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Albrecht von Lucke Die Verflüssigung der Grünen

Bereits sein erster Auftritt auf dem re“, hatte sie noch 2007 im Gespräch internationalen Parkett veranlasste den mit der „Zeit“ postuliert.3 „Wir müs- neuen Bundesumweltminister zu einer sen China oder Indien die Perspektive erstaunlichen Feststellung. Während geben, dass wir uns in der Zukunft auf die Nichtregierungsorganisationen zu gleiche CO2-Werte zubewegen. Nur Recht von einem kolossalen Scheitern so werden sie bereit sein, auch heute der UN-Konferenz Rio+20 sprachen, schon zu handeln.“ Revolutionäre Wor- weil die Abschlusserklärung weder te; tatsächlich ernst genommen, ver- konkrete Ziele noch Fristen enthält, langen sie nichts anderes als die fun- meinte Peter Altmaier sogar Fortschrit- damentale Transformation des wachs- te zu erkennen: „Ich bin froh, dass es tumsgetriebenen Kapitalismus. Doch so uns gelingt, den Umweltschutz Schritt richtig die Worte, die erforderlichen Ta- für Schritt wieder stärker ins Bewusst- ten sind ihnen bis heute nicht gefolgt. sein zu rücken.“1 Das ging dann selbst der Bundeskanzlerin zu weit. Die Er- gebnisse von Rio, so Angela Merkel, Alle schweigen vom Wetter seien hinter dem Notwendigen zurück- geblieben. Aber Deutschland könne die Dramatischer noch als der Ausfall der Welt schließlich nicht auf eigene Faust Kanzlerin ist aber etwas anderes: Fak- retten, denn: „Wir sind nicht alleine auf tisch hat das Thema Umweltpolitik in der Welt und es ist recht schwierig, be- seiner ganzen Radikalität auch ansons- stimmte Dinge durchzusetzen.“2 ten keine entschiedenen Fürsprecher Was für eine erstaunliche Lesart der mehr, jedenfalls nicht im Parlament. dramatischen Klimakrise. Die Devise Offenbar will sich derzeit keine Par- ist klar: Schuld am Scheitern tragen die tei in Deutschland mit dem Verlierer- Anderen, allen voran die expandieren- thema gemein machen. Anders ist wohl den BRIC-Staaten – Brasilien, Russland, nicht zu erklären, dass selbst aus den Indien und China –, die weiter auf ihren Reihen der grünen Parteispitze kaum Anteil am globalen Reichtum und da- entschiedene Kritik am Scheitern des mit an der globalen Umweltzerstörung Gipfels zu hören war. Faktisch spielt die pochen. Kein Wort davon, dass die ver- Umweltfrage – ob als Ausstieg aus der meintliche Klimakanzlerin es nicht ein- Atomkraft oder als globale Klimaerwär- mal für nötig erachtet hatte, den Gipfel mung – bei den vermeintlichen Sach- selbst zu beehren. Kein Wort auch da- waltern der Natur gegenwärtig keine von, dass nach wie vor die westlichen entscheidende Rolle. Wie die anderen Staaten in weit höherem Maße konsu- Parteien werden auch die Grünen von mieren und emittieren als der Rest der der Krise der Europäischen Union völ- Welt. Offenbar hat die Kanzlerin ihre lig absorbiert. Doch anstatt sich hier als eigenen Worte längst vergessen: „Kein entschiedene Kritiker des verfassungs- Mensch hat per se das Recht, dem Kli- rechtlich höchst zweifelhaften Fiskal- ma mehr Schaden zuzufügen als ande- pakts zu profilieren, fährt man lieber im Geleitzug der Kanzlerin und präsen- 1 Vgl. „die tageszeitung“ (taz), 22.6.2012. 2 Vgl. „Süddeutsche Zeitung“, 26.6.2012. 3 Vgl. „Die Zeit“, 4.10.2007.

