kolorit Schwedens am Anfang des 18. Jahrhunderts und das Lokalkolorit des Bergbaus als Hintergrund seiner Erzählung zu treffen102.

Hoffmann schrieb der Kombination des Kunstgefühls und der tatsächlichen

Kenntnisse eine wichtige Rolle zu. Die Geschichte über Elis und seine Suche nach der besseren Welt fand unter den tatsächlichen historischen Umständen im Schweden des 18.

Jahrhunderts statt. Damit bekam die romantische, imaginäre Geschichte das Bild der realen

Ereignisse. Ein anderes Beispiel der Idealisierung vom Ought ist Hoffmanns Beschreibung der Leiche des jungen Bergwerkarbeiters, der im „versteinerten” Zustand erhalten blieb.

Es war anzusehen als läge der Jüngling in tiefem Schlaf, so frisch, so wohl erhalten waren die Züge seines Antlitzes, so ohne alle Spur der Verwesung seine zierliche Bergmannskleider, ja selbst die Blumen an der Brust103.

Diese Szene hat eine symbolische Bedeutung für die Verbindung zwischen realer und fantastischer Welt. Die erwünschte Verbindung dauert für Ulla nur einen Augenblick. Sobald

101Wellbery, David. The Specular Moment. Goethe’s Early Lyric and the Beginning of Romanticism. Stanford: Stanford University Press, 1996. 13. 102 Kremer, Detlef. E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin: Erich Schmidt, 1999. 176. (Im folgenden als “Kremer” abgekürzt) 103 Hoffmann. 238. 62 es keine Selbstidentifikation Ullas mit ihrem verstorbenen Bräutigam gibt, kann seine Leiche nicht mehr idealisiert werden und wird ein Teil der üblichen Alltäglichkeit.

In dieser Szene kann ein Vergleich zwischen Kants Definitionen des Erhabenen und des Schönen gemacht werden. Die zu Staub werdende Leiche gilt als Metapher für die

Trennung des Erhabenen vom Schönen. Kant ordnet beide Begriffe zwei verschiedenen

Ebenen ästhetischer Kritik zu: das Schöne ist eine rationale Kategorie und das Erhabene ist eine emotionale Kategorie.

Das Gefühl des Erhabenen eine mit der Beurteilung des Gegenstandes verbundene Bewegung des Gemüts, als seinen Charakter bei sich führt, anstatt dass der Geschmack am Schönen das Gemüt in ruhiger Kontemplation voraussetzt und erhält... Indem dieses (das Schöne) direkt ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich führt, und daher mit Reizen und einer spielenden Einbildungskraft vereinbar ist; jenes aber (das Gefühl des Erhabenen) eine Lust ist, welche nur indirekt entspringt, nämlich so dass sie durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergießung derselben erzeugt wird, mithin als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft zu sein scheint104.

Das Bild Elis wird von Hoffmann so beschrieben, dass der Leser den Eindruck der allgemeinen Bewunderung des Jünglings bekommt. Man vergisst für eine Weile, dass Elis tot ist. Erst mit der Erinnerung an den Tod Elis erleben die Menschen die erhabenen Eindrücke und erkennen demnach die absurde Situation ihres seltsamen Eindrucks an. Die Leiche verschwindet im Moment solch einer Anerkennung.

Diese Szene kann auch vom Standpunkt der Psychoanalyse aus betrachtet werden. In dem Fall werden die realen Ereignisse mit einem Traum verglichen weden. Hoffmann hebt absichtlich den geträumten Charakter der Szene hervor. In seinem Buch beschäftigt sich

Prager mit der Rolle der Psychoanalyse in der ästhetischen Rezeption der romantischen

Bilder.

104 Kant, Immanuel. Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Frank, Manfred. Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker, 1996. 112. 63

Because so much activity takes place within the mind of the perceiving subject, the Romantic depiction of perception is little different from an understanding of what transpires when we dream. In this way, perception of the outside world is merely a convenient though necessary illusion. Our mind does us the favor of providing us with the impression that there is an outside world. Seen from this perspective, idealism and Romanticism are moments in the history of ideas that are directly connected to later moments, such as those from which psychoanalysis and even expressionism emerged, insofar as both schools of thought concerned themselves with the inevitability of the conscious or unconscious imposition of subjective will upon the world105.

Damit geht es um den subjektiven Wunsch, ein bestimmtes Objekt zu sehen. Dieses subjektiv wahrgenommene Objekt kann nicht als real definiert werden. Der Grad der

Subjektivität in Hoffmanns Erzählung wird aber dadurch minimiert, dass die Leiche Elis von

Ulla und den Bergwerkarbeitern als perfekter Jüngling definiert wird. So schafft der Autor den Effekt des außerordentlichen Bildes, das einer romantischen Geschichte zugrunde liegt.

In seiner erweiterten Definition der ästhetischen Wahrnehmung des romantischen Bildes rezipiert Prager Kants Ansichten zum Thema der ästhetischen Beurteilung. Kant unterscheidet zwischen den Kategorien Auffassen und Zusammenfassen.

When describing the sensation of sublimity, Kant explained that it corresponds to a tension between that which the subject can apprehend and that which it can comprehend. By apprehension Kant is referring to the way the eye simply takes in an image106.

Die gezielte literarische Behandlung dieser Kategorien erlaubt dem Autor den Effekt eines überrealen Ereignisses zu schaffen. Der Autor kreiert den Raum, in dem die

Wirklichkeit und Unwirklichkeit koexistieren und einander ergänzen. Deterding sagt zum

Thema der dimensionalen Koexistenz folgendes.

Wirklichkeit und Unwirklichkeit, dargestellte Realität und Irrealität, Anketten und Befreien fließen ineinander, ja vertauschen sich in ihren Positionen, werden zu einem Spiel des Geistes, der damit umgeht. So wird die Einbeziehung der Wirklichkeit zu einem konstitutiven Teil des schöpferischen Prozesses bei Hoffmann nicht die Entgegensetzung der Bereiche “Phantasie” und “Alltag”, selbst dann nicht, wenn eben die Entgegensetzung betont wird!107

105 Prager. 1. 106 Ebenda. 96. 107 Deterding. 112. 64

Dieses Zitat hebt die Absicht Hoffmanns hervor, das Wirkliche und das Irreale in engsten Zusammenhang zu bringen. Derselbe Effekt der Verschmelzung des Wirklichen und

Irrealen wird in Eichendorffs Werk durch das Kunstgefühl des Taugenichts erreicht. Mit dem

Erlebnis der poetischen Zustände und der „schöpfersichen Besonnenheit108“ sieht der

Taugenichts in der umgebenden Welt die Bilder, die neben den Charakteristika der realen

Objekte die der irrealen enthalten. Die Geschichte mit Aurelies Brief und der Flucht des

Taugenichts aus dem italienischen Schloss ist ein Zeugnis von solch einer Poetisierung der

Realität. Von Bedeutung ist die Tatsache, dass der Taugenichts kurz vor der Ankunft des

Postboten ein Lied aus seinem Heimatdorf vorsingt. Er fühlt sich so inspiriert und so glücklich, dass alle darauffolgenden Ereignisse einen überrealen Charakter bekommen, einschließlich des imaginären Liebesgeständnisses Aurelies und des furchterregenden

Studenten mit dem “kuriosen Blick und den verdrehten Augen109“. Auf einmal fängt der

Taugenichts an, ihn zu fürchten. Einige Stunden später kommen dem jungen Mann schon mehrere Einwohner des Schlosses als Mörder mit den „langen Messern110“ vor.

2.4 Die Reflexion als Bestandteil der romantischen Weltanschauung

Die im Kapitel zu Hoffmann betrachteten Zusammenhänge zwischen der Wirklichkeit und der Irrialität erfüllen die Funktion, die auch im Werk Eichendorffs auf den jeweils realistischen oder imaginären Charakter der Szenen hinweist. Während Hoffmanns

Geschichte zur räumlichen Enge tendiert, kennzeichnet sich die Raumgestaltung im Roman

Eichendorffs durch ein sich dynamisch entfaltendes Panorama. Die Beschreibung der ganzen

Wanderung des Taugenichts wird durch unzählige Landschaften und offene Perspektiven begleitet. Das kann, zum Beispiel, über die inhaltlich ähnliche Geschichte, und zwar Tiecks

Runenberg nicht gesagt werden. Ein einschlägiges Beispiel für die Verengung des

108 Szczepanski, Jens. Die Aufhebung der Entscheidung: E.T.A. Hoffmanns Elexiere des Teufels. In: philosophenpraxis.de/texte/index.php?s=file_download&id=7. 3 109 Eichendorff. 123. 110 Ebenda. 126. 65

Handlungsraums ist die Anfangsphase der Erzählung. Sie kann sowohl mit Eichendorffs als auch Hoffmanns Werk verglichen werden, aber in jedem einzelnen Fall mit verschiedener

Relevanz.

Ein junger Jäger saß im innersten Gebirge nachdenkend bei einem Vogelherde, indem das Rauschen der Gewässer und des Waldes in der Einsamkeit tönte. Er bedachte sein Schicksal, wie er so jung sei, und Vater und Mutter, die wohlbekannte Heimat, und alle Befreundeten seines Dorfes verlassen hatte, um eine fremde Umgebung zu suchen, um sich aus dem Kreise der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit zu entfernen, und er blickte mit einer Art von Verwunderung auf, dass er sich nun in diesem Tale, in dieser Beschäftigung wiederfand111.

Alle drei Werke werden durch die Erinnerungen an die Heimat und die Familie begleitet. In jedem der Werke kehren die Protagonisten gedanklich ins verlassene

Heimatsdorf zurück und verbinden damit die Vergangenheit mit der Gegenwart, das

Bekannte mit dem Fremden. Aber diese Erinnerungen variieren von der gemütlichen

Nostalgie bei Eichendorff bis zu den intensiven analytischen Denkprozessen bei Hoffmann und Tieck. In den Werken Hoffmanns und Tiecks enthält die Erinnerung sowohl die Freude für die überwundenen Gewöhnlichkeit als auch den großen Zweifel am neuen Lebensstil.

Sowohl Elis als auch der Taugenichts sind tiefdenkende und analysierende Personen. Ihre

Neigung zum Analysieren des Lebens stimmt mit der These der Romantiker über das systematisierende Begreifen des Universums überein. Die Analyse der umgebenden Realität und des eigenen Inneren ist ein Prozess, der sich dem Konzept der romantischen Reflexion nähert.

Die Reflexion ist kein Anschauen, sondern ein absolut systematisches Denken, ein Begreifen... Mit dem unmittelbaren Denken der Reflexion dringen die Romantiker in das Absolute ein112.

Um das Absolutum zu erreichen, muss man sich auf den Prozess der

Selbstbeobachtung einlassen. “Alles ist nur ein Teil der unendlichen Ichheit113“, schrieb

111 Tieck. 25. 112 Benjamin. 32-33. 113 Ebenda. 36. 66

Benjamin in seiner frühen Arbeit über die romantische Reflexion. “Die Reflexion konstituiert das Absolute, und sie konstituiert es als ein Medium114“. Um die Jahrhundertwende hob

Novalis die Bedeutung der Reflexion im Werk der Romantik hervor und bezeichnete die

Analyse des Inneren als Prozess des Romantisierens.

Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert115.

Am Anfang der Geschichte analysiert der Taugenichts sein Leben. Seine Gedanken charakterisieren ihn als einen sozialen Außenseiter und einen sich von der Außenwelt absondernden Menschen.

Jeder hat sein Plätzchen auf der Erde ausgesteckt, hat seinen warmen Ofen, seine Tasse Kaffee, seine Frau, sein Glas Wein zu Abend und ist so recht zufrieden; selbst dem Portier ist ganz wohl in seiner langen Haut. Mir ist’s nirgends recht. Es ist, als wäre ich überall eben zu spät gekommen, als hätte die ganze Welt gar nicht gerechnet116.

Taugenichts Gedanken haben einen reflexiven Charakter und richten sich ihrem Inhalt nach sowohl auf seinen Platz in der Gesellschaft als auch sein besseres Selbst. Im

Unterschied zu Elis sieht sich der Taugenichts als keinen Außenseiter und sucht nach der möglichen Verbesserung seines unglücklichen Plätzchens nicht außer sondern innerhalb der

Gesellschaft.

Sowohl in Tiecks als auch in Hoffmanns Erzählung suchen die Protagonisten nach dem erwünschten besseren Leben und können ein solches Leben nicht finden. Damit unterscheidet sich Eichendorffs Roman von den Erzählungen Hoffmanns und Tiecks dadurch, dass die Suche des Taugenichts nach dem idealen Ort erfolgreich endet. Obwohl die

Beschreibung eines solchen idealen Ortes ironische Konnotation enthält, weist sie auf den guten Ausgang der Geschichte und das erreichte Resultat des Strebens des romantischen

Protagonisten hin.

114 Ebenda. 37. 115 Novalis. Blütenstaubfragmente. 116 Eichendorff. 85-86. 67

Mir war so wohl, wie sie so fröhlich und vertraulich neben mir plauderte, ich hätte bis zum Morgen zuhören mögen. Ich war so recht seelenvergnügt und langte eine Hand voll Knackmandeln aus der Tasche, die ich noch mitgebracht hatte. Sie nahm auch davon, und wir knackten nun und sahen zufrieden in die stille Gegend hinaus. - Siehst du, sagte sie nach einem Weilchen wieder, das weiße Schlösschen, das da drüben im Mondschein glänzt, das hat uns der Graf geschenkt, samt dem Garten und den Weinbergen, da werden wir wohnen117.

In der Beschreibung sieht man Aurelie aktiv sprechen, während der Taugenichts ihr in der Tat nicht zuzuhören scheint. Er schweigt und bleibt tief in seinen Gedanken und

Erinnerungen, die nämlich die wirkliche Quelle seiner Freude sind. Deswegen hätte er seine

Geliebte bis zum Morgen hören mögen. Das Begreifen seiner erfüllten Phantasie und die

Reflexion über seine lange Wanderung bestimmen das höchste Glück des Taugenichts.

2.5 Die Tageszeiten und der Handlungsraum in der Wirklichkeit-Phantasie-

Beziehung

Die inspirierenden Beschreibungen in Aus dem Leben eines Taugenichts entsprechen grundsätzlich der romantischen Tradition des idyllischen Natur- und Landschaftsbildes. Unter anderem werden die traditionellen symbolischen Bedeutungen der Jahres- und Tageszeiten behalten. Wie in mehreren Werken der Romantik verbindet Eichendorff “helles, drängendes

Frühlingsgeschehen und fröhliche Wanderschaft118”, die im Thema des Künstlerwerdens die dynamische Entwicklung des Protagonisten fördert. Die Wanderung des Taugenichts beginnt in der Zeit des aufblühenden Vorfrühlings. “Der Frühling symbolisiert den die irdischen

Fesseln sprengenden Annäherungsprozess an das Unendliche119“. Die gesprengten Fesseln des Alltäglichen stellen eine grundlegende Metapher zum Thema der Künstler-Philister-

Beziehung dar. Sobald der irdische Alltag als bestimmender Teil des Lebens und das einzige

Ziel des tätigen Strebens überwunden ist, kommt die neue Wahrnehmungsperspektive mit ihrem Blick ins Unendliche. Das Unendliche gestaltet sich in sowohl Eichendorffs als auch

117 Ebenda. 171. 118 Karl. 61. 119 Ebenda. 60. 68

Hoffmanns Geschichte als romantisierter Bereich und bekommt den visuellen Ausdruck in den Bildern der dem Alltag gegenübergestellten Atmosphäre. In Hoffmanns Erzählung ist es die Unterwelt der Faluner Bergwerke. In Eichendorffs Werk ist es die Fremde der unbekannten Länder.

Auch die Besonderheiten der Tageszeit spielen in der Gestaltung der phantastischen

Atmosphäre eine wesentliche Rolle. Von besonderem Interesse sind in dem Zusammenhang die Zeiten kurz vor dem Aufgang und dem Untergang der Sonne. An der Grenze zwischen der Vergangenheit und der Zukunft erlebt der Taugenichts seine reichsten Phantasien.

Ein Morgenstrahl aber aus dem gegenüberstehenden Fenster fuhr gerade blitzend über die Saiten. Das gab einen rechten Klang in meinem Herzen. “Ja”, sagt’ ich, “komm nur her, du getreues Instrument! Unser Reich ist nicht von dieser Welt!”120

Die Abend- und Morgendämmerungen symbolisieren das dimensionale Spiel der

Wirklichkeit und der Irrealität. Der Taugenichts wird durch diese Zeiten höchst inspiriert und glaubt an die Verwirklichung der mütigsten Träume. Der junge Mann träumt von seinem

Treffen mit der geliebten Aurelie. Aber es ist soweit für ihn unmöglich, weil die Welt immer noch ein ungelöstes Geheimnis bleibt. Die rätselhafte Welt gleicht dem Schimmern des

Mondscheins. Während die morgigen und abendlichen Stunden die Verwirklichung der

Träume unterstützen, verschwinden die Hoffnungen darauf sowohl im hellen Tageslicht als auch im glimmernden Mondschein. Im Vergleich zur geheimnisvollen Zeit der Dämmerung charakterisiert sich der Tag im Werk Eichendorffs durch Sachlichkeit, Rationalität und

Pragmatik.

Obwohl die Nachtstunden dem hellen Tageslicht gegenübergestellt werden, gehören auch sie zum Bereich der sachlichen und rationalen Dinge. In der Dunkelheit werden die

Objekte des Romantisierens vom Taugenichts verborgen, so dass der junge Mann anstatt der künstlerischen Inspiration unzählige Angstzustände erlebt. Auch die Gesellschaft wird vom

120 Eichendorff. 90. 69

Taugenichts durch die begrenzende Dunkelheit entfernt. Die Szene des Tanzballs im Schloss bei Wien ist ein einschlägiges Beispiel davon. Der innere Raum des Schlosses wird in der

Nacht durch die geschlossenen Türen von der umgebenden freien Natur abgegrenzt. Draußen im Dunklen fühlt sich der Taugenichts einsam und verlassen. Es bleibt ihm nichts übrig als den Nachhall der adeligen Feier zu genießen. Er versucht sich möglichst nah den Fenstern zu halten, die mit ihren Lichtern die fremde melancholische Stille der Nacht zum Teil beleben.

Mit Freude und Neid beobachtet der junge Mann das ereignisreiche Leben der adeligen

Gesellschaft. Mit Hilfe seiner starken Einbildungskraft projiziert er die gesehenen Details des

Balls auf die nächtliche Realität draußen und bereichert damit den leeren Raum des in die

Nacht gesunkenen Gartens.

Dort [Im Schloss] drehten sich die Kronleuchter langsam wie Kränze von Sternen, unzählige geputzte Herren und Damen, wie in einem Schattenspiele, wogten und walzten und wirrten da bunt und unerkenntlich durcheinander, manchmal legten sich welche ins Fenster und sahen hinunter in den Garten. Draußen vor dem Schlosse aber waren der Rasen, die Sträucher und die Bäume von den vielen Lichtern aus dem Saale wie vergoldet, so dass ordentlich die Blumen und die Vögel aufzuwachen schienen. Weiterhin um mich herum und hinter mir lag der Garten so schwarz und still121.

Die Unterhaltung des adeligen Milieus sieht für den Taugenichts wie ein Schattenspiel aus. Der Zugang zu dieser Welt ist dem jungen Mann insofern verschlossen, doch nicht der

Zugang zu der Welt der Phantasie. Für einen Mann aus der tiefen Provinz beruht das Leben des Adels auf unbekannten Regeln. Die visuellen Charakteristika dieser Welt wie imposante

Schlösser, adelige Damen und Herren sind dem Taugenichts fremd und überflüssig. Als landschaftlicher Hintergrund seiner Phantasien gelten ganz andere Motive, solche wie Natur und Schlossparke. Es sind die Objekte der Bewunderung, die im Taugenichts einen Künstler zeigen.

Unter den wichtigsten und meist erwähnten Motiven der romantischen Atmosphäre sind die Tageszeiten wie Frühmorgen und Spätabend, die Orte wie Garten und Wald, die

121 Eichendorff. 85. 70

Laute wie Klänge der kirchlichen Glocken und Zwitschern der Vögel zu erwähnen. Diese

Zeit- und Raumcharakteristika werden von Eichendorff öfters gebraucht. Sie sind eine direkte

Widerspiegelung der Stimmung des Taugenichts. Seine inneren Zustände spiegeln sich in der

Transparenz der klaren Morgenluft wider. Zusammen mit dem Glockenspiel begleiten die singenden Vögel den jungen Mann zum imaginären Eingang in das Reich der Phantasie.

Die Raumgestaltung befindet sich in enger Verbindung mit den emotionalen

Zuständen des Taugenichts. In der erfrischenden Kühle des frühen Morgens entfernt sich der

Taugenichts von seinen nächtlichen Ängsten und fasst die umgebende Welt als freundliche und phantasiereiche Realität auf. Sein Kunstgefühl, seine Begeisterung und seine

Lebensfreude werden durch die erwachende Natur aufs neue motiviert. Der inspirierende

Gedanke an das Treffen mit Aurelie und die beflügelnde Atmosphäre der Natur fördern den

Seelenaufschwung und die Heiterkeit des Gemüts. Die Kombination des Morgens und der

Gedanken an die geliebte Frau bringt das Gemüt sogar in der urbanen Atmosphäre Roms zur höchsten Freude.

Es war wie verzaubert, als wären der stille Platz mit dem Brunnen und der Garten und das Haus bloß ein Traum gewesen122.

Eichendorff wiederholt dieses darstellende Prinzip so oft, dass die Bedeutsamkeit der

Tageszeiten wie Frühmorgen und Spätabend, sowie der Orte wie Wald und Garten kaum unterschätzt werden kann. An Stelle der Morgendämmerung kommt die Abenddämmerung.

An Stelle der Transparenz der Sicht kommen die matten Farben des erlöschenden und schimmernden Tageslichts. Es ist von Bedeutung, dass besonders Frühmorgens- und

Spätabendstunden mit der gesuchten Vollkommenheit assoziiert werden. Eichendorff arbeitet präzise am feinen Übergang vom landschaftlichen Bild in die Darstellung der psychologischen Zustände. Das Glühen der untergehenden Sonne und das in den

122 Eichendorff. 137. 71

Abendgluten gesehene Rom werden zum Spielplatz, auf dem sich die Gemütszustände des

Taugenichts widerspiegeln.

Die untergegangene Sonne warf noch einige rote Widerscheine zwischen die dunklen Schatten und über das alte Gemäuer und die von Efeu wild überwachsenen, halb versunkenen Säulen hinten im Garten, während man von der andern Seite tief unter den Weinbergen die Stadt Rom in den Abendgluten liegen sah123.

Rom bleibt für den Taugenichts bis zum letzten Tag seines Aufenthalts ein geheimer

Ort, wo zauberhafte und irreale Ereignisse stattfinden. Die wichtigen Voraussetzungen für solche Ereignisse sind auch in der städtischen Atmosphäre die bereits erwähnten Tageszeiten und Landschaftsbesonderheiten. Unter diesen Besonderheiten des Raums wird die

Wirklichkeit im Werk Eichendoffs romantisiert. Die Alltäglichkeit bekommt die Züge des

Festes. In der gewöhnlichen Realität sieht der Taugenichts die Merkmale der überrealen

Welt. Mit dem Sonnenuntergang verwandeln sich die tanzenden Mädchen in die heidnischen

Waldnymphen. Das Laubwerk des Gartens rahmt das Territorium der Phantasie ein. In der klaren Luft und im wohlriechenden Grünen entfalten sich die Gemütszustände der Freude und Glückseligkeit.

Da tanzten sie alle lieblich im Grünen in der klaren stillen Luft, und mir lachte das Herz recht im Leibe, wie die schlanken Mädchen, und die Kammerjungfer mitten unter ihnen, sich so mit aufgehobenen Armen wie heidnische Waldnymphen zwischen dem Laubwerk schwangen und dabei jedes Mal in der Luft mit den Kastagnetten lustig dazu schnalzten. Ich konnte mich nicht länger halten, ich sprang mitten unter sie hinein und machte, während ich dabei immerfort geigte, recht artige Figuren124.

Eichendorff hebt die Luftigkeit und Leichtigkeit des Tanzes hervor. Die Sprünge, das

Laubwerk und die klare Luft - alles in dieser Beschreibung – strebt nach oben, in Richtung

Himmels. Damit weist der Autor darauf hin, dass das Reich der Phantasie bereits unter den irdischen Umständen der allgemeinen Freude und des persönlichen Hochgefühls zu suchen ist.

123 Ebenda. 142. 124 Ebenda. 142. 72

Hier sind einige Beispiele der Szenen, in deren die Tageszeit, Landschaft und Akustik auf ähnliche Art und Weise den Handlungsraum mit der emotionalen Ebene des

Protagonisten verbinden. Die kühle Klarheit der Luft, der auserlesener Laub des Gartens und die Klänge der Musik entsprechen den idealen Umständen für die Phantasie. Der Taugenichts sucht ständig nach diesen Umständen. Wenn sie ihm aber aus irgendwelchem Grund fehlen, dann kreiert er sie selbst mit Mühe und Streben. Das Beispiel davon ist seine mühsame Arbeit am Schlossgarten, der ursprünglich auf den philisterhaften Charakter des ehemaligen

Zolleinnehmers hingewiesen hat.

Ich ging in mein Gärtchen und riss hastig alles Unkraut von den Beeten, und warf es hoch über meinen Kopf weg in die schimmernde Luft, als zög ich alle Übel und Melancholie mit der Wurzel heraus125.

Damit zeigt der Taugenichts am Anfang seiner Wanderung, dass er sich von der philisterhaften Lebensweise, der Schlafmütze und dem Unkraut entfernen will. Diese

Lebensweise assoziiert er mit Melancholie und Übel. Einen ähnlichen Vergleich findet man in Wladimir Odojewskis Erzählung „Sylphide“. Im Schlusskapitel ist dieses Werk der russischen Spätromantik das Thema der vergleichenden Analyse zwischen den Werken

Eichendorffs, Hoffmanns und Odojewskis.

Die Auserlesenheit der Flora ist eine wichtige Voraussetzung für den idealen Ort, in dem sich der Taugenichts mit Aurelie treffen soll. In seinem neu errichteten Garten fühlt sich der verliebte Mann durch die Außenwelt am stärksten fasziniert und vergleicht seine Geliebte zum ersten Mal mit der Schönheit der Blumen.

Die Rosen waren nun wieder wie ihr Mund, die himmelblauen Winden wie ihre Augen, die schneeweiße Lilie mit ihrem schwermütig gesenkten Köpfchen sah ganz aus wie sie126.

Der Zustand der Phantasie über Aurelie ist augenblicklich und verschwindet so schnell wie der Frühmorgen selbst. Bald „verschwindet beim hellen Tageslichte alles wieder

125 Ebenda. 84. 126 Ebenda. 84. 73 von der Erde127“. Die Gestalt Aurelies erscheint auf der Distanz und bleibt unerreichbar für den Taugenichts. Um den Moment des Treffens mit ihr zu verlängern, muss der junge Mann die Realität zur Phantasie so annähern, dass die Erinnerung an die schöne Dame ihre visuelle

Unterstützung hat. Es ist ein anderer Grund, warum der Taugenichts seinen Garten mit den

Blumenbeeten immer wieder auffüllt.

Unter anderem ermöglicht der aufs neu gestaltete und gleichzeitig romantisierte

Gartenraum die Kommunikation des Taugenichts mit seiner Geliebten, die im Verstand des jungen Mannes ausschließlich mit einer erhöhten Realität assoziiert wird. Das Romantisieren des Alltags wird zu einer notwendigen Voraussetzung für diese Kommunikation, weil seine

Geliebte nicht zum elenden, alltäglichen Dasein gehört, sondern laut des Taugenichts ein

Engel aus der erhabenen Realität ist.

Da geschah es denn oft, dass die schöne Frau mit der Gitarre oder einem Buche in der Ferne wirklich durch den Garten zog, so still, groß und freundlich wie ein Engelsbild, so dass ich nicht recht wusste, ob ich träumte oder wachte128.

Die verschönerten Naturmotive fördern die perfekte, träumerische Stimmung des

Taugenichts.

Ich legte mich an schwülen Nachmittagen auf den Rücken hin, wenn alles so still war, dass man nur die Bienen sumsen hörte, und sah zu, wie über mir die Wolken nach meinem Dorfe zuflogen und die Gräser und Blumen sich hin und her bewegten, und gedachte an die Dame129.

Durch solch eine träumerische Stimmung wird das Wesen eines Taugenichts charakterisiert. Das Träumen von den entfernten besseren Welten und der geliebten Dame krönt den perfekten Alltag solch einer Person wie Taugenichts. In seinem Garten erlebt der

Taugenichts die ersten Zustände der inneren Stille, der höchsten Freude und der grössten

Hoffnung auf seine erfolgreiche Suche. Hier überlegt er seine nächste Wanderung nach

Süden.

127 Ebenda. 137. 128 Ebenda. 71. 129 Ebenda. 70-71. 74

Obwohl der Schlossgarten ein besserer Ort als sein Heimatdorf ist, ist er immerhin kein endgültiges Paradies, in der der Taugenichts sein ganzes Leben verbringen will. Um das

Übel der philisterhaften Lebensweise völlig zu vermeiden, muss der Taugenichts weiter nach dem idealen Ort suchen. So macht sich der junge Mann auf den Weg nach dem exotischen

Italien – dem Land, wo überall anstatt der Kartoffelbeeten die „Pomeranzen wachsen130“.

Im Vergleich zu Hoffmann beschäftigt sich Eichendorff mit der Ausgestaltung des

Handlungsraums viel intensiver. Vor allem bezieht sich der Unterschied zwischen den

Autoren auf ihre Betonung der Farben und Töne. Mit diesen Charakteristika des

Handlungsraums heben die Autoren die Bereiche der Phantasie und der Realität hervor.

Hoffmann zieht klare Grenzen zwischen diesen Bereichen und stellt sie einander gegenüber.

Hoffmann entfernt das Überreale vom Alltäglichen, während Eichendorff seinen

Protagonisten dem Alltag die Züge der Phantasie zuschreiben und zugeben lässt. Damit wird der mystische Charakter den realen Gegenständen verliehen. Sowohl Suche als auch

Gestalten des idealen Ortes bestimmen für den Taugenichts den Sinn des Lebens und werden zum Ziel jedes neuen Tages. Mit der Perfektionierung der umgebenden Realität beschäftigt sich der Protagonist seit der Morgendämmerung, - der Tageszeit, die bereits als optimale

Tageszeit für den Einklang zwischen den romantisierten Erwartungen und der gesehenen idealisierten Realität bezeichnet wurde. Nicht jeder weiß diese Tageszeit hochzuschätzen. In den Szenen der Morgendämmerung erwähnt Eichendorff nur einige Bauern, die während der

Frühmorgenstunden dem Taugenichts begegnen, und Künstler, die in der erwachenden Natur die zauberhafte und höchst inspirierende Kraft finden. In einer solchen Szene besingt der

Maler die Schönheit der Morgenstunden. Er singt so schön wie Waldvögelein, so dass sein

Lied durchs Herz des Taugenichts klingt.

Fliegt der erste Morgenstrahl Durch das stille Nebental,

130 Ebenda. 91. 75

Rauscht erwachend Wald und Hügel: Wer da fliegen kann, nimmt Flügel! Und sein Hütlein in die Luft Wirft der Mensch vor Lust und ruft: Hat Gesang doch auch noch Schwingen, Nun so will ich fröhlich singen!131

Auch während der idyllischen Abendstunden gestaltet, malt und komponiert der verliebte Taugenichts seine eigene Welt der unendlichen Phantasie. Im Zentrum seiner zuerst geträumten und danach erlebten idyllischen Natur- und Landschaftsbilder steht die schöne

Dame.

Nun aber hätt‘ ich was zu sinnen und mich zu freuen. Sie dachte ja noch immer an mich und meine Blumen132.

Die Blumen sollen laut Taugenichts die Aufmerksamkeit seiner Geliebten erwecken und um dieselbe Zeit seine Liebesgefühle vermitteln. Die Liebesgefühle entwicklen sich nur unter idealen Umständen der Außenwelt. So verbringt der Protagonist viel Zeit in seinem

Garten, bis der sich endgültig zu einem paradiesischen Ort verwandelt.

Es war ein stiller schöner Abend und kein Wölkchen am Himmel. Einzelne Sterne traten schon am Firmamente hervor, von weitem rauschte die Donau über die Felder herüber, in den hohen Bäumen im herrschaftlichen Garten neben mir sangen unzählige Vögel lustig durcheinander. Ach, ich war so glücklich!133

Die Besonderheiten der Raumgestaltung sind ganz anders in der Erzählung

Hoffmanns. Es ist offensichtlich, dass Elis sich im Gegensatz zum Taugenichts in der

Atmosphäre des städtischen Gewühls ganz unwohl, verlassen und einsam fühlt. Elis ist ein

„einziger Seemann134“, der sich für den „fröhlichen Zug über die Werften und Vorstädte135“ nicht freut. Er hat sich “fortgeschlichen aus dem Getümmel und draußen einsam auf die Bank hingesetzt136“. Diese Parallele zwischen der Geselligkeit des Taugenichts und der Flucht Elis

131 Ebenda. 104. 132 Ebenda. 84. 133 Ebenda. 84. 134 Hoffmann. 209. 135 Ebenda. 209. 136 Ebenda. 209. 76 aus dem öffentlichen Leben zeigt die Vielfalt der romantischen Suche nach der besseren

Welt. Dieser Unterschied zwischen dem Taugenichts und Elis findet seine Widerspiegelung auch in der Art des Romantisierens, das jeder der Helden verfolgt. Während seiner langen

Wanderung lernt der Taugenichts für seine Phantasien eine praktische Bedeutung zu finden.

Durch seine Phantasien vervollkommnet er den Alltag und verwirklicht auf solche Art und

Weise seine Träume. Seinerseits lehnt Elis die umgebende Welt ab und sieht darin kein

Objekt der Perfektionierung. Elis entfernt sich von der Gesellschaft und vertieft sich in seine

Phantasien.

2.6 Die Rolle der schönen Frau in der Suche nach dem romantischen Ideal:

Eichendorffs Aurelie als Personifizierung des phantasierten Ideals und Hoffmanns

Ulla als Figur der alltäglichen Idylle

Wie bereits erwähnt, dauert die Begegnung mit der schönen Dame nur einen

Augenblick, der durch die Länge des Abends- und Morgengrauens gemessen wird. Die

Erscheinung Aurelies gehört in Eichendorffs Werk zum Bereich der verwirklichten

Phantasie, während Ulla in Hoffmanns Erzählung immer ein Teil der irdischen Realität bleibt. Abgesehen von ihrer strahlenden Schönheit, die besonders in der Szene ihres ersten

Erscheinens fast vergöttert wird, ist ihrem Bild in der Ganzerzählung nur ein leichter

Nachhall des romantischen Traums zugewiesen. In Elis Gedanken wird sie nie zum Objekt des Romantisierens. Ulla ist ein Teil der alltäglichen Idylle. In dieser Idylle sieht sie sich als

Frau von Elis. Ulla versucht ihren Bräutigam sowohl vom bedrohenden Versinken ins jenseitsorientiere, dunkle Reich der Bergwerke als auch vom steigenden Wahnsinn zu retten.

Kurz vor Elis letztem Abstieg in den Stollen “beschwor sie den Geliebten mit heißen Tränen, doch abzustehen von diesem träumerischen Unternehmen137“. Ihre Intuition und ihre

137 Hoffmann. 237. 77

138 Vernunft ahnen ein “großes Unglück “. Ihre Rolle kann als Begleiterin auf der Suche nach dem irdischen Glück und der alltäglichen behaglichen Idylle bezeichnet werden. In ihren

Gedanken und Gefühlen strebt sie nach der Harmonie, die sie vor allem mit dem

Familienglück assoziiert.

Im Gegensatz zu Ulla erfüllt Aurelie in Eichendorffs Roman eine Rolle des phantasierten Objekts. Sie ist immer anwesend in den Gedanken und Träumen des

Taugenichts. Solche Gedanken an Aurelie motivieren Taugenichts aktive Suche nach dem idealen Leben.

