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Ein Zeitzeugenbericht Der Demokratische zu der ersten Aufbruch und die freien Volkskammerwahl vor zwanzig Jahren Verfassungswirklichkeit am Ende der DDR

Brigitta Kögler

Am 7. Dezember 1989 trat der Zentrale neuem Namen als Amt für Nationale Runde Tisch das erste Mal im Dietrich- Sicherheit. Modrow verschwendete kei- Bonhoeffer-Haus der Herrnhuter Brüder- nen Gedanken daran, etwa Vertreter der gemeine zusammen, und am 12. März Opposition DA, NF oder SDP einzube- 1990 endete die Arbeit des Zentralen Run- ziehen, obwohl die Namen von Rainer den Tisches mit der sechzehnten Sitzung Eppelmann und Bärbel Bohley in aller im Schloss Niederschönhausen, dem ehe- Munde waren. Modrow ignorierte den maligen Amtssitz des ersten und einzigen Zentralen Runden Tisch zunächst voll- Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck. Es ständig. Schließlich biederte er sich zum war keine Artusrunde. Der Runde Tisch Zwecke des Machterhalts bei ihm an. Die hatte keine parlamentarische und keine Stimmung im Lande zwischen Rostock Regierungsfunktion. Die Idee vom Run- und Dresden, und Eisenhütten- den Tisch kam von der Bürgerbewegung stadt nahm an Dramatik zu. Der Runde „Demokratie Jetzt“. Der Vorschlag war Tisch verhinderte in der Übergangszeit von der katholischen, der evangelischen zwischen dem neu etablierten SED-Re- und der methodistischen Kirche aufge- gime am 17. November 1989 und der ers- griffen worden. Zum Schluss waren au- ten frei gewählten am 18. ßer den starken oppositionellen Kräften März 1990, dass das Land im Chaos ver- wie „Demokratischer Aufbruch“ (DA), sank. Er wendete sich mit Vorschlägen „Neues Forum“ (NF), „SDP“ und ande- zur Überwindung der Krise an die Öf- ren auf der einen Seite die etablierten fentlichkeit und forderte unüberhörbar Parteien auf der anderen Seite paritätisch von der Volkskammer und der Modrow- vertreten. Die einen wollten Neues be- Regierung, informiert und einbezogen zu gründen, die anderen Neues verhindern. werden. Die Sitzungen des Runden Ti- Es kam unausweichlich zu einer ideologi- sches wurden im Fernsehen übertragen. schen Gemengelage und auch zu heftigen Resonanz: Nur die Opposition kann et- Konfrontationen. Am 8. November 1989 was ändern, aber nicht die erneuerte Vor- war das Polit-Büro der SED geschlossen herrschaft des SED-Regimes. Die Opposi- zurückgetreten. Am 11. November 1989 tion, die sich Öffentlichkeit erzwungen wurde in geheimer Wahl, hatte, konnte nicht mehr weggesperrt was seltsam genug ist in der deutschen werden. Geschichte, als neuer Ministerpräsident Am Runden Tisch wurde dennoch viel „inthronisiert“, und am 17. November Zeit verschwendet. Allzu groß war die 1989 bildete er eine neue DDR-Regierung Freude darüber, dass es erstmalig mög- mit achtundzwanzig Ressorts. lich geworden war, kontroverse Ansich- Die Vorherrschaft der SED blieb un- ten, wie es mit der DDR weitergehen gebrochen, auch das Ministerium der sollte, austauschen zu können. Die Staatssicherheit blieb erhalten, nur mit war immer noch aktiv mit ihrer Zielstel-

