Plenarprotokoll 16/97

Deutscher

Stenografischer Bericht

97. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Zusatztagesordnungspunkt 3: neten Angelika Graf (Rosenheim) und Rainer Fornahl ...... 9803 A Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, (Köln), weiterer Wahl des Abgeordneten Dr. in Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- das Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Zoll- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Konkrete Maß- fahndungsdienstgesetzes ...... 9803 B nahmen und verbindliche Strukturen für bessere Ernährung und mehr Bewegung Wahl des Abgeordneten Dr. umsetzen als Schriftführer ...... 9803 B (Drucksache 16/5271) ...... 9805 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- , Bundesminister BMELV . . . 9805 C nung ...... 9803 B Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 9809 A Absetzung der Tagesordnungspunkte 24 und 25 9805 A (SPD) ...... 9810 D Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 9804 D (DIE LINKE) ...... 9812 D Ursula Heinen (CDU/CSU) ...... 9814 A Tagesordnungspunkt 3: Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 9815 C a) Abgabe einer Erklärung durch die Bun- Renate Künast (BÜNDNIS 90/ desregierung: Gesunde Ernährung und DIE GRÜNEN) ...... 9816 B Bewegung – Schlüssel für mehr Lebens- qualität (SPD) ...... 9818 A b) Antrag der Abgeordneten , Miriam Gruß (FDP) ...... 9819 B Julia Klöckner, Ursula Heinen, weiterer Detlef Parr (FDP) ...... 9820 B Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Volker Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 9821 C Blumentritt, Mechthild Rawert, Waltraud Wolff (Wolmirstedt), weiterer Abgeordne- Renate Künast (BÜNDNIS 90/ ter und der Fraktion der SPD: Förderung DIE GRÜNEN) ...... 9822 D gesundheitsrelevanten Verhaltens zur Dr. (DIE LINKE) ...... 9824 B Prävention von Fehl- und Mangeler- nährung, Übergewicht und Bewegungs- Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 9825 B mangel insbesondere bei Kindern und Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ Jugendlichen DIE GRÜNEN) ...... 9826 B (Drucksache 16/5258) 9805 A Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU) . . . . . 9827 C in Verbindung mit Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 9829 C II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. , Donnerstag, den 10. Mai 2007

Tagesordnungspunkt 4: c) Antrag der Abgeordneten , Dr. , Florian a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Toncar, weiterer Abgeordneter und der rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Fraktion der FDP: Für eine Neuausrich- zes zur weiteren Stärkung des bürger- tung der deutschen Afrikapolitik schaftlichen Engagements (Drucksache 16/5130) ...... 9851 A (Drucksache 16/5200) ...... 9830 C d) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der b) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ Höll, Dr. , Katrin Kunert, wei- DIE GRÜNEN: Fortschritte für Zypern – terer Abgeordneter und der Fraktion der Eine Aufgabe für die deutsche EU-Rats- LINKEN: Stärkung des bürgerschaftli- präsidentschaft chen Engagements (Drucksache 16/5259) ...... 9851 B (Drucksache 16/5245) ...... 9830 D e) Antrag der Abgeordneten , () (SPD) ...... 9830 D Katrin Kunert, , weiterer Dr. (FDP) ...... 9832 C Abgeordneter und der Fraktion der LIN- KEN: Rechtsanspruch auf Mieterbera- (CDU/CSU) ...... 9834 C tung für Menschen mit geringem Ein- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 9836 A kommen (Drucksache 16/5247) ...... 9851 B Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9837 C f) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Peer Steinbrück, Bundesminister deutsche humanitäre Hilfe im Ausland BMF ...... 9838 C 2002 bis 2005 (Drucksache 16/3777) ...... 9851 C (FDP) ...... 9841 B g) Unterrichtung durch die deutsche Delega- Christian Freiherr von Stetten tion in der Interparlamentarischen Union: (CDU/CSU) ...... 9842 C 115. Interparlamentarische Versamm- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 9843 B lung vom 16. bis 18. Oktober 2006 in Genf, Schweiz Elke Reinke (DIE LINKE) ...... 9844 C (Drucksache 16/4121) ...... 9851 C Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ h) Unterrichtung durch die Bundesregierung: DIE GRÜNEN) ...... 9845 C Siebzehnter Bericht nach § 35 des (CDU/CSU) ...... 9846 D Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Ute Kumpf (SPD) ...... 9848 A Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2 (CDU/CSU) ...... 9850 A (Drucksache 16/4123) ...... 9851 C

Tagesordnungspunkt 29: Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten a) Erste Beratung des von der Bundesregie- , Dr. Hans-Peter Uhl, rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- Kristina Köhler (Wiesbaden), weiteren undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ des Bundesausbildungsförderungsge- CSU sowie den Abgeordneten Fritz setzes (22. BAföGÄndG) Rudolf Körper, Maik Reichel, Klaus Uwe (Drucksache 16/5172) ...... 9851 D Benneter, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs b) Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz, eines Gesetzes zur Änderung des Mi- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, krozensusgesetzes 2005 und des Bevöl- Dr. , weiterer Abgeordneter kerungsstatistikgesetzes und der Fraktion der FDP: Beitritt des (Drucksache 16/5239) ...... 9851 A Bundes zum Rechtsstreit des Landes Schleswig-Holstein gegen die EU-Kom- b) Antrag des Bundesministeriums der mission Finanzen: Entlastung der Bundesregie- (Drucksache 16/4607) ...... 9851 D rung für das Haushaltsjahr 2006 – Vorlage der Haushalts- und Vermögens- c) Antrag der Abgeordneten , rechnung des Bundes (Jahresrechnung , Sevim Dağdelen, weiterer Ab- 2006) geordneter und der Fraktion der LINKEN: (Drucksache 16/4995) ...... 9851 A Irakische Flüchtlinge in die EU aufneh- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 III

men – In Deutschland lebende Iraker Zusatztagesordnungspunkt 5: und Irakerinnen vor Abschiebung schützen Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (Drucksache 16/5248) ...... 9852 A schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu der Unterrichtung d) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara durch die Bundesregierung: Grünbuch Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, Die Überprüfung des gemeinschaftlichen weiterer Abgeordneter und der Fraktion Besitzstands im Verbraucherschutz der LINKEN: Unternehmen leistungsge- KOM (2006) 744 endg.; Ratsdok. 6307/07 recht besteuern – Einnahmen der öf- (Drucksachen 16/4635 Nr. 2.20, 16/5272) . . . 9854 A fentlichen Hand stärken (Drucksache 16/5249) ...... 9852 A e) Antrag der Abgeordneten Winfried Zusatztagesordnungspunkt 1: Hermann, , Peter Hettlich, wei- Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- terer Abgeordneter und der Fraktion des nen der CDU/CSU und der SPD: Aktuelle BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Schie- wirtschaftliche Entwicklung und Lage auf neninfrastruktur ist öffentliche Auf- dem Arbeitsmarkt gabe – Moratorium für die Privatisie- rung der Deutsche Bahn AG Franz Müntefering, Bundesminister (Drucksache 16/5270) ...... 9852 A BMAS ...... 9854 B f) Antrag der Abgeordneten , Rainer Brüderle (FDP) ...... 9856 B , Priska Hinz (Herborn) und Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE BMWi ...... 9857 B GRÜNEN: Einrichtung des Europäi- schen Technologieinstituts abwenden – Kornelia Möller (DIE LINKE) ...... 9858 D Bestehende europäische Förderstruktu- ren stärken und weiterentwickeln Dr. Rainer Wend (SPD) ...... 9860 A (Drucksache 16/5254) ...... 9852 B Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9861 B

Tagesordnungspunkt 30: (Hamm) (CDU/CSU) ...... 9862 C (SPD) ...... a) Zweite und dritte Beratung des von den 9863 D Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der Franz Obermeier (CDU/CSU) ...... 9864 D FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines (SPD) ...... 9865 D Gesetzes zur Änderung des Gesetzes Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) ...... 9866 D über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung Gabriele Frechen (SPD) ...... 9868 A (Drucksachen 16/3303, 16/5096) ...... 9852 C Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) . . . . 9868 D b) Zweite und dritte Beratung des vom Bun- desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Allgemeinen Tagesordnungspunkt 5: Eisenbahngesetzes (Drucksachen 16/4198, 16/5274) ...... 9852 D Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ordneten , Hans-Christian c) Beschlussempfehlungen des Rechtsaus- Ströbele, Wolfgang Wieland, weiteren Abge- schusses: Übersicht 6 über die dem ordneten und der Fraktion des BÜNDNIS- Deutschen Bundestag zugeleiteten SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Streitsachen vor dem Bundesverfas- wurfs eines Gesetzes zum Schutz von Jour- sungsgericht nalisten und der Pressefreiheit in Straf- (Drucksache 16/5138) ...... 9853 A und Strafprozessrecht (Drucksachen 16/576, 16/5283) ...... 9869 D d) – k) Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- BMJ ...... 9870 A schusses: Sammelübersichten 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216 und 217 zu Peti- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger tionen (FDP) ...... 9871 B (Drucksachen 16/5120, 16/5121, 16/5122, (CDU/CSU) ...... 9872 C 16/5123, 16/5124, 16/5125, 16/5126, 16/5127) ...... 9853 B Petra Pau (DIE LINKE) ...... 9874 B IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 7: DIE GRÜNEN) ...... 9875 A Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) desregierung eingebrachten Entwurfs eines (CDU/CSU) ...... 9876 A Gesetzes zur Änderung kraftfahrzeugsteu- Dr. (SPD) ...... 9876 B erlicher und autobahnmautrechtlicher Vorschriften Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (Drucksachen 16/2718, 16/2935(neu), 16/5234, (CDU/CSU) ...... 9878 C 16/5244) ...... 9890 B Achim Großmann, Parl. Staatssekretär Tagesordnungspunkt 6: BMVBS ...... 9890 C Entwicklungspolitische Afrikadebatte (Bayreuth) (FDP) ...... 9891 C a) Antrag der Abgeordneten Hartwig Fischer Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 9892 C (Göttingen), Dr. Christian Ruck, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) ...... 9893 B Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Gabriele Groneberg, Dr. Sascha (BÜNDNIS 90/ Raabe, Dr. Bärbel Kofler, weiterer Abge- DIE GRÜNEN) ...... 9894 C ordneter und der Fraktion der SPD: Für eine intensive wirtschaftliche und ent- Jörg Vogelsänger (SPD) ...... 9895 B wicklungspolitische Zusammenarbeit mit dem afrikanischen Kontinent auf Augenhöhe Tagesordnungspunkt 8: (Drucksache 16/5257) ...... 9880 A a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- b) Beschlussempfehlung und Bericht des schusses für Wirtschaft und Technologie Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- – zu dem Antrag der Abgeordneten trag der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, , Gudrun Kopp, Christian Hellmut Königshaus, Dr. , Ahrendt, weiterer Abgeordneter und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Fraktion der FDP: Keine Verlän- der FDP: Die Entwicklungszusammen- gerung des Briefmonopols – Wettbe- arbeit mit Kenia auf den Prüfstand stel- werb auf dem deutschen und euro- len päischen Postmarkt ermöglichen (Drucksachen 16/965, 16/2363) ...... 9880 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla in Verbindung mit Lötzer, Sabine Zimmermann, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der LINKEN: Zusatztagesordnungspunkt 6: Vollständige Öffnung der Post- märkte stoppen – Universaldienst- Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, verpflichtung absichern Hellmut Königshaus, , weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: (Drucksachen 16/3623, 16/4044, 16/4600) 9896 B Neue Strategien für die deutsche Entwick- lungszusammenarbeit mit Afrika erarbei- b) Zweite und dritte Beratung des von den ten und durchsetzen Abgeordneten Sabine Zimmermann, (Drucksache 16/5243) ...... 9880 C Werner Dreibus, Ulla Lötzer, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion der LINKEN Heidemarie Wieczorek-Zeul, eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes Bundesministerin BMZ ...... 9880 D zur Änderung des Postgesetzes Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 9882 A (Drucksachen 16/4908, 16/5276) ...... 9896 C Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) ...... 9883 B (CDU/CSU) ...... 9896 D Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 9884 C Martin Zeil (FDP) ...... 9898 A Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... DIE GRÜNEN) ...... 9885 D 9899 A Gabriele Groneberg (SPD) ...... 9887 A Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 9900 C Hartwig Fischer (Göttingen) (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 9888 D DIE GRÜNEN) ...... 9901 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 V

Tagesordnungspunkt 9: Dritten Gesetzes zur Änderung des Fahr- personalgesetzes Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (Drucksachen 16/4691, 16/5238) ...... 9917 A schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit Achim Großmann, Parl. Staatssekretär BMVBS ...... 9917 B – zu dem Antrag der Abgeordneten , Marie-Luise Dött, Katherina Patrick Döring (FDP) ...... 9918 B Reiche (Potsdam), weiterer Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU) ...... 9919 B und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Christoph Pries, Marco Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 9920 D Bülow, , weiterer Abgeordne- Dr. (BÜNDNIS 90/ ter und der Fraktion der SPD: Schutz der DIE GRÜNEN) ...... 9921 C Wale sicherstellen Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) ...... 9922 A – zu dem Antrag der Abgeordneten , Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und Tagesordnungspunkt 12: der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Am Walfangmoratorium Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- festhalten und Walschutz auf der IWC schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit stärken und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- ordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, Marieluise (Drucksachen 16/4843, 16/5105, 16/5284) . . 9903 A Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE BMU ...... 9903 C GRÜNEN: Rohstoffeinnahmen für nach- haltige Entwicklung nutzen (FDP) ...... 9904 C (Drucksachen 16/4054, 16/5273) ...... 9923 A Ingbert Liebing (CDU/CSU) ...... 9905 C (SPD) ...... 9923 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 9906 D Hellmut Königshaus (FDP) ...... 9924 C Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 9925 C DIE GRÜNEN) ...... 9907 C Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 9927 A Ingbert Liebing (CDU/CSU) ...... 9908 A Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ Ingbert Liebing (CDU/CSU) ...... 9908 C DIE GRÜNEN) ...... 9928 A Mechthild Rawert (SPD) ...... 9909 A Tagesordnungspunkt 13: Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Erste Beratung des von den Abgeordneten Hilfe Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiteren Abgeordneten und der Frak- – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ tion der LINKEN eingebrachten Entwurfs ei- CSU, der SPD, der FDP und des BÜND- nes Gesetzes zur Änderung des Gesetzes NISSES 90/DIE GRÜNEN: Für die Ver- zur Regelung der erwerbsmäßigen Arbeit- urteilung des Systems der Laogai-Lager nehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlas- in China sungsgesetzänderungsgesetz – AÜGÄndG) – zu dem Antrag der Abgeordneten Florian (Drucksache 16/4805) ...... 9910 A Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Werner Dreibus (DIE LINKE) ...... 9910 B Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für die Verur- (CDU/CSU) ...... 9911 A teilung des Systems der Laogai-Lager in China Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 9913 B (Drucksachen 16/4559, 16/855, 16/5146) . . . 9929 A (SPD) ...... 9914 B Christoph Strässer (SPD) ...... 9929 B Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9916 B (FDP) ...... 9930 D (CDU/CSU) ...... 9932 A Tagesordnungspunkt 11: (DIE LINKE) ...... 9933 C Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ desregierung eingebrachten Entwurfs eines DIE GRÜNEN) ...... 9934 B VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Tagesordnungspunkt 14: von Schüler- und Schülerinnenbeförde- rung im SGB II ermöglichen a) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 16/4486) ...... 9944 A Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- b) Antrag der Abgeordneten Cornelia Hirsch, trag der Abgeordneten Dr. Christel Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. , Happach-Kasan, , Hans- weiterer Abgeordneter und der Fraktion Michael Goldmann, weiterer Abgeordne- der LINKEN: Kommerzialisierungsten- ter und der Fraktion der FDP: Eigentums- denzen im Schulwesen stoppen – Bil- rechte und Forschungsfreiheit schützen – dungsteilhabe für alle Kinder und Ju- Entschiedenes Vorgehen gegen Zerstö- gendlichen sichern rungen von Wertprüfungs- und Sorten- (Drucksache 16/5139) ...... 9944 A versuchen sowie von Feldern mit gen- c) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, technisch veränderten Pflanzen Dr. Thea Dückert, Irmingard Schewe- (Drucksachen 16/2835, 16/4474) ...... 9935 C Gerigk, weiterer Abgeordneter und der b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Bärbel Höhn, Cornelia Behm, Undine GRÜNEN: Teilhabechancen für Kinder Kurth (Quedlinburg) und der Fraktion des und Jugendliche aus armen Haushalten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Keine fördern Freisetzung von gentechnisch veränder- (Drucksache 16/5253) ...... 9944 B ten Pflanzen auf dem Gelände des Insti- tuts für Pflanzengenetik und Kultur- Tagesordnungspunkt 17: pflanzenforschung in Gatersleben (Drucksache 16/4904) ...... 9935 D Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines c) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Gesetzes zur Änderung medizinprodukte- Bärbel Höhn, Cornelia Behm und der rechtlicher und anderer Vorschriften Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE (Drucksachen 16/4455, 16/5280) ...... 9944 C GRÜNEN: Einfuhrverbot für Produkte aus dem gentechnisch veränderten Mais MON863 anordnen Tagesordnungspunkt 18: (Drucksache 16/4905) ...... 9935 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Dr. Max Lehmer (CDU/CSU) ...... 9936 A schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 9938 A Hettlich, Winfried Hermann, Dr. Anton Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 9939 B Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Dr. (DIE LINKE) ...... 9940 B NEN: Energieeinsparverordnung zügig Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ verabschieden – Energieausweis als Be- DIE GRÜNEN) ...... 9941 B darfsausweis einführen (Drucksachen 16/4787, 16/5235) ...... 9944 D Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) 9941 C Tagesordnungspunkt 19: René Röspel (SPD) ...... 9942 A Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Tagesordnungspunkt 15: Begrenzung der Aufwendungen für die Prozesskostenhilfe (Prozesskostenhilfebe- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- grenzungsgesetz – PKHBegrenzG) desregierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksache 16/1994) ...... 9945 A Achten Gesetzes zur Änderung des Geset- zes über die Deutsche Bundesbank (Drucksachen 16/4971, 16/5286) ...... 9943 C Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Tagesordnungspunkt 16: Korte, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion der LINKEN ein- a) Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes , Dr. , weiterer zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung Abgeordneter und der Fraktion der LIN- nationalsozialistischer Unrechtsurteile in KEN: Bildungszugang von Kindern und der Strafrechtspflege (2. NS-AufhGÄndG) Jugendlichen stärken – Finanzierung (Drucksache 16/3139) ...... 9945 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 VII

Tagesordnungspunkt 21: derung des Gesetzes über die Deutsche Bun- desbank (Tagesordnungspunkt 15) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abge- (CDU/CSU) ...... 9948 A ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: Weg vom Öl im Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 9949 A Kunststoffbereich – Chance der Novelle Frank Schäffler (FDP) ...... 9949 C der Verpackungsverordnung nutzen und mit Biokunststoffen echte Kreisläufe Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 9949 D schließen (Drucksache 16/3140) ...... 9945 C Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9950 C Nächste Sitzung ...... 9945 D Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staats- sekretärin BMF ...... 9951 A

Anlage 1 Anlage 6 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9947 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: Anlage 2 – Bildungszugang von Kindern und Jugend- Mündliche Frage 12 lichen stärken – Finanzierung von Schü- (BÜNDNIS 90/ ler- und Schülerinnenbeförderung im DIE GRÜNEN) SGB II ermöglichen Außen- und sicherheitspolitisches Interesse – Kommerzialisierungstendenzen im Schul- für einen Export deutscher U-Boote und wesen stoppen – Bildungsteilhabe für alle dessen Absicherung durch Bürgschaften Kinder und Jugendlichen sichern aus der Sicht der Bundesregierung – Teilhabechancen für Kinder und Jugendli- Antwort che aus armen Haushalten fördern Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär BMWi ...... 9947 B (Tagesordnungspunkt 16 a bis c) (96. Sitzung, Drucksache 16/5213) (CDU/CSU) ...... 9951 C Wolfgang Grotthaus (SPD) ...... 9952 B Anlage 3 Gesine Multhaupt (SPD) ...... Mündliche Frage 13 9952 D Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ Miriam Gruß (FDP) ...... 9953 D DIE GRÜNEN) Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 9954 D Auswirkungen der Bestrebungen Pakistans zur Ausrüstung seiner U-Boote mit dem Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ nuklearfähigen Marschflugkörper „Ba- DIE GRÜNEN) ...... 9956 A bur“ auf die regionale Sicherheitslage Antwort Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär Anlage 7 BMWi ...... 9947 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (96. Sitzung, Drucksache 16/5213) des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung medizinprodukterechtlicher und anderer Vor- schriften (Tagesordnungspunkt 17) Anlage 4 (CDU/CSU) ...... 9956 D Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten (SPD) zur Abstimmung über den Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 9957 D Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank (Münster) (FDP) ...... 9958 B (Tagesordnungspunkt 15) ...... 9947 D Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 9959 B Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ Anlage 5 DIE GRÜNEN) ...... 9960 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung , Parl. Staatssekretär des Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Än- BMG ...... 9960 C VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Anlage 8 Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur dem Antrag: Energieeinsparverordnung zügig Änderung des Gesetzes zur Aufhebung natio- verabschieden – Energieausweis als Bedarfs- nalsozialistischer Unrechtsurteile in der ausweis einführen (Tagesordnungspunkt 18) Strafrechtspflege (2. NS-AufhGÄndG) (Ta- Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) ...... 9961 B gesordnungspunkt 20) Rainer Fornahl (SPD) ...... 9962 C (CDU/CSU) ...... 9971 D Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 9963 C Dr. Carl-Christian Dressel Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 9964 A (SPD) ...... 9973 B Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ Jörg van Essen (FDP) ...... 9974 A DIE GRÜNEN) ...... 9964 C (DIE LINKE) ...... 9975 B Karin Roth, Parl. Staatssekretärin BMVBS ...... 9965 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9977 A

Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Anlage 11 des Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Aufwendungen für die Prozesskosten- des Antrags: Weg vom Öl im Kunststoffbe- hilfe (Prozesskostenhilfebegrenzungsgesetz – reich – Chance der Novelle der Verpackungs- PKHBegrenzG) (Tagesordnungspunkt 19) verordnung nutzen und mit Biokunststoffen Elisabeth Heister-Neumann, echte Kreisläufe schließen (Tagesordnungs- Ministerin (Niedersachsen) ...... 9966 B punkt 21) Dirk Manzewski (SPD) ...... 9967 B Michael Brand (CDU/CSU) ...... 9977 D Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 9968 A (SPD) ...... 9978 D Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 9969 A Horst Meierhofer (FDP) ...... 9980 B Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9970 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 9981 A Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ BMJ ...... 9971 A DIE GRÜNEN) ...... 9981 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9803

(A) (C) Redetext

97. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Überweisungsvorschlag: Die Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle Sportausschuss Ausschuss für Gesundheit herzlich und wünsche uns einen fröhlichen Morgen und einen erfolgreichen Tag. ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP 29) Die Kollegin Angelika Graf (Rosenheim) und der a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- Kollege Rainer Fornahl feiern heute ihren 60. Ge- ten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten Gesetzes zur burtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes herzlich und wünsche alles Gute. (22. BAföGÄndG) – Drucksache 16/5172 – (Beifall) Überweisungsvorschlag: Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass die Kollegin Ausschuss für Bildung, Forschung und (B) Technikfolgenabschätzung (f) (D) aus dem Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Ausschuss für Arbeit und Soziales Zollfahndungsdienstgesetzes ausscheidet. Als Nachfol- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ger wird der Kollege Dr. Rainer Wend vorgeschlagen. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Sind Sie damit einverstanden? – Das ist so. Dann ist der Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Max Stadler, Kollege Dr. Rainer Wend zum Mitglied dieses Gremi- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ums nach dem Zollfahndungsdienstgesetz gewählt. Beitritt des Bundes zum Rechtsstreit des Landes Die Kollegin hat ihr Amt als Schriftfüh- Schleswig-Holstein gegen die EU-Kommission rerin niedergelegt. Als Nachfolger schlägt die Fraktion – Drucksache 16/4607 – der SPD den Kollegen Dr. Gerhard Botz vor. Sind Sie Überweisungsvorschlag: auch damit einverstanden? – Es hat hier schon stärkere Rechtsausschuss (f) Auseinandersetzungen gegeben. – Das ist offenkundig Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen auch der Fall. Dann haben wir das so vereinbart. Union Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und geführten Punkte zu erweitern: der Fraktion der LINKEN Irakische Flüchtlinge in die EU aufnehmen – In ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU Deutschland lebende Iraker und Irakerinnen vor Ab- und der SPD: schiebung schützen Aktuelle wirtschaftliche Entwicklung und Lage auf dem Arbeitsmarkt – Drucksache 16/5248 – ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN: Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) zu der Antwort der Bundesregierung auf die dringliche Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Frage Nr. 3 auf Drucksache 16/5236 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen (siehe 96. Sitzung) Union ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Bärbel Höhn, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abge- der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ordneter und der Fraktion der LINKEN Konkrete Maßnahmen und verbindliche Strukturen für Unternehmen leistungsgerecht besteuern – Einnah- bessere Ernährung und mehr Bewegung umsetzen men der öffentlichen Hand stärken – Drucksache 16/5271 – – Drucksache 16/5249 – 9804 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: (C) Finanzausschuss (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Finanzausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Hermann, Fritz Kuhn, Peter Hettlich, weiterer Abgeord- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Verbraucherschutz NEN Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Schieneninfrastruktur ist öffentliche Aufgabe – Mora- Entwicklung torium für die Privatisierung der Deutsche Bahn AG Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 16/5270 – Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: ZP 8 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Zweiter Bericht zur Realisierung der Ziele des Bologna- Innenausschuss Prozesses Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/5252 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Ausschuss für Bildung, Forschung und Reaktorsicherheit Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Tourismus Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn) und der Fraktion des ZP 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der FDP und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Einrichtung des Europäischen Technologieinstituts Haltung der Bundesregierung zur Finanzierung des ge- abwenden – Bestehende europäische Förderstruktu- planten Ausbaus von Kinderkrippen ren stärken und weiterentwickeln – Drucksache 16/5254 – Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- weit erforderlich, abgewichen werden. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus- Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen aufmerksam: Der in der 73. Sitzung des Deutschen Bun- Union destages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf der Haushaltsausschuss Bundesregierung soll zusätzlich dem Ausschuss für Bil- ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (B) dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Aus- (D) (Ergänzung zu TOP 30) schuss) zur Mitberatung überwiesen werden: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- Entwurf eines … Strafrechtsänderungsgeset- braucherschutz (10. Ausschuss) zu der Unterrichtung zes zur Bekämpfung der Computerkriminali- durch die Bundesregierung tät (… StrÄndG) Grünbuch Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstands im – Drucksache 16/3656 – Verbraucherschutz KOM (2006) 744 endg.; Ratsdok. 6307/07 überwiesen: Rechtsausschuss (f) – Drucksachen 16/4635 Nr. 2.20, 16/5272 – Innenausschuss Berichterstattung: Ausschuss für Bildung, Forschung und Abgeordnete Julia Klöckner Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Hans-Michael Goldmann Karin Binder Der in der 95. Sitzung des Deutschen Bundestages Ulrike Höfken überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitbera- Hellmut Königshaus, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter tung überwiesen werden: und der Fraktion der FDP Neue Strategien für die deutsche Entwicklungszusammen- Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Daniel arbeit mit Afrika erarbeiten und durchsetzen Bahr (Münster), Heinz Lanfermann, weiterer Ab- – Drucksache 16/5243 – geordneter und der Fraktion der FDP Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Nichtraucherschutz praktikabel und mit Au- Entwicklung (f) genmaß umsetzen Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 16/5118 – Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss überwiesen: Ausschuss für Gesundheit (f) ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandel im Hinblick Verbraucherschutz auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012 Ausschuss für Arbeit und Soziales – Drucksache 16/5240 – Ausschuss für Tourismus Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9805

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Der Tagesordnungspunkt 24 – hier handelt es sich um Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung erhält (C) den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Passgeset- nun der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft zes und weiterer Vorschriften – und der Tagesordnungs- und Verbraucherschutz, Horst Seehofer. punkt 25 – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Gesetze – wer- Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung, den abgesetzt. Ich vermute, dass Sie auch mit diesen Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Vereinbarungen einverstanden sind. – Dann ist das so beschlossen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Prävention ist bekanntlich noch immer die beste Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b Medizin. Sie ist notwendig; denn in Deutschland – wie sowie den Zusatzpunkt 3 auf: auch in allen anderen Industrienationen – nimmt die Zahl der Krankheiten zu, die durch frühzeitige Präven- 3 a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie- tion vermieden werden könnten. Das gilt für Fehlernäh- rung rung, das gilt für Übergewicht, das gilt für Bewegungs- Gesunde Ernährung und Bewegung – Schlüs- mangel. All dies beeinträchtigt die Lebensqualität vieler sel für mehr Lebensqualität Menschen, und diese Krankheiten können die Lebenser- wartung verkürzen und bewirken hohe Kosten für Ge- (Dr. [FDP]: Bravo!) sundheits- und Sozialsysteme. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Die Bundesregierung hat deshalb gestern ein Eck- Bleser, Julia Klöckner, Ursula Heinen, weiterer punktepapier beschlossen, das die Grundlage für einen Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- nationalen Aktionsplan zur Prävention von Fehlernäh- wie der Abgeordneten Volker Blumentritt, rung, Bewegungsmangel, Übergewicht und den damit zu- Mechthild Rawert, Waltraud Wolff (Wolmirstedt), sammenhängenden Krankheiten sein soll. Denn dies ist weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD eine der größten gesundheits- und ernährungspolitischen Förderung gesundheitsrelevanten Verhaltens Herausforderungen der kommenden Jahre. Übergewicht zur Prävention von Fehl- und Mangelernäh- und Adipositas, also Fettleibigkeit, sind maßgeblich be- rung, Übergewicht und Bewegungsmangel ins- teiligt an der Entstehung von Zivilisationskrankheiten besondere bei Kindern und Jugendlichen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ II sowie Rücken- und Gelenkbeschwerden. – Drucksache 16/5258 – Überweisungsvorschlag: Eine bedarfsgerechte Versorgung mit Nährstoffen und (B) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ausreichend Bewegung bilden die Grundlagen für Ge- (D) Verbraucherschutz (f) sundheit und Leistungsfähigkeit in allen Altersgruppen. Sportausschuss Es gibt schon vielfältige Aktivitäten auf nationaler und Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie europäischer Ebene sowie durch die Weltgesundheitsor- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ganisation. Durch all diese Aktivitäten wurde bisher aber Ausschuss für Gesundheit keine Trendwende herbeigeführt. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Mit unserem Aktionsplan verfolgen wir daher die Technikfolgenabschätzung Ziele, die zum Teil durchaus erfolgreichen Projekte im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss staatlichen und im nichtstaatlichen Bereich zu identifi- zieren, zu vernetzen, besser aufeinander abzustimmen ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike und als Qualitätsstandards für künftige Aktivitäten zu Höfken, Bärbel Höhn, Volker Beck (Köln), wei- implementieren sowie eine Verständigung über verstärkt terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- zu bearbeitende Schwerpunkte herbeizuführen. In die- NISSES 90/DIE GRÜNEN sem Aktionsplan werden konkrete Ziele, Handlungsfel- der und Maßnahmen festgelegt, um die Menschen in Konkrete Maßnahmen und verbindliche Struk- Deutschland in ihrem Bemühen um einen gesunden Le- turen für bessere Ernährung und mehr Bewe- bensstil mit ausgewogener Ernährung und ausreichender gung umsetzen Bewegung zu unterstützen und damit auch ihre Lebens- – Drucksache 16/5271 – freude zu erhöhen. Überweisungsvorschlag: Bevor ich auf Einzelheiten dieses Aktionsplans zu Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) sprechen komme, möchte ich eine Grundbotschaft voran- Sportausschuss stellen: Es geht der Bundesregierung nicht darum, dass Ausschuss für Gesundheit der Staat wieder einmal vorschreibt, wie die Bürgerinnen – Die Bewegung entsteht schon vor Beginn der Regie- und Bürger zu leben haben. Wir wollen keinen Staatsdi- rungserklärung. rigismus, keine von oben verordnete Moral der Lebens- führung und keinen Feldzug gegen die Menschen oder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für einzelne Produkte. Wir wollen die Menschen in ihrem die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- Bemühen um einen gesunden Lebensstil unterstützen. rung anderthalb Stunden vorgesehen. – Auch das können Beratung statt Bevormundung ist deshalb die General- wir offensichtlich so vereinbaren. linie dieses Projekts. 9806 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Bundesminister Horst Seehofer (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – ken. Es ist eine der ganz großen Herausforderungen in (C) Hans-Michael Goldmann [FDP]: Bisher lau- der Gesundheitspolitik, dass Altersdiabetes mittlerweile tete die Botschaft: Fit statt fett!) epidemische Auswirkungen im Kindheitsalter hat und dass wir hier nach allen Prognosen in den nächsten Jah- Ich möchte das auch von vielen anderen Dingen sau- ren noch drastische Erhöhungen erleben werden. Neben ber abgrenzen, die uns hier beschäftigen. Vor wenigen dem individuellen Leid wird das auch Unsummen an Be- Tagen haben wir hier über den Nichtraucherschutz de- handlungskosten verursachen; denn kaum eine Behand- battiert. Wenn es um einen potenziell gesundheitsgefähr- lung ist wegen der vielfältigen Folgeerkrankungen so denden Stoff geht, dann haben wir die Verpflichtung, teuer wie die Behandlung von Diabetes. Dabei ist die diesen gefährlichen Stoff von den Menschen fernzuhal- Hauptursache von Diabetes längst bekannt: falsche Er- ten. Genauso ist es in der Lebensmittelpolitik selbstver- nährung und zu wenig Bewegung. Wir wissen alle, dass ständlich, Lebensmittel aus dem Verkehr zu ziehen, die es dafür persönliche, soziale und historische Ursachen für die Menschen ohne Zweifel gesundheitsschädlich gibt. Für die Generation, die den Zweiten Weltkrieg und sind. die nachfolgenden Jahre mit Entbehrungen und Hunger (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Völliger erlebt hat, war es eine Wohltat, als es wieder Butter, Zu- Konsens!) cker, Nudeln und Fleisch gab. Diese Erfahrung aus der Notzeit wurde in vielen Familien weitergegeben und war Wenn es aber darum geht, den richtigen Gebrauch von auch eine Ursache für die Entwicklung der Folgezeit. Lebensmitteln zu erwirken, dann sind Verbote nicht die richtige Antwort. In diesen Nachkriegsjahren gab es zu wenig zu essen und genug Bewegung. Heute gibt es – jedenfalls in den Vor zwei Wochen bin ich Botschafter des Bieres ge- Industrienationen – in den allermeisten Fällen genug zu worden. essen, aber zu wenig Bewegung. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) FDP – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist die neue Vorbildrolle!) Wir wissen heute auch um die genetischen Struktu- ren, die die körperliche Konstitution festlegen. Niemand wird bestreiten, dass durch den bestimmungs- gemäßen Gebrauch, also den mäßigen Gebrauch, von (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt Bier keinerlei Gesundheitsgefahren hervorrufen wer- nicht!) den. Der Missbrauch von Alkohol kann aber sehr wohl gesundheitsschädlich sein. Dazu gehört auch, wie Studien ergaben, dass Menschen je nach genetischer Disposition ganz unterschiedliche (B) (Beifall bei der CDU/CSU) Essensverwerter sind. Untersuchungen haben zudem ge- (D) zeigt, dass sich die Ernährungsgewohnheiten im früh- Darum geht es: Die Menschen müssen über den richti- kindlichen Alter bis in die genetischen Strukturen nie- gen Gebrauch von Lebensmitteln informiert und auf- derschlagen und später nur schwer wieder verändert geklärt werden. Wir alle miteinander können hier immer werden können. wieder dazulernen. Alle diese Erkenntnisse zeigen, wie falsch es wäre, al- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Clever, aber len Menschen eine bestimmte Ernährung aufzuzwingen nicht vorbildlich, Herr Minister!) oder eine einheitliche Regel für ein ganzes Volk aufzu- Falsches Essen und zu wenig Bewegung führen bei stellen. Die Untersuchungen haben aber auch gezeigt, immer mehr Menschen zur Einschränkung ihrer Lebens- dass über die genetische oder historisch-soziale Verer- qualität. Ich sage noch einmal: Das betrifft nicht nur uns bung hinaus jeder Mensch hinsichtlich der Ernährung ei- Deutsche, sondern alle Industrienationen. Rund 1,6 Mil- nen eigenen disponiblen Handlungsbereich besitzt. Ge- liarden Menschen auf der Welt sind nach Angaben der schichte oder Gene können jedenfalls nicht mehr Weltgesundheitsorganisation übergewichtig. Besonders erklären, warum sich die Zahl der übergewichtigen und betrüblich ist, dass darunter 20 Millionen Kinder unter fettleibigen Kinder in der Zeit von 1985 bis 1999 ver- fünf Jahren sind. In Europa sterben jährlich mehr als doppelt hat. Man kann den Menschen als Ganzes nicht eine Million Menschen an durch Fettleibigkeit bedingten verändern, aber es gibt auch immer Möglichkeiten zu Krankheiten. neuen Einsichten und Verhaltensweisen. Heute gibt es bereits 14 Millionen Kinder in Europa (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mit Übergewicht. Die Folgen, die deshalb auf uns zu- kommen, sind offenkundig. Die Kosten für die Behand- Wenn einseitige Ernährung und Bewegungsmangel lung von Krankheiten, die durch Fehlernährung und Hauptursachen für Übergewicht sind, dann muss man Übergewicht mitbedingt sind, werden allein in Deutsch- hier ansetzen und versuchen, Verbesserungen zu errei- land mit 30 Prozent, also mit fast einem Drittel aller Ge- chen. Wir alle – mich eingeschlossen – kämpfen heute sundheitskosten kalkuliert. Das sind mehr als 70 Mil- mit manchen negativen Folgen unseres modernen Le- liarden Euro. bensstils. In unserer hochindustrialisierten und techni- sierten Welt verbrauchen wir in unserer Arbeit nur noch Alleine die Kosten für die Behandlung von Diabetes einen Bruchteil der Energie von früher. Es gibt immer belaufen sich auf 30 Milliarden Euro. Erschreckend ist, weniger Schwerarbeiter. Das ist auf der einen Seite ein dass 6 000 Kinder jährlich neu an Altersdiabetes erkran- Segen und auf der anderen Seite eine Herausforderung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9807