Die bestehende, aber nicht inspirierende Liebesbeziehung mit Ulla ist ein anderer

Grund der Flucht Elis aus der Realität ins geheimnisvolle und unheimliche Reich der

Bergwerke. Sowohl in der Familie Dahlsjö als auch in der Gesellschaft der Bergwerkarbeiter fühlt sich Elis einsam. So fühlte er sich auch in seiner unglücklichen Vergangenheit des

Seemanns. In der Elis-Ulla-Beziehung realisiert sich zum Teil Hoffmanns “romantisches

Konzept der Sinn-Leere und Selbstvernichtung mit dem Zynismus zum Bewusstsein der

Vernunft139“. Elis flieht absichtlich von der rationalen, vernünftigen Lebensweise, die zur behaglichen, sicheren und voraussagbaren Zukunft führt. Ulla sorgt für diese Zukunft. Sie bezweifelt nicht die Bedeutsamkeit des jenseitsorientierten Strebens Elis. Sie mag an seine

Ideale glauben. Sie unterstützt ihn in seiner schweren Arbeit des Bergwerkarbeiters und findet seine mutigen Ideen und Gedanken über die Schätze der unterirdischen Welt interessant. Andererseits ist Ulla gegen die introvertierten Zustände ihres Bräutigams, der sein Glück und seine Freude vor allem mit der Welt der Phantasie verbindet und sich dadurch von Ulla entfernt. Hoffmann akzentuiert die über den Gefühlen dominierende Vernunft in

Ullas Weltanschauung. Der Autor verleiht dieser Eigenschaft einen für die Romantik ungewöhnlichen und nicht traditionell positiven Charakter. Nur mit Ullas aktiver Teilnahme

138 Ebenda. 237. 139 D’ Agostini, Maria Enrica. Bis an die Grenzen des Alltäglichen. Das Unheimliche und die Ironie bei E.T.A. Hoffmann und Pirandello. In: Moraldo, Sandro. Das Land der Sehnsucht. Winter, 2002. 55. 78 an seinem Leben bekommt das romantische Streben Elis eine Hoffnung auf die erfolgreiche

Suche nach dem phantasierten Glück. Im Gegensatz zu Ulla lehnt Elis die Vernunft ab, was seine Bestrebungen zur tragischen Auflösung führt.

Im Zusammenhang mit Ullas familienorientierter Weltanschauung ist die Frage zu beantworten, ob auch Eichendorffs Aurelie die Bedeutsamkeit des imaginären Ideals verweigert. Die Antwort auf diese Frage erlaubt schlussendlich, die Rolle der Teilnahme der schönen Frau im Prozess der romantischen Suche des Protagonisten nach dem Ideal zu bestimmen.

Über Eichendorffs Werk kann mit Sicherheit gesagt werden, dass der Erfolg der

Suche nach dem idealen Ort durch die ständige Präsenz des Objekts der Begierde, beziehungsweise der schönen Frau erreicht wird. Dadurch unterscheiden sich die Rollen der schönen Frauen in der Gestaltung der Protagonist-Ideal-Beziehung in Hoffmanns und

Eichendorffs Werk auf eine prinzipielle Art und Weise. Aurelie ist die motivierende Kraft für

Taugenichts Streben nach dem Ideal. Sie setzt die Natur und das Wesen dieses Ideals voraus.

Sie spielt die verbindende Rolle zwischen der Realität und der Phantasie und kann in

Hoffmanns Werk mit der geheimnisvollen Serpentina aus Der goldne Topf verglichen werden. Serpentina ist die Vertreterin der begehrten märchenhaften Welt, und so ist auch

Aurelie. Der nebensächliche Unterschied zwischen diesen Frauen besteht ausschließlich in ihrer wundersamen Verwandlung. In Hoffmanns Werk gewinnt die Phantasie. Aus der grotesken Schlange erscheint die schöne Prinzessin des “geheimnisvollen wunderbaren

Reichs140“. Sie heiratet einen wandernden Taugenichts, namens Anselmus, der auf seinem illusorischen und gefährlichen Weg zum phantasierten Ideal immer beharrlich bleibt. In der zwölften und letzten Vigilie des Romans beschreibt Hoffmann “all die Herrlichkeiten, von

140 Hoffmann. Der goldne Topf. In: Sämtliche Werke. Bd.2. Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1993. 315 (Im folgenden als “Der Goldne Topf” abgekürzt)

79 denen der Anselmus umgeben141“ ist, und die er mit seiner Hartnäckigkeit verdient hat. Die

Träume werden verwirklicht. Der Glaube und die Liebe finden ihre glückliche Fortsetzung im Bereich der verkörperten Phantasie, die Anselmus “für die Heimat erkannte, nach der sich seine von seltsamen Ahnungen erfüllte Brust schon so lange gesehnt hat142”. Im Nachwort freut sich der Erzähler für den Protagonisten und beschwert sich über die Unvollkommenheit seiner eigenen Lage. Der Erzähler „fühlt sich befangen in den Armseligkeiten des kleinlichen

Alltagslebens143”. Seine Klage über den eintönigen Alltag wächst zur schmerzhaften

Verzagtheit.

Ich erkrankte in quälendem Missbehagen, ich schlich umher wie ein Träumender, kurz, ich geriet in jenen Zustand des Studenten Anselmus, den ich dir, günstiger Leser, in der vierten Vigilie beschrieben habe144.

Die emotionale Niedergeschlagenheit des Erzählers erklärt sich durch die

Unmöglichkeit, die Armseligkeit des Alltags zu überwinden. In den Träumen vom glücklichen Leben in Atlantis findet der Erzähler seine Rettung.

Vom Interesse ist Aurelies Unterschied zu Serpentina. Er besteht in ihrer gegenüberliegenden Verwandlung. Aus einem metaphysischen, geheimnisvollen und vor allem unerreichbaren Bild verwandelt sich Aurelie in eine schöne und reale Frau. Fast während der ganzen Handlung betont Eichendorff die geheimnisvolle Natur Aurelies und ihre poetisch-lyrische Bedeutung für die künstlerische Inspiration des Taugenichts. In seinen

Gedanken und Gefühlen ist der Taugenichts immer mit ihrem Bild beschäftigt. In seinem realen Leben ist sie aber von ihm distanziert. Jeder Versuch, sich an Aurelie zu nähren, scheitert in seiner Anfangsphase. Aurelie erscheint meistens in der zauberhaften Zeit der

Abenddämmerung, an der Grenze zwischen einem Tag und dem anderen, der gemeinen

Gegenwart und der idealen Zukunft. Im Schloss bei Wien „setzt sie dem Taugenichts fix eine

141 Ebenda. 316. 142 Ebenda. 315-316. 143 Ebenda. 316. 144 Ebenda. 316. 80

Flasche Wein aufs Fenster und verschwindet sogleich wieder zwischen den Blumen und

Hecken wie eine Eidechse145”. Die Vision dauert nur einen Augenblick und kann nicht verlängert werden, weil der Taugenichts erst ein Lehrling auf dem Bereich der schönen Kunst des Phantasierens ist.

Das Ziel dieser Kunst besteht in der Annäherung der Phantasie an die Realität, mit

Novalis Worten, im Romantisieren der Welt. Wie Elis entschied sich auch der Taugenichts für die lange und gefährliche Wanderung um seine Phantasien zu verwirklichen und die

Harmonie zwischen “sinnlichem und übersinnlichem, individuellem und göttlichem

Glück146” zu finden. Aufgrund dieser Gegenüberstellung unterscheidet sich Aurelie von Ulla dadurch, dass sie für den Taugenichts immer als das Objekt des Ewigen und Göttlichen, während Ulla für Elis als das Objekt des individuellen, sinnlichen Glücks gilt. Der

Taugenichts hat noch nicht die Kunst beherrscht, die gemeine Gegenwart zur Phantasie zu erheben. Die seltenen Augenblicke dieser Phantasie werden mit der Länge des Besuchs der schönen Frau gemessen. Sie erscheint wie ein exotisches Rentier im Dunkel des Alltags und verschwindet fast ohne gesehen zu werden. Der Taugenichts wird von ihrem Besuch inspiriert. Ihr Einfluss auf ihn ist genauso stark wie der Einfluss der entfaltenden

Frühlingsnatur, die in sich die meisten Züge der idyllischen Atmosphäre enthält. Mit der

Erscheinung Aurelies wird der Taugenichts weniger nachdenklich und viel mehr extrovertiert. Seine Bereitschaft, die gegebene Realität zu genießen und zu schätzen, ersetzt die Unzufriedenheit mit dem eintönigen Alltag des Außenseiters. Die extrovertierten

Emotionen, darunter die wachrufende Freude und der lebensbestätigende Schwung halten in seinem Gemütszustand noch lange Zeit, nachdem Aurelie gegangen ist.

Ich aber stand noch lange vor der wundersamen Flasche und wusste nicht, wie mir geschehen war. Und hatte ich vorher lustig die Geige gestrichen, so spielt und sang ich jetzt erst recht und sang das Lied von der schönen Frau ganz aus

145 Eichendorff. 71. 146 Karl. 72. 81

und alle meine Lieder, die ich nur wusste, bis alle Nachtigallen draußen erwachten und Mond und Sterne schon lange über dem Garten standen. Ja, das war einmal eine gute, schöne Nacht!147

Damit hängt die Dynamik der romantischen Suche mit Taugenichts innerer

Motivation zusammen, die ihrerseits durch die Gedanken, Bilder und Liebesgefühle an

Aurelie verstärkt wird. Die seelische und künstlerische Kraft des Protagonisten findet ihren

Ursprung in der Realität und nicht in der imaginären Welt, auf die sich Elis Hoffnungen und

Glaube ans glückliche Leben richten.

2.7 Die Intensivierung der Gefühle und Empfindungen als Vorbereitung auf

das Erlebnis der erhabenen Phantasie

Sowohl die Dynamik als auch die Intensität der dargestellten Gefühle und inneren

Zustände sind im Roman Eichendorffs von großem Interesse. Im engen Zusammenhang mit der Qualität und der Quantität der vom Protagonisten erlebten Zustände stehen die

Charakteristika der romantischen Suche nach dem Ideal. Die erlebten Zustände dienen im

Werk zur Veranschaulichung des feinen Übergangs vom Bereich des Realen in den Bereich des Phantastischen. Die Intensivierung der Gefühle zeugt von der Bereitschaft des

Taugenichts die Realität zu romantisieren. Die Motive der Phantasie werden von einem

Wechsel der Emotionen des Protagonisten begleitet. Als Beispiel eines solchen Wechsels gilt die schon erwähnte Szene von Taugenichts Spaziergang in Rom.

In dieser Szene erfährt der junge Mann von der Ankunft Aurelies in der Stadt. Alle seine Gedanken und Gefühle sind ab jetzt nur mit Aurelie beschäftigt. Die fröhliche

Nachricht und die damit verbundene Hoffnung auf das Treffen mit der Geliebten bringen den

Taugenichts aus dem Zustand des passiven Flaneurs heraus und bewegen ihn zum aktiven

Handeln. Mit der Entfaltung der Gefühle ändert sich seine ganze Empfindung der ihn umgebenden Realität. Aus einem stillen, monotonen Ort wächst Rom zu einer

147 Eichendorff. 71-72. 82 schwungvollen, prächtigen und zauberhaften Hauptstadt, die in der “frischen

Morgenkühle148“ das Wonnegefühl erweckt. Auf seinem Weg zum Haus, wohin Aurelie vermutlich eingezogen ist, wird der Taugenichts durch das plötzlich entstandene Gewühl der

Stadt fasziniert und verzaubert.

Ich lief mit großer Eilfertigkeit durch die Stadt, um mich sogleich wieder in dem Gartenhause zu melden, wo die schöne Frau gestern Abend gesungen hatte. Auf den Straßen war unterdes alles lebendig geworden, Herren und Damen zogen im Sonnenschein und neigten sich und grüßten bunt durcheinander, prächtige Karossen rasselten dazwischen, und von allen Türmen läutete es zur Messe, dass die Klänge über dem Gewühl wunderbar in der klaren Luft durcheinander hallten149.

Die Beschreibung der Messe am Ende des Zitats ist ein anderes Zeugnis der starken

Faszination mit der schwunghaften Stadtatmosphäre. Im Kontext des für die Romantik engen semantischen Zusammenhangs zwischen dem Göttlichen, dem Religiösen und dem

Erhabenen verbinden sich in der Szene diese Kategorien durch die himmlische Transparenz der Luft und die Klänge der kirchlichen Glocken. Die vom Taugenichts erlebten seelischen

Zustände beziehen sich sowohl auf die religiös geprägte Wonne als auch auf das Erlebnis der geträumten Phantasie. Die außergewöhnliche Atmosphäre der Harmonie bringt den

Taugenichts aus seiner kontemplativen Gelassenheit heraus. Der Raum, die Sicht und die

Akustik ziehen im Werk die Grenzen zwischen dem Gemeinen und dem Erhabenen.

Die Stärke des romantischen Protagonisten besteht in der Fähigkeit, mit der Realität so umgehen zu können, dass dem “Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen150“ gegeben wird. Die Annäherung der Realität zur Phantasie gelingt dem Taugenichts in vollem Maß und bleibt ein unerfüllter Wunsch für Elis.

Die Werke Hoffmanns und Eichendorffs zeigen, dass die intensivierten psychologischen Zustände sowohl konstruktiv als auch destruktiv sein können. Seiner

Bedeutung nach unterscheiden sich die Gemütszustände in Bergwerke zu Falun von deren in

148 Eichendorff. 135. 149 Ebenda. 136-137. 150 Novalis. 52. 83

Eichendorffs Roman gerade durch den negativen Charakter der emotionalen Besessenheit

Elis. Während Hoffmanns Protagonist in seinen halluzinierenden Zuständen zur

Identitätskrise kommt und folglich den tragischen Tod nicht vermeiden kann, scheint der

Taugenichts dank seiner verschärften Empfindsamkeit und Feinfühligkeit sein Glück gefunden zu haben. Diese Wahrnehmungscharakteristika befinden sich im Einklang mit dem

Kunstgefühl und der Fähigkeit, die Realität zu poetisieren.

Begeistert von den Gedanken über die zauberhaften Länder, verlässt der Taugenichts jeweils die ihm fremd werdende Realität – sein Heimatdorf, das Schloss nahe Wien, Rom und andere Orte – um seine Phantasien unter den neuen Landschaften und Städten immer wieder zu beleben. Damit spiegelt sich die innere Welt im Betrachten der äußeren Welt wider. Der enge harmonievolle Zusammenhang zwischen dem Inneren und der Umwelt findet seine

Bestätigung in den zahlreichen Vergleichen und Metaphern der Natur, die Eichendorff nicht nur im Aus dem Leben eines Taugenichts sondern auch in seinen anderen Werken aktiv als

Widerspiegelung des Gemüts benutzt.

Ein Beispiel davon drückt sich in der Beschreibung der inneren Welt Fräuleins Julie in Ahnung und Gegenwart (1815) aus und wird mit der ermunternden und lebensbestätigenden Kraft des beginnenden Frühlings verglichen. Julies “beständige

Heiterkeit und Klarheit des Gemüts” strahlt einen “unwiderstehlichen Frühling über ihr ganzes Wesen151”. Diese Definition der inneren Ermunterung und ihrer Symbolisierung im

Bild des Frühlings benutzt Sabine Karl in ihrem Buch Unendliche Frühlingssehnsucht.

Das tertium comparationis „erbaut“ vergegenwärtigt den Frühling als Erhebungsweise der Seele. Die junge Jahreszeit symbolisiert den Seelenaufschwung als auf die innere Verfassung des Menschen bezogene Form des Vermittlungsprozesses. “Heiterkeit” und “Klarheit” des Gemüts bezeichnen ein Leben in stillem Einvernehmen mit sich und Gott, Seelenharmonie im Bewusstsein der Gottkindschaft: einen beglückenden

151 Eichendorff, Joseph von. Ahnung und Gegenwart. In: Werke. München: Carl Hanser, 1959. 606. 84

Seelenaufschwung, welchem Eichendorff durch den “unwiderstehlichen Frühling” bildlichen Ausdruck verleiht152.

Der Taugenichts beginnt seine Wanderung auch mit den ersten Zügen des erwachenden Frühlings. Die Wahrnehmung der Umwelt bekommt in dieser Jahreszeit ihre neue Kraft, die Taugenichts Aufmerksamkeit vom voraussagbaren Alltag am Bauernhof seines Vaters auf das abenteuerliche Leben eines Wanderers überträgt. Im nachfolgenden

Wandern entwickelt der junge Mann seine Fähigkeiten den Alltag zu romantisieren und den gewöhnlichen Naturszenen einen zauberhaften Charakter zu verleihen.

Abhängig von der Wahrnemungsperspektive sieht der Protagonist in der umgebenden

Natur unterschiedliche Motive. Die Zustände der Einsamkeit finden ihre Widerspiegelung in der gruseligen Dunkelheit des “wüsten Gebirges“, während die Freude und die innere

Begeisterung ihren Nachhall im glänzenden und funkelnden Meer der untergehenden Sonne bekommen.

Das wollte mir gar nicht in den Sinn, denn die Landstraße lief gerade durch eine prächtige Landschaft auf die untergehende Sonne zu, wohl wie in ein Meer von Glanz und Funken. Von der Seite aber, wohin wir uns gewendet hatten, lag ein wüstes Gebirge vor uns mit grauen Schluchten, zwischen denen es schon lange dunkel geworden war. Je weiter wir fuhren, je wilder und einsamer wurde die Gegend. Endlich kam der Mond hinter den Wolken hervor und schien auf einmal so hell zwischen die Bäume und Felsen herein, dass es ordentlich grauslich anzusehen war153.

Im Vergleich zu Elis, der auf der Suche nach seinem Glück zur langen Wanderung in den fremden, mysteriösen Regionen gezwungen ist, entfernt sich der Taugenichts absichtlich von den monotonen, deprimierenden Umständen des philiströsen Lebens zuerst im

Heimatdorf, dann im Schloss, und sucht präzise nach der künstlerisch engagierten

Atmosphäre und den Intellektuellen, mit denen er seine Ziele und Ansichten über den Sinn des Lebens besprechen kann.

152 Karl. 67. 153 Eichendorff. 112. 85

Leonhard und Guido sind solche Intellektuellen - zwei Maler, die dem Taugenichts auf seiner Reise nach Italien begegnen. Leonhard und Guido sind für den Taugenichts nicht nur zufällige Gefährten, sondern auch echte Freunde und Berater in den Themen der künstlerischen Emanzipierung und der geistigen Aufklärung. Ihre Teilnahme am Leben des

Taugenichts fängt mit der pragmatischen, alltäglichen Hilfe an. Davon zeugt die Szene des amüsanten Picknicks.

Darauf holten sie von ihren Pferden Kuchen, Braten und Weinflaschen, breiteten eine schöne bunte Decke auf dem grünen Rasen aus, streckten sich darüber hin und schmausten sehr vergnüglich, teilten auch mir von allem sehr reichlich mit, was mir gar wohl bekam, da ich seit einigen Tagen schon nicht mehr vernünftig gespeist hatte154.

Während der Taugenichts immer mehr Menschen kennenlernt, die seine Freunde werden, bleibt Elis einsam auch in der Faluner Gemeinde, in der Elis seine Liebe, seine

Familie und sein Zuhause findet.

2.8 Die Wechselwirkung des Mystischen und des Alltäglichen

Die Werke Hoffmanns und Eichendorffs unterscheiden sich durch solche traditionellen, romantischen Gegenüberstellungen wie Wirklichkeit-Phantasie, Wahrheit-

Illusion und Verstand-Gefühl. Im Fall Hoffmanns sind diese Charakteristika verallgemeinernd und symbolisch. Im Gegensatz zu Hoffmann stellt Eichendorff diese

Motive ins Zentrum seiner Abbildung der Realität und lässt seinen Protagonisten nach den

Antworten auf allerlei Fragen der romantischen Dialektik suchen.

Der Taugenichts versucht nicht die Grenzen des Alltags zu überschreiten. Im

Gegenteil ist die triviale Realität ein Teil der verwirklichten Phantasie. Mit seinem tätigen

Streben nach dem Lebensglück konstruiert der Taugenichts seine Zukunft selbst und lässt keinen Raum für die Stimmungen, die durch Schicksal geprägt sind. Seine Weltanschauung entspricht dem aufklärerischen Ideenprinzip, unter anderem Goethes Konzept des aktiven und

154 Ebenda. 103. 86 tätigen Lebens. Dieselbe Idee betont auch Novalis These. Der Autor sagt, dass das Leben grundsätzlich von unserem eigenen Willen abhängt und von uns selbst ähnlich einem

Kunstwerk komponiert werden kann.

Wer das Leben anders, als eine sich selbst vernichtende Illusion, ansieht, ist noch selbst im Leben befangen. Das Leben soll ein von uns gemachter Roman sein155.

Das Leben laut konventioneller Vorschriften ist dem Philistertum eigen und nicht dem romantischen Helden, der sich als Künstler bezeichnet. Mit diesen Worten macht Novalis den

Künstler für die Gestaltung seiner umgebenden Welt verantwortlich. Diese Welt kann laut

Novalis Ansichten über die höheren Ideale mit Hilfe des aufklärerischen höchsttätigen

Strebens aus einer metaphysischen Phantasie in die perfekte Realität transformiert werden.

In seinem Werk schildert Eichendorff die erfolgreiche Bilanz zwischen dem Realen und dem Phantastischen, dem Alltäglichen und dem Poetischen, dem Rationalen und dem

Kreativen. Damit folgt er einer der grundlegenden Thesen Novalis. Die ursprünglich gegenübergestellten Begriffe beginnen in der künstlerischen Weltanschauung des romantischen Protagonisten zusammenzuwirken. In seiner These über die Wichtigkeit des

Romantisierens sagt Novalis.

Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarithmisiert – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung156.

Wie im Zitat Novalis gibt der Taugenichts dem Gemeinen einen hohen Sinn, so dass die alltäglichen Szenen und Gegenstände einen neuen Inhalt und einen erhöhten Wert bekommen. Damit entfernt sich der Protagonist jedes Mal von der banalen und

155 Novalis. 52. 156 Ebenda. 52. 87 selbstverständlichen Wirklichkeit und kreiert aus dieser Wirklichkeit einen neuen Raum, in dem das Mystische und das Zauberhafte in den Vordergrund gestellt werden.

Ein einschlägiges Beispiel dafür ist die Szene des unerwarteten und abschiedslosen

Verschwindens der Maler Leonhard und Guido, die auf der Reise nach Italien den

Taugenichts begleiten. Von der plötzlichen Abreise seiner Freunde erfährt der Taugenichts von einer Magd, die in der Bedienung des Gasthauses tätig ist. Ihre aufgeregte Erzählung verleiht der alltäglichen Szene einen mystischen Charakter. Ihre Beschreibung des geheinmisvollen Ereignisses entspricht der romantisierenden Realitätswahrnehmung des

Taugenichts. Der junge Mann glaubt sofort an den phantasievollen Bericht der Magd. In diesem Bericht erzählt die erschrockene Frau davon, wie sie unter dem Mondschein in den mysteriösen Figuren die Gespenster sah. Einer von ihnen galoppierte sogar auf einem dreibeinigen Ross.

Als sie hernach in der Nacht einmal aufwachte, hörte sie draußen Pferdegetrappel. Sie guckte durch das kleine Kammerfenster und sah den buckligen Signor, der gestern mit mir so viel gesprochen hatte, auf einem Schimmel im Mondschein quer übers Feld galoppieren, dass er immer ellenhoch überm Sattel in die Höhe flog und die Magd sich bekreuzte, weil es aussah wie ein Gespenst, das auf einem dreibeinigen Pferde reitet. Da wusst’ ich gar nicht, was ich machen sollte157.

In diesem Beispiel findet die Übertragung der phantastischen Bilder auf den realen

Alltag statt. Die Magd verwechselt die plötzlich abreisenden Maler mit den Gespenstern.

Während diese Vision für sie ein Resultat des Schreckens ist, legt der Taugenichts dem mystischen Charakter der Erzählung großes Gewicht bei, weil er die Realität absichtlich romantisiert. So wird im literarischen Werk Eichendorffs die These Novalis über das

Romantisieren des Lebens verkörpert. Die Hervorhebung von dem Unbekannten und dem

Mystischen ist in seinem Zitat besonders interessant.

157 Eichendorff. 110-111. 88

Die Auffassung des Unendlichen und des Unbekannten befindet sich in enger

Verbindung mit der Psychologie. Nur unter den bestimmten Gefühls- und

Wahrnehmungszuständen kann die Phantasie verkörpert werden. Gotthilf Schuberts These bestätigt, dass gewisse Naturgegenstände mit Hilfe der seelischen Sprache präziser als mit

Hilfe des Denkens gemessen werden.

Gewisse Naturgegenstände oder Eigenschaften der Dinge, bedeuten jetzt (in einem Zustande des Deliriums, der meist vor dem Einschlafen vorhergeht) auf einmal Personen und umgekehrt, stellen sich uns gewisse Eigenschaften oder Handlungen, unter dem Bilde von Personen dar. Solange die Seele diese Sprache redet, folgen ihre Ideen einem andern Gesetz der Assoziation als gewöhnlich, und es ist nicht zu leugnen, dass jene neue Ideenverbindung einen viel rapideren, geisterhafteren und kürzeren Gang oder Flug nimmt, als die des wachen Zustandes, wo wir mehr mit unseren Worten denken158.

So ist auch die Sprache des Taugenichts, der seiner Wahrnehmung der

Naturgegenstände und menschlicher Figuren einen rapideren Flug gibt, so dass die gewöhnlichen Dinge die ungewöhnlichen Silhouetten und die bekannten Menschen einen mysteriösen Schein bekommen. Schuberts Idee steht ihrer Bedeutung nach nah der These

Novalis über das Romantisieren der Welt. Dank seiner hoch stilisierten Sprache gelingt es

Eichendorff die “einmal unendliche Einheit, das umgreifende Ganze und damit Vision der

Vollendung, und andererseits unaufhörlichen Wandel und damit zugleich Unabschließbarkeit des Perspektivenwechsels im menschlichen Begreifen159” zu schildern.

2.9 Die Phantasie als Befreiung vom Alltäglichen

Die Phantasie ist ein kreativer Weg, sich von den Fesseln des Alltags zu befreien. Die

Protagonisten Hoffmanns und Eichendorffs begeben sich am Anfang jeder Geschichte auf den Weg, um der unausstehlichen umgebenden Realität und der “tiefen, wilden Einsamkeit, in die man sich verloren geglaubt160“, zu entfliehen. Das Streben nach dem Wechsel der

158 Schubert, Gotthilf. Die Sprache des Traumes. In: Theorie der Romantik. 120 159 Osterkamp, Ernst. Unendlichkeit. Über die Bedeutung eines Begriffs im Briefwechsel Caroline und Wilhelm Humboldts. In: Müller-Tamm, Jutta. Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Freiburg: Rombach, 2004. 184. 160 Hoffmann. 212. 89

Umgebung ist sowohl ein Resultat des rationalen Überlegens als auch ein Resultat des inneren Triebs, der, von einem Befreiungswunsch von der tiefen Einsamkeit und der inneren

Unzufriedenheit verursacht und von einem angenehmen Gefühl des positiven erlebten Neuen begleitet wird. „Eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher eingefallen, auf Reisen zu gehen161” – sagt Eichendorffs Protagonist.

Die umgebende Realität ist in beiden Werken ein problemhafter Bereich. Anstatt sich mit der Realität zu identifizieren, entzweit sich der Protagonist Hoffmanns mit ihr. Die erfolgreiche Übereinstimmung mit der Realität gelingt nur dem Taugenichts, während Elis

Entzweiung die Misserfolge in jedem seiner guten Abischten verursacht. Ein anderes Beispiel für die erlebten Zustände der inneren Unzufriedenheit mit der Realität ist der folgende

Auszug aus den Gefühlen und Gedanken Elis.

Nun war es, als flüstre eine unbekannte Stimme ihm unaufhörlich ins Ohr: Was willst du noch hier? – fort! – fort! – in den Bergwerken zu Falun ist deine Heimat. – Da geht alle Herrlichkeit dir auf, von der du geträumt – fort, fort nach Falun!162

In der Szene Hoffmanns handelt es sich um einen Missklang zwischen dem

Protagonisten und der Gesellschaft, in der er sich als Außenseiter charakterisiert. In seiner

Entzweiung mit der Gegenwart orientiert sich Elis nicht auf die Einheit mit der Außenwelt.

Seine Flucht aus der Realität hat einen übertriebenen Charakter. Die völlige Ignoranz der

Menschen fördert das unvermeidliche Vertiefen in solche Entgrenzungszustände wie Ich-

Losigkeit, Einsamkeit und „totales Zerfließen zur Aufhebung des Ichs163”. Als Resultat der psychologischen Entzweiung entstehen mehrere Angstgefühle.

Die Zurückgezogenheit des Protagonisten in sich selbst befreit ihn von den Ängsten.

Jeder der Protagonisten hat seine rettenden Träume. Während des Träumens der Goldader entflieht Elis seiner eifersüchtigen Unruhe. Der Taugenichts konzentriert sich in seinen

161 Eichendorff. 66. 162 Hoffmann. 219. 163 Tarnowski-Seidel. 35. 90

Träumen auf Aurelie. Die umgebende Welt blüht in ihrer farbigen Prächtigkeit, die mit der

Erscheinung der schönen Dame ihren erhabenen Höhepunkt erreicht.

Da träumte mir, als käme diese schöne Frau aus der prächtigen Gegend unten zu mir gegangen oder eigentlich langsam geflogen zwischen den Glockenklängen, mit langen weißen Schleiern, die im Morgenrote wehten164.

Das Phantasieren des Taugenichts behält die konstante Beziehung zur Realität. Die

Erscheinung der schönen Dame wird durch den Orgelklang begleitet. Die zwischen Realität und Phantasie kontrastierenden Bilder zeugen von der verwirklichten Vereinigung dieser

Bereiche.

In Hoffmanns Bergwerke zu Falun findet solche Vereinigung des Wirklichen und des

Imaginären in der Szene der ersten Erscheinung Ullas statt. Für Elis und die Bergwerkarbeiter ist ihre Schönheit überirdisch.

Selbst den ältesten Bergleuten funkelten die Augen, als Ulla ihnen so wie allen übrigen die Hand bot zum freundlichen Gruß165.

Wie bei Eichendorff steigt auch in dieser Szene die Intensität des Spiels zwischen der

Wirklichkeit und der Phantasie. Hoffmann benutzt die stilistischen Figuren, die den Eindruck der verwirklichten Phantasie verstärken.

Dann brachte sie schöne silberne Krüge, schenkte treffliches Aehl, wie es denn in Falun bereitet wird, ein, und reichte es dar den frohen Gästen, indem aller Himmelglanz der unschuldsvollsten Unbefangenheit ihr holdes Antlitz überstrahlte166.

Das in Falun jedem bekannte, alltägliche Aehl wird von der irreal schönen Dame gebracht. Der allegorische Vergleich hebt ihr „holdes Antlitz“ hervor, das im Vergleich zum erhaben erschreckenden Antlitz der Bergkönigin den „Himmelglanz“ ausstrahlt. Einerseits bleibt die Beschreibung Ullas im Rahmen der Realität. Andererseits tritt die Wahrnehmung

äußerer Gegebenheiten” – einschließlich Ullas – „gegenüber den Phantasien in den

164 Eichendorff. 92-93. 165 Hoffmann. 223. 166 Ebenda. 233. 91

Hintergrund167“. Die Wechselwirkung entwickelt sich vom Realen in Richtung Phantasie. Sie bricht hingegen keine Grenzen des Realen und stimmt begrifflich mit den Gegenständen der

Alltäglichkeit überein.

Ulla repräsentiert für Elis die Phantasie. Der junge Mann befreit sich von seinen

Ängsten und entfernt sich sogar von den Gedanken über die unglückliche Vergangenheit. Mit

Ulla vergisst er für einen Augenblick die imaginären unterirdischen Schätze, von denen er geträumt hat. Das Bild Ullas erfüllt seine Seele und seine innere Welt.

So wie Elis Fröbom die Jungfrau erblickte, war es ihm, als schlüge ein Blitz durch sein Inneres und entflammte alle Himmelslust, allen Liebesschmerz – alle Inbrust die in ihm verschlossen168.

Während dieses Augenblicks stimmt die Realität mit der Phantasie überein.

167 Würker, Achim. Das Verhängnis der Wünsche. Frankfurt/ Main: Fischer Taschenbuch, 1993. 33-34. 168 Hoffmann. 223. 92

3. Die Beziehung zur Wirklichkeit und ihre Rolle im Leben des romantischen

Protagonisten

Das von Eichendorff und Hoffmann benutzte Motiv der Flucht aus der Wirklichkeit, - und unter anderem aus der heiligen Heimat, hat einen seiner Gründe in den Unterschieden der

Lebensauffassungen zwischen den Protagonisten und ihrer Umwelt. Letztere wiederspiegelt sich nicht nur in der antagonistischen Gesellschaft, sondern auch in der Lebensordnung, die gleichzeitig ihren Gesetzen untergeordnet ist, aber der angestrebten perfekten Welt der romantisierenden Protagonisten nicht entsprechen kann. Die Definition dieser Umwelt als einer umstrittenen Realität findet ihre Bestätigung in mehreren Werken der Romantik. Die

Hauptkritik der in Zweifel gezogenen gesellschaftlichen Ordnung richtet sich auf die

übertriebene Instrumentalisierung der Vernunft und die Aufforderung ‘sei vernünftig’169, die dem durch Wahnsinn, Phantasie und Leidenschaft artikulierten Verhalten der Hauptfiguren

Hoffmanns und Eichendorffs vom sozialen Umfeld gegenübergestellt wird.

Anfänglich mit der Kritik des philiströsen Milieus richten sich die literarischen

Gedanken und Konzepte solcher Autoren wie Hoffmann und Eichendorff auf die an

Harmonie mangelnde innere Welt des Menschen, unter anderem auf die verwegene Suche nach der innerlichen Zufriedenheit mit sich selbst und der umgebenden Realität. Das

Akzeptieren der gegebenen Wirklichkeit ist ein widersprüchlicher Prozess, in dem der typische Protagonist aus Hoffmanns und Eichendorffs Werken auf die Probe gestellt wird, vor allem in seiner Fähigkeit, sich auf den aktuellen Alltag konzentrieren zu können und die gestiegene verhängnisvolle Distanz zwischen sich und der Umwelt zu reduzieren. Als

Merkmal von mangelndem Realitätsgefühl fangen die Protagonisten ihre lange Suche nach dem Lebensglück im Zustand der tiefen Einsamkeit an und verbinden diese Suche mit den neuen, weit entfernten Welten.

169 Denneler. 128-129. 93

Sowohl Hoffmann als auch Eichendorff bezeichnen ihre zentralen Figuren als gesellschaftliche Außenseiter und unterscheiden ihre Weltanschauung von derjenigen, die in der Gesellschaft als positiv, anständig und lobenswürdig charakterisiert wird. Also kennzeichnet sich die soziale Lebenseinstellung solcher Figuren wie Elis und Taugenichts als eine, die den traditionellen Normen und Erwartungen der Gesellschaft widerspricht. Unter den erwarteten Fähigkeiten sind nicht nur solche pragmatische Tugenden wie Fleiß und

Ordentlichkeit, sondern auch solche menschlichen Grundtugenden wie guter Wille, Glaube und Mäßigung zu erwähnen. Die Kombination dieser Qualitäten und der leidenschaftlichen, harmonievollen Individualität macht die Suche nach dem angestrebten Glück für die Helden optimistisch und erfolgreich. Im Gegensatz erschwert der Mangel an sozialen und menschlichen Qualitäten die Erfüllung der verfolgten Ziele. Die Werke Hoffmanns und

Eichendorffs formen zusammen ein ausreichendes Beispiel für die Interpretation der beiden glücklichen und unglücklichen Lebenswege. Diese Werke gelten in der gemeinsamen

Analyse der Wirklichkeit-Protagonist-Beziehung als literarische Beweise dafür, dass der

Erfolg im Erlangen der angestrebten Ziele, zum Beispiel solcher wie Selbstverwirklichung und geistige Erfüllung, nur unter der gegründeten und unterstützten Beziehung zur

Wirklichkeit möglich ist.

Während die Charakteristik des Einsiedlers und des einsamen Wanderers apriori keine negative Konnotation enthält, führen die intensive Verschlossenheit und die Ungeselligkeit zum endgültigen Verlust des Realitätsgefühls. Das Letztere verursacht das Scheitern des lebenswichtigen Strebens nach der Harmonie mit sich und der Außenwelt. Öfters werden die

Misserfolge der Protagonisten durch ihre verlorene Beziehung zu der Gesellschaft, dem

Umfeld und letztendlich der Wirklichkeit begleitet. Die im folgenden zu besprechenden

Beispiele aus den Texten Bergwerke zu Falun und Aus dem Leben eines Taugenichts bestätigen die ursprüngliche Außenseiterposition der beiden Figuren und demonstrieren

94 sowohl ihre Versuche, sich der umgebenden Wirklichkeit anzupassen, als auch ihre

Absichten, sich von der Wirklichkeit als Quelle des Leidens und des Unglücks zu entfernen.