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Brigitta Kögler

lung: die Opposition zu neutralisieren der Großen Koalition handelte, die sechs oder zu paralysieren oder für ihre eigenen Tage später, am 18. März 1990, in die Ziele zu gewinnen. Am 7. Dezember 1989 Volkskammer gewählt werden würden. beschlossen die Vertreter der sieben Der Runde Tisch brachte also nicht mehr- oppositionellen Gruppen und der Volks- heitlich den Willen des Volkes zum Aus- kammerparteien die Erarbeitung eines druck. Der Wille zur Veränderung einte Entwurfes einer neuen DDR-Verfassung. uns oppositionelle Kräfte einerseits, aber Die Arbeit begann in der paritätisch die unterschiedliche Zielstellung brachte zusammengesetzten Arbeitsgruppe so- uns in Widerstreit. Ich wollte kein Sozia- fort, aber bald stellte sich heraus, dass die lismus-Experiment neu aufleben lassen. unterschiedlichen Vorstellungen über Das Gute war, dass das DDR-Fernsehen den Fortbestand des Staates DDR ausein- die Sitzungen übertrug, und es gab wohl anderdrifteten – sowohl innerhalb der niemanden im Lande, der die Sitzungen Opposition als auch innerhalb der Vertre- des Runden Tisches nicht verfolgt hat. ter der etablierten Parteien. Ich erinnere Es beflügelte die Menschen, dass diese mich: Am 12. März 1990 war auf der Öffentlichkeit erstmalig möglich war. sechzehnten und letzten Sitzung des Zen- Man hatte weniger Angst. Wolfgang Ull- tralen Runden Tisches ein Entwurf für mann von „Demokratie Jetzt“, der füh- eine Abstimmung nicht zustande ge- rend an der Erarbeitung der Runden- bracht worden. Gerd Poppe (IFM), aber Tisch-Verfassung beteiligt war, den ich nicht nur ihm, ging es ganz offensicht- zwar schätzte, aber dessen Meinung ich lich darum, die absehbare deutsche Ein- nicht teilte, hatte kurz nach dem Mauer- heit zu verhindern. Der Ausgang der Ver- fall aufgeregt verkündet, die oppositio- fassungsdiskussion im Sinne von Gerd nellen Kräfte müssten sich dafür einset- Poppe, , Bärbel Bohley zen, dass die Grenze wieder geschlossen und anderen hätte die deutsche Einheit werde, da die DDR ansonsten wirtschaft- verhindert. Die Arbeitsgruppe „Neue lich zugrunde gehen werde. Ich konnte Verfassung der DDR“ war ein Konglome- nicht verstehen, dass ihm die Wirtschaft rat von unrealisierbaren Wünschen. Der der DDR so fremd war. Auch innerhalb Entwurf (Fragment) sollte in die Tätigkeit des DA hatten sich die Gründungs- des zu bildenden Verfassungsausschus- mitglieder auseinanderdividiert. Am 17. ses der Volkskammer einbezogen werden Januar 1990 verkündete Friedrich Schor- – eine Wunschvorstellung, die ein demo- lemmer über die Medien, Kohls 10- kratisch gewähltes Parlament zu realisie- Punkte-Programm sei die „größte Katas- ren schon nicht verpflichtet sein konnte. trophe nach Öffnung der Grenze“, und er Dennoch kam es zur übergroßen mehr- sei nicht bereit, sich seine sozialistischen heitlichen Zustimmung am Runden Ideen nehmen zu lassen. Tisch. Die beiden bei der sechzehnten Sit- zung anwesenden Vertreter des Demo- Eklat in Leipzig kratischen Aufbruchs (DA), Fred Ebeling Vorausgehend war es auf dem Parteitag und ich selbst, waren an einer der zwei des DA am 16./17. Dezember 1989 in Optionen, die das Grundgesetz für die Leipzig bereits zum Eklat gekommen. Wiedervereinigung bot (Artikel 23 GG Der Vorsitzende Wolfgang Schnur leitete oder alternativ Artikel 146 GG), orientiert am 16. Dezember 1989 die Personalkom- und stimmten dagegen. Ebenso stimmten mission, und ich selbst leitete die Pro- Vertreter der SDP und der CDU dagegen. grammkommission. Es waren sichtbar Wir konnten noch nicht wissen, dass es unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. sich dabei um die zukünftigen Vertreter Der Programmkommission gelang die

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Der Demokratische Aufbruch und die Verfassungswirklichkeit am Ende der DDR