Bundesminister Horst Seehofer (A) Moderne Maschinen ersetzen unsere Körperkraft. Autos Ich sage hier als der für Ernährung zuständige Minister: (C) und Aufzüge nehmen uns unsere täglichen Schritte ab. Wir können heute trotz aller Skandale, die gelegentlich In den letzten 40 Jahren ist der notwendige Kalorienver- als Einzelfälle auftreten, auf die hohe Qualität unserer brauch bei Männern um 40 Prozent, bei Frauen um Lebensmittel zu Recht stolz sein. Ich sage auch hier den 30 Prozent zurückgegangen. Satz: Die Qualität der Lebensmittel ist heute so hoch wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Es kommt auf Unsere Ernährung hat sich diesen reduzierten Anfor- den richtigen Gebrauch der Lebensmittel an. derungen jedoch nicht angepasst. Hinzu kommt die Ver- änderung unserer Nahrungsmittel insgesamt. Mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Blick auf Fastfood, Fertigprodukte und funktionelle Le- neten der SPD) bensmittel kommt es einem so vor, als hätte sich das, Deshalb wäre eine Olympiade der Verbote völlig falsch. was wir essen, in den letzten 30 Jahren stärker verändert Wir setzen auf Vernunft statt auf Vorschriften. als in den 30 000 Jahren davor. Es ist heute wichtiger denn je, dass wir wieder einen kenntnisreichen, verant- (Beifall bei der CDU/CSU) wortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln pflegen. Die Zeiten, in denen gutes Essen alleine einer gehobe- In gleicher Weise haben sich die Lebensumstände nen Gesellschaftsschicht vorbehalten war, sind glückli- der Kinder in den letzten Jahrzehnten drastisch verän- cherweise vorbei. Heute haben alle Menschen in unse- dert. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir viel auf rem Lande genügend Möglichkeiten, gute und gesunde der Straße, im Wald oder im Park gespielt haben. Diese Lebensmittel zu kaufen. Leider sind besonders Kinder Straßenkindheit im positiven Sinne ist weitgehend verlo- aus sozial benachteiligten Familien und solche mit rengegangen. Jetzt sitzt ein Kind im Durchschnitt fünf Migrationshintergrund von Fehlernährung und mitunter Stunden vor dem Computer, dem Fernsehgerät oder der von Unterernährung betroffen. Dabei ist gesundes Essen Spielkonsole. Diese Zeit geht für das Herumtollen, Fuß- längst keine Frage des Geldbeutels mehr. Wir müssen ballspielen oder Fahrradfahren verloren. Bewegung, die uns an alle Bevölkerungsschichten wenden und konse- früher selbstverständlich war, muss wieder künstlich er- quent über richtiges Ernährungsverhalten aufklären. Ich lernt werden. Das gilt auch für uns Erwachsene. Sportli- bin weiten Teilen der deutschen Lebensmittelwirtschaft che Betätigung bleibt in unserem modernen und hekti- dankbar, dass sie ihrerseits in Eigenverantwortung eine schen Alltag oft auf der Strecke. nicht irreführende, sondern eine hilfreiche Aufklärung und Information der Verbraucher betreibt. Wir Deutschen sollen sogar ganz besondere Bewe- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) gungsmuffel sein, wie internationale Studien zeigen. (B) Laut der jüngsten Umfrage treiben nur 21 Prozent der Wichtig ist, dass die Aufklärung auch in verändertes (D) Deutschen regelmäßig Sport. In anderen europäischen Verhalten mündet. Oft haben wir das Problem, dass sich Ländern ist dieser Wert doppelt so hoch. Die Bundesre- die besten Empfehlungen über gesunde Ernährung und gierung gibt deshalb mit dem Aktionsplan einen Start- Bewegung nur schwer mit unseren beruflichen Anforde- schuss zur Prävention von Fehlernährung, Übergewicht rungen und dem individuellen Tagesablauf vereinbaren und damit zusammenhängenden Krankheiten. lassen. Mit Vorsätzen verhält es sich wie mit Aalen: Manches ist leichter zu fassen als zu halten. Deshalb Erstens brauchen wir mehr Forschung im Bereich müssen wir die Menschen durch eine gute Infrastruktur Ernährung und Gesundheit. Ich erinnere beispielsweise stärken und ihnen aufzeigen, wie man ungesunde Ernäh- an die weit verbreiteten Ernährungsirrtümer. Bis vor kur- rungsgewohnheiten ablegen und Bewegungsarmut über- zem standen zum Beispiel Eier als gefährliche Choleste- winden kann. rinbomben oder Nüsse als fette Dickmacher auf dem In- dex. Mittlerweile gibt es hier völlig neue Erkenntnisse. Drittens. Wir wollen den Schwerpunkt auf die Prä- Heute darf und soll man wieder sein Frühstücksei essen, vention legen. Ich verweise auf die jüngste Gesundheits- und Nüsse sind wegen ihrer ungesättigten Fettsäuren reform – oft kritisiert, aber in diesem Punkt völlig unter- wieder wertvoll. Ich darf Ihnen in diesem Zusammen- schätzt –, durch die die Prävention zu einem zentralen hang sagen: Wir haben die Ressortforschung in meinem Element gemacht wurde und die Unterstützung der ärzt- Verantwortungsbereich reformiert. Die Ernährung wird lichen Vorsorgeleistungen massiv nach vorne getrieben in diesem reformierten Forschungskonzept einen ganz wird, zum Beispiel durch einen konsequenten Gesund- wichtigen Platz einnehmen. heitscheck zur Früherkennung von Herz-Kreislauf- Erkrankungen für Menschen, die in der gesetzlichen (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt Krankenversicherung versichert sind. Wir brauchen indi- ja nicht!) viduellere Programme der Krankenkassen. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass man, wenn man für alle Zweitens. Wir müssen mehr Aufklärung über das Gleiche tut, für einige zu viel und für andere zu we- gesunde Lebensmittel leisten. Wir sollten keinen nig macht. Das geschah oft mehr unter Werbegesichts- Kampf gegen Lebensmittelprodukte oder die Lebensmit- punkten der Sozialversicherung und weniger mit dem telwirtschaft führen, sondern in erster Linie für einen Ziel, den Menschen mit ihren individuellen Anliegen zu vernünftigen Gebrauch von Lebensmitteln tätig sein. helfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Die ersten Jahre der Kindheit haben entscheidenden bei Abgeordneten der FDP) Einfluss auf das künftige Körpergewicht; das wissen wir 9808 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Bundesminister Horst Seehofer (A) alle. Deshalb ist es besonders wichtig, bereits bei Klein- und was zu konsumieren ist. Das Problem dabei ist, dass (C) kindern ein Bewusstsein für gesunde Ernährung und auch viele Lebensmittel, die mit einem roten Punkt ver- mehr Bewegung zu wecken. Das geht in erster Linie in sehen würden – denken Sie an Fettprodukte –, sehr wohl der Familie. Das ist aber auch in den Kitas und den wichtige Nährwertstoffe für die Menschen beinhalten Schulen notwendig. Ich bemühe mich nachhaltig, die und dass es hierbei auch wieder darauf ankommt, sie in Kultusminister zu gewinnen, für das Thema Ernährung richtigem Maß zu gebrauchen und nicht im Übermaß. wieder als wichtigen und regelmäßigen Bestandteil un- Ein reiner roter Punkt könnte sehr schnell dazu führen, seres Schulunterrichts zu werben. dass die Menschen die Finger von etwas lassen, das, in richtigem Maße verwendet, sehr wohl als Nährstoff für (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das kann den menschlichen Körper notwendig ist. jeder machen!) Lassen Sie uns darüber weiter nachdenken. Dabei Dabei geht es nicht nur um graue Theorie, sondern auch lohnt es sich auch, streitig zu diskutieren. Aber, Frau um die konkrete Praxis. Wir haben gemeinsam mit den Künast, wenn Sie das jetzt als das Allheilmittel ansehen, deutschen Landfrauen und der Plattform „Ernährung wie ich es in den letzten Tagen lesen durfte, dann frage und Bewegung“ einen Ernährungsführerschein entwi- ich mich, warum Sie in den vielen Jahren, in denen Sie ckelt. Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass es an- vor mir Verantwortung trugen, dieses Punktesystem gesichts der zum Teil schwierigen motorischen Ent- nicht realisiert haben. wicklungen bei Kindern nachhaltig wünschenswert wäre, dass der Schulsport für Kinder und Jugendliche (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wieder einen deutlich höheren Stellenwert in Deutsch- neten der SPD und der FDP) land bekommt. Ich möchte auch die Plattform Ernährung und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Bewegung in Deutschland nicht unerwähnt lassen. Das FDP) ist ein Zusammenschluss von Politik, Wirtschaft, Wis- senschaft, Sport, Eltern und Ärzten. Da gab es zahlrei- Wir brauchen viertens eine Veränderung der Struktu- che Initiativen und Projekte. Ich würde mir wünschen, ren im Alltag. Denken Sie nur an unsere Esskultur. Das dass wir das Potenzial dieser Plattform künftig noch betrifft uns auch persönlich sehr stark. Jede dritte Mahl- besser ausschöpfen. Dazu würde gehören, dass sich zeit wird außer Haus konsumiert. Wir sind deshalb mit noch mehr Bundesländer dieser Plattform freiwillig an- Krankenhäusern, Kitas, Seniorenheimen und Betriebs- schließen. kantinen in Kontakt, um diese Verpflegung bedarfsge- recht und gesund zu gestalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (B) Wir wollen bundesweite Qualitätsstandards – nicht (D) durch Paragrafen, sondern eigenverantwortliche, von der Der Beitrag dafür ist geringer, als es oft bei einem Sport- Politik unterstützte Qualitätsstandards – und vor allem verein der Fall ist. Ich würde mir wünschen, dass wir auch die Möglichkeit, gutes Essen zu einem fairen Preis diese Plattform so in das Bewusstsein der Bevölkerung in Kantinen und ähnlichen Einrichtungen, vor allem in bringen, dass diese sehr segensreiche Arbeit gerade in Schulen, anzubieten. den Schulen noch stärker angenommen wird. Wir haben uns deshalb entschlossen, in Nordrhein- Wir haben vor kurzem gemeinsam mit dem Gesund- Westfalen ab dem 1. Januar des nächsten Jahres kosten- heitsministerium und der EU eine Konferenz zu dem frei bzw. deutlich kostenreduziert in den Schulen Milch Thema „Gesunde Ernährung und mehr Bewegung“ oder Milchprodukte anstelle von Cola Light und anderen durchgeführt. Alle Mitgliedstaaten in Europa waren sich Softgetränken anzubieten. Das wird die Bundesregie- unter unserer Präsidentschaft über zwei Ziele einig: Bis rung unterstützen. zum Jahr 2020 wollen wir die Zunahme des Überge- wichts bei Kindern stoppen und die Zahl übergewichti- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ger Menschen in Europa verringern. neten der SPD) Ich bin froh über einen solchen Zeitraum; denn unser Ich möchte auch ein Wort zur Lebensmittelkenn- Aktionsplan soll kein Aktionismus sein. Wir verstehen zeichnung sagen. Wenn wir vom aufgeklärten, infor- ihn vielmehr als einen Dauerprozess, der in der Realität mierten Bürger sprechen, sind Transparenz und auch die etwas nachhaltig verändert. Auf diese Nachhaltigkeit Kennzeichnung ein ganz wichtiges Mittel. Ich habe da- kommt es ganz entscheidend an. Wir dürfen uns nicht bei gewisse Vorbehalte, nämlich dass die Kennzeich- mit einer Bundestagsdebatte oder mit einer politischen nung in einem Umfang gestaltet ist, dass sie fast an die Diskussion begnügen. All dies, was jetzt an Vorschlägen Medikamentenbeipackzettel heranreicht, mit der Folge, auf dem Tisch liegt oder im Rahmen der Debatte über dass die abschreckende Wirkung bzw. die Desinforma- den Aktionsplan noch eingeführt wird, muss realisiert tion oft größer ist als die Hilfe für die Leser des Bei- werden. Wir werden hierbei nur nachhaltig und nicht mit packzettels. Die Informationen dürfen nicht irreführend Aktionismen vorwärts kommen. sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es kommt immer der Vorschlag, mit dem ich mich neten der SPD) schon seit Monaten beschäftige: Wir machen einen roten Punkt, einen gelben Punkt, einen grünen Punkt. Dann Ich bitte, dass wir diese Diskussion auf der einen hat die Bevölkerung eine Information, was wegzulassen Seite natürlich mit dem nötigen Ernst und mit Elan, auf Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9809

Bundesminister Horst Seehofer (A) der anderen Seite aber auch mit Spaß und Freude führen, ein Verbraucherinformationsgesetz auf den Weg ge- (C) nicht verbiestert. Mir ist manches in den letzten Tagen bracht, mit dem Sie gescheitert sind. Insofern ist zwi- schon wieder zu verbissen und zu verbiestert vorgekom- schen dem, was Sie wollen, und dem, was dann wirklich men. Ich glaube, dass man nur mit einer gesunden, zu- politisch erreicht wird, eine Riesenkluft. Unter dieser versichtlichen und freudigen Grundeinstellung, die die Kluft leidet die Politik in Deutschland und die Politik, Quelle jeder Veränderung ist, die Menschen mitnimmt die aus Ihrem Haus kommt. Das ist schlecht für die Ver- und in der Realität etwas in Richtung mehr Lebensquali- braucher und für die Menschen in Deutschland. tät für die Menschen verändert. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ulrike Vielen Dank. Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen, weil meiner Meinung nach zwischen dem, was Sie sa- Präsident Dr. Norbert Lammert: gen, und dem, was dann passiert, der rote Faden fehlt, Ich eröffne die Aussprache. auch der rote Faden der Gemeinsamkeit dieser Regie- rung. Das Wort erhält zunächst der Kollege Hans-Michael Goldmann für die FDP-Fraktion. (Detlef Parr [FDP]: Richtig!) (Beifall bei der FDP) Sie haben die Versorgung der jungen Menschen in der Schule mit Schulspeisung angesprochen. Sie erklären, die Mehrwertsteuer auf die Weitergabe dieser Produkte Hans-Michael Goldmann (FDP): in den Schulen solle wegfallen. Die zuständige Staats- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sekretärin erklärt jedoch im Finanzausschuss, davon Kollegen! Ich will nicht verhehlen, dass ich mich durch- könne überhaupt keine Rede sein, die Bundesregierung aus mit der Antwort auf das, was Sie, Herr Minister, gehe an die Mehrwertsteuerdiskussion nicht heran, das eben hier vorgetragen haben, schwer tue, sei in der Koalitionsvereinbarung so vereinbart. Was gilt (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Dann lassen Sie also? Warum diese Überschrift, Herr Seehofer, und der es!) Mangel an Inhalt? weil sehr viele schöne Worte aneinandergereiht und sehr (Beifall bei der FDP) viele Botschaften ins Land geschickt wurden, über die Sie sagten, dass Sie die Ressortforschung verstärken. hier im Haus absoluter Konsens besteht und die wir, die Sie hätten gestern an der Anhörung des Ausschusses teil- (B) wir im Bereich Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- nehmen sollen. Sie reduzieren die Institute im Ernäh- (D) cherschutz tätig sind, die wir zum Teil Mitglied der rungsbereich von 17 auf acht. Plattform Ernährung und Bewegung sind, eigentlich alle kennen. Wir bemühen uns intensiv darum, sie durch (Detlef Parr [FDP]: Hört! Hört!) Information und Bildung an den mündigen Bürger he- ranzutragen, sodass er sein eigenes Verhalten daran Nennen Sie das Verstärkung im Bereich der Ressortfor- orientieren kann, ob die Ernährungsaufnahme mit sei- schung? Nennen Sie die permanente Reduzierung des nem Bewegungsverhalten im Einklang ist. Das ist die Personals in diesem Bereich Verstärkung der Ressortfor- entscheidende Voraussetzung für gesellschaftliche Teil- schung? habe. Man soll so fit sein, dass man den Herausforderun- (Beifall bei der FDP) gen, vor denen man steht, gerecht wird. Nehmen wir einen anderen Punkt: die Ampelkenn- (Beifall bei der FDP) zeichnung. Ich bin hundertprozentig auf Ihrer Seite und Ich frage mich schon, warum Sie eigentlich erst ein- finde, dass man endlich einmal lernen soll. Die Englän- einhalb Jahre nach Regierungsübernahme diese doch im der, die dieses Modell zu verwirklichen versucht haben, Kern sehr dünne Botschaft verkünden. Wenn man Ihr sind damit gescheitert. Es ist dumme Politik, wenn man Eckpunktepapier betrachtet, dann stellt man fest, dass ein bestimmtes Nahrungsmittel mit einem roten Punkt darin außerordentlich wenig Substanzielles steht. und ein anderes mit einem grünen Punkt kennzeichnet. Sie haben das an einem Beispiel belegt. Butter ist bei (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ vernünftigem Konsum ein gutes Produkt. Wer natürlich DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ jede Menge Butter auf seine Brötchen schmiert und sich CSU]: Na dann mal los!) davon morgens vier Stück hereinzieht, der liegt natür- lich völlig falsch. Das brauchen Sie aber nicht uns zu Sie tun sich selbst damit keinen Gefallen; denn Sie ha- erklären, das müssen Sie Ihrer Ministerkollegin erklä- ben einen gewissen Ruf als Ankündigungsminister und ren. Frau Schmidt hat doch gesagt, wie wunderbar die als Aktionsminister. Ampelkennzeichnung ist. Bei Ihnen sind die Dinge un- (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Das war die geordnet. Deswegen kann ich aus meiner Sicht nur sa- Vorgängerin!) gen, dass zwischen Ihren Worten hier und dem Inhalt, den Sie in Ihrem Eckpunktepapier transportieren, Wel- Sie haben ein Aktionsprogramm zur Bekämpfung des ten klaffen. Gammelfleischs aufgelegt. Damals waren es zehn Punkte. Heute hat Ihr Programm fünf Punkte. Sie haben (Beifall bei der FDP) 9810 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Hans-Michael Goldmann (A) Ich habe heute Morgen mit meiner Mitarbeiterin ge- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wer (C) sprochen. Deren kleine Tochter von acht Jahren hat sie hindert die Wirtschaft denn?) gefragt: Mama, bin ich zu dick? – Ich finde es sehr gut, was Sie in puncto Vorsicht und Stigmatisierung gesagt Herr Seehofer, ich habe sehr viele Veranstaltungen haben. Allerdings steht diese Kampagne doch unter dem zum Thema Plattform Ernährung und Bewegung durch- Motto „Fit statt fett“. Ich halte das für außerordentlich geführt und an sehr vielen parlamentarischen Abenden problematisch. Lassen Sie uns an diese Dinge mit Vor- und Begegnungen mit Wirtschaftsvertretern teilgenom- sicht, mit Nachsicht und auch mit Toleranz herangehen! men. Sie habe ich dort nie gesehen. Warum sprechen Sie Manch einer bleibt dick, obwohl er sich Mühe gibt, ab- mit der Wirtschaft so wenig, um zu guten Lösungen zu zunehmen. kommen? Warum gehen Sie nicht auf die Wirtschaft zu, um klarzustellen, dass die Politik im Einklang mit der (Detlef Parr [FDP]: Richtig!) Wirtschaft für mehr Wettbewerb, für mehr Marktöffnung – und zwar nicht nur im nationalen, sondern im globalen Wir müssen alle Menschen in unsere Gesellschaft ein- Bereich – sorgen will? binden, und wir müssen auch dicke Menschen als gleich- wertige Geschöpfe betrachten. Auf Stigmatisierungen Sehr geehrter Herr Minister, was ist die Aufgabe der müssen wir mit äußerster Vorsicht reagieren. Politik? Wir müssen uns Wege überlegen, wie wir an die Menschen herankommen. Ich kann Ihnen nur empfeh- (Beifall bei der FDP) len: Gehen Sie gemeinsam mit allen Fraktionen des Sie haben sich vorhin sehr klug und sehr clever als Deutschen Bundestages vor! Warum scheitern so viele Botschafter des Bieres dargestellt. Ich verstehe das. Von Appelle, Kampagnen? Warum besteht die Gefahr, dass Ernährungsverhalten habe ich Kenntnisse; ich habe das Ihr inhaltsloser Aktionsplan ebenfalls scheitern wird? Fach Ernährung schließlich einmal studiert und im Weil Sie keine moderne Ernährungskommunikation Grunde genommen auch gelehrt. Sie bewegen sich auf praktizieren! sehr dünnem Eis. Ich glaube, unsere Vorbildrolle muss Herr Minister, es geht darum, zu motivieren, statt zu noch deutlicher werden. Wir müssen uns diejenigen zum belehren, zu reflektieren, statt zu bekehren, mitzuma- Vorbild nehmen, die versuchen, einen Einklang zwi- chen, statt zu erklären, zu erleben, statt zuzuschauen. schen vernünftiger Ernährung und Bewegung herzustel- Wenn Sie diesen Weg gemeinsam mit uns beschreiten, len. Diese Vorbilder müssen wir dann auch besser he- dann können wir mit dieser außerordentlich notwendi- rausstellen, damit Menschen Ernährungskompetenz gen Aktion, die Sie hier auf den Weg gebracht haben, erwerben. Mit dieser Kompetenz können sie dann mün- mit diesem außerordentlich notwendigen Anliegen ge- dige Mitglieder der Gesellschaft werden. meinsam Erfolg haben, und das wird den Menschen in (B) (D) Ich finde es gut, dass Sie die Rolle der Wirtschaft und Deutschland guttun. die großartige Leistung der deutschen Ernährungswirt- Herzlichen Dank. schaft insgesamt angesprochen haben. Aber nehmen Sie doch auch ein bisschen mehr Rücksicht auf die Selbst- (Beifall bei der FDP) verpflichtungsbemühungen der Wirtschaft. Zum Bei- spiel gab es eine Vereinbarung mit dem Hotel- und Präsident Dr. Norbert Lammert: Gaststättengewerbe, die vorsah, zahlreiche Maßnah- Das Wort erhält nun der Kollege Volker Blumentritt, men zu ergreifen, um den Schutz der Nichtraucher in SPD-Fraktion. den Gaststätten zu verbessern. Warum streben Sie ge- setzliche Regelungen an, bevor das Hotel- und Gaststät- tengewerbe überhaupt die Möglichkeit hatte, diese Volker Blumentritt (SPD): Selbstverpflichtung zu erfüllen? Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da es heute um Ernährung (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: und Bewegung geht, hatte ich eigentlich vor, jeden auf- Oh!) zufordern, eine Liegestütze oder eine Kniebeuge zu ma- Ich bin nicht mit allen Anstrengungen der Wirtschaft chen. einverstanden. Wenn Sie aber verfolgen, was Ihnen ge- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rade in den letzten Tagen an Informationen aus der Wirt- Mit einer kommen wir nicht weiter!) schaft auf den Tisch gekommen ist, dann werden Sie ganz klar erkennen, dass der gesamte ernst zu nehmende Herr Goldmann, dieses Thema ist sehr wichtig. Man Wirtschaftsbereich eindeutig für eine Nährwertkenn- sollte es wirklich mit allem Ernst betrachten. Ernährung zeichnung ist. und Bewegung können in dieser Welt viel Freude ma- chen. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dann können sie es doch machen!) (Beifall der Abg. Julia Klöckner [CDU/CSU]) Sie wissen sicherlich sehr genau, dass weite Teile der Sehr geehrter Herr Minister, ich bedanke mich aus- Wirtschaft sehr wohl wissen, dass dieser Bereich nur im drücklich für Ihre Ausführungen. Mit dem heutigen Tag Einklang mit dem Verbraucher auf einen guten Weg ge- haben Sie wieder ein Thema in den Fokus gerückt, das bracht werden kann. Allerdings müssen wir das Ge- nicht nur Gesundheit und Bewegung, sondern auch Le- spräch mit der Wirtschaft dann auch suchen. bensfreude zum Inhalt hat. Ich wiederhole: Dafür be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9811

Volker Blumentritt (A) danke ich mich ausdrücklich. Wir alle haben unseren wachsene werden. Prävention muss aus diesem Grunde (C) Anteil daran gehabt. zwangsläufig vor Intervention stehen; Herr Minister, Sie hatten das gesagt. Eine Therapie zur Reduzierung von Wir nehmen mit Freude zur Kenntnis, dass Sie der Übergewicht, ob im Kindes- oder im Erwachsenenalter, Aufforderung der Europäischen Kommission gefolgt führt sehr selten nachhaltig zum Erfolg und ist mit enor- sind und nun einen nationalen Aktionsplan vorgelegt men Aufwendungen verbunden, die in der Regel ge- haben. Mit der Verabschiedung des Grünbuches der samtgesellschaftlich getragen werden müssen. Was Europäischen Kommission zur Förderung gesunder Er- Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Aufgrund nährung und körperlicher Bewegung wurden die Mit- dieser Erkenntnis müssen wir Hans und Gretel bereits in gliedstaaten im Jahre 2005 angehalten, nationale Strate- ihrer frühesten Kindheit erreichen. gien zur Verhinderung von Übergewicht und chronischen Krankheiten zu entwickeln. Es ist gut, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hier bereits die Vorgängerregierung wertvolle Weichen der FDP) gestellt hat. Auch das sollte man an dieser Stelle einmal Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen sind erwähnen. unserer Meinung nach geeignete Orte, an denen Kinder Deutschland wird in Europa häufig als Vorreiter be- und Jugendliche etwas über ausgewogene Ernährung zeichnet, wenn es um die Entwicklung von Maßnahmen und gesunde Lebensweise lernen können. zur Reduzierung von Übergewicht geht. So wird die Ini- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Länder- tiative der nationalen Plattform Ernährung und Bewe- sache!) gung stets als Vorbild für die Gründung der europäischen Plattform angeführt, die im März 2004 ins Leben geru- An diesen Orten – dieser Punkt ist für eine Einfluss- fen wurde. Doch in jüngster Zeit wurde durch die Veröf- nahme wahrscheinlich noch viel wichtiger – können He- fentlichung der Ergebnisse neuester Studien nur allzu ranwachsende darüber hinaus gesunde Verhaltensweisen deutlich, dass wir dieses Engagement leider bitter nötig leben lernen, und dies unabhängig von ihrem sozialen haben. Die Deutschen belegen aktuell einen der vorders- Status. Schulen und Kindergärten müssen als Lebens- ten Plätze auf der Liste der – ich sage es vorsichtig – et- welten verstanden werden. Wenn wir diese Erkenntnis was korpulenten Menschen, um nicht andere Ausdrücke verinnerlichen, müssen wir diese Einrichtungen mit an- zu gebrauchen. deren Augen sehen und im Bereich der Gemeinschafts- verpflegung, der Umfeldgestaltung, aber auch bei der Das Thema Übergewichtsprävention ist nicht neu, Gestaltung von Zeitabläufen, zum Beispiel bei der Ein- sondern schon lange ein Dauerbrenner; seit Jahren wird planung geregelter und ausreichender Essenszeiten, an- die Öffentlichkeit mit Berichten und Zahlen zur Verfet- dere Prioritäten setzen. (B) tung der Gesellschaft in Alarmbereitschaft versetzt. Des- (D) wegen freut es mich, dass dieses Thema heute im Fokus Meine Damen und Herren, das gemeinsame Einneh- steht. men von Mahlzeiten ist mehr als nur Nahrungsauf- nahme. Da Kinder einen Großteil des Tages in einer Kita Das Problem wurde ins Bewusstsein der Menschen oder Schule verbringen, müssen wir ihnen dort auch gerückt. Aber allen Informationen und aller Aufklärung Esskultur nahebringen. Dazu gehört die Atmosphäre in zum Trotz hat sich an den Bäuchen und Speckrollen der den Speisesälen der Schulen und Kindergärten ebenso Menschen nicht allzu viel geändert. Im Gegenteil, die wie ein appetitlicher Eindruck der Speisen, die schmack- Zahl der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen haft und gesund sein sollen. Dieser Punkt liegt mir als steigt stetig. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht ab- gelerntem Koch besonders am Herzen, und es tut mir sehbar. Erklärtes Ziel ist zurzeit nicht etwa, die Anzahl manchmal weh, wenn ich sehe, was manchmal produ- der Übergewichtigen zu reduzieren. Vielmehr müsste be- ziert wird. reits ein Stagnieren dieser Zahl als Erfolg gewertet wer- den. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Zielsetzung unseres Antrags muss sein, ein neues Er- nährungs- und Bewegungsbewusstsein zu schaffen. Wir In Zusammenarbeit mit den Ländern, denen im Bil- wollen neue Impulse auf dem Weg zur Trendwende set- dungsbereich die Verantwortung zukommt, müssen wir zen. In der im September 2006 vom Robert Koch-Insti- Konzepte erarbeiten, die umsetzbar sind und flächende- tut veröffentlichten Kinder- und Jugendgesundheits- ckend Verbreitung finden. Der Bund kann und soll sich studie konnten mehrere Hauptrisikofaktoren auf dem an dieser Stelle nicht mit dem Hinweis auf fehlende Weg zum Übergewicht ermittelt werden. Kompetenz aus der Verantwortung ziehen. In diesem Punkt gebe ich Ihnen recht; ich denke, dass ich diese (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Alle be- Einschätzung auch bei Ihnen herausgehört habe. Hier kannt!) gilt es, eigene und neue Instrumente, die einen ausrei- – Herr Goldmann, vorrangig wurde ein niedriger sozia- chenden Handlungsspielraum bieten, zu entwickeln. ler Status genannt. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Genau das woll- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja! Das ist ten wir doch in der Anhörung machen!) alles bekannt!) Ein hervorragend geeignetes Mittel zur Ansprache so- Außerdem belegt die Studie, dass aus 80 Prozent der di- zial benachteiligter Bevölkerungsgruppen stellt das Bun- cken Kinder im Laufe des Lebens übergewichtige Er- desprogramm „Soziale Stadt“ dar. An dieser Stelle ist 9812 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Volker Blumentritt (A) ein großer Dank an Herrn Minister Tiefensee auszuspre- len machen deutlich, dass wir hier von einem gesamtge- (C) chen. Durch dieses Programm konnten völlig neue Maß- sellschaftlichen Problem mit verheerenden Auswirkun- stäbe gesetzt werden; zu dieser Entwicklung hat auch gen, auch in ökonomischer Hinsicht, sprechen. unsere Vorgängerregierung ihren Beitrag geleistet. Gesundheit nimmt in einem hohen Maß Einfluss auf Durch dieses Programm konnten seit seinem Start im den Lebenslauf und auf den Erfolg oder Misserfolg von Jahre 1999 die Lebensbedingungen der Menschen in be- Biografien – insbesondere unserer Kinder. Übergewicht nachteiligten Stadtteilen bundesweit stabilisiert und hat gesundheitliche Folgen sowohl in körperlicher als verbessert werden. Als Ortsbürgermeister eines 25 000 auch in seelischer Hinsicht. Einwohner umfassenden Stadtteils, einer Großwohnsied- lung, weiß ich, wovon ich spreche. Wir haben Erfolge Hinzu kommt häufig eine allgemeine Lern- und gehabt. Ich denke, das kann man deutschlandweit ver- Leistungsschwäche. Wenn Kinder schon in der dritten mitteln. Unterrichtsstunde keine Nährstoffe, keine Kohlenhy- drate, keine Eiweißstoffe mehr haben, sind sie nicht in (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Weil wir vor der Lage, dem Unterricht in der fünften Stunde ordent- Ort was gemacht haben!) lich zu folgen. – Jawohl. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Wir reden also vor allem über gerechte Startchancen für unsere Kinder und Enkelkinder, der ersten Generation Im Rahmen des Programms konnten bis heute in zahl- des 21. Jahrhunderts. reichen Orten wertvolle Strukturen aufgebaut werden, die wir intensiv nutzen sollten. Bis heute führt der Be- Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam- reich der Gesundheitsförderung im Programm „Soziale keit. Stadt“ vor allem aufgrund mangelnder Kapazitäten eher (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie ein Schattendasein. des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Notwendigkeit einer Einbindung dieses Bereichs Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Binder, Frak- liegt jedoch auf der Hand. tion Die Linke. Ich habe mich deshalb sehr gefreut, dass wir bei- (Beifall bei der LINKEN) spielsweise im vergangenen Jahr auf einem Workshop (B) Vertreter der Plattform Ernährung und Bewegung und Karin Binder (DIE LINKE): (D) des Deutschen Instituts für Urbanistik bei uns in der Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Stadt begrüßen konnten, wo Experten mögliche Ansatz- Herren! In den letzten 30 Jahren haben sich unsere Le- punkte zur Gesundheitsförderung und Übergewichtsprä- bens- und Arbeitsbedingungen enorm verändert. Wir sit- vention in der Stadtentwicklung aufzeigten. Zahlreiche zen heute mehr als sieben Stunden täglich und gehen Möglichkeiten der Umsetzung konnten ermittelt werden. kaum noch zu Fuß. Wir haben immer mehr Stress und Gesundheitsförderung als fester Bestandteil in der Stadt- arbeiten unter enormem Termindruck. Wir haben nicht teilarbeit bietet große Chancen. Nur dort, in den Städten, mehr drei, sondern 30 Fernsehkanäle zur Auswahl und in den Stadtteilen, in den Quartieren, ist das Leben erleb- konsumieren nebenbei Fertigpizzen, Chips, Süßigkeiten, bar. Dort kann man vieles vermitteln. Dort bringt man Softdrinks und andere Kalorienbomben. Viele Kinder viel von dem herüber, was man will. und Jugendliche bewegen ihre virtuellen PC-Helden mehr als sich selbst. Nicht nur Kindergärten, Schulen, Jugendeinrichtun- gen, Sportvereine, Ärzte oder Städteplaner würden mit Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Überge- Bezug zu ihrem Tätigkeitsumfeld angesprochen und zu wicht und Bewegungsmangel nicht nur im Fehlverhalten Kooperationen angeregt, sondern wir würden die Men- Einzelner begründet, sondern ein strukturelles Problem schen und hier vor allem auch die Eltern innerhalb ihres in Industriestaaten sind. Wohnumfeldes erreichen. Niedrigschwellige Ansätze, (Beifall bei der LINKEN) wie sie insbesondere in der Ansprache von sozial be- nachteiligten Gruppen oder Migranten gefordert sind, Abspeckappelle und Bewegungstipps allein helfen wären so relativ leicht umsetzbar. daher auch nicht weiter, solange die sozialen und ökono- mischen Rahmenbedingungen so sind, wie sie sind: kon- Mit der Anknüpfung an das Bundesprogramm könn- traproduktiv für gesunde Ernährung und ausreichende ten bereits vorhandene Synergieeffekte optimal genutzt Bewegung. werden. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, geeignete Partnerprogramme zu entwickeln, die den Be- Wenn es Ihnen, Herr Minister Seehofer, wirklich ernst reich der Gesundheitsförderung aufgreifen und an das ist mit dem „gesamtgesellschaftlichen Fettabbau“, dann Bundesprogramm „Soziale Stadt“ angebunden werden. wird es Zeit, dass Sie in Ihren nationalen Aktionsplan Bewegung hineinbringen und ihn um die eine oder an- Wir müssen uns alle darüber klar werden, dass diese dere konkrete Initiative ergänzen. Entwicklung zur übergewichtigen Gesellschaft keine (Beifall bei der LINKEN) Frage der reinen Ästhetik mehr ist. Es ist auch längst keine Frage des persönlichen Schicksals mehr. Die Zah- Bloße Appelle reichen nicht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9813