3.1 Die verlorene Heimat und die Gegenwart

Hoffmann und Eichendorff beginnen ihre Geschichten mit der Darstellung der sozial- kulturellen Räume, in denen Elis und der Taugenichts aufgewachsen sind. Am Anfang jeder der Geschichten wird es offensichtlich, dass sich weder Elis noch der Taugenichts in

Übereinstimmung mit ihrer heimatlichen Welt befinden. Die beiden Protagonisten kehren auch nie in ihre Heimat zurück und erinnern sich daran erst in den seltenen Fällen. Es ist fraglich, warum der Begriff der sonst heiligen Heimat in Bergwerke zu Falun und Aus dem

Leben eines Taugenichts eine sekundäre Bedeutung erhält. Die andere Frage bezieht sich unmittelbar auf die Bedeutung der Heimat als eines Bestandteils der Wirklichkeit.

Um die Stelle der Heimat im Kontext des Wirklichkeit-Phantasie-Verhältnisses zu bestimmen, bringe ich zur Unterstützung der Analyse dieser Beziehung den Begriff der geistigen Gegenwart Novalis. Die aktuelle literarisch-historische Perspektive benutzt oft

Novalis Konzept als eine der Interpretationen der dichterischen, beziehungsweise, künstlerischen Auffassung der Zeit und des Raums im Werk der Romantik. „‚Geistige

Gegenwart’ is the central concept of Novalis’s poetics, and his poetic world-view170”.

Gleichzeitig wird sie als zentrales Konzept der poetischen Philosophie der deutschen

Romantik bezeichnet. „It is the central concept of the poetic philosophy of German

Romanticism171”. Für meine Analyse solch eines konkreten Begriffs der Wirklichkeit wie

Heimat ist die Definition Novalis wichtig, weil ihre Rolle von der Perspektive sowohl des

Lebens der Protagonisten als auch ihrer künstlerischen Lebenswahrnehmung auf das

Hauptthema der Wirklichkeit-Phantasie projiziert werden kann. Einerseits unterstützen

170 Saul, Nicholas. Novalis’s „Geistige Gegenwart“ and His Essay „Die Christenheit oder Europa“. In: The Modern Language Review, 1982. 361-377. 362. 171 Ebenda. 362. 95

Hoffmann und Eichendorff die von Novalis hervorgehobene Bedeutsamkeit der aktuellen, alltäglichen Gegenwart.

For Novalis, the ‚everyday present‘, or texture of everyday experience, is characterized by the discontinuous or ‘crystalline’ links between past, present, and future time172.

Also kann die Bedeutsamkeit solcher Begriffe wie Familie und Heimat als

Verbindungskomponente im Kontext des Zeitraums nicht unterschätzt werden. Sie bekommen ihre wesentliche Bedeutung in Bergwerke zu Falun und Aus dem Leben eines

Taugenichts. Andererseits wird zum wichtigen Thema in den Werken Hoffmanns und

Eichendorffs die erwähnte ‘geistige Gegenwart‘ als alternatives Konzept der Wahrnehmung des Zeitraums.

It is a sphere of spiritual presence, in which the apparent discontinuity between the three realms of temporal experience is unified into an inner fluidity or continuity173.

Es ist fraglich, ob solche Figuren wie Elis und Taugenichts nach der geistigen

Erhabenheit streben, um damit die unterbrochene Kontinuität zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft wiederherzustellen. Da die Schlussdefiniton der ‘geistigen

Gegenwart‘ als Element des Künstlers bezeichnet wird, - so N. Saul, „the timeless dimension is the poet’s element174“, - ist die letzte Frage im Bereich des romantischen Zeitraums zu beantworten: Inwiefern können die Figuren Elis und des Taugenichts als Künstler bezeichnet werden und damit die innerliche Ruhe im von der Zeit und der Wirklichkeit unabhängigen poetischen Phantasieren und im seelischen Wahrnehmen der Umwelt finden?

In unzähligen Beispielen romantischer Werke wird die Heimat als etwas Ersehnliches, als etwas Unabdingbares und Bedingloses gesehen. Eins davon ist Novalis im Schlussgedicht seines bedeutendsten Gedichtzyklus Hymnen an die Nacht (1800), wo er das Traumbild der

Heimat besingt und die Wichtigkeit der endgültigen Rückkehr des Wanderers nach Hause

172 Ebenda. 362. 173 Ebenda. 362. 174 Ebenda. 362. 96 betont. Er schließt seine Dichtung mit der Zeile über die enge Beziehung zur Familie ab, ausgedrückt durch die symbolische Bedeutung des “Vaters Schosses“.

Mit banger Sehnsucht sehn wir sie In dunkle Nacht gehüllet, In dieser Zeitlichkeit wird nie Der heiße Durst gestillet. Wir müssen nach der Heimat gehn, Um diese heil'ge Zeit zu sehn.

Hinunter zu der süßen Braut, Zu Jesus, dem Geliebten - Getrost, die Abenddämmrung graut Den Liebenden, Betrübten. Ein Traum bricht unsre Banden los Und senkt uns in des Vaters Schoss175.

Es ist eines der mehreren Beispiele der unverhüllten Bewunderung der Heimat. Das

Gedicht ist für die vorliegende Analyse besonders interessant, weil es auf die Wichtigkeit der

Rückkehr zur verlassenen oder verlorenen Heimat hinweist. Diese erwünschte tatsächliche oder gedankliche Rückkehr zeugt von der Angehörigkeit des Menschen zur wertvollen

Wirklichkeit. Die ersten Merkmale solcher Angehörigkeit kennzeichnen sich durch die Liebe,

Sehnsucht und die mehreren Erinnerungen an das heimatliche Dasein. Die Sehnsucht nach den heiligen Zeiten zu Hause geht aus einem Werk der Romantik ins Andere als beliebtes

Motiv der inneren Reflexionszustände. Wie im Gedicht Novalis findet man die ähnlichen begeisterten Ausdrücke und Bilder der Heimat im Schaffen Hoffmanns und Eichendorffs.

Im Gegensatz dazu bekommt man in den ersten Zeilen von Eichendorffs Roman den

Eindruck, dass das Thema der Heimat kaum ein wesentlicher Bestandteil aus dem Leben des

Protagonisten ist. Der Taugenichts flieht aus seinem Heimatdorf, weil er keine Angehörigkeit zum Landgut seines Vaters spürt. Vor allem geht es um seine Ablehnung der Enge der ländlichen Traditionen und der alltäglichen Ordnung auf dem Bauernhof. In seiner

Beschreibung dieser Ordnung beschränkt sich Eichendorff nur auf eine Textseite und macht

175 Novalis. Hymnen an die Nacht. In: Novalis Schriften. Band 1. Stuttgart: Kohlhammer, 1960. 155-156. 97 damit mit den wenigen symbolischen, doch eindeutigen Charakteristika klar, dass

Taugenichts Vater von seinem Sohn kaum begeistert ist und vergebens seine Bereitschaft erwartet, das Familiengeschäft zu übernehmen und das “ökonomische

Nützlichkeitsstreben176“ tüchtig zu demonstrieren. Das unentwickelte und nicht angeborene

Interesse fürs Leben am Bauernhof und die offensichtlichen Auseinandersetzungen mit der

Dorfbevölkerung gelten als die ursprünglichen Ursachen der unvermeidlichen Flucht des

Taugenichts aus dem Heimatdorf.

Im Zusammenhang mit der Atmosphäre des heimatlichen Daseins ist es von

Bedeutung, die Charakteristika solchen Daseins im Roman Eichendorffs und in der

Erzählung Hoffmanns zu betrachten, um damit festzustellen, warum die Protagonisten ihre

Heimat verlassen und, was noch wichtiger ist, aus ihrer Heimat absichtlich fliehen. Dafür unternehme ich eine Analyse der Textstellen, die solche Bestandteile des heimatlichen

Daseins wie das Zuhause, die Familie und den Freundeskreis thematisieren. Das Ziel solch einer Analyse besteht im Versuch, den Grad der Selbstidentifizierung des Protagonisten mit der bestimmten Region und ihren Lebensumständen herauszustellen. Vor allem ist es erwähnenswert, dass sich die Werke zum Thema der Heimat und ihrer literarischen

Behandlung sowohl gleichen als auch unterscheiden. Genauso gleichen und unterscheiden sich die Protagonisten in dem Charakter und der Richtung ihres Phantasierens. Der Prozess der Idealisierung der Wirklichkeit hängt davon ab, inwieweit diese Wirklichkeit den

Menschen interessiert, anlockt und fasziniert. Elis und der Taugenichts demonstrieren in ihrem Verhältnis zur umgebenden Realität sowohl Begeisterung als auch starke Abneigung.

Dieses diverse Verhältnis verbreitet sich unter anderem auf den Begriff der Heimat.

176 Niedermeier, Michael. Das Ende der Idylle: Symbolik, Zeitbezug, ‚Gartenrevolution‘ in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“. Berlin: Peter Lang, 1992. 14. (Im folgenden als “Niedermeier” abgekürzt)

98

Einerseits ist die Heimat das Objekt der Sehnsucht und der Bewunderung.

Andererseits erscheint sie als Quelle der Verzweiflung und der Trauer. Sie kann für immer verloren werden. Ihre neuen Züge überraschen durch ihren deprimierenden Charakter.

In solchen deprimierenden Bildern wird die Heimat in Eichendorffs Gedicht Letzte

Heimkehr (1833) geschildert. “Der “Wandrer“, der homo viator, kehrt nach langen Irrfahrten aus weiter Ferne nach Hause zurück, welches ihm jetzt fremd geworden ist177“. Dieses

Gedicht, das chronologisch viel später als Aus dem Leben eines Taugenichts erschien, erinnert seiner traurigen Stimmung nach an Elis Beschreibung der Rückkehr nach Hause, wo er durch die Fremdheit der einst geliebten Atmosphäre der Heimat schockiert wird.

Der Wintermorgen glänzt so klar, Ein Wandrer kommt von ferne, Ihn schüttelt Frost, es starrt sein Haar, Ihm log die schöne Ferne, Nun endlich will er rasten hier, Er klopft an seines Vaters Tür. Doch tot sind, die sonst aufgetan, Verwandelt Hof und Habe, Und fremde Leute sehn ihn an, Als käm er aus dem Grabe; Ihn schauert tief im Herzensgrund, Ins Feld eilt er zur selben Stund178.

Man findet eine direkte Parallele zwischen der Szene aus Eichendorffs Letzte

Heimkehr und Hoffmanns Beschreibung der Situation Elis. Diese Parallele bezieht sich auf die plötzliche Anerkennung der seelischen und physischen Kraftlosigkeit und folglich der

Unmöglichkeit des vollwertigen Lebens. „Die Heimat ist verändert, unkenntlich und unwirtlich geworden179“. Wie im Gedicht Eichendorffs scheint Elis die lebensbejahende

Beziehung zur Heimat auf ewig verloren zu haben. Das schmerzhafte Gefühl der unverheilten seelischen Lücke braucht vom Menschen eine neue Einstellung zur Vergangenheit. Eine solche Einstellung liegt nahe dem Versuch, die bedeutsamen Bilder der schönen Zeit aus dem

177 Karl. 283. 178 Eichendorff, Joseph. Letzte Heimkehr. In: J. von Eichendorff Werke. Band 1. Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker, 1985. 296. (In der Folge als „Letzte Heimkehr“ abgekürzt) 179 Karl. 283. 99

Gedächtnis zu löschen. Zu diesen Bildern gehören die Familie, die Freunde, das Heimatland und die geliebte Landschaft. Alle diese Bestandteile der Heimat wurden von den Helden sonst mit Freude und Lebensglück assoziiert. In Eichendorffs Gedicht bekommt die Heimat einen veränderten Charakter, der sich durch Trauer und Enttäuschung kennzeichnet. Um solche Assoziationen zu vermeiden versinkt der Wanderer in den Traum. Die Flucht in den

Traum ist nicht nur das Resultat der Ermüdung, sondern auch die einzige Möglichkeit, die fremd gewordenene Umwelt mit ihrer öden und verschneiten Landschaft zu ignorieren.

Da sang kein Vöglein weit und breit, Er lehnt' an einem Baume, Der schöne Garten lag verschneit, Es war ihm wie im Traume, Und wie die Morgenglocke klingt, Im stillen Feld er niedersinkt180.

Um die Zustände der Trauer zu vermeiden, versinkt auch Elis in seine “düstre

Träumerei“. Die Erinnerungen und die Gedanken an die Heimat bekommen einen neuen abstrakten Charakter und verlieren den direkten Bezug auf die Gegenwart, beziehungsweise auf die aktuelle Wirklichkeit. Einerseits befreit sich der Protagonist dank solcher absichtlichen In-Sich-Vertiefung von den schmerzhaften Gefühlen. Andererseits verursachen der Verlust der Vergangenheit-Gegenwart-Beziehung und die Orientierungslosigkeit den

Mangel an der Motivation für den angestrebten Lebensweg. “Dem Menschen ist auf seiner

Wanderung, seinem Lebensweg, der sichere Mittelpunkt, von dem, so Eichendorff, alles ausgeht, verlorengegangen181“. Der Selbstverwirklichung und der geistigen Erfüllung fehlt jetzt ihr heiliger, lebensbejahender Hintergrund. Mit dem Verlust der vertrauten und geliebten

Menschen behält die gefährliche Suche nach dem Glück keine Verbindung zur Wirklichkeit.

Das Fehlen dieser Verbindung disorientiert den Wanderer in seinem Lebensweg, der sowohl seinen Ausgangspunkt als auch die Bedeutung seiner Heimkehr verliert. Nach dem Verlust

180 Letzte Heimkehr. 296. 181 Karl. 283. 100 ihrer Heimat erleben die Protagonisten der Erzählung Hoffmanns und des Gedichts

Eichendorffs die seelische Prostration und die Ungewissheit.

Im Moment der tiefen Orientierungslosigkeit auf dem Lebensweg und der daraus folgenden Gemütsverödung kommen die Vertreter der jenseitigen Welt, die “fremden

Gestalten182” ins Leben der verzweifelten Protagonisten. Ihr plötzliches Auftauchen erfüllt die Rolle des Rettungsmittels. Sie lassen den Wanderer nicht mehr einsam sein. Zum letzten

Mal bringen sie die Helden zurück zu ihrem wirklichen Leben und zeigen die neuen

Orientierungspunkte. Gleichtzeitig weisen sie aber auf die mögliche “baldige Ankunft im jenseitigen Leben183“ hin. Als der Wanderer in Letzte Heimkehr vom Gebet aufsteht, sieht er die Figur des schönen Jünglings, der als rettender Engel und Begleiter den ermüdeten und verzweifelten Wanderer ins neue Reich führt. Dieses Reich soll die verlorene Heimat ersetzen. Damit wird dem Wanderer vom Jüngling die Richtung gezeigt, wohin man sich wenden soll.

Und als er aufsteht vom Gebet, Nicht weiß, wohin sich wenden, Ein schöner Jüngling bei ihm steht, Faßt mild ihn bei den Händen184.

Elis wendet sich nicht zu solch einer Glaubenpraxis wie christliches Gebet. Doch erfüllt sein Verzweiflungsschrei die Funktion des Hilferufs, der wie im Fall des Wanderers aus Letzte Heimkehr nicht unbeantwortet bleibt. Im Werk Hoffmanns tritt an Stelle des

Begleiters und des Beraters Torbern, der geheimnissvolle alte Bergmann, auf. Sein plötzliches Erscheinen bringt Elis das verlorenene Vertrauen zu den Menschen, die vergessene Freude und die neuen Hoffnungen auf die glückliche Zukunft zurück.

Als Elis den Alten ansah, wurde es ihm, als trete in tiefer wilder Einsamkeit, in die er sich verloren geglaubt, eine bekannte Gestalt ihm freundlich tröstend entgegen185.

182 Ebenda. 183. 183 Ebenda. 184. 184 Letzte Heimkehr. 296-297. 185 Hoffmann. 211-212. 101

Sobald die Begleiter, beziehungsweise die Vertreter des jenseitigen Reichs den

Protagonisten begegnet sind, endet der Prozess des Abschieds von der verlorenen Heimat.

Das Bewusstsein, die Gefühle und der angestrebte Lebensweg richten sich auf die neuen

Zwecke. Auf ihrer nächsten langen Wanderung werden sie von ihren Begleitern gehorsam beraten und geführt.

Der Wandrer drauf: "Ich kann nicht mehr - Ist's Morgen, der so blendet? Was leuchten dort für Länder her?" - Sein Freund die Fackel wendet: "Nun ruh zum letzten Male aus, Wenn du erwachst, sind wir zu Haus."186

Im Unterschied zur höchst symbolischen letzten Heimkehr als “Sinnbild der

Verknüpfung zwischen Irdischem und Ewigem187“, zwischem dem Leben und dem Tod findet Elis nicht nur neue jenseitige Orientierungspunkte, sondern auch neue Zwecke und

Aufgaben in seinem wirklichen Leben. Mit der Wanderung nach Falun verbindet er seine

Hoffnungen auf die glückliche Realität eines tüchtigen und erfolgreichen Bergwerkers. In

Falun soll er seine neue Heimat finden.

3.2 Ein Taugenichts oder gesellschaftlicher Außenseiter

Im Werk Eichendorffs bestimmen die Landschaft, die kulturellen Traditionen und die sozialen Grundbedingtheiten den Ausgangspunkt zur Charakteristik des Lebens vom

Taugenichts. Die Zeit und der Ort werden vom Schriftsteller genau präzisiert, so dass der

Leser aus dem allerersten Satz ein klares Bild der tatsächlichen Jahreszeit und der alltäglichen Routine des Dorfes bekommt.

Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen188.

186 Letzte Heimkehr. 297. 187 Karl. 282. 188 Eichendorff. 66. 102

Der vom Schriftsteller betonte akustische Hintergrund der Szene veranschaulicht die längst erwartete Wärme des Vorfrühlings und entlarvt in der Hauptfigur den aufmerksamen musikbegabten Beobachter und Genießer der Natur. Mit solch einem Anfang der Handlung weckt Eichendorff beim Leser das Gefühl der erlebten Naturidylle, die den Taugenichts sowohl im Heimatdorf als auch später während seiner langen Wanderung begleitet und gleichzeitig im Roman die Rolle der Widerspiegelung von den Zuständen der innerlichen

Freude erfüllt.

Die in der Romantik öfters benutzte Technik der Naturbeschreibungen als direkte

Reflexion der Gemütszustände ist charakteristisch für beide Autoren, die sich in ihren

Werken mit den landschaftlichen und naturhaften Szenen skrupulös beschäftigen. Die vergleichende Analyse der Besonderheiten in der Anwendung solcher Technik ist interessant vom Standpunkt ihrer sowohl ästhetischen als auch psychologischen Funktion aus. Die

Beschreibungen der äußerlichen Welt enthalten eine Reihe der sprachlichen Tropen und

Figuren, die auf eine konsequente, sich wiederholende Art und Weise die Stimmung der

Protagonisten durcharbeiten, präzisieren und damit den Mangel an der Psychologie in den

Werken beseitigen.

In der folgenden Analyse der geographischen Orte, der Landschaft und der Natur als

Reflexionsmerkmale der erlebten Zustände betrachte ich den Anfang jeder der Geschichten, vor allem vom Standpunkt der mentalen und seelischen Angehörigkeit der Protagonisten zu ihrer Heimat aus. Sowohl Elis als auch der Taugenichts verabschieden sich von der

Heimatwelt (der Taugenichts), bzw. der bekannten Welt des beruflichen und sozialen Lebens

(Elis) und kehren nie in ihr Daheim zurück. Während die Reiselust und die Begeisterung von der Wanderung in die fremde Welt den Taugenichts mit Elis vereinigen, entscheiden sich die beiden für den abenteuerlichen und gefährlichen Weg des Wanderers aus ursprünglich unterschiedlichen Gründen.

103

Weder Hoffmann noch Eichendorff betonen die Besonderheiten der Erziehung und der Entwicklung ihrer Hauptfiguren. Man bekommt nur wenige Informationen über die

Kindheit und die Jugendjahre. Die seltenen Ausnahmen geben dem Leser doch eine ausreichende Vorstellung über den Alltag von Elis und dem Taugenichts. Folglich wird die

Analyse der biographischen Details der Protagonisten und ihrer Lebensstile unternommen, die mit der Entwicklung der Handlung von Elis und dem Taugenichts umgedacht, geändert und teilweise verlassen werden.

Unser Wissen über das Leben des Taugenichts beruht auf der Beschreibung des allerersten Tages, wenn man den Protagonisten kennenlernt. Es ist gleichzeitig der allerletzte

Tag, den der Müllerssohn in seinem Haus verbringt.

Obwohl der Taugenichts der inständigen Bitte seines Vaters sofort folgt und das Haus ein paar Stunden nach den kritischen Bemerkungen über seine Unfähigkeit, Ungeschicktheit und zweifelhafte Nützlichkeit verlässt, kann seine Situation im Heimatdorf nicht als die miserable Lage eines überzeugten Außenseiters bezeichnet werden. Im Gegenteil finden sich mehrere Textstellen, die eher von einem ziemlich gemütlichen, wohlorganisierten Alltag des jungen Mannes zeugen. Das bestätigen sowohl die Worte des Vaters als auch die Art und

Weise, mit welcher der Sohn des Müllers seinen Morgen anfängt.

Ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine189.

Die Tageszeit mit ihrem warmen Sonnenschein, in dem der junge Mann sorglos erwacht, entspricht wohl den Spätmorgenstunden. Die meisten Bauern müssen vermutlich ihren Arbeitstag schon längst begonnen haben, einschließlich des alten Müllers, dessen Ärger

über seinen Sohn völlig zu verstehen ist. Taugenichts Realitätswahrnehmung beruht nicht auf den Routinepflichten und den schweren Aufgaben eines Bauern, sondern auf den Werten,

Gedanken und Ansprüchen, die ihn, einerseits, als unfähigen, fahrlässigen Bauern,

189 Ebenda. 66. 104 andererseits, als Künstler charakterisieren. Also liegt die allererste Diskrepanz zwischen dem

Protagonisten und seiner Umwelt in der Unmöglichkeit, im Rahmen des dörflichen Lebens seine künstlerischen Talente zu entwickeln, sich damit in der Gesellschaft zu behaupten und sich mit dem Dorf als sein Vollmitglied zu identifizieren. Insgesamt betont Eichendorff die

Probleme der räumlichen Enge und der Moralkonflikte, die auf einmal sowohl der

Dorfgemeinde, vor allem dem Vater, als auch dem jungen Mann selbst offensichtlich werden.

Als Resultat solcher Konflikte erklärt sich der Vater damit nicht einverstanden, die anti- soziale Lebenseinstellung des Sohnes zu tolerieren und seinen “faulenzenden“ Lebensstil zu unterstützen.

Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und lässt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot190.

Die Erwähnung des Tagesanbruchs verstärkt die Zeit- und Aktivitätsunterschiede zwischen dem Alltag des Vaters und dem seines Sohns. Der Taugenichts anerkennt seine

Unfähigkeit und seine fehlende Bereitschaft, sich dem Element des Bauernhofs anzupassen.

Er überlegt sich nicht lange, bevor er sich auf den Weg in die freie Welt macht, in der ihm niemand helfen soll, das Brot selber zu erwerben.

Nun, sagte ich, wenn ich ein Taugenichts bin, so ist’s gut, so will ich in die Welt gehn und mein Glück machen. Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehen191.

Dass sich der junge Mann von seiner Heimat leicht trennt, zeigt nicht nur seine längst

überlegte Entscheidung für die Abreise, sondern auch das Fehlen eines einzigen Menschen, mit dem der Taugenichts eng befreundet ist, und von dem er sich nicht trennen will. Seine

Gedanken zeigen keine Reflexion über die im Dorf verbrachten Jahre und richten sich sofort

190 Ebenda. 66. 191 Ebenda. 66. 105 auf die Zukunft und das kommende Abenteuer. Für einen Augenblick kehrt der Protagonist in die Vergangenheit zurück und erinnert sich an die in dem Herbst und dem Winter singende

Goldammer, die seinen Abschied vom Heimatdorf schon mal gefördert und vorausgesagt hat.

Das ist ein anderes Zeugnis davon, dass sich der junge Mann viel mehr mit der offenen, freien Natur als mit dem planmäßigen dörflichen Leben des Bauern identifiziert.

Da hörte ich die Goldammer, welche im Herbst und Winter immer betrübt an unserm Fenster sang: Bauer, miet mich, Bauer, miet mich! Nun in der schönen Frühlingszeit wieder ganz stolz und lustig vom Baume rufen: Bauer, behalt deinen Dienst!192

In seinem Dienst sieht der Taugenichts vor allem die Entwicklung des musikalischen

Talents und die virtuose Beherrschung der Violine, die wohl die Bekannten und Kameraden in der Freizeit unterhält, aber die Arbeit an Vaters Mühle kaum fördert.

Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einige Groschen mit auf den Weg193.

Einerseits erfüllt der Vater seine Familienpflicht und unterstützt den Sohn bis zum bestimmten Alter, in dem Letzterer endlich selbständig sein eigenes Brot erwerben kann.

Andererseits lässt Eichendorff die Szene des Abschieds vom Vater absichtlich ohne jede betonte Aufmerksamkeit und hebt damit die Oberflächlichkeit des Vater-Sohn-Verhältnisses hervor. Der Vater kann als Teil der sozialen Bedingungen bezeichnet werden, von denen sich der Taugenichts mit unverhüllter Freude befreit. Eichendorff schafft ein deutliches Bild, in dem für den proviziellen Mann ein neues Leben schon mit dem „Schlendern aus dem langen

Dorf“ in die freie Welt beginnt. Die räumliche und zeitliche Enge wird mit den ersten

Schritten der Wanderung überwunden, sobald die Grenzen des Dorfes mitsamt dem üblichen sozialen Rahmen der Gemeinde verlassen sind. Noch deutlicher wird der Genuss der berechtigten Abreise, wenn der Taugenichts die Züge des monotonen Alltags zum letzten

192 Ebenda. 66. 193 Ebenda. 66. 106

Mal beobachtet und sich damit noch stärker darauf freut, dass die bäuerliche Routine ab diesem Moment ein Teil der Vergangenheit bleibt. Der Abschied von der Vergangenheit bekommt einen vermittelten personifizierten Charakter und gestaltet sich durch die Bilder der im Feld arbeitenden Bekannten und Kameraden.

Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinaus strich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten recht stolz und zufrieden Adjes zu194.

Die lexikalische Wahl Eichendorffs zielt auf die Bestätigung des Gefühls der plötzlichen Befreiung und des gleichzeitigen Mitgefühls mit den alten armen Bekannten, die denselben Tagesablauf ihr ganzes weiteres Leben behalten sollen. Sein Glück und sein

Schicksal verbindet der Taugenichts mit der fremden, doch, was besonders wichtig ist, freien

Welt. Wenn man das Thema der Flucht aus der heimatlichen Realität im Roman Eichendorffs zusammenfassend betrachtet, sollen die Beziehungen des Taugenichts mit dem Raum und der

Zeit charakterisiert werden, die den sonst positiven Begriff der Heimat in der Spätromantik, unter anderem im Werk Eichendorffs bestimmen. Dafür greife ich auf die literarische

Parallele mit dem drei Jahre früher entstandenen Gedicht Die Heimat (1819) zurück.

Sein Inhalt gibt eine bessere Aussicht auf das Motiv des komplexen Verhältnisses zwischen dem Menschen und seinem heimatlichen Dasein, das im Roman Eichendorffs einen wesentlichen Platz nimmt. In seinem Gedicht betont der Autor das wichtige Verhältnis zur

Heimat und dem mit diesem Begriff verbundenen Gefühl der engen Beziehung. Die

Beziehungen zur Heimat und der Familie zeigen ihre geheimnisvolle Kraft desto stärker, je weiter man sich vom heimatlichen Haus entfernt.

Du findest nirgends Ruh,

194 Ebenda. 66-67. 107

Erreichen wird dich das geheime Singen, – Ach, dieses Bannes zauberischen Ringen Entflieh’n wir nimmer, ich und du!195

Das geheime Singen und das Rauschen der alten schönen Zeit sind die metaphorischen Bilder der Erinnerungen an die Heimat. Diese Erinnerungen geben dem

Gemüt die notwendige Ruhe und lassen den Menschen im Augenblick der Einsamkeit und des Heimwehs die Bilder und Ereignisse der schönen Vergangenheit wieder erleben. Die

Stimmung des aus dem Heimatdorf fliehenden Taugenichts kennzeichnet sich durch den

„ewigen Sonntag im Gemüte“. Er singt ein Lied, das seinem Inhalt nach der begeisterten

Lyrik des Gedichtes gegenübergestellt wird. Anstatt der “singenden Blumen und Bäume“ erwähnt der Protagonist in einer der Strophen die trivialen Besonderheiten der alltäglichen

Ordnung, die wenig Lebensfreude herruft, sondern als die auf sich gehorsam genommene

Last bezeichnet werden kann.

Die Trägen, die zu Hause liegen, Erquicket nicht das Morgenrot, Sie wissen nur vom Kinderwiegen, Von Sorgen, Last und Not um Brot196.

Mit solch einer kritischen Einstellung zu den engen Beziehungen des Heimatdorfs konstituiert sich das Verhältnis des Taugenichts zum erwünschten Lebensraum durch die

Suche nach den neuen Orten und damit der Vielfalt der Bräuche und Sitten, die sich von den zu Hause gelernten Traditionen unterscheiden.

Der auf das unbegrenzte Freie und die Ferne gezielter Blick des Protagonisten charakterisiert Eichendorffs Roman vor allem als ein bildhaftes Werk, in dem die Hauptfigur die geographischen und kulturellen Grenzen überschreitet und seine Suche nach dem Glück in den fremden Ländern fortsetzt. Im historisch-literarischen Kontext bringe ich ein Beispiel aus der Literatur der Aufklärung. In diesem Beispiel werden das Motiv und die Rolle des

195 Eichendorff, Joseph. Die Heimat. In: J. von Eichendorff Werke. Band 1. Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker, 1985. 300. 196 Ebenda. 67. 108 heimatlichen Daseins als Objekte der Kritik und der Bewunderung thematisiert. Der absichtliche Wechsel des sozialen Umfelds und der Versuch des Taugenichts, seine Stelle außer der Heimatwelt zu finden, bringen ihn unter die neuen “Verhältnisse, sozialen

Bindungen, ökonomischen Erfordernisse, Konventionen, Normen und Gesetze197“. Solange diese Verhältnisse zu keiner Trivialität der sozialen Ordnung wachsen, betrachtet der

Protagonist das neue Umfeld als Teil seiner idealen Wirklichkeit.

Also wird seine Flucht in die freie Welt durch die Unmöglichkeit bedingt, sich zu

Hause glücklich zu machen und seine wesentliche Stelle in der Dorfgemeinde zu finden. Der junge Mann hat weder echte Freunde noch eine ihn liebende Person. Sein Vater könnte als solche Person, ausnahmsweise, bezeichnet werden, wenn man annimmt, dass seine

Entscheidung des Abschieds vom Sohn als guten Absichten erfolgt.

3.3 Die Irrealität als Ersatz der verlorenen und vermissten Heimat

Es lässt sich eine direkte Parallele zwischen dem Thema der Intensivierung der

Irrealität und dem Thema der Entfernung von der Heimat ziehen. Im Kontext der Heimat-

Irrealität-Beziehung ist vor allem die Analyse der Erzählung Hoffmanns relevant. Die

Resultate dieser Analyse werden im folgenden in Bezug auf den Roman Eichendorffs angewendet.

Wie Eichendorff reduziert auch Hoffmann das biographische Wissen über Elis nur auf eine Textseite. Die Informationen über die Jahre der Jugend und des ersten Berufs werden in einer kompakten verallgemeinerten Form gegeben und stellen eine chronologische Reihe der tragischen Ereignisse in der Familie dar. Die Erzählperspektive kommt von dem sich an die

Vergangenheit erinnernden Elis. Die gedankliche Rückkehr in das Leben der Familie ist ein wesentlicher Unterschied zum Roman Eichendorffs, in dem sich der Taugenichts an seine

Familie nur selten erinnert. Zum Beispiel gibt es keine einzige Textstelle, in welcher die

197 Niedermeier. 28. 109

Mutter des Taugenichts erwähnt wird. Der Leser bekommt weder Information über ihre Rolle in der patriarchalen Familie noch ein einziges Wort über ihre Präsenz im Leben überhaupt.

Vermutlich betont Eichendorff damit die sekundäre Rolle der Eltern im Leben des

Taugenichts. Der Vergleich mit der Erzählung Hoffmanns macht die äußerst episodische

Bedeutung der Familie für den Taugenichts noch deutlicher. Solch ein Vergleich ist wichtig, weil man in den Werken der Romantik die Familie öfters als Sinnbild des frommen, heiligen

Daseins sieht. Der Respekt vor der Familie und die enge Beziehung zu ihr gehören zu den biblischen Tugenden, - und ihre Bedeutsamkeit für die Gestaltung der heimatlichen Idylle wird nicht in Zweifel gezogen. Der Verlust solcher Beziehung wird sonst von Helden schmerzhaft zu Herzen genommen. Eichendorff überlässt die Entscheidung über die

Wichtigkeit der Familie im Leben des Taugenichts dem Leser. Der Taugenichts entfernt sich von seinem Vater und findet damit in seinem Identitätswerden die notwendige

Selbstständigkeit.

Im Gegensatz dazu bekommt der gefährliche Beruf des Seemanns für Elis den großen

Wert nur mit dem Ziel, in Zukunft nach Hause zurückzukehren und seine Mutter mit dem in der ostindischen Kompanie verdienten Geld zu unterstützen. Hoffmann schildert auf eine detaillierte Weise die Episode von Elis Rückkehr aus der langen Seefahrt und betont die

Freude, mit der der junge Mann an die Heimat und das baldige Treffen mit „seiner armen

Mutter198“ denkt. Das „kleine Häuschen199“ und die „verlassene Mutter200“ konstituieren den

Begriff der Heimat im Roman und binden Elis mit der realen Welt und den geliebten

Menschen fest.

Auch im Gegenteil zur Hauptfigur Eichendorffs ist Elis vom Respekt vor seinem

Vater erfüllt und bezeichnet ihn als einen tüchtigen Steuermann, der in demselben Sturm

198 Hoffmann. 212. 199 Ebenda. 212. 200 Ebenda. 212. 110 umgekommen ist, aus dem Elis auf wunderbare Weise gerettet worden ist201. Seine beiden

Brüder waren als Soldaten in der Schlacht geblieben202. Elis hat seine Familie tragisch verloren, während der Taugenichts seine Familie absichtlich verlässt. Dieser wesentliche

Unterschied im biographischen Hintergrund bedingt die Voraussetzungen für die Beziehung der Protagonisten zur Realität. Die Letztere stellt für Elis und den Taugenichts den von der

Vergangenheit befreiten Raum dar, in dem jeder versucht, das verlorene oder geahnte Glück entweder wiederzufinden oder in Erfüllung zu bringen. Die Suche nach dem Glück und der verlorenen Idylle beinhaltet das Leitmotiv jedes der Werke und bietet ein komplexes und weites Feld für die Analyse sowohl der literarischen Ideen als auch der sprachlichen Struktur an.

3.4 Die Phantasie als therapeutische Lösung der innerpsychischen Konflikte

Nach dem Tod seiner Mutter, der letzten geliebten und verwandten Person, erlebt der junge Elis einen emotionalen Zusammenbruch. Der Tod seiner Mutter zerreißt ihm das Herz, er fühlt sich von aller Welt verlassen, einsam wie auf ein „ödes Riff verschlagen, hilflos, elend203“. Seitdem bestimmen die Gefühle der Verlassenheit und der Einsamkeit seinen introvertierten, ungeselligen Charaktertyp, der sich als solcher besonders deutlich im Verkehr mit den Kameraden aus der ostindischen Kompanie offenbart. In seinem beruflichen Milieu existiert keine einzige Person, die Elis nach tragischen Ereignissen in seiner Familie trösten und ermuntern kann. Die jauchzende und jubelnde Atmosphäre der fröhlichen

Matrosengesellschaft verstärkt die Zerrissenheit des Gemüts und verursacht noch mehr

Schmerzen im Innern des verzweifelten Elis. Das wilde Getümmel des Festes Hönsning ist nicht imstande, die Trauer zu betäuben. Hoffmann akzentuiert immer wieder die

Unmöglichkeit des Protagonisten, sich von seinen Gedanken über die Familie zu entfernen.