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tiert sich artig als schwarz-grüne Re- Seit der Ära Fischer auf Professionali- gierungsreserve, wenn es für Rot-Grün sierung und Regierungsfähigkeit ge- im nächsten Herbst doch nicht reichen trimmt, sind die Grünen heute regel- sollte, wofür nach wie vor vieles spricht. recht überetabliert. Dazu passt, dass Die Rechnung dahinter ist klar: So- die Führungsspitze der einstigen Rota- lange der Euro nicht gerettet ist, muss tionspartei inzwischen von allen Partei- das Weltklima das Nachsehen haben. en am längsten an der Macht ist. Und Damit ziehen die Grünen vermeint- als hätte sie in der wohl größten Kri- lich eine Lehre aus ihrem Scheitern sensituation der Nachkriegsgeschichte von 1990. Während damals alle Welt nichts Besseres zu tun, streitet sie sich über Deutschland und die Wiederver- hinter den Kulissen bereits heftig – und einigung redete, sprachen die Grünen ganz „realpolitisch“ – um ihre eigenen bekanntlich vom Wetter und flogen Spitzenkandidaten bei der kommen- prompt aus dem .4 den Bundestagswahl. Geht es nach den Heute heißt die Devise eher „Alle „Realos“ soll aus einem „linken“ Duo schweigen vom Wetter. Wir schweigen – Jürgen Trittin als dem strategischen mit.“ Doch dabei könnten die Grünen Kopf und , die ihren Hut die Rechnung ohne den Wirt, sprich bereits in den Ring geworfen hat – we- ihre Wähler, gemacht haben. Für Union nigstens ein Trio mit einem der Ihren und SPD mag die Reduktion auf das werden. „harte Thema“ der Euro-Rettung auf- Das aber geht am Kern der eigent- gehen, für die Grünen kann sie existen- lich erforderlichen Auseinanderset- zielle Folgen haben. Ohne eine stärke- zung völlig vorbei. In den Vor-89er- re Konzentration auf ihren harten Mar- Zeiten, da Jutta Ditfurth und Thomas kenkern der Ökologie drohen sie sich Ebermann gegen und mehr und mehr überflüssig zu machen. Hubert Kleinert standen, konnte von Linken und Realos in der Partei noch ernsthaft die Rede sein. Heute lässt sich Wo ist der grüne Glutkern? die Lage so nicht mehr angemessen be- schreiben. Wer wollte bezweifeln, dass Im Gegensatz zu 1989 verfügen die die geübte Regierungslinke um Jürgen Grünen heute nämlich über eine der- Trittin und Claudia Roth im Jahr 2013 artige Stromlinienförmigkeit, ist die nicht genauso entschieden ihre vermut- realpolitische Orientierung derart über- lich letzte Regierungsoption – ob mit mächtig geworden, dass von der einsti- SPD oder Union – wahrnehmen würde gen radikalökologischen Widerspens- wie ihre hyperpragmatischen Gegen- tigkeit keine Rede mehr sein kann. spieler um Cem Özdemir, Boris Palmer So wurde in den letzten Jahren der und Reinhard Bütikofer? dringend erforderliche Streit über die Die gegenwärtige Krise der Grü- „Grenzen des Wachstums“ sukzessive nen ist daher keine ihrer Pseudo-Flü- umdefiniert zum „Wachstum der Gren- gel, sondern eine viel fundamentalere. zen“, welches heute unter den schö- Letztlich geht es um die Frage: Wo ist nen Labels „Grünes Wachstum“ und der grüne Glutkern? Wofür brennt die- „Green Economy“ firmiert.5 se Partei noch? Um das ganze Ausmaß dieser Krise 4 In Abwandlung einer bekannten Werbekampa- zu erfassen, muss man sich nur bewusst gne der Deutschen Bahn hatten die Grünen da- machen, wo diese Partei noch vor gut mals plakatiert: „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter.“ einem Jahr stand. Soeben hatte die Re- 5 Ralf Fücks, Wachstum der Grenzen, in: „Die aktorkatastrophe von Fukushima große Zeit“, 18.4.2011; vgl. dagegen auch Barbara Un- Teile der Bevölkerung die alte Sonnen- müßig, Wolfgang Sachs und Thomas Fatheuer, Green Economy: Der Ausverkauf der Natur? In: blumenfahne hissen lassen, was Baden- „Blätter“, 7/2012, S. 55-61. Württemberg mit Winfried Kretsch-