Streichung des Sozialismusprogramms. der DA auf der Konferenz mit 200 Dele- Vom DA-Ortsverband war mir eben- gierten Wolfgang Schnur als Vorsitzen- falls mehrheitlich die energische Zielset- den mit 108 Stimmen und mich mit 111 zung deutsche Einheit auf den Weg gege- Stimmen als stellvertretende Vorsitzende ben, aber auch an der Basis des DA waren gewählt sowie Eppelmann mit zwanzig die politischen Ziele auseinanderfallend, Stimmen und Edelbert Richter aus Wei- nicht nur des DA in Jena. Die Reaktion mar mit sechzehn Stimmen. Ehrhart von Friedrich Schorlemmer war auf Neubert als Mitinitiator des DA von dem Leipziger DA-Parteitag aufgrund Anfang an erzielte noch weniger Stim- der Streichung des Sozialismuspro- men. In der vorangehenden Abstimmung gramms überdeutlich: Spaltung! Es ge- über die sofortige Gründung des DA als lang mir nicht, ihn zu überzeugen, und Partei hatte ich mich ganz entschieden für programmatische Auseinanderset- für diese Parteigründung ausgesprochen zungen war uns die Zeit nicht gegeben. und damit die Stimmenmehrheit erreicht. Dabei war ich über Friedrich Schorlem- Schnur hatte offensichtlich das Ziel ver- mer, den ich am 1. September 1989 in Wit- folgt, den DA als Partei zu verhindern. tenberg getroffen hatte, zur DA-Gruppie- Die Mehrheit der Delegierten wollte Klar- rung gekommen und hatte von ihm Ort heit, kein Zögern. Als wenige Tage vor und Uhrzeit des nächsten Treffens mit der Volkskammerwahl unser Vorsitzen- Eppelmann bei Ehrhart Neubert erfahren, der Wolfgang Schnur als IM enttarnt das in dessen großer Wohnküche in der wurde, waren die Chancen auf eine ei- Wilhelm-Pieck-Straße in stattfand. genständige Partei mit Zukunftschance Natürlich gab es auch in anderen Basis- endgültig vertan. gruppen des DA kontroverse Vorstellun- gen, ob erneuerte sozialistische DDR oder Anmeldung für die Wahlen deutsche Einheit. Die Uneinheitlichkeit der Zielstellung innerhalb des Vorstandes hatte die ge- Schwierige Personalia rade erst gegründete Partei ohnehin ge- Der spätere Jenaer SPD-Oberbürgermeis- schwächt. Fast hätte der DA die Anmel- ter Albrecht Schröter, der am 29. Oktober dung für die Wahlen verpasst. Als ich 1989 bei einem landesweiten Treffen des Wolfgang Schnur zu einem Vorstands- Demokratischen Aufbruchs im Evangeli- treffen in Magdeburg nach einer Wahl- schen Königin-Elisabeth-Krankenhaus in kundgebung, einen Tag vor Anmelde- Berlin als stellvertretender Vorsitzender schluss, nach der Registriernummer be- des DA von Jena zugegen war (dieses ziehungsweise Bestätigung für diese An- Treffen gilt als der eigentliche Grün- meldung fragte, wurde sein Unterlassen dungstag des Demokratischen Auf- zur Gewissheit. War es ein Versäumnis, bruchs), erklärte später, der DA sei ei- war es Absicht? , die an- gentlich von Anfang an nicht seine politi- wesend war, bat ich, die Anmeldung am sche Heimat gewesen. Das hatte ihn nicht folgenden Montag – es war der letzte daran gehindert, zunächst in Jena die Ge- Tag – nachzuholen, was sie erledigte. schicke des DA als stellvertretender Vor- Eine Fußnote für Misstrauen und Ver- sitzender in der Hand behalten zu haben. trauen. Auf den Fortgang der Geschichte Seine Austrittserklärung erfolgte spek- jedenfalls hatte es Einfluss. Zur Realität in takulär auf einer Kundgebung in Jena, be- dieser Zeit gehörte, dass es keine reale jubelt von den politischen Gegnern. Ge- Chance für die oppositionellen Gruppie- blieben ist die Betroffenheit an der Basis rungen und Parteien gab, ein gemeinsa- des DA in Jena. Am 29. Oktober 1989 hatte mes Programm für eine neue Volkspartei