201 Ebenda. 212. 202 Ebenda. 212. 203 Ebenda. 212. 111

Die Kameraden hätten ihn mit Gewalt fortgerissen zum Hönsning, und er selbst habe geglaubt, dass der Jubel um ihn her, ja auch wohl das stärkste Getränk seinen Schmerz betäuben werde, aber statt dessen sei es ihm bald geworden, als sprängen alle Adern in seiner Brust, und er müsse sich verbluten204.

Hoffmann entwickelt eine hoch psychologisierte Szene der inneren Widersprüche mit der äußerlichen Welt. Einerseits gehört Elis zur Gegenwart mit ihren realen Menschen und

Ereignissen. Andererseits ist er in seine von der Realität abstrahierten Träume und

Reflexionen über die Vergangenheit stark vertieft. Wenn der Konflikt zwischen der gesuchten Ruhe des Gemüts und der steigend unerträglichen, lauten Atmosphäre des

Hönsnings seinen Höhepunkt erreicht, erlebt Elis die stärkste Verzweiflung am Sinn des

Lebens.

Aufs neue versank Elis Fröbom in seine düstre Träumerei und rief endlich, als der Jubel in der Schenke recht laut und toll wurde: „Ach, läg' ich doch nur begraben in dem tiefsten Meeresgrunde! denn im Leben gibt's keinen Menschen mehr, mit dem ich mich freuen sollte!“205

Das Begreifen und die Anerkennung der Tatsache, dass man in der realen Welt nicht mehr existieren will, bringt das Bewusstsein des Protagonisten in die psychologische

Sackgasse. Für Hoffmanns Werk ist es äußerst charakteristisch, dass die überreale, phantastische Ebene mit den psychologischen Zuständen eng verbunden ist. Diese Ebene ist eine direkte Widerspiegelung der psychologischen Prozesse.

In den Werken Hoffmanns kommt die allererste Erwähnung der überrealen Motive

öfters im Augenblick, wenn die Protagonisten entweder ein großes Unglück oder eine tiefe emotionale Krise erleben. Zum Beispiel findet man solch eine Handlungsparallele in Der

Goldne Topf. Zusammen mit Die Bergwerke zu Falun weist die Spätnovelle auf die unmittelbare Beziehung zwischen dem steigenden Zweifel an der Wirklichkeit und der gesuchten höheren Sphäre hin. In Letzterer sieht der Held für sich die Möglichkeit, ein neues

204 Ebenda. 174. 205 Ebenda. 211. 112 freundliches Umfeld zu finden und seine Ungläubigkeit am glücklichen Leben zu widerlegen.

Also bringt die phantastische Welt mit sich die Hoffnung auf die Rettung aus der innerpsychischen Krise und erfüllt die Rolle der therapeutischen Problemlösung.

Anselmus wartet mit Ungeduld auf seinen Lieblingsfeiertag, denn der

„Himmelfahrtstag ist immer ein besonderes Familienfest für ihn gewesen206“. Er fühlt sich glückselig, bis ein auf den ersten Blick unwesentlicher Zufall passiert. Auf ungeschickte

Weise stößt er den Korb einer alten Apfelhändlerin um. Das Ungeschick wächst plötzlich in eine Tragödie. Das „Gewühl und das schadenfrohe Gelächter geputzter Menschen207“ setzen den jungen Mann in den Zustand der höchsten Scham. Er fühlt sich von einem

„unwillkürlichen Grausen ergriffen208“. Die ganze festliche Atmosphäre wird ironisch und unsinnig zerstört. Aus dem Moment des hohen Glücks gerät Anselmus in den deprimierten

Zustand der innerlichen Zerrissenheit. Die folgende Beschreibung erinnert genau an die von

Elis erlebte Szene, in der die Ruhe des Gemüts durch die Missklänge der höhnischen städtischen Menge zerstört wird.

Eine Reihe festlich gekleideter Menschen nach der andern zog herein. Musik von Blasinstrumenten ertönte von innen, und immer lauter und lauter wurde das Gewühl der lustigen Gäste. Die Tränen wären dem armen Studenten Anselmus beinahe in die Augen getreten209.

Obwohl sich die tragischen und unglücklichen Ereignisse in den Werken Hoffmanns und Eichendorffs ihrer Problematik und ihrer Intensität nach wesentlich unterscheiden, können bestimmte Vergleiche gezogen werden, die die für Hoffmann und Eichendorff

ähnlichen Erzähltendenzen demonstrieren. Mit dem erwähnten Gleichnis in der Einführung des Realität-Phantasie-Themas können die Parallelen in der Gestaltung des Schauplatzes und des akustischen Hintergrunds hervorgehoben werden.

206 Der Goldne Topf. 230. 207 Ebenda. 230. 208 Ebenda. 229-230. 209 Ebenda. 230. 113

3.5 Der realistische Schauplatz und die wunderbaren Ereignisse

Sowohl Hoffmann als auch Eichendorff schaffen die klar visualisierten Bilder der umgebenden Atmosphäre und nähern sich in ihrer Präzisität der photographischen

Genauigkeit. Vor allem konzentrieren sich die beiden Autoren auf die regionalen Details und

Besonderheiten, die im Vergleich zu den verallgemeinerten und typisierten Charakteren der

Hauptfiguren viel ausführlicher durchgearbeitet werden. Die besten Beispiele davon sind die

Szenen des Götaborger Festes Hönsning (Hoffmann) und des Spaziergangs des Taugenichts durch die Straßen Roms (Eichendorff). Beim Lesen dieser Szenen entsteht das Gefühl, dass im Darstellen der geographisch-kulturellen Besonderheiten die Autoren ihre reichen

Kenntnisse der Städte mit dem offensichtlichen Vergnügen literarisch entwickeln. Solche pedantische Einstellung zur Raumgestaltung muss dem Ziel dienen, das Gefühl der Realität beim Leser zu erwecken und Letzteren die Geschehnisse miterleben zu lassen. Der Leser muss sich mit Hilfe der beschreibenden Szenen mit der Spezifik der Zeit, der geographischen

Region, der Traditionen und des Volkes bekannt machen, so dass die später vorkommenden

übernatürlichen Ereignisse einer konkreten Wirklichkeit angepasst oder gegenübergestellt werden. Wichtig ist es für die Autoren, eine Erzählebene zu schaffen, in der die

Zusammenwirkung der wirklichen und übernatürlichen Ereignisse ermöglicht wird. In seiner

Studie Die Utopie einer ästhetischen Existenz zu Hoffmanns Der Goldne Topf sagt P.W.

Wührl im Zusammenhang mit der Wirklichkeit-Phantasie-Strukturierung.

Das Geheimnis jener einzigartigen Verschmelzung der zeitgenössischen Wirklichkeit mit einem aus ‘Atlantis’ aufsteigenden Wunderbaren liegt in einer aufs feinste ausgewogenen Ambivalenz, die das Figurenfeld ebenso erfasst wie den Geschehnisraum und die Erzählstruktur210.

210 Wührl, Paul-Wolfgang. E.T.A. Hoffmann. Der Goldne Topf. Die Utopie einer ästhetischen Existenz. Paderborn: Schöningh, 1988. 25. (Im folgenden als „Wührl“ abgekürzt) 114

Die Genauigkeit und die Ausführlichkeit im Darstellen der zeitgenössischen

Atmosphäre helfen dem Autor, den Leser in den Geschehnisraum zu verstricken und lassen ihn an den feinen Übergang in die märchenhaften Ereignisse glauben.

Die Erzählstruktur bildet das unverwechselbare Strukturmerkmal jener zweideutigen Welt, die den Leser, ähnlich wie den Märchenhelden Anselmus, in ein unauflösbares Vexierspiel verstrickt, so dass er vom Erzähleinsatz bis zu dem in eine rhetorische Frage gekleideten offenen Schluss nicht zu sagen vermag, wo die ihm vertraute Erfahrungsrealität aufhört und das Wunderbare beginnt211.

Im folgenden werden zwei Beispiele der akzentuiert realistischen Schauplätze gebracht, die das Vexierspiel zwischen dem Tatsächlichen und dem Wunderbaren veranstalten und im folgenden unterstützen.

In Hoffmanns Erzählung sind vor allem solche Schauplätze wie die schwedischen

Städte Göteborg und Falun zu erwähnen. Durch die Präzisierung des Schauplatzes verbindet

Hoffmann den Leser mit der konkreten tatsächlichen Wirklichkeit, in der um die bestimmte

Zeit ein unwahrscheinliches Ereignis passiert. Seinerseits ist Hoffmann nur ein Vermittler und ein Erzähler der gehörten Geschichte über den jungen Mann, dessen „Leichnam die

Bergleute zwischen zwei Schachten, in einer Teufe von dreihundert Ellen im Vitriolwasser fanden, der versteinert schien212“. Bevor das Unwahrscheinliche stattfindet, gerät der in die

Handlung verstrickte Leser in die Haga-Vorstadt, den althistorischen Hafenbezirk Göteborgs.

Man wird Zeuge davon, wie der fröhliche Zug in der Anzahl von einundertfünfzig jubelnden

Seeleuten durch die Vorstadt folgt und sich auf den Beginn der großen Feier freut. Mit der

Betonung der Einzelnheiten des Festes Hönsning macht uns Hoffmann auf einmal mit zwei

Erzählperspektiven vertraut. Einerseits ist es selbst der Schauplatz und sein Mittelpunkt

Hönsning. So ist nämlich das „Fest geheißen, das bei derlei Gelegenheit von der

Schiffsmannschaft gefeiert wird, und das oft mehrere Tage dauert213“. Andererseits ist es die

211 Ebenda. 25. 212 Hoffmann. 238. 213 Ebenda. 171. 115

Außenseiterposition Elis in der gemeinsamen Feier, die für den jungen Mann einen

Ausgangspunkt zur Begegnung mit dem Wunderbaren darstellt.

Nicht zufällig widmet Hoffmann der Beschreibung des Festes einen wesentlichen

Erzählraum, der mit dem parallel entwickelnden psychologischen Konflikt der zentralen

Figur verglichen wird. Also werden die Wirklichkeit und die Märchenhandlung gegenübergestellt, während das Gefühl der tiefen Einsamkeit Elis mit dem extrovertierten

Göteborg in Widerspruch gerät. Besonders offensichtlich ist in der Erzählung die verhältnissmäßige Korrelation zwischen den einsamen Zuständen und der Intensität der

Märchenhandlung. Die Zustände der innerlichen Verschlossenheit werden von Hoffmann durch den betonten Kontrast zur fröhlichen Gesellschaft intensiviert. Die bunte Kleidung und die Vielfalt der klingelnden Musikinstrumente kommen als erste Züge des emporblühenden und erhallenden Göteborgs.

Spielleute in wunderlicher Tracht zogen vorauf mit Geigen, Pfeifen, Oboen und Trommeln, die sie wacker rührten, während andere allerlei lustige Lieder dazu absangen. Ihnen folgten die Matrosen zu Paar und Paar. Einige mit bunt bebänderten Jacken und Hüten schwangen flatternde Wimpel, andere tanzten und sprangen, und alle jauchzten und jubelten, dass das helle Getöse weit in den Lüften erhallte214.

Die Auswahl der Verben zielt auf die Gestaltung eines dynamisch bewegenden

Menschenzugs. Im erwähnten Absatz dominiert die hohe Anzahl der Verben die wenigen

Substantive. Hoffmann als Komponist kennt sich in der musikalischen Gestaltung der Szene gut aus und entwickelt mit Hilfe der Klang- und Lautverben einen klimatisch steigenden

Begleitton. Von rühren und absingen steigt die Ton- und Bewegungsdynamik auf tanzen und springen. Sie erreicht ihren Höhepunkt mit solchen Verben wie jauchzen und jubeln.

Zusammen mit den aufgezählten Musikinstrumenten wie Geigen, Pfeifen, Oboen und

Trommeln bildet sich am Ende der Beschreibung das helle Getöse, das weit in den Lüften erhallt.

214 Ebenda. 171. 116

Gerade im Moment der geschaffenen tonalen Klimax erscheint in der Szene der junge

Mann, dessen Stimmung eine rasante Dissonanz in die gemeinsame Feier bringt. Es ist von

Bedeutung, dass Hoffmann seinen Helden in die Handlung nur nach der vollendeten

Tongestaltung einführt. In der Schilderung des jungen Mannes merkt man sofort die geänderte Erzählweise, die sich sowohl ihrer lexikalischen Wahl als auch ihrem

Darstellungsmittelpunkt nach von der Beschreibung der äußerlichen Umstände unterscheidet.

An Stelle der verallgemeinerten und eintönigen Charakteristik der Matrosengesellschaft kommt die psychologisch entwickelte Gestalt des Protagonisten. Die Besonderheiten seines

Bildes kennzeichnen sich durch die Verfeinerung der Körper- und Gesichtszüge, der Tiefe des Gemüts und des Oreols der Geheimnissvolle.

Nur ein einziger Seemann, ein schlanker hübscher Mensch, kaum mocht' er zwanzig Jahr alt sein, hatte sich fortgeschlichen aus dem Getümmel und draußen einsam hingesetzt auf die Bank, die neben der Tür des Schenkhauses stand215.

Die sprachliche Wahl zielt auf die Statik der beschriebenen Szene, die emotionale

Introvertiertheit und die gedankliche Konzentriertheit der Hauptfigur. Elis gesteht, dass er in die „Toberei seiner Kameraden durchaus nicht einstimmen kann216“. Im Gegenteil zum fröhlichen Zug der Seeleute wendet der junge Mann seinen Blick in sich, entfernt sich absichtlich von den äußerlichen Geschehnissen und versinkt in seine „düstre Träumerei217“.

Sein Verhältnis zur Realität beruht am Anfang der Erzählung auf den Erinnerungen an die verstorbene Familie und der einst glücklichen Vergangenheit. Die gegenwärtige Wirklichkeit hat für ihn relativ wenig Bedeutung. Er hat keine Lust auf das Seemansleben. Die wilde

„Toberei seiner Kameraden ist ihm zuwider218“. Durch die mehrmals erwähnten Geständnisse

über die Unwichtigkeit des weiteren Lebens und die an Wahnsinn grenzenden Zustände kann

Elis Situation grundsätzlich als ausweglos bezeichnet werden. Er erkennt selbst seine

215 Ebenda. 171. 216 Ebenda. 173. 217 Ebenda. 173. 218 Ebenda. 172. 117

Hoffnungslosigkeit an und gesteht, dass sein eigener Tod ihm lieber wäre, als ein elendes

Dasein zu fristen.

Nachdem Hoffmann die steigende Auseinandersetzung zwischen der gegenwärtigen

Wirklichkeit, beziehungsweise der Außenwelt und dem im Mittelpunkt des Erzählens stehenden Protagonisten, beziehungsweise seiner von der Gesellschaft verschlossenen

Innenwelt aufgebaut hat, führt er in die Geschichte die Ebene des Wunderbaren ein. Als

Vermittler zwischen dem realitätsorientierten Erzähleinsatz und der Hauptgeschichte mit ihren phantastischen Ereignissen benutzt der Autor den „zaubermächtigen Helfer219“, eine

Figur, die die Funktion des Begleiters in die neue Welt und des Aufklärers im Bereich der neuen Lebenserfahrungen erfüllt. Zum Thema des Begleiters in der Literatur der Romantik und den Werken Eichendorffs und Hoffmanns kehrt die Analyse im folgenden zurück und entwickelt sich im Rahmen der dazu gewidmeten Sektion.

3.6 Die Ähnlichkeiten und die Unterschiede in der Raumgestaltung zwischen den

Werken Hoffmanns und Eichendorffs

An dieser Stelle wird das Werk Eichendorffs unmittelbar vom Standpunkt der

Protagonist-Wirklichkeit-Beziehung analysiert. Die Analyse vermutet unter anderem die

Vergleiche der literarischen Szenen und Techniken zwischen den Werken der beiden Autoren und anderen Beispielen der Romantik.

Vor allem sind die Ähnlichkeiten in der Erzählstruktur Eichendorffs und Hoffmanns zu betonen. Eine der Ähnlichkeiten besteht in der Betrachtung und der Darstellung der

Hauptfigur und ihrer Stelle im sozialen Umfeld. Die Betrachtung der Hauptfigur als eines gesellschaftlichen Außenseiters ist nicht nur für Hoffmanns, sondern auch für Eichendorffs

Werk charakteristisch. Wie Elis befindet sich auch der Taugenichts in einer von der

Gesellschaft distanzierten Position. Es geht bestimmt nicht um die komplette Selbstisolierung

219 Wührl. 25. 118 des Protagonisten von der Außenwelt, wie man es in Hoffmanns Erzählung sieht. Doch findet keine völlige Integration vom Taugenichts zuerst in die Gesellschaft des Heimatdorfs und später in die sozialen Kreise anderer Gebiete und Regionen statt. Die Zustände der

Einsamkeit sind auch für ihn charakteristisch. Inwieweit der Taugenichts der Wirklichkeit gegenübergestellt ist, ist die wesentliche Frage in Bezug auf die Charakteristik des

Protagonisten als eines Außenseiters.

Die vorliegende Analyse ist von Interesse, weil sie sich die Aufgabe stellt, die These

Eichendorffs und anderer Vertreter der Romantik zu bestätigen, dass die für die Zeit traditionelle und populäre Gegenüberstellung zwischen dem talentvollen Künstler und dem philiströsen Durchschnittsmenschen ihren Ideengehalt im literarischen Werk sowohl ändert, als auch verliert. Der Bezug auf die Wirklichkeit spielt in solch einer Gegenüberstellung die

Rolle der Messung ihrer Aktualität. Je mehr sich der Protagonist auf den alltäglichen Bereich richtet, desto mehr wird er in die wirklichen Ereignisse verstrickt und desto weniger wichtig ist seine negative Kritik an den Werten des Alltags. Das heißt, die verzweifelte Person versucht ihre Rettung aus der emotionalen Krise in der umgebenden Welt zu finden und sich nicht in die eigenen Phantasien und Träume zu vertiefen und an die imaginäre Welt immer mehr zu glauben, bis die Selbstindetifizierung mit der Realität völlig versagt. Es liegt ein großer Unterschied in diesem Bereich zwischen den Werken Hoffmanns und Eichendorffs vor. Mit dem Verlust seiner Familie verliert Elis die Verbindung zur Wirklichkeit und kann in seinem späteren Leben diese Verbindung nie wiederaufbauen. Seine Ziele und

Anstrengungen verbindet er mit der Tiefe der Bergwerke und dem Gestein, das mit dem zauberhaften Flimmern seine verzweifelte Seele heilen soll. Der Taugenichts entfernt sich vom monotonen Alltag des Heimatdorfs. Aber im Unterschied zu Elis verliert er nicht die

Verbindung zur Wirklichkeit.

119

Also thematisieren die beiden Autoren dasselbe Konzept des Außenseiters, doch lassen die Protagonisten ihre Probleme mit der Gesellschaft und der Umwelt anders lösen.

Folglich stellt sich die Frage, ob man den Taugenichts nach seiner Flucht aus dem

Heimatdorf überhaupt als einen gesellschaftlichen Außenseiter bezeichnen kann.

3.7 Die Charakteristik Elis und des Taugenichts in ihrer Wahrnehmung des

Wirklichen und des Wunderbaren

Der Vergleich zwischen Aus dem Leben eines Taugenichts und Die Bergwerke zu

Falun unterstützt die These, dass das Thema des Außenseiters in der Literatur der Romantik unterschiedliche Interpretationen bekommt und mehrfache Maßstäbe zum Definieren dieses

Begriffs enthält. Die Kriterien und die Voraussetzungen zur Entwicklung solch einer sozial ausgeschlossenen Position nehmen im Werk Eichendorffs einen zu Hoffmann unterschiedlichen Platz ein. Die erwähnte Ähnlichkeit der Autoren im Erzähleinsatz ändert sich mit der Entwicklung der Haupthandlung. Elis begegnet der mystifizierten Person des alten Bergmanns Torbern und entdeckt für sich den neuen Sinn des Lebens im

„unermesslichen Reichtum der Erzgrube220“. Vermutlich liegt die Verführung solch einer auf den ersten Blick trüben Zukunft nicht im Wunsch des Reichwerdens, sondern in der psychologisch erklärbaren Gelegenheit, sich von der unerträglichen Gegenwart für immer zu verstecken. Die Befreiung von dem langjährigen Leiden und der tiefen Depression ist eines der wichtigen Motive für die Entscheidung, nach dem unbekannten und fremden Falun zu wandern. Was noch wichtiger ist, die unterirdische Welt der Bergwerke soll für Elis einen in der Kindheit geahnten Zauber vorbereiten, der alle seine Schmerzen und Leiden stillt und ihm die Gefühle der Lust und der Freude zurückbringt.

Er fühlte seine Brust beklemmt, es war ihm, als sei er schon hinabgefahren mit dem Alten in die Tiefe, und ein mächtiger Zauber halte ihn unten fest, so dass er nie mehr das freundliche Licht des Tages schauen werde. Und doch war es ihm wieder, als habe ihm der Alte eine neue unbekannte Welt erschlossen, in

220 Hoffmann. 215. 120

die er hineingehöre, und aller Zauber dieser Welt sei ihm schon zur frühsten Knabenzeit in seltsamen geheimnisvollen Ahnungen aufgegangen221.

Im Unterschied zu Elis erlebt der Taugenichts am Anfang des Romans weder tiefe

Isolationsgefühle noch starke Depressionen. Sogar beim Verlassen seines Heimatdorfes verzichtet der Müllersohn in der Tat nur auf wenige wertvolle Bestandteile seines ursprünglichen Lebens, zu dem er seine Beziehung nie verliert. Einer dieser Bestandteile ist die Familie. Abgesehen vom kühlen Abschied seines Vaters muss Elis Beziehung zur Familie als ein wichtiges Bindeglied der Wirklichkeit bezeichnet werden. Dank seiner fortgeschrittenen Fähigkeiten in Musik war Elis imstande, während seiner Kindheit ordentlich Geige spielen zu lernen, was eine Menge Zeit in Anspruch genommen haben muss und damit für den dörflichen Lebensstil ein Luxus gewesen ist. Vermutlich müssen Elis

Eltern die Entwicklung der künstlerischen Begabung ihres Sohns gefördert haben. Solch eine

Nachsicht hatte doch ihre Grenzen und wuchs im bestimmten Moment zu Vaters

Unzufriedenheit mit der übertriebenen Zeit- und Routinevergeudung. Es bleibt ihm nichts

übrig, als seinen eigenen Sohn aus dem Haus hinauszujagen. Die negativen Emotionen des

Vaters können seine ausgegangene Geduld nicht mehr verbergen. Er verzichtet auf die

Hoffnung, dass aus seinem Sohn eines Tages ein tüchtiger Bauer wird, und verabschiedet sich von seinem Kind leichten Herzens.

Ein anderer frappanter Unterschied zu dem introvertierten Verhalten und der von der

Realität abstrahierten Lebenswahrnehmung Elis besteht in Taugenichts ständiger

Bewunderung der umgebenden Welt. Seine Liebe zur Natur und an die Menschen charakterisiert den Taugenichts als eine offene, gesellige und freundliche Person. Die scharf ausgeprägte Angehörigkeit zur heimatlichen Region und deren Traditionen bestimmen das

Verhalten und die Weltanschauung des jungen Mannes. Er bewundert die wunderschönen

Alpenlandschaften, die neu gelernten Kulturen der Adeligen, Künstler und Handwerker, die

221 Ebenda. 177. 121 malerischen Schlösser und Städte. Während der Taugenichts solch eine kosmopolitische

Einstellung zum Ausland hat, entfernt er sich nie von seiner Vergangenheit des Müllersohns.

Seine Zeit während der Wanderung kennzeichnet sich nicht nur durch die begeisterte

Stimmung, sondern auch die tief kontemplativen Zustände der Verträumtheit und der

Wehmut. In den Momenten des Heimwehs und des Gefühls der Verlorenheit in der fremden

Welt nähern sich Taugenichts Offenbarungen den Klagen Elis über die feindliche

Wirklichkeit. Doch wachsen die erlebten Zustände der Einsamkeit auf keinen Fall zu

Depression und innerlicher Zerrissenheit. Im Gegenteil demostriert der Taugenichts gedankliche Konzentriertheit und eine Neigung zum analytischen Denken.

Die analytische Kontemplation ist ein natürlicher Zustand für den Taugenichts. In jedem der Kapitel sieht man den Protagonisten über seinen Platz in der Welt reflektieren.

Nämlich durch solche höchst melancholischen Gedankenprozesse erreicht er die seelische

Reife. Also kann gesagt werden, dass im Unterschied zur destruktiven Natur der seelischen

Verschlossenheit und des sich entwickelnden inneren Zwiespalts Elis die Einsamkeit im

Roman Eichendorffs kein Versagen der eigenen Kraft und des Selbstbewusstseins bedeutet.

Die Entwicklung des Einsamkeitsgefühls wird entweder durch die assoziativen oder die direkten Umstände bedingt. Die assoziativen Umstände beziehen sich auf die miterlebten

Gefühle und Stimmungen der Menschen, mit denen sich der Taugenichts unterhält. Er verbringt viel Zeit in der Gesellschaft der Künstler und der Studenten, deren Lebensweise für den Wanderer Nostalgie und Heimwehgefühle verursacht. Der Taugenichts gerät öfters unter den Einfluss solcher nostalgischen und melancholischen Stimmungen, deren rätselhaften

Gründe er zu analysieren versucht.

Ich weiß nicht - wie er so erzählte, ging es mir recht durchs Herz, dass so gelehrte Leute so ganz verlassen sein sollten auf der Welt. Ich dachte dabei an mich, wie es mir eigentlich selber nicht anders ginge, und die Tränen traten mir in die Augen222.

222 Eichendorff. 154. 122

Manchmal wird das Gefühl der Einsamkeit durch die im bestimmten Augenblick gesehenen Bilder der überwältigenden Natur, der unübersehbaren Landschaft oder der Stille des eingeschlafenen Alltags verursacht. Der Taugenichts projiziert sich auf die Unendlichkeit der fremden Welt und des schwarzen Nachtshimmels, in dem er als ein einsamer Stern funkelt. Im Hintergrund der grenzenlosen Ferne fühlt er sich einsam und verlassen.

Der Mond schien prächtig, von den Bergen rauschten die Wälder durch die stille Nacht herüber, manchmal schlugen im Dorfe die Hunde an, das weiter im Tale unter Bäumen und Mondschein wie begraben lag. Ich betrachtete das Firmament, wie da einzelne Wolken langsam durch den Mondschein zogen und manchmal ein Stern weit in der Ferne herunterfiel. So, dachte ich, scheint der Mond auch über meines Vaters Mühle und auf das weiße gräfliche Schloss. Dort ist nun auch schon alles lange still, die gnädige Frau schläft, und die Wasserkünste und Bäume im Garten rauschen noch immerfort wie damals, und allen ist’s gleich, ob ich noch da bin, oder in der Fremde, oder gestorben. - Da kam mir die Welt auf einmal so entsetzlich weit und groß vor, und ich so ganz allein darin, dass ich aus Herzensgrunde hätte weinen mögen223.

Diese Szene wie auch viele andere ähnliche Szenen zeugen nochmals davon, dass der

Taugenichts die Zustände der Einsamkeit zu vermeiden versucht. Er tendiert viel mehr Zeit als Elis in der Gesellschaft zu verbringen und von der Gesellschaft zu lernen.

Zusammenfassend besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen den romantischen

Helden Eichendorffs und Hoffmanns in ihrer generellen Einstellung zur umgebenden Welt.

Der Taugenichts bewundert die vorhandene Wirklichkeit in allen ihren Erscheinungen, einschließlich der geheimnisvollen Seiten des Universums. Seine Wahrnehmung der mystischen und rätselhaften Dinge und Ereignisse suggeriert die gedankliche Verarbeitung des Unsichtbaren und seine Annäherung zur Wirklichkeit. Er versucht das Jenseits für sich zu erklären und es mit dem Diesseits zu verbinden, während Elis diese zwei Seiten absichtlich trennt. Damit nähert sich der Taugenichts der Vorstellung Eichendorffs über die Natur des echten romantischen Künstlers.

223 Ebenda. 99. 123

Der rätselhafte Sinn der umgebenden Welt erschließt sich im poetischen Menschen oder künstlerischen Rezipienten, welcher sich der Natur und Natur- Kunst nicht als eines bloßen Spiegels seinen eigenen Ich verschließt, sondern deren abgebrochenen, wundersamen Laute erlauscht und zu deuten versucht224.

Um die feinen Rätsel der unsichtbaren Welt und der Zusammenhänge zwischen dem

Irdischen und dem Ewigen zu lösen, muss sich der wandernde Künstler auf den Prozess der

Anschauung konzentrieren und den sonst verborgenen Tönen des Universums lauschen. Der

Leser findet den träumerischen und nachdenklichen Helden öfters im Zustand der tiefen

Kontemplation, die in ihrer endgültigen Phase die Ängste des Taugenichts vertreibt, euphorische Emotionen hervorruft und zur aktiven Tätigkeit motiviert. Die umgebende Welt ist für ihn die Quelle der vitalen Energie. Der Taugenichts weiß die Festlichkeit der Natur und der Landschaft hochzuschätzen, die für ihn immer wieder in der Form der Harmonie mit dem Gemüt vorkommen. Im Gegensatz zu ihm zeigt Elis kaum Interesse für die ihn umgebende Natur. Die begeisterten Emotionen und Gefühle werden ausschließlich von den unterirdischen Bildern der Bergwerke hervorgerufen. Die Letzteren beziehen sich aber wenig auf die alltägliche reale Welt und werden seinem mystischen Charakter nach dem Bereich des

Wirklichen eher gegenübergestellt.

Eichendorff schafft die Bilder der perfekten landschaftlichen Idylle, die in sich nur die sanften Züge der Erhabenheit enthält. Die Elemente des überwältigenden Erhabenen werden in den Szenen der Anschauung vom Autor vermieden, so dass der Protagonist immer mit der beobachteten Umwelt den Einklang gefunden zu haben scheint.

Eines Abends war die Herrschaft auf die Jagd geritten; die Sonne ging eben unter und bedeckte das ganze Land mit Glanz und Schimmer, die Donau schlängelte sich prächtig wie von lauter Gold und Feuer in die weite Ferne, von allen Bergen bis tief ins Land hinein sangen und jauchzten die Winzer225.

224 Karl. 26. 225 Eichendorff. 79. 124

Nach dem vollendeten Bild der Naturidylle erarbeitet Eichendorff den genauso perfekten Tonhintergrund. Die Klänge der Außenwelt spiegeln den Seelenaufschwung des sich auf das aktive Leben freuenden Helden wider. Das Glanz und der Schimmer, das Gold und die Feuer der unendlichen Ferne können auf keinen Fall als gemeine Wirklichkeit bezeichnet werden. Auf der anderen Seite sind es die attributiven Charakteristika des realen

Landes, der Felder und des Flusses.

Der Taugenichts erlauscht sich den Tönen des im Glanz der Sonne verhallenden

Tages und der einschlafenden Natur. Wie in Hoffmanns Szene mit dem von den feiernden

Seeleuten gestörten Elis wird auch der Taugenichts im Augenblick der tiefen

Nachdenklichkeit durch die Hörner der Jäger unterbrochen. Seine Reaktion auf den störenden

Missklang der lauten Jägergesellschaft ist aber gar nicht so negativ wie bei Elis, der sich sofort in sich zurückzieht und sich vor allem mit der Außenwelt in die Auseinandersetzung stellt. Der städtische Karneval verstärkt die psychologische Krise Elis, während der

Taugenichts in den Missklängen nur noch eine andere Bestätigung davon findet, dass er auf dem ansässigen Jagddienst und in der philiströsen Gesellschaft, wie, zum Beispiel, der

Gesellschaft des Portiers, nicht mehr bleiben will.

Ich saß mit dem Portier auf dem Bänkchen vor meinem Hause und freute mich in der lauen Luft, wie der lustige Tag so langsam vor uns verdunkelte und verhallte. Da ließen sich auf einmal die Hörner der zurückkehrenden Jäger von ferne vernehmen, die von den Bergen gegenüber einander von Zeit zu Zeit lieblich Antwort gaben. Ich war recht im innersten Herzen vergnügt und sprang auf und rief wie bezaubert und verzückt vor Lust: Nein, das ist mir doch ein Metier, die edle Jägerei!226

Obwohl sich der Taugenichts während der Anschauungsprozesse auch wie Elis in sich zu vertiefen pflegt, richten sich seine Gedanken und Reflexionen selten auf die

Vergangenheit und viel mehr auf die Gegenwart und die Zukunft. Solch eine Denkweise und solch eine Wahrnehmungsperspektive erlauben dem Helden in seinem Streben konstruktiv zu

226 Ebenda. 79. 125 bleiben und damit seine Ziele des künstlerischen Wanderers zu erreichen. Eines dieser Ziele besteht in der Vereinigung des Menschen und der Natur. Das Geheimnis der Letzteren soll für den Taugenichts verständlich und zugänglich werden. Ihre entzifferten und ausgedeuteten

Laute müssen sich mit den Lauten des eigenen Gemüts harmonievoll vereinigen. Nur in enger

Verbindung zur Wirklichkeit kann das Geheimnisvolle fürs Leben des Taugenichts bedeutsam sein und für seine Erstrebungen praktisch verwendet werden.

Im Gegenteil stoßt Elis die Laute der Wirklichkeit ab, indem er sich in sich selbst verschließt. Wie die Stimmung der feiernden Matrosengesellschaft ist ihm auch das ganze

Leben fremd geworden. Elis entwickelt sich nicht zum romantischen Künstler, weil sein

Traumbild und die Wirklichkeit nicht korrelieren. Auf der psychologischen Ebene beobachtet man ein permanentes Unangenehmsein, an das sich Elis, einerseits, gewöhnt hatte, und mit dem er, andererseits, sogar zufrieden bleibt. Er lässt nichts und niemanden in seine innere

Welt. Seine Vereinigung ist weder mit der Gesellschaft noch der Natur möglich. Jeder

Versuch der persönlichen Teilnahme wird von Elis höflich abgelehnt.

Am Anfang der Erzählung sieht man solch eine Aberkennung der äußerlichen

Aufmerksamkeit zweimal. Zuerst wird vom jungen Mann der Vorschlag seiner Kameraden abgelehnt, an der traditionellen Feier teilzunehmen. Die Ablehnung des Vorschlags ist in dem

Fall äußerst verständlich, weil die Kameraden mit ihrer Zudringlichkeit den Lebensstil Elis und seine Weltanschauung wenig respektieren. Ihre Generalisierung des Begriffs des anständigen Seemanns lässt nicht viel Raum für die Flexibilität und Selbständigkeit in der

Denkweise. Der Rahmen ihrer Definition der Anständigkeit beschränkt sich vor allem auf die

“wichtige“ Fähigkeit des Trinkers, der seine Dukaten gern in den Bierstuben ausgibt.

Bist du mal wieder ein recht trauriger Narr worden und vertrödelst die schönste Zeit mit dummen Gedanken? - Hör', Elis, wenn du von unserm Hönsning wegbleibst, so bleib lieber auch ganz weg vom Schiff! Ein ordentlicher tüchtiger Seemann wird doch so aus dir niemals werden. Saufen

126

kannst du gar nicht und behälst lieber die Dukaten in der Tasche, als sie hier gastlich den Landratzen zuzuwerfen227.

Weder Hoffmann noch Eichendorff stellen sich die Aufgabe, den „guten“, positiven

Helden der “bösen“ Umwelt gegenüberzustellen. Die Vertreter der Gesellschaft werden in ihren Charakteren dynamisch angelegt. Zum Beispiel sieht man keine tendenziöse

Darstellung der Seeleute als der antagonistischen Figuren, von denen der Held außer dem moralischen Druck, der unbegründeten Kritik und den Verständigungsschwierigkeiten nichts mehr erwarten kann. In ihrem aufdringlichen Benehmen halten die Matrosen doch Maß. Sie zeigen auch ihr positives Verhältnis zu Elis, wenn sie bemerken, dass er „genug Mut hat und tapfer in der Gefahr ist228“. Wenn die Herzlichkeit der aktiven Teilnahme der Kameraden im

Leben Elis doch in Frage gestellt wird und als Folge vom unglücklichen Protagonisten zurecht abgelehnt wird, kann die Szene mit der Elis tröstenden Dirne nicht auf die gleiche

Kritikebene wie die Beurteilung der Seeleute gestellt werden.

Ihr Verhältnis zu Elis ist ehrlich und mitfühlend. Sie spricht mit leiser, sanfter

Stimme, indem sie den Arm um den Jüngling schlingt. Ihr „süßes Gelispel klingt recht in

Elis’ Inneres hinein229“. Sie verdient vom jungen Mann ein besonderes

Einfühlungsvermögen, das er auch demostriert und ihr als Zeichen seiner Dankbarkeit ein

„schönes ostindisches Tuch230“ schenkt. Doch klingen die ermunternden Worte des

Mädchens nicht genug überzeugend und erwecken im jungen Mann keinen Wunsch, sich in seinen Gefühlen und Gedanken an die Gegenwart zu wenden. Im Vergleich zum Taugenichts gelingt es Elis nicht, sogar einer einzigen Person zuzuhören, dem Aufruf zum aktiven Leben zu folgen und dadurch seinen überzeugten Glauben an die fatale Auswegslosigkeit zu ändern.

Auch dieses Mal beklagt sich Elis über sein Schicksal, nämlich dass es mit seiner „Freude,

227 Hoffmann. 209. 228 Ebenda. 209. 229 Ebenda. 211. 230 Ebenda. 211. 127 mit seiner Lust nun einmal gar nichts ist231“. Auf das weitere Gespräch mit dem Mädchen verzichtend, versinkt Elis „aufs Neue in seine düstre Träumerei232“. Die Wirklichkeit bleibt für ihn nur ein unerträglicher Nachhall der traurigen Vergangenheit, in der seine Familie, sein

Glück und seine Seele geblieben sind.

Zusammenfassend werden die Gegenwart und die Vergangenheit in der

Wirklichkeitswahrnehmung Elis gegenübergestellt und durch seine absichtliche In-Sich-

Verschlossenheit und seine Weltfremdheit in eine starke Auseinandersetzung gebracht.

Umgekehrt kennzeichnet sich die Gegenwart-Vergangenheit-Beziehung für den Taugenichts als eine logische und dynamische Entwicklung der eigenen Identität, der seelischen Stärke und des künstlerischen Charakters. In Bezug auf die Schlussphase jedes der Werke bestätigen

Die Bergwerke zu Falun und Aus dem Leben eines Taugenichts die Wichtigkeit der unzertrennlichen Verbindung zwischen der Vergangenheit, der aktuellen Gegenwart und der angestrebten Zukunft als einer zusammenhängenden Einheit. Der vom Protagonisten eingebildete Existenzkampf und die scharf ausgeprägte Lebenskrise werden durch den

Verlust des Vertrauens zu den Menschen, dem Umfeld, der Gegenwart und schließlich der umgebenden Wirklichkeit verursacht.

231 Ebenda. 173. 232 Ebenda. 173. 128

4.W. Odojewskis Sylphide im Kontext der Werke Hoffmanns und Eichendorffs

4.1 Die Entstehung der romantischen Bewegung in Russland

Obwohl die Entstehung und die Entwicklung der russischen Literatur der Romantik im Vergleich zu Westeuropa durch unterschiedliche historisch-politische Ereignisse und sozio-kulturelle Umstände geprägt wurde, finden sich gewisse Ähnlichkeiten in den hier angeführten Werken bei den deutschen und russischen Autoren des ersten Drittels des 19.

Jahrhunderts. Diese Ähnlichkeiten bestehen vor allem in der Eigenart und der

Selbstständigkeit der nationalen Literatur, die die jahrhundertealten Traditionen und Bräuche zusammen mit der Spezifik des gegenwärtigen Alltags ins Zentrum des künstlerischen

Schaffens stellte.

Die Romantiker erneuerten die in der klassizistischen Tradition geprägte literarische

Denkweise. Sie änderten auch die veraltete Kirchenslawische Literatursprache. Von Anfang an bezeichneten sich die jungen russischen Schriftsteller als Boten der Freiheit im politischen, kulturellen und literarischen Leben. Sie stellen die freiheitsliebende

Persönlichkeit und ihre reiche Welt der Gefühle und der Leidenschaften ins Zentrum der

Diskussion. Die meisten Autoren sind junge Menschen, die mit ihrem momentanen leidenschaftlichen Schwung gegen die Grundgesetze und die Prinzipien der veralteten

Traditionen der leibeigenen und patriarchalischen Gesellschaft kämpften. Die politisch gemäßigte Einstellung der deutschen Romantiker sowohl zum literarischen aufgeklärten

Klassizismus als auch zur traditionellen sozialen Lebensordnung unterscheidet sich von der

Einstellung der Autoren wie Wladimir Odojewski und Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker

(1797 – 1846), die als revolutionär und rebellisch bezeichnet werden können. Besonders in ihren Frühwerken sieht man den Protest gegen die lange Stagnationszeit. Das Volk, der Staat und die Intelligentia wurden wegen ihrer politisch unengagierten Schlafzustände und ihrer sozialen Untätigkeit stark kritisiert.

129

In seinem Artikel „Über den Charakter unserer Dichtung, besonders der lyrischen, im letzten Jahrzehnt”233 („О направлении нашей поэзии, особенно лирической, в последнее

десятилетие“) von 1824 schreibt Küchelbecker, der russische adlige Revolutionär und

Romantiker-Dekabrist, über die neue romantische Dichtung. Er sagt, dass “die Freiheit, die

Erfindung und die Neuheit die Hauptvorteile der romantischen Dichtung gegenüber der sogenannten klassischen Dichtung der modernen Europäer darstellen“234 (Свобода,

изобретение и новость составляют главные преимущества романтической поэзии перед

так называемою классической позднейших европейцев). Solch eine kritische Bemerkung

über die vorangegangene Literatur des Klassizismus spiegelt die Stimmung der meisten jungen Dichter und Schriftsteller wider, die einen literarischen Umsturz proklamierten. Sie formten ihre eigene Gruppe und stellten sich dem autoritären monarchischen Staat und der

Zersplitterung des Volkes entgegen. Dabei konzentrierten sie sich auf die sozialen und

ästhetischen Ideale der Romantik und demonstrierten ihre Bestrebungen der Öffentlichkeit, um damit das nationale Bewusstsein aufzuklären und neue Ideen zu fördern.

Besonders nach den historischen Ereignissen von 1812, dem Befreiungskrieg gegen

Napoleon, prägten die patriotischen Ideen der Freiheit und des vereinigten Nationalgefühls die neue Literatur. Ein vom Krieg gegen Napoleon beeinflusstes Beispiel ist W. Schukowskis

Gedicht „Der Sänger im Lager der russischen Kämpfer“ („Певец во стане русских воинов“) von 1812, in dem der Dichter neben dem heroischen Pathos die alltäglichen lyrischen

Charakteristika in den Begriff der Heimat einschließt und damit dem Leser das abstrakte

Motiv des Patriotismus im Kontext einer bereits bekannten Realität schildert.

Страна, где мы впервые Вкусили сладость бытия, Поля, холмы родные, Родного неба милый свет, Знакомые потоки,

233 Titel übersetzt vom Autor. 234 Küchelbecker, Wilhelm. О naprawlenii naschei poesii, osobenno liritscheskoi, v posledneje desjatiletie. In: Küchelbecker W.K. Puteschestwie. Dnewnik. Statji. Leningrad, 1979. 457. (Übersetzt vom Autor) 130

Златые игры первых лет И первых лет уроки235.

Das Land, wo wir zum ersten Mal Alltäglichkeit genossen, Die Felder und das Heimattal, Wo Himmelslichter flossen, Der jungen Jahre goldnes Spiel Der jungen Jahre Lehre236.

An Stelle des rhetorischen Pathos und der mehrfachen Erwähnung von Zar und Gott tritt zum ersten Mal das alltägliche Leben als bewundernswertes Objekt der künstlerischen

Darstellung in den Vordergrund. Für die neuen Schriftsteller ist es wichtig, dass die

Heldentaten nicht der Kirche und der Autokratie, sondern der bekannten Heimat, der geliebten Natur und dem eigenen irdischen Lebensglück gelten. Die jungen Romantiker wie

Baratynski, Schukowski, Lermontow, Puschkin und Anton Antonowitsch Delwig (1798 –

1831) bringen in ihr Porträt der sozialen Welt sowohl die Vertreter des Adels hinein als auch die der Mittelklasse und anderer Schichten des russischen Volkes. Die gesellschaftlichen

Vorbilder verlieren so ihren epischen und heiligen Charakter.

Im Gegensatz zu solchen Gestalten werden die neuen Figuren viel mehr durch ihre menschlich realistischen Züge ergänzt. An die Stelle des fundamentalen, historisch- abstrakten und religiösen Helden treten unterschiedliche Repräsentanten der gegenwärtigen

Generation. Das Leben und das Verhalten dieser neuen Protagonisten können von den meisten Lesern leicht erkannt werden. Ihr Bewusstsein, ihre Psychologie und ihre Interessen ersetzen die standesgemäßen Archetypen aus den Werken Denis Iwanowitsch Fonwisins

(1744 – 1792) und Gawriil Romanowitsch Derschawins (1743 – 1816), die ihr Schaffen dem französischen Klassizismus anpassten. An die Stelle vom aufklärerischen Kampf der Völker gegen den religiösen Fanatismus und den Absolutismus des Staates tritt das Thema der

235 Schukowski, Wassili. Pevets vo stane russkikh woinow. In: W.A. Schukowki. Stikhotworenija. Poemy. Prosa. Moskwa: Sowremennik, 1983. 64. 236 Übersetzt vom Autor, um die in der russischen Version hervorgehobene Alltäglichkeit und das landschaftliche Bild in der Übersetzung hervorzuheben. 131 individuellen Freiheit. Die gegenwärtige Stellung des Individuums in der Gesellschaft, sein

Verhalten und die Rätsel der menschlichen Psychologie ersetzen die historische Bürgerpflicht als zentrales Motiv der Darstellung. Das umstrittene Verhältnis zwischen Bürgertum und

Künstler, sowie das individuelle Schicksal jeden Charakters werden zum Thema der literarischen Überlegung.

4.2 Die russische Romantik im europäischen Kontext

Eine reife Form der Romantik kommt einige Jahre später als ihre westlichen - deutschen, englischen und französischen Versionen - nach Russland. Sie entwickelt sich schnell, ohne jegliche wesentliche Übergangsphasen vom vorangegangenen Klassizismus.

Sie erfuhr keine wesentlichen Einflüsse von dem deutschen Sturm und Drang, der englischen

Schauerliteratur und dem französischen gotischen Roman. Das Spätwerk Johann Wolfgang von Goethes und Friedrich Schillers, die Empfindsamkeit im Stile Jean-Jacques Rousseaus, die Graveyard Poetry Joseph Wartons (1722 – 1800) und Thomas Percys (1729 – 1811) wurden dem russischen Publikum erst bekannt, nachdem die vorromantischen Prozesse in

Westeuropa schon längst vollendet waren und die romantische Literatur ihre Blütezeit fast erlangt hatte. Dazu hatten mehrere russische Autoren eine negative kritische Haltung gegenüber den literarischen Ideen des Westens. Die scharfe Kritik richtete sich nicht nur auf die unreifen literarischen Versuche der einzelnen Autoren, sondern auch auf die ganze vorromantische Literatur des jeweiligen Landes. So drückte Puschkin seine negative

Meinung über den zu konservativen Charakter der französischen Dichter aus, die sich in ihrer innovativen Dichtung immer noch an die überholten klassizistischen Formen hielten.

Век романтизма не настал еще для Франции. Лавинь бьется в старых сетях Аристотеля. Он ученик трагика Вольтера, а не природы. Tous les recueils de poésies nouvelles dites Romantiques sont la honte de la littérature française237.

237 Puschkin, A.S. Brief an P.A. Vyasemski vom 5.Juli. 1824. Digitalisiert. In: http://www.rvb.ru/pushkin/01text/10letters/1815_30/01text/1824/1263_80.html. 132

Die Epoche der Romantik kam immer noch nicht nach Frankreich. Delavigne bleibt in den Fängen des Aristoteles. Er ist ein Schüler Voltaires und nicht der Natur. Alle sogenannten romantischen Gedichtbänder sind eine Schande für die französische Literatur238.

Die russischen Romantiker wendeten sich sowohl gegen die vernunftorientierte

Weltanschauung der Aufklärung, als auch gegen die erstrangige Stelle des Gefühls im Sturm und Drang, als auch gegen das religiöse Mitleid der Literatur der Empfindsamkeit. Die

Autoren schilderten und betonten die Vielfalt der menschlichen Natur so wie ihre beiden wichtigen Seiten - den Verstand und die Seele. Weder Zar noch Gott noch die über den Feind triumphierenden Helden, sondern die realen Menschen erweckten das Interesse der neuen

Generation der Dichter. Letztere setzten das Privatleben ins Zentrum ihrer Darstellung und akzentuierten so sowohl die Mangelhaftigkeit der moralischen als auch der ästhetischen Seite dieses Lebens.

Durch ihre starke Kritik an der sozialen Wirklichkeit entwickelte sich die neue

Literatur unmittelbar in Richtung des Realismus. Der literarische Gedanke befreite sich einerseits von pseudoklassizistischen Vorurteilen, veralteten Moralvorstellungen und sozialen

Tabus. Andererseits konzentrierten sich die Autoren auf die Bewahrung und die Bestätigung des nationalen Charakters und seiner Einmaligkeit. Insbesondere diese Einmaligkeit unterscheidet die russische von der westeuropäischen, unter anderem der deutschen

Romantik.

Die Thematik der rätselhaften und gequälten Seele und des Strebens des

Einzelgängers nach der Befreiung von veralteten konventionellen Fesseln der russischen

Literatur stimmten mit der rebellischen, leidenschaftlichen und zwangslosen Dichtung Lord

Byrons (1788 – 1824) überein. Im Hinblick auf die vorromantische Übergangsphase nahm insbesondere der englische Byron unter den einflussreichsten westlichen Autoren einen zentralen Platz ein. Seine Dichtung wurde von den russischen Schriftstellern einstimmig

238 Übersetzt vom Autor. 133 begeistert rezipiert. Sie wurde als ein dialektischer Versuch interpretiert, sich der historischen

Vorausbestimmung gegenüberzustellen und sich mit einem eigenen starken Willen, einer unermesslichen Leidenschaft von den konventionellen Grenzen des Alltags ins ewige Freie loszureißen. Lord Byron ist der bekannteste Dichter, der von Pjotr Andrejewitsch Wjasemski

(1792 – 1878), Schukowski, Lermontow und mehreren anderen Autoren jener Zeit nachgeahmt wurde. Die Begeisterung über Byrons Dichtung spiegelte sich in der geistigen

Stimmung, sowie in der künstlerischen Denkweise der russischen Autoren wider. Unter den zahlreichen begeisterten Aussagen galten Schukowskis Worte als Zeugnis einer starken

Zuneigung zur leidenschaftlichen Dichtung Byrons:

Байрон – дух высокий, могучий, но дух отрицания, гордости и презрения. В Байроне есть сила, стремительно влекущая нас в бездну сатанинского падения. Но Байрон сколь не тревожит ум, ни повергает в безнадежность сердце, ни волнует чувственность, его гений имеет высокость необычайную239.

Byron hat die mächtige, erhabene Seele, die aber durch die Verneinung, den Stolz und die Verachtung geprägt ist. Byron hat die Macht, die uns in den Abgrund des teuflischen Verfalls führt. Obwohl Byron unseren Verstand beunruhigt und unser Herz hoffnungslos macht, hat sein Genie eine ungewöhnliche Erhabenheit240.

Die Begeisterung über Byrons Genie hatte unterschiedliche Gründe und teilte die

Verehrer in drei Gruppen, die L. Price folgendermaßen einteilte:

There remain the three really important groups: the first composed of those who were inspired like Byron with a zeal to aid the liberty of oppressed races, the second of those who set to effect the political improvements in their own country, the third of those who were bound to Byron by a like Pessimismus, Weltschmerz, Blasiertheit, or Verzweiflung241.

Die meisten russischen Romantiker gehörten der zweiten Gruppe der Bewunderer an und fanden in Byrons Werk eine Quelle der rebellischen Energie. Byrons einmaliger Protest gegen die Tradition hatte die literarischen Eigenschaften, nach denen die russische Literatur

239 Schukowski, W. А. Estetika i kritika. Moskwa: Iskusstwo, 1985. 336. 240 Übersetzt vom Autor. 241 Price, Lawrence Marsden. English-German Literary Influences. Volume 9. Berkley: University of California Press, 1919. 521. 134 vom Anfang des 19. Jahrhunderts an trachtete. Unter diesen Eigenschaften war das mutige

Neuere der Themen des Übermenschtums und der heiligen Seele, die dem Kunstgenie als außerordentliche Gabe gegeben ist. Diese Themen spiegelten sich insbesondere in der

Dichtung Lermontows und Schukowskis wider. Lermontows eigenartige Poesie erinnert in ihrem Stil und ihrem Inhalt an Byrons Dichtung:

По небу полуночи ангел летел И тихую песню он пел; И месяц, и звезды, и тучи толпой Внимали той песне святой.

Он пел о блаженстве безгрешных духов Под кущами райских садов; О боге великом он пел, и хвала Его непритворна была.

Он душу младую в объятиях нес Для мира печали и слез; И звук его песни в душе молодой Остался — без слов, но живой.

И долго на свете томилась она, Желанием чудным полна; И звуков небес заменить не могли Ей скучные песни земли242.

Ein Engel flog singend durchs Himmelsgefild, sein Lied klang verhalten und mild; ihm lauschten, erstrahlend in schimmernder Pracht, der Mond und die Sterne der Nacht.

Er sang von dem ewigen seligen Sein der Seelen, die sündlos und rein, er sang vom allmächtigen Herrn – und sein Lob zu lauterer Andacht erhob.

Er trug eine knospende Seele im Arm zur Erde in Tränen und Harm, der Klang seines Liedes verblieb sonder Wort der Seele als heiliger Hort.

Sie duldete lange in irdischer Nacht, von traumhafter Sehnsucht umwacht,

242 Lermontow, Michail Jurjewitsch. Angel. In: Sotschinenija. Bd.1.Moskwa: Khudozhestwennaja literatura, 1970. 201. 135

ihr konnte kein Lied, das auf Erden erklang, ersetzen des Himmels Gesang243.

Das Gedicht „Engel“ von 1831 in der Übersetzung W. Groegers zeichnet sich durch seine Motive der traumhaften Sehnsucht, sowie der geheimnisvollen Natur und der Seele des

Künstlers als typisches romantisches Werk aus. Der Engel ist eine symbolische Fugur fürs romantische Werk. Sein Bild ist erhaben und überreal. Er gehört nicht in die irdische Welt, deren Gesang ihm fremd ist. So einsam und unverstanden fühlt sich der romantische

Einzelgänger. Das Gedicht erinnert an mehrere westeuropäische Dichter, die Lermontows

Werk beeinflusst haben mögen. Ähnliche lyrische Motive findet man neben Byron in den deutschen Gedichten und Prosawerken Novalis, Brentanos und E.T.A. Hoffmanns, die sich mit dem rätselhaften Verhältnis der menschlichen Seele, der erhabenen Natur und ihrer geheimnisvollen Seiten zum Hintergrund der romantischen Handlung machten. In diese

Reihe der Dichter kann auch Odojewski gestellt werden.

Die gequälte Seele des sozialen Außenseiters als wichtiges Objekt der romantischen

Darstellung wird unter den aktuellen historischen Lebensumständen geschildert, die der geographischen, ethnographischen und kulturellen Realität Russlands am Anfang des 19.

Jahrhunderts entsprechen. Unter den Schauplätzen stehen reale Orte wie St. Petersburg,

Moskau und allgemein bekannte provinzielle Städte und Regionen wie Gouvernements von

Tula, Orel und Kaluga im Mittelpunkt. Die mangelhaften sozialen Aspekte dieser Realität werden von den Romantikern stark kritisiert. Das literarische Werk wird zum potenziellen

Raum für den Ausdruck des kritischen Bewusstseins der liberalen Intelligentia. Das stärkere soziale und politische Engagement unterscheidet die russische romantische Bewegung von ihrer westlichen Version.

Novalis und andere deutsche Autoren der Jahrhundertwende betonten die Wichtigkeit der künstlerischen Darstellungsweise, die sich durch die Freiheit der dichterischen Form, die

243 Lermontow, Michail. Engel. In: http://gutenberg.spiegel.de/buch/144/4 136

Mischung der Genres und die Vielfalt der Themen kennzeichnen sollte. In ihrem Programm der literarischen Wendung hoben Schukowski, Küchelbecker, Delwig, Lermontow und

Puschkin vor allem die gesellschaftliche, sittliche und geistige Freiheit jedes Individuums hervor. Die russischen Dichter stellten die Auseinandersetzung des Individuums mit dem

Staat, dem Gesetz, der Moral und der Gesellschaft ins Zentrum der literarischen Diskussion.

4.3 Die russische Romantik und die Dezember-Revolte von 1825

Die Werke von Autoren wie Küchelbecker, Baratynski und Odojewski fielen zeitlich mit der ersten großen nationalen Freiheitsbewegung zusammen.

Декабристский романтизм – это литература героического энтузиазма, очень деятельная, вся нацеленная на идею свободы244.

Die dekabristische Romantik ist die Literatur des heroischen Enthusiasmus. Sie ist sehr produktiv und zielt auf die Idee der Freiheit245.

Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die russische Version der Romantik im

Vergleich zur deutschen durch eine Vereinigung solcher Darstellungsmotive wie

Individualität, der Seele und der Sehnsucht nach einem harmonischen Leben mit dem sozial engagierten Streben nach der Verbesserung des aktuellen Staatssystems kennzeichnet. Ein

Zeugnis eines solches Engagements sind die Widersprüche und die Auseinandersetzungen zwischen dem Staat und der Intelligenzia, einschließlich der Künstler, Dichter und

Schriftsteller.

Weniger als zwei Jahrzehnte nach der Bildung des ersten romantischen Kreises am

14. Dezember 1825 wurden die aufklärerischen Ideen der Freiheit, die Proteste gegen die

Leibeigenschaft, das willkürliche Zarenregime und die politische Zensur durch die Behörden

Nikolais des Ersten stark unterdrückt. Der Aufstand der Dezembristen246, der revolutionären

Adligen wurde mitsamt den Hoffnungen auf die liberalen Reformen niedergeschlagen. Die

244 Sakharow, W. I. Romantism v Rossiji: Epokha, Schkoly, Stili. Otscherki. Moskwa: IMLI RAN, 2004. 83. 245 Übersetzt vom Autor. 246 Unter den Dekabristen werden die Revolutionäre verstanden, die am 14. Dezember 1825 auf dem Platz von Synat und Synode in St. Petersburg gegen das Zarenregime aufgetreten sind. Im folgenden wird die deutsche Definition Dezembrist anstatt der russischen Definition Dekabrist benutzt. 137

Vertreter dieser Revolte, einschließlich einiger romantischer Dichter, wurden in die sibirischen Gefängnisse deportiert. Vom erwähnten Zirkel der Dichter gehörte Küchelbecker zu den adligen Inhaftierten, die ihre letzten Jahre in der Verbannung verbrachten. Als

Widmung an die verbannten Freunde schreibt A. Puschkin, 1827 sein berühmtes Gedicht

„Sendschreiben nach Sibirien“ („Послание в Сибирь“), in dem er seine Freunde unterstützt und offensichtlich mit deren mutigen rebellischen Ideen sympathisiert.

Во глубине сибирских руд Храните гордое терпенье, Не пропадет ваш гордый труд И дум высокое стремленье247.

In der Tiefe sibirischer Erze Bewahrt Geduld, seid stolz und klug. Euer Werk, das schicksalsschwere Wird wachsen im Gedankenflug248.

Das Wort Werk, die deutsche Übersetzung des russischen труд, enthält sowohl die

Bedeutung Mühe, Streben als auch den Hinweis auf literarisches Schaffen oder Kunstwerk.

Laut Puschkin soll das Kunstwerk den Gedankenflug sowohl in den nachfolgenden liberalen

Ideen als auch in dem literarischen Realismus erhalten.

Damit nahm das sozial-politische Engagement seinen konkreten Platz unter den wesentlichen Charakterzügen der russischen Romantik ein. Die meisten Dichter sympathisierten mit der liberalen Opposition und gaben ihr Mitgefühl im künstlerischen

Werk wieder. Somit werden die angestrebten künstlerischen Ideale im Rahmen der aktuellen sozial-historischen Problematik konkretisiert. Sowohl Dichtung als auch Prosa suchen in der russischen Romantik nach einem Zusammenhang zwischen den philosophisch-ästhetischen

Zielen, den traditionellen Tugenden und der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. Inwiefern der Grad des sozialen Engagements das künstlerische Werk jeweils beeinflusste, hing von der eigenen Einstellung zur politischen Situation der einzelnen Autoren ab. Die aktive

247 Puschkin, Alexader Sergejewitsch. Poslanije v Sibir. In: Sotschinenija. Bd.1. Moskwa: Khudozhestvennaja literatura, 1964. 240. 248 Übersetzt von E. Boerner. Es ist die bekannteste Übersetzung des Sendschreibens. 138 persönliche Teilnahme des Künstlers an der Diskussion der gesellschaftlichen ideologischen

Probleme war in den Schriftstellergesellschaften derartig bedeutsam und charakteristisch, dass sogar die Angehörigkeit zur jeweiligen literarischen Richtung, beziehungsweise dem

Kreis der Romantiker durch die politischen Anschauungen bestimmt wurde. Solche Schulen wie Jenaer, Berliner und Heidelberger Kreise unterschieden sich vor allem in ihrem

Kunstverständnis. Im Rahmen der Heidelberger Schule bildete sich zum Beispiel der eleusische Bund als selbstständiger Dichterkreis aufgrund des gegenwartsorientierten romantischen Schaffens. Der Bund schrieb der altgermanischen Mythologie und der

Volksdichtung erst sekundäre Bedeutung zu und setzte sich dann dadurch mit Achim von

Arnim und Clemens Brentano, den Hauptvertretern der Heidelberger Schule, auseinander.

Während sich die Polemik auch zwischen anderen deutschen Kreisen und Bünden im

Rahmen der literarischen Fragen entwickelte, unterschieden sich die russischen

Schriftstellergesellschaften in ihren Ansichten über die Rolle der Literatur im Kontext der konkreten sozialen Realität voneinander.

Die größte Opposition bestand zwischen den Romantikern-Dezembristen und den

Lyubomudry249 (любомудры). Die Kritiker heben unterschiedliche Hintergründe des

Konflikts zwischen den Kreisen hervor. Im Rahmen einer Analyse der deutschen und russischen Romantik sind vor allem die Unterschiede in der Weltanschauung und dem philosophisch-ästhetischen Programm zu betonen. Wenn man die ursprünglich sozial engagierte Einstellung als gemeinsames Kriterium für beide Kreise in Betracht zieht, kann die Beziehung auf die klassische westliche Philosophie als Ausgangspunkt zum unterschiedlichen Verständnis des romantischen Schaffens genannt werden. Basierend auf den eigenen Prinzipien gestalteten die Romantiker-Dezembristen aus der älteren Generation

249 Unter den Lyubomudry werden die Mitglieder des literarisch-philosophischen Zirkels 1823-1825 in Russland verstanden. Abgesehen von den vorhandenen Übersetzungen wie zum Beispiel Society of Wisdomloving (eng.) wird im folgenden die russische Bezeichnung der Gesellschaft benutzt. Diese Bezeichnung vereiningt am besten die Bedeutungen der Philosophie und der Weisheit, die unter dem russischen Wort Lyubomudrie verstanden werden. 139 wie Küchelbecker, Wladimir Fedosejewitsch Rajewski (1795 – 1872) und Kondrati

Fjodorowitsch Rylejew (1975 – 1825) ihre Werke, ohne die bereits existierenden

Grundtheorien und Programme zu der romantischen Dichtung und Prosa in Betracht zu ziehen.

У романтиков декабристского толка все вопросы решает мнение человека, отдельного человека, личности, - мнение не подлежащее апелляции к надличным авторитетам250.

Bei den Romantikern-Dezembristen beantwortet die einzige, einzelne und persönliche Meinung alle Fragen. Eine solche persönliche Meinung unterliegt keinem Zweifel und keiner übergerdneten Autorität251.

Sogar Hölderlin als Bewunderer der Französischen Revolution und seine im freien

Rhythmus innovativ geschriebene Dichtung fanden von den Dezembristen wenig Beachtung.

Die Romantiker-Dezembristen verstanden ihre dichterische Aufgabe als Kampf für die

Befreiung des Staates und des Volkes von der feudalen Leibeigenschaft und fanden ihre

Vorbilder in der national-historischen Vergangenheit. Sowohl die Helden der altrussischen

Geschichte wie beispielsweise Svyatoslav und Dmitry Donskoi als auch ihre Vorgänger aus der antiken Zeit wie Julius Cäsar, Achilles und die griechische Dichterin Sappho wurden oft zu den Hauptfiguren der Darstellung und sollten mit ihren vorbildlichen tapferen Heldentaten der revolutionären Ideologie dienen.

Zum wichtigen Versuch der Abgrenzung der revolutionär-romantischen Literatur von ihrer philosophisch-sentimentalen Richtung zählt der oben erwähnte Artikel Küchelbeckers

„Über den Charakter unserer Dichtung“. In diesem Artikel kritisierte der Autor die Poesie

Puschkins, Baratynskis und Schukowskis und bezeichnete Schukowski ausdrücklich als einen

Nachahmer der deutschen und englischen Literatur.

Подражатель не знает вдохновения: он говорит не из глубины собственной души, а принуждает себя пересказать чужие понятия и ощущения. Сила? - Где найдем ее в большей части своих мутных, ничего

250 Gukowski, G. A. Puschkin i russkije romantiki. Moskwa: Khudozhestwennaja Literatura, 1965. 313. 251 Übersetzt vom Autor. 140

не определяющих, изнеженных, бесцветных произведений? У нас все мечта и призрак, все мнится, и кажется, и чудится, все только будто бы, как бы, нечто, что-то. Богатство и разнообразие? Прочитав любую элегию Жуковского, Пушкина или Баратынского, знаешь все. Чувств у нас уже давно нет: чувство уныния поглотило все прочие252.

Der Nachahmer kennt keine Inspiration: er spricht nicht aus der Tiefe der eigenen Seele, sondern zwingt sich die Begriffe und die Empfindungen der Anderen nachzuerzählen. Die Stärke? Wo findet man sie unter den meistens trüben, nichts bestimmenden, verweichlichten, farblosen Werken? Wir kennen nur Träume und Geister. Es geht nur um das Bedenken, das Wunder und den Schein. Alles ist als ob, wenn nur, irgendwas und etwas. Der Reichtum und die Vielfalt? Wenn man irgendeine Elegie Schukowskis, Puschkins oder Baratynskis liest, weiß man alles im Voraus. Wir haben längst keine Gefühle mehr, - das Gefühl der Verzagtheit hat alles andere verschlungen253.

Aufgrund der eigenen Einstellung zu solch einer direkten und starken Kritik mussten sich die meisten Autoren dafür oder dagegen entscheiden. Dadurch unterstützten sie eine bestimmte Seite der Künstlergesellschaft und wählten so für sich die Kunstprinzipien aus. Im

Gegensatz zu den Dezembristen beruhte die Ideologie des Dichterzirkels der Lyubomudry nicht auf einem sozial-orientierten Programm, sondern auf philosophischen, ästhetischen und literaturwissenschaftlichen Fragen. Das Programm des Zirkels berief sich vor allem auf die

Philosophie des deutschen Idealismus, unter anderem auf die Werken Schellings, Fichtes und

Kants auf. Die Nennung der Lyubomudry-Gesellschaft untermauerte den bedeutsamen

Einfluss der deutschen literarisch-philosophischen Ansichten des 18. Jahrhunderts auf einige russische Autoren, insbesondere auf Wladimir Fjodorowitsch Odojewski.

4.4 Die Rezeption W. Odojewskis in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen

Kritik

Die Beurteilung des Werkes Odojewskis in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Rezeption unterscheidet sich von der Beurteilung der früheren

Zeiten, insbesondere der Literaturwissenschaftler in der ehemaligen Sowjetunion. Die

252 Küchelbecker, V.K. O Napravlenii nashei poezii, osobenno liricheskoi, v poslendee desyatiletie. In: Otrywki. Puschkin v prizhisnennoi kritike, 1820-1827. Sankt Peterburg: Gosudarstwennyi puschkinskij teatralnyi tsentr, 1996. 236. 253 Übersetzt vom Autor. 141

Hauptänderung in der Kritik Odojewskis bezieht sich vor allem auf die primären literarischen

Ziele und Aufgaben des Autors, die unter den verschiedenen historischen und politischen

Umständen interpretiert wurden. Die ideologisch stark geprägten Kritiker in der Sowjetunion bezeichneten Odojewski vor allem als einen aktiven Revolutionär-Dezembrist und betrachteten sein Werk als ein Beispiel der rebellischen, pro-revolutionären Literatur. Solch eine tendenziöse Missinterpretation der politischen Einstellung des Autors und die

Unterschätzung seiner Stärke als Philosoph und außerordentlicher Schriftsteller wurde allerdings in den kritischen Quellen der 1960er und 1970er Jahre von den westlichen

Wissenschaftlern hervorgehoben. Westliche Kritiker betonten, dass die politische

Ideologisierung des Werkes Odojewkis in der Sowjetunion einen offensichtlich übertriebenen

Charakter trug. Meine Einstellung zu solch übertriebenen Ideologisierungen stimmt mit dem folgenden Zitat aus dem Artikel „A Hollow Shape: The Philosophical Tales of Prince

Vladimir Odoevsky“ (1966) Simon Karlinskys überein.

The most recent Soviet edition of Odoevsky’s selected stories, edited with considerable scholarship suffers from a slanted and distorted presentation in which Odoevsky’s histiorical role and his philosophical views are falsified, with the result that the essence of Odoevsky, the idealist and mystic, disappears and only the patriot and nationalist remains254.

Die fehlerhafte ideologische Einschätzung Odojewskis ging in der post-sowjetischen russischen Kritik zurück. Vielmehr erfolgte eine wesentliche Umintepretation und

Neuentdeckung des Autors. Unter anderem betonte die neuere Kritik die entgegengesetzte politische Einstellung des Autors und deutete auf seine starke Auseinandersetzung mit den rebellischen Dezembristen hin. Obwohl die politischen Ansichten Odojewskis unter den zentralen Forschungsthemen des vorliegenden Kapitels nicht genannt werden können, soll dennoch die Einstellung des Autors zu der historischen Situation Russlands von Nikolai dem

Ersten und seiner reaktionären Regierungszeit erläutert werden.

254 Karlinsky, Simon. A Hollow Shape: The Philosophical Tales of Prince Vladimir Odoevky. In: Studies in Romanticism, Vol. 5, No. 3 (Spring 1966), 170. (Im folgenden als “Karlinsky” abgekürzt) 142

An dieser Stelle sollen dennoch zwei Charakteristika aufgeführt werden, die als Basis der Hauptanalyse des literarischen Werkes dienen und die Eigenart Odojewskis in Bezug auf die Werke Hoffmanns und Eichendorffs unterstreichen sollen. Einerseits soll das politische

Engagement des Autors nicht unterschätzt werden. Seine Kritik der sozio-politischen

Stagnation Russlands wurde nicht nur in seiner aktiven Tätigkeit als Herausgeber der liberalen Zeitschrift Mnemozina, sondern auch unmittelbar im literarischen Werk, unter anderem der hier analysierten Erzählung Sylphide deutlich. Andererseits trugen Odojewskis revolutionäre Ansichten keinen aktiven, rebellischen, sondern einen gemäßigten Charakter.

Auch während seiner Tätigkeit in Mnemozina und seiner Jahre im engeren Kreis der

Dezembristen, insbesondere dem höchst revolutionären Küchelbecker hob Odojewski die

Erstrangigkeit der Literatur als Kunst und nicht als politischen Instruments hervor.

In Bezug auf die aktuelle kritische Interpretation des Werkes Odojewskis sind für die vorliegende Analyse die Meinungen von Bedeutung, die vor allem auf die Tätigkeit des

Autors als Schriftsteller zielen. Nachfolgend werden drei bedeutsame Kritiken aus der

Sekundärliteratur zum deutsch-russischen Verhältnis in Odojewskis Werk analysiert. Diese sind A Hollow Shape: The Philosophical Tales of Prince Vladimir Odoevsky von Karlinsky,

W.F. Odojewski und der Almanach Mnemozina in der Geschichte der Buchkultur im

Russland des 19. Jahrhunderts von Y. Wischnewskaja und Vladimir Odoevsky and Romantic

Poets: Collected Essays von N. Cornwell. Der gotische Zyklus und die Erzählung Sylphide werden schwerpunktmäßig behandelt.