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mann prompt den ersten grünen Mi- hochgradig erregte Debatte nicht etwa nisterpräsidenten bescherte. Zeitweilig über die globalen umweltpolitischen schwebten die Grünen in den Umfra- Rückschritte liefert, sondern über die gen bei Werten um die 30 Prozent und Frage des Urheberrechts, als hingen fabulierten bereits von der neuen grü- Wohl und Wehe der Welt davon ab. nen Volkspartei. Doch binnen weniger Wie aber erklärt sich die erstaun- Monate wurden sie auf den Boden der liche Anziehungskraft der Piraten und Tatsachen zurückgeholt. Denn dann ihrer Themen? Gewiss nicht allein aus kam die Wahl in und mit dem dem bloßen „Versprechen einer nied- Absturz der Renate Künast der schein- rigschwelligen Möglichkeit zur Mit- bar unaufhaltsame Aufstieg der Pira- gestaltung und politischen Teilhabe“ tenpartei, die aus dem Stand sensatio- (so Constanze Kurz vom Chaos Com- nelle 8,9 Prozent und damit auch bun- puter Club). Nein, der ungeheure Auf- desweit ihren Durchbruch erzielte. Die schwung der Piraten ist ohne utopi- Wahlerfolge im Saarland, in Nordrhein- schen Überschuss nicht zu erklären. Westfalen und in Schleswig-Holstein Im Ergebnis verheißen die Piraten wirkten dann nur noch wie eine logi- eine Utopie im neuen, virtuellen Raum, sche Konsequenz. ohne sich mit den Begrenzungen des Seither ist die grüne Partei gegen- alten, materiellen Raums auseinan- über der neuen Herausforderung durch dersetzen zu müssen. Hinter dem Auf- die Piraten völlig ratlos. Nur so ist zu schwung der Piraten verbirgt sich somit erklären, warum selbst ihre Stimmver- auch eine Flucht aus den eigentlich ent- luste im Mai in Nordrhein-Westfalen scheidenden Debatten der Gegenwart. (von 12,1 Prozent 2010 auf 11,3 Prozent Denn der Cyberspace – als die angeb- 2012) wie ein Sieg gefeiert wurden, ob- liche „digitale Heimat“ der Piraten – ist wohl man noch ein Jahr zuvor in Um- grenzenlos. Nur auf Erden ist alles end- fragen bei mindestens doppelt so ho- lich und damit ständigen Verteilungs- hen Werten gelegen hatte. kämpfen ausgesetzt. „Alles ist durch die Digitalisierung verändert worden“, lautet der neue Totalitätsanspruch der Der Kulturbruch der Piraten Piraten. Dabei wird völlig verdrängt, dass sich die ökologische Begrenztheit Gerade in der Auseinandersetzung mit des Planeten überhaupt nicht verändert den Piraten zeigt sich: Der dramatische hat, sondern heute im Gegenteil immer Alterungsprozess der Grünen ist kein deutlicher wird. primär biologischer – wem erschiene Cem Özdemir wesentlich juveniler als Claudia Roth? –, sondern ein inhalt- Flucht ins Reich der Freiheit licher. Offenbar ist es der Partei nicht gelungen, ihr Menschheitsthema – die Die Piraten als wichtigste parteipoli- ökologischen Grenzen des Planeten – tische Bewegung der jüngeren Ge- gerade den nachwachsenden Genera- schichte sind damit ein explizites tionen in seiner ganzen existenziellen Gegenmodell zu den Grünen. Deren Dringlichkeit zu vermitteln. Gründung Ende der 70er Jahre war ja Die Piraten verkörpern einen dra- gerade auch eine Antwort auf das Ver- matischen kulturellen Bruch mit der sagen ihrer utopiefixierten Vorgänger. scheinbar naturwüchsigen Dominanz Während die alte, marxistische Linke grüner Themen bei den Jüngeren. auf das Reich der Freiheit als klassen- Aber mehr noch: Sie stellen die Wer- lose Gesellschaft – und letztlich auf tigkeit der Themen insgesamt auf den das Ende der Politik, das Absterben Kopf. Anders ist es nicht zu begreifen, des Staates – zielte, stellten Friedens-, dass sich dieses Land seit Monaten eine Frauen- und Anti-Atombewegung die

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linken Themen vom Kopf auf die Füße. bis ins Unternehmermilieu galt es zwi- Diese Neue Linke beschäftigte sich de- schenzeitlich als schick und progressiv, zidiert mit den irdischen Fragen, näm- grün zu wählen. Doch wie schnell die- lich der Überlebensfähigkeit des Men- ser Hipness-Faktor schwinden kann, schen und seines Planeten, sprich: den demonstrieren ihnen nun die Wähler Grenzen des Wachstums. Daher resul- der Piraten. Wenn es auf die Stimme tiert bis heute die Fortschrittsskepsis für die Grünen nicht mehr ankommt der Grünen, ja auch ihr inhärenter Kon- – mangels klarer Aussage oder ech- servatismus. Die Piraten beschreiten ter Regierungsalternative – wählen sie nun den umgekehrten Weg: Als neues eben einfach den „neusten Schrei“ am Entgrenzungsprojekt flüchten sie aus Wählermarkt. dem irdischen Reich der Notwendig- Gleichzeitig bieten die Piraten den keit in das virtuelle Reich der Freiheit, Grünen, indem sie deren parlamen- das sie mit wilder Unbedingtheit vertei- tarische Daseinsberechtigung zuneh- digen. Mit ihrer Technikbegeisterung mend in Frage stellen, die Chance, das beerben sie den naiven Fortschrittsopti- eigene grüne Profil wieder zu schärfen, mismus der alten Linken – und werden nämlich durch klare inhaltliche Aus- dafür vom Wähler belohnt. einandersetzung. Die sogenannten di- gitale natives, die angeblich in der di- gitalen Welt Geborenen, haben sich Die Piraten als Herausforderung mental von der natürlichen Umwelt (als und Chance der Grünen Lebensraum wie als originärem Pro- duktionsmittel) genauso abgekoppelt Dagegen aber hilft es nicht, wie etwa wie der virtuelle Finanzkapitalismus Boris Palmer gegen die Piraten als an- vom produzierenden Kapital. Damit geblich bloße Protestpartei zu pole- aber entziehen sie sich „der“ zentralen misieren, die den Staat dysfunktional politischen Zukunftsfrage nach einem mache und damit, so der Tübinger Bür- nachhaltigen Umgang mit den ökologi- germeister völlig überzogen, angeblich schen Grenzen des Planeten. die Demokratie gefährde.6 Tatsächlich Rio+20 ist bei der Bilanzierung der gefährden die Piraten nämlich bloß zu- letzten 20 Jahre globaler Ordnungs- künftige rot-grüne Koalitionen. politik zu einem dramatischen, wenn Die Ursache für die eigene missli- auch unausgesprochenen Befund ge- che Lage liegt jedoch zuerst auf grü- kommen, dem völligen Scheitern des ner Seite. Die Grünen selbst haben – einstigen Anspruchs auf Nachhaltig- trotz Fukushima – in den letzten Jah- keit. Wie der jüngste Bericht des Club ren die zentrale Aufgabe jeder Politik of Rome kommt auch der aktuelle Be- viel zu wenig kenntlich gemacht: näm- richt „Zur Lage der Welt“ des World- lich Freiheit und Gerechtigkeit in den watch Institutes zu dem Schluss, dass Grenzen des natürlich Vorhandenen nur noch ein kleines Zeitfenster bleibt, zu denken. Dieses, ihr Gründungs- und um den Umbau der Weltwirtschaft in Menschheitsthema, haben die grünen die Wege zu leiten. Andernfalls werden Strategen der Macht – ob linker oder die ökologischen Lebensgrundlagen ir- realpolitischer Provenienz – in den reversibel zerstört sein. letzten Jahren mit zu wenig Leiden- Was heute erforderlich ist, Euro-Ret- schaft verfochten. Von vielen Wählern tung hin oder her, bleibt daher die glo- wurden die Grünen daher zunehmend bale „Wende zum Weniger“ – hin zu nicht mehr primär als ökologische, son- einem fundamental anderen, stärker dern als Statuspartei wahrgenommen. immateriellen Wohlstandsverständnis. Gerade unter jungen Akademikern Darauf gilt es für Grüne unbeirrbar zu insistieren, allen vermeintlich realpoli- 6 Vgl. taz, 21.5.2012, sowie „Die Zeit“, 24.5.2012. tischen Zwängen zum Trotz.

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