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Brigitta Kögler

zu entwickeln – ein Grund mehr, die malig in der Geschichte das Zentralkomi- DDR nicht in eine konföderative „Selbst- tee der SED geschlossen zurücktrat. Mo- ständigkeit“ schlittern zu lassen. drow setzte nunmehr auf eine Vertrags- Die Väter des Grundgesetzes hatten gemeinschaft mit der Bundesrepublik. Er die Tür geöffnet für ein einheitliches nannte es selbst „Überlebensfrage“, was Deutschland, und im Verlaufe von vier- nichts anderes bedeutete, als erneut zur zig Jahren Bundesrepublik war verhin- Stabilisierung der DDR zehn bis fünfzehn dert worden, dass diese Tür zugeschlagen Milliarden DM zu verlangen, und zwar wurde. Eine Konföderation hätte nur der sofort und auf der Stelle und unabhängig SED genutzt. Es war schwierig genug, von weiteren Verhandlungen. Die Einbe- schon am Runden Tisch zuschauen zu ziehung der Minister ohne Geschäftsbe- müssen, dass mehrheitlich nicht wahrge- reich aus der Opposition auf dem Bitt- nommen wurde, dass die um den Macht- gang nach Bonn sollte ebenso dem Macht- erhalt kämpfende Modrow-Regierung erhalt dieser Regierung dienen. begonnen hatte, ihre SED-Kader wirt- Zu dieser Zeit befasste ich mich mit schaftlich abzusichern und einen „geord- dem Wahlgesetz und der verfassungs- neten Rückzug“ anzutreten. Überstürzt rechtlichen Gestaltung der Wiederverei- waren Grundstücke und Häuser zu Nie- nigung. Bereits im Januar 1989 hatte ich in drigpreisen an Mitglieder des Staatsappa- Jena mit einer kleinen Gruppe, unter an- rates der SED und der gesellschaftlichen deren zusammen mit dem Mathematik- Organisationen verkauft worden. So- Professor Gerd Wechsung von der Fried- gleich wurde aber der Ausverkauf der rich-Schiller-Universität, begonnen, die DDR an den Westen thematisiert. Mo- Verfassung der DDR und das Wahlgesetz drow wusste zu dieser Zeit nur zu gut, zu überarbeiten. Ein anderer frühzeitiger dass er der Verlierer sein würde, die Stim- Mitstreiter aus Jena ist der Wissenschaft- mung im Land konnte ihm nicht verbor- ler Walter Werner. Er hatte zwischenzeit- gen bleiben. lich sogar den Text für eine neue gesamt- deutsche Nationalhymne verfasst. Die im Kalkuliertes und Januar 1989 zur Verfassungsproblematik organisiertes Versehen und zum Wahlgesetz begonnene Arbeit Ein Schachzug von Modrow war, aus den galt es, unter Hochdruck fortzusetzen. Reihen der Opposition am 15. Januar 1989 Die politische Entwicklung innerhalb acht Minister ohne Geschäftsbereich in nur eines Jahres war rasant, hatte sich von seine Regierung einzubeziehen. Die meis- Woche zu Woche verändert – ein Do- ten waren von dieser Geste tief beein- mino-Effekt war entstanden, der nicht druckt. Modrow hatte nach der Regie- aufzuhalten war. Die alte Volkskammer rungsbildung erklärt, die DDR sei nicht hatte inzwischen eine Arbeitsgruppe in der Lage, einen Staatsetat für das „Wahlgesetzgebung“ ins Leben gerufen. kommende Jahr aufzustellen, weil die Re- Günther Drefahl (ehemals Rektor der gierung erst Ein- und Ausgaben durch- Friedrich-Schiller-Universität Jena und rechnen müsse. In Wirklichkeit kannte zu dieser Zeit Volkskammerabgeordne- Modrow den Schürer-Bericht bereits und ter für den Kulturbund) hatte mich für damit den Staatsbankrott der DDR. Ich diese Arbeitsgruppe vorgeschlagen. halte die Öffnung der Mauer für ein kalkuliertes und organisiertes Versehen. Hoffnung auf Einheit Angesichts der Wirtschafts- und Stim- Der Aufbau der Strukturen des DA, die mungslage war Hilf- und Kopflosigkeit Arbeit am Wahlgesetz und an den verfas- am 8. November 1989 gegeben, als erst- sungsrechtlichen Grundlagen auf dem