Karlinskys Werk ist chronologisch die früheste Arbeit, die eine präzise Charakteristik des gotischen Zyklus darstellt. Seine literaturwissenschaftlichen Ansichten über das Werk

Odojewskis erlebten seit den 1960er Jahren erst kleinere Uminterpretationen und spiegeln im großen Maße die Tendenz in der gegenwärtigen Kritik an Odojewskis Werk wider. Die zwei anderen Quellen zeigen die aktuelle Einstellung der russischen und amerikanischen Kritik zu

143 der Rolle der deutschen Literatur und Philosophie im Leben und Werk Odojewskis.

Wischnewskajas Artikel ist für die vorliegende Analyse nutzbringend dank seinem ausführlichen Überblick über die Tätigkeit Odojewskis in der Zeitschrift Mnemozina. Die

Zeitschrift vereinigte die Mitglieder des intellektuellen Zirkels Obschestwo Lyubomudriya und popularisierte den deutschen Idealismus, einschließlich theosophischer Werke aus dem

17. und 18. Jahrhundert.

Alle drei Quellen stimmen mit der Hervorhebung des Einflusses der deutschen

Philosophie auf das Werk Odojewskis überein. Ich hebe den Namen Odojewskis als den wichtigsten unter allen russischen Autoren hervor, die im Kontext der deutschen Literatur und Philosophie um die Jahrhundertewende betrachtet werden.

Bevor ich zur Analyse des Werkes Odojewskis und seiner Problematik in Bezug auf die Werke Hoffmanns und Eichendorffs übergehe, stelle ich meine persönliche Charakteristik der bereits erwähnten Beispiele der Sekundärliteratur dar und äußere damit die eigene

Wahrnehmung des Werkes Odojewskis im Kontext der aktuellen literaturwissenschaftlichen

Kritik. Die Analyse der Kritik bezieht sich auf drei Themen. Erstens geht es um den Grad des

Einflusses der deutschen Philosophie und Literatur auf das Werk Odojewskis. Zweitens geht es um die Charakteristik der eigenen sozialen Kritik im Werk Odojewskis und die

Betrachtung seiner Kritik der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung in Bezug auf diese in der deutschen Romantik. Drittens geht es um die Psychologie und Individualität des romantischen Helden im Werk Odojewskis und den Vergleich dieser Themen mit den typisierten und sozial generalisierten Helden in den Werken Hoffmanns und Eichendorffs.

Die zwei letzteren Themen sind von Bedeutung für eine vergleichende Analyse zwischen den Werken Odojewskis und den deutschen Romantikern. In der Tat werden diese

Themen von mehreren Kritikern nur episodisch erwähnt und bleiben damit immer noch wenig erforscht. In seinem zweifellos präzisen und ausführlichen Artikel schreibt Karlinsky

144 der Psychologie in den Spätnovellen Odojewskis eine große Bedeutung zu und weist auf ihr

Potenzial für die russische Literatur des Realismus, vor allem des Werkes Dostojewskis hin.

Odoevsky’s constant emphasis on the neglected potential of human psychology is especially remarkable. In his preoccupation with the irrational, in his inquiries into the seductive aspects of evil, in his constant search for connection between traditional myth and legend and everyday material reality, Odoevsky is an amazingly advanced thinker for his time and foreshadows some of the preoccupations of the later Dostoevsky255.

Wie erwähnt, ist Karlinskys Hervorhebung der Psychologisierung des Helden offensichtlich. Doch beschränkt sich der Autor auf die kurze Passage darüber und lässt das

Thema der Psychologie ohne detaillierte Betrachtung. In der Tat ist die Psychologisierung des romantischen Protagonisten ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal des Werkes

Odojewskis im Vergleich zu den Werken einiger deutscher Autoren, einschließlich

Hoffmanns und Eichendorffs. Die Psychologie ist nur einer von mehreren Charakterzügen, die in Bezug auf die Zusammenhänge Odojewskis mit der deutschen Literatur und

Philosophie wenig erforscht werden. Die Konkretisierung dieser Zusammenhänge und ihre

Analyse sind für die Rezeption des Werkes Odojewskis notwendig.

In seinem Buch zum Werk Odojewskis gelang es Cornwell, die traditionellen

Verallgemeinerungen des deutschen Themas nur teilweise zu vermeiden und zum Thema

Klarheit zu bringen. Im zentralen Kapitel über den mit der deutschen Romantik meist vergleichbaren gotischen Zyklus sagt Cornwell:

Russian Gothic derives from an amalgam of European influences256.

Unter anderem erwähnt der Autor Hoffmanns bestimmte Geschichten (the certain tales). Doch werden diese bestimmten Geschichten Hoffmanns nicht präzisiert. Anstatt der

Aufzählung der einflussreichen Werke und ihrer von Odojewski rezipierten Züge verstärkt

255 Karlinsky. 173. 256 Cornwell, Neil. Vladimir Odoevsky and Romantic Poets. Providence: Berghahn Books, 1998. 146 (Im folgenden als “Cornwell” abgekürzt) 145

Cornwell das Geheimnis dieses Zusammenhangs durch die Bezeichnung Odojewskis als

Russian Hoffmann und sogar Russian Goethe.

Odojewski has frequently been dubbed ‘the Russian Hoffmann’ or the ‘Russian Faust’: in some ways (though he did not write poetry and the comparison doubtless flatters) ‘the Russian Goethe’ would be nearer the mark257.

Auf ähnliche Art und Weise werden Interesse und Neugier auf das Werk Odojewkis als Widerspiegelung der deutschen romantischen Tradition in mehreren anderen kritischen

Quellen erweckt und trotzdem nicht ausführlich analysiert.

Ein charakteristisches Beispiel der Unterbewertung und der Verallgemeinerung der

Beziehungen zwischen Odojewski und den deutschen literarischen und philosophischen

Ideen ist der Artikel Wischnewskajas. Mit Gründlichkeit behandelt die Autorin das philosophisch-didaktische Programm der Zeitschrift Mnemozina, ihre Polemik mit den zur

Zeit veröffentlichten Almanachen und Zeitschriften, sowie die Tätigkeit Odojewskis als

Hauptredakteur. Doch beschränkt sich die gründliche Analyse nur auf die Problematik der

Zeitschrift als oppositionelle Quelle, die sich gegen die konservativen Zeitschriften wie Syn

Otetschestwa und Russkij Inwalid richtete. Unter anderem treten die Auseinandersetzungen

Odojewskis mit Faddei Wenediktowitsch Bulgarin (1789 – 1859) in den Vordergrund des

Artikels.

Они буквально набросились на издателей Мнемозины. Ф.В. Булгарин называл “Мнемозину” экстрактом ‘греческого, римского, еврейского, халдейского и немецкого любомудрия, и если бы глубокомысленный мыслитель... понимал то, о чем он писал, и что почтенный издатель “Мнемозины” поместил в сей книжке, то, может быть, и мы бы чему- нибудь понаучились’258.

Sie haben die Herausgeber des “Mnemozinas” buchstäblich angegriffen. F.W. Bulgarin nannte Mnemozina den ‘Extrakt der griechischen, römischen, judischen, chaldäischen und deutschen Philosophen-Lyubomudry… Und

257 Ebenda. 147. 258 Wischnewskaja, Y. В.Ф. Одоевский и альманах «Мнемозина» в истории книжной культуры России XIX века. Bibliotekowedenie. Moskva, Februar/ 2009. 68. 146

wenn der sehr geehrte Herausgeber verstanden hätte was er in dem Buch veröffentlichte, so hätten wir auch irgendwas lernen können’259.

Die Autorin des Artikels hob den konfrontierenden Charakter des ‘westlich’ orientierten Almanachs und der gegenüber den Slawophilen oppositionell eingestellten

Gesellschaft der Lyubomudry richtig hervor. Doch wurden sowohl die Gründe der

Auseinandersetzungen mit anderen Kritikern als auch die Inhalte der in der Zeitschrift veröffentlichten Werke nur kurz erwähnt und späterhin nicht erklärt. Die analytische Lücke bezieht sich besonders auf den kaum behandelten 4. Teil des Almanachs, in dem Odojewski die Kernpunkte seiner literarischen Ansichten darstellte. Zum Inhalt des 4. Teils sagt

Wischnewskaja, dass Odojewski fast allen russischen Zeitschriften den Krieg erklärte. Er formulierte die zentrale These Mnemozinas als „Streben einige neue Gedanken zu verbreiten, die in Deutschland Erfolg hatten260“. An der Stelle hätte der Leser die Darstellung dieser deutschen Gedanken erwarten können. Besonders wäre solch ein Wissen von Bedeutung, weil Odojewski die Aktualität der deutschen Philosophie und Literatur als Hauptziel der

Zeitschrift bezeichnete. Doch blieben sowohl Werke der deutschen Autoren als auch ihre einzelnen Gedanken ein Geheimnis für den Leser des Artikels. Unter anderem zitiert

Wischnewskaja die Worte Odojewskis über die Wichtigkeit, die „Aufmerksamkeit der russischen Leser auf die Gegenstände zu richten, die in Russland wenig bekannt sind261“. Die

Ironie besteht darin, dass diese wichtigen Gegenstände auch dem Leser des Artikels vorenthalten werden.

Daraus folgend besteht eine der Aufgaben des vorliegenden Kapitels, die

Zusammenhänge zwischen dem Werk Odojewskis und den Ansichten der deutschen

Schriftsteller und Philosophen festzustellen, die Odojewski aktiv rezipierte und höchst respektierte. Am Beispiel der Werke Sylphide, Bergwerke zu Falun und Aus dem Leben eines

259 Übersetzt vom Autor. 260 Ebenda. 68. 261 Ebenda. 68. 147

Taugenichts werden sowohl die von Odojewski gezogenen Parallelen zu den deutschen

Autoren, als auch die Unterschiede zwischen den Werken Odojewskis, Hoffmanns und

Eichendorffs gezogen. Zum Beispiel ist die Erwähnung Schellings im Kontext der

Begeisterung Odojewskis für die mystischen Lehren Jakob Böhmes (1575-1624) und Louis

Claude de Saint-Martins (1743-1803) von Bedeutung.

Das für das Spätwerk bedeutsame Gespräch Odojewskis mit Schelling wird von den meisten Kritikern nicht beachtet, obwohl sein Inhalt als Quintessenz der oft besprochenen

Rolle des deutschen Idealismus im Werk Odojewskis bezeichnet werden kann. Das Gespräch ist insbesondere wichtig im Kontext des gotischen Zyklus. Beim Lesen der Aufzeichnung des

Gesprächs wird es offensichtlich, dass Odojewski ständing das Gespräch zum Thema Saint

Martins und Böhmes Werke und ihrer Aktualität in Russland führt.

O: Was denken Sie über St. Martin? Schelling: Er hat viele schöne und tiefe Gedanken. Aber viele davon sind nicht originell und entlehnt. O: Ich hatte ihn dank meiner Bibliomanie zufällig entdeckt. Was für eine Seltenheit. Beim Lesen wurde ich durch seine Ihnen ähnlichen Ansichten überrascht. Obwohl c’ est toute autre chose262.

Am Ende seiner Reisenotiz berichtete Odojewski davon, dass die Hegel-Anhänger in ihrer Opposition zu Schelling immer wieder seinen Fehler zitierten. Schelling sagte während einer Vorlesung, dass “Jakob Böhme vieles von Spinosa genommen hat263“. Damit ist es von

Interesse, dass im öfters erwähnten Thema des deutschen Idealismus die Bedeutung der mittelalterlichen Mystiker unterschätzt wird. Die theosophischen Ideen Böhmes und anderer

Mystiker werden im folgenden in die Analyse eingebracht.

262 Odojewski, Wladimir. O literature i iskusstwe. In: Pisma russkikh pisatelei XVIII weka. Leningrad: Nauka, 1980. In: Lib.ru Klassika: http://az.lib.ru/o/odoewskij_w_f/ (Übersetzt vom Autor) 263 Ebenda. 148

4.5 Odojewskis Stellung zur Romantik

Mit seinen Themen, Motiven und Stilbesonderheiten kann Odojewski als einer der deutschen Romantik am nächsten stehender Schriftsteller bezeichnet werden. Cornwell nennt

Odojewski “der russische Hoffmann“ immer wieder:

He has been dubbed by a range of commentators, and at various times, ‚the philosopher-prince‘, ‚the Russian Hoffmann‘, ‚the Russian Faust‘, and even ‚the Russian Goethe‘264.

Grundsätzlich kann das Werk Odojewskis, insbesondere sein philosophisch- romantischer Zyklus von 1830 bis 1840 als eine eigenartige, russische Parallele zur deutschen

Romantik, unter anderem den Werken Hoffmanns und Eichendorffs genannt werden.

Odojewskis Stellung im widersprüchlichen Verhältnis zwischen den Dezembristen und den Lyubomudry ist nicht eindeutig. Die Einordnung Odojewskis in die dezembristische

Bewegung bedarf einer Definition in Bezug auf die Einflüsse beider Gesellschaften auf sein literarisches Werk. Einerseits ist Odojewski einer der Gründer der Lyubomudry-Gesellschaft und ein Anhänger des deutschen Idealismus. Er leitete die Sitzungen des Dichterzirkels und betonte dabei die Wichtigkeit der Integration der westlichen Philosophie und der

Literaturtheorie im nationalen Werk.

The meetings [of the Society of Wisdomloving] took place in Odoyevsky’s study; Odoevsky chaired the proceedings and Venevitinov (the secretary) did much of the talking. German philosophy dominated the discussions (Kant, Fichte, Schelling and Oken) and members read their own philosophical compositions265.

Andererseits kann Odojewski auch in die Reihen der liberalen Künstler und der

Revolutionssymphatisanten eingeordnet werden. Die Freundschaft mit Küchelbecker, dem bekanntesten revolutionären Dichter, ist das beste Zeugnis davon. Sie dauerte über

Küchelbeckers Deportation nach Sibirien wegen seiner Teilnahme in der Dezemberrevolte.

264 Cornwell, Neil. The life, times and milieu of V.F. Odoevskij. London: The Athlone Press, 1986. 1. 265 Ebenda. 9. 149

Der ins Exil verbannte Revolutionär schrieb Odojewski 1845 und gab seine begeisterten

Kommentare zu dessen Roman Russische Nächte (Русские ночи) von 1844:

В твоих Русских Ночах мыслей множество, много глубины, много отрадного и великого, много совершенно истинного и нового, и притом так резко и красноречиво высказанного. Словом ты тут написал книгу, которую мы смело можем противопоставить самым дельным европейским266.

Deine Russischen Nächte enthalten eine Menge Gedanken, einen tiefen Sinn, eine Menge Erfreuliches, Großes, Wahres und Neues. Dazu ist alles so scharf und so ausdrucksvoll dargestellt... Mit einem Wort: du hast hier ein Buch geschrieben, das wir den gescheitesten europäischen Werken ohne Weiteres gegenüberstellen können267.

Zusammen mit Küchelbecker gab Odojewski die Zeitschrift Mnemozina heraus, in der

Küchelbecker scharfe Kritik an der mutlosen, thematisch voraussagbaren und langweiligen

Dichtung Schukowskis und Konstantin Nikolajewitsch Batjuschkows (1787 – 1855) übte.

Dazu vertrat die Zeitschrift die politische Position der Dezembristen und versuchte solche gemäßigten Dichterkreise wie Arzamas (Арзамас), die Grüne Lampe (Зеленая лампа) und den Sohn des Vaterlandes (Сын отечества) auf ihre Seite zu bringen. Dies verdeutlicht, dass

Odojewski an der politischen Bewegung teilnahm. E. Maimin definiert Odojewskis Stellung in der politisch engagierten Schriftstellergesellschaft und seine Einstellung zur Revolte von

1825 besonders präzise. In einem der ersten Artikel über das Werk und das Leben des

Schriftstellers sagt Maimin:

В. Одоевский, как и большинство других любомудров, если и был близок декабристам, то не политическими своими взглядами, а литературными и еще более - общим духом независимости и нравственной высотой. Попытки восстания В. Одоевский не одобрял, но самим декабристам сочувствовал268.

Wie die meisten Lyubomudry war Odojewski kein Anhänger der radikalen politischen Einstellung der Dezembristen. Hingegen respektierte er ihre

266 Küchelbecker, W.K. In: Sakulin, P.N. Teorija literaturnykh stilei. Moskwa, 1927. 440. 267 Übersetzt vom Autor. 268 Maimin, Yewgeni. Wladimir Odojewski i ego roman Russkije Nochi. In: Literaturnyje pamjatniki. Moskwa: Nauka, 1975. In: http://az.lib.ru/o/odoewskij_w_f/text_0180.shtml (Im folgenden als “Maimin” abgekürzt) 150

literarischen Ideen der Freiheit und der sittlichen Unabhängigkeit. Er stimmte nicht der Revolte zu, doch fühlte er mit den Dezembristen269.

Abgesehen von seiner Angehörigkeit zur Lyubomudry-Gesellschaft und seinem revolutionär gemäßigten Programm unterstützte Odojewski die literarischen Ideen der

Dezembristen und folgte ihrem Aufruf zur Notwendigkeit der sozialen und politischen

Reformen. Nicht nur in seiner Unterstützung der rebellischen Freunde sondern auch in seiner

Dichtung und seiner Prosa beschäftigte er sich aktiv mit den lebenswichtigen Änderungen der veralteten Lebensordnung. Dank seiner Kenntnis der aktuellen literarischen Parallelen und ihrer praktischen Anwendung im eigenen Werk gelang es Odojewski, die aufklärerischen

Ideen der Intelligenzia mit den ästhetisch-philosophischen Konzepten der englischen, französischen und vor allem der deutschen Romantik zu vereinen. Odojewski sprach über die hohen Ideale der Kunst und verherrlichte die staatsbürgerlichen Tugenden. Mit dieser

Originalität war er einer der ersten russischen Autoren, der in dem sozial-romantischen Werk die Merkmale der zukünftigen Literatur des Realismus prägten.

4.6 Die Erkenntnislehre J. Böhmes als philosophischer Hintergrund des gotischen

Zyklus

Einige Werke wie beispielsweise Fichtes Die Grundlage der gesamten

Wissenschaftslehre (1794), vor allem das Thema der individuellen Ethik, und Schellings

Darstellung meines Systems der Philosophie (1801), vor allem das Thema der

Identitätsphilosophie, europäischer und insbesondere deutscher Philosophen, die sich mit den komplexen und rätselhaften Seiten der inneren Welt des Menschen beschäftigten, fanden ihren Widerhall in der russischen literarischen Darstellung der Individualität und der Seele.

Der spirituelle Erkenntnisweg bildet die Grundlage dieser Werke und erregte die

Aufmerksamkeit mehrerer russischer Romantiker-Lyubomudry. Zum einen thematisierten die

Romantiker die wissenschaftliche Seite der deutschen Philosophie und erweiterten die

269 Übersetzt vom Autor. 151

Kenntnisse über die Psychologie. Zum anderen bezog sich das geistige, kulturelle und künstlerische Suchen der Zeit auf die Objekte und die Begriffe, die einen pseudowissenschaftlichen, theosophischen und mystischen Charakter hatten.

Unter den einflussreichen Philosophen der pseudowissenschaftlichen Richtung müssen vor allem Jakob Böhme und Louis Claude de Saint-Martin genannt werden. Diese

Mystiker richteten sich gegen die dogmatischen religiösen Thesen über den menschlichen

Ursprung und das menschliche Sein. Stattdessen betonten sie eine unmittelbare allgegenwärtige Beziehung zum Ursprung aller Dinge. In Odojewskis gotischen Werken von

1830 bis 1844 spiegelte sich seine Begeisterung über die Erkenntnislehre Böhmes und dessen

Ansichten zum Thema der Dualität wider. Insbesondere Werke wie Sylphide, Salamander und Kosmorama repräsentieren die philosophischen Ideen Böhmes.

The Cosmorama represents Odoevsky’s most overt fictional depiction of his interest in the concept of dualism (or dvoemirie), drawn from his study of such mystical thinkers as Jacob Böhme, John Portage, Swedenborg and Saint- Martin270.

Diese Philosophen übten bereits einen starken Einfluss auf die deutsche romantische

Schule aus, unter anderem auf Novalis, und bewegten ebenso die Romantiker-Lyubomudry wie Odojewski, Alexei Stepanowitsch Chomjakow (1804-1860) und Dmitri Wladimirowitsch

Wenewitinow (1805-1827) zur aktiven Diskussion der Freiheit des Menschen. Unter den philosophischen Themen, die auf Odojewskis Werk einen starken Einfluss ausübten, spielte

Böhmes Idee der Suche nach der Freiheit in der eigenen inneren Welt eine zentrale Rolle.

Vor allem bezog sich die philosophische Suche auf die Freiheit in den Bereichen des geistigen und gesellschaftlichen Lebens.

Das Thema der Befreiung von den konventionellen Fesseln stand während der 1830er

Jahre im Zentrum der literarischen und philosophischen Überlegungen Odojewskis. Nach

270 Cornwell, Neil. Vladimir Odoevsky. The Salamander and Other Gothic Tales. Evanston: Northwestern University Press, 1992. 5. 152 dem Scheitern der Dezember Revolte und der darauffolgenden dreijährigen Pause im

Schreiben konzentrierte sich der Schriftsteller auf das Thema der Freiheit und die angrenzenden Themen der menschlichen Tugenden, des menschlichen Daseins und des Sinns des Ganzen, beziehungsweise des Ewigen. Alle diese Themen waren ein Teil der Philosophie

Böhmes, der die ewige Freiheit mit der Notwendigkeit verband, in sich selbst zu blicken und die eigene Natur, die eigene innere Welt zu verstehen. Ins Zentrum seiner Forschung der inneren Welt stellte Böhme die Fragen über die Seele. In der Erziehung und

Vervollkommnung der Seele sah der Mystiker eines der wichtigsten Ziele des menschlichen

Daseins. Der Blick des Menschen sollte sich nach dem eigenen Inneren richten und dort nach

Ewigkeit und Freiheit suchen. Im Gegenteil assoziierte Böhme mit der Außenwelt die Welt der Finsternis.

Das Äußere bleibt eine Finsternis. Darum ist das ewige Feuer im Äußeren finster. Und in sich hinein im Willen der ewigen Freiheit ist ein Licht. Das scheint in der stillen Ewigkeit271.

Böhme rief zum Verzicht auf die vergänglichen Werte der materialistischen Welt auf und hob die Bedeutsamkeit der seelischen und geistigen Empfindungen hervor. Das folgende

Zitat aus dem Vierzig Fragen Von der Seelen Urstand/ Essentz/ Wesen/ Natur und

Eigenschafft/ was sie von Ewigkeit in Ewigkeit sey (1620), - Böhmes Hauptwerk über das geistige, seelische und leibliche Wesen der Menschen, - stellt den Glauben Böhmes an die

Wichtigkeit der inneren Welt und seiner Forschung dar:

Ernstlich ist die ewige Freiheit, die hat den Willen, und ist selber der Wille. Nun hat ein jeder Wille eine Sucht etwas zu tun oder zu begehren, und in demselben schauet er sich selbst: er siehet in sich in die Ewigkeit, was er selber ist; er machet ihm selber den Spiegel seines gleichen, dann er besiehet sich, was er ist: so findet er nun nichts mehr als sich selber, und begehret sich selber272.

271 Böhme, Jakob. Vierzig Fragen von der Seelen-Urstand. Amsterdam, 1648. Original von, Bayerische Staatsbibliothek. Digitalisiert, 15. Juli 2009. 10. 272 Ebenda. 10. 153

Dieses Zitat setzt besonders eine philosophische Basis über die Grundideen des gotischen Zyklus Odojewskis voraus. Michailo Platonowitsch, der Protagonist der Erzählung

Sylphide, widmet sich der Suche nach der ewigen Freiheit von den Fesseln der verfallenen

Realität. Je mehr er sich dem freien Willen und dem Ewigen, beziehungsweise dem

Göttlichen nähert, desto mehr erfährt er über den Sinn seines Lebens und des Universums.

Böhme als Vertreter des Mittelalters war für einige deutsche und russische Romantiker nicht nur ein Philosoph sondern auch ein Symbol der heiligen Poesie. Die philosophischen Lehren des 18. Jahrhunderts, insbesondere die führenden Theorien der Aufklärung wie zum Beispiel die Philosophie Kants oder Hegels, beschäftigten sich mit dem menschlichen Verstand als zentrales Forschungsobjekt und Instrument der Erkenntnis. Die Bedingungen der Erkenntnis lagen im Bereich der Vernunft und des rationalen Denkens. Für das gewonnene Wissen über die Ewigkeit und die harmonische Vereinigung des Menschen mit dem Ganzen reichten den

Romantikern die Gesetze der Vernunft jedoch nicht heran. Den Romantikern fehlte in der

Ästhetik und der künstlerischen Wahrnehmung der Philosophen wie Kant, Hegel und Fichte die gesuchte Annäherung des Menschen zum Göttlichen, ohne diese Annäherung zu rationalisieren. Im Gegensatz dazu rezipierten Romantiker wie Odojewski, Tieck und Novalis gerne die Lehren Böhmes und Saint-Martins, die mit ihren alchemistischen Spekulationen

über den Erkenntnisweg der poetischen Denkweise der Romantiker viel näher als der

Philosophie der Aufklärung standen. Philosophie sollte Erkenntnis poetisieren. Das war der

Übergang von Odojewskis Begeisterung für Böhme zum Inhalt seines gotischen Zyklus.

Böhme galt mit seinen Gleichsetzungen vom Menschen und Gott, von der Natur und Gott als der Prophet der heiligen Poesie und als der vorbildliche Protagonist für die Werke der

Romantik.

154

In Böhme, the Jena Romantics, particularly Tieck and Novalis, recognized a figure already variously celebrated as a saintly hero, a historical person already unrecoverably buried under layers of hagiographic legend. Their Böhme is a prophet not of a given Christian dogma, but of sacred Poesie273.

Die Poetisierung der Philosophie, ihre mystischen Seiten und die Themen des Guten und Bösen zogen die Aufmerksamkeit Odojewskis sowie der deutschen Romantiker wie

Tieck und Novalis auf sich. In Sylphide brachte Odojewski keine direkten Hinweise auf den

Namen Böhmes. Doch hob er auf indirekte Art und Weise die Bedeutsamkeit der Gedanken

Böhmes über das Verhältnis von Geistigem und Stofflichem, sowie seine alchemistischen

Auffassungen dieses Verhältnisses hervor. Das sieht man in der Szene, in der Michailo

Platonowitsch seine Bewunderung über die alchemistischen Lehren in einem seiner Briefe mitteilt.

О, теперь я верю кабалистам; я удивляюсь даже, как прежде я смотрел на них с насмешкою недоверчивости. Нет, если существует истина на сем свете, то она существует только в их творениях! Я теперь только заметил, что они не так, как наши обыкновенные ученые: они не спорят между собою, не противоречат друг другу; все говорят про одно и то же таинство274.

Oh, jetzt glaube ich den Kabbalisten; ich kann gar nicht verstehen, dass ich früher mit dem Spott des Unglaubens auf sie blickte. Nein, wenn es auf dieser Welt eine Wahrheit gibt, so liegt sie einzig in ihren Schöpfungen! Jetzt erst fiel mir auf, dass sie ganz anders sind als unsere gewöhnlichen Gelehrten: sie streiten sich nicht, widersprechen nicht einander; alle künden von ein und demselben Geheimnis275.

In diesem Zitat wird Odojewskis Bewunderung der philosophischen Lehren, unter anderem der Erkenntnislehre Böhmes, deutlich formuliert.

273 Mayer, Paola. Reinventing the Sacred: The Romantic Myth of Jakob Böhme. In: The German Quarterly. Vol. 69. No.3. Summer 1996. 248. 274 Odojewski, Wladimir. “Silfida”. In: Povesti. Hrsg. Sakharow, W.I. Moskwa: Sowetskaja Rossija, 1977. 147. (Im folgenden als “Sylphide” abgekürzt) 275 Odojewski, Wladimir. “Sylphide”. In: Das Gespenst und andere Spukgeschichten. Berlin: Aufbau-Verlag, 1974. (Im folgenden als “Odojewski” abgekürzt. Die deutsche Version des Namens des Autors wird benutzt) Eine englische Übersetzung der Erzählung erschien in The Salamander and Other Gothic Tales. Evanston, IL: Northwestern University Press, 1992. 155

4.7 Odojewskis Sylphide und der gotische Zyklus

Der historische Hintergrund und die biographischen Einzelheiten Odojewskis lassen ein breites Spektrum an Interpretationen der Parallelen und der Zusammenhänge zwischen dem Autor und den Werken Hoffmanns und Eichendorffs zu. Odojewski war ein Kenner der deutschen Romantik und galt als Bewunderer mehrerer deutscher Autoren. Er rezipierte ihre inhaltlichen und formalen Aspekte.

Die Auswahl des Werkes Sylphide (rus. Сильфида) erfolgte aufgrund seines beispielhaften und anschaulichen Charakters für die enge Beziehung Odojewskis mit der deutschen Romantik. Die Erzählung Sylphide erschien 1837, als die Arbeit Odojewskis an seinen romantischen Geschichten bereits ihren Höhepunkt erreicht hatte. Die Erzählung repräsentiert damit die Eigenart Odojewskis als typischer russischer Romantiker und seine

Bewunderung deutscher Autoren, deren Stil und Ideen er in seinen Werken aktiv rezipierte.

Das Werk Sylphide wird von der literarischen Kritik als eines der drei wichtigsten

Werke im gotisch-philosophischen Zyklus angesehen. Die anderen zwei Werke sind

Kosmorama (1840) und Salamandra (1844). In Bezug auf die Reihenfolge der

Entstehungszeiten liegen zwischen jedem der Werke ungefähr vier Jahre. Diese Jahre ergeben eine Zahlensymbolik, die sich in den mystischen Inhalt der Erzählungen integriert.

These three stories are to be seen as the most significant and the most elaborate of what have been termed Odoevskys ‘works of mystical content’. Sil’fida, Kosmorama and Salamandra, are all written in a particularly productive period at the end of the 1830s276.

Neben der Definition der produktiven Zeit muss man diesen drei Werken die

Attribute erfolgreich und vollendet beimessen und damit die Bedeutsamkeit dieser Werke

Odojewskis im gotischen Zyklus hervorheben.

Ein kennzeichnender Zug, der Sylphide, Kosmorama und Salamander von den anderen Werken unterscheidet, sind die mystischen Motive. Diese Motive liegen der

276 Cornwell. 150. 156

Handlung zugrunde und spiegeln in jedem der drei Werke die Bewunderung Odojewskis für die Mystik wider. Seit Anfang der 1830er Jahre beschäftigte sich Odojewski mit den spirituellen und alchemistischen Lehren und Schriften unterschiedlicher Mystiker und

Philosophen des Mittelalters. Seine Auseinandersetzung mit den Lehren dieser Mystiker betrachtete Odojewski vor allem als Ergänzung seiner wissenschaftlichen und philosophischen Kenntnisse. Er interessierte sich insbesondere für die Suche nach dem absoluten objektiven Wissen über die menschliche Natur und die innere Welt der Seele.

Odojewski ist viel mehr Theoretiker als Praktiker. Seine Untersuchungen des Inneren der

Seele beziehen sich auf ihre spekulative theoretische Seite, zum Beispiel auf Fragen nach der

Fähigkeit des Verstandes, des Geistes, der Intuition und des Willens.

In den Werken der Philosophen Louis Claude de Saint-Martin, Johann Jung-Stilling

(1740-1817) und Karl von Eckartshausen (1752-1803) fand Odojewski Antworten auf seine

Fragen zur geheimnisvollen Natur der inneren Welt der Menschen. Die Analyse der biographischen Quellen und der Briefwechsel mit seinen literarischen Freunden zeugt davon, dass der Schriftsteller nicht am praktischen spirituellen Verfahren teilnahm. Die mystischen

Erfahrungen wie Meditation und Askese werden von Odojewski selten erwähnt. Die theoretische und kontemplative Seite der Mystik war für ihn wichtiger als körperliche

Erfahrungen. Diese Einstellung spiegelte sich in seiner Literatur, einschließlich des Werkes

Sylphide, wider.

Мистические элементы в его литературных произведениях носили характер формальный, а не содержательный277.

Die mystischen Elemente trugen in seinen Werken keinen inhaltlichen, sondern vielmehr einen formellen Charakter278.

Die Mystik war kein zentrales Thema, jedoch ergänzte sie die literarische Behandlung des Konflikts zwischen dem Individuum und seinem Umfeld. Der Protagonist flieht aus der

277 Maimin, Yevgenij. Wladimir Odojewski i ego roman Russkije Nochi. In: Literaturnyje pamjatniki. Moskwa: Nauka, 1975. Digitalisiert. 278 Ebenda. Übersetzt vom Autor. 157

Gesellschaft in seine eigene Welt der Phantasie. Um den Bereich zu erreichen, benutzen die

Helden aus den Werken Odojewskis kabbalistische und alchemistische Bücher. Es wäre eine weitere Ergänzung zur Analyse der Begeisterung Odojewskis über die mittelalterlichen theosophischen und mystischen Theorien, einschließlich Böhmes, wenn der Autor direkt die

Titel und die Autoren der von Michailo Platonowitsch gefundenen Bücher erwähnt hätte. Das

Fehlen solcher direkten Hinweise bestätigt die vermittelnde, beziehungsweise instrumentale

Rolle der Mystik in der Erzählung.

Мистические элементы в "Сильфиде" по существу выполняют ту же функцию, что и фантастика в "Пестрых сказках". Они отрешают от повседневного и бытового, переключают повествование на "высокую волну", придают ему философское звучание279.

Die mystischen Elemente erfüllen in Sylphide dieselbe Funktion wie die Phantastik in Pestrye Skazki. Sie entfernen den Menschen von dem Alltäglichen und dem Pragmatischen, schalten die Handlung in den hohen Stil um und verleihen dieser Handlung einen philosophischen Ton280.

Diese Vermittlungsrolle der mystischen Elemente wird auch in Hoffmanns Bergwerke zu Falun offensichtlich. Doch wird diese Rolle nicht durch kabbalistische Bücher, sondern durch mystische Figuren wie Torbern und die Bergkönigin, sowie Gegenstände wie magische

Diamanten und Minerale, darunter Almandin erfüllt. Begleitet von Torbern und bezaubert von der magischen Kraft des Almandins richtet Elis seinen Blick ins unterirdische Reich und sucht dort nach seinen Idealen, die er im realen Leben nicht finden kann.

In den vorangegangenen Kapiteln zu Hoffmann und Eichendorff wurde das Thema des romantischen Ideals bereits besprochen. Doch blieben einige Fragen über den Inhalt des

Ideals und seine Stellung in der Realität-Phantasie-Beziehung offen. Der Charakter dieses

Ideals und seine Interpretationen im Werk Sylphide sind ein maßgebendes Thema. Die

Analyse der angestrebten Ziele des romantischen Helden Odojewskis soll das Verständnis

über das Streben der Protagonisten wie Elis und des Taugenichts erweitern. Die

279 Ebenda. 280 Übersetzt vom Autor. 158

Bewunderung Odojewskis für die deutschen Romantiker, unter anderem Hoffmann, reflektiert sich im Thema des angestrebten Ideals. Odojewskis eigenartige Behandlung dieses

Themas trug jedoch zu einer neuen Deutung des romantischen Konflikts zwischen den hohen

Idealen und dem alltäglichen Leben bei.

Bereits der Titel der Erzählung lässt facettenreiche Interpretationen zu. Einerseits könnte Sylphe als mythologischer Naturgeist gedeutet werden, was das Thema der

überdimensionalen, wunderbaren Sphäre anspricht. Daran könnte man eine offensichtliche

Andeutung auf einige Werke Hoffmanns, vor allem die Erzählung Der Elementargeist (1821) und auf den Roman Der goldne Topf erkennen. Andererseits kann der Titel entweder ein anmutiges Mädchen oder die sylphidenhafte männliche Natur vermuten lassen. Dies würde eine Andeutung auf eine Diskussion des menschlichen Charakters implizieren. Des Weiteren kann der Untertitel Aus den Aufzeichnungen eines Vernunftmenschen (Из записок

благоразумного человека) ambivalent gedeutet werden. Zum einen könnte dies als Ironie der menschlichen Vernunft im gesellschaftlichen Kontext, zum anderen als eine romantische

Charakteristik des allein gelassenen Individuums interpretiert werden. Im Titel vereinen sich somit die Bereiche des Künstlerischen, Phantastischen und Alltäglichen. Das Thema des

Alltags bezieht sich auf die historische Realität und die Vertreter bestimmter sozialer Stände.

Der Protagonist kommt aus der adligen Mittelschicht und symbolisiert die zeitgenössische Lebensweise eines Edelmanns und eines Beamten im Ruhestand. Das Werk verkörpert die Besonderheiten der russischen Romantik der Lyubomudry. Es enthält die

Merkmale des gotischen Zyklus Odojewskis, der sich in diesen Geschichten auf die deutsche

Literatur bezieht. Die Stärke dieses Bezugs wird im folgenden analysiert. Der Schwerpunkt liegt auf dem Zusammenhang von Odojewskis Werken mit denen Hoffmanns und

Eichendorffs.

159

Eines kann aber zur Deutung des Titels mit Sicherheit gesagt werden: das Werk behandelt die Bedeutung der Vernunft, beziehungsweise der angenommenen Vernünftigkeit in Bezug auf etwas Unbekanntes, Mythisches, Phantastisches und Rätselhaftes, was mit der

Realität wenig zu tun hat und nicht eindeutig dem Bereich des Vernünftigen zugeordnet werden kann. Die Sylphe, der mythische Elementargeist, ist ein simples und unsichtbares

Objekt, dem ursprünglich keine wesentliche Aufmerksamkeit vom rationalen pragmatischen

Menschen geschenkt wird.

Zur Interpretation des Titels gehören drei Epitheta, welche die Deutung der literarischen und philosophischen Ideen fördern. In seiner metaphorischen Einleitung zitiert

Odojewski drei Quellen: Platon, die Legenden der Barden aus dem Norden und das

Gesetzbuch einer industriellen Firma aus der Gegenwart. Die Schriften zeugen von einer absichtlich unterschiedlich ausgewählten Herkunft. Dem Zitat Platons aus der antiken Zeit folgen chronologisch die Legenden der keltischen Sänger und die Sammlung der Gesetze eines gegenwärtigen Großbetriebs. Die drei Quellen gehören sowohl zu den verschiedenen

Epochen als auch den verschiedenen thematischen Bereichen. Der Name Platons repräsentiert den fundamentalen philosophischen Gedanken der Antike. Die keltischen Barden symbolisieren den heidnischen Gedanken des Mittelalters. Schließlich stellt das Gesetzbuch des Großbetriebs die Sachlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft dar.

Alle diese Quellen behandeln dasselbe Thema, die Rolle des Dichters in der

Gesellschaft. Odojewski hebt den Wechsel der Bedeutsamkeit des Dichters im historischen

Kontext hervor. Seine Bedeutung ist zweideutig im Zitat von Platon. Während das künstlerische Talent des Dichters hoch bewertet wird, werden seine freiheitsliebenden, liberalen Ansichten von der staatlichen Politik verurteilt.

Поэта мы увенчаем цветами и выведем вон из города281.

281 Sylphide. 134. 160

Den Dichter kränzen wir mit Blumen, und wir führen ihn hinaus aus der Stadt282.

Von Interesse ist die einzige offizielle Referenz über dieses Zitat. Das Epitheton wird sowohl von Kritikern als auch von Herausgebern einstimmig als direktes Zitat aus Platons

Der Staat (Die Politeia) von ca. 370 v. Chr. bezeichnet. Vor allem geht es um solch ein

Beispiel wie russische Sammlung der Geschichten Odojewskis von 1977283. In der

Anmerkung zur Erzählung Sylphide schreibt der Herausgeber.

Первый эпиграф взят из книги десятой “Государтства” Платона284.

Das erste Epitheton wurde aus dem zehnten Buch Platons “Der Staat” genommen285.

In der Tat existiert der zum Epithet gewordene Satz weder in Platons zehntem Buch noch im ganzen Werk Der Staat. Odojewski benutzt die Quintessenz des vom antiken

Philosophen oft besprochenen Themas der Dichter-Staat-Beziehung, unter anderem das

Thema der künstlerischen Freiheit und der staatlichen Ordnung. Die philosophische

Auseinandersetzung zwischen diesen für Platon gleich wichtigen Begriffen fand ihren

Ausdruck im zusammenfassenden methaphorischen Epitheton Odojewskis. Obwohl das zehnte Buch in Der Staat die Dichter-Staat-Beziehung behandelt, kann Odojewskis Epithet ebenso auf Platons Gesetze (Die Nomoi) von 347 v. Chr. zurückweisen. Dieses Werk entspricht dem Gespräch über die Herkunft des Epithets sogar besser, weil die Dichter-Staat-

Beziehung hier zum zentralen Thema mehrerer Dialoge wird, einschließlich des Dialogs zwischen Megillos und dem Athener. In diesem Dialog beschwert sich der Athener über die

Dichter, die in ihren frivolen Ansichten zu den künstlerischen Formen und Gesetzen über die festen Regeln der Künste vergessen und damit das Publikum, beziehungsweise seine

Erwartungen verwirren. Der folgende Auszug aus dem Gespräch Megillos mit dem Athener

282 Odojewski. 40. 283 Unter dem Buch wird Wladimir Odojewski. Povesti verstanden. 284 Sylphide. 433. 285 Übersetzt vom Autor. 161 erklärt sowohl zentrale Ideen der Kritik Platons an der Dichtung als auch den zweiten Teil des ersten Epithets in der Erzählung Odojewskis.

Im Verlaufe der Zeit wurden Dichter die ersten Urheber der Gesetz- und Geschmacklosigkeit, nämlich solche die zwar von Natur mit dichterischen Gaben ausgestattet, aber ohne Kenntnis des Rechten und Gesetzmäßigen in den Musenkünsten waren, indem sie in Folge dessen sich ganz vom Taumel der Begeisterung hinreißen ließen und über Gebühr daran hingen ihren Zuhörern Genuß zu bereiten. Da sie nun solche Werke schufen und dazu entsprechende Ansichten äußerten, so raubten sie dadurch der Menge allen Sinn für die Gesetze der Musik und flößten ihr Keckheit im Urteil über dieselbe ein, gerade als ob sie ein solches abzugeben fähig wäre, und in Folge dessen wurde denn das Publikum aus einem stillen ein lärmendes, gerade als verstände es sich darauf was in den musischen Künsten schön ist und was nicht, und es entstand in denselben aus einer Herrschaft der Besten eine schlimme Massenherrschaft des Publikums286.

Indem Platon außergewöhnliche Talente der Dichter lobt, wirft er ihnen die

Verbreitung der Gesetz- und Geschmacklosigkeit vor. So soll der Dichter nach seinem Platz in der Peripherie des Landes suchen.

Der Dichter wird dahingegen im Mittelalter bedeutsam. In den Legenden der keltischen Barden wird er als einer der drei staatlichen Pfeiler genannt.

Три столба у царства: поэт, меч и закон287.

Drei Säulen hat das Reich: den Dichter, das Schwert und das Gesetz288.

Schließlich sinkt der Stellenwert des Dichters zur rein pragmatischen Notwendigkeit in der Zeit des industriellen 19. Jahrhunderts.

Поэты будут употребляться лишь в назначенные дни для сочинения гимнов общественным постановлениям289.

Die Dichter werden nur auf festgelegten Tagen zur Schaffung von Preisgesängen auf die gesellschaftlichen Beschlüsse eingesetzt290.

Mit diesen drei Epitheten spricht Odojewski das Thema des Künstlers an und beginnt die Diskussion seiner Stellung in der aktuellen Geschichte.

286 Platon. Die Nomoi. Das dritte Buch. Digitalisiert. http://www.opera-platonis.de/Nomoi3.html 287 Sylphide. 134. 288 Odojewski. 58. 289 Sylphide. 134. 290 Odojewski. 58. 162

Mit seinem zweiten Epithet aus den Legenden der keltischen Barden gibt er die

Hoffnungen auf das wieder abgerufene Talent des Dichters und seine respektierte individuelle Meinung als freier Bürger. Die Definition des Dichters trägt in den Epitheten einen verallgemeinernden symbolischen Charakter. Als Dichter werden ebenso Synonyme wie Künstler, Genie, Philosoph und freidenkender Mensch verstanden. Mit einer fraglichen

Intonation führt uns das dritte Epithet in die Geschichte eines solchen freidenkenden

Menschen ein. Die Reihe der Fragezeichen und der Ausrufezeichen öffnen die Diskussion

über die Gültigkeit der freien Meinung im Russland Nikolais des Ersten. Laut des Epithets wurde dem Künstler in der Gegenwart nur die minderwertige Funktion zugewiesen, an bestimmten Tagen die Hymnen für den Betrieb, beziehungsweise den Staat zu singen.

Mit seiner Erzählung stellt Odojewski die Frage, ob die Tätigkeit des Dichters, beziehungsweise die Meinung des freidenkenden Individuums vom Staat und in der

Gesellschaft wieder akzeptiert und geschätzt wird. Mit den im Titel angesprochenen Themen der Beziehung des Künstlers zum Staat einerseits und zur Gesellschaft andererseits akzentuiert Odojewski die Suche nach dem Ideal als die Suche nach der gesellschaftlichen

Ordnung. Im Vergleich zu den Werken Hoffmanns und Eichendorffs wird das Thema der

Individualität unter anderen Grundthemen der Romantik viel stärker betont. Der Protagonist - ob Dichter, Künstler oder einfach ein freidenkender Bürger - verfolgt ein konkretes Ziel: die

Suche nach der inneren Einheit. Michailo Platonowitsch findet keine Harmonie, weder in der aufgeklärten Gesellschaft der Großstadt noch in der philiströsen Gemeinde des Dorfes.

Gemäß der Parallele zu Platon vertreibt die Welt der Großstadt den Protagonisten. Laut

Betriebsgesetzbuch ist die dörfliche Gemeinde mit ihren Wucherzinsen zu beschäftigt und hat keine Zeit für die unpraktische Welt des Dichters. Anstatt der keuschen und ehrlichen

Menschen findet Michailo Platonowitsch die schreckliche Gemeinde der habsüchtigen

Gutsbesitzer und ihrer Diener vor.

163

Посмотрите на этих людей в их домашнем кругу, в сношении с подчиненными – они ужасны: жизнь их есть беспрерывная забота, никогда не достигающая своей цели, ибо они столько пекутся о средствах для жизни, что жить не успевают!291

Seht euch diese Menschen in ihrem häuslichen Kreis, im Umgang mit ihren Untergebenen an – sie sind schrecklich. Ihr Leben ist unaufhörliches Sorgen, das nie sein Ziel erreicht, denn ihr Trachten gilt so sehr den Dingen fürs Leben, dass sie zum Leben keine Zeit haben!292

Der Protagonist flieht aus diesem konventionellen, ungebildeten und amoralischen

Umfeld in die Welt der Phantasie. Durch seine faszinierenden alchemistischen Experimente erreicht er die ideale Welt, nicht nur in der mittelalterlichen Tradition der Barden, sondern auch in der wenn auch imaginären Welt des 19. Jahrhunderts. Wie Elis Fröbom isoliert sich

Michailo Platonowitsch von der Außenwelt und vertieft sich in seine eigene Welt. Diese Welt bringt die lang erwartete Erlösung mit sich. Die Sylphide begleitet Michailo Platonowitsch ins Reich des Dichters. Hier wird der Mensch von den irdischen Sorgen und dem seelischen

Leiden befreit.

Смотри, здесь жизнь поэта – святыня! здесь поэзия – истина! здесь договаривается все недосказанное поэтом; здесь его земные страдания превращаются в неизмеримый ряд наслаждений293.

Sieh – hier ist das Leben des Dichters ein Heiligtum! Hier ist die Dichtung Wahrheit! Hier wird all das zu Ende gesprochen, was der Poet nicht hat sagen können; hier wandeln sich seine irdischen Leiden in eine endlose Folge von Wonnen294.

Der Titel der Erzählung bringt den erwünschten Optimismus. Das Bild der Sylphide symbolisiert die Schönheit, die Freude und das Glück. Das sind die Begriffe, die für Elis unerreichbar, fremd und tief verborgen wie Edelsteine der Faluner Bergwerke blieben.

Odojewski nennt seine Erzählung Sylphide, um damit das romantische Streben nach der idealen Welt zu fundieren. Im Zusammenhang mit dem Erfolg der angestrebten Ziele der romantischen Protagonisten wird der Titel Sylphide insbesondere solchen deutschen

291 Sylphide. 139. 292 Odojewski. 65. 293 Sylphide. 153. 294 Odojewski. 87. 164

Erzählungen wie Hoffmanns Bergwerke zu Falun, Der Goldne Topf und Tiecks Runenberg gegenübergestellt. Während die Bergwerke zu Falun als Definition des Ortes auch die Stadt

Falun und ihre Gesellschaft einschließen, verweist Odojewski seinen Leser sofort auf die

Phantasie. Die Sylphide ist die Begleiterin in die Welt des Schönen. Sie ist die

Personifizierung der idealen Welt, ohne jegliche Veränderung im Realen.

4.8 Die Großstadt und die Provinz als Objekte der sozialen Kritik. Die Konstellation

der Gesellschaft in den Werken Odojewskis, Hoffmanns und Eichendorffs

Odojewski beginnt seine Erzählung mit einem Brief, in dem Michailo Platonowitsch

über die Besonderheiten seines neuen Alltags auf dem Gutshof seines Onkels berichtet. Er wurde von den besorgten städtischen Ärzten zum Gutshof geschickt, damit der Spleen, die verbreitete Krankheit in der High Society der Großstadt, schneller geheilt wird. Michailo

Platonowitsch flieht aus der Großstadt ins entfernte Dorf seines Onkels mit demselben Ziel, das Elis auf seiner Flucht aus Göteborg nach Falun verfolgt. Wie Elis will sich auch Michailo

Platonowitsch vom Wirbel der Großstadt entfernen und stattdessen ein neues und einsames

Leben genießen. Er flieht aus der Großstadt und der großstädtischen Gesellschaft, weil sie für ihn die Quelle aller Laster sind. Sogar die Bücher, die von der High Society gelesen werden, langweilen Michailo Platonowitsch zu Tode.

Светская жизнь бесит, книги также бесят, а здесь вообрази себе, мое счастие, - я почти никого не вижу, и со мной нет ниодной книги!295

Das hauptstädtische Leben weckt Tollheit und Wut, auch die Bücher wecken Tollheit und Wut, hier aber – stell Dir mein Glück vor! – sehe ich fast niemanden, und um mich herum gibt es kein einziges Buch296.

Die Flucht Michailo Platonowitschs hat ähnliche Gründe, die Elis vom heimlichen

Kreis der gewöhnlichen Matrosengesellschaft forttreiben. Trotz des unterschiedlichen

295 Sylphide. 135. 296 Odojewski. 59. 165 sozialen Status erleben Elis und Michailo Platonowitsch dieselben Auseinandersetzungen mit ihrem Umfeld.

Der Autor beschreibt die ländliche Routine auf eine ironische Art und Weise und bestätigt somit die Nutzlosigkeit der gelernten Lebensordnung. Die Ironie, beziehungsweise die gespielte Ernsthaftigkeit, richtet sich primär gegen die Lebensordnung seines Onkels. Der junge Mann äußert sich schockiert über die Tatsache, dass sein Onkel alle diese Jahre als

Taugenichts auf seinem Gutshof verbrachte, ohne seinen monotonen Tagesablauf je zu

ändern:

Неужели он, как один из моих соседей, встанет поутру рано, часов в пять, напьется чаю и сядет раскладывать гранпасьянс вплоть до обеда; отобедает, ляжет отдохнуть и опять за гранпасьянс вплоть до ночи; так проходят 365 дней297.

Hielt er es vielleicht wie einer meiner Nachbarn – der steht am zeitigen Morgen auf, so gegen fünf, trinkt sich mit Tee voll, dann setzt er sich nieder und legt bis Mittag Patiencen, isst, ruht ein bisschen und macht sich wieder an die Patiencen – bis in die Nacht. Und das dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr298.

Von herausragendem Interesse ist die inhaltliche Parallele zu Aus dem Leben eines

Taugenichts, in dem der Schriftsteller von Anfang an das dörfliche Leben ironisiert.

Eichendorffs Ironie unterscheidet sich jedoch von der Ironie Odojewskis. Der Unterschied zwischen den Werken besteht darin, dass der verspottete Bauer, der Vater des Taugenichts, seine unveränderliche alltägliche Routine mit der schweren Arbeit in der Mühle beginnt, während die Gutsbesitzer aus der Erzählung Odojewskis seit früh morgens ständig ihre

Teepausen mit einem ruhevollen Nickerchen genießen. Die zum scharfen Sarkasmus gesteigerte Verspottung der Gutsbesitzer endet mit dem natürlichen Drang, die Hände in den

Schoss zu legen und nichts zu tun. Für die Gesellschaft ist es eine angenommene, erwünschte und sogar gesunde Lebensweise. Zu seinem höchsten Erstaunen stellt Michailo Platonowitsch

297 Sylphide. 134-135. 298 Odojewski. 59. 166 für sich klar, dass man in solch einem faulenzenden Zustand endgültig alle Probleme, einschließlich der inneren Konflikte mit sich selbst und der umgebenden Welt erfolgreich löst.

Надеюсь, мне удастся убить это негодное просвещение, которое только выводит человека из терпения и противится его внутреннему, естественному влечению: сидеть склавши руки299.

Es wird mir, hoffe ich, gelingen, das nichtnutzige Aufklärungstreiben auszumerzen, das den Menschen bloss aus der Fassung bringt und seinem natürlichen inneren Streben zuwiderläuft: die Hände in den Schoss zu legen300.

Die Begeisterung für das Dorf und seine Einwohner dauert aber nicht lange an, bis es einem aufgeklärten Bewusstsein offensichtlich wird, dass die Folgen solch eines Müßiggangs kläglich und gefährlich sein können. Eingeschläfert durch den monotonen Alltag merkt man nicht, wie schnell man ein Teil dieser Gesellschaft, einer dieser trägen Menschen wird. Mit spöttischem Lächeln berichtet Michailo Platonowitsch in seinem Brief, dass er von der

Gemeinde schnell akzeptiert wurde und dass ihm aufgrund seiner Meinungen ein hoher

Respekt entgegengebracht wurde.

За то пользуюсь всеобщим уважением. Прежде они меня боялись и думали, что я, как приезжий из столицы, буду им читать лекции о химии и плодопеременном хозяйстве; но когда я им высказал, что, по моему мнению, лучше ничего не знать, нежели знать столько, сколько знают наши ученые, что ничто столько не противно счастию человека, как много знать, и что невежество никогда еще не мешало пищеварению, тогда они ясно увидели, что я добрый малый и прекраснейший человек301.

Dafür genieße ich allgemeine Achtung. Zuerst empfanden sie Scheu von mir, sie glaubten, ich würde ihnen, da ich frisch aus der Hauptstadt komme, Vorträge über Chemie oder Fruchtwechselwirtschaft halten. Doch als ich ihnen gegenüber äußerte, dass es nach meiner Auffassung besser sei, gar nichts zu wissen als soviel zu wissen wie unsere Gelehrten; dass auch dem Glück des Menschen nichts so sehr entgegenstehe wie großes Wissen; dass schließlich das Nichtwissen in keiner Weise die Verdauung belaste: da erkannten sie deutlich, dass ich ein Prachtkerl sei302.

299 Sylphide. 136. 300 Odojewski. 62. 301 Sylphide. 136. 302 Odojewski. 60-61. 167

Die von Odojewski beschriebene Langeweile vom Nichtstun und die vom Autor kritisierte ziellose Lebensweise der Gutsbesitzer sind auch Gegenstand der scharfen Kritik im

Roman Eichendorffs. Die ausführlichen Passagen über das ziellose Verhalten, beziehungsweise den verschwenderischen Zeitvertrieb werden sowohl von Eichendorff als auch von Odojewski schon in den ersten Kapiteln ihrer Werke eingeführt. Sie schildern den

Mangel an persönlichen und insbesondere gesellschaftlichen Zielen der provinziellen

Gesellschaft.

In seinem Roman zeigt Eichendorff, wie der Müßiggang und die Ziellosigkeit die

Charakteristika des wohlhabenden Teils der Gesellschaft und ihrer Dienerschaft sind. Nach einigen Diensttagen als Zolleinnehmer am Schloss verspottet der Taugenichts seinen ziellosen Alltag. Zum Beispiel hat er eines Tages das Gefühl, dass seine Beine vor

Langeweile im monotonen Tagesablauf länger werden.

Auch das Sitzen draußen vor der Tür wollte mir nicht mehr behagen. Ich nahm mir, um es bequemer zu haben, einen Schemel mit heraus und streckte die Füße darauf, ich flickte ein altes Parasol vom Einnehmer und steckte es gegen die Sonne wie ein chinesisches Lusthaus über mich. Aber es half nichts. Es schien mir, wie ich so saß und rauchte und spekulierte, als würden mir allmählich die Beine immer länger vor Langeweile und die Nase wüchse mir vom Nichtstun, wenn ich so stundenlang an ihr heruntersah303.

Gegenstände wie Parasol und Schemel implizieren eher das Häusliche und das

Gemütliche als eine tüchtige Arbeitsatmosphäre. Der Taugenichts verwendet Möbelstücke und Gegenstände des Haushalts, um seine anspruchslose Arbeitsstelle bequem zu gestalten.

Er sitzt, raucht und bräunt sich in der Sonne. So vergehen die Tage, die Monate und fünfunddreißig Jahre Nichtstun.

Genauso erging es Michailo Platonowitschs Onkel. Eine solche Lebensweise wurde ein Teil der Sitten und Bräuche mehrerer Generationen. Der Müßiggang, der Egoismus und die Lasterhaftigkeit waren die Nachteile der russischen und deutschen sozio-kulturellen

303 Eichendorff. 81-82. 168

Situation, die von Odojewski und Eichendorff stark kritisiert wurden. Beide Autoren wenden sich gegen das untätige, moralisch zersetzte Leben der provinziellen Gesellschaft, vor allem der Gutsbesitzer und der Hofleute.

In seinem Bericht zählt Odojewskis Protagonist die Formen des gesellschaftlichen und individuellen Verfalls auf, die er im Dorf gelernt hat. Er kannte die Mängel der

Gesellschaft bereits aus dem Leben in der Hauptstadt. Zu seinem großen Erstaunen erfährt

Michailo Platonowitsch, dass diese Mängel in der Provinz noch schlimmere und raffiniertere

Formen annehmen.

Я скоро здесь нашел все те же страсти, которые меня пугали между людьми так называемыми образованными, то же честолюбие, то же тщеславие, та же зависть, то же корыстолюбие, та же злоба, та же лесть, та же низость, только с тою разницею, что все эти страсти здесь сильнее, откровеннее, подлее, - а между тем предметы мельче304.

Ich fand hier beinahe alle die Leidenschaften, die mich unter den sogenannten Gebildeten erschreckten, dieselbe Ehrsucht, dieselbe Hoffart, denselben Neid, denselben Eigennutz, dieselbe Bosheit, dieselbe Kriecherei, dieselbe Niedertracht, einzig mit dem Unterschied, dass all diese Leidenschaften hier stärker, offener, gemeiner ans Licht treten und dass dabei ihr Gegenstand geringer ist305.

Dieses Zitat bezeugt Odojewskis Kritik an der langen politischen und sozialen

Stagnationszeit Russlands. In seinem Werk Sylphide wendet er sich insbesondere gegen den gesellschaftlichen Verfall. Diese Kritik wird durch sprachliche Mittel wie die erweiterte klimatische Aufzählung der gesellschaftlichen Mängel – Ehrsucht, Hoffart, Neid, Eigennutz,

Bosheit, Kriecherei und letztendlich Niedertracht sowie stilistische Mittel wie die

Wiederholung der Konstruktion dieselbe hervorgehoben. Die Aufzählung erreicht einen stilistischen Höhepunkt und steigert dadurch die Intensität der Kritik. Eichendorffs und

Hoffmanns soziale Kritik wurde von Odojewski bestimmt rezipiert.

304 Sylphide. 137-138. 305 Odojewski. 63-64. 169

Obwohl alle drei Autoren die gesellschaftlichen Mängel und Laster als wichtiges

Objekt ihrer Darstellung betrachten, gibt es gewisse Unterschiede zwischen Hoffmanns,

Eichendorffs und Odojewskis Einstellungen zur Kritik der städtischen und provinziellen

Gesellschaft. Vor allem unterscheiden sich die Autoren in der Stärke ihrer Kritik. Odojewskis

Kritik richtet sich gleichsam auf die Gesellschaft der Stadt und der Provinz, während die

Kritik Hoffmanns und Eichendorffs auf bestimmte soziale Gruppen zielt und keinen allgemeinen Charakter trägt. Odojewski rechtfertigt weder die tüchtige Lebensweise der weltlichen, aufgeklärten, städtischen Gesellschaft noch die Gemütsruhe und Sorglosigkeit der dörflichen Gemeinde. Im Alltag jeder dieser Gesellschaften findet man letztendlich die habsüchtigen Ziele und die niederen Leidenschaften. Das ständige Fehlen der harmonischen sozialen Atmosphäre, durch die der Protagonist zum aktiven Leben inspiriert wird, verursacht die Gefühle der Ausweglosigkeit und der Untätigkeit. Verzweifelt durch die Laster der dörflichen Gemeinde entschließt sich Michailo Platonowitsch dazu, sich von diesem Umfeld zu isolieren und mithilfe seiner kabbalistischen Experimente in die phantasierte ideale Welt zu fliehen.

Seine Flucht in die Phantasie suggeriert keine gleichzeitige Existenz in der Realität.

Michailo Platonowitsch erlebt keine dualen Zustände, die den Protagonisten Eichendorffs und insbesondere Hoffmanns eigen sind. Sein Abschied von der Realität enthält keine

Rückkehr ins ehemalige Leben. Damit verzichtet Odojewski auf die traditionelle

Intensivierung der Dualität und zieht eine deutliche Grenzlinie zwischen der nicht perfekten

Realität und der perfekten Phantasie. Die Wirklichkeitsebenen werden deutlich gestaltet und als zwei Antipoden einander gegenübergestellt. Sowohl die Großstadt als auch die Provinz gehören zu einer nicht perfekten Wirklichkeit.

Die kritische Eindeutigkeit Odojewskis in der Beurteilung des städtischen und provinziellen Lebens erklärt sich vor allem dadurch, dass der Autor absichtlich nur bestimmte

170 soziale Schichten auswählt. Ihrer lässigen Lebensweise und ihrer kurzsichtigen

Weltanschauung nach fördern die Menschen das Gedeihen und die Prosperität des erstarrten bürokratischen Systems. Gleichsam sind sie die Quelle des wirtschaftlichen und kulturellen

Welkens des Landes.

In der Darstellung des sozialen Umfelds unterscheidet sich Odojewski deutlich von

Hoffmann und Eichendorff, die in ihrem Erzählen den positiven Seiten des gesellschaftlichen

Lebens mehr Platz einräumen. Während Eichendorff die historischen Umstände nicht konkretisiert und absichtlich keine historischen Ereignisse in die Handlung einschließt, verallgemeinert er auch die Besonderheiten des sozialen Lebens. Der Autor vertieft sich weder in die sozialen und kulturellen Besonderheiten des städtischen Bürgertums, noch in die der Bauern. Dazu idealisiert Eichendorff die gesellschaftliche Situation. Es gibt weder

Barrieren noch Konflikte zwischen den Schichten. Dies erlaubt dem Taugenichts, als Sohn eines Müllers, sich in eine adlige Dame zu verlieben und an die erwiderte Liebe ernsthaft zu glauben.

Die verschwommenen Grenzen zwischen den standesgemäßen Charakteristika sind auch das Unterscheidungsmerkmal des sozialen Bildes in Bergwerke zu Falun. Nicht die

Angehörigkeit zu einem bestimmten Milieu, sondern die menschlichen Eigenschaften helfen

Elis, das Herz seiner geliebten Ulla und das Vertrauen ihres Vaters, des Besitzers der

Bergwerke, zu gewinnen. Als Elis in der Stadt ankommt, gedeiht die provinzielle Gemeinde

Faluns in ihrer wirtschaftlichen Situation und ihrem sozialen Leben.

Im Vergleich zur verfallenen russischen Provinz lebt die schwedische Kleinstadt in

Harmonie und öffentlicher Wohlfahrt. Die Hervorhebung der existierenden wirklichen

Harmonie (Bergwerke zu Falun) und des ihr gegenübergestellten gesellschaftlichen Verfalls

(Sylphide) ist für die Analyse des Ursprungs der romantischen Flucht in die Phantasie von großer Bedeutung. Dieser Ursprung ist bei Hoffmann und Odojewski unterschiedlich. Elis

171

Flucht aus der Wirklichkeit hat vor allem subjektive, rein individuelle Gründe. Seine Flucht ist durch seelische Prozesse wie Sehnsucht, Angst und Verlangen verursacht. In die Tiefe der

Bergwerke treibt ihn das “ekstatische Gefühl von Schmerz, Wollust, Liebe, Sehnsucht und brünstigem Verlangen306“. Im Gegensatz zu Michailo Platonowitsch ist dies keine rationale

Entscheidung, sondern ein unbewusster Trieb.

Dass Hoffmann im Vergleich zu Odojewski seine Kritik an der gesellschaftlichen

Situation vermeidet, zeigt seine Darstellung des Göteborger Festes. Das ist die einzige Szene, die sich um die menschlichen Laster dreht. Hoffmann beschönigt die Schwelgerei der

Matrosen keineswegs. Er deutet auch auf ihren Merkantilismus und ihre Habsucht hin.

Die Herren von der ostindischen Kompanie wandelten am Hafen auf und ab, und berechneten mit lächelnden Gesichtern den reichen Gewinn307.

Doch sogar für solch ein Benehmen der Matrosengesellschaft findet der Autor

Rechtfertigungen. So vulgär und randalierend geben die Seeleute ihr verdientes Geld aus.

Ihren Gewinn verdienten sie durch die schwere Arbeit der Matrosen. In der langen, ermüdenden Seefahrt riskierten sie ihr Leben.

Hoffmann stellt Göteborg nicht als eine perfekte Stadt dar. Aber diese Stadt behielt immerhin den Rhythmus der wirtschaftlichen Entwicklung. Vom Gewinn der Matrosen profitierten der Hafen und die Stadt Göteborg.

Sie [die Seeleute] hatten ihre Herzensfreude daran, wie ihr gewagtes Unternehmen nun mit jedem Jahr mehr und mehr gedeihe und das gute Göteborg im schönsten Handelsflor immer frischer und herrlicher empor blühe308.

Die Stadt strahlt eine wohltuende Atmosphäre aus, die dem bestimmten

Lebensstandard des städtischen Bürgertums entspricht.

Jeder sah die wackeren Herrn [die Seeleute] mit Lust und Vergnügen an309.

306 Denneler. 134. 307 Hoffmann. 208. 308 Ebenda. 208. 309 Ebenda. 208. 172

Die Freude der Göteborger erklärt sich durch die rationale wirtschaftliche Pragmatik, denn mit dem „Gewinn [der Seeleute] kam Saft und Kraft in das rege Leben der ganzen

Stadt310“. Im Vergleich zu Michailo Platonowitsch stellt sich Elis dem Umfeld nicht direkt gegenüber. Er kritisiert weder die Lebensweise der großstädtischen noch der provinziellen

Gesellschaft. Er verlässt Göteborg und die Matrosengesellschaft, weil er sich einerseits nicht dazugehörig fühlt, andererseits weil er wegen seiner Familientragödie die Einsamkeit sucht.

Er braucht einen radikalen Wechsel seiner Lebensweise. Das provinzielle Falun bietet ihm die erwünschte Ruhe, Freunde und eine neue Familie – als das, was er seit mehreren Jahren nicht mehr hatte.

Damit können die Großstadt und die Faluner Provinz als zwei Elemente gegenübergestellt werden, in denen Elis unterschiedliche Gefühle und Zustände erlebt.

Nachdem er sich von der unharmonischen Wirklichkeit der Matrosen verabschiedet hatte, fand er im provinziellen Falun seine professionelle Berufung, einen Kreis von

Gleichgesinnten und Freunden. Dieselbe Absicht Michailo Platonowitschs, die Laster der

Großstadt in der Ruhe und Keuschheit des Dorfes zu vergessen, scheiterte demgegenüber in dem Moment, als er dieselben Laster der Großstadt in der dörflichen Gemeinde entdeckte.

4.9 Der Taugenichts, Elis und Michailo Platonowitsch in Bezug auf das Streben der

romantischen Protagonisten

Während sich Odojewski in seiner Kritik auf die moralischen und menschlichen

Eigenschaften der Gesellschaft konzentriert und sich Hoffmann mit den inneren Zuständen des Individuums im sozialen Umfeld beschäftigt, richtet sich die Kritik Eichendorffs vor allem auf die Gegenüberstellung zwischen dem Philister und dem Künstler. Der Taugenichts verlässt sein Heimatdorf, um seinen Platz in der Welt zu finden und um auf seinen eigenen

Beinen zu stehen. Der Zorn des Vaters wird überwiegend durch die Faulheit des Taugenichts

310 Ebenda. 208. 173 verursacht. Die Merkmale eines dörflichen Müßiggängers entwickeln sich weiter zu einer philiströsen Lebensweise, zu der der Taugenichts ab und zu neigt.

Der Schlafrock stand mir schön zu Gesichte, und überhaupt das alles behagte mir sehr gut. So saß ich denn da und dachte mir mancherlei hin und her, wie aller Anfang schwer ist, wie das vornehmere Leben doch eigentlich recht bequem sei, und fasste heimlich den Entschluss, nunmehr alles Reisen zu lassen, auch Geld zu sparen wie die andern und es mit der Zeit gewiss zu etwas Großem in der Welt zu bringen311.

“Schlafrock”, „Geld“, “Behaglichkeit” und “Bequemheit” sind die typischen

Bestandteile des Alltags eines Philisters. Dieselben Charakteristika sieht man deutlich in der

Beschreibung des Lebens Michailo Platonowitschs auf dem Landgut seines Onkels. Durch sein Nichtstun wird der Taugenichts seinem tüchtigen, arbeitsamen Vater gegenübergestellt.

Sein Vater ist ein Vertreter des bäuerlichen Milieus, das in Eichendorffs Roman als Teil der ländlichen Idylle gilt. Das Leben der Bauern ist einfach und vorhersehbar. Ihm fehlen die

Feierlichkeit und Raffiniertheit, die man in der Stadt oder am Hof antrifft. Jedoch leben die

Bauern in Harmonie mit der Natur und den menschlichen Tugenden. Sie gehören zu der sozialen Schicht, die in der Erzählung Odojewski nie thematisiert wird. Dafür gibt es einen wichtigen Grund. In der Entstehungszeit des Romans herrschte im Russland Nikolais des

Ersten die berüchtigte Leibeigenschaft. Die innovativen Ideen und Konzepte für eine

Änderung der politischen und wirtschaftlichen Situation, einschließlich der Agrarreformen, zerbrachen an der Front des reaktionären Staates. Selbst die Gutsbesitzer glaubten nicht an

Verbesserungen und wollten in ihrem passiven Leben die alte Ordnung beibehalten. Sie lachen über die nutzlosen Versuche der verwegenen Experimentatoren, etwas verbessern zu wollen, und halten sie für lächerliche Besserwisser:

Они стали мне рассказывать свои разные шутки над теми умниками, которые назло рассудку заводят в своих деревнях картофель, молотильни, крупчатки и другие разные вычурные новости: умора, да и только!312

311 Eichendorff. 78. 312 Sylphide. 136. 174

Sie fingen an, mir von verschiedenen Streichen zu erzählen, die sie den Neunmalgescheiten gespielt hatten, die wider alle Vernunft in ihren Dörfern Kartoffelanbau, Dreschmaschinen, Graupenmühlen und alles mögliche neumodische Zeug einführen – nichts als Plackerei hat man damit313.

Die Nennung fortschrittlicher Ideen ist in der Handlung eine große Ausnahme. Das

Bild des sozialen Verfalls ist in der Erzählung Odojewskis finster, und die Stimmung

Michailo Platonowitschs ist so düster und skeptisch, dass der frühzeitige Abschied Michailo

Platonowitschs von solch einer deprimierenden Realität den Leser nicht verwundert.

Während die Entscheidung Michailo Platonowitschs gerechtfertigt wird, wird die Richtigkeit des Abschieds Elis von der Faluner Realität infrage gestellt. In der Rechtfertigung und dem

Bedenken bezüglich der Phantasie liegt der Hauptunterschied zwischen den Werken

Hoffmanns und Odojewskis.

Hoffmann überlässt seinen Protagonisten der Macht des geheimen Triebs, der der

Handlung eines kanonischen gotischen Werkes einen sicheren Erfolg versprach. Seine instabilen seelischen Zustände, sein impulsives Verhalten und seine plötzliche Flucht aus der

Wirklichkeit werden durch Adjektive wie geheimnisvoll, mysteriös und rätselhaft viele Male gekennzeichnet, so dass jede andere Begründung seines Verhaltens überflüssig wäre.

Hoffmann verwischt absichtlich die Grenzen zwischen der Wirklichkeit und der

Phantasie. In einer der umfangreichsten und aktuellsten Forschungen zu Hoffmann – dem

Gesamtüberblick über das Leben und Werk des Schriftstellers – sagt Detlef Kremer.

Hoffmann konturiert die verschiedenen Wirklichkeitsebenen seiner Erzählung zeitweilig unscharf und lässt sie dadurch ineinander fließen314.

Die logische Existenz der Grenzen zwischen dem im realen Leben Erwünschten und dem kritisierten Negativen wird durch die mystischen Konzepte ersetzt, die in den

Vordergrund der Handlungsproblematik gestellt werden. Damit ist die Erzählung Bergwerke

313 Odojewski. 61. 314 Kremer. 285. 175 zu Falun ein in vollem Maße gotisches Werk über die mysteriösen Ereignisse, die einem jungen Mann unerwartet passieren. Auf eine tragische Art und Weise stirbt Elis ganze

Familie. Plötzlich erscheint die geheimnisvolle und gruselige Figur Torberns. Auf wundersame Art und Weise verliebt sich die schönste Frau Faluns in den verzweifelten, verschlossenen, jedoch tüchtigen Elis. Wie in einem Märchen begegnet Elis in der Tiefe des finsteren Schachts der überwältigenden Königin der Bergwerke. Gerade in dem Moment, als der Leser sich auf das glückliche Ende freut, kommt Elis unter geheimnisvollen Umständen ums Leben. Abgesehen davon, dass die Erzählung Sylphide der mystisch-gotischen Reihe der

Erzählungen Odojewskis angehört, unterscheidet sich Odojewskis jedoch von Hoffmanns

Werk im Hinblick auf die Funktion der Mystik. Nichtsdestotrotz haben Hoffmanns Werke

Odojewski stark beeinflusst.

Odojewskis Werk beginnt, wie es für die russische Romantik typisch ist, mit realistischen Motiven, vor allem der Darstellung der sozialen Situation Russlands. Die rettende Funktion der fantastischen Ebene, die der verfallenen Wirklichkeit gegenübergestellt wird, wird im Vergleich zu Hoffmann von Odojewski verstärkt. Dank der geheimnisvollen, erhabenen und geliebten Sylphide entdeckt Michailo Platonowitsch die ideale Welt. Diese helle Welt ist ein Antipode zu den finsteren Bergwerken. Sogar die geometrische

Strukturierung der phantastischen Welt ist antagonistisch. Elis steigt hinunter in die Tiefe der

Erde, während Michailo Platonowitsch dieselbe Erde aus der Perspektive seines Fluges beobachtet. Von herausragender Bedeutung ist, dass Odojewski in der wichtigsten Szene - der Reise durch die Welt der Phantasie - das gesamte irdische Leben kritisiert. Die Sylphide

öffnet Michailo Platonowitsch die neue ideale Welt und verweist auf die Vergänglichkeit, die

Irrtümer und die Nichtigkeit der irdischen Zivilisation.

In dieser Kritik des irdischen Lebens stechen besonders zwei Episoden hervor. Diese

Sequenzen weisen besonders auf die entsprechenden Szenen aus Hoffmanns und

176

Eichendorffs Werken hin. Im folgenden werden Odojewskis Einstellungen zur Natur und der

Rolle Roms in Bezug auf die traditionellen Objekte der romantischen Diskussion analysiert.

4.10 Odojewskis kritisches Verhältnis zur Natur und Rom als Objekte der

traditionellen poetischen Verherrlichung

Vor allem sind Odojewskis Bemerkungen über die poetische Verehrung der Natur von großem Interesse. In einem romantischen Werk erwartet man eine bedeutsame, bis zu einem

Kultus entwickelte Rolle der Natur. In Odojewskis Erzählung findet man jedoch keine dieser

Verherrlichungen der Natur. Während seines Aufenthalts auf dem Landgut erfährt Michailo

Platonowitsch keine tiefe seelische Verbundenheit mit der Natur. Noch deutlicher wird diese skeptische Einstellung zur Poetisierung der Natur, als die Sylphide die Huldigung der Natur als einen absurden Fehler des Dichters darstellt. Die Natur ist blind, gefährlich und sogar tödlich.

Смотри – там в дали, на вашей земле поэт преклоняется перед грудою камней, обросших бесчувственным организмом растительной силы. “Природа! – восклицает он в восторге, - величественная природа, что выше тебя в этом мире? что мысль человека пред тобою?” А слепая, безжизненная природа смеется над ним и в минуту полного ликования человеческой мысли скатывает ледяную лавину и уничтожает и человека, и мысль человека!315

Sieh, dort in der Ferne, auf eurer Erde, neigt sich ein Dichter vor einem Haufen von Steinen, die mit dem fühllosen Organismus pflanzlicher Wachstumskraft überwuchert sind. “Natur!” ruft er entzückt aus, “majestätische Natur, was steht höher als du in dieser Welt? Was ist der Gedanke des Menschen vor dir?” Die blinde, leblose Natur aber lacht ihn aus, und in dem Augenblick, da der menschliche Gedanke jauchzt und frohlockt, löst sie eine Eislawine und vernichtet den Menschen mitsamt seinem Gedanken!316

Im Zusammenhang mit Bergwerke zu Falun bietet das Werk Odojewskis eine

Antwort auf die geheimnisvollen Umstände von Elis Tod. Für Odojewski sind die Faluner

Edelsteine nichts anderes als ein Haufen Steine. Diese Steine sind nur leblose Materie. Im

315 Sylphide. 153. 316 Odojewski. 87. 177

Vergleich zum unendlichen Universum der eigenen Seele, der eigenen inneren Welt sind nach Odojewski die Steine eine begrenzte und ausdruckslose Materie, die ein Symbol des

Irdischen und des Vergänglichen ist. Anders ist die Konstellation des Irdischen im Werk

Hoffmanns. Elis strebt nicht nach der Erkenntnis seiner gequälten Seele, vielmehr sucht er in der Tiefe der Erde nach der Rettung aus der innerlichen Zerrissenheit. Seine Phantasie richtet sich auf nichts anderes als ein ehrgeiziges Streben nach materiellem Wohlstand und Erfolg in der Gesellschaft. Die Worte Torberns sind ein Zeugnis davon.

Hei, des Pehrson Dahlsjö Tochter Ulla willst du zum Weibe gewinnen, deshalb arbeitest du hier ohne Leib und Gedanken317.

Elis Ehrgeiz kennt keine Grenzen, besonders wenn er sich der Macht der Natur gegenüberstellt. Torbern warnt den jungen Bergwerkarbeiter vor der Gefährlichkeit des unterirdischen Reichs.

Nimm dich in Acht du falscher Gesell, dass der Metallfürst, den du verhöhnst, dich nicht fasst und hinab schleudert, dass deine Glieder zerbröckeln am scharfen Gestein318.

Die Natur lacht über Elis Ehrgeiz. An besagtem Tag stürzen die Bergwerke in sich zusammen. Wie die von der Sylphide erwähnte Lawine tötet die Mine Elis genau in dem

Moment des höchsten Jubels menschlichen Denkens. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Natur in der Darstellung Odojewskis ihre traditionell romantische Funktion des geheimen, bezaubernden Elements verliert. Ihre Wahrnehmung durch den Protagonisten tendiert immer mehr in Richtung der realistischen Tradition.

Auch das von Eichendorff angesprochene Entzaubern der ewigen Stadt erlebt in

Odojewskis Werk seine Vollendung. Die Alltäglichkeit Roms beendet die Illusionen des

Taugenichts über die prächtige Zitadelle der Künstler, Genies und der ewigen Liebe. Von einer Zauberstadt träumte der junge Mann an den zahlreichen Sonntagsnachmittagen.

317 Hoffmann. 228. 318 Ebenda. 228. 178

Denn von dem prächtigen Rom hatte ich schon zu Hause als Kind viele Geschichten gehört und wenn ich dann an Sonntagsnachmittagen vor der Mühle im Grase lag und alles ringsum so stille war, das dachte ich mir Rom wie die ziehenden Wolken über mir, mit wundersamen Bergen und Abgründen am blauen Meer und goldnen Toren und hohen glänzenden Türmen, von denen Engel in goldenen Gewändern sangen319.

Rom ist die ewige Stadt. Es ist die Zitadelle der Dichter und Maler. Doch findet der

Taugenichts auch in dieser gelobpreisten Stadt die Bürger und Philister vor. Der junge Mann fühlt sich in Rom einsam und weiß nicht, wie er sich in der „großen fremden Stadt320“ orientieren soll. In der Fremdheit der ewigen Stadt versinkt der Taugenichts immer öfter in

Tagträume über sein Heimatdorf.

Mit einer rhetorischen Frage wird die Darstellung Roms im Werk Odojewskis eröffnet:

Ты ли это, гордый Рим, столица веков и народов321?

Bist du das, stolzes Rom, Ewige Stadt, Haupt der Völker322?

Das ihm gebotene Bild Roms stimmt Michailo Platonowitsch jedoch wehmütig.

Как растянулась повилика по твоим развалинам323.

Wie sind deine Ruinen von Winden und Efeu umschlungen324.

Wie im Fall des Taugenichts hätte Michailo Platonowitsch von der ewigen Stadt an den kalten Wintertagen Sankt Petersburgs träumen können. Die Sylphide zeigt ihm unerwartet die Vergänglichkeit der Stadt. Mit der Entthronung Roms scheint die romantische

Suche nach der idealen Welt zu scheitern. Odojewskis Werk ändert jedoch die Richtung dieser Suche, indem er die Hoffnung – das Auffinden der Ideale - in eine andere, nicht irdische Welt verlagert.

Простись с поэтическим земным миром325!

319 Eichendorff. 128. 320 Ebenda. 131. 321 Sylphide. 150. 322 Odojewski. 83. 323 Sylphide. 150. 324 Odojewski. 83. 179

Nimm Abschied von der irdischen Welt der Poesie!326

Man soll sich der seelischen Welt zuwenden.

Лишь в душе души высоки вершины! Лишь в душе души бездны глубоки327!

Einzig in der Seele der Seele sind Gipfel hoch! Einzig in der Seele der Seele sind Abgründe tief!328

Nur in der Selbsterkenntnis und den Tiefen der eigenen Seele findet man die

Antworten auf die ewigen Fragen der Romantik.

Damit schrieb Odojewski den traditionellen Themen der Natur und des schönen

Italiens nur eine sekundäre Bedeutung zu und konzentrierte sich stattdessen auf die allgemeinen philosophischen Fragen. Unter anderem greift Odojewski die Fragen über das

Gute und das Böse, die Alltäglichkeit und die Ewigkeit, den Großmut und den

Merkantilismus auf. Die Hervorhebung dieser Begriffe verdeutlicht das Wesen des romantischen Ideals. Die Erkenntnis der eigenen inneren Welt, ihre geistige Emanzipation und der Verzicht auf das lasterhafte, habsüchtige Leben sind die angestrebten Ziele der romantischen Suche aufseiten der Protagonisten Odojewskis. Als kennzeichnende Merkmale seines gotischen Zyklus hebt der Autor diese Motive immer wieder hervor. Die Erzählung

Sylphide ist ein hervorragendes Beispiel dafür.

Чем более человек обращает внимание на свои вещественные потребности, чем выше ценит все домашние дела, домашние огорчения, речи людей, их обращение в отношении к нему, мелочные наслаждения, словом, всю мелочь жизни, - тем он несчастливее; эти мелочи становятся для него целию бытия; для них он заботится, сердится, употребляет все минуты дня, жертвует всею святынию души, и так как эти мелочи бесчисленны, душа его подвергается бесчисленным раздражениям; характер портится329.

325 Sylphide. 152. 326 Odojewski. 86. 327 Sylphide. 153. 328 Odojewski. 87. 329 Sylphide. 138. 180

Je mehr Aufmerksamkeit der Mensch seinen materiellen Bedürfnissen, den alltäglichen Dingen und Kümmernissen zuwendet, je größeren Wert er auf die Worte, auf das Verhalten der anderen ihm gegenüber, auf die kleinen Genüsse, kurz, auf all die Nebensächlichkeiten des Lebens legt, desto unglücklicher ist er; die Nebensächlichkeiten werden für ihn zum Sinn des Daseins; um ihretwillen sorgt er sich, erbost er sich, auf sie verwendet er alle Minuten des Tages, ihnen opfert er das ganze Heiligtum der Seele, und da es von solchen Nebensächlichkeiten unzählige gibt, wird seine Seele zahllosen Strapazen ausgesetzt. Der Charakter verdirbt330.

Das menschliche Glück liegt weder im augenblicklichen Vergnügen der materiellen

Gesellschaft noch in der Trivialität des Lebens. Im Gegenteil, man sollte sich laut

Odojewskis von den trivialen Sorgen befreien und sich den hohen Idealen widmen. Die

Suche nach der besseren Welt birgt allerdings auch Gefahren. Bekanntlich kennzeichnen sie sich nicht nur durch die Nachtseiten der Romantik wie Gespenster und die mystische Macht des Schicksals, sondern auch durch die psychologischen Zustände des Wahnsinns und der

Dualität. Wie Hoffmann beschäftigt sich auch Odojewski mit dem „Fremden der

Vernunft“331. Während sich Michailo Platonowitsch von der deprimierenden Wirklichkeit verabschiedet, verliert er die Verbindung zum natürlichen Lebensrhythmus. Sein asketischer

Verzicht auf den Schlaf und die Ernährung erinnert an die Lebensweise eines Eremiten.

Fasziniert durch die Offenbarung der entdeckten Welt der Phantasie vergisst der Protagonist seine irdische Herkunft, nähert sich dem Zustand des süßen Wahnsinns und wird letztendlich von der Dorfgemeinde als geisteskrank erklärt.

4.11 Das widersprüchliche Verhältnis zwischen der Normalität der Wirklichkeit und

dem Wahnsinn der Phantasie

Der spirituelle Erkenntnisweg und sein kontroverser Charakter verursachen die

Konflikte der Protagonisten mit ihrem Umfeld und mit sich selbst. Unabhängig von dem sozialen Stand, dem Alter und der Tätigkeit können die Helden aus den Werken Hoffmanns,

Eichendorffs und Odojewskis eine geistige Krise nicht vermeiden. Wenn man die drei

330 Odojewski. 64-65. 331 Denneler. 135. 181

Protagonisten vergleicht, sieht man ihre unterschiedliche Herkunft, Lebensweise und

Charakterzüge. Elis ist jung, einsam, träumerisch, pessimistisch und sozial verschlossen. Im

Gegensatz zu Elis ist der Taugenichts extrovertiert, gesellig, realitätsorientiert und optimistisch.

Michailo Platonowitsch vereint Charakterzüge Elis und des Taugenichts. Odojewski gestaltet somit einen realistischen Charakter mit der Lebenseinstellung, die unter den trüben

Umständen der russischen Provinz zu einer der verzweifelten Pessimismen wird. Aus einem lebensfreudigen Charaktertyp, der dem Taugenichts ähnelt, verwandelt sich Michailo

Platonowitsch während seines Aufenthalts im Dorf in den verzweifelten und verschlossenen

Charaktertyp Elis. Von Elis und dem Taugenichts unterscheidet sich das Bild Michailo

Platonowitschs durch seine präzis dargestellte soziale Angehörigkeit und seine deutliche

Stellung in der Gesellschaft, die ihn umgibt. Er gehört zum Stand des mittleren Adels und ist gelangweilt und des zügellosen Lebens müde.

In der Gestaltung Michailo Platonowitschs folgt Odojewski dem traditionellen

Vorbild des romantischen Außenseiters. Er lebt eine schillernde Doppelexistenz und sucht in der Negation der bestehenden Gesellschaft und ihrer Werte einen Ausweg332. Der Autor vermeidet jedoch die Verallgemeinerung der psychologischen Züge und verleiht dem

Protagonisten ein komplexes Bild seiner Gefühle und Gedanken. Die feinen Charakteristika des Helden waren ein relativ neuer Zug und wurden erst später aktiv in der Literatur des

Realismus weiterentwickelt. Odojewskis Held wurde ein Prototyp zukünftiger Protagonisten

– Iwan Sergejewitsch Turgenews (1818 – 1883) und Fjodor Michailowitsch Dostojewskis

(1821 – 1881). Sein Verhalten, sein Auftreten und seine Redeweise stammen seinem sozialen

Milieu, zu dem Odojewski selbst gehörte.

332 Leiteritz, Christiane. Die Französische Revolution im Spiegel der Literatur. In: Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760-1820. Hrsg. von Horst Albert Glaser. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company, 2001. 56. 182

Die drei unterschiedlichen psychologischen Typen Elis, der Taugenichts und Michailo

Platonowitsch ähneln sich jedoch in dem romantischen Konflikt, den sie erleben. Je mehr sich die Protagonisten in ihre innere Welt der Träume und der Phantasie vertiefen, desto mehr verlieren sie die Beziehung zur Realität. Dies wird offensichtlich an den Beispielen von Elis und Michailo Platonowitsch. Im Moment des unmittelbaren Kontakts mit dem unermesslichen Universum der Phantasie verlieren die Protagonisten die Kontrolle über ihre

Wünsche und Fähigkeiten. Das Thema des verlorenen Verstandes und der Identitätslösung wurde bereits in Bezug auf die Werke Hoffmanns und Eichendorffs analysiert. Dieses Thema nimmt auch eine wichtige Stellung im Werk Odojewskis ein. Die Interpretation des

Wahnsinns hat in Odojewskis mystischen Erzählungen viele Berührungspunkte mit den

Werken deutscher Autoren. Insbesondere Hoffmanns Name ist im Kontext der literarischen

Gemeinsamkeiten wichtig.

The theme of madness in connection with the higher forms of spiritual activity echoes well-known views of Schelling and Hoffmann333.

Unter dem Einfluss alchemistischer und kabbalistischer Bücher vertieft sich Michailo

Platonowitsch in die Welt der Phantasie. Die Anziehungskraft der Unendlichkeit der

Phantasie ist so stark, dass der Protagonist die Verbindung zur Wirklichkeit unmerklich verliert.

Das Unendliche umgibt den Menschen, das Geheimnis der Gottheit und der Welt. Was er selbst war, ist und sein wird, ist ihm verhüllt. Süß und furchtbar sind diese Geheimnisse334.

Dieses Zitat von Uhlands Über das Romantische erklärt den Zusammenhang zwischen der Unendlichkeit der Phantasie und den psychologischen Entgrenzungswünschen, die als romantische Dualität bezeichnet werden.

333 Cornwell. 91. 334 Uhland, Ludwig. Über das Romantische. Bibliotheca Augustana. In: http://www.hs- augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/19Jh/Uhland/uhl_roma.html 183

[Der Protagonist muss die] Dingwelt aus der Erstarrung erlösen, in den (Ur)zustand unbestimmter Bestimmbarkeit, in einen metaphysischen Zustand der Schwebe zwischen Sein und Nichtsein (zurück)versetzen335.

Das gute Beispiel solcher Schwebe sind in Sylphide die sich bewegenden römischen

Skulpturen.

Лунный блеск ложится на бесчисленные статуи; они сходят с мест своих, проходят мимо меня, полные жизни; их речи древни и новы, важна их улыбка и значителен взор; но снова они оперлись на свои пьедесталы, и снова лунный блеск ложится на статуи336.

Mondenschimmer legt sich auf zahllosen Statuen, sie steigen herab von ihren Sockeln, ziehen an mir vorüber, voller Leben; ihre Worte sind alt und neu, vielsagend ihr Lächeln, bedeutsam ihr Blick; doch bald stützen sie sich von neuem auf ihre Piedestale, und wieder legt sich Mondenschimmer auf die Stauen337.

Die bewegenden und erstarrenden Statuen spiegeln sowohl die verwischten Grenzen zwischen Realität und Phantasie als auch die der psychologischen Identitätszustände wider.

Damit bleibt der Aspekt der geistigen Gesundheit auch im Werk Odojewskis fragwürdig. Die

Vertiefung in die Phantasie und die dadurch verursachten Isolierungszustände führen den

Protagonisten zu der schweren Entkräftung und weiterer Krankheiten.

Михайло Платонович лежал в постели, худой, бледный; в продолжение нескольких дней он уже не принимал никакой пищи. Когда мы подошли, он не узнал нас, хотя глаза его были открыты; в них горел какой-то дикий огонь; на все наши слова он не отвечал нам ни слова338.

Michailo Platonowitsch lag im Bett – blass und mager; seit mehreren Tagen schon hatte er keinerlei Nahrung zu sich genommen. Als wir zu ihm traten, erkannte er uns nicht, obgleich er die Augen offenhielt; in ihnen brannte ein wildes Feuer; auf alles, was wir sagten, erwiderte er kein einziges Wort 339.

Dieses Feuer erinnert an das Feuer in den Augen Elis, der kurz vor der Hochzeit, im

Moment des Wahnsinns, besessen von den Visionen des unterirdischen Schatzes, seine geliebte Ulla und ihre Warnung nicht mehr hört. Die Flucht in die Phantasie Michailo

335 Ebenda. 5. 336 Sylphide. 151. 337 Odojewski. 83. 338 Sylphide. 150. 339 Odojewski. 82. 184

Platonowitschs ist ein dekadenter Ausweg, der als Verzicht auf den aktiven Kampf gegen die verfallene Realität Russlands gedeutet werden kann. In solch einer Stimmung endet die

Geschichte. Mit der Heilung des Wahnsinns sterben die Gefühle und die Seele.

Ты очень рад, что ты, как говоришь, меня вылечил, то есть загрубил мои чувства, покрыл их какою-то непроницаемою покрышкою, сделал их неприступными для всякого другого мира, кроме твоего ящика340.

Du bist sehr froh, dass du mich, wie du meinst, geheilt hast, dass du mein Empfinden vergröbert, es mit einer undurchdringlichen Hülle verdeckt, es unzugänglich gemacht hast für jede andere Welt außer deinem Kasten341.

Mit dem Kasten bezeichnet Michailo Platonowitsch die praktische Welt respektvoller

Menschen. Seine Freunde fühlen sich beruhigt und sicher, weil

По крайней мере он теперь человек, как другие342.

Wenigstens ist er jetzt ein Mensch wie die anderen343.

Doch verschwinden mit der Rückkehr ins normale Leben die Zustände der höchsten

Freude und des erhabenen Glücks, die Michailo Platonowitsch einmal in der Welt der

Sylphide erlebt hatte.

340 Sylphide. 156. 341 Odojewski. 92. 342 Sylphide. 157. 343 Odojewski. 93. 185

5. Schlussfolgerung

Unter den wichtigsten Resultaten der vorgeführten Analyse soll die Präzisierung des ursprünglich schwer definierbaren Konzepts des romantischen Strebens nach dem Absoluten hervorgehoben werden. Um eine sachliche Definition der romantischen Ideale zu erreichen, wurden die literarischen, philosophischen und ästhetischen Ansichten Hoffmanns,

Eichendorffs und Odojewskis über das Thema des romantischen Ideals analysiert. Die

Resultate solch einer Analyse zeigen, dass sich das erstrebte Absolute im Unterschied zu den traditionellen, gebräuchlichen Werten des idyllischen Alltags nicht einfach beschreiben lässt.

Die Schwierigkeiten erscheinen vor allem, weil weder Eichendorff noch Hoffmann solche

Themen des unendlichen Absoluten wie das unterirdische Reich der Bergwerke und die ideale Welt der Phantasie eines Taugenichts im Rahmen der umgebenden Wirklichkeit deutlich kontextualisieren. Diese Interpretationen der romantischen idealen Welt erinnern an solche abstrakten methaphysischen Konzepte wie Novalis’ Blaue Blume und Hoffmanns

Atlantis. Der Mangel an klaren Umrissen und der inhaltlichen Vollständigkeit solcher

Konzepte findet seine Erklärung sowohl in der ursprünglich fehlenden festen Beziehung zur

Realität als auch im literarischen Genre, das sich einem Märchen nähert. In der zauberhaften

Welt der Phantasie heiratet Anselmus Serpentina. Heinrich von Ofterdingen findet sein Ideal in der sich in die schöne Mathilde verwandelten blauen Blume. Sowohl die begriffliche

Klarheit des erstrebten Absoluten als auch das glückliche Resultat des Strebens nach der idealen Welt fehlen in der Erzählung Bergwerke zu Falun und dem Roman Aus dem Leben eines Taugenichts. Der Grund für die Verallgemeinerung der Ideale besteht in der wenig konkretisierten Wirklichkeit, die in diesen Werken der Romantik dem hervorgehobenen

Bereich der Phantasie nicht immer gleichgestellt wird. Unter anderem fehlen entweder die

Psychologie des Helden (Die Bergwerke zu Falun) oder die Konkretisierung der sozial-

186 historischen Umstände (Aus dem Leben eines Taugenichts), deren der romantische Held gegenübergestellt wird.

Die Analyse zeigte, dass bestimmte Umstände den Misserfolgen solcher Bestrebungen zugrunde liegen. Um diese Umstände festzustellen, wurden in vier Kapiteln drei

Hauptforschungsperspektiven bezeichnet. Diese Perspektiven zielten auf die folgenden thematischen Ebenen: 1) das Wesen des romantischen Ideals, beziehungsweise der romantischen Suche nach der besseren Welt 2) die Phantasie in Bezug auf die Wirklichkeit,

3) die Identität des Protagonisten und seine Identifizierung mit der Wirklichkeit und der

Phantasie. Diese erforschten Aspekte präzisierten die komplexen Verhältnisse zwischen der

Wirklichkeit und dem Überrealen, dem Alltag und der idealisierten Phantasie.

Im Zentrum der besprochenen Themen standen die Protagonisten Elis, der

Taugenichts und Michailo Platonowitsch, deren Charaktere, Weltanschauung und Verhalten am Anfang des jeweiligen Werkes an die Figuren Caspar David Friedrichs erinnerten. Ihr in die weite Ferne gewendeter Blick galt als eine Metapher für die Suche nach der besseren

Welt, die in den literarischen Werken Hoffmanns, Eichendorffs und Odojewskis mit dem imaginären phantasierten Reich assoziiert wurde. Die durchs Gemälde Friedrichs der

Wanderer über dem Nebelmeer (1818) ausgedrückte Metapher entsprach der Tatsache jedes der literarischen Werke, in denen sich der romantische Held von der Realität entfernte und sich auf den Weg in die unbekannte Ferne – buchstäblich in den Werken Hoffmanns und

Eichendorffs und metaphorisch im Werk Odojewskis - begab. Abgesehen vom ähnlichen

Ausgang jeder Geschichte, - Eichendorffs Geschichte endet mit der starken Ironie über die gefundene Idylle und kann damit als keine erfolgreiche Suche nach dem idealen Leben bezeichnet werden, - zeigte die Analyse wesentliche Unterschiede zwischen den Geschichten und ihren Interpretationen der Suche nach dem Ideal.

187

Der Begriff des romantischen Ideals wird von jedem der Autoren anders interpretiert, und so ist die Interpretation des Strebens nach dem Ideal. Die Änderung des Begriffs von

Hoffmann bis Odojewski kann als folgende These formuliert werden. Das Wesen des Ideals

ändert sich vom methaphysischen, abstrakten und allegorischen Phänomen des unterirdischen

Reichs bei Hoffmann in Richtung einer konkretisierten, idyllischen Wirklichkeit bei

Eichendorff. Im Vergleich zu Eichendorffs Konzept der idealisierten Wirklichkeit bekommt

Odojewskis Ideal einen philosophischen und sozial bedingten Charakter. Der Blick des romantischen Helden wendet sich viel mehr ins eigene Innere. Die Analyse zeigte, dass die

Änderung des Charakters des Ideals eine direkte Widerspiegelung sowohl in der Person des romantischen Helden als auch in der Gestaltung der Wirklichkeit-Phantasie-Beziehung fand.

Der leidenschaftliche Einzelgänger Elis kann als Symbol für den romantischen Kämpfer gegen das erhabene, überirdische Element bezeichnet werden. Hoffmanns Interesse richtet sich vor allem auf den Widerstand selbst und seine schicksalhaften Folgen. Die

Gegenüberstellung des menschlichen Willens und der Naturkraft ist für Hoffmann ein wesentliches Darstellungsthema, wobei Odojewski im Epilog der Sylphide diesen traditionellen Konflikt der Romantik im höchsten Grade ironisiert.

Auch Eichendoff verzichtete auf die Komplexität des kontroversen Verhältnisses zwischen dem Protagonisten und dem überirdischen Element. Eichendoff hob die hohe

Abhängigkeit des romantischen Helden von der alltäglichen Realität hervor. Die Verbindung mit dem bekannten Alltag, der Heimat und der Gesellschaft war eine notwendige

Voraussetzung für die erfolgreiche Suche nach der besseren Wirklichkeit. Ohne solch eine feste Verbindung mit der realen Welt konnten weder Elis noch der Taugenichts ihre Ziele erreichen. Keine Ausnahme war Michailo Platonowitsch, dessen Verzicht auf die Realität nicht nur das Ende seines aktiven aufklärerischen Strebens als Romantiker-Revolutionär sondern auch das Ende seiner menschlichen Natur bedeutete.

188

Dem Tod Elis und dem Wahnsinn Michailo Platonowitschs lag die

Auseinandersetzung der menschlichen Vernunft mit der Erkenntnis des erstrebten Ideals zugrunde. Seine Auffassung erforderte übermenschliche Kraft und gewisse Gemütszustände, die sich sowohl mit der überwältigenden und unermesslichen Welt der Phantasie als auch mit der rationalen Wirklichkeit auseinandersetzten. Alle drei Autoren betonten das außerordentliche seelische Potenzial des romantischen Helden und seine Fähigkeit, solche inneren Kräfte wie Intuition, Kunstgefühl, Willen, mentale Stärke und

Individualitätsbewusstsein zu mobilisieren. Die außerordentlichen Wahrnehmungs- und

Empfindungsfähigkeiten unterschieden die romantischen Helden von den Vertretern der Welt der “Zahlen und Figuren“. Während sich Elis und Michailo Platonowitsch in ihrem Streben der Welt der philisterhaften Vernunft gegenüberstellten, wurden sie zu Opfern eines anderen gefährlichen Extrems. Auf der sehnsüchtigen und leidenschaftlichen Suche nach dem imaginären Absoluten entfernten sich die Protagonisten von den einfachen und grundlegenden Prinzipien des menschlichen Verstands. Sowohl Hoffmann als auch

Odojewski akzentuierten diesen Fehler des romantischen Helden.

Eichendorffs Roman zeigte eine andere Perspektive auf das gesuchte Ideal. Diese

Perspektive kennzeichnete sich durch eine ständige Rückkehr in die alltägliche Realität. Der

Taugenichts versuchte seine Phantasien und Ideale der irdischen Wirklichkeit anzupassen.

Der Taugenichts romantisierte die Wirklichkeit, schrieb seinen eigenen Lebensroman und gab dem Gemeinen ein erhabenes Ansehen. Sein Kunstgefühl und seine verschärften

Gemütszustände halfen ihm in der umgebenden Natur, der Gesellschaft und seinem eigenen

Inneren, die geheimen Motive der verborgenen besseren Welt zu entziffern und sie auf seiner

Suche nach dem höheren Glück anzuwenden. Sein mühsames Streben des Künstlers und seine feste Bindung an die reale Welt wurden am Ende des Romans reichlich belohnt. Die

Analyse zog das Fazit, dass sowohl Hoffmann als auch Odojewski den vollkommenen

189

Verzicht auf die Realität, beziehungsweise das totale Versinken in die Phantasie als fehlerhaft bezeichneten und damit den utopischen Charakter des romantischen Ideals andeuteten.

Eine weitere Analyse bezog sich auf die dargestellte Realität und ihre historischen und sozialen Charakteristika. Die Präzisierung des sozial-historischen Hintergrunds im Werk

Odojewskis bereicherte den romantischen Konflikt des romantischen Protagonisten mit der

Umwelt und wies auf die Gründe der Flucht aus der Realität hin. Odojewskis Erzählung unterscheidet sich von den Werken Hoffmanns und Eichendorffs durch eine detaillierte

Darstellung der falschen, verfallenen Lebensordnung des provinziellen Kleinbürgertums und der großstädtischen High Society. Der Konflikt des romantischen freidenkenden Künstlers mit den lasterhaften Regeln und Bräuchen des russischen kleinbürgerlichen Alltags erklärte mehrere geheime und rätselhafte Triebe und Erstrebungen der romantischen Helden in den

Werken Hoffmanns und Eichendorffs. Odojewskis Sylphide brachte in die Wirklichkeit-

Phantasie-Beziehung die bisher fehlende Aktualität der unvermeidlichen Flucht aus dem banalen Alltag. Mit der Verdeutlichung der wirklichen Ebene stieg der Psychologismus des romantischen Konflikts. Während das Verhalten Elis in der Schlüsselszene einen zum Teil unerklärbaren Charakter bekam und im Rahmen der Wirklichkeit-Phantasie-Beziehung schwer zu interpretieren war, fand der dramatische Verzicht auf die Realität im Werk

Odojewskis seine Erklärung im sozialen Verfall der russischen Provinz.

Neben den Unterschieden zwischen den Werken gleichen sich die Autoren in ihrer

Darstellung der hohen philosophischen Idee und der romantischen Interpretation von Kants

These über die „Befreiung von der selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Die Kombination der unermesslichen Sehnsucht und des moralischen und physiologischen Leidens erschien als bestimmender Faktor im romantischen Streben. Die Einheit der eigenen Identität und der

äußerlichen Welt, die erfolgreiche Zusammenwirkung des Gefühls und der Vernunft, die

Vereinigung der Phantasie mit dem Alltag, die innere Begeisterung und das konstruktive

190

Denken wurden von allen drei Autoren als wichtige Bestandteile des romantischen Strebens nach dem Absoluten bezeichnet. Nur das Einhalten dieser Tugenden brachte den romantischen Helden den erwünschten Zielen näher, bewahrte die Ganzheit seiner schöpferischen Identität und entlarvte die Geheimnisse der phantastischen Ideale.

191

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VITA

EDUCATION Ph. D. in German, Pennsylvania State University, December 2011. Ph.D. Thesis Advisers: Prof. Daniel Purdy, Prof. Martina Kolb M.A. in German, University of the Northern Iowa, December 2002. MA Thesis Adviser: Prof. Jürgen Koppensteiner B.A. in German, Saint-Petersburg State University (Russia), June 1998. Adviser: Dr. Alexandr Belobratov PROFESSIONAL POSITIONS TEACHING POSITIONS Lecturer in German and Coordinator of the German Language Program, Department of Germanic and Slavic Languages and Literatures, The Pennsylvania State University (July 2009 – August 2010) Graduate Lecturer in German, Department of Germanic and Slavic Languages and Literatures, The Pennsylvania State University (Summer 2008, Summer 2009, Summer 2010, Summer 2011) Graduate Teaching Assistant, Department of Germanic and Slavic Languages and Literatures, The Pennsylvania State University (Fall 2003-present) Graduate Teaching Assistant, Department of Comparative Literatures, The Pennsylvania State University (Fall 2008) Graduate Teaching Assistant, Department of Modern Languages, The University of Northern Iowa (Spring 2001- Fall 2002) Graduate Teaching Assistant, Department of German, The Saint-Petersburg State University (Russia) (Fall 1998- Fall 2000) CONFERENCE PRESENTATIONS Foreign Language training at the universities of the USA. The experience of teaching German as a second language at the Pennsylvania State University and University of Northern Iowa. XXXVI International Philological Conference at St. Petersburg State University, March 2007 Vom sozialkritischen Verstand zur hoffnungslosen Identitätslösung. Sinnliches Emanzipieren der jüngeren Generation als Darstellungsobjekt in der deutschsprachigen Literatur der Moderne und der Gegenwart am Beispiel A. Schnitzlers Fräulein Else und J. Zehs Adler und Engel. Fourteenth Annual Focus on German Studies Conference at University of Cincinnati. Morphing Identities and the Merging of Cultures in German Language, Literature, and Film October 2009 CONFERENCE PROCEEDINGS The fantastic Ideal as Proximity and Distance to the bourgeois Idyll in the Literature of German Romanticism (using the example of E.T.A. Hoffmann’s Die Bergwerke zu Falun, Joseph von Eichendorff’s Aus dem Leben eines Taugenichts. XXXVI International Philological Conference at St. Petersburg State University, March 2007 GRADUATE AWARDS AT THE PENNSYLVANIA STATE UNIVERSITY Walter Edwin Thompson and Dr. Regina Block Thompson Fellowship, Department of Germanic and Slavic Languages and Literatures (2003, 2004, 2005, 2008, 2009, 2011)