DER LANDBOTE Freitag, 19. august 2011 Kultur l 15

Jazz in Willisau: Von Weggis in die Welt Unterwegs im neuen Zeitalter luzern. Vor 100 Jahren wurde in Weggis «Der moderne Bund» gegründet. Die erste avantgardistische Künstlervereinigung der WILLISAU. Vertraute Namen Schweiz war international bestens vernetzt und stiess die Tür zur in ungewohnten Formationen Moderne weit auf, wie das Kunstmuseum Luzern zeigt. prägen das Jazzfestival Willisau, das am 24. August beginnt. lucia angela cavegn ausstellung zustande. Gimmis Gemäl- de «Musikanten» hing sogar in der le- Im letzten Jahr hat Arno Trox­ler die Weggis am Fuss der Rigi war wäh- gendären Armory Show in New York. Leitung des traditionsreichen Jazz- rend der Belle Epoque ein mondäner Damit war der Höhepunkt erreicht. festivals Willisau von seinem Onkel, Kurort, den man mit dem Raddamp- Am Vorabend des Ersten Weltkriegs Niklaus Trox­ler, übernommen. Ein fer einfach von Luzern aus erreichte, löste sich die Vereinigung still auf. schweres Erbe. Für den neuen Chef 1911 wurde es Schauplatz eines kunst- war klar, dass er nicht einfach weiter- historisch wichtigen Ereignisses: Drei Trouvaillen machen würde wie gehabt. Er setzte junge, zugewanderte Künstler – Hans Die von Christoph Lichtin kuratierte neue Akzente mit mehr Elektronika Arp (aus dem Elsass), Walter Hel- Ausstellung ist in Zusammenarbeit und rockigeren Tönen. Musikalisch big (aus Sachsen) und Oscar Lüthy mit der Luzerner Kunsthistorikerin gehörte das Festival 2010 zu den inspi- (aus dem Bernbiet) – schlossen sich Doris Fässler entstanden. Die von ihr rierendsten der letzten Jahre – obwohl zu einer Vereinigung zusammen, der herausgegebene Publikation zeichnet oder vielleicht gerade weil die ganz sie (vermutlich in Anlehnung an den die Geschichte des «Modernen Bun- grossen respektive die für alte Willi- Rütlischwur) den Namen «Der mo- des» detailliert nach. Die historischen sau-Fans gewohnten Namen fehlten. derne Bund» verliehen. Erklärtes Ziel Dokumente kann man jetzt im Kunst- Der Publikumsaufmarsch dagegen war, mit gemeinsamen Ausstellungen museum Luzern bestaunen. Nicht ging, nicht ganz unerwartet, um rund auf ihr Schaffen aufmerksam zu ma- nur die Kataloge von «Der moderne 15 Prozent zurück. chen. Bereits wenige Monate später, Bund» sind ausgestellt, zu sehen sind Auf oberlehrerhafte Zurechtwei- im Dezember 1911, fand die erste auch solche des «Blauen Reiters», Ori- sung und gute Ratschläge gestande- Gruppenausstellung im Speisesaal des ginalausgaben der von Herwarth Wal- ner Fans musste Arno Trox­ler nicht «Grand Hotel du Lac» in Luzern statt. den herausgegebenen Zeitschrift «Der warten. So wurden ihm etwa in einem Neben den Neumitgliedern Wilhelm Sturm», zu denen Künstler von «Der Fachblatt spektakuläre Events für Gimmi und Hermann Huber, zwei moderne Bund» Abbildungen beige- Sponsoren vorgeschlagen – eine Idee, Zürcher Malern, beteiligten sich Gast- steuert hatten, sowie die Grafikmap- die ziemlich weit weg liegt von dem, künstler mit Rang und Namen wie pen, die anlässlich der Zürcher und was Willisau ausgezeichnet hat. Arno Ferdinand Hodler und Cuno Amiet Münchner Ausstellung herausgegeben Trox­ler liess sich aber nicht davon ab- daran, aber auch Werke von Matisse, wurden. Sie vermittelten der Schwei- halten, die Erneuerung des Festivals Gauguin, Auguste Herbin und Picasso zer Kunstlandschaft erstmals die na- fortzuführen. Mag zwar das Programm waren als Leihgaben zu sehen. hezu abstrakten Arbeiten Delaunays nicht mehr viel gemeinsam haben mit Die Ausstellung verfehlte ihre Wir- und Kandinskys. Zwei filmische Do- jenen von früher – im Geist jeden- kung nicht. Während der zweiwöchi- kumente, eine kurze, um 1907 entstan- falls steht es jener Aufbruchstimmung gen Dauer erschienen 16 Artikel, die dene Filmsequenz von Luzern und ein nahe, die Willisau einst in den Siebzi- jetzt in der Ausstellung nachgelesen eigens für die Ausstellung realisierter gerjahren geformt und geprägt hat. werden können. Die teils kubistische, Dok-Film von Thaïs Odermatt lassen teils ex­pressionistische Formenspra- die Schauplätze von «Der moderne Vertraute Namen che der 65 Ex­ponate wurde in der da- Bund» wieder aufleben. Das ist mutig. Schön wäre es, wenn maligen Presse bis auf eine Ausnahme Die Jubiläumsschau vereint wo das Publikum diesen Mut belohnen gehässig kommentiert. immer möglich Gemälde, Zeichnun- würde. Auch hier bedarf das Festival gen und Grafiken, die an einer die- nämlich einer Verjüngung, denn die Internationale Vernetzung ser Ausstellungen präsentiert oder in alten Fans sterben langsam aus oder Sieben Monate später, im Juli 1912, einer der beiden Mappen abgedruckt lassen es sich zu Hause im Sessel ge- hielt «Der moderne Bund» Einzug in wurden. Die nur noch in Insider- mütlich sein. Ganz verzichten auf ver- das Kunsthaus Zürich. Inzwischen war Kreisen bekannten Künstler Wilhelm traute Namen muss man in Willisau Paul Klee der Gruppe beigetreten. Gimmi, Walter Helbig, Hermann Hu- auch in diesem Jahr nicht. So kom- Obschon in Zürich verschiedene Ga- ber und Oscar Lüthy gilt es, neu zu men beispielsweise die Schlagzeuger lerien und Sammler wie Richard Kis- entdecken. Besondere Trouvaillen Jim Black und Paul Lovens, der Sa- ling der modernen Kunst gegenüber sind die erotischen Tuschzeichnungen x­ofonist Ellery Eskelin, die Pianistin aufgeschlossen waren, blieben auch von Lüthy, die raren vordadaistischen Myra Melford, der Gitarrist Marc Du- hier heftige Reaktionen, vor allem auf Werke von Arp und die ex­pressioni­ cret und der Trompeter Dave Doug- Kandinskys Werke, nicht aus. stischen Holzschnitte von Helbig. las ins Luzerner Hinterland. Aber die- «Der moderne Bund» war zwar eine «Der moderne Bund» leistete einen se Musiker treten nicht im gewohnten Schweizer Künstlervereinigung, be- wesentlichen Beitrag zur Moderne in Kontex­t auf, sie spielen mit jüngeren wegte sich jedoch im internationalen der Schweiz. Kollegen, mit Nachwuchskräften. Das Umfeld. Über Helbig und Arp bestan- ist für beide Seiten eine Herausforde- den gute zum «Blauen Rei- Der moderne Bund rung. Eine Europapremiere gibt es mit Die Publikation erscheint Ende September, ter» in München. Nicht zuletzt dank herausgegeben von Doris Fässler, mit Beiträgen Nels Cline (Wilco): er kommt mit dem solcher Vernetzung kam 1913 in der von Christian Bührle, Doris Fässler, Paul Müller, Impro-Projekt The Nels Cline Singers. Galerie Hans Goltz in München die Osamu Okuda, Viola Radlach, Silvia Volkart, Wilhelm Gimmis «Musikanten» (1912) haben es bis nach New York geschafft und der Auch die angesagte Drummerin Alli- Walburga Krupp (Luzern: Diopter-Verlag, 2011, dritte und anschliessend in der Galerie 224 Seiten, Fr. 68.–). Die Ausstellung dauert Künstler ist nie ganz aus dem Blick geraten. Oscar Lüthy (unten) hingegen ist kaum son Miller ist in Willisau zu hören. Sturm in Berlin die vierte - bis 13. November. mehr bekannt. Sein «Blick auf Weggis» (1911) feiert den Ort des Aufbruchs. Bilder: pd Gut vertreten ist die Schweizer Sze- ne. Samuel Blaser, Christian Weber und Samuel Rohrer treten als Leader international besetzter Combos auf. Und der Gitarrist Christy Doran prä- sentiert in Willisau seine neu besetz- te Formation New Bag. Ergänzt wird Drängende Gegenwart das Hauptprogramm in der Festhalle mit insgesamt sechs Doppelkonzerten luzern. Solistisch und auch immer pianistische Zauberei, die über überhörbar – Jürgen Uhde hat gezählt: ersten Konzertteil und vor einer Pau- durch die Konzertreihen Intimities, kollegial gestaltet der Pianist die Grenzen geht. einunddreissigmal lässt Beethoven die se, die den Abend nur zu sehr teilte. Late Spot und On the Road. (sda) Und nichts von Altersmilde, die sich Beschwörungsformel aufleuchten, und Pollini hatte in diesem Stück einen sein Rezital. etwas vormacht: Das Rondo-Thema das spricht nicht dafür, dass ihre Ver- Part neben anderen, Christophe Des- Er steht ein für Beethovens der C-Dur-Sonate brachte Pollini zwar heissung gewiss ist. jardins (Viola), Alain Damiens (Klari- einsamen Furor und für die mit aller Pianissimo-Zartheit ins , nette) und Daniel Campolini (Schlag- «Pollini Perspectives» Regisseur Gualtiero zeitgenössische Musik. «lichte Ferne» war zu empfinden, etwas zeug). Sie alle agierten wechselnd, von paradiesischer Heimkehr, aber das Maurizio Pollini, der im kommenden meist als Duettpartner der Sopranis- Jacopetti gestorben Allegretto war nicht sehr «moderato» Jahr siebzig wird, will es nochmals wis- tin Anna Prohaska, die mit lyrischem herbert büttiker und das Manische der Evokation un- sen, und der Erfolg gibt ihm recht: Mit Gestus in grossen Intervallen, weitem rom. Der italienische Dokumentar- Standing Ovations endete das Rezital Legato in höchsten Höhen als sugges- film-Regisseur Gualtiero Jacopetti ist Wie Maurizio Pollini sich in diese Mu- am Mittwoch, das der Beginn eines tive Interpretin von vier poetischen 91-jährig am Mittwoch in Rom gestor- sik stürzt, sie drängend «verarbeitet», vierteiligen war. In vier Kon- Tex­ten im Zentrum stand. ben. Jacopetti wurde international vor sich auch in den Inseln der gesanglichen zerten an diesem und am nächsten Lu- Mit Welimir Chlebnikov, Aleksan- allem mit dem Film «Mondo Cane» Themen kein Abschweifen gönnt, wie cerne Festival (und auch anderswo) der Blok, Georg Trakl und Andrea (1962) bekannt. Die Collage, etwa er in wilder Fingerarbeit den - will Pollini der Reihe nach Beetho- Zanzotto fragt Manzoni in einer fast Aufnahmen von afrikanischen Riten fluss zum reissenden Strom macht und vens zwölf Sonaten von op. 53 bis 111 mehr kalligrafischen als ex­pressiven mit erschütternden Bildern über die mit dem ganzen Körper Akzente setzt, spielen – verbunden jeweils mit einem Tonsprache angesichts des Sternen- Folgen von Atomversuchen bei Tie- die den Strom über Kaskaden stürzen zeitgenössischen Werk. Dabei handelt meers nach der Stellung des Menschen ren, war ein bitterböser Kommentar lassen, kurz, wie Pollini die grossen es sich im engeren Sinn um Zeitge- im Kosmos. Suchend und fragend wir- zum Zeitgeschehen. Der Film wurde Sonaten aus Beethovens «heroischer nossen Pollinis: Stockhausen, Lachen- ken auch die sparsam gesetzten instru- 1962 in Cannes für die Goldene Palme Epoche» – die «Waldstein-Sonate», mann und Sciarrino folgen, der Alt- mentalen Klänge und die Zwischen- nominiert. Weitere Werke des Regis- die «Appassionata», dazwischen auch meister der italienischen Avantgarde, spiele des Klaviers in diesem knapp seurs sind «La donna nel mondo» von op. 54 – «bewältigt», ist von atemrau- Giacomo Manzoni (Jahrgang 1932), zwanzigminütigen, insgesamt kontem- 1963, der heftig umstrittene Streifen bender Konzentration geprägt. Zu er- war es am Mittwoch mit der Urauf- plativen Alterswerk, dessen verbindli- «Africa Addio» (1966) und «Addio, leben ist rigorose Hingabe – und noch Maurizio Pollini spielt Beethoven. Bild: pd führung von «Il rumore del tempo» im cher Ernst berührte. Onkel Tom!» (1971).