Karin Binder (A) Eine Möglichkeit wäre da zum Beispiel eine einheitli- Ich weiß, dass viele von Ihnen an diesem Punkt (C) che gesetzliche Kennzeichnung von Lebensmitteln, sehr sensibel sind. Auch die Bundesregierung hält damit Verbraucherinnen und Verbraucher sich schnell, nichts von rechtlichen Regelungen in derartigen einfach und verlässlich über Qualität und Nährwert ihrer Fragen. Lebensmittel informieren können. Dazu bringen Sie in Ihrem Eckpunktepapier keinen konkreten Vorschlag. Da- Wo er schon einmal dabei war, hat er auch gleich versi- bei wäre es so einfach. Wir bräuchten nur einmal nach chert, dass die von der WHO in ihrer „Charta zur Be- Großbritannien zu schauen. Über die sogenannte Am- kämpfung von Übergewicht und Adipositas“ geforderten pelkennzeichnung von Lebensmitteln kann man durch- fiskalpolitischen Maßnahmen abgelehnt werden. aus unterschiedlicher Auffassung sein. Aber es ist ein Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen nicht einheitliches und vor allem leicht verständliches System, alles umsetzen, was uns renommierte internationale Or- das Verbraucherinnen und Verbraucher schnell und über- ganisationen empfehlen, und wir müssen auch nicht alles sichtlich über den Gehalt an Zucker, Salz, Fett und unge- nachmachen, was uns andere Länder vormachen. Aber sättigten Fettsäuren informiert. Die Ampelfarben Rot, dann sollten wir doch wenigstens selber aktiv werden Gelb und Grün zeigen die Dickmacher in den Lebens- und nicht nur heiße Luft produzieren. Heiße Luft ist nur mitteln schnell an. in der Sauna gesund. Natürlich ist die englische Lebensmittelindustrie nicht amüsiert über Absatzeinbußen bei ihren rot ge- (Beifall bei der LINKEN) kennzeichneten Fertigprodukten. Aber bei den Verbrau- cherinnen und Verbrauchern scheint die Kennzeichnung Wir alle wissen, dass Essstörungen in einkommens- ganz gut anzukommen. schwachen und bildungsfernen Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich auftreten. Das ist aber nicht nur (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist nicht eine Frage der Bildung und des Wissens um gesunde richtig, was Sie sagen! Sie wissen, dass das Ernährung. Gesunde Ernährung ist nicht zuletzt eine falsch ist!) Frage des Geldbeutels, Herr Minister. Wer von einem Niedriglohn oder von Hartz IV leben muss, hat kaum Obwohl die Regierung in Deutschland noch nicht einmal 5 Euro täglich für Lebensmittel zur Verfügung. Das im Traum daran denkt, laufen die Interessenvertreter der reicht nicht für Bioprodukte. Das reicht noch nicht ein- Lebensmittelindustrie hier schon Sturm gegen solche mal für konventionelles gesundes Essen. Wer beim Ein- Modelle. Süßigkeiten, Limonaden und Softdrinks, Früh- kaufen mit dem Cent rechnen muss, schaut mehr auf die stücksflocken und auch Fertiggerichte bedeuten in unse- Zahlen auf dem Kassenbon als auf die in der Nährwertta- rer Singlegesellschaft ein Milliardengeschäft. belle. Dann wird eben nicht frisches Obst und Gemüse (B) (D) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was ist gekauft, sondern Konserven und billige Fertigprodukte – daran denn schlimm?) die mit dem besonders hohen versteckten Fettgehalt. Der direkte Produktvergleich belegt, dass billigere Produkte Deshalb wird seit Jahren getrickst und verschleiert mit meist mehr Fett, Salz oder Zucker enthalten als teurere. Begriffen wie „kalorienarm“ oder „light“. Zuckerbom- Nach meiner Auffassung sollten jedoch alle Verbrauche- ben werden mit den Slogan „0 Prozent Fett“ angeprie- rinnen und Verbraucher – unabhängig von ihrer Kauf- sen. Zur Erhaltung ihres Profits will die Lebensmittel- kraft – die Möglichkeit haben, sich gesund und vitamin- industrie unbedingt vermeiden, dass ihre Produkte reich zu ernähren. deutlich sichtbar in „gesund“ oder „ungesund“ unterteilt werden. (Beifall bei der LINKEN) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt Dazu gehört dann auch, dass die Gemeinschaftsver- doch absolut nicht!) pflegung verbessert wird, insbesondere an Schulen und Sie hat dafür die volle Rückendeckung vom Verbrau- in Kindertagesstätten, und dieses von der Gesellschaft cherministerium. finanziert wird. Statt Milchschnitte und Schokoriegel brauchen wir ein gesundes Frühstücksbuffet in Kitas und (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch Kindergärten – natürlich von Vater Staat finanziert. völlig daneben, was Sie sagen!) Viele Vorschläge prallen bisher an der Bundesregie- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Und wenn rung ab, zum Beispiel das Verbot von Süßigkeiten- oder meine Kinder zu Hause essen? Bekomme ich Cola-Automaten an Schulen, das erstattet?) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie waren Wir brauchen natürlich gemeinsames Kochen und Er- doch vor kurzem bei Coca-Cola!) nährungserziehung. Wir brauchen mehr Schulsport, zum Beispiel eine dritte Sportstunde in der Woche. die Einschränkung der an Kinder gerichteten Werbung für Süßigkeiten und ein Verbot von Werbefilmen für sol- (Beifall bei der LINKEN) che Produkte vor 21 Uhr. Herr Staatssekretär Lindemann vom Verbraucherministerium hat sich dazu vor der Le- Wir brauchen natürlich mehr Förderung für die Betreue- bensmittellobby eindeutig positioniert. Er hat den Anwe- rinnen und Betreuer sowie die Jugendleiterinnen und Ju- senden beim letzten Neujahrsempfang versichert – ich gendleiter in Sportvereinen. Natürlich kostet das alles zitiere –: Geld. Aber sind Ihnen das unsere Kinder nicht wert? 9814 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Karin Binder (A) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Auch in Deutschland gibt es Selbstverpflichtungen, (C) die sehr gut funktionieren. Coca-Cola ist hier eben an- (Beifall bei der LINKEN) gesprochen worden. Dort gibt es immerhin die Selbst- verpflichtung, keine Getränkeautomaten in Schulen auf- Präsident Dr. Norbert Lammert: zustellen, in denen Kinder unter zwölf Jahren sind, und Ursula Heinen ist die nächste Rednerin für die CDU/ auf Werbung in Sendungen zu verzichten, die vorzugs- CSU-Fraktion. weise von kleinen Kindern gesehen werden. Ich finde, das ist genau der richtige Weg; so müssen wir damit um- (Beifall bei der CDU/CSU) gehen. Damit komme ich zum eigentlichen Thema: dass wir Ursula Heinen (CDU/CSU): uns auf die Kinder konzentrieren müssen. Ein Erwach- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! sener, der Übergewicht hat, ist letztendlich selbst dafür Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, zu- verantwortlich. Ein übergewichtiges Kind aber kann nächst einmal kurz auf meine Vorredner einzugehen und letztlich nichts dafür; es ist auch durch das Elternhaus das eine oder andere, was hier falsch behauptet worden geprägt. Auch darauf muss deutlich hingewiesen wer- ist, richtigzustellen. den: Wer trägt denn die Verantwortung? Das sind nicht Wir beginnen einmal mit dem Thema Selbstver- nur der Staat und die gesamte Gesellschaft, sondern auch pflichtung, die angeblich in Form der Vereinbarung mit das Elternhaus und die Familie, in der Ernährung usw. der DEHOGA bezüglich des Rauchens hätte funktionie- gelebt werden. Also müssen wir uns um die Kinder und ren können, Michael Goldmann. Das ist genau das fal- die Familien kümmern und ihnen das Thema der gesun- sche Beispiel. In dem Bereich hat die Selbstverpflich- den Ernährung nahebringen. tung nämlich eben nicht funktioniert. Es gab freiwillige Der Minister hat vorhin ausgeführt, dass er das Über- Vereinbarungen, gewicht bei Kindern bis zum Jahr 2020 stoppen bzw. den Trend umdrehen möchte. In Deutschland sind heute (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die waren 2 Millionen Kinder übergewichtig; sie sollten im Fokus aber noch nicht abgelaufen!) unserer Politik stehen. die aber in den Restaurants und Gaststätten nicht umge- Was sind die Ursachen? Eben wurden schon Compu- setzt worden sind, sodass rechtliche Rahmenregelungen ter und Fernsehen genannt. Ich war völlig überrascht, als erforderlich wurden, die jetzt endlich sukzessive umge- ich im Rahmen einer Sitzung der Plattform Ernährung setzt werden. Das ist der erste Punkt. und Bewegung gelernt habe, dass die Primetime im Kin- (B) Der zweite Punkt richtet sich an die Kollegin, die von derfernsehen zwischen 7 und 8 Uhr morgens ist. Frau (D) der Ampelkennzeichnung gesprochen hat. Diese einfa- Drobinski-Weiß war ebenfalls bei dieser Sitzung. Wir che Kennzeichnung mit Rot, Gelb oder Grün hat aber wussten überhaupt nicht, wie uns geschah, als wir erfuh- wenig beispielsweise mit der Ernährungspyramide der ren, dass Eltern ihre Kinder, um sie zu beschäftigen, Deutschen Gesellschaft für Ernährung zu tun, in der klar morgens, bevor der Kindergarten öffnet, vor den Fernse- zum Ausdruck kommt, wie ausgewogenes Essen tat- her setzen und dass die Werbezeiten im Kinderkanal zu sächlich aussieht und dass man Lebensmittel nicht ein- dieser Zeit am teuersten sind. Fernsehen, Computer- fach mit Punkten versehen kann. In Großbritannien spiele etc. spielen also sicherlich eine wichtige Rolle. nimmt man diese Ampelkennzeichnung jetzt wieder zu- Auch die neue Organisation des Alltags von Kindern rück, weil sie bei den Verbraucherinnen und Verbrau- ist sicherlich von Bedeutung. Wie sieht die organisierte chern nicht angekommen ist. Stattdessen soll ein anderes Freizeit aus? Wie wird in den Ganztagsschulen mit dem System eingeführt werden, das die Fragen der gesunden Thema Bewegung umgegangen? Wie sind die Sportan- Ernährung deutlicher aufgreift. Großbritannien schlägt gebote? In Nordrhein-Westfalen gibt es jetzt Offene die Richtung ein, in die auch wir gehen möchten, indem Ganztagsschulen. Wie läuft da die Kooperation mit den es die Einheiten der sogenannten großen Vier – Energie, Sportvereinen? Oder werden die Kinder nur verwahrt? Eiweiß, Fett, Kohlehydrate – auf der Verpackung kenn- Wie also ist die Qualität dieses Ganztagsschulangebots? zeichnet, sodass man einen vernünftigen Überblick er- Was wird dort an Sport und Bewegung geboten? hält, was gesund ist und was wie der Ernährung dient. Schulsport ist sicherlich eine ganz entscheidende Sa- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Michael che. Das haben wir auch in unserem Antrag erwähnt. Goldmann [FDP]: Das steht aber in eurem An- trag nicht drin! So was müsst ihr in euren An- (Detlef Parr [FDP]: Vor wenigen Monaten ha- trag schreiben!) ben Sie unseren Antrag noch abgelehnt! Ein Trauerspiel war das!) Ich bin froh, dass es mittlerweile in Deutschland Le- bensmittelhandelsbetriebe gibt, die diese Angaben von In Baden-Württemberg beispielsweise gibt es eine sich aus auf die Vorderseiten der Verpackungen schrei- Schulsportoffensive für 200 Minuten Sportunterricht pro ben, sodass man die verschiedenen Gehalte direkt, wenn Woche, an der sich über 300 Schulen im gesamten Land man die Packung aus dem Regal nimmt, erkennen kann. beteiligen. In Marzahn gibt es eine Grundschule, die ihr Das ist meines Erachtens der richtige Weg. Sportangebot verdoppelt hat mit dem angenehmen Ne- beneffekt, dass die Konzentrationsfähigkeit der Kinder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sich deutlich erhöht, weil sie sich durch die Bewegung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9815

Ursula Heinen (A) austoben können. Kinder, die aus sozial schwierigen Es kann nicht sein, dass Studentenwerke Mahlzeiten zu (C) Verhältnissen kommen und vielleicht viel vor dem Fern- anderen Preisen anbieten können als Schulen. Die Ver- seher und Computer hängen, werden über die Schule zu pflegung von Kindern ist wichtiger als die von erwach- Bewegung geführt und können sich dort einmal aus- senen Studierenden, die selbst entscheiden können, wie powern. So wird – darum geht es ja schließlich auch – sie sich ernähren! die Konzentrationsfähigkeit dieser Kinder wesentlich (Beifall bei der CDU/CSU) verbessert. Ein ganz wichtiger Punkt ist in der Tat, wie wir hier in Deshalb lautet unser Appell an die Bundesländer: Berlin mit dem Thema weiter umgehen. Kümmert euch um das Schulsportangebot und darum, tatsächlich auch mehr Schulsport anzubieten! Vielleicht kann man die Lehrpläne auch einmal entsprechend Präsident Dr. Norbert Lammert: durchforsten. Frau Kollegin, Herr Kollege Goldmann möchte das noch einmal in einer Zwischenfrage verdeutlichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Hans-Michael Goldmann Ursula Heinen (CDU/CSU): [FDP]: Willst du jetzt in die Länder gehen?) Ich unterhalte mich immer gerne mit ihm. Ein anderes Thema ist die Verpflegung in Schulen und Kindertageseinrichtungen. Natürlich gibt es Präsident Dr. Norbert Lammert: schon in vielen Schulen ein gemeinsames Schulfrüh- Auf Unterhaltung kommt es jetzt eigentlich nicht in stück. Es ist ja nicht so, dass wir in Bezug auf das Schul- erster Linie an. frühstück in einem Niemandsland leben. An vielen Grundschulen wird morgens gemeinsam gefrühstückt. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie viele Hans-Michael Goldmann (FDP): sind das in Köln?) Herr Präsident, Sie haben wie immer recht. – Frau An vielen Grundschulen erklären die Lehrer ihren Kin- Heinen, Sie haben das eben so schön dargestellt. Aber dern auch, wie vernünftige Ernährung aussieht. Das ich habe es nicht verstanden. müssen wir auch einmal ehrlich sagen. Wir wollen aber, (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das liegt nicht dass das flächendeckend erreicht wird. Deshalb versu- an Frau Heinen!) chen wir jetzt, in Nordrhein-Westfalen ein Schulmilch- programm zu starten. Ich habe da nämlich ein Problem: Mein Kollege Wissing (B) hat mir eben berichtet, dass gestern im Finanzausschuss (D) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wer ist thematisiert worden ist, ob es eine abgesenkte oder gar „wir“?) keine Mehrwertsteuer auf die Schulspeisung geben soll, wie es der Minister angekündigt hat. Jedes Kind soll wieder – wie es in meiner Generation der Fall gewesen ist – jeden Tag seine Schulmilch – und da- Meine Frage lautet: Gibt es eine Absprache zwischen mit immerhin einen wesentlichen Baustein für eine ge- Herrn Minister Seehofer und dem Finanzminister – gibt sunde Ernährung – in der Schule bekommen. es also eine Absprache in der Großen Koalition –, die die Chance bietet, dass der Mehrwertsteuersatz auf Pro- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Mit Mehr- dukte, die bei der Schulspeisung verwendet werden, so wertsteuer oder ohne?) abgesenkt wird, wie es der Minister in einer Pressemit- Jetzt möchte ich aber noch einmal etwas anderes, teilung angekündigt hat? nämlich die Mehrwertsteuergeschichte, ganz besonders deutlich erwähnen. Ich halte es für eine Ungerechtigkeit Ursula Heinen (CDU/CSU): und Schwachsinn, dass in den Studentenwerken – in den Lieber Herr Goldmann, wenn Sie unseren Antrag und Mensen – der halbe Mehrwertsteuersatz auf die Ver- damit den Willen des Parlaments in dieser Frage lesen pflegung fällig ist, in einer Ganztagsschule aber der würden, dann würden Sie klar erkennen, dass es nach volle. Das ist Schwachsinn! – Wir können das nicht an- dem Willen von CDU/CSU und SPD – das sind diejeni- ders nennen. gen, die hier die Gesetze beschließen – keine Unter- schiede bei den Mehrwertsteuersätzen für die Studieren- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- denverpflegung und bei den Mehrwertsteuersätzen für neten der SPD, der LINKEN und des BÜND- die Schulverpflegung geben soll. NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir haben das in unserem Antrag auch ganz deutlich formuliert. Mein Kollege Peter Bleser hat, Michael Aus dem Grund gibt es eine starke Übereinkunft hier Goldmann, mit den Finanzpolitikern intensive Verhand- im Parlament, und auf diese stützt sich der Bundesminis- lungen geführt, damit auch sie das unterstützen und sa- ter, wenn er sagt, dass wir in Zukunft mit diesem Mehr- gen, dass wir zu einer Veränderung kommen müssen. wertsteuersatz entsprechend umgehen werden. Es freut mich – das schließe ich aus Ihrer Frage –, dass die FDP (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das tun sie diesen Vorstoß von uns unterstützen wird. Wir können aber nicht!) also davon ausgehen, dass das Parlament diesen Vor- 9816 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Ursula Heinen (A) schlag mit breiter Mehrheit trägt und damit dem Finanz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C) minister vielleicht noch einmal klar macht, um welch ein bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN wichtiges Thema es sich handelt. – Ich bedanke mich für sowie bei Abgeordneten der FDP – Hans- Ihre Frage, Herr Goldmann. Michael Goldmann [FDP]: Wer hat „Fit statt fett“ erfunden? Woher kommt der Slogan?) (Beifall bei der CDU/CSU) – Der stammt nicht von mir, sondern von der Nachfol- Gestatten Sie mir, noch ein letztes Thema anzuspre- gerregierung. Trotzdem redet niemand über Auftrittsver- chen, das wir der Ehrlichkeit halber ebenfalls betrachten bote und Ähnliches. Wir wissen alle um die Probleme. müssen. Es gibt sehr viele Projekte, die zurzeit schon laufen. Vier Bundesministerien sind im Bereich Ernäh- Wir wissen im Übrigen auch, dass es dabei nicht nur rung aktiv: das Gesundheitsministerium, das Ministe- um individuelles Verhalten geht. Herr Seehofer, ich habe rium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- mich gefreut, dass Sie all die entsprechenden Maßnah- schutz, das Bildungs- und Forschungsministerium und men, die in den letzten Jahren begonnen worden sind, das Familienministerium. Es werden Projekte mit über fortgesetzt haben. Dazu gehört auch die Ernährungs- 200 Millionen Euro gefördert. Wir von der Koalition plattform, die wir damals nach Europa gebracht haben. wollen all diese Projekte evaluieren. Es ist nämlich drin- Ich fand es aber schade, dass Sie am Ende doch wieder gend notwendig, zu schauen, wie sie tatsächlich wirken. Ihren Hang zum Populismus ein wenig ausgelebt haben. Dann müssen wir uns überlegen, ob wir diese Projekte (Detlef Parr [FDP]: Dieser Hang ist Ihnen nicht stärker bündeln und konzentrieren. Denn es darf wohl völlig fremd, Frau Künast?) nicht passieren, dass wir uns angesichts dieser gut ge- meinten Ideen, Projekte, Modellvorhaben verzetteln und – Lassen Sie sich doch Redezeit geben! Dann können das große Ziel aus den Augen verlieren. Sie Ihre Ausführungen machen. Deshalb stellen wir uns vor, dass die Plattform Ernäh- Angesichts dieses ernsten Themas – viele Menschen rung und Bewegung, die vom Bund und von einigen leiden aufgrund ihres Übergewichts, die Anzahl der Bundesländern – leider, muss man sagen, noch nicht von Fälle von Diabetes Typ II steigt schon bei den 13-Jähri- allen – getragen wird und von großen Organisationen so- gen rapide an und nicht erst ab einem Alter von 40 bis wie von den Kinder- und Jugendärzten unterstützt wird, 45 Jahren – finde ich es wirklich falsch, dass mit solchen wesentlich gestärkt wird und eine koordinierende Funk- Begriffen wie „Olympiade der Verbote“ operiert wird. tion im Hinblick auf diese Projekte erhalten soll. Denn wir dürfen unser Ziel nicht aus den Augen verlieren, bis Herr Seehofer, wir reden hier nicht nur über Erwach- zum Jahr 2010 zu einer Trendumkehr in Deutschland zu sene. Der informierte Verbraucher kann das Kleinge- (B) kommen, unsere Kinder fit zu machen und ihnen viel druckte und das Fachchinesisch auf der Packung lesen (D) Freude an Bewegung und Sport zu vermitteln. und sich entsprechend verhalten. Ich glaube allerdings auch nicht daran, dass das in den bildungsfernen Schich- In diesem Sinne danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. ten passiert; auch wir sehen dieses Problem. Nein, wir reden über etwas anderes. Deshalb kann man hier nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den klassischen Verbotsdiskurs führen. Wir reden über drei-, vier-, fünf- und sechsjährige Kinder. Bei diesen Präsident Dr. Norbert Lammert: können Sie nicht von mündigen, informierten Verbrau- Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, chern sprechen. Die kleinen Kinder brauchen den Schutz Bündnis 90/Die Grünen. dieser Gesellschaft (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Den Schutz Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Eltern brauchen sie, aber nicht den Schutz Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das der Gesellschaft!) Thema Übergewicht und Fettleibigkeit ist kein so ein- und auch den Schutz vor der Werbewirtschaft, vor Pro- faches Thema. Ich glaube, dass es richtig ist, dass nicht dukten, mit denen uns die Lebensmittelwirtschaft ver- nur das Parlament versuchen sollte, mit diesem Thema sucht einzulullen; so einfach ist das. verantwortungsbewusst umzugehen und niemanden zu diskriminieren. Auch die Medien sollten sich ihrer Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN antwortung hin und wieder bewusst werden. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Lassen Sie mich vorab auf eine Zeitungsmeldung Wir müssen dafür Sorge tragen, Herr Seehofer, dass vom heutigen Tage eingehen. Die „Bild“-Zeitung fragt nicht noch mehr Papier zu diesem Thema vorgelegt bei einer Fotogalerie: „Ob diese Politiker auch mitma- wird. Seit Jahren wurde viel Papier hierzu produziert. chen?“ Der Fraktionsvorsitzende der FDP philosophiert, Wir müssen vielmehr die Kernpunkte identifizieren. Am wenn auch im Spaß, darüber, ob es Auftrittsverbote ge- letzten Sonntag hatte die „Frankfurter Allgemeine Sonn- ben sollte. Wir sollten der „Bild“-Zeitung sagen, dass tagszeitung“ auf dem Titelblatt folgende Klage der dieses Verhalten diskriminierend und falsch ist. Es rich- Lehrer festgehalten: Wir werden mit Werbematerial tet sich nicht nur gegen Politiker, sondern diskriminiert überschüttet. – Die Lebensmittelwirtschaft macht es auch dicke Menschen. Diese Art der Behandlung des mittlerweile so: Hinten und auf der Seite dieses Mate- Themas droht sich auszubreiten. So werden wir des Fetts rials steht: Dies ist von Kellogg’s, von Ferrero oder wem nicht Herr werden. auch immer gesponsert. Vorne steht dann: Dies ist eine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9817

Renate Künast (A) anbieterunabhängige, eine – angeblich – ganz seriöse In- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) formation. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt Ich sage Ihnen noch etwas: Wir können die Eltern doch überhaupt nicht! Entschuldigen Sie mal: nicht alleinlassen. Ich gebe gerne zu: Die Eltern müssen Wann waren Sie das letzte Mal in der Grund- sich bewegen. Aber Sie können die Eltern angesichts der schule? Das ist doch dummes Zeug, was Sie Milliardeninvestitionen in neue Produktentwicklungen erzählen!) und in Werbung – nicht nur im Fernsehen – nicht allein- lassen. Was sollen denn die Schulen damit anfangen? Diese sa- gen, sie hätten keine hinreichenden Curricula, keine Ich sage Ihnen auch: Wir müssen an das heran, was Lehrer für bestimmte Unterrichtsfächer, bekämen aber im Internet passiert. Klicken Sie einmal eine Seite dieser Massen an Papier. Auch da muss man einschränken: Mit Kinderlebensmittelfirmen an. Ich habe es in den letzten der Werbung kann es so nicht mehr weitergehen, zumin- Tagen wieder einmal gemacht. dest nicht im Hinblick auf die Zielgruppe der Kinder und (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Welche war Jugendlichen. es denn?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – – Zum Beispiel Kellogg’s. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dann (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Und die ma- schmeißt der Lehrer das weg! So blöd ist er chen etwas falsch?) doch wohl nicht, dass er das nicht wegschmei- ßen könnte! – Zuruf des Abg. Jörg van Essen Sie glauben, Sie seien auf der Seite einer Hollywood- [FDP]) filmwerbung. Alle möglichen Figuren tauchen da auf. – Ich wusste schon immer, dass Sie es mit der Ökologie (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Frau Künast, das nicht haben. Wegschmeißen von Material ist auch keine ist ja unterirdisch, was Sie da erzählen!) Lösung. Da geht es nicht um Information, sondern um Figuren. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wenn der Da geht es darum, die Kinder mit Puzzlespielen und Ge- Lehrer nicht in der Lage ist, das zu filtern, winnen zu binden. Da werden Entwicklungspsychologen dann ist er an der falschen Stelle! Ich bitte Sie: engagiert, um die Kinder entsprechend ihrer Entwick- Das ist doch wohl Kinderkram!) lung zu fangen. Ich sage Ihnen: An dieser Stelle ist der Staat in seiner Schutzfunktion gefordert. (B) – Das ist nun wieder typisch FDP. Vorne immer rein, und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) dann sollen sie nachher filtern. – Noch besser wäre es, sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- wir würden die Lebensmittelwirtschaft dazu bewegen, KEN – Jörg van Essen [FDP]: Aha, also das das zu bezahlen, was Sinn macht, und nicht das, was die Internet abschalten?) Lehrer nachher wegschmeißen. Das ist doch Unsinn. – Gerade die FDP behauptet immer, sie sei eine Partei, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die für den Datenschutz sei und dies auch auf die moder- nen Medien erstrecken wolle. Hinsichtlich des Konzepts, das uns hier vorgelegt wurde, muss ich Ihnen sagen: Mir ist es zu wenig, auch (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das hat weil es solche Konzepte schon gegeben hat. Im April doch überhaupt nichts mit Datenschutz zu tun, 2005 wurde das Konzept der Gesundheitsministerin wenn man im Internet wirbt!) „Gesund in die Zukunft – Auf dem Weg zu einem Ge- Wenn Sie sagen, man solle das Internet abschalten, dann samtkonzept zur gesundheitlichen Prävention“ vorge- sage ich dazu: Sie sollten sich lieber einmal einen Tag legt. Auch darin geht es um Ernährung und Bewegung. Zeit für eine Klausur zu diesem Thema nehmen ange- Es wurde gefragt, was eigentlich in den letzten Jahren sichts dessen, dass Sie nicht sehen, was man im Rahmen passiert ist. Dieser Frage schließe ich mich an dieser des Internet tun kann, um die Schwachen dieser Gesell- Stelle an. schaft zu schützen. Aber diese waren noch nie Ihr Adres- Eines brauchen wir ganz klar – andere Länder ma- sat. chen dies schon, Großbritannien zum Beispiel –: Wir (Jörg van Essen [FDP]: Ein Glück, dass Sie brauchen, auf die Zielgruppe der Kinder ausgerichtet, nicht mehr Ministerin sind!) ein Werbeverbot Ich stelle fest: Wir brauchen eine Ampelkennzeich- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Total nung; ich habe Ihnen ein Produkt mitgebracht. gescheitert!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Eindeutig in der Zeit vom Frühstücksfernsehen bis 21 Uhr, wenn nein!) es um Lebensmittel geht. Denn Lebensmittel sind keine – Ich weiß, Sie haben ein Problem mit der Ampel, aber Produkte, für die man, auf die Zielgruppe der Kinder aus anderen Gründen. ausgerichtet, Werbung machen sollte. Wenn die Lebens- mittelwirtschaft dies nicht von sich aus tut, dann müssen (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wir dies regeln. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) 9818 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Renate Künast (A) Es geht dabei auch um bildungsferne Schichten, die dings auch Bewegungsmangel. Es ist schon erwähnt (C) nicht das ganze Kleingedruckte auf Produkten lesen. Es worden: Nicht jede Art der Ernährung an sich ist falsch. geht nicht nur um die Kennzeichnung von Eiweißen, Wir haben eine moderne Welt, ein Lebensumfeld für sondern auch um die von gesättigten Fetten und Zucker. Kinder geschaffen, das in vielen Bereichen mittlerweile Genau dies können Sie mit einem einfachen Zeichen ungesund ist, vielleicht auch auf neue Art und Weise ganz simpel tun. krank macht. Wir tragen dafür die Verantwortung und nicht die Kinder. Wir sind diejenigen, die dieses ändern Herr Seehofer, wenn Sie diese beiden Schritte anpa- können. cken und den Mut haben, an dieser Stelle anzusetzen, dann verändern Sie den gesellschaftlichen Diskurs, Wir brauchen mehr Spiel- und Bewegungsräume. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Schwarz-Weiß- Daher fordern wir in unserem Antrag, dass bei politi- Denken! Wir trauen den Menschen mehr zu als schen Entscheidungen, die das Wohn- und Bewegungs- Sie!) umfeld der Kinder betreffen, dem Bewegungsdrang Raum zu verschaffen ist. Ich erhalte Bürgerbriefe von und dann werden auch die Landesminister ihrer Verant- Eltern, die ganz verzweifelt sind, weil sie ihre Kinder wortung stärker nachkommen, als sie es jetzt tun. Aber nicht mehr auf der Straße spielen lassen können, weil als Erstes muss der Bund selber seine Hausaufgaben ma- sich die Nachbarn dann über Ruhestörung beschweren. chen. Die Anrainer von Sportplätzen klagen ebenfalls über Ru- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – hestörung. Ich frage mich: Wieso ziehen Menschen, die Jörg van Essen [FDP]: Das sagt die ehemalige früher schon dort gewohnt haben und die ihre eigenen Ernährungsministerin!) Kinder zum Spielen dorthin geschickt haben, jetzt vor Gericht, wenn anderer Leute Kinder dort spielen? Das ist doch ein Unding. Das kann doch wohl nicht sein. Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Mechthild Rawert ist die nächste Red- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nerin für die SPD-Fraktion. der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Mechthild Rawert (SPD): Wir dürfen unsere Städte nicht zu Bewegungswüsten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle- verkommen lassen. Hier haben Sportvereine eine große gen! Die bisherige Debatte hat gezeigt: Wir wissen viel Verantwortung. Wir wissen, dass Sportvereine gehalten über gesunde Ernährung, nur am Verhalten hapert es. Es sind, Mitgliedsbeiträge zu erheben. Dies berührt die so- hapert letztendlich auch – hier gehe ich als Mitglied ei- (B) ziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft: Denn nicht (D) ner Regierungspartei weiter –, weil klare Rahmenbedin- jede Familie, die finanziell schwächer gestellt ist, kann gungen fehlen. Die Bundesregierung hat es gesagt: Prä- sich dies leisten. Wir fordern daher auch hier Unterstüt- vention ist eine Investition in die Zukunft. Das ist auch zung, damit das Gleichheitsgebot umgesetzt werden im Memorandum, das in Badenweiler verabschiedet kann. wurde, ausgeführt worden. In unserem Antrag steht: Ich freue mich, dass die Kampagne des Gesundheits- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nix!) ministeriums vorhin schon erwähnt worden ist. Denn die Prävention fängt bei der Eigenverantwortung an, Kampagne unter dem Motto „Deutschland wird fit. Ge- bedarf aber auch der Unterstützung des Staates und hen Sie mit.“ ist eines der positiven Zeichen, die zeigen, der gesellschaftlichen Akteure. wie wir versuchen, Bewegung in den Alltag zu integrie- ren. Weiter heißt es: Das geplante Präventionsgesetz soll die Koopera- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tion und Koordination der Prävention sowie die Eines ist sicher: Wir alle haben mittlerweile einen re- Qualität der Maßnahmen … verbessern. lativ zeitintensiven Alltag. Das fängt schon bei den klei- Es geht hier nicht darum, ausschließlich über Ge- und nen Kindern an, deren Zeitplan sehr viele zusätzliche Verbote zu sprechen. Es geht auch um klare Zielsetzun- Angebote umfasst. So haben sie nicht mehr genug Zeit gen und klare Rahmenbedingungen. Daher danke ich für für Sport. Wir müssen versuchen, Bewegung in den All- den nationalen Aktionsplan. Ich bin als Mitglied zweier tag zu integrieren. Gehen Sie mit bei den vielen Aktio- Ausschüsse, des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- nen, die im Rahmen der Kampagne des Gesundheitsmi- schaft und Verbraucherschutz und des Ausschusses für nisteriums angeboten werden! Gesundheit, der Meinung, dass wir ein Präventionsge- setz dringend brauchen. Denn damit schaffen wir die (Beifall bei der SPD) Rahmenbedingungen dafür, dass wir in viele Lebenswel- Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass sozial ten hineinkommen und der nationale Aktionsplan grei- benachteiligte Bevölkerungsgruppen durch Ernäh- fen kann. rungs- und Bewegungskampagnen bislang nicht zufrie- (Beifall bei der SPD) denstellend erreicht worden sind. Das heißt, wir machen unsere Angebote nicht zielgruppenorientiert genug, Über Ernährung ist viel gesprochen worden. Einer der Hauptfaktoren zur Entstehung von Übergewicht ist aller- (Detlef Parr [FDP]: Richtig!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9819