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Der Demokratische Aufbruch und die Verfassungswirklichkeit am Ende der DDR

Weg zur deutschen Einheit bedeutete in später mit dem Fall der Mauer schon fast dieser Zeit Tag- und Nachtarbeit. Der Realität war. Runde Tisch selbst hatte für diese Ar- beitsgruppe keinen Vertreter entsandt, Der Wille des Volkes zumal Modrow den Runden Tisch zu- Die mehrheitliche Auffassung der Oppo- nächst ignorierte, ebenso wie die Volks- sition und der Vertreter der Altparteien kammer. Es galt aber, in dieser Zeit auf am Zentralen Runden Tisch stand zu die- wichtige Entscheidungen Einfluss zu sem Zeitpunkt im Widerspruch zum nehmen. Willen der Bevölkerung. Unvergessen ist Im Frühjahr 1989 war die deutsche die Losung: Wir sind ein Volk! Der Zen- Einheit noch nicht realistisch, aber die trale Runde Tisch war Hoffnungsträger Hoffnung auf eine nationale und staat- und nicht die Modrow-Regierung. Es liche Einheit mir selbst immer gegen- durfte nicht überhört werden, dass die wärtig. Das Wiedervereinigungsgebot Wiedervereinigung vom deutschen Volk war in der Präambel des Grundgesetzes gewollt war. Unübersehbar lösten sich in der ursprünglichen Fassung von 1949 die Strukturen in der DDR auf, täglich erhalten geblieben. Im Artikel 116 Ab- verließen DDR-Bürger immer noch zu satz 1 Grundgesetz war das Fortbestehen Hunderten das Land in Richtung Westen der gemeinsamen deutschen Staatsange- aus Angst, die Grenze könne wieder ge- hörigkeit gegen vielfältigen bundesdeut- schlossen werden, was selbst einige Ver- schen Widerstand ebenfalls erhalten ge- treter der Opposition wünschten. blieben. Nach Errichtung der Bundes- Die Arbeiten am Wahlgesetz und an republik und der DDR waren auch nach den verfassungsrechtlichen Grundlagen vierzig Jahren Familienbindungen exis- für die Wiedervereinigung waren im We- tent, wenn auch erschwert. Zwei deut- sentlichen ohne technische und nennens- sche Staaten waren für sich genommen werte organisatorische Grundlage. Die ein Zustand, den ich ganz persönlich verfassungsgebenden Organe der DDR nicht akzeptierte. Es gab ein Staatsvolk waren nur noch formell legitimiert. Die mit gleicher Sprache, gleicher Abstam- DDR-Verfassung war noch in Kraft, aber mung, gleicher Kultur. Mehr als die sie war in der DDR für das SED-Regime Hälfte der DDR-Bürger hatten enge ver- immer nur das Papier wert gewesen. Die wandtschaftliche Beziehungen zu Be- Volkssouveränität hatte überhaupt keine wohnern der Bundesrepublik Deutsch- Rolle gespielt, es gab nur einen bürokrati- land, und ein Viertel der Bundesbürger schen Zentralismus. Die in der DDR-Ver- hatte Verwandte in der DDR. fassung enthaltenen Grundrechte wur- Es gab in der Bundesrepublik eine den weder eingehalten, noch hätten sie funktionierende Gewaltenteilung. Das eingeklagt werden können. Verfassungs- Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat- bruch war das häufigste Delikt von Ver- te in einem Beschluss vom 21. Okto- tretern des Staates und der Einheitspartei, ber 1987 (!), dem sogenannten Teso-Be- aber niemand wurde je dafür zur Ver- schluss, noch einmal erneuert, dass das antwortung gezogen. Es gab kein Verfas- deutsche Volk in seiner überwältigenden sungsgericht. Die Verfassungsrechtler in Mehrheit dies- und jenseits der Demar- der DDR, die Professoren Jens-Uwe kationslinie daran festhalte, die Spaltung Heuer, Gerhard Haney, Gerhard Riege, Deutschlands auf friedliche Weise zu Karl-Heinz Schöneburg, mussten die Re- überwinden und die volle staatliche Ein- alität doch ebenso kennen, aber sie hatten heit wiederherzustellen. Der Beschluss immer geschwiegen. Nach vierzig Jahren des BVerfG – eine Vision, die zwei Jahre Sozialismus in der DDR erklärte Schöne-

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Brigitta Kögler

burg: „Das Schlimme an dem ‚alten‘ Sozi- Natürlich musste nach Recht und Ge- alismus in der DDR, der ja kein wirklicher setz eine Vereidigung erfolgen, aber dazu Sozialismus war, das Schlimme war, dass bedurfte es keiner neuen Verfassung. Die die Kategorie ‚Widerspruch‘ auf allen Ge- damals heftigen Parlamentsdebatten en- bieten des gesellschaftlichen Lebens für deten damit, dass zwar auf den Staat DDR hochverräterisch angesehen wurde.“ und auf Recht und Gesetz Bezug genom- men wurde, aber die Verfassung in die Die Wahl am 18. März 1990 Eidesformel aufzunehmen konnte ver- Ausgerechnet Karl-Heinz Schöneburg hindert werden. In die Volkskammer wa- war von Vertretern des Runden Tisches ren Pfarrer, Ärzte und Ingenieure ge- beauftragt worden, als Experte seine wählt worden. Die wenigen Juristen wa- neuen sozialistischen Verfassungsideen ren der PDS zugehörig – mit wenigen einzubringen. Natürlich mussten Heuer Ausnahmen. Dass die Verfassung der und Schöneburg konsterniert sein, dass DDR aus der Eidesformel verschwand, eine neue Verfassung für die DDR von war richtungweisend für die regierungs- der am 18. März erstmalig demokratisch tragende Mehrheit des Parlaments. gewählten Volkskammer mit einem Fe- derstrich abgelehnt wurde. Natürlich Entfernung des DDR-Emblems habe ich den Entwurf der Verfassung Auf der siebten Tagung der Volkskam- vom Runden Tisch, der im Übrigen nicht mer am 17. Mai 1990 wurde weiter über einmal ein Entwurf war, sondern ein die Verfassungsgrundsätze debattiert. Fragment, abgelehnt. Zum dominoartigen Abgang der DDR ge- Nach der Wahl am 18. März 1990 hatte hörte an diesem Tag auch, dass das Ham- das Volk über die Staatsfrage erstmalig mer-und-Zirkel-Emblem der DDR, das demokratisch frei entschieden: Es gab immer noch an der Stirnseite des Plenar- noch das Staatsgebilde DDR, das nie- saales angebracht war, abgehängt wurde. mand mehr wollte. Die entscheidende Der Abgeordnete Voigt der DSU erklärte, Frage, die aus keinem Lehrbuch hätte be- begleitet von Beifall und Heiterkeit: „… antwortet werden können, war: Worauf Wir können doch nicht länger zirkeln, um sollte der gerade gewählte Ministerpräsi- mit wenigen Ähren (Ehren) unter den dent Lothar de Maizière vereidigt wer- Hammer zu kommen. Ich kann nicht län- den? ger unter diesem Emblem hier stehen und Nach meinem Verständnis galt es, die mit diesem Zeichen übertragen werden.“ Vereidigung auf die sozialistische Verfas- Am 31. Mai 1990 fasste die Volkskammer sung der DDR zu verhindern und eine einen Beschluss, wonach das Emblem der neue DDR-Verfassung für einen neuen DDR von allen öffentlichen Gebäuden Staat in Kraft treten zu lassen, das wäre entfernt wurde – alles musste seine Ord- eine Panne historischen Ausmaßes gewe- nung haben. Die Präsidentin der Volks- sen. Allein dadurch wäre die deutsche kammer hatte Mühen mit den über 140 Einheit verhindert worden. Richard DDR-Botschaften in aller Welt wegen der Schröder (SPD) war als Fraktionsvor- ab 31. Mai 1990 nicht mehr gültigen Insig- sitzender der SDP/SPD verunsichert, nien der DDR. Wie sollte das gelöst wer- schließlich hatte er am Entwurf einer den? Es blieb dem jeweiligen Botschafter neuen Verfassung am Runden Tisch mit- überlassen – aber auch dies gehört zu den gearbeitet. Fußnoten dieser Zeit.

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