Mechthild Rawert (A) obgleich die Krankenkassen bereits seit 2000 gehalten Ich möchte Sie fragen, inwiefern die Erkenntnisse der (C) sind, ihre Angebote in diesem Bereich zu verbessern. Kinderkommission, die sich bereits seit Jahren – in den Vielfach kommen sie dieser Aufforderung auch sehr gut letzten Monaten sehr intensiv – mit dem Thema beschäf- und erfolgreich nach. Ich sage das, damit Sie nicht den tigt hat, Eingang in Ihre Pläne gefunden haben. Sie sagen Eindruck gewinnen, ich würde die Krankenkassen kriti- immer wieder: Wir müssen Aktionen starten. Die Kin- sieren wollen. Wir müssen das Angebot nichtsdestotrotz derkommission hat konkrete Forderungen gestellt. Wir ausbauen und systematisieren. Ich erinnere in diesem haben alle Ministerien und Länder angeschrieben. He- Zusammenhang an das in dieser Legislaturperiode drin- raus kam lediglich eine Auflistung der Projekte. Ich gend umzusetzende Präventionsgesetz. frage Sie: Wie haben Sie die Arbeit der Kinderkommis- sion integriert, oder wie planen Sie, diese Arbeit zu inte- Der Sozialraumbezug in der Gesundheitsförderung grieren? wurde bereits erwähnt. Mein Kollege Volker Blumentritt hat das Programm „Soziale Stadt“ angesprochen. Wir stehen hierüber bereits mit dem Gesundheitsministerium Mechthild Rawert (SPD): im Gespräch, um innerhalb der einzelnen Altersstruktu- Wir erachten die Kinderkommission für so wichtig, ren und Lebenswelten zu Verbesserungen zu kommen. dass wir der Kinderkommission selbstverständlich einen sachgerechten Bericht geben wollten. Daher die Auflis- Ich will auf die Verantwortung der Wirtschaft zu spre- tung der Projekte. Das Gespräch wird fortgeführt. chen kommen. Die Lebensmittelindustrie, die das Ver- halten von Kindern und Familien durch Produktverkauf (Jörg van Essen [FDP]: Das war ja keine wirk- und Werbung prägt, steht selbstverständlich mit in der liche Antwort!) Verantwortung. Zurück zu den Werbebotschaften. Ich habe gesagt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass Kinder und Jugendliche bei den Firmen eine heiß des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) umworbene Zielgruppe sind; denn im Alter von drei bis fünf Jahren wird heute schon das Markenbewusstsein Richtig ist auch, dass Internet und Handy neben der klas- geprägt. Das heißt, die Werbung zielt auf die Neugierde sischen Fernsehwerbung verstärkt für gezielte Produkt- der Kinder, ihre Vorliebe für Buntes und Süßes, das Be- werbung genutzt werden. Es gibt mittlerweile kaum dürfnis nach Zugehörigkeit und ihr Freizeitverhalten. noch eine Verpackung, auf der nicht extra auf Kinder- Um die Eltern zu überzeugen, das Produkt XY – ich will websites der Hersteller verwiesen wird. Kinder und Ju- keines benennen – zu kaufen, wird gesagt: Hier ist zum gendliche sind eine sehr geschickt umworbene Ziel- Beispiel Milch drin. Suggeriert wird: Daher ist diese Sü- gruppe. Hier beginnt der Kreislauf, über den wir ßigkeit gesund. – Das ist zum großen Teil Quatsch; denn (B) sprechen: Wir können doch nicht einerseits über unge- häufig ist nur wenig Milch oder gar nur Milchextrakt (D) sunde Ernährung reden, über Kinder, die, egal zu wel- enthalten. Das, was die Kinder zu sich nehmen, sind cher Tages- oder Nachtzeit, vor dem PC oder dem Fern- viele leere Kalorien und nicht ein gesundes Lebensmit- seher sitzen, und andererseits nichts tun, um sie vom tel. Fernseher oder vom PC wegzuholen. Wir brauchen auch Werbeverbote. Aus diesem Grunde sind auch wir für die Kennzeich- nungspflicht bei Lebensmitteln. Darüber müssen wir (Abg. Miriam Gruß [FDP] meldet sich zu einer uns unterhalten. Immerhin sind wir im Rahmen der Zwischenfrage) Umsetzung einer EU-Verordnung verpflichtet, eine nährwert- und gesundheitsbezogene Lebensmittelkenn- Präsident Dr. Norbert Lammert: zeichnung vorzunehmen. Es geht um die Festlegung von Frau Kollegin, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Nährwertprofilen. In diesem Zusammenhang wollen wir Sie mir jetzt zustimmen würden, dass die Kollegin Gruß die von Forschungsinstituten zusammengestellte Positiv- Gelegenheit zu einer Zwischenfrage erhält, nachdem liste vorantreiben, sodass wir als Verbraucherinnen und vorhin aus objektiv unvermeidlichen Gründen dazu Verbraucher die Möglichkeit haben, sachgerecht abzu- keine Gelegenheit mehr war. gleichen: Glauben wir der Werbung, oder glauben wir der Wirklichkeit, dem, was wissenschaftlich geprüft ist, wenn wir unseren Kindern sagen, dass ein Lebensmittel Mechthild Rawert (SPD): gesund ist? Ich hoffe, wir vertrauen dem Sein und nicht Gerne. dem Schein. Ich möchte noch einmal zum Thema Prävention Miriam Gruß (FDP): kommen; denn Prävention ist wichtig. Wir brauchen eine Vielen Dank. – Die ganze Zeit über ist hier die Rede Präventionskultur. Prävention muss fest in Erziehung von Kindern und Jugendlichen, davon, wie wichtig es und Bildung verankert werden. Wir brauchen hierfür ist, bei den Kleinsten anzufangen. Ich möchte dem Parla- Strukturen, die Gesundheitsförderung und Prävention in ment eine Institution in Erinnerung rufen, die sich schon den Bildungskanon aufnehmen. Wir brauchen ein Ge- in den vergangenen Legislaturperioden ausführlich mit gengewicht zu einer nicht in jedem Falle gesunden Um- dem Thema beschäftigt hat – in der vergangenen Legis- welt. laturperiode unter dem Vorsitz von Frau Noll und in die- ser unter dem Vorsitz Ihrer Kollegin Frau Rupprecht –: Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die die Kinderkommission. Prävention zu einer eigenständigen Säule der gesund- 9820 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Mechthild Rawert (A) heitlichen Versorgung ausgebaut werden soll. Das ist ei- Zwei Monate später musste die Bundesregierung auf (C) gentlich eine logische Konsequenz des Memorandums unsere Kleine Anfrage zur Förderung von Ernährung von Badenweiler und unserer Eckpunkte und Erklärun- und Bewegung Farbe bekennen. Die Antwort war dürf- gen. Wir machen jetzt den nationalen Aktionsplan. Ich tig. wiederhole: Ich persönlich bin der Meinung, wir sollten zeitgleich das Präventionsgesetz verabschieden. Denn es (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Weil ist wahr: Viele kleine Schritte ergeben auch ein Großes; die Anfrage so dürftig war!) nichtsdestotrotz ist nach vielen kleinen Schritten natür- Im Januar 2006 nahm die FDP-Fraktion die desaströ- lich auch ein großer gefragt. sen Ergebnisse einer Schulsportstudie des Deutschen Wir wollen auch die Präventionsforschung ausbauen. Sportbundes zum Anlass, bundesweit eine Wende an den Denn diese ist für Erkenntnisse über den Zustand und die deutschen Schulen zu fordern. Es gab also Anstöße ge- Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Be- nug, zu handeln, liebe Kolleginnen und Kollegen. Doch völkerung unerlässliche Voraussetzung. Wir müssen her- mehr als zwei Jahre lang Fehlanzeige; das ist ein Ar- ausfinden, warum es so ist, dass wir so viel über Ge- mutszeugnis. sundheit und gesundheitsförderndes Verhalten wissen, (Beifall bei der FDP) aber in vielen Bereichen nicht danach handeln. Plötzlich soll es ein nationaler Aktionsplan richten. (Detlef Parr [FDP]: Ein guter Satz!) Doch in dem Antrag der Koalitionsfraktionen wimmelt Da kann jede und jeder, so wie wir hier im Saale sind, es nur so von Allgemeinplätzen. Nach den Erfahrungen damit beginnen, sich an die eigene Nase zu fassen. der letzten Monate befürchten wir: Diese Koalition bleibt auch in diesen Fragen eine Koalition der Lippen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bekenntnisse. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP – Jörg van Essen [FDP]: Sehr berechtigte Befürchtung!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Detlef Parr, Herr Minister Seehofer, da hilft auch Ihr Plädoyer ge- FDP-Fraktion. gen Bevormundung des Einzelnen und gegen den Zwang des erhobenen Zeigefingers wenig. Solange Ihre Kolle- (Beifall bei der FDP) gin an ihren Vorstellungen eines Präven- tionsgesetzes festhält und die Koalitionsfraktionen dies Detlef Parr (FDP): in ihrem Antrag sogar noch bekräftigen, werden Sie Ihr (B) Ziel wieder nicht erreichen. (D) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Offen- sive der Regierung für Gesundheit – Kampf gegen Fett- (Jörg van Essen [FDP]: Genau!) sucht“, hat die „Welt am Sonntag“ aufgemacht – aber nicht am vergangenen Sonntag, sondern – man höre und Dabei haben Sie richtig erkannt: Aktive Gesundheits- staune! – am 23. Januar 2005. Vor über zwei Jahren also vorsorge ist primär eine individuelle Herausforderung, alarmierte die Bundesregierung die Öffentlichkeit mit und die Stärkung der Kompetenzen des Einzelnen in der Meldung, dass die Krankenkassen mehr als Fragen seiner Ernährung und seiner Bewegung muss von 70 Milliarden Euro für die Behandlung ernährungsbe- Kindesbeinen an im Mittelpunkt aller Bemühungen von dingter Erkrankungen aufbringen müssten; vor allem Bund, Ländern, Kommunen, Sozialversicherungen und Kinder und Jugendliche bewegten sich zu wenig und Heilberufen stehen. äßen zu viel Fett und kohlenhydrathaltige Produkte; mit Aufklärung statt Gesetze, Anreize statt bürokratische einem Präventionsgesetz wolle Ulla Schmidt dazu bei- Gängelung, Erziehung und Bildung statt Gebote und tragen, den Lebensstil der Deutschen ihrem gesundheit- Verbote – über diese Wege können wir uns schnell ver- lichen Wohl anzupassen. ständigen. Ich fürchte nur, die Regulierer und Volksbe- In der Zwischenzeit hat das groß angekündigte Prä- glücker in Ihren Reihen behalten weiter die Oberhand. ventionsgesetz im Bundesrat Schiffbruch erlitten. Der (Beifall bei der FDP) Bundesregierung ist es, wenn man den Worten des SPD- Kollegen Blumentritt und der CDU-Kollegin Klöckner Sie sprechen zu Recht von der Notwendigkeit einer Glauben schenken darf, wohl so gut ergangen, dass sie Balance zwischen Ernährung und Bewegung. Schade, all ihre Vorsätze vergessen hat und in Tiefschlaf verfal- dass die Bundesregierung auf unsere Frage nach einer len ist; denn die beiden sprechen bezeichnenderweise Fortsetzung der Beteiligung an der Kampagne „Sport tut von einem Wachrütteln. Wohl wahr! Deutschland gut“ keine konkrete Planung vorlegen konnte. Schade auch, dass die Bundesregierung keine Wir haben bereits im Januar 2005 mit 13 Forderun- Initiativen zur Verbesserung der kommunalen Infrastruk- gen, Prävention und Gesundheitsförderung als indivi- tur im Bereich der Sportanlagen im Köcher hat. Das duelle und gesamtgesellschaftliche Aufgabe voranzutrei- wäre eine Grundvoraussetzung für mehr Bewegung in ben, versucht, die Bundesregierung aufzurütteln. unserer Gesellschaft. Wer Bedarfe weckt, muss auch da- (Beifall bei der FDP) für sorgen, dass diese Bedarfe gedeckt werden. Ein gol- dener Plan für Gesamtdeutschland wäre die richtige Ant- Sie haben das abgelehnt. wort darauf. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9821

Detlef Parr (A) An dieser Stelle ein Lob an den Deutschen Fußball- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (C) Bund: Er steckt 12 Millionen Euro aus dem WM-Über- (Beifall bei der FDP) schuss in den Bau von 1 000 Minispielfeldern gerade auch an Schulen in sozialen Brennpunkten mit einer ho- hen Zahl an Migranten. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Julia Klöckner, CDU/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten CSU-Fraktion. der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir alle sind uns ja darin einig, dass wir uns zielgerich- teter um die sozial Benachteiligten kümmern müssen. Julia Klöckner (CDU/CSU): Sie sind durch bisherige Aufklärungskampagnen zu we- nig oder gar nicht erreicht worden. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines sollten wir hier an dieser Stelle auch Wir kennen die spezifischen Risikogruppen, aber wir einmal festhalten: Es geht nicht um eine Stigmatisierung wissen viel zu wenig über die Ursachen besonders von oder um eine Hetzjagd auf dicke Menschen, auf Men- kindlichem Übergewicht. Neben falscher Ernährung und schen, die übergewichtig und adipös sind. Es geht nicht Bewegungsmangel bedingen sich Faktoren wie Medien- um ein Schönheitsideal, also nicht darum, dass der Staat konsum, niedriger sozioökonomischer Status oder vorschreiben sollte, welchen Körperumfang und welche Migrationshintergrund gegenseitig. Auch genetische und Körpermaße wir brauchen. Es geht auch nicht darum, ir- stoffwechselbedingte Faktoren sollten nicht außer Acht gendeinem Wahn hinterherzulaufen. gelassen werden. Ein offensichtlich multikausales Pro- blem kann nicht durch Einzelmaßnahmen gelöst werden. Uns geht es letztendlich um Hilfe. Dort, wo der Staat Einfluss hat, muss er auch die Rahmenbedingungen da- (Mechthild Rawert [SPD]: Aber durch ein für schaffen, dass die Menschen die Hilfe bekommen, Bündel!) um in höherer Lebensqualität leben zu können und wei- terhin Spaß am Essen zu haben; denn Essen und Bewe- Es bedarf dringend weiterer Forschung und der sorgfälti- gung können auch Freude bereiten. gen Evaluierung bereits bestehender Angebote, um ein schlüssiges Gesamtkonzept zu entwickeln und auf den Ich schaue mir die Opposition an Einzelnen dann auch anwendbar zu machen. (Detlef Parr [FDP]: Voller Freude!) Ein nationaler Aktionsplan – das ist ein großes Wort. – sie ist voller Freude – und stelle fest, dass das, was ge- Herr Minister, es darf aber nicht wieder nur planmäßigen sagt wurde, nicht gerade von Freude getragen wurde. Aktionismus geben, wie Sie es bezogen auf die vergan- (B) Man bekommt fast Angst und Beklemmungen – dabei (D) genen Initiativen im Gespräch mit der „Süddeutschen schaue ich auch zu den Grünen –, Zeitung“ freimütig zugegeben haben. Die Probleme sind zu ernst, als dass man sie zu einem kurzfristigen politi- (Detlef Parr [FDP]: Da haben Sie Recht! – schen Spiel missbrauchen kann. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist schon jahrelang so, dass Sie be- Der Deutsche Olympische Sportbund begrüßt die Ini- klemmt sind, wenn Sie uns sehen!) tiative der Bundesregierung als klares Signal. Die FDP erwartet aber, dass diesmal mehr als nur kräftige Trom- wenn man anspruchsvoll über Essen und Genuss redet, petenstöße als Ergebnis herauskommen. Das wird Ihnen was uns sehr wichtig ist. gelingen, wenn Sie sich lieber spät als gar nicht an den Liebe Frau Künast, zum Thema Diskriminierung: Sie Vorschlägen der FDP-Fraktion orientieren. haben davon gesprochen, dass wir Menschen diskrimi- (Beifall bei der FDP – Waltraud Wolff [Wol- nieren würden, und haben uns die „Bild“-Zeitung ge- mirstedt] [SPD]: Das wäre ja was Neues! Die zeigt. müssen Sie uns noch bringen!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Präsident, lassen Sie mich noch einen Satz an die Nicht Sie! Nur die „Bild“-Zeitung!) Kollegin Heinen anfügen. Sie haben mit Vehemenz deut- – Darin haben wir Ihnen auch zugestimmt. lich gemacht, dass die Mehrheit dieses Hauses, die Ko- alitionsfraktionen, die Steuerbefreiung für die Schulspei- Was die Diskriminierung angeht, erinnere ich mich sungen durchsetzen will. Kollegin Heinen, in Ihrem an ein Buch mit dem Titel „Die dicken Kinder“ aus Ihrer Antrag ist lediglich von einem Prüfauftrag die Rede. Regierungszeit. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nein! Der Titel lautet „Die Dick- Es soll geprüft werden, ob das zu einem attraktiven Preis macher“!) realisiert werden kann. – Ja, das war der Untertitel. (Jörg van Essen [FDP]: Das ist die Wirklich- keit!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nein, der Haupttitel!) Bleiben Sie in der Diskussion also bitte bei den Tatsa- chen, die Sie in Ihrem eigenen Antrag niedergeschrieben Das Buch hieß „Die dicken Kinder“, und Ihr Konterfei haben! zierte das Titelblatt. Wie passt das zusammen? Das war 9822 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Julia Klöckner (A) eine Imagegeschichte Ihrerseits. Sie galten als Mutter dern. Die Schere zwischen den Übergewichtigen und (C) Teresa der dicken Kinder. Das war eindeutig eine Stig- den Magersüchtigen öffnet sich. Wenn wir den Fehler matisierung dicker Menschen bzw. Kinder. machen, uns nur auf dicke Kinder zu konzentrieren, dann verlieren wir diejenigen aus den Augen, die auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unter Problemen leiden und ein gestörtes Verhältnis zum Damals hat die Mutter einer magersüchtigen Tochter Essen haben. Wir aus der CDU/CSU-Fraktion streben wegen dieser Kampagne meine Sprechstunde besucht. wieder einen ordentlichen Umgang mit Ernährung und Wenn die Diskussion nur in die Richtung verläuft, gegen Lebensmitteln an, und zwar nicht nur in der Theorie, Dicke vorzugehen, dann tun wir den Menschen nichts sondern auch in der Praxis. Gutes. Es geht vielmehr um Einsicht, Wohlgefühl und Frau Künast, Sie haben damals mit Ihrer Image- Gesundheit. Das ist für uns entscheidend. kampagne sehr viel Wind gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gesundheitsprobleme übergewichtiger Kinder sind NEN]: Die Projekte führt Herr Seehofer wei- auch kein statistisches Problem. Ob wir bei 42 Prozent, ter! Wussten Sie das?) 30 Prozent oder 20 Prozent liegen, ist nicht entschei- Respekt, das hat damals gut geklappt, auch wenn das dend; selbst 15 Prozent sind zu viel. Es geht letztlich da- Buch – das ist nicht verwunderlich – kein Bestseller war. rum, wie wir Prävention betreiben können; das hat Die Kinder wurden aber dadurch nicht dünner. Minister Seehofer zu Recht festgestellt. Wir sollten uns nicht an irgendwelche Zahlen klammern; denn letztlich Ich möchte noch etwas festhalten. Liebe Frau Künast, erreicht die individuelle Betroffenheit ein riesiges Aus- Sie haben eben ein Werbeverbot und eine Ampelkenn- maß, und die ernährungsbedingten Krankheiten und Fol- zeichnung gefordert; außerdem soll die Industrie mit ins gekosten – auch das wurde bereits angesprochen – be- Boot genommen werden. Sie waren vor nicht allzu lan- treffen uns alle. ger Zeit Ernährungsministerin – wir sind erleichtert, dass sich das inzwischen geändert hat – und hätten in diesem Eines gilt es zu verhindern – ich war sehr erschro- Amt all das tun können, was Sie heute gefordert haben. cken, als ich davon erfahren habe –: In Großbritannien Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass ein ent- haben die Ärztekammer und die Gesundheitsbehörde sprechender Gesetzentwurf zur Abstimmung vorgelegt erstmals den Ärzten geraten, bei übergewichtigen Kin- wurde. Jetzt stellen Sie diese Forderungen aus der Oppo- dern – nicht bei Erwachsenen – eine Magenverkleine- sition heraus und führen das Argument an, dass der Bun- rung vorzunehmen. Das kann nicht die Antwort sein. desrat Ihnen seinerzeit nicht folgen wollte. Dabei haben Unsere Antwort in Deutschland lautet nicht: Ampel- Sie es nicht einmal versucht. (B) (D) kennzeichnung und, wenn diese nicht funktioniert, Ma- Frau Künast möchte nachfragen und etwas klarstel- genverkleinerung. Wir – der Minister wie auch die CDU/ len? CSU-Fraktion – setzen vielmehr auf Einsicht und auf Orientierung statt Regulierung. Es geht darum, die Men- schen dort abholen, wo sie sind, und letztlich auch um Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): ein Bekenntnis zu dem, was unsere Felder und Produkte Offenkundig wollen Sie das auch zulassen. Damit ha- zu den Nahrungsmitteln beitragen. Sie sind nämlich ben wir eine übersichtliche Gefechtslage. Bitte schön, nicht per se schlecht. Frau Künast.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): neten der SPD) Frau Klöckner, da Sie mich immer wieder so liebevoll Wir möchten als CDU/CSU-Fraktion auf etwas hin- angesprochen und darauf hingewiesen haben, was ich weisen, was Sie in Ihrer Regierungszeit leider verpasst Ihres Erachtens versäumt habe, muss ich eine Frage stel- haben, Frau Künast. Erstens ist Fehlernährung ein ge- len. Wissen Sie, dass es Ihre Fraktion war, die gegen un- samtgesellschaftliches Problem, das nicht nur etwas mit sere Aktivitäten im Zusammenhang mit der Health- Kindern, sondern auch mit Erwachsenen zu tun hat. Kin- Claims-Verordnung in Brüssel, bei der es um gesund- der werden nämlich bei Erwachsenen groß und lernen in heitsbezogene Werbung geht und die eine Ampelkenn- diesem Umfeld. zeichnung von Lebensmitteln vorsieht – das wäre auf na- tionaler Ebene nicht zu machen –, massiv gekämpft hat? Zweitens hat Fehlernährung nicht nur etwas mit Können Sie mir nachsehen, wenn ich sage, dass wir es, Übergewichtigen zu tun, sondern auch mit Mangel- wenn Sie es nicht bekämpft hätten, früher durchgesetzt ernährten; denn ein Snickers und eine Cola sind auch und in Europa eine Rechtsgrundlage gehabt hätten? So für diejenigen, die nicht übergewichtig sind, kein ausge- wurde erst nach meiner Amtszeit die Rechtsgrundlage in wogenes Frühstück. der Amtszeit des Bundesministers Seehofer geschaffen. Frau Klöckner, Sie haben nun die Möglichkeit, zusam- Drittens stellen Mädchen im Alter zwischen neun und men mit Ihrem Minister Seehofer diese wunderbare Idee 14 Jahren die Altersgruppe dar, in der Diäten am häu- umzusetzen. Ich muss Ihnen das sagen, da Sie sich of- figsten sind. In diesem Alter haben Kinder ihre Entwick- fensichtlich nicht mehr daran erinnern können, gegen lung aber noch nicht abgeschlossen. Wir dürfen nicht un- welche meiner Aktivitäten Sie damals mit Verve ge- terschätzen, dass Hochglanzmagazine und Modelshows kämpft haben. das Verfolgen von Schönheitsidealen durch Heranwach- sende, die selbst noch nicht richtig gefestigt sind, för- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9823

(A) Julia Klöckner (CDU/CSU): Werbeverbote gibt, nicht abgenommen, sondern weiter (C) Liebe Frau Künast, ich möchte die Gegenfrage stel- zugenommen. Es ist falsch, eine Placebopolitik zu be- len, ob Sie mitbekommen haben, dass wir, die CDU/ treiben. Uns ist es ein ernsthaftes Anliegen, das von uns CSU-Fraktion, gegen eine Ampelkennzeichnung sind, definierte Ziel zu erreichen, dass Menschen gesünder und zwar zu Recht. und ausgewogener leben. Es wäre sicherlich eine Schlagzeile wert, wenn wir heute auf Initiative von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herrn Seehofer eine Ampelkennzeichnung und ein Wer- Denn dieses Schwarz-Weiß-Denken – Grün ist gut, Rot beverbot beschließen würden. Aber wir stünden in vier ist schlecht; das meine ich nicht politisch – bedeutete, Jahren wieder hier und stellten fest: Wir haben die Men- dass der Bürger gar nicht mehr denken müsste. Wer schen nicht erreicht, weil es nicht in den Köpfen ange- glaubt, dass er sich ausgewogen ernährt, wenn er nur kommen ist. noch Produkte mit grünen Punkten, zum Beispiel Äpfel, (Beifall bei der CDU/CSU) in seinem Warenkorb hat, liegt falsch. Das ist unsere verantwortungsvolle Aufgabe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die CDU/CSU-Fraktion hat einen ganz anderen An- Eine solche Kennzeichnung ist doch total verwirrend. satz. Sie setzt auf eine Stärkung bestimmter gesellschaft- Warum fährt denn die Lebensmittelkette Tesco in Groß- licher Kräfte, seien es die Landfrauen oder seien es an- britannien – Frau Heinen hat es vorhin angesprochen – dere Organisationen wie Elterninitiativen in meinem just dieses Prinzip wieder zurück? Sie hat erkannt, dass Wahlkreis Bad Kreuznach. Sie bieten Kurse an, in denen es die Menschen verwirrt; denn Butter wird immer einen man spielerisch das Kochen erlernen kann. Herr Lafer, roten Punkt haben. Verderben Sie den Menschen doch ein Koch, der sicherlich allen bekannt ist, hat mir Fol- nicht die Lust an der Vielfalt, sondern befähigen Sie sie gendes erzählt: Er kocht mittags an Schulen in meinem dazu, einen ordentlichen Lebensstil zu erlernen und aus- Wahlkreis und bietet ein Essen an. Die Hälfte der Kinder zuprägen! hat die Tomatensoße zurückgehen lassen, weil sie nicht (Beifall bei der CDU/CSU) schmeckte und weil dort Stückchen drin seien. Es waren Tomatenstückchen. Dass eine Tomatensoße aus Tomaten Liebe Frau Künast, wir sind nicht für Ernährungsdik- gemacht wird, ist für uns sicherlich einsehbar und eine tate, Gängeln und Verbieten, sondern setzen auf Ein- ganz normale Erkenntnis. sicht. Wir müssen die Eltern befähigen. Die Familien sind wichtig. Es kann nicht sein, dass nun nach dem Das Ernährungswissen in Deutschland, auch der Staat und Herrn Seehofer gerufen wird, wenn Eltern ih- Bezug zu Nahrungsmitteln, den Mitteln, von denen wir (B) rer Verantwortung nicht nachkommen und ihre Kinder leben, ist sehr schlecht ausgeprägt. Es darf uns nicht (D) ohne Frühstück oder mit einem Schokoriegel in die wundern, dass Menschen eher den Preis einer Musik-CD Schule schicken. Wir brauchen hier als Unterstützung kennen, aber nicht wissen, dass es Fleisch unter einem Ernährungslehrer. Deshalb unterstützt die CDU/CSU- Euro eigentlich gar nicht geben könnte. Fraktion einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz, der auf Einsicht, aber auch auf das spielerische Erlernen setzt. In Die Wertschätzung der Produktion in Deutschland, diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den der regionalen Produktion, auch der Landwirtinnen und Rahmenbedingungen an den Schulen. Wir sind uns mit Landwirte gehört ebenfalls in diese Gesamtstrategie. unserem Koalitionspartner absolut einig, dass die Rah- Wir fordern die Regierung auf, lieber Herr Seehofer menbedingungen an den Schulen, insbesondere die Qua- – auch Ihre Kolleginnen und Kollegen; Frau Schmidt ist lität der Mittagsverpflegung, verbessert werden müssen. ebenfalls da –, hier tätig zu werden. Ich begrüße sehr, Was können denn die Kinder dafür, wenn ihnen in Kios- dass Herr Seehofer – im Gegensatz zu Frau Künast – ken nur Schokoriegel und süße Brause angeboten wer- Frau Schmidt mit ins Boot geholt hat und sie sich ab- den? Hier müssen wir beginnen. Wir dürfen nicht mit stimmen. irgendwelchen Kennzeichnungen Menschen reglemen- tieren, sondern müssen auf Einsicht setzen. Ich wünsche mir auch, dass das Innenministerium, das für Sport zuständig ist, und das Bildungsministe- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE rium, das für die Bildung und die Ausbildung unserer GRÜNEN]: Das ist doch wohl keine Regle- Menschen in Deutschland zuständig ist, mentierung von Menschen!) (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Die Familie!) Zu einem Werbeverbot im Fernsehen. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Wenn wissenschaftlich erwie- sich zusammensetzen und die Projekte, für die wir Mittel sen wäre, dass ein Werbeverbot im Fernsehen dazu zur Verfügung stellen können, bündeln. führte, dass die Kinder nicht dicker würden, sondern ab- Eine weitere Aufgabe wird auch eine große Heraus- nähmen, dann wäre ich auf Ihrer Seite. forderung sein – dabei schaue ich auch zu den Kollegin- (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist bewiesen!) nen und Kollegen der Opposition –: Wir haben uns auf eine Anhörung demnächst in unserem Ausschuss geei- Aber in Schweden, wo die Werbung komplett verboten nigt. ist, hat sich der Anteil übergewichtiger Kinder in den letzten Jahren im Schnitt verdreifacht. In Kanada haben (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Du hast es wir das gleiche Phänomen. Die Kinder haben dort, wo es permanent verhindert!) 9824 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Julia Klöckner (A) – Wir haben sie nicht verhindert. Wir haben zugestimmt. Die WHO hat im letzten Jahr die seelische Gesund- (C) heit als die neue Herausforderung identifiziert. Sie (Weiterer Zuruf des Abg. Hans-Michael schätzt ein, dass die psychischen Erkrankungen im Goldmann [FDP]) Jahr 2020 die am häufigsten auftretende Krankheit sein – Lieber Herr Kollege Goldmann, für eine Anhörung zu werden. Ja, die EU hat ein Grünbuch vorgelegt und sein, ist das eine. Aber auch darüber reden zu wollen, einen Beschluss zu gesunder Ernährung und mehr Bewe- was der Inhalt ist und dass der Inhalt sinnvoll ist, ist das gung gefasst. Warum müssen wir immer hinterhertrap- andere. Ihr seid für das Formale zuständig. Wir sind für peln, statt eigene strategische Empfehlungen und Er- das Inhaltliche zuständig. Das ist gut so. kenntnisse der Weltgesundheitsorganisation für einen Neuansatz abzuleiten, wenn es tatsächlich um einen na- (Beifall bei der CDU/CSU) tionalen Aktionsplan gehen soll? Bei dieser inhaltlichen Schwerpunktsetzung geht es (Beifall bei der LINKEN) uns darum, die europäische Ebene, die Bundesebene, die Landesebene und die kommunale Ebene trotz föderalis- Der zweite Kritikpunkt. Erfahrungen belegen – wir tischer Probleme so zusammenzubringen, dass wir wirk- fangen weiß Gott nicht bei null an –, und wissenschaftli- lich nachhaltig eine Volksbewegung für bessere Ernäh- che Erkenntnisse besagen: Aufklärung, Information und rung und mehr Bewegung bekommen, damit wir nach Programme sind nicht ausreichend, um Verhalten dauer- Churchill sagen können: Man soll dem Leib etwas Gutes haft zu verändern, wenn gesellschaftliche Verhältnisse bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen. nicht ebenfalls verändert, wenn nicht die Ursachen der Gesundheitsrisiken angegangen werden. Ihre Papiere (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- strotzen nur so davon, die Eigenverantwortung in den NEN]: Churchill war doch dick!) Mittelpunkt zu schieben und staatliche Verantwortung allenfalls auf Aufklärung und die berühmt-berüchtigten Wir möchten den Menschen helfen und ihnen die Rah- Rahmenbedingungen zu reduzieren. Ich sage: Der Wille menbedingungen geben, sie nicht gängeln, sondern ih- bei den Einzelnen, bei den Akteuren ist da; nur die Be- nen Spaß und Freude am Leben vermitteln. Das ist das dingungen sind nicht so, um ihn zu realisieren. Ziel der CDU/CSU-Fraktion. Beispiele: Kindern, die unter den Bedingungen von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hartz IV leben, stehen pro Tag rund 98 Cent für die Er- neten der SPD) nährung am Mittag zur Verfügung. Wer kann da eine ge- sunde Ernährung gewährleisten? In den Schulen werden Präsident Dr. Norbert Lammert: im Durchschnitt 2,40 Euro ausgegeben. Diese Forderung (B) Dr. Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die gilt nicht nur in einem Bundesland, sondern überall: Hier (D) Fraktion Die Linke. muss subventioniert werden, um eine unentgeltliche Schulspeisung zu ermöglichen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Das Bundesland, aus dem ich komme, Mecklenburg- Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ein na- Vorpommern, setzt an, Ernährung für Gesundheit in tionaler Aktionsplan steht an. Viele – wir haben es heute Reha- und Pflegeeinrichtungen zu organisieren, aber die gehört – sind euphorisch. Ich bin eher skeptisch. Wa- Pflegekostensätze lassen nur Masseneinkäufe zu. rum? Was hier vorliegt, ist eher Aktionismus denn eine (Mechthild Rawert [SPD]: Man kann das Ca- Strategie; das sage ich klipp und klar. tering auch anders ausschreiben!) (Beifall bei der LINKEN) Mit der Novellierung der Pflegeversicherung hat die So richtig es ist, für die Beförderung einer gesunden Le- Politik seit Jahren versagt, auch so etwas zu ermögli- bensweise alle einzubeziehen – alle Ministerien, Bund chen. und Länder, die Medien, die Wissenschaft, die Wirt- Sie fordern Konzepte und appellieren an die Sportver- schaft, das Gesundheitswesen, den Sport, die Sozialver- eine. Sie kennen die finanzielle Ausstattung. Wie soll sicherungen –: Der Knackpunkt ist, mit welcher Zielstel- dort etwas Neues geschehen? Es sollen Fahrradwege lung miteinander verhandelt und diskutiert wird. ausgebaut werden, aber wir kennen die finanzielle Aus- stattung der Kommunen. Ich denke, hier wird viel zu An dem Ansatz der Regierung gibt es aus meiner kurz gegriffen. Sicht drei wesentliche Kritikpunkte. Erstens. Sie wollen ein Bewusstsein für gesunde Ernährung und Bewegung Die dritte Kritik. Es fehlt an Konkretheit. Um es auf ausprägen. Frage: Wie ernst nehmen Sie eigentlich das, den Punkt zu bringen: Das Eckpunktepapier ist sehr un- was bisher geschah? Unzählige Experten und Akteure konkret. Das Memorandum der Konferenz von Februar haben seit dem Jahr 2000 über Gesundheitsziele für in Badenweiler, auf der ganz Konkretes vereinbart Deutschland beraten. Eindeutig identifiziert ist, dass die wurde, wäre eine gute Grundlage gewesen. Darin steht, Ziele „gesunde Ernährung“, „mehr Bewegung“ und bis 2010 sollten folgende Ziele erreicht werden: „Stressabbau“ komplex angegangen werden müssen, um 10 Prozent mehr Menschen sollen eine halbe Stunde täg- chronische Krankheiten zu vermeiden und Wohlbefin- lich körperlich aktiv sein, 20 Prozent mehr Menschen den zu befördern. sollen täglich fünf Portionen Obst und Gemüse essen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9825

Dr. Martina Bunge (A) 30 Prozent mehr Einrichtungen mit Gemeinschaftsver- Weitere Sendungen laufen unter Titeln wie „Du bist, (C) pflegung sollen gesunde Mahlzeiten anbieten. Dann was du isst“, „Besser essen. Leben leicht gemacht“, könnte der Trend umgekehrt werden. Was findet sich im „Schwer in Ordnung! – Kinder specken ab“ oder „Dicke Eckpunktepapier? Ich zitiere: Freundinnen. Kampf gegen Kilos“. Das sind nur ein paar Beispiele. Einige dieser Sendungen geben sicherlich Zentrales Ziel ist es, bis 2020: wertvolle Tipps und setzen nicht auf den Sensations- … das Ernährungs- und Bewegungsverhalten nach- effekt. Aber nicht immer wird mit den Betroffenen ver- haltig zu verbessern, … antwortungsvoll umgegangen; denn: Je reißerischer auf- „Nachhaltig“, allgemeiner geht es nicht. gemacht, desto höher die Einschaltquoten. Die fehlende Konkretheit beziehe ich auch darauf, „Die Zeit“ berichtete im letzten Jahr darüber, dass dass jegliche Aussage zum Präventionsgesetz fehlt. Kinderärzte immer häufiger Medienanfragen erhalten, ob sie aus ihrer Praxis nicht ein paar „extrafette Exemp- (Mechthild Rawert [SPD]: Das stimmt nicht!) lare“ zum Interview vermitteln könnten. Das zeigt die Ich hatte gehofft, dass die Ministerin hier heute etwas er- zwei Seiten der Medaille: So hilfreich es sein kann, gänzt. wenn die Medien sich des Themas annehmen – und da- mit auch Kreise erreichen, die auf anderen Wegen (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist in unserem schwer erreichbar sind –, so gefährlich ist es auch; denn Antrag!) im Kampf um Einschaltquoten kann die Auseinanderset- zung mit einem ernsthaften Problem zur Effekthascherei – Ihr Antrag ist eine löbliche Ausnahme. Aber man sieht, auf Kosten der Betroffenen verkommen. Der Kampf ge- wie die CDU/CSU applaudiert, nämlich gar nicht. gen Übergewicht und Bewegungsmangel ist eben keine Welchen Platz soll das Präventionsgesetz in dem Ak- Dokusoap, sondern eine politische und eine gesamtge- tionsplan einnehmen? Ich hoffe, dass es nicht auf den sellschaftliche Aufgabe. Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird. Oder soll der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aktionsplan vielleicht eine Beerdigung erster Klasse für das Präventionsgesetz werden? Fragen bleiben. Wir hö- Seit September 2006 liegt uns mit der vom ren nichts von der zuständigen Ministerin. Wir müssen Robert-Koch-Insititut veröffentlichten Kinder- und Ju- von dem Aktionismus wegkommen. Wir müssen uns gendgesundheitsstudie, abgekürzt KiGGS, erstmals darüber klar sein: Wenn Prävention wirklich Priorität ha- eine bundesweit repräsentative umfassende Untersu- ben soll, dann kostet das etliches an Geld. Aber wir spa- chung vor. Das erschreckende Ergebnis: 15 Prozent der ren Kosten und mindern Leid. Das ist wirklich zuguns- Drei- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, ein Drittel da- (B) ten des Wohlbefindens derer, für die wir hier eigentlich von bereits krankhaft. Mit Übergewicht und Bewegungs- (D) Politik machen. mangel steigen die Gesundheitsrisiken. Jedes zweite stark übergewichtige Kind hat bereits eine Folgeerkran- Ich danke. kung wie Bluthochdruck, Gefäßerkrankungen, Vorstufen (Beifall bei der LINKEN) des Diabetes oder orthopädische Erkrankungen. Ohne Gegenmaßnahmen könnten aus dicken Kindern von heute die Frührentner von morgen werden. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Drobinski-Weiß ist die nächste Rednerin für die Neben den enormen Kosten, die diese Entwicklung SPD-Fraktion. für ein Gesundheitssystem hat, dürfen wir auch nicht vergessen, dass hinter solchen Zahlen Leidensgeschich- ten einzelner Menschen stehen – verschiedene Kollegin- Elvira Drobinski-Weiß (SPD): nen und Kollegen haben dazu bereits Beispiele genannt –: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! körperliche Beschwerden und Einschränkungen und ins- Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Die Dicken besondere bei Kindern und Jugendlichen Hänselei und sind längst als Thema in den Medien angekommen; das Ausgrenzung. Neben den körperlichen sind auch die ist uns heute Morgen in einem Blatt gezeigt worden. psychosozialen Belastungen groß. Mehrfach wöchentlich flimmern sogenannte Dokusoaps über den Bildschirm, bei denen man sich zu Hause vor Hauptrisikofaktoren für Übergewicht sind unter ande- dem Fernseher bei Chips und Cola mit wohligem Gru- rem ein niedriger sozialer Status und ein niedriges Bil- seln anschauen kann, wie eine von Ernährungsnannys dungsniveau. Dabei ist gesundes Essen nicht teurer als und Kamerateams heimgesuchte Familie ihre überge- ungesundes. Hier muss die Aufklärung einsetzen. Wir wichtigen Kinder mit falschem Essen krankfüttert. dürfen nicht zulassen, dass Kinder aus sozial schwachen Strukturen in dieser Gesellschaft als „arm, dumm und In einer Sendung namens „Liebling, wir bringen die dick“ keine Chance auf eine bessere Zukunft haben. Kinder um!“ wird das Ganze gekrönt durch eine Compu- tersimulation aus der Kriminalistik, mit der den Eltern Die Deutschen sind die Dicksten in Europa. Wir legen anhand einer Fotobearbeitung die Mutation ihrer Mop- heute einen Maßnahmenkatalog vor, mit dem dieser Ent- pelchen zu Monstern als Horrorszenario vorgeführt wird. wicklung gegengesteuert werden soll. Wir begrüßen den Eine weitere Simulation zeigt dann, dass aus denselben von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und Verbrau- Moppelchen auch Models werden können, wenn sie sich cherschutzminister Horst Seehofer vorgelegten Aktions- an die Essenstipps der Ernährungsnannys halten. plan. 9826 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Elvira Drobinski-Weiß (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie verhalten sich ähnlich wie beim Thema Ausbau der (C) Kinderkrippenplätze. Diese im wahrsten Sinne des Wortes „schwerwie- gende“ Aufgabe muss alle gesellschaftlichen Kräfte ein- (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist doch beziehen. Natürlich liegt die Verantwortung in erster Quatsch!) Linie bei den Eltern. Aber auch die Wirtschaft muss mit- Das ist nach anderthalb Jahren erwartungsvollen War- ziehen. Das Überangebot an Snacks, Fast Food, Süßig- tens ein bisschen wenig. So können Sie sich nicht aus Ih- keiten und Getränken, die überall und zu jeder Tageszeit rer Verantwortung ziehen. Immer, wenn es konkret wird, verfügbar sind, häufig in XXL-Größen, verschärft die sitzen die Regierung und die Koalitionsfraktionen unter Problematik. Ich appelliere an die Lebensmittelherstel- dem Tisch. ler, insbesondere bei Produkten, die häufig von Kindern gegessen und getrunken werden, also bei Säften, bei (Mechthild Rawert [SPD]: Das tun wir ja Keksen und bei Snacks, Zucker und Fett zu reduzieren nicht!) und auf Geschmacksverstärker, die den Appetit anregen und Heißhungerattacken auslösen, zu verzichten. Ich finde, es ist nicht in Ordnung, wenn der Minister nur darauf hinweist, dass es in dieser Frage keine Bevor- Besondere Situationen erfordern besondere Maßnah- mundung und keinen erhobenen Zeigefinger geben men. Auch über ein Verbot von auf Kinder ausgerichte- dürfe. Es handelt sich nämlich um einen sogenannten ter Werbung muss nachgedacht werden dürfen, ebenso asymmetrischen Markt. Wir dürfen es nicht zulassen, über eine Nährwertkennzeichnung, die Verbrauchern, dass Eltern und Kinder mit Werbemitteln regelrecht be- die sich ausgewogen ernähren wollen, die Auswahl der knallt werden und dass die Kinder in den Schulen vor Produkte erleichtert. Automaten hängen, die mit Zuckergetränken und Süßig- keiten gefüllt sind. Wir müssen gesetzliche Rahmenbe- Nach meiner Meinung sollte ein ungesundes Essver- dingungen schaffen, um das zu ändern. halten auch in finanzieller Hinsicht unattraktiver gestal- tet werden. Wie ist zu rechtfertigen, dass Süßwaren und Die Situation ist für uns alle nicht neu: Es gibt Zehn- Knabberartikel mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz jährige mit Altersdiabetes, Fünfjährige mit Herzinfarkt, von 7 Prozent besteuert werden, während Mineralwasser Kinder, die bei den Schuleingangsuntersuchungen nicht dem vollen Umsatzsteuersatz unterliegt? Der Gesetzge- mehr rückwärts gehen oder auf einem Bein stehen kön- ber hat bei der Einführung der Umsatzsteuer nach dem nen, 18-Jährige, deren Muskelskeletterkrankungen schon Mehrwertsteuersystem zum 1. Januar 1968 entschieden, so weit fortgeschritten sind, dass sie erwerbsunfähig dass fast alle Nahrungsmittel – ausgenommen sind die sind, bevor sie überhaupt ins Berufsleben starten könn- meisten Getränke – aus sozialpolitischen Erwägungen ten. Hier müssen wir unsere Verantwortung wahrneh- (B) mit dem ermäßigten Satz besteuert werden. Solche so- men. Dazu bedarf es konkreter Maßnahmen, die wir in (D) zialpolitischen Erwägungen können heute gute Gründe Ihrem sogenannten Aktionsprogramm allerdings vermis- dafür sein, ungesunde Nahrungsmittel in finanzieller sen. Hinsicht unattraktiver und gesunde dafür attraktiver zu machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Aktions- Viel von dem, was die Wirtschaft bisher geleistet hat, plan der Bundesregierung und mit unserem Maßnah- ist gut. Es gibt Unternehmen, die sich sehr stark engagie- menkatalog haben wir einen großen Schritt getan, wei- ren und sogar ihre Produktpalette und ihr Angebot ver- tere werden folgen. Dafür bitte ich Sie um Ihre ändert haben. Es gibt aber auch viele Unternehmen, die Unterstützung. genau das Gegenteil tun. Daher ist eine unterstützende Rahmenpolitik des Gesetzgebers schlicht und ergreifend Danke für Ihre Aufmerksamkeit. notwendig. Wir sind schließlich keine Unternehmensbe- ratung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie haben fünf Handlungsfelder dargestellt. Frau Ich erteile das Wort nun der Kollegin Ulrike Höfken, Bunge hat dargelegt, dass die konkrete Ausgestaltung Bündnis 90/Die Grünen. fehlt. Wir wollen Folgendes: Erstens. Wir wollen ge- meinsam mit den Ländern dafür sorgen – die Mehrheit Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auf allen Ebenen haben Sie da –, dass die Schulverpfle- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und gung verbindlich geregelt wird. Es kann doch wirklich Kollegen! Die Ziele, die Sie formuliert haben, sind rich- nicht sein, dass die meisten Kinder und Jugendlichen, tig. Es ist auch schön, dass das, was Rot-Grün angefan- die nachmittags Unterricht haben, jeden Tag acht Stun- gen hat, von Ihnen fortgesetzt wird. Frau Künast hat ei- den lang kein vernünftiges Ernährungsangebot bekom- nige Punkte angesprochen: die Modellprojekte, die men. Das ist doch regelrecht ein Angriff auf die körperli- Informations- und Aufklärungskampagne, die Health- che Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen. Claims-Verordnung der EU und die Plattform Ernährung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Bewegung. Diese Bemühungen führen Sie fort. Aber Ihr sogenannter Aktionsplan ist nichts anderes als Zweitens: verbindliche Standards. Der Minister hat eine Absichtserklärung und ein Vertagungsprogramm. das erwähnt, sagt aber nicht, wie das gemacht werden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9827

Ulrike Höfken (A) soll. Richtig ist auf jeden Fall: Wir brauchen Qualitäts- Qualität und verbraucherorientierte Produktion: Da ha- (C) standards, damit den Kindern nicht etwas angeboten ben Sie den Landwirten massenweise Geld gestrichen. wird, was sich bloß als eingeschweißte Pappe heraus- Der Landwirtschaft ist noch nie so viel Geld für die Qua- stellt. litätsproduktion weggenommen worden wie unter dieser Regierung. Man muss wirklich sagen: Dann machen Sie Drittens: die Automaten. Es kann nicht sein, dass sich auch bei der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte Schutzbedürftige einem Angebot ausgesetzt sehen, das die Qualitätsoffensive mit, zu der die Landwirtschaft sel- ihnen nur Produkte liefert, die ihnen nicht zuträglich ber in der Lage ist. sind. Es ist schon erwähnt worden: Gut ist zum Beispiel Mineralwasser. Gesündere Produkte gibt es also durch- aus. Es muss nur dafür gesorgt werden, dass sie auch an- Dr. (FDP): geboten werden. Frau Höfken, kommen Sie bitte Schluss. Viertens: noch einmal zur Kennzeichnung. Sie sagen, Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie wollten Orientierung geben. Das sagte auch Frau Klöckner. Aber im Grunde machen Sie das Gegenteil. Noch kurz zum Geschenkpaket des Deutschen Bau- Ein bisschen wie beim Verbraucherinformationsgesetz ernverbandes: Darin war Müllermilch – ein Produkt mit betreiben Sie nämlich Informationsverschleierung. Das Orangen, massenhaft Zusatzstoffen, süß. Wenn das das geht nicht. Beispiel für die deutsche Landwirtschaft sein soll, dann muss man sich über die Vertretung Gedanken machen. Sie haben Frau Künast wohl falsch verstanden. Ich habe die Tüte von Frau Künast mitgebracht. Vielen Dank. (Die Rednerin hält eine Süßigkeitentüte hoch) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU) Hierauf werden sehr differenziert fünf Kriterien darge- stellt. Das ist eine Information, aber leicht verständlich. Dr. Hermann Otto Solms (FDP): (Mechthild Rawert [SPD]: Merchandising Das Wort hat die Kollegin Uda Heller, CDU/CSU- oder was?) Fraktion. Man kann doch nicht immer den Taschenrechner mit- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schleppen, oder man muss doch nicht Ernährungswis- senschaft studiert haben, um eine Orientierung zu erhal- Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU): ten. Gerade für Leute, die keine Zeit haben, oder auch Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (B) (D) für Leute aus bildungsferneren Schichten ist es wichtig, gen! Sehr geehrter Herr Minister! Was, glauben Sie, ein solch einfaches Angebot zu haben. wünschen sich die Deutschen in Meinungsumfragen am Fünftens. Wir fordern in unserem Antrag ein 20-Mil- häufigsten? Richtig: Gesundheit steht immer an erster lionen-Programm für sozial Schwache, für die Unterstüt- Stelle. Wir beschäftigen uns heute nicht mit dem Kampf zung derjenigen, die am meisten unter diesen Fehlent- gegen Fett, sondern mit dem Thema Gesundheit. wicklungen leiden, die nun schon seit einigen Jahren Leider legt die medizinische Wissenschaft den anhalten. Ich denke, das muss eine Zielgruppe sein. Wir Schwerpunkt auf die Behandlung der Krankheiten. Die müssen die, die am unteren sozialen Rand sind, wirklich Erforschung der Krankheitsursachen tritt in den Hinter- unterstützen. grund. Bei der Betrachtung aller Krankheitsauslöser Sechstens: Prävention. Der Antrag von CDU/CSU können wir die Krankheiten im Wesentlichen in drei und SPD ist voll von dem Wort „Prävention“. Sie sagen große Gruppen einteilen: in die ernährungsbedingten, aber gar nichts zum Thema „Präventionsgesetz“. die durch Lebensumstände bedingten sowie die umwelt- bedingten Krankheiten. (Mechthild Rawert [SPD]: Jawohl! Hier! – Die Abgeordnete hält den Antrag hoch) Moderne Ernährungsforschung hat nachgewiesen, dass durch falsche Ernährung der größte Teil aller Das ist doch wohl die Aufgabe des Gesetzgebers. Also, Krankheiten hervorgerufen wird. Gebissverfall, Er- bitte schön, dann nennen Sie auch wirklich die konkre- krankungen des Bewegungsapparates, Stoffwechselstö- ten Punkte. rungen wie Fettsucht und Zuckerkrankheit, die meisten Siebtens: der Sport. Wichtig ist es, Breitensport zu Erkrankungen der Verdauungsorgane, Herz-Kreislauf- verankern und dafür zu sorgen, dass er in den Unter- Erkrankungen sowie die meisten Allergien und natürlich richtsinhalten stärker zum Tragen kommt. auch die Entstehung von Krebs sind auf Fehlernährung zurückzuführen. Atem- und Schlafstörungen werden Achtens: die Landwirtschaft. Wir brauchen natürlich ebenfalls durch Übergewicht begünstigt. Produkte, die eine gesunde Ernährung ermöglichen. Die Lage, gerade was die Produktion von ökologischen Le- Meine Damen und Herren, gesunde Ernährung und bensmitteln betrifft, ist durch das Handeln der Bundes- ausreichende Bewegung sind nicht nur Dauerthemen in regierung traurig. Lifestyle-Magazinen wie „Fit For Fun“, sondern beherr- schen mittlerweile die Titelserien der Nachrichtenmaga- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto zine wie „Stern“ und „Focus“. Interessant ist die Fest- Solms) stellung, dass mehr Zeitschriften verkauft werden, wenn 9828 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Uda Carmen Freia Heller (A) das Thema Diät auf der Titelseite steht. Frauenzeitschrif- es meistens ein Leben lang. Fettzellen erinnern sich im- (C) ten werben mit Wunderdiäten und -pillen, die über Nacht mer an diesen Start. Von den psychischen Schäden durch das Gewicht reduzieren sollen. Hänseleien ganz zu schweigen. Ernährungs- und Bewe- gungsverhalten werden bereits im Kindesalter erlernt. (Detlef Parr [FDP]: Genau der falsche Weg!) Allerdings ändern sich gerade im Kinder- und Jugend- Minimaler Aufwand, maximaler Erfolg – das ist si- alter die Geschmacksvorlieben. Somit sind sie noch gut cherlich der Wunsch von uns allen. Ich gebe zu, dass zu beeinflussen. auch ich schon diese Erfahrung gemacht habe und mei- Verbote sind keine Lösung; auch das wurde heute nen Kleiderschrank mit Kleidungsstücken der Größen 38 schon oft gesagt. Der richtige Umgang mit Lebens- und bis 42 bestücke. In der Theorie ist alles klar; während Genussmitteln muss erlernt werden. Essen braucht Zeit meines Studiums war Lebensmittel- und Ernährungs- – auch das gehört heute dazu –, und Genießen muss ge- lehre mein Lieblingsfach. Doch wie sieht es oft in der konnt sein. Ein aktiver Lebensstil muss deshalb vom Praxis aus? Gestern Abend sah ich einen Herrn von ersten Tag an gefördert werden, damit Übergewicht gar Foodwatch im Fernsehen, der der Meinung war, die nicht erst entsteht. Dazu gehört auch, dass nicht Zahn- Politik mache es sich sehr einfach, indem sie an die Ei- pastaprodukte für Kinder schon mit Zucker versehen genverantwortung der Bevölkerung appelliere, statt die werden, um den Geschmacksnerv anzuregen. Schuldigen der Lebensmittelindustrie in Haftung zu neh- men. Prima, meine lieben Kollegen! Wenn ich dem- Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für nächst einmal wieder zunehme, schimpfe ich auf die Gynäkologie und Geburtshilfe, Professor Klaus Vetter, Werbeindustrie, welche mich ständig verführt, und auf berichtete, dass schon die Neugeborenen heute sehr viel die Zuckerindustrie, die Hunderte von leckeren Riegeln größer und schwerer sind. Als vor 34 Jahren mein erster anbietet. Sohn geboren wurde, waren Kinder mit 2,5 Kilogramm normalgewichtig. Schaue ich heute in die Lokalpresse, Diese überspitzte Darstellung soll uns natürlich nicht in der Neugeborene meiner Heimat vorgestellt werden, von der Tatsache ablenken, dass in unserem Land nur stelle ich fest, dass das Durchschnittsgewicht zwischen etwa 30 Prozent der Bevölkerung normalgewichtig sind. 3,5 und 4 Kilogramm liegt. Auch größer sind die Babys Nach den neuesten medizinischen Studien ist der geworden. Verantwortlich dafür sind angeblich das hohe Bauchumfang ein zuverlässigerer Risikoindikator für Geburtsalter der Mütter und hierdurch hervorgerufene Herz-Kreislauf-Probleme als der bisher angewandte Stoffwechselstörungen, die sich häufig in Übergewicht Body-Mass-Index, der sich am Gesamtgewicht orien- der Babys niederschlagen. tiert. Je höher die Ansammlung von Körperfett in der Leibesmitte ist, umso höher ist das Gesundheitsrisiko. Das spätere Gewicht eines Menschen wird bereits vor (B) Ich möchte Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die der Geburt durch das Gesundheitsverhalten der Mutter (D) von den Medizinern ermittelten Grenzwerte nicht vor- und die Gewichtsentwicklung in den ersten Lebensjah- enthalten, aber bitte erschrecken Sie nicht: Bei den Da- ren maßgeblich mitgeprägt. Deshalb erwarte ich von den men sollte der Bauchumfang etwa 80 Zentimeter nicht Müttern eine bewusste Ernährung während der Schwan- übersteigen, und die „grenzwertige Schwabbelmasse“ gerschaft – natürlich ohne zu rauchen; auch dieses der Männer – ein schöner Ausdruck aus dem „Focus“ Thema darf man hier nicht aussparen – sowie die Bereit- 18/2007 – liegt bei 74 Zentimetern. schaft, das Neugeborene zu stillen. (Dr. [DIE LINKE]: Für eine erfolgreiche Prävention gegen Übergewicht „Hüftgold“ nennt man das!) im Kindes- und Jugendalter müssen die Maßnahmen auf den sozialen Status und die geschlechtsspezifischen Un- Ich empfehle Ihnen, meine lieben männlichen Kollegen, bei Gelegenheit den hochinteressanten „Focus“-Leitarti- terschiede ausgerichtet sein. Prävention muss bedürfnis- kel „Verflixter Bauch“ zu lesen. gerecht sein, sonst ist sie wirkungslos. Im Vordergrund muss das spielerische Erlernen von Handlungskompe- (Zuruf von der SPD: Männer brauchen eine tenzen statt der alleinigen Vermittlung von Wissen ste- extra Diät!) hen. Aber wie immer überreagieren wir in Deutschland. Zum Im Geiseltal im Süden von Sachsen-Anhalt gibt es die Menschen gehören nicht nur der Körper, sondern insbe- Kneipp- und Naturkindertagesstätte „Gänseblüm- sondere auch der Geist und die Seele. Auch das sollten chen“, die seit 1990 genau diesen Denkansatz in absolut wir nicht vergessen. vorbildlicher Weise umsetzt. In dieser Naturkindertages- stätte, umgeben von Wald, Wiesen und Feldern, haben (Beifall bei der CDU/CSU – Detlef Parr die Kinder die optimale Voraussetzung, die Vielfalt von [FDP]: Mens sana in corpore sano!) Naturerlebnissen zu entdecken, die Wirkprinzipien der Die Meinung unserer Großeltern, dass runde Kinder kneippschen Lehre am eigenen Körper zu spüren, die auch gesunde Kinder sind, ist medizinisch längst wieder- Wirkung von Heilkräutern auf die Gesundheit zu erfah- legt. Auch das übertriebene Schlankheitsbild unserer ren und gemeinsam zu kochen. Die Naturkindertages- Zeit entspricht keiner gesunden Lebensweise. So sind stätte hat 2002 im Rahmen der Kampagne „Fit Kid“ bereits 20 Prozent der Kleinkinder übergewichtig und erfolgreich mit dem Beitrag „Unsere kunterbunte Kin- über 10 Prozent untergewichtig. Bei Schulkindern ver- derküche“ teilgenommen. Bei meinem Besuch dort war stärkt sich diese Tendenz, wie meine Kollegin Frau ich beeindruckt von der spielerischen und mit der Natur Klöckner bereits ausführte. Wer als Kind dick war, bleibt in Einklang stehenden Art, den Kindern ganzheitliche Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9829

Uda Carmen Freia Heller (A) Bildung nahezubringen und kindliche Kompetenz zu Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU): (C) stärken. In der vergangenen Woche überraschten die Ja. – Wer miterlebt, wie viel Mühe Kneipp-Kinder die benachbarten Grundschüler mit ge- sunden und leckeren Pausenbroten – ich denke, eine (Heiterkeit – Detlef Parr [FDP]: Keine tolle Aktion. Reaktion!) Ich bin der festen Überzeugung, dass ein solcher die Aufzucht eines Pflänzchens macht, der weiß auch ganzheitlicher und gleichzeitig kreativer und individuel- den Genuss eines frischen Salatkopfes mehr zu schätzen. ler Ansatz langfristig auch der Schlüssel zur Lösung ei- Vielen Dank. niger unserer Probleme ist – Ernährungserziehung in spielerischer Weise. Sachsen-Anhalt gehört zu den we- (Beifall bei der CDU/CSU) nigen Ländern, die im Schulgesetz verankert haben, dass Schulträger eine warme Vollwertmahlzeit für alle Schü- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lerinnen und Schüler anbieten müssen. Das gibt es also Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt schon. Diese wird überwiegend durch Fernversorger ge- hat die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion währleistet. Hilfreiche Broschüren werden den Verant- das Wort. wortlichen an die Hand gegeben. Ich habe einmal zwei mitgebracht: „Schulspeisung – gesund und lecker! Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Handlungsanleitung für Caterer“ und „Schulessen – Wie Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- wählen wir den richtigen Anbieter? Eine Entscheidungs- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist uns doch al- hilfe für Eltern und Lehrer“. len klar, dass falschem Ernährungsverhalten und Bewe- Unsere Landesregierung, die übrigens die einzige in gungsmangel gesetzlich nicht entgegengewirkt werden Deutschland ist, die einen Anspruch auf Kinderbetreu- kann. ung ab dem Tag der Geburt im Gesetz festgeschrieben (Detlef Parr [FDP]: Dann lassen Sie es auch!) hat, ist bemüht, diese Betreuungsphase mit vielfältigen Arbeitsprogrammen in den Kitas zu begleiten, basierend Wir müssen auf Freiwilligkeit setzen und die Menschen auf der Erkenntnis, dass gesunde Ernährung und ausrei- in ihrem Alltag abholen. Genau aus diesem Grund ist chend Bewegung bereits im frühen Kindesalter erlernt dieser Aktionsplan von Herrn Bundesminister Seehofer werden können. Auf Grundlage der Bildungspro- gut und richtig! gramme wird das Modellprojekt „Bildung durch Bewe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gung in Kindertagesstätten“ durchgeführt und mit Lan- der CDU/CSU – [SPD]: Und desmitteln gefördert. Wissenschaftler am Institut für (B) Ulla Schmidt!) (D) Sportwissenschaften der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg haben gemeinsam mit sechs Kindertages- Liebe Kollegin Ulrike Höfken, Sie sprechen von einer stätten ein Förderprogramm entwickelt, das die Praxis in Absichtserklärung und leeren Worten. Wenn wir aber auf den Kitas mit zahlreichen Beispielen und methodischen ein Mitmachen setzen, den Föderalismus als Chance be- Hinweisen unterstützt. greifen und genau diese Programme von unten her be- gleiten, dann haben wir auch eine Chance, die Menschen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zu erreichen. In Ihrem Vortrag war die Rede von acht Frau Kollegin Heller, kommen Sie bitte zum Schluss. Stunden Schulunterricht ohne Mittagessen. Da kann ich den Kindern aus Rheinland-Pfalz nur empfehlen: Kommt nach Sachsen-Anhalt. Da gibt es Mittagessen, Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU): und zwar ein gesundes. – Das hat meine Kollegin Uda Ja. – Bewusst wurde hier ein fachpolitischer Schwer- Heller eben gesagt. punkt gesetzt. (Widerspruch bei der FDP – Beifall bei Abge- Ich begrüße sehr die Pläne der Bundesregierung, Er- ordneten der LINKEN) nährung und Gesundheit als Pflichtfach in die Lehr- pläne der Schulen aufzunehmen. In den wenigsten Familien ist es heute so, dass noch regelmäßig gemeinsam gegessen wird. Dafür nimmt der (Ute Kumpf [SPD]: Sie scheint den Präsiden- Konsum von Fertiggerichten zu; das wissen wir alle. Wir ten nicht gehört zu haben!) haben in dieser Debatte auch festgestellt, dass veränderte Flankierend dazu sollte der Sportunterricht wieder deut- Lebensstile zu verändertem Bewegungsverhalten und lich aufgewertet werden; denn durch Stundenreduzie- fehlendes Wissen um gesunde Ernährung zu Fehlernäh- rung wurden die vorschulkindlichen Aktivitäten zurück- rung führen. An dieser Stelle müssen wir gegensteuern. geführt. Zu den Schulzeiten meiner beiden Söhne gab es Die Debatte zeigt, dass wir das – auch wenn wir unter- das Grundfach „Schulgarten“, welches mit praktischer schiedliche Wege suchen – alle wollen. Tätigkeit den Anbau von Obst und Gemüse auf eigens Diese Debatte zeigt auch deutlich, dass sich gesundes dafür vorgesehenen Flächen ermöglichte. Verhalten und die Prävention von Fehlernährung und Bewegungsmangel nur durch ein Bündel von Maßnah- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: men umsetzen lassen. Wir haben uns in unserem Antrag Frau Kollegin Heller, Ihre Redezeit ist längst abgelau- auf das Essverhalten von Kindern und Jugendlichen fen. konzentriert, und wir planen ein solches Bündel gemein- 9830 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) sam mit dem Aktionsplan der Bundesregierung. Die Schluss eine kleine Idee. Wir sollten vielleicht einmal (C) Maßnahmen sind notwendig, sinnvoll und ein Baustein über eine Mittagspause nachdenken einer vorsorgenden Politik, der – das bitte ich Sie zu be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der denken – nicht allein steht. Dass es zum Gesundheits- CDU/CSU) ministerium und zum Familienministerium Kontakte gibt und eine gemeinsame Aktion läuft, ist deutlich ge- und möglicherweise auch über Duschen in den Büroräu- worden. men, damit man zwischendurch einmal Joggen gehen kann. Das Öko-Institut hat gestern gemeinsam mit anderen Organisationen gefordert, dass in einen Aktionsplan Er- Vielen Dank. nährung auch ökologische und ethische Werte und As- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der pekte aufgenommen werden müssen. Das stimmt! Es ist CDU/CSU) wichtig, bei der Produktion und dem Konsum von Le- bensmitteln die Umwelt und die fairen Handelsbezie- hungen im Auge zu behalten. Umgekehrt gilt natürlich, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass Lebensmittel, wenn sie nur als Sonderangebot Ich schließe die Aussprache. wahrgenommen werden, an Wertschätzung verlieren. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Das sage ich ganz bewusst auch als Landwirtschaftspoli- den Drucksachen 16/5258 und 16/5271 an die in der Ta- tikerin. Das darf nicht sein! gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Wir sollten aber eines nicht tun: Wir sollten diese De- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann batte zum Thema der Fehlernährung hier und heute nicht sind die Überweisungen so beschlossen. überladen. Wir haben in unserem Antrag den Schwer- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: punkt auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen gelegt, und zwar aus gutem a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Grund. Gesundes Verhalten muss möglichst früh gelernt gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weite- werden. Wir müssen deshalb bei Kindern und Jugendli- ren Stärkung des bürgerschaftlichen Engage- chen das Bewusstsein dafür wecken, dass gutes Essen ments wirklich schmeckt, dass gesundes Verhalten die Lebens- – Drucksache 16/5200 – qualität verbessert und dass Spaß und Freude einziehen. Überweisungsvorschlag: In der letzten Wahlperiode haben wir die Plattform Finanzausschuss (f) Innenausschuss Ernährung und Bewegung gegründet. Damit haben wir (B) Sportausschuss (D) angefangen, alle gesellschaftlichen Gruppierungen zu Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vernetzen. Darauf bauen wir jetzt auf. Wir wollen die Ju- Ausschuss für Gesundheit gendlichen in ihrem Lebensumfeld erreichen. Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Es gab in der letzten Legislaturperiode einen Wettbe- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten werb, von dem ich ganz kurz berichten möchte. Es gab Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Katrin Kunert, nämlich in meinem Wahlkreis, in Barleben, einen Wett- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der bewerbsgewinner. Die NABU-Ortsgruppe hat mit der LINKEN Einrichtung einer Vollwertküche gepunktet. Die Kinder in einer Sekundarschule bieten selber eine Pausenversor- Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements gung an, die sie aus gesunden Nahrungsmitteln herstel- – Drucksache 16/5245 – len. Sie bieten ihren Mitschülerinnen und Mitschülern Überweisungsvorschlag: Getränke an, die auch angenommen werden. Das ist ein Finanzausschuss (f) Beispiel dafür, dass man auf Freiwilligkeit setzen kann Innenausschuss und setzen soll. Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir behandeln diesen Tagesordnungspunkt in der Ausschuss für Gesundheit Kernzeit, weil es sich um ein ganz wichtiges gesell- Ausschuss für Kultur und Medien schaftspolitisches Thema handelt. Wir werden in der Zu- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für kunft mit Problemen im Gesundheitssystem zu rechnen die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es haben, dazu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. (Detlef Parr [FDP]: In der Zukunft? Jetzt schon!) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- nerin der Kollegin Petra Hinz von der SPD-Fraktion das wenn wir die Fehlernährung nicht als wichtiges Thema Wort. begreifen. Wir nehmen diese Verantwortung mit dem heute vorgestellten Gesetzentwurf genauso wie mit den anderen Bausteinen unserer Politik an. Petra Hinz (Essen) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Für uns als Kollegen! In der Tat hat dieser Gesetzentwurf eine lange Abgeordnete des Deutschen Bundestages hätte ich zum Geschichte. Auf die Verbesserung des Gemeinnützig- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9831

Petra Hinz (Essen) (A) keitsrechts arbeitet die SPD-Bundestagsfraktion seit vie- benötigen eine gute Förderung des bürgerschaftlichen (C) len Jahren hin. Mit der Einsetzung der Enquete-Kom- Engagements auch deshalb, weil es den Staat von Auf- mission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ gaben in vielen gesellschaftlichen und sozialen Berei- im Dezember 1999 wurde der Grundstein gelegt. Im Juni chen entlastet, 2002 wurde der Unterausschuss „Bürgerschaftliches (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Engagement“ ins Leben gerufen. der CDU/CSU) Jetzt reden wir über den Gesetzentwurf der Bundesre- zu deren Erfüllung der Staat aufgrund seiner finanziellen gierung, der vor der Sommerpause verabschiedet werden Ausstattung nicht mehr in der Lage ist. soll. Bereits jetzt möchte ich darauf hinweisen, dass die Vertreterinnen und Vertreter im Bereich des bürger- Jetzt möchte ich einige Fakten nennen. Die Zahlen, schaftlichen Engagements sehr großen Einfluss auf das die ich nennen werde, stammen nicht vom BMF. Viel- gehabt haben, was heute vorliegt. Wir reden über eine mehr habe ich gestern eine Ehrenamtsagentur in Essen Entlastung in der Größenordnung von 440 Millionen angerufen, die mir folgende Zahlen nannte: Es gibt in Euro. Damit kommen wir den Menschen entgegen, die Deutschland 23 Millionen ehrenamtlich tätige Men- sich ehrenamtlich für unsere Gesellschaft engagieren. schen. Das sind rund 36 Prozent der Gesamtbevölke- rung. Nahezu jeder dritte Bundesbürger über 14 Jahre (Beifall bei der SPD) engagiert sich ehrenamtlich. Von der Sozialstruktur her Ich möchte hier insbesondere diejenigen erwähnen, sind es Schüler, Studenten, Auszubildende sowie Rent- die vom ersten Tag an dabei waren. Für meine Fraktion ner und Arbeitslose oder Angehörige besonderer Berufs- sind das Michael Bürsch und Ute Kumpf. Wir haben in gruppen, die sich ehrenamtlichem Engagement und der den vergangenen Monaten die Diskussion über die Über- Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben kostenlos stellen. arbeitung der rechtlichen Rahmenbedingungen intensiv Wir reden hier über Steuervergünstigungen. Ich geführt und für eine weitere Stärkung des Gemeinnützig- habe am Montag ein Gespräch mit einer Kollegin aus keits- und Spendenrechts geworben. dem ehrenamtlichen Bereich, aus dem Sportbereich, ge- Ehrenamtliches Engagement muss gefördert werden führt. Sie sagte – dies hat mich sehr beeindruckt –, wir und darf nicht erschwert werden. Mit diesem Gesetzent- dürften mit dem, was wir hier zu Recht beschließen wurf, den wir in den nächsten Wochen beraten werden, wollten, nicht zwei Klassen von Ehrenamtlichen schaf- werden Belastungen für die Ehrenamtlichen vermieden fen, nämlich diejenigen, die keine Möglichkeit hätten, und Anreize geschaffen. etwas steuerlich abzusetzen, und diejenigen, die wir jetzt zu Recht fördern wollten. Die entscheidenden Regelungen für die Bestimmung (B) des Gemeinnützigkeits- und Spendenrechts finden sich Was bedeutet ehrenamtliches Engagement für den (D) in verschiedenen Gesetzen wieder. Ich erwähne hier nur Staat in Geldleistung und Arbeitsstunden? Ehrenamtli- einige, um deutlich zu machen, wie schwierig es ist, sich che leisten durchschnittlich zwei Arbeitsstunden pro in unserer Gesellschaft ehrenamtlich zu engagieren. Woche. Dies sind somit 46 Millionen Arbeitsstunden in der Woche. Man sollte sich einmal vorstellen, wie viel Das Einkommensteuergesetz gibt die steuerliche Be- gemeinnützige Arbeit durch Ehrenamtliche in den Kom- handlung von Zuwendungen an gemeinnützige Organi- munen übernommen wird. Für ganz Deutschland erge- sationen vor. Die Einkommensteuer-Durchführungsver- ben sich somit rund 2,4 Milliarden Arbeitsstunden pro ordnung enthält eine Aufzählung gemeinnütziger Jahr. Zwecke, nach denen Zuwendungen einkommensteuer- lich geltend gemacht werden können. Schließlich defi- Setzt man nun den angestrebten Mindestlohn von niert die Abgabenordnung gemeinnützige, mildtätige 7 Euro an – hierbei geht es um eine zukunftsgerichtete und kirchliche Zwecke, für die eine steuerliche Begüns- Diskussion –, dann lässt sich aus der Tätigkeit der Eh- tigung vorgesehen ist. renamtlichen ein geldwerter Vorteil in einer Größenord- nung von – ich erlaube mir, diesen Betrag zu runden – Diese Vielzahl von gesetzlichen Regelungen führt im- 17 Milliarden Euro pro Jahr errechnen. An dieser Stelle mer wieder zu Intransparenz und erhöhtem Aufwand für sollte man all denjenigen ein Dankeschön sagen, die sich die Finanzbehörden, aber auch – das ist entscheidend – in diesem Bereich engagieren. zu einer unterschiedlichen Behandlung gleicher Tatbe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der stände, weil die Finanzämter je nach Bundesland unter- CDU/CSU) schiedlich bewerten. Die steuerliche Begünstigung von gemeinnützigen Organisationen ist sehr wichtig und Um welche Bereiche geht es? Das sind die Bereiche wird auch in Zukunft eine herausragende Rolle spielen. Sport und Bewegung; wir haben gerade eine sehr aus- Ziel der anstehenden Ausschussberatungen muss es sein, führliche Diskussion zu diesem Thema geführt. Es geht die gesetzliche Grundlage zu vereinfachen und gleich- um die Bereiche Schule und Kindergärten, um soziale zeitig mögliche Fehlinterpretationen von vornherein zu Bereiche, um die Kultur und die Feuerwehr bzw. Ret- vermeiden. tungsdienste. Alle in diesen Bereichen Tätigen engagie- ren sich für den Staat, ohne zu fragen: Was bringt mir Die Koalition ist sich einig – das kann ich, glaube ich, das? auch für die CDU/CSU sagen; denn ich beziehe mich auf den Koalitionsvertrag –, dass bürgerschaftliches Engage- Bürgerschaftliches Engagement muss mit Nachdruck ment in Deutschland unverzichtbar geworden ist. Wir gefördert werden – darum geht es –, sodass die Freiwilli- 9832 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Petra Hinz (Essen) (A) gen bei ihrer Leistung für unsere Gesellschaft weder Zusammengefasst sage ich: Ich wünsche uns eine in- (C) finanzielle Nachteile haben noch ohne Schutz des Staa- tensive und faire Beratung. Wir sollten hervorheben, tes sind. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage dass wir auf Grundlage dieses Gesetzentwurfs – Herr der Haftung anzusprechen. Präsident, ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist; ich komme zum Schluss – den Ehrenamtlichen über Vor dem Hintergrund der Entwicklung unserer Ge- 440 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Wir sollten sellschaft muss auch gesagt werden, dass es nicht aus- aber auch immer im Hinterkopf behalten, dass wir keine reicht, Anreize für freiwilliges Engagement nur in der zwei Klassen der ehrenamtlich Aktiven schaffen. Jugend zu schaffen. Mit diesem Entwurf wollen wir viel- mehr generationsübergreifend Anreize schaffen – auch Ich freue mich auf die Beratung. das ist ein ganz wichtiger Aspekt –, um alle Alters- und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Berufsschichten sowie Generationsgruppen zu motivie- der CDU/CSU) ren, einen Dienst für die Gesellschaft zu leisten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Entbürokratisierung Einzug hält. Ich habe gerade über Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing die verschiedenen Steuerrechtstatbestände gesprochen, von der FDP-Fraktion. die unterschiedlichst greifen. Meine Fraktion steht dafür, in den Fachausschussberatungen das Gemeinnützigkeits- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Eduard und Spendenrecht so zu verbessern und zu vereinfachen, Oswald [CDU/CSU]) dass die gewünschten größeren Anreize, sich ehrenamt- lich zu engagieren, auch tatsächlich entstehen. Dr. Volker Wissing (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Was steht jetzt im Einzelnen im Entwurf? Ich will brauche hier nicht lange zu betonen, wie wichtig uns das ganz kurz die Überschriften nennen. Es geht um die An- Ehrenamt ist. Es gibt keinen hier im Raum, dem das hebung der Übungsleiterpauschale. Der Freibetrag soll Thema nicht besonders am Herzen liegt. In dieser Frage von 1 848 Euro auf 2 100 Euro angehoben werden. Es unterscheiden wir uns nicht. geht um die Einführung einer Steuerermäßigung für die ehrenamtliche Tätigkeit zur Förderung mildtätiger Zwe- Ich komme deshalb gleich auf das zu sprechen, was cke. Dies betrifft all diejenigen Menschen, die stille uns unterscheidet. Das ist die Beurteilung der Qualität Arbeit leisten, wenn sie sich um ältere, kranke und be- dieses Gesetzentwurfs. Der Entwurf ist unter dem Strich hinderte Menschen kümmern und dies in einem Zeitauf- gesehen schwach. Sie, Frau Kollegin Hinz, haben darauf wand von mindestens 20 Stunden im Monat tun. Hier ist hingewiesen, dass der Entwurf jetzt im Rahmen der Be- (B) die Einführung einer Steuerermäßigung in Höhe von ratung verbessert werden muss. (D) 300 Euro vorgesehen. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Haben Sie ihn Die Anhebung der Zweckbetriebsgrenze: All diejeni- wirklich gelesen?) gen, die in Vereinen aktiv sind, kennen die Thematik. Es Angeblich wollen Sie mit diesem Entwurf das bürger- geht um die Vereinsgaststätte. Der Verein lebt von der schaftliche Engagement stärken. In nahezu allen Berei- Vereinsgaststätte. Hier wird darüber diskutiert, die Be- chen, die strukturelle Fragen betreffen, ist der Entwurf steuerungsgrenzen anzuheben. aber die Fortschreibung des Status quo. So stärken Sie Sonderausgabenabzug von Mitgliedsbeiträgen in Kul- das Ehrenamt letztlich nicht. Sie nennen sich Große Ko- turfördervereinen: Hier geht es um die sogenannten alition, bringen aber nichts Großes zustande. Freikarten und alles, was damit zusammenhängt. Ei- (Ute Kumpf [SPD]: Sie sind wohl nicht in der gentlich wäre das steuerrechtlich als geldwerter Vorteil Community unterwegs, Herr Kollege zu sehen. Aber in diesem Fall soll es nicht angerechnet Wissing!) werden. Schauen wir uns einmal an, was Sie uns hier präsen- Absenkung des Haftungssatzes: Er soll von 40 auf tieren. Sie satteln bei einigen Steuervergünstigungen 30 Prozent gesenkt werden. Das darf man nicht unter- drauf und lassen sämtliche Strukturfragen offen. schätzen. Denn gerade die gemeinnützig und ehrenamt- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Welche denn zum lich Tätigen müssen sich darauf verlassen können, dass Beispiel?) die Zuwendungen, die sie in Form von Spenden erhalten, rechtlich abzusetzen sind und das einer rechtlichen Prü- – Ich komme noch darauf zu sprechen, Herr Kollege. fung standhält. Man fragt sich, ob Sie sich ein einziges Mal Gedan- Ein anderer Bereich ist der der Stiftungen. Wir haben ken über das Verhältnis des Ehrenamts zu Staat und gestern in der Beilage einer Zeitung vieles über Stiftun- Markt gemacht haben. gen lesen können. Was wären wir ohne unsere ehrenamt- (Ute Kumpf [SPD]: Das tun wir ständig! – lich Tätigen und auch ohne unsere Stiftungen? Alle die, Dr. Michael Bürsch [SPD]: Lesen Sie den En- die im kommunalen Bereich aktiv sind, wissen, dass sehr quete-Bericht! 800 Seiten!) viele Angebote im Freizeitbereich, im Jugendbereich und im Sportbereich durch Stiftungen gefördert werden. Der Entwurf ist derart obrigkeitsgeprägt, dass man nur Auch hier sind weitere Verbesserungen möglich. mit dem Kopf schütteln kann. Im Mittelpunkt steht bei Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9833

Dr. Volker Wissing (A) Ihnen nicht eine selbstbewusste Zivilgesellschaft, die Gesetzbuch zusammenzufassen. Sie haben es nicht (C) selbstständig über Art und Umfang ihres Engagements geschafft, das Akkreditierungsverfahren zu vereinfa- entscheidet, chen. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Doch!) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Darüber kann man streiten!) nein, Das wäre gerade für kleinere zivilgesellschaftliche Orga- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Natürlich! Die nisationen, die oft keine steuerliche Relevanz haben, wird vorausgesetzt!) ohne Kostenaufwand möglich gewesen. Von all dem fin- bei Ihnen steht der Staat, der über das bürgerschaftliche det sich in diesem Gesetzentwurf nichts. Engagement urteilt, im Zentrum des Geschehens. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Sie haben ihn (Petra Hinz [Essen] [SPD]: Eine Würdigung trotzdem nicht gelesen! Sie wissen nicht, was des Engagements! – Dr. Michael Bürsch drinsteht! Blindflug! Absoluter Blindflug!) [SPD]: Wir reden anscheinend nicht über den- – Herr Bürsch, ich kann die Reihe der Mängel fortsetzen. selben Entwurf!!) Wir bräuchten auch dringend mehr Transparenz im Be- Sie haben das sehr schön gesagt: Es gibt Gruppen, die reich der Zivilgesellschaft. In Ihrem Gesetzentwurf steht Ihnen mehr wert sind, und Gruppen, die Ihnen weniger darüber null. wert sind. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Mit so wenig Ah- (Ute Kumpf [SPD]: Ich empfehle die Enquete- nung hat noch niemand über dieses Thema ge- Kommission! Reden Sie mit Ihrem Vertreter in redet! Nicht zu fassen!) der Enquete-Kommission!) Die Frage der Transparenz ist eine ganz wesentliche Was dem Staat gefällt, wird finanziell unterstützt, und Frage; die restliche Zivilgesellschaft wird bestenfalls ignoriert. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Lassen Sie doch Es wäre ein Fortschritt, wenn Sie es geschafft hätten, den Frau Laurischk reden! Sie weiß wenigstens, Staat zurückzunehmen. worüber sie redet!) (Beifall bei der FDP) denn wenn Sie zivilgesellschaftliche Organisationen pri- Es ist doch in erster Linie Sache der Bürgerinnen und vilegieren, dann schulden diese der Öffentlichkeit auch Bürger, zu entscheiden, wofür sie sich in welchem Um- Informationen. Das übergehen Sie in Ihrem Entwurf ein- fang engagieren möchten. fach. (B) (D) (Petra Hinz [Essen] [SPD]: Für den Staat! Wie Sie mit dem Stiftungswesen umgehen, Freiwillig!) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Sehr großzügig!) – Ja, sie tun das freiwillig in ihrer Freizeit. Deswegen das haben Sie ja hervorgehoben: wäre es schön, wenn wir nicht einzelne Aufgaben bevor- zugen und andere ausschließen würden, wie Sie es tun. (Ute Kumpf [SPD]: Das haben wir ausgebaut!) (Beifall bei der FDP) Sie haben eine Grenze von 750 000 Euro eingeführt, und lassen sich jetzt als großzügige Stiftungskulturförderer Richtig wäre es gewesen, wenn man für alle Formen feiern. des bürgerschaftlichen Engagements klare und gerechte Rahmenbedingungen geschaffen hätte. Genau das ist (Ute Kumpf [SPD]: Reden Sie mit den Stifter- mit dem Entwurf bisher nicht gelungen und muss verän- verbänden!) dert werden. Die Zivilgesellschaft braucht einen Wech- Das ist aber kein Aufbruchssignal; das ist schwach. Das, sel vom gewährenden hin zum ermöglichenden Staat. was Sie uns hier präsentieren, sind kleine Schritte. Genau das schaffen Sie nicht. Wir brauchen vor allen Dingen auch eine deutlich erkennbare Abgrenzung zwi- (Beifall bei der FDP) schen den drei Akteuren Markt, Staat und Zivilgesell- Dabei wäre es dringend nötig, die Stiftungskultur in schaft. Deutschland zu fördern. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Ute Kumpf [SPD]: Wir sind gerade dabei! – Dazu findet man in Ihrem Entwurf kein Wort. Dr. Michael Bürsch [SPD]: Es hat seit 2002 ei- nen Boom gegeben!) Im Zusammenspiel von Zivilgesellschaft und privaten Dienstleistungsunternehmen sind eine ganze Reihe von Wir brauchen Stiftungen. Schauen Sie sich an, was sich Wettbewerbsfragen zu klären, die Sie nicht ansatz- in anderen Ländern vollzieht. Gerade im kulturellen Be- weise beantworten. Auch was die Vereinfachung angeht, reich haben wir viel zu erwarten. Hier liegen enorme kommen wir mit Ihrem Entwurf nicht weiter. Sie haben Chancen. Diese Chancen kann man in unserem Land es nicht geschafft, die steuerrechtliche Behandlung aber nicht wecken, wenn man es so macht wie Sie und gemeinnütziger Organisationen grundlegend einfacher sich auf einen Höchstbetrag von 750 000 Euro be- zu gestalten. Sie haben es nicht geschafft, die für Ehren- schränkt. Sie starten angeblich durch, verwechseln aber amtliche besonders wichtigen Vorschriften in einem leider das Gaspedal mit der Bremse. 9834 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Dr. Volker Wissing (A) (Petra Hinz [Essen] [SPD]: Da bin ich ja auf Eduard Oswald (CDU/CSU): (C) die Alternative der FDP gespannt!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Volker Wissing, ich bedauere, dass Sie den Ge- Wenn man bedenkt, dass diese halbherzige Politik setzentwurf in dieser pauschalen Form ablehnen, ohne auch noch Millionen an Steuergeldern verschlingt, bleibt sich mit den Details überhaupt beschäftigt zu haben. Das am Ende eine nüchterne Bilanz dessen, was Sie uns bis- ist sicher der falsche Weg. her vorgelegt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Wir machen nichts, aber es kostet viel! Seltsam!) Wir alle wissen: Ohne Ehrenamt ist kein Staat zu ma- chen. Jede Gemeinschaft lebt von den Menschen, die Zwar wird keiner, für den Sie mit diesem Gesetzentwurf mehr tun, als es ihre unmittelbare Pflicht ist. Deshalb ist Verbesserungen schaffen, Ihr Vorhaben kritisieren, es es unsere Verpflichtung und unsere Aufgabe, all diejeni- gibt aber viele, die sich ehrenamtlich engagieren, an die gen zu unterstützen, die sich in Familie, Nachbarschaft Sie nicht gedacht haben, die nicht profitieren. Alle, die und Ehrenamt einbringen. Unser Ziel als CDU/CSU ist in einer Zivilgesellschaft aktiv sind, werden spüren, dass es, die Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches En- Ihnen hier kein großer Wurf gelungen ist. Ich denke, Sie gagement zu verbessern. hören selbst die Kritik aus den Verbänden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Da war die große neten der SPD) Abteilung Lob dabei! Selektive Wahrneh- mung, Herr Kollege!) Wir wollen die Mitwirkung und Beteiligung der Bürger ermöglichen. Dieses bürgerschaftliche Engagement Deswegen muss nachgearbeitet werden. Der vorlie- muss der Staat nach Kräften unterstützen, und zwar so- gende Entwurf ist unterm Strich armselig, nicht offen- wohl in organisatorischer als auch in finanzieller Hin- herzig und stärkt die Zivilgesellschaft in keiner Weise. sicht. Dazu gehört die Schaffung günstiger steuerlicher Deswegen muss dieser Gesetzentwurf, der nichts ande- Rahmenbedingungen. Dieses Vorhaben der Großen res als eine in Gesetzesform gegossene Anspruchslosig- Koalition, dieser Bundesregierung, ist ein Ausdruck der keit der Großen Koalition darstellt, verändert werden. gestaltenden Finanzpolitik und ist eine Investition in den Wir brauchen eine selbstständige, selbstbewusste und Zusammenhalt unserer Gesellschaft. von Markt und Staat klar abgegrenzte Zivilgesellschaft. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Die haben wir schon, Herr Kollege!) Die anstehenden Probleme können und dürfen aber (B) nicht vom Staat allein gelöst werden. Es ist gesell- (D) Die wollen Sie offensichtlich nicht. schaftspolitisch wünschenswert, dass Bürger in Ergän- zung zum Staat Gemeinwohlaufgaben übernehmen – (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Doch!) ohne dadurch zum Lückenbüßer staatlicher Politik zu Zumindest sind Sie auf dem falschen Weg. werden. Wir müssen also eigenbestimmte Handlungsfor- men und die Übernahme von Verantwortung fördern und (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Der hat keine Ah- unterstützen. Die Förderung des Gemeinwohls kann da- nung, wovon er redet! Das ist eine Zumutung!) bei nicht allein dem notwendigerweise gewinnorientier- ten Markt überlassen werden. Wir werden uns an den Beratungen aktiv beteiligen, da- mit wir einen Schritt weiterkommen. Eine Gesellschaft ist nur so gut, wie die Menschen be- reit sind, sich in ihr zu engagieren. Die Gemeinschaft Was Sie bisher zum Ehrenamt vorgelegt haben, ist lebt von denen, die mitspielen, nicht von denen, die zu- wenig, sehr wenig. Da ist mehr drin. Die Menschen, die schauen. sich in ihrer Freizeit für die Gesellschaft engagieren, ha- ben mehr verdient. Lassen Sie uns in den Beratungen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mehr daraus machen als das, was die Bundesregierung Wir brauchen in der Gesellschaft nicht nur Zuschauer vorgelegt hat! und Schiedsrichter, sondern auch aktive Mitspieler. So (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Nicht mit dem gehört es zur Erziehung zu Werten, zu Bildung für das Sachverstand, den Sie einbringen, wirklich Leben, dass schon junge Menschen zu Jugendarbeit, zu nicht!) ehrenamtlichem Einsatz, zu Teilnahme am Vereinsleben ermutigt und unterstützt werden. Das ist für die deutsche Zivilgesellschaft zu wenig. Der Staat darf den, der sich für die Gemeinschaft ein- (Beifall bei der FDP – Dr. Michael Bürsch setzt, nicht alleinlassen. Wenn sich jemand ins Private [SPD]: Das war das Wort zum Sonntag!) zurückzieht, ist dies seine Freiheit. Wer aber bereit ist, im Ehrenamt einen Beitrag für Staat und Gesellschaft zu Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: leisten, dem muss die Gemeinschaft mit den notwendi- Das Wort hat der Kollege Eduard Oswald von der gen Rahmenbedingungen helfen. Bürger, die sich enga- CDU/CSU-Fraktion. gieren, benötigen einen rechtlichen Handlungsrah- men, der einfach und deswegen verständlich ist und sie (Beifall bei der CDU/CSU) nicht – etwa durch strenge Haftungsregeln – überfordert. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9835

Eduard Oswald (A) Darüber müssen wir in den Ausschussberatungen inten- 400 Millionen Euro zu optimieren. Hierfür werden in (C) siv reden. dem Gesetzentwurf zahlreiche Ansatzpunkte gegeben. Insgesamt sind wir mit diesem Gesetzeswerk auf dem Wir als CDU/CSU werben für einen breiten gesell- richtigen Weg. Es ist gut, dass der Finanzminister das schaftlichen Konsens. Kollege Wissing, vielleicht Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates nicht zur können Sie sich das auch in den weiteren Beratungen Grundlage seiner Vorschläge gemacht hat. grundsätzlich noch einmal überlegen. Als ein gutes und richtiges Signal für die Menschen im Ehrenamt wollen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie wir auch hier in diesem Haus einen breiten Konsens. Im bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Ehrenamt der Bürger sehen wir einen tragenden Pfeiler GRÜNEN) des zukunftsfähigen Sozialstaates. Der Finanzminister hat mit diesem Entwurf vielmehr die Das kraftvolle kulturelle Leben und das ehrenamtli- in der Koalitionsvereinbarung festgelegten und von der che Engagement vieler Menschen für Kultur, Tradition Union immer als Leitlinien geforderten Positionen um- und Brauchtum dürfen natürlich genauso wenig fehlen gesetzt. wie der große umfassende Bereich des Ehrenamtes im Dies ist heute die erste Lesung. Wir werden in den Sport. Kollege Klaus Riegert wird für unsere Fraktion Ausschüssen und bei einer Anhörung intensiv zu überle- darauf eingehen. gen haben, wie wir das, was vorliegt, qualitativ weiter- Auch die aktuellen Debatten über den Zusammenhalt entwickeln können. Für uns ist es enorm wichtig, das der Gesellschaft und über das soziale Miteinander kom- Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht zu entbürokra- men hier zum Tragen. Viele Migranten bringen ihre Fä- tisieren. Vergessen wir nicht, dass auch und gerade breite higkeiten in die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kultur, Bereiche des kulturellen Lebens auf bürgerschaftlichem die Dienstleistungen, das Ehrenamt und den Sport ein. Engagement beruhen. Sowohl die geplante verbesserte Auch dies sollten wir hier würdigen. steuerliche Absetzbarkeit dieses Engagements als auch die Erhöhung der Spendenabzugsfähigkeit auf 20 Pro- Wir wollen das Stiftungsrecht weiterentwickeln, um zent sind ein wichtiges Signal der Ermutigung an die die Errichtung von Stiftungen zu erleichtern und zusätz- Bürgerinnen und Bürger, sich zugunsten des Allgemein- liche Anreize für Zuwendungen zu schaffen. Kollege wohls zu engagieren. von Stetten wird dazu etwas sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir müssen auch darüber reden, wie wir beim Ge- Die Zusammenführung von spendenbegünstigten und setzgebungsverfahren die besonderen Belange der Kul- (B) gemeinnützigen Zwecken aus der Abgabenordnung und tur, der Medien, der Künstler und der Kulturschaffenden (D) der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung in die- berücksichtigen können. sem Katalog ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen generell weniger Bürokratie und hat unsere volle Unterstützung. verdeutlichen, dass ehrenamtliches Engagement weniger Natürlich haben wir noch Diskussionsbedarf, vor al- eine Belastung bedeutet, als vielmehr auch eine große len Dingen im Hinblick darauf, dass die Zwecke ab- Chance für jeden Einzelnen ist, Fähigkeiten zu entwi- schließend aufgezählt werden sollten. Wir möchten die ckeln, Qualifikationen und soziale Kompetenz zu erwer- Kreativität der engagierten Bürgerinnen und Bürger ben, Erfahrungen zu sammeln und damit Sinn und Le- nicht durch abschließende Regelungen bremsen. Sehr bensqualität zu gewinnen. wertvoll und wohltuend war die bayerische Initiative (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- „10 plus 10“. Auch die Beratungen des Bundesrates neten der SPD) müssen wir mit heranziehen. Man gibt also nicht nur etwas für die Gemeinschaft, son- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dern man bekommt von der Gemeinschaft auch etwas neten der SPD – Dr. Michael Bürsch [SPD]: zurück. Ein bisschen viel! Wenn Bayern das finanziert, können wir darüber reden!) Unser Ziel ist es also, in den anstehenden Beratungen alles zu tun, um die aktive Bürgergesellschaft, die wir ja Das Gemeinnützigkeitsrecht in unser aller Sinne soll haben – das breite Miteinander der Menschen in diesem eine Einladung zum Mitmachen aussprechen und offen Land –, weiter zu stärken. Das sollten wir insgesamt in für neue Impulse aus der Mitte der Gesellschaft sein. geschlossener Form tun. Dieser Gesetzentwurf ist eine Investition in den Zusam- menhalt unserer Gesellschaft. Dies geht nur, indem wir Herzlichen Dank. – Frau Kollegin Hinz hat schon darauf hingewiesen – auch finanzielle Mittel einsetzen. Natürlich steht für uns (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Haushaltskonsolidierung an erster Stelle des politi- schen Handelns. Die vorgesehenen rund 400 Millionen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Euro sind für uns Leitlinie. Angesichts der allgemeinen Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll von Finanzsituation ist klar, dass wir nicht jeden Wunsch er- der Fraktion Die LINKE. füllen können; denn natürlich gibt es viele Wünsche. Es ist unsere Aufgabe, die Verteilung dieser Summe von (Beifall bei der LINKEN) 9836 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Auch wenn wir einiges in Ihrem Gesetzentwurf unter- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! stützen, ist festzustellen, dass vieles fehlt. Deshalb haben Bürgerschaftliches Engagement ist die vielfältige Ge- wir einen eigenen Antrag vorgelegt. staltung der Zivilgesellschaft. Es umfasst auch die kriti- sche Begleitung staatlichen Handelns. Ob im Mieterver- (Petra Hinz [Essen] [SPD]: Ein Kessel ein, bei der Stiftung Warentest oder in der politischen Buntes!) Meinungsfindung: Zur aktiven Bürgergesellschaft, wie Ihr Gesetzentwurf soll zwar laut seiner Überschrift zur Herr Oswald eben sagte, gehört auch die kritische weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements Begleitung von Gesetzgebungsverfahren und politi- führen, ein Blick in den Gesetzentwurf zeigt aber, dass schen Großereignissen. es darin de facto nur um die Verbesserung der steuer- Eine Überschrift in den Zeitungen heute lautet: Poli- lichen Rahmenbedingungen geht. zei schreckt G-8-Gegner mit Großrazzia. Ich glaube, das (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist der Aus- bedeutet alles andere als die Förderung bürgerschaftli- schnitt, den wir heute bearbeiten!) chen Engagements. Das ist eindeutig zu wenig. Bereits im Abschlussbericht (Beifall bei der LINKEN – Christian Freiherr der Enquete-Kommission des Bundestages wird die wei- von Stetten [CDU/CSU]: Was hat das mit dem tere Schaffung von steuerlichen Anreizen als nicht sinn- Thema zu tun?) voll bezeichnet – das können Sie auf Seite 10 nach- Der Sprecher der Bundesstaatsanwaltschaft erklärte ges- lesen –: „weil die Schaffung weiterer steuerlicher An- tern im „heute-journal“ – ich zitiere sinngemäß –: Es reize keine angemessene und wirkungsvolle Förderung ging nicht darum, terroristische Aktionen aufzudecken. des bürgerschaftlichen Engagements darstellt.“ (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ich verdeutliche Ihnen das gerne am Beispiel einiger Frau Kollegin, es ist völlig daneben!) Zahlen. 23 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Bun- desrepublik engagieren sich ehrenamtlich, 43 Prozent in Dafür gab es keine Anhaltspunkte. Es ging darum, Über- Vereinen – vor allem Sportvereine –, Schulen, Kirchen, blick über die Strukturen der G-8-Gegner zu erhalten. Freizeiteinrichtungen oder bei der Feuerwehr. 40 Pro- Es ging also darum, das gesamte Spektrum der G-8- zent der Ehrenamtlichen sind erwerbstätig. 27 Prozent Gegner zu kriminalisieren. Das lehnen wir ab. Der Staat der Arbeitslosen, 37 Prozent der Menschen, die zu muss die kritische Begleitung seines Handelns aushal- Hause sind, und 28 Prozent der Seniorinnen und Senio- ten. Auch das ist Sinn und Zweck bürgerschaftlichen ren engagieren sich ehrenamtlich. (B) Engagements. Es gibt 14 000 Stiftungen und – das ist besonders er- (D) (Beifall bei der LINKEN) freulich – inzwischen 147 Bürgerstiftungen. Trotzdem liegen wir mit diesen Zahlen im europäischen Ver- Es ist zu begrüßen, dass sich gerade junge Leute aufma- gleich gerade noch im Mittelfeld. Norwegen, Schweden, chen und Gerechtigkeit nicht nur im eigenen Lande, son- Finnland und Dänemark – die Staaten, in denen ein star- dern weltweit wollen. ker Sozialstaat existiert und wirkt – weisen ein viel hö- heres bürgerschaftliches Engagement auf, (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Brandsätze sind doch kein bürgerschaftliches (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Woher kommen Engagement! – Klaus Riegert [CDU/CSU]: die Zahlen? Die kennen wir nicht! – Ute Aber doch nicht mit Gewalt!) Kumpf [SPD]: Ich glaube, damit liegen Sie ein bisschen daneben! Wir unterstützen und begrüßen die Initiative, die zeit- gleich in Mecklenburg-Vorpommern läuft, nämlich eine weil die Bürgerinnen und Bürger dort wissen, dass sie Werbekampagne für friedliche Proteste, die von promi- nicht als Lückenbüßerinnen und Lückenbüßer für feh- nenten Persönlichkeiten in Zusammenarbeit mit der lendes staatliches Agieren missbraucht werden. Polizei in Mecklenburg-Vorpommern unterstützt wird. Bürgerschaftliches Engagement ist nicht nur eine in- (Beifall bei der LINKEN) dividuelle Entscheidung. Es wird auch stimuliert durch Das ist ein Versuch, zu deeskalieren. Was Sie gestern ge- Tradition, Werte, die Art und Weise der Organisation der tan haben, bedeutet aber pure Eskalation. Das lehnen wir Gesellschaft, Verteilung von Verantwortung und wirt- ab. schaftliche Entwicklungen. Die Motive des Einzelnen sind sehr verschieden. Man möchte die Gesellschaft im (Beifall bei der LINKEN) Kleinen mitgestalten, mit anderen Menschen zusammen- kommen, Verantwortung übernehmen oder die eigene Der gestrige Vorgang zeigt sehr drastisch, dass zwi- Kompetenz entwickeln. Finanzielle Gründe sind nicht schen dem in Worten geäußerten Willen, was man an vorrangig. bürgerschaftlichem Engagement möchte, und dem Han- deln vonseiten des Staates eine Kluft besteht. Engage- Wir müssen aber auch feststellen, dass es keine ment der Bürgerinnen und Bürger ist gut, solange es dem Chancengleichheit mehr beim Zugang zum bürger- Staat nützt, am besten als Ersatz für fehlendes staatliches schaftlichen Engagement gibt. Viele Bürgerinnen und Engagement. Daran krankt auch Ihr Gesetzentwurf. Bürger können sich nicht mehr ehrenamtlich engagieren, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9837

Dr. Barbara Höll (A) (Ute Kumpf [SPD]: Das stimmt nicht! Das insgesamt zu einseitig und erfasst die vielfältigen Pro- (C) bürgerschaftliche Engagement ist von 1999 bis bleme nicht. 2002 gewachsen!) Ich danke Ihnen. unter anderem deshalb, weil ihnen die finanzielle Aus- (Beifall bei der LINKEN) stattung fehlt. Für viele ist vielleicht schon der Fahr- schein für die Straßenbahn unerschwinglich, um zu einer Veranstaltung zu fahren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel von (Beifall bei der LINKEN – Petra Hinz [Essen] Bündnis 90/Die Grünen. [SPD]: Belegen Sie einmal, was Sie hier be- haupten!) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Insofern muss man das Thema wesentlich breiter an- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gehen. Bei einer vorrangig steuerlichen Förderung bür- möchte vorab zu den Eingangsworten von Frau Dr. Höll gerschaftlichen Engagements tauchen verteilungspoliti- sagen: Auch wir machen uns Sorgen darüber, was alles sche Risiken auf. Durch steuerliche Vergünstigungen für im Vorfeld des G-8-Gipfels geschieht. Aber ich halte es Stiftungen können öffentliche Güter unter den Einfluss für falsch, im Zusammenhang mit dem vorliegenden Ge- von Individual- und Partikularinteressen geraten. setzentwurf über die Verhältnismäßigkeit der Maßnah- Ich möchte Ihnen die Probleme auch am Beispiel der men zu diskutieren. Stiftungen deutlich machen. Stiftungen werden jetzt we- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sentlich besser steuerlich gefördert. Das ist gut. In Leip- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) zig gibt es ein wunderschönes Bildermuseum, und es gibt auch eine inzwischen weltbekannte Leipziger Unsere Zivilgesellschaft lebt wesentlich vom bürger- Malerschule. Ein Bild von Neo Rauch kostet derzeit schaftlichen Engagement. Man muss klar sagen, dass je- etwa 350 000 Euro. Raten Sie mal, wie hoch der Etat des dem und jeder, der bzw. die sich in unserer Gesellschaft Bildermuseums zu Leipzig für den Neuerwerb ist! Es für unsere Gesellschaft engagiert, großer Dank gebührt. sind weder 50 000 noch 100 000 Euro, sondern Bürgerschaftliches Engagement ist – das wissen wir alle – 7 000 Euro. Davon kann man allenfalls ein gutes Farb- die Hefe für zivilgesellschaftliches Handeln. Bürger- bild kaufen. Dass der Etat so niedrig ist, liegt daran, dass schaftliches Engagement ist ein aktiver Beitrag zu einem die öffentlichen Einnahmen zurückgehen. friedlichen Zusammenleben in der Gesellschaft. Es ist nicht zu unterschätzen und unbezahlbar. Frau Kollegin (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Petra Hinz hat bereits auf die 2,4 Milliarden Arbeitsstun- (B) Jetzt sind die Stiftungen daran schuld!) den jährlich im Rahmen des bürgerschaftlichen Engage- (D) Die schon erwähnte Beilage der „Financial Times ments hingewiesen. Die Bürger sind vermehrt unentgelt- Deutschland“ bietet einen wunderbaren Ansatz: Viele lich aktiv. Das ist sehr gut und muss eine verstärkte Stifter lösen mit der Gründung einer Stiftung ihr ganz Anerkennung durch unsere Gesellschaft erfahren, auch besonderes Finanzproblem. Wer nach einem erfolgrei- unter steuerlichen Gesichtspunkten und nicht nur durch chen Berufs- oder Unternehmerleben so viel Geld hat, das Anstecken einer Ehrennadel ans Revers. dass weder er selbst noch seine Erben es jemals ausge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben können, bringt einfach einen Teil seines Vermögens in eine Stiftung ein. Alle neuen steuerlichen Regelungen sind verstärkte Anreize, kontinuierlich bürgerschaftliches Engagement (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: für gemeinnützige Zwecke zu leisten. Sie können den Das ist doch üblich!) menschlichen Impuls natürlich nicht ersetzen, sondern Ich finde es gut, wenn sich Menschen engagieren und nur unterstützen. Aber wir müssen mit denjenigen ge- auch im Kulturbereich sozusagen immer den Sahne- recht und fair umgehen, die dieses Engagement leisten. klecks bieten. Die Bundesregierung hat nun zehn steuerliche Maßnah- men vorgeschlagen. Die entscheidenden Fragen sind: (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sind die Maßnahmen gut begründet? Sind sie in der Ab- Auch das ist üblich!) grenzung wirklich richtig? Bringen sie eine Stärkung des Engagements in allen Zweigen der Zivilgesellschaft? Aber es kann nicht sein, dass das ehrenamtliche, unent- Wenn wir uns die Briefe, die wir alle von ehrenamtlich geltliche Engagement Einzelner staatliches Handeln er- tätigen Menschen bekommen, genau anschauen, dann setzt. Wir haben große Möglichkeiten, zum Beispiel die stellen wir fest, dass es viele gibt, die sich durch den Ge- Erbschaftsteuer so zu gestalten, dass vielleicht auch setzentwurf nicht berücksichtigt fühlen. Wenn ich mir das Bildermuseum zu Leipzig wieder mehr Geld hat, um die Anträge, die vonseiten der Bundesländer im Bundes- selber Bilder zu kaufen. rat kommen, und den Beschluss des Bundesrates Wir sind dafür, bei der Übungsleiterpauschale noch anschaue, sehe ich, dass der heute diskutierte Gesetzent- einmal nachzubessern. Wir halten es zudem für überle- wurf von Finanzminister Steinbrück und der Bundes- genswert, die Abgabenordnung zu vereinfachen – das regierung und der Beschluss des Bundesrates noch weit würden wir sehr begrüßen – und einen absoluten Höchst- auseinanderliegen. Ich hoffe, dass der Gesetzentwurf der betrag für die Abzugsfähigkeit von Spenden einzufüh- Bundesregierung das Parlament mit erheblichen Ände- ren. Es gibt also Beratungsbedarf. Ihr Gesetzentwurf ist rungen verlassen wird. 9838 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Christine Scheel (A) Wir, die Grünen, wollen ebenso wie der Bundesrat, stärken. Dafür brauchen wir klare Signale, die in dem (C) dass der Katalog der förderungswürdigen Zwecke für Gesetzentwurf verankert werden sollten. bürgerschaftliches Engagement im Gesetz nicht ab- Wir wollen, dass bestimmte Ansätze im Zusammen- schließend geregelt wird, sondern dass neue, zukünftige hang mit dem angehobenen pauschalen Spendenabzug Aufgaben ausdrücklich zugelassen werden. Es ist begrü- noch einmal angesprochen werden. Denn es ist nicht ein- ßenswert, dass als gesonderter Zweck die Förderung des zusehen, dass wir unentgeltlich ehrenamtlich Tätige im bürgerschaftlichen Engagements im Gesetzentwurf auf- Bereich der Betreuung alter, kranker und behinderter geführt wird. Menschen unterstützen – was völlig richtig ist –, aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN andere unentgeltliche ehrenamtliche Tätigkeiten im Be- sowie bei Abgeordneten der SPD) reich der Jugendhilfe und des Sports – den Naturschutz habe ich angesprochen – oder der Kultur nicht unter- Es ist aber falsch, dass in der Begründung eine Erweite- stützt werden. Es muss noch einmal überlegt werden, rung gemeinnütziger Zwecke für bürgerschaftliches wie wir hier weiterkommen. Engagement ausgeschlossen wird. Was soll eine solche Kosmetik im Gesetz? Placebos verhelfen nicht zu einem Ich denke, es ist eine ganz vernünftige Vorlage. Sie ist verstärkten Einsatz. Darüber müssen wir im Ausschuss ausbaufähig. Aber sie muss verbessert werden und sie noch diskutieren. muss auch stärker den Realitäten und den Notwendigkei- ten dieser Gesellschaft angepasst werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Danke schön. Wir brauchen einen offenen Katalog. Wir wollen kein starres Korsett. Welchen Grund gibt es für die Bundesre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gierung eigentlich, dass die Übungsleiterpauschale nicht auf Aktivitäten der Umwelt- und Naturschutzverbände Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ausgeweitet wird? Aktivitäten im Bereich des Vogelschut- Das Wort hat der Bundesminister Peer Steinbrück. zes, beispielsweise Brutplätze sichern, und vieles andere, was von der Umweltschutzbewegung, dem BUND und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten anderen, geleistet wird, sind Aktivitäten, die gemeinnüt- der CDU/CSU) zig sind, aber nicht pädagogisch im Sinne der Übungs- leiterpauschale. Wir meinen schon, dass aktiver Um- Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: weltschutz nicht ausgeschlossen werden sollte. Wie wir Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meine damit umgehen, darüber werden wir auch noch zu disku- sehr geehrten Damen und Herren! tieren haben. (B) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es ist High- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – noon! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Ute Kumpf [SPD]: Das gilt schon heute!) Mahlzeit! – Es ist Mittag!) Vergleichbares gilt auch für Helfer in der Gefahrenab- – Dann sind Sie alle offenbar etwas früher aufgestanden wehr, etwa Sanitäter und Rettungsschwimmer. Auch in als ich. diesem Fall ist zu fragen, warum bestimmte Tätigkeiten (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: nicht einbezogen und berücksichtigt werden. Ich denke, Jeden Tag ist es so!) wir schulden der Gesellschaft hierauf eine Antwort, und hoffe, dass es auch hier zu Veränderungen kommt. Als ich ein bisschen zugehört habe, habe ich mir die Frage gestellt: Warum ist es eigentlich so schwer, zu ei- Zur Stiftungskultur in Deutschland muss ich an die nem Thema wie der Förderung des Ehrenamtes eine Op- FDP gewandt einmal sagen: Es war die rot-grüne Bundes- positionsrede zu halten, die nicht so verkrampft und so regierung – mit starker Unterstützung der grünen Vizeprä- ritualisiert ist wie die, die wir von Herrn Wissing gehört sidentin Antje Vollmer –, die dafür gesorgt hat, dass wir haben? bei der Stiftungskultur einen Riesenschritt vorangekom- men sind. Es war nicht die FDP während ihrer 29-jährigen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Regierungszeit hier im Haus. Hier stellt sich jemand hin und sagt, es sei ein armse- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liger Gesetzentwurf. Man muss sich einmal vorstellen, und der SPD) was das für eine absolute Verzeichnung dessen ist, was wir hier vorgelegt haben. Selbstverständlich muss über den Höchstbetrag des Stiftungskapitals diskutiert werden. Wir würden uns ei- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nen Höchstbetrag von 1 Million Euro für die Ausstat- Ich will jetzt nicht so weit gehen, zu sagen, dass Ihre tung von Stiftungen mit Kapital wünschen, wie es auch Rede armselig gewesen ist. Das ist aber das Adjektiv, der Bundesrat fordert. das Sie dafür verwendet haben. Man kann hinsichtlich (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Wir Ihrer Bewertung allerdings schlicht und einfach sagen: sind dabei! Da können wir uns einigen!) Ich konfrontiere Sie mit dem Echo, das ich von den eh- renamtlich Tätigen und den Verbänden selbst bekommen Wir sehen schon, dass die Stiftungskultur in Bewe- habe. Dann ist diese Oppositionsrede schlicht und ein- gung ist. Wir wollen sie gesellschaftspolitisch insgesamt fach irrelevant. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9839

Bundesminister Peer Steinbrück (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lich engagieren. Es sind auch sehr viele jüngere darunter, (C) die nur auf eine andere Art und Weise, manchmal zeit- Natürlich sagen die meisten, mit denen ich spreche lich begrenzt, ehrenamtlich arbeiten. Das Ziel, das diese – glauben Sie mir, es sind sehr viele –, und auch die Mensche alle gemeinsam haben, ist, sich für unsere Ge- einschlägigen Verbände, dass es eine ganz bemerkens- sellschaft einzusetzen, und zwar sehr häufig an den Stel- werte Initiative ist, um das Ehrenamt in Deutschland zu len, wo diese Gesellschaft schwach ist. Sie handeln be- stärken. wusst oder auch unbewusst ganz nach einem alten Satz (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von Hermann Gmeiner, der lautet: „Alles Gute auf dieser der CDU/CSU) Welt geschieht nur, wenn einer mehr tut, als er tun muss.“ Wenn es Ihr erster Satz gewesen wäre, dass Sie als Oppositionspolitiker diese Einschätzung der Verbände (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der teilen – was durchaus ein ziemliches Ausmaß an Souve- FDP) ränität zum Ausdruck gebracht hätte –, und Sie wären Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist von diesem dann auf Detailpunkte gekommen, dann wäre das eine Engagement wesentlich abhängig. Will sagen: Würden Oppositionsrede gewesen, die mich hätte neugierig ma- diese Menschen nicht mehr tun, als sie tun müssen, wür- chen können. den sie nur, wenn man so will, ihr persönliches Pflich- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das hat Frau tenheft abarbeiten oder ihren legitimen materiellen Inte- Scheel zum Beispiel gemacht!) ressen nachgehen, würden sie nicht Zeit, Kraft und manchmal auch Nerven in diese ehrenamtliche Tätigkeit – Ja, Frau Scheel hat das schon sehr viel besser gemacht. investieren, wäre unsere Gesellschaft nach meiner Auf- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fassung nicht nur ärmer, sondern sie würde nicht funktio- NEN]: Keine Benotungen!) nieren. Aber dass Frau Höll es schafft, in sieben Minuten die (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Erbschaftsteuer, das G-8-Treffen, das deutsche Demon- Der Zusammenhalt dieser Gesellschaft wäre dann mas- strationsrecht und die öffentliche Einnahmesituation siv gefährdet. In meinen Augen sind es insbesondere zum Thema Ehrenamt zusammenzufassen, ist schon eine diese Menschen, die erwähnt werden müssen. bemerkenswerte Leistung. Mir ist an dem Hinweis sehr gelegen, dass es nicht (Beifall bei der LINKEN) zum Beispiel fremdbestimmte junge Leute in Fernseh- Worum geht es? Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihre castingshows sind, die als die Superstars – wie mein (B) Erfahrung mit der fantastischen Bandbreite des Ehren- Sohn sagen würde – „hochsterilisiert“ werden, (D) amtes in Deutschland identisch ist mit meiner. Das be- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ginnt bei den Kirchen, geht über große Stiftungen, über NEN]: Von Dieter Bohlen hochgepusht!) kleine Bürgerstiftungen, über Wohlfahrtsverbände, über Ehrenamtsbörsen, über Seniorencomputerklubs – die wobei man sich wundert, welche Eintagsfliegen in den besten Hacker dieser Republik habe ich unter Senioren Medien zu solchen Superstars und teilweise absolut ver- gefunden, die sich gegenseitig Computerunterricht ge- zogenen Vorbildern hochstilisiert werden. Das bleibt ein ben –, Elternvereine, Schulen, Kindergärten, Feuerweh- Geheimnis medialer Inszenierung. Die wahren Helden ren, Heimatvereine, Hospizbewegungen – auch die will des Alltags sind – ohne Pathos – die sich in Deutschland ich nicht außen vor lassen –, Obdachlosen- und Stadtteil- ehrenamtlich engagierenden Bürgerinnen und Bürger. initiativen bis hin zu Tafelvereinen und Eine-Welt-Grup- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie pen. Das ist eine Vielfalt, die wirklich fantastisch ist. des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Richtig ist, dass sich viele Menschen in diesem Eh- renamt engagieren. Es sind 23 Millionen Menschen. Ich will nicht missverstanden werden. Es geht mir Frau Hinz hat darauf hingewiesen. Ich vermute, dass es nicht darum, dieses Engagement in irgendeiner Form zu dabei eine Reihe von Doppelzählungen gibt; aber das än- idealisieren oder mich gar über einen billigen Reparatur- dert nichts daran, dass das Ehrenamt eine Erscheinung in betrieb für einen in Teilen nicht mehr handlungsfähigen unserer Gesellschaft ist, die wir dringend brauchen und Staat zu freuen. Eine solche Sichtweise auf das ehren- die große Anerkennung verdient. amtliche Engagement in Deutschland wäre grundfalsch. Denn zum einen ist eine vitale Bürgergesellschaft viel (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der mehr: Sie ist auch ein Ausdruck von Freiheit und auch FDP) einer von staatlichen Fürsorgeorganisationen unabhängi- gen Solidarität, was von einer erheblichen Bedeutung ist. So verschieden die Ehrenämter auch sind – ich selber Zum anderen müssen wir gerade in der heutigen Zeit habe unmittelbare Erfahrung sammeln dürfen, als ich in auch für einen, wie ich glaube, handlungsfähigen Staat einer früheren Funktion regelmäßig über zwei, manch- sorgen, der nicht die Hand dafür reicht, dass das Haupt- mal drei Tage solche Ehrenamtstouren gemacht habe –, amt durch das Ehrenamt ersetzt wird, was sich die ehren- so verschieden sind diejenigen in Bezug auf das Alter, amtlich engagierten Bürger auch verbitten würden. den Beruf und die soziale Herkunft, die sie ausüben. Ich warne davor, sich das Vorurteil zu eigen zu machen, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten es vornehmlich ältere Menschen sind, die sich ehrenamt- der FDP) 9840 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Ich bin bei der Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs in 14 400 Stiftungen des bürgerlichen Rechts plus die sehr (C) der glücklichen Lage gewesen, dass wir hinsichtlich der zahlreichen, unselbstständigen Stiftungen, Stiftungsver- Förderung des bürgerschaftlichen Engagements auf sehr eine und Stiftungsgesellschaften, die ich bei dieser Gele- weitreichende Vorarbeiten und einige wichtige Erfolge genheit nicht ungewürdigt lassen möchte. engagierter Mitglieder insbesondere aus den beiden Re- gierungsfraktionen aufbauen konnten. Bei Ihrer Rede, Wir haben es also zunehmend mit einer gewissen Stif- Herr Wissing, hatte ich manchmal den Eindruck, dass tungskultur in Deutschland zu tun. Dies wird durch das, Sie sich insbesondere so über diesen Gesetzentwurf aus- was wir hier tun, weiter unterstützt. Von mir aus mag das gelassen haben, wie Sie es getan haben, weil Sie ihn aus mancher Perspektive unzureichend sein; aber es wird nicht mit erfunden haben und auch nie eine richtige Zu- unterstützt. Es mag erstrebenswert sein, einen Standard arbeit dazu geleistet haben. an Stiftungsaktivitäten wie im angloamerikanischen Be- reich, insbesondere in den USA, zu erreichen. Die Situa- (Beifall bei der SPD) tion bei uns hat sich jedenfalls deutlich verbessert. Denjenigen, die bei dieser Entwicklung sehr behilf- Es ist kein Geheimnis – ich weiß das –: Zwischen den lich waren, möchte ich herzlich danken. Ich möchte nie- Fraktionen gibt es in einigen Punkten noch unterschied- manden zurücksetzen, aber ich will insbesondere liche Meinungen, auch über die wichtigen Initiativen im Michael Bürsch, Klaus Riegert und Ute Kumpf für ihren Rahmen dieses Gesetzentwurfs. unermüdlichen Einsatz danken, auch für den kritischen Dialog, den wir gehabt haben, (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wir arbeiten daran!) (Beifall bei der SPD) Ich nenne beispielhaft nur die sogenannte 300-Euro-Re- der es mir relativ leicht gemacht hat – das Stichwort ist gelung, die wir auf das ehrenamtliche Engagement für schon gefallen –, seinerzeit Empfehlungen des Wissen- ältere und behinderte Menschen begrenzen wollen. Es schaftlichen Beirates beim Bundesfinanzministerium – Sie geht also um den Begriff der Mildtätigkeit im engeren erinnern sich an die Aufregung im August letzten Jahres – Sinne; auch Sie haben das indirekt angesprochen. Der sehr schnell abzuwehren. Ich weiß, dass es das eine oder Grund für diese Begrenzung ist ganz einfach – das sage andere Missverständnis gegeben hat; aber ein Bundesfi- ich an Frau Scheel und andere gerichtet –: Eine Auswei- nanzminister ist gelegentlich auch in der Lage, sich wis- tung ist schlicht und einfach nicht mehr bezahlbar. senschaftliche Empfehlungen nicht zu eigen zu machen. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Nicht jeder (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist gut so!) Wunsch ist erfüllbar! Leider!) (B) Mit diesem Gesetz zur weiteren Stärkung des bürger- (D) schaftlichen Engagements löst die Koalitionsfraktion üb- Wenn wir eine solche Begrenzung nicht einführen, dann rigens eine wichtige Zusage aus dem Koalitionsvertrag wird das Ganze absolut uferlos und man landet bei Mil- ein; Herr Riegert, Sie wissen das. Mit unseren Hilfen un- liardenbeträgen. terstützen und fördern wir in großem Ausmaß das bür- Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, dass eine solche gerschaftliche Engagement auf Bundes- und auf Landes- Exklusion mancher – sie werden auf anderen Wegen doch ebene entweder über Steuernachlässe oder durch andere mit gefördert, insbesondere im Bereich des Sports – nicht Vorzüge, und das in einem Umfang von 440 Millionen zu rechtfertigen ist, dann sollte man nach meinem Ein- Euro. Außerdem wollen wir dafür sorgen, dass sich jene, druck eher auf das ganze Vorhaben verzichten. Das wäre die sich ehrenamtlich engagieren, voll darauf konzen- besser, als diese Regelung in unbestimmtem Maße aus- trieren können und sich nicht mit einer unnötigen Büro- zuweiten, was von den Ländern und vom Bund in der kratie abplagen müssen. Ihre Hinweise, Herr Wissing, Tat nicht mehr bezahlt werden könnte. auf all das, was in diesem Gesetzentwurf steht, sind von Ignoranz gekennzeichnet. Ich wäre für eine faire Bewer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tung dankbar. Ich will sagen: Ich habe Verständnis für entspre- Gleichzeitig wollen wir das Stiftungswesen in chende Änderungswünsche aus den Regierungsfraktio- Deutschland stärken. Ich selbst empfinde es ebenfalls als nen, die im parlamentarischen Verfahren behandelt wer- einen Glücksfall, dass wir in Deutschland ziemlich ge- den. nau seit der Reform des Stiftungsrechts unter der rot- grünen Koalition, seit 2002, einen wahren Boom bei den Mir selber ist an zwei Punkten gelegen – ich bitte um Stiftungsgründungen haben. Auch das darf Anerkennung Verständnis –: finden. Erstens. Die festgelegte Obergrenze von 440 Millio- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der nen Euro – diese Mittel werden von Bund und Ländern FDP) paritätisch aufgebracht – wird nicht überschritten. Im Vergleich zu den 80er-Jahren hat sich 2006 die Zweitens. Dieser Gesetzentwurf wird ohne schuldhaf- Zahl der jährlich neu gegründeten Stiftungen um rund tes Zögern noch vor der Sommerpause verabschiedet. 900 erhöht. Insgesamt gibt es in Deutschland inzwischen – ich glaube, Frau Scheel hat darauf hingewiesen – (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wollen wir ma- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das war ich!) chen!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9841

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Dies wäre ein wichtiges Signal für die ehrenamtlich en- Für die FDP ist die Stärkung der Zivilgesellschaft (C) gagierten Menschen. eine zentrale Aufgabe. Es ist vielleicht etwas merkwürdig, dass das Bundes- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig! – finanzministerium eine solche Initiative startet. Dass Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist eine klassi- mein Ministerium so vorgeht, hängt damit zusammen, sche FDP-Rede! Wunderbar!) dass ich gerne auch auf diesem Wege mein Verständnis – Ich danke für Ihre Zustimmung. – Unser Ziel ist, Frei- einer gestaltenden Finanzpolitik unterstreichen möchte. räume für Bürger zu schaffen, die ohne staatliche Bevor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mundung handeln und sich frei entfalten wollen. Staat, Markt und Zivilgesellschaft sollen als gleichrangige Der Finanzminister ist nicht nur für eine solide Haus- Akteure nebeneinanderstehen. Die rund 1 Million Orga- haltspolitik verantwortlich – das ist er auch, gerade in nisationen, in denen sich mehr als 20 Millionen Bürge- diesen Zeiten mit wachsenden Begehrlichkeiten –, son- rinnen und Bürger freiwillig engagieren, braucht klare dern auch dafür – das war immer mein Verständnis –, Rahmenbedingungen. Es genügt nicht, nur neue Steuer- dass das Finanzministerium in der Lage ist, Impulse für vorteile zu schaffen. Erforderlich ist eine grundlegende Wachstum und Beschäftigung und darüber hinaus zur und systematische Bearbeitung des Gemeinnützigkeits- Förderung der Zivilgesellschaft, die eine erhebliche Be- rechts. deutung hat, zu geben. Die FDP will weg vom gewährenden und hin zum er- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der möglichenden Staat. CDU/CSU) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ja! Das steht auch Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist in unserem Gesetzentwurf!) eine sehr gute Verfassung. Auch unsere Landesverfas- sungen sind sehr gut. Aber die nicht geschriebene Ver- Für die FDP ist die lebendige Zivilgesellschaft die fassung dieses Landes, der Zustand dieser Gesellschaft, Klammer unseres Gemeinwesens. wird maßgeblich von Menschen geprägt, die sich ehren- amtlich engagieren. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements CSU und der FDP) durch Finanz- oder Sachmittel ist im Handlungsradius von Ländern und Kommunen verankert und muss daher Aus diesem Grunde wollen wir sie mit unserer Initiative vor Ort diskutiert und festgelegt werden. stärken. In den Zuständigkeitsbereich des Bundes fallen ne- (B) (D) Unser Gesetzentwurf ist vielleicht nicht perfekt, aber ben der Schaffung der steuerlichen Rahmenbedingungen er ist ein sehr wichtiger Schritt, der von allen Beteiligten vor allem die Durchführung von Projekten und Modell- begrüßt wird und der es ermöglicht, dieser Wertschät- programmen sowie die Freiwilligendienste, die ein gutes zung und diesem Dank konkrete Taten folgen zu lassen. Beispiel für ausbaufähiges, freiwilliges Engagement dar- Das ist der Kern dieses Gesetzentwurfes. stellen. Wenn sich die verschiedenen Ministerien einig wären, wer Freiwilligenprogramme auflegt und Freiwil- Herzlichen Dank. ligendienste entwickelt, dann wären wir auch unter sys- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – tematischen Gesichtspunkten bereits ein gutes Stück Dr. Michael Bürsch [SPD]: Weiter so!) weiter. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk von der Ich erinnere nur an die Differenz zwischen dem Bundes- FDP-Fraktion. familienministerium und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. (Beifall bei der FDP) Unsere Aufgabe als Bundespolitiker ist es, die öffent- liche Diskussion und damit das Ansehen der bürger- Sibylle Laurischk (FDP): schaftlich Engagierten und ihrer wichtigen Arbeit zu er- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- höhen. Bürgerschaftliches Engagement fördert nicht nur ren! Herr Minister Steinbrück, Ihren Guten-Morgen- das soziale Kapital unserer Gesellschaft, sondern es ist Gruß kann ich so nicht erwidern, auch ein Weg zur Selbstverwirklichung und Mitgestal- (Jörg Tauss [SPD]: Was? Wieso denn das tung, allerdings nicht – wie im Antrag der Linken formu- nicht?) liert – als Lückenbüßer für den Sozialstaat, sondern als ein Bereich mit eigener Qualität. auch wenn Sie sich ausführlich mit der FDP-Fraktion be- fasst haben. Mittlerweile ist es nämlich Highnoon, und (Beifall bei der FDP – Dr. Michael Bürsch ich meine, es ist höchste Zeit für die Stärkung des bür- [SPD]: Richtig!) gerschaftlichen Engagements. Die Förderung des Bürgerengagements lässt sich be- (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: sonders gut in den Niederlanden beobachten. Die Frei- Oh! – Ute Kumpf [SPD]: Das muss gerade die willigenarbeit gehört dort zum Alltag. Auf ein Jahr FDP sagen!) hochgerechnet schaffen die, die in ihrer Freizeit für an- 9842 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Sibylle Laurischk (A) dere da sind, einen Wert in Höhe von 14 Milliarden Steueranreize mehr privates Kapital für gemeinnüt- (C) Euro. Ohne die Erfahrung der wirtschaftlichen Krise in zige Zwecke, als er selbst durch Steuern erheben den 80er-Jahren wäre dieses Engagement in den Nieder- könnte. Was dem Staat an Steuern entgeht, fließt landen, was sein Ausmaß und die professionalisierte nach unseren Berechnungen in drei- bis sechsfacher Vermittlung angeht, kaum denkbar. Damals haben Staat, Höhe in den gemeinnützigen Sektor und kommt der Wirtschaft und Gesellschaft vereinbart, die Staatsausga- Gesellschaft ohne Umwege zugute. ben zu verringern und das Eigenengagement zu stärken. Ich meine, das ist eine Entwicklung, die wir auch in (Beifall bei der FDP) Deutschland brauchen. Dr. Hermann Otto Solms (FDP): (Beifall bei der FDP) Das Wort hat jetzt der Kollege Die Niederlande halten am Ziel fest, Geld investiv und von der CDU/CSU-Fraktion. damit gesellschaftlich nutzbringend zur Stärkung der Zi- vilgesellschaft auszugeben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ein quantitativer und qualitativer Ausbau der Infra- struktur des bürgerschaftlichen Engagements in den Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Ländern und Kommunen ist auch in Deutschland nötig. Ich erinnere an ein Beispiel, das in meiner Heimatstadt Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Schule gemacht hat. Dort wurde die Seniorenarbeit auf gen! Bei allen Sparmaßnahmen, die die Große Koalition kommunaler Ebene bürgerschaftlich organisiert und in- aufgrund der notwendigen Haushaltssanierung in die nerhalb der Stadt gestaltet. So könnte die Seniorenarbeit Wege geleitet hat, haben wir immer betont, dass es ne- in ganz Deutschland organisiert werden. Das gilt auch ben den Familien eine Bevölkerungsgruppe gibt, die wir für die Integrationsarbeit, ein Thema, das uns gegenwär- in Zukunft nicht nur weiter fördern wollen, sondern zu tig an anderer Stelle intensiv beschäftigt. deren Unterstützung wir in Zukunft noch weiteres Geld in die Hand nehmen wollen. Das ist die große Gruppe Das grundlegend positive Vorhaben der Bundesregie- der ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen und Bürger, rung wird allerdings noch in vielen Detailfragen zu der mildtätigen, sozialen und gemeinnützigen Vereine klären sein. Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass die und Stiftungen. Bundesregierung Erkenntnisse, welche durch die Exper- tenanhörung erbracht werden, noch in das Gesetz ein- Dass eine Anpassung der Freibeträge im Steuerrecht fließen lässt. Die FDP nimmt beispielsweise die Hin- dringend notwendig ist, das merken Sie auch daran, dass weise des Deutschen Kulturrates zum vorliegenden bei den gemeinnützigen Vereinen die Buchführungs- (B) (D) Entwurf sehr ernst. Als sehr problematisch erachtet der pflichtgrenze in Höhe von 30 678 Euro letztmalig am Kulturrat, Spitzenverband der Bundeskulturverbände, 9. November 1989 angepasst worden ist. dass die Bundesregierung dem Vorschlag des Bundesra- (Ute Kumpf [SPD]: Warum hat zwischendurch tes folgen will, die gemeinnützigen Zwecke im Bereich niemand was gemacht?) Kunst und Kultur enger zu führen. Sollte die Defini- tion des Bundesrats Gesetzeskraft erlangen, könnten ge- Das ist, wie Sie wissen, aus einem anderen Grund ein meinwohl- und nicht gewinnorientierte Kulturvereine, bedeutsames Datum für unser Vaterland. Nach der Ab- die nicht unter diese Definition fallen, nicht mehr als ge- stimmung zum Vereinsförderungsgesetz wurde die Ple- meinnützig anerkannt werden. narsitzung im Deutschen Bundestag in Bonn – damals im Wasserwerk – unterbrochen, weil sich in Berlin die (Birgit Homburger [FDP]: So ist es! – Zuruf Mauer öffnete. Sie sehen also, es ist höchste Zeit, dass von der SPD: Reden Sie mal mit den Län- wir uns mit dem Thema wieder beschäftigen. dern!) Die kulturelle und die soziale Bedeutung der Vereine Dies ist im weiteren Verfahren sehr genau zu hinterfra- ist in den letzten Jahren noch einmal stark gestiegen. gen, Herr Minister, und gegebenenfalls auch zu ändern. Wer sich in funktionierenden Vereinen aufhält, der spürt (Beifall bei der FDP) die Wärme, ja fast schon familiäre Atmosphäre, die in unseren Vereinen herrscht. Wir merken immer mehr: Die Für sehr problematisch halte ich die neue abschlie- Vereine sind in vielen Fällen schon fast eine Art Fami- ßende Aufzählung der gemeinnützigen Zwecke. Die lienersatz geworden und leisten einen enormen Beitrag FDP fordert die Prüfung eines Bestandsschutzes für Ver- insbesondere zur Integration ausländischer Jugendlicher. eine, die bei Verabschiedung des Gesetzes als gemein- nützig anerkannt sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP) Die Übungsleiter in unseren Sportvereinen sind längst mehr als nur „Vorturner“. Sie kümmern sich immer mehr Lassen Sie mich zum Schluss den Stifterverband für auch um die persönlichen Probleme der ihnen anvertrau- die Deutsche Wissenschaft zitieren, der anschaulich be- ten Jugendlichen. Viele Kinder erfahren im Verein erst- schreibt, warum es sich lohnt, das Steuer- und Spenden- malig, wie wichtig Pünktlichkeit, Fairness und Kame- recht zu überarbeiten: radschaft sind. Deshalb werden wir, wie angekündigt, Stiften und Spenden wirken wie eine freiwillige die Übungsleiterpauschale anheben. Wir werden auch Selbstbesteuerung. Der Staat mobilisiert durch schauen, inwieweit wir andere Personenkreise einbezie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9843

Christian Freiherr von Stetten (A) hen können. Zusätzlich erhalten die Vereine bessere Ich glaube, wir dürfen keine Schieflage zulassen. Wir (C) Rahmenbedingungen. müssen für ein ausgewogenes Verhältnis sorgen. So haben wir es übrigens auch bei den Stiftungen Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, noch einmal vor. Wir brauchen in Deutschland eine neue Stifterkultur. richtig nachzulesen. Wir sind nicht gegen Stiftungen und Sie ist vorhin schon für die USA und andere angelsächsi- Stifter. Wir sind dafür – – sche Länder angesprochen worden. Wir unterstützen Un- (Zurufe von der CDU/CSU: Frage!) ternehmen und Privatpersonen, wenn sie mit gemeinnüt- zigen Stiftungen unser soziales und kulturelles Leben – Können Sie die Auffassung teilen – eine Frage –, dass bereichern wollen. mit den Stiftungen sowohl der Zweck verfolgt wird, Steuern zu sparen, als auch der Zweck verfolgt wird, Gu- (Beifall bei der CDU/CSU) tes zu tun – Das ist übrigens der Unterschied, Frau Dr. Höll, zur Linksfraktion. Wer Ihre Rede genau verfolgt hat und wer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: vor allem Ihren Antrag genau gelesen hat, in dem Sie Frau Kollegin Höll, Sie sollen eine kurze Frage stel- sich zu den Stiftungen äußern, der merkt: Das Gesell- len. schaftsbild der Linken ist völlig verklärt. Sie verweigern sich ja nicht nur einer Besserstellung der Stiftungen Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): heute, sondern Sie kritisieren in Ihrem Antrag – Sie gu- – das ist mein letzter Satz –, und der Zweck verfolgt cken so ungläubig; lesen Sie Ihren Antrag! – sogar das wird, auf Kosten der Steuerzahler das Auskommen von heute gängige Verfahren der Unterstützung kultureller Nachkommen sicherzustellen? und sozialer Stifter in unserem Land. Sie haben ein Ge- sellschaftsbild, gemäß dem der Staat seinen Bürgern so Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: viele Steuern wie möglich abnimmt und dann selbst ent- Die Gelegenheit kann ich nutzen, um auf die Ge- scheidet, was gut ist und was mit dem Geld gemacht schäftsordnung hinzuweisen: Die Fragen sollen kurz und wird. präzise sein, die Antworten ebenfalls. Wir dagegen wollen, dass nur die Rahmenbedingun- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt einmal den gen für die Stiftungen definiert werden, also nur festge- ganzen Absatz vorlesen!) legt wird, was grundsätzlich förderungswürdig ist. Da- mit haben die Bürger die Freiheit, selber zu entscheiden, für welche Projekte sie ihr Vermögen einsetzen wollen. Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): (B) Das ist der Unterschied zwischen Ihrem und unserem Herr Präsident, ich habe zwar die Frage nicht ganz (D) Modell. verstanden, (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und der SPD) neten der FDP) aber damit alle wissen, was in Ihrem Antrag steht, möchte ich nur zwei Sätze vorlesen. Nachdem Sie im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vorspann erklären, dass Stiftungen besonders unterstützt Herr Kollege von Stetten, erlauben Sie eine Zwi- werden und auch in der Vergangenheit schon unterstützt schenfrage der Kollegin Barbara Höll? wurden, schreiben Sie weiter: gerade vor dem Hintergrund … öffentlicher Mittel – Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Verteilungsrisiken – – Das mache ich gerne, auch wenn die Linksfraktion gleich als nächste das Wort hat. Bitte schön. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Der Kürzung der öffentlichen Mittel!)

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): – Sie erzählen uns, dass öffentliche Mittel gekürzt wer- den, weil wir Stiftungen fördern. Sehr geehrter Herr Kollege, ich freue mich natürlich, dass Sie unseren Antrag sehr gründlich gelesen haben. Wir haben ihn ja geschrieben, um ihn in die Debatte ein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zubringen. Ich glaube aber, Sie haben ihn nicht ganz Hier kann kein Zwiegespräch stattfinden. richtig gelesen. Wir kritisieren nicht die Stiftungen an (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Dann können sich, sondern wir machen auf das verteilungspolitische wir ja hinausgehen, wenn die zwei sich unter- Problem aufmerksam, dass durch die steuerliche Be- halten!) günstigung von Stiftungen dem Gemeinwesen Steuer- geld verloren geht. Das heißt, es findet auf dieser Seite Sie haben eine Frage gestellt. eine Schwächung statt. Andererseits wird die Position des Stifters gestärkt, der als Individuum entscheiden Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): kann, was er finanziert. Herr Präsident, nur ein Satz: (Zurufe von der SPD: Frage!) Diese liegen vor allem darin, – – 9844 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Ute Kumpf [SPD]: Na, na, na! Das ist ein (C) Herr von Stetten, ich leite hier die Versammlung. Hinauszögern!) Richten Sie sich bitte danach. Hier sollte uns Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir wollen einen ausführlichen Dialog mit dem Perso- nenkreis, der von diesem Gesetz betroffen ist, und dann Eine Frage ist gestellt worden. Ich bitte jetzt um eine hier im Bundestag endgültig ein vernünftiges Gesetz be- kurze, präzise Antwort. Dann ist das Zwiegespräch be- schließen, das den Betroffenen hilft. endet. (Zuruf von der SPD: Das tun wir in der (Mechthild Rawert [SPD]: Das war aber keine Großen Koalition immer!) Frage!) Herzlichen Dank. Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gleichzeitig liegt die Verwendung der auf diese neten der SPD) Weise bereitgestellten Mittel im Ermessen des Stif- ters bzw. der Stiftungsgemeinschaft. Damit sind Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: diese Mittel einem demokratischen und parlamenta- Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Reinke von der rischen Entscheidungsprozess entzogen. Öffentli- Fraktion Die Linke. che Güter gelangen damit unter den Einfluss von (Beifall bei der LINKEN) Individualinteressen. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja!) Elke Reinke (DIE LINKE): Das ist Ihre Bemerkung zu dem Thema, dass wir die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stifter in Zukunft besser fördern wollen. Daran wird der Werte Gäste! Bürgerschaftliches Engagement ist derzeit große gesellschaftliche Unterschied zwischen Ihrer Ideo- in aller Munde und hochgeschätzt. In der Tat: Es beför- logie, gemäß der mehr Staat gefordert wird, und unserem dert, richtig verstanden, den Zusammenhalt des Gemein- Anliegen, die Stifter zu fördern, deutlich. – Ich bin mit wesens und dient der sozialen Integration. Die Men- meiner Beantwortung fertig, Herr Präsident. schen in unserem Land wollen das öffentliche Leben aktiv mitgestalten, sei es beim Bau von Kinderspielplät- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zen, bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, in neten der SPD – Dr. Barbara Höll [DIE Erwerbsloseninitiativen oder durch die Unterstützung LINKE]: Sie können nicht einmal richtig zitie- (B) von Sportstrukturen. (D) ren!) Allerdings möchte ich auch auf eine gravierende Meine Damen und Herren, wir halten an unserer For- Fehlentwicklung aufmerksam machen, durch die der ei- derung fest, bei der Kapitalausstattung der Stiftungen die gentliche Sinn des bürgerschaftlichen Engagements ver- steuerfreie Höchstgrenze von heute 307 000 Euro nicht wässert zu werden droht: Das Engagement Freiwilliger nur, wie vom Bundesfinanzminister vorgesehen, auf ist heute immer stärker Ersatz öffentlicher Leistungen 750 000 Euro, sondern auf 1 Million Euro heraufzuset- und dient somit der finanziellen Entlastung von Bund, zen. Dass dies im Einklang mit einer Forderung der Grü- Ländern und Gemeinden. nen steht, ist besonders erfreulich, weil wir so gemein- (Ute Kumpf [SPD]: Oje!) sam bei einer wichtigen Thematik an einem Strang ziehen. Gleichzeitig ist uns noch wichtig, den Zusatz- Weil sich Bund und Länder aus der Verantwortung steh- höchstbetrag von 20 450 Euro beizubehalten. Wir halten len, sind viele Kommunen kaum noch in der Lage, ihre dies trotz der Kritik der Linken für eine sehr wichtige laufenden Ausgaben aus den Einnahmen zu bestreiten. Maßnahme. Das führt nun dazu, dass Bürgerinnen und Bürger zuneh- mend zu ehrenamtlichen Tätigkeiten in der Kommune Wie Sie aus den Ausführungen meines Kollegen angehalten werden. Viele tun dies grundsätzlich auch Oswald entnehmen konnten, haben wir zu verschiedenen gern. Aber hierbei wird oftmals übersehen, dass sich anderen Punkten weiteren Änderungsbedarf beim Minis- bürgerschaftliches Engagement nach und nach zum Not- ter angemeldet. Für die nun anstehenden Beratungen in behelf im Zuge des Sozialstaatabbaus entwickelt. Der den Ausschüssen sollten wir uns ausreichend Zeit neh- Staat zieht sich aus Kostengründen immer weiter zurück. men, um mit den Betroffenen über die vorgeschlagenen Die Privatwirtschaft folgt unmittelbar. Immer mehr re- Gesetzesänderungen diskutieren zu können. Denn wir guläre, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze fal- wollen nicht nur steuerlich etwas verbessern, sondern len weg. Die Ehrenamtlichen sollen nun diese Lücke bei dieser Gelegenheit auch gleich die Haftung der eh- schließen. Hier fordert die Linke von der Regierung, in renamtlich Tätigen ansprechen und beim Bürokratieab- Richtung öffentlich geförderter Beschäftigung aktiv bau weiter vorankommen. zu werden. Lassen Sie Ihren Worten endlich Taten fol- Wichtig ist für die Betroffenen, dass das Gesetz rück- gen! wirkend zum 1. Januar 2007 in Kraft treten soll. Da aber (Beifall bei der LINKEN) die Steuererklärungen für das Jahr 2007 in der Regel erst im Jahr 2008 erstellt werden, dürfte das kein Problem Bürgerschaftliches Engagement darf nicht ein Ersatz für sein. Leistungen sein, die Kommunen, Länder und Staat nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9845

Elke Reinke (A) mehr erbringen können oder teilweise nicht erbringen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) wollen. Wir wollen kein dienendes und ersetzendes Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann von der Engagement, sondern Partizipation und Verantwor- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. tung aller Bürgerinnen und Bürger in ihrem alltäglichen Lebensumfeld. Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unterdessen werden die durch Sozialabbau freige- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- wordenen Stellen kostensparend mit freiwillig Engagier- ren! Sehr geehrter Herr Finanzminister! Lassen Sie mich ten besetzt. Dazu ein Beispiel aus meiner Region: In Ju- bitte kurz drei Dinge vorwegschicken, wenn wir über gendklubs wird sozialpädagogisches Fachpersonal durch bürgerschaftliches Engagement sprechen. Ehrenamtliche und 1-Euro-Beschäftigte ersetzt – oder Wir sprechen über bürgerschaftliches Engagement die Klubs werden gleich ganz geschlossen. selbstverständlich in Bezug auf die vielen Menschen, die (Zuruf von der LINKEN: Oder von den Nazis sich im Sinne einer lebendigen Zivilgesellschaft übernommen!) engagieren, die etwas Emanzipatorisches, Lebendiges, Kreatives und Zusätzliches ist und selbstverständlich Ehrenamtlichkeit ist gerade im sozialen Bereich un- nicht professionelle Infrastrukturen ersetzt. verzichtbar; das ist keine Frage. Wenn die momentane Entwicklung jedoch weiter so verläuft, werden immer (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) mehr qualifizierte Arbeitskräfte durch engagierte, aber Vielmehr braucht man als unverzichtbares Element unentgeltlich und nicht sozialversichert arbeitende, mög- hauptamtliche Strukturen. licherweise unzureichend qualifizierte Bürgerinnen und Bürger ersetzt. Ähnliches ist auch schon in der Alten- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN pflege und Altenbetreuung zu beobachten. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das ist schlimm!) Das will ich einfach vorwegschicken, denn man kann mit einer Debatte, die hier über mehr als sechs Jahre ge- Ich möchte noch kurz auf einen anderen Bereich ein- führt worden ist – ich selbst bin neu im Bundestag –, gehen: die Tafeln. Das Ziel der Tafeln ist es, qualitativ nicht immer wieder bei null anfangen. einwandfreie Nahrungsmittel, die sich nicht mehr ver- wenden lassen, an Bedürftige zu verteilen. Die Tafeln (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bemühen sich hier um sozialen Ausgleich. Vor allem seit und bei der SPD) (B) der Einführung von Hartz IV ist die Zahl der Tafelneu- Das ist ein kreativer, emanzipatorischer Ansatz. Dafür (D) gründungen stark gestiegen. Das Projekt wird haupt- brauchen wir hauptamtliche Strukturen. So definieren sächlich von Ehrenamtlichen bewerkstelligt. Im Dezem- wir Grüne bürgerschaftliches Engagement. ber 2006 war zu vernehmen, dass Familienministerin von der Leyen die Schirmherrschaft für Die Tafeln über- (Zuruf von der SPD: Wir auch!) nommen hat. Der Einsatz der mehr als 25 000 Helferin- Punkt zwei. Bürgerschaftliches Engagement – das nen und Helfer ist wirklich bemerkenswert und nicht sage ich auch in Abgrenzung zur FDP – bedeutet gerade hoch genug zu loben. Aber stellt sich nicht gleichzeitig nicht den Rückzug des Staates aus der Verantwortung. die Frage, wie es erst so weit kommen konnte, dass die Es bedeutet eine Neudefinition des Verhältnisses von Zahl der Tafeln so gewachsen ist? staatlicher Verantwortung, Markt und lebendiger Zivil- Die unsoziale, armutsverschärfende Politik dieser gesellschaft, aber gerade nicht den Rückzug des Staates Koalition hat ihren Anteil daran. Es ist zugleich auffällig, aus der Verantwortung. dass die Anerkennung für die Freiwilligen in erster Linie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von denen kommt, die den Rückbau des Sozialstaates und bei der SPD – Zuruf von der FDP: Das und die Zunahme von Armut politisch zu verantworten will doch keiner! Die Grünen kritisieren im- haben. Es ist der Hohn, dass sich Frau von der Leyen auf mer etwas, was keiner vorgeschlagen hat! Am der einen Seite als Schirmherrin der Tafeln zur Verfü- Thema vorbei!) gung stellt und andererseits eine Politik mitverantwortet, die immer mehr Bedürftige schafft. Freiwillige Arbeit Drittens. Es wurde hier eben beklagt, dass die Chan- benötigt alles in allem umfangreiche materielle, finanzi- cen und Möglichkeiten für Engagement immer geringer elle und soziale Infrastruktur, personelle Ressourcen so- werden. Das ist nicht so! Alle Berichte, Erhebungen, wie eine ausgeprägte Kultur der öffentlichen Anerken- Statistiken und Umfragen, die uns vorliegen, zeigen nung. deutlich, dass es eine massiv erhöhte Bereitschaft zum Engagement und auch verstärktes Engagement, und Doch weiteren Sozialabbau – nun auch unter dem zwar bei vielen Menschen, gibt. Deckmantel des bürgerschaftlichen Engagements – wird es mit der Fraktion Die Linke nicht geben. (Zuruf von der SPD: Richtig!) Vielen Dank. Das gilt sowohl für junge als auch für alte Menschen. Es gilt auch für Migrantinnen und Migranten, um die wir (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der uns auch zu kümmern haben, indem wir fragen, welche SPD: Äußerst schwach!) Bedingungen wir dafür zugrunde legen, dass Menschen 9846 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Britta Haßelmann (A) sich engagieren können, die Deutschland vielleicht nicht und nicht nur in dieser parlamentarischen Debatte be- (C) als Herkunftsland haben. Schließlich gilt es auch für handelt werden. Menschen, die arbeitslos sind und Interesse haben, sich auf diese Art und Weise zu engagieren und ihre Kreativi- Die Fragen sind: Was tun wir eigentlich, um eine le- tät einzubringen. Das sollten wir, wenn wir darüber dis- bendige Zivilgesellschaft zu fördern? Welche Bedingun- kutieren, auch einmal zur Kenntnis nehmen. gen können wir schaffen, damit sich noch mehr Men- schen engagieren? Es gibt im Moment fast 23 Millionen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschen, die sich in irgendeiner Weise bürgerschaft- und bei der SPD) lich engagieren, und zwar nicht nur in großen Verbän- den, sondern auch in sehr vielen kleinen Initiativen vor Nun zum Gesetzentwurf: Herr Finanzminister, ich Ort. Was tun wir eigentlich, um dieses Thema als Quer- freue mich sehr, dass Sie zu Weihnachten doch noch die schnittsaufgabe zu behandeln und entsprechende Unter- Kurve gekriegt haben. stützung in allen Politikfeldern und in allen Ressorts zu (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Er hat ja auch Ge- leisten? schenke gekriegt, nicht bloß die Kurve!) Wir dürfen nicht die Tatsache überbewerten, dass wir Ich hatte am Anfang den Eindruck, dass der Wissen- uns nun mit diesem Gesetzentwurf beschäftigen. Dass schaftliche Beirat und die Empfehlungen des Wissen- wir jetzt etwas tun, sollte uns nicht dazu veranlassen, uns schaftlichen Beirats auch – um das einmal so deutlich zu gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. Es gibt noch sagen – im Finanzministerium auf offene Ohren stoßen. jede Menge konkreten Handlungsbedarf. Ich wünsche Ich war irritiert über auf die eine oder andere Stellung- mir eine viel stärkere Debatte in allen Politikfeldern. nahme. Sowohl meine Kollegen und Kolleginnen aus Warum sollten nicht auch der Verbraucherschutzminis- der SPD als auch die aus der CDU/CSU und anderen ter, der Umweltminister und die Ministerin für Familie, Fraktionen wissen, über welche Stellungnahmen ich Senioren, Frauen und Jugend viel mehr über die Bedeu- rede. tung des bürgerschaftliche Engagements in dieser Ge- sellschaft reden und Initiativen begleiten? (Zuruf von der SPD: Das war nicht der Finanz- minister!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Daher bin ich umso positiver überrascht, dass diese Bei- CDU/CSU) ratsempfehlungen zum Zeitpunkt der Gesetzeseinbrin- gung vom Tisch sind. Hier besteht noch Handlungsbedarf. Wir müssen stärker dafür eintreten, Bedingungen zu schaffen, mit denen das (Zuruf von der SPD: Der Finanzminister hat bürgerschaftliche Engagement wirklich gefördert wird. (B) immer offene Ohren! In dem Fall sind sie aber (D) zu!) Vielen Dank. Denn es war dringend notwendig, mit dem Tenor aufzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN räumen, lebendige Zivilgesellschaft, Vereinsengagement und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der und Initiativenarbeit bedeuteten Wettbewerbsverzerrun- CDU/CSU) gen und Missbrauch. Ich glaube, da waren wir uns in Be- zug auf die Arbeit im bürgerschaftlichen Engagement Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sehr einig. Das Wort hat der Kollege Klaus Riegert von der CDU/CSU-Fraktion. Meine Kollegin Christine Scheel ist auf viele der ein- zelnen Punkte aus den zehn Vorschlägen aus grüner (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sicht eingegangen. Ich glaube, dass es in der Anhörung neten der SPD) und in den Fachausschüssen noch eine sehr intensive Diskussion geben wird. Denn die eine oder andere Ein- Klaus Riegert (CDU/CSU): lassung des Finanzministeriums, Herr Minister, hat nicht Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die seit gerade für Klarheit gesorgt. Ich denke zum Beispiel an Mitte der 90er-Jahre geführte Diskussion über Wert und die Äußerung, man müsse durch die Neuregelung viel- Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements scheint leicht bestimmten Vereinen die Gemeinnützigkeit aber- sich nun endlich auszuzahlen. Zumindest ist ein Wandel kennen. Wenn ich an solche Bespiele denke, glaube ich, in der Wahrnehmung des Engagements und seiner Be- dass wir da noch über einige Fragen ganz intensiv disku- deutung für unser Gemeinwesen festzustellen. Die CDU/ tieren müssen. CSU begrüßt den vom zuständigen Bundesfinanzminis- Meine Kollegin Christine Scheel hat vorhin, wie ge- ter vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur weiteren sagt, die Punkte schon angesprochen, die aus grüner Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements als ersten Sicht notwendig sind. Ich will an dieser Stelle betonen, großen Schritt in die richtige Richtung. dass wir zwar jetzt über den Gesetzentwurf zur weiteren (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements und über die Fragen im Zusammenhang mit der Gemeinnützigkeit Dies gilt umso mehr, als der Gesetzentwurf im Wesentli- und der steuerrechtlichen Förderung diskutieren. Im chen auf Vorschlägen basiert, die auf die Enquete-Kom- Grunde genommen muss aber das gesamte Thema der mission und auf Handlungsempfehlungen der CDU/ Förderung des bürgerschaftlichen Engagements überall CSU-Bundestagsfraktion zurückgehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9847

Klaus Riegert (A) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es! – Zu- sind aber wie der Bundesrat der Meinung, dass wir hier (C) ruf von der SPD: Und der SPD!) ein klares Zeichen setzen sollten, diesen auf 1 Million Euro anheben zu wollen. Das wäre für mich ein wichti- Zur Erinnerung: Die CDU/CSU hat durch eine Große ges Signal für die Gründung von Stiftungen. Dies würde Anfrage im Jahr 1996 dafür gesorgt, dass wir am den Bürgern die Möglichkeit geben, dauerhaft gemein- 5. Dezember 1997 zum ersten Mal überhaupt eine De- nützige Zwecke zu finanzieren. batte über bürgerschaftliches Engagement im Deutschen Bundestag hatten. Viertens. Im Entwurf ist die Einführung eines Abzugs (Zuruf von der SPD: Das stimmt! – Eduard von der Steuerschuld in Höhe von 300 Euro jährlich für Oswald [CDU/CSU]: So weit liegt das schon ehrenamtliche Tätigkeiten im mildtätigen Bereich im zurück!) Umfang von 20 Stunden vorgesehen. Wir sind wie der Finanzminister der Meinung, dass diese Begrenzung auf Dies führte zur Einsetzung der Enquete-Kommission im den mildtätigen Bereich ein Ranking innerhalb des eh- Jahre 1999. Das Ziel war es, politische Strategien und renamtlichen Engagements schafft und damit Unter- Maßnahmen zur Förderung des bürgerschaftlichen schiede zeitigt. Darin sehen wir ein Problem. Das kann Engagements zu erarbeiten. Ich empfehle jedem, unse- nicht unser Ziel sein. ren vorliegenden Abschlussbericht, der sehr aktuell ist, zu lesen. Die Konsequenz kann nur sein, dass wir diese Ab- zugsfähigkeit sachgerecht auf den Naturschutz, die (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es lohnt sich! – Hilfs- und Rettungsdienste, die Feuerwehr, kirchliches Dr. Michael Bürsch [SPD]: 851 Seiten! Wun- Engagement und Bereiche des Sports ausweiten. Falls derbare Lektüre!) dies nicht zu finanzieren ist, sollte dieser Punkt zur Dis- Lassen Sie mich nun konkret auf einige Punkte einge- position stehen. Eine Rangfolge des Ehrenamtes streben hen. wir nicht an. Aus meiner Sicht sollten wir eher darüber nachdenken, ob wir nicht eine Freigrenze von Erstens. Der Gesetzentwurf sieht eine Erhöhung der 1 200 Euro für alle Ehrenamtlichen schaffen. Damit er- Besteuerungs- bzw. Zwecksbetriebsgrenze bei gemein- zielen wir einen konkreten Bürokratieabbau, da die nützigen Körperschaften und sportlichen Veranstaltun- Einzelnen nicht mehr die Kosten für Porto, Telefon und gen auf 35 000 Euro vor. Wir wie auch der Bundesrat gefahrene Kilometer sowie andere Aufwendungen de- sind der Meinung, dass wir die Besteuerungsgrenze auf tailliert nachweisen müssen, sondern dies pauschal über 40 000 Euro anheben sollten. Wir möchten mit dieser eine Freigrenze abgedeckt ist. Erhöhung eine Flexibilisierung auf drei Jahre verbinden, um zum Beispiel den Vereinen eine größere Planungs- Fünftens. Die Beiträge für Kultur sind in Zukunft von (B) (D) freiheit bei der Ausrichtung von Vereinsjubiläen oder be- der Steuer absetzbar. Aber was, Herr Finanzminister, ge- sonderen Anlässen zu ermöglichen. schieht mit Mitgliedsbeiträgen an Sportvereine? Ihr Ministerium hat einen entsprechenden Vorschlag lapidar Zweitens. Der Gesetzentwurf sieht eine Anhebung mit der Formulierung abgelehnt – ich zitiere –: Die Mit- der sogenannten Übungsleiterpauschale bei unverän- glieder von Sportvereinen fördern mit ihren Beiträgen in dertem Anwendungsbereich auf 2 100 Euro vor. Über erster Linie die eigene Freizeitgestaltung. – Lieber Herr die Anhebung des Übungsleiterfreibetrages hinaus halte Steinbrück, Sie haben mich zwar gelobt. Aber an dieser ich eine Erweiterung des Bezugskreises auf Verantwor- Stelle muss ich Sie natürlich fragen: Was ist mit den Be- tungsträger – zum Beispiel Vereinsvorsitzende, Schatz- griffen der Sozialisation, der Integration, der Gesund- meister und ehrenamtliche Geschäftsführer – für erfor- heitsförderung und der Lebensschule für Kinder? Dies derlich. alles sind Leistungen der Sportvereine. In Ihren Reden (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wer finanziert zu entsprechenden Anlässen findet sich das alles. Ist es das?) jetzt vergessen? Ferner sollten wir die 2 000 lizenzierten Organisations- Lassen Sie uns deshalb gemeinsam darüber nachden- leiter im Sport und die Helfer in der Gefahrenabwehr mit ken, ob wir die Mitgliedsbeiträge für Kinder und Ju- aufnehmen. gendliche an Sportvereine als Zuwendungen zur Förde- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rung steuerbegünstigter Zwecke anerkennen können. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Im Übrigen profitieren die Feuerwehrleute von dieser neten der SPD und der FDP) Anhebung bisher nicht. Auch hier müssen wir eine ent- sprechende Anpassung vornehmen. Sie ist notwendig Dies wäre ein erheblicher Beitrag, Eltern zu motivieren, und sachgerecht. Dies sollte Ausdruck der Anerkennung ihre Kinder regelmäßig zum Sport anzuhalten. für die gefährliche und wertvolle Arbeit der Feuerwehr Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird im Gesetz- sein. gebungsverfahren die im Gesetzentwurf vorhandenen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Unebenheiten und Ungleichheiten zum Wohle aller eh- neten der SPD und der FDP) renamtlich Tätigen beseitigen. Wir stehen weiter an der Seite des Ehrenamtes. Drittens. Wir unterstützen die Anhebung des Höchstbetrages für die Ausstattung von Stiftungen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 9848 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Christine (C) Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Kumpf von der Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das SPD-Fraktion. hat aber eine Zeit lang gedauert!) – Es hat nicht gedauert. Ute Kumpf (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist rich- Oh, doch! Wir haben Zeitung gelesen!) tig, Frau Dr. Höll: Viele tun es. Der Brite macht es; der Vielleicht sind Sie auch da nicht auf der Höhe der Zeit. Franzose macht es. Auch der Pole, der Ire, der Belgier Schon lange vorher – auch das ist eine Neuheit – wurde und der Deutsche tun es. Ganz viele sind in Europa bür- aus dem Finanzministerium der Kontakt zur Zivilgesell- gerschaftlich, freiwillig, unentgeltlich, eigensinnig un- schaft und zu den Verbänden gesucht, um das Gesetzes- terwegs. Sie sind das soziale Kapital, über das unsere werk tatsächlich Stück für Stück zu entwickeln und ge- Gesellschaft verfügt. Sie sind ein Kapital, das sich, wenn meinsam auf den Weg zu bringen. man es benutzt, sogar vermehrt. Dies ist auch gut so. Deswegen ist das Gesetz zur weiteren Stärkung des Wir haben also im europäischen Umfeld vieles; eini- bürgerschaftlichen Engagements ein Zeichen der Aner- ges haben Sie zitiert. Wir haben aber etwas, was andere kennung und der Unterstützung bürgerschaftlich Enga- nicht haben: Die 23 Millionen Menschen in Deutsch- gierter. Das Gesetz soll mehr Menschen motivieren, sich land, die sich bürgerschaftlich engagieren, und die zu engagieren. Für uns als Sozialdemokraten ist beides 14 000 Stiftungen haben in Peer Steinbrück einen Fi- wichtig – das sage ich vor allem an die Adresse der Lin- nanzminister, der genau dieses Engagement wertschätzt, ken –: Sowohl die Zivilgesellschaft als auch der Sozial- der mit seinem Gesetz hier unterlegt, dass Ehrenamt kein staat müssen gestärkt werden. Ausfallbürge für den Sozialstaat sein soll, (Beifall bei der SPD) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Richtig!) Nur wenn beides gestärkt wird, kann es funktionieren. der den Ehrenamtlichen nicht als potenziellen Steuerhin- terzieher betrachtet, Herr Kollege Riegert und andere haben es schon an- geführt: Mit dem Gesetz „Hilfen für Helfer“ werden un- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sere Forderungen – es sind nicht nur Forderungen der sondern davon ausgeht, dass der Ehrenamtliche, wenn er CDU/CSU; da muss man etwas genauer sein –, die For- unterwegs ist, nicht nur an sich denkt, sondern auch an derungen der Enquete-Kommission – Kollege Riegert die Gesellschaft und Gemeinschaft. Alle in diesem und Kollege Bürsch waren dabei; auch ich durfte mitar- (D) (B) Hause sprechen hier oder in ihrem Wahlkreis zum Tag beiten – jetzt aufgegriffen und gesetzgeberisch umge- des Ehrenamtes am 5. Dezember immer von der Seele setzt. der Demokratie und vom Wärmestrom der Gesellschaft, Nach der Schrecksekunde, die im Sommer durch den der unsere Gesellschaft zusammenhält. Wissenschaftlichen Beirat ausgelöst wurde, war der Ju- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es!) bel groß, nachdem die Eckpunkte kurz vor dem Tag des Ehrenamtes am 5. Dezember vorgelegt worden sind. Vielleicht wäre es für die Kollegen und Kolleginnen Jetzt seien Sie doch alle einmal ehrlich – das sage ich von der Opposition einmal ganz hilfreich, Folgendes zur vor allem an die Seite der Linken gerichtet; ich glaube, Kenntnis zu nehmen – Kollege Riegert hat es schon ge- in diesen Kreisen bewegen Sie sich nicht –: Es gab viel sagt –: In der rot-grünen Koalition haben wir die En- Wertschätzung und viele positive Reaktionen aus den quete-Kommission und den Ausschuss ins Leben geru- Verbänden, weil sie dem Finanzminister dies nicht zuge- fen. Wir haben seit 2002 eine ganze Reihe von traut hatten. Es gab ja früher immer die Debatte, dass es Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wir haben die finan- Milliarden kostet, wenn man Steuervergünstigungen für zielle Förderung der Freiwilligendienste, Unfallschutz die jeweiligen Verbände gewährt. und Haftungsfragen geregelt. Wir haben die Hospizbe- wegung und die Selbsthilfe unterstützt. Das Finanzministerium hat mit diesem Gesetzentwurf richtig gehandelt. Lob und Anerkennung können nicht (Zuruf von der CDU/CSU: Versicherungs- nur die Verbände, sondern auch wir an das Ministerium schutz!) richten. Ich will hier einmal die Kulturseite zitieren, die gesagt hat: Hier wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Wir haben über alle Elemente aus der Enquete-Kommis- Das hört man selten über ein Vorhaben des Finanzminis- sion in diesem Hohen Hause beraten. teriums; das überrascht. In diesem Fall kommt das, was Heute sprechen wir über das Finanzielle; das ist auch mobilisiert werden kann, der Kultur zugute. gut so. Nach dem Gutachten des Wissenschaftlichen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beirates haben viele gefragt: Oh Gott, was werden wir der CDU/CSU) aus dem Finanzministerium womöglich hören? Mit dem Gesetzesentwurf mit der Überschrift „Hilfen für Helfer“ Diese Neuregelungen, die jetzt auf den Weg gebracht – da war die grüne Seite vielleicht nicht mehr so ganz werden sollen, stehen für Bürokratieabbau und für mehr auf der Höhe der Zeit – hat sich der Finanzminister nicht Anreize zum Stiften von Zeit und von Geld. Wir sind gut auf die Seite des Beirates gestellt, sondern auf die Seite beraten, wenn wir die engagierten Bürgerinnen und Bür- der Engagierten. ger nicht benutzen. Wir alle wissen: Bürgerschaftliches Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9849

Ute Kumpf (A) Engagement lässt sich nicht verordnen. Es muss eigen- Steinbrück in guter Gesellschaft: In Zeiten von Willy (C) sinnig, freiwillig und unentgeltlich sein. Die Menschen Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder wurde müssen die Möglichkeit haben, innovativ zu sein. die Übungsleiterpauschale erhöht. Von dieser Übungslei- terpauschale profitieren im Übrigen nicht nur Kollegin- Ich finde es gut und schön, dass dieser Gesetzentwurf nen und Kollegen, die sich im Bereich des Sports um die nicht hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, sondern mit- Jugend kümmern, sondern auch diejenigen, die sich im ten im Leben steht. Uns ist besonders wichtig, dass die Bereich der Kultur und in anderen Bereichen für die Ju- Förderung des bürgerschaftlichen Engagements in den gend engagieren. Katalog der gemeinnützigen Zwecke des § 52 der Ab- gabenordnung – dieser Passus ist auf den ersten Blick un- Ich sehe, dass die Lampe leuchtet. Der Präsident sagt scheinbar – aufgenommen wurde. Das geschah zu Recht, gleich etwas. das finden wir gut, und daran wollen wir festhalten. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin, sind Sie so weit? Ich finde es immer wieder putzig, wenn die FDP dazu auffordert, zu stiften und auf andere Weise fürs Gemein- Ute Kumpf (SPD): wohl tätig zu werden. Ich frage mich nur, warum Sie sich dafür nicht in der Zeit eingesetzt haben, als Sie an Ich komme gleich zum Schluss. der Regierung waren. Wir sind seit 1998 an der Regie- Ich habe noch ein Anliegen. rung, und seitdem ist die Stiftungskultur bei uns am Werden und am Wachsen. (Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf – Ich habe zwar mehrere, ich konzentriere mich jetzt von der FDP: Das war doch mit angezogener aber auf eines, Kollege Fischer. – Ich hoffe, dass die Handbremse! Das wissen Sie doch auch, Frau CDU/CSU, was den Terminplan anbelangt, ein wenig Kollegin!) schwächelt. Ich finde, dass diejenigen, die sich bürger- schaftlich engagieren, es verdient haben, dass bis zur Ich glaube, viele Kolleginnen und Kollegen aus unserer Sommerpause Klarheit über das steuerrechtliche Verfah- Runde waren bei vielen Bürgerstiftungen dabei. Auch ren herrscht. ich habe meinen Beitrag geleistet. Wir werden auch in Zukunft für Verbesserungen der Rahmenbedingungen (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Wir können uns für Stiftungen sorgen. Wir werden wahrscheinlich auch morgen einigen!) (B) den Stiftungsrahmen anheben. Wir haben schon viel ge- Nachdem wir alle steuerrechtlichen Fragen abgehandelt (D) tan, und wir werden auch in Zukunft noch viel tun. haben, wird noch genügend Zeit bleiben, um andere Fra- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – gen zu klären, zum Beispiel Haftungsfragen. Dr. Volker Wissing [FDP]: Wenn auch mit an- (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Wir sind eini- gezogener Handbremse! – Abg. Jörg Tauss gungsfähig!) [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Kumpf, Sie bringen jetzt unseren Ter- Frau Kollegin Kumpf, erlauben Sie eine Zwischen- minplan durcheinander. frage? Ute Kumpf (SPD): Ute Kumpf (SPD): Deswegen bitte ich, dass wir unsere Beratungen zügig Lieber Kollege Tauss, ich würde jetzt gern bei diesem fortsetzen, Thema bleiben, weil es mir wichtig ist. Es ist ein heiß umkämpftes Thema und ein Lieblingskind von mir. Die (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Aber wir wol- einen stiften Geld, und die andern stiften Zeit. Ich len natürlich auf der sicheren Seite sein!) glaube, auch diejenigen, die Zeit spenden, die ehrenamt- damit wir die Menschen Mitte des Sommers auf unserer lich und unentgeltlich für ältere und behinderte Men- „Ehrenamtstour“ in ihrem Wirken bestärken können. schen tätig sind, werden dadurch ermutigt, dass sie 300 Euro von ihrer Steuerschuld abziehen können. Wir Danke. tun gut daran, dieses Engagement zu unterstützen. Ich weiß, dass das sehr umstritten ist. Ich denke, dass wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hiermit einen Paradigmenwechsel vornehmen. Wir ent- der CDU/CSU) sprechen damit auch einer Forderung der Enquete-Kom- mission. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt Es wird immer wieder behauptet, dass für die erteile ich das Wort dem Kollegen Otto Bernhardt von Übungsleiter nichts getan wurde. In dem Gesetzeswerk der CDU/CSU-Fraktion. steckt auch eine Erhöhung der Übungsleiterpau- schale. Mit dieser Erhöhung befindet sich Peer (Beifall bei der CDU/CSU) 9850 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Otto Bernhardt (CDU/CSU): Ihr Vorschlag werde, so sagen Sie, zu Steuerausfällen (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und von 400 Millionen Euro im Jahr führen. Das ist ein gro- Herren! Wir sind uns sicher alle darin einig, dass gesell- ßer Schluck aus der Pulle für den ehrenamtlichen Be- schaftliches Leben ohne die Bereitschaft von Millionen reich, den wir mittragen. Wir stimmen Ihnen darüber hi- von Menschen in Deutschland, sich neben Familie und naus zu, dass diese 400 Millionen Euro die Grenze sein Beruf ehrenamtlich zu betätigen, in vielen Bereichen müssen. Im Grunde geht es jetzt darum, ob man den überhaupt nicht möglich wäre. Insofern muss man im Kreis der Begünstigten erweitern sollte. Die Kollegin Rahmen dieser Debatte all denen, die – oftmals ganz im Scheel hat eine Reihe von Punkten genannt; dem könnte Verborgenen – aktiv arbeiten, von dieser Stelle ein herz- ich zustimmen. Doch ich habe mir sagen lassen, dass liches Dankeschön sagen. wir, wenn wir das umfassend gestalten, bei 1 Milliarde Euro landen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie schließe nicht aus, dass wir im Rahmen der Beratungen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE zu dem Ergebnis kommen, dass wir uns diesen Punkt GRÜNEN) einfach nicht leisten können. Wir haben für die dann frei werdenden Mittel eine ganze Reihe guter Vorschläge; Es ist schon erstaunlich, dass, wie neueste Untersu- hier ist vieles gesagt worden. Von Bayern sind gute Vor- chungen zeigen, jeder dritte Deutsche ehrenamtlich tätig schläge gekommen, ja ich kann generell sagen: vom ist. Was mich besonders erfreut, ist, dass sich diese Zahl Bundesrat. Auch wir haben einzelne Vorschläge ge- in den letzten Jahren erhöht hat. Das Ehrenamt ist ein macht. Hier kann man sicher noch etwas verbessern. Thema – das hat die Debatte gezeigt –, das für alle Par- teien bzw. Fraktionen von großer Bedeutung ist. Für uns (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- geht es hierbei nicht nur um materielle Fragen. Für uns Eckardt) gehört eine Stärkung des ehrenamtlichen Engagements Die heutige Debatte hat gezeigt, dass alle Fraktionen zu den Grundsätzen der Politik: Solidarität, Subsidiari- bestrebt sind – wenn auch mit unterschiedlichen Schwer- tät. punkten –, das Ehrenamt in Deutschland zu stärken. Das ist die richtige Botschaft an die Ehrenamtlichen in Vor diesem Hintergrund haben wir mit dafür gesorgt, Deutschland: Der Bundestag steht geschlossen hinter ih- dass bereits im Koalitionsvertrag das Ziel der Verbesse- rer Arbeit rung der Rahmenbedingungen festgehalten wurde. Heute nun diskutieren wir in erster Lesung über einen (Beifall des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP] Gesetzentwurf der Bundesregierung, der die Stärkung sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE des bürgerschaftlichen Engagements zum Ziel hat. Ich LINKE]) (B) kann nur sagen: Herr Minister, Sie haben einen guten und ist bereit, die Rahmenbedingungen weiter zu verbes- (D) Entwurf vorgelegt. sern. Ich stimme dem Ausschussvorsitzenden zu, der ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sagt hat: Wir sollten versuchen, für diesen Gesetzent- der SPD) wurf eine möglichst breite Zustimmung zu bekommen. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!) Wir stimmen dem Inhalt mit Ausnahme eines Punktes uneingeschränkt zu. Bei diesem einen Punkt wollen Sie, Ich glaube, die FDP holen wir noch rein. um das klar zu sagen, etwas Gutes. Es geht dabei um die (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Bis auf einen!) Möglichkeit, bis zu 300 Euro pro Jahr, also 25 Euro pro Monat, von der Steuerschuld abzuziehen, wenn be- Bei den Grünen sehe ich auch noch gewisse Chancen. stimmte Voraussetzungen erfüllt sind. So mancher Eh- Die Vermögensteuer will ich nicht hereinbringen, aber renamtler fühlt sich da fast in seiner Ehre gekränkt. Viel ich kann mir vorstellen, dass wir eine sehr breite Zustim- problematischer ist für uns jedoch die in diesem Zusam- mung bekommen. Das wäre ein weiteres gutes Signal für menhang entstehende Bürokratie. Es heißt, man kann die Ehrenamtlichen. diese 25 Euro abziehen, wenn man im Monat mehr als (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 20 Stunden ehrenamtlich arbeitet. Dies muss dann natür- der SPD) lich irgendwo dokumentiert werden. Dabei leiden die ar- Deshalb kann ich abschließend nur sagen: Dieser Ge- men Vereinsvorsitzenden schon heute unter zu viel Bü- setzentwurf ist ein Kompliment für das Ehrenamt. Wir rokratie. alle stehen zu dem Ehrenamt. Dies ist eine gute Stunde Ein weiterer Punkt ist, dass Sie diese Steuerermäßi- für das ehrenamtliche Engagement in Deutschland. gung laut Ihrem Entwurf auf diejenigen begrenzen wol- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) len, die mit Älteren, Behinderten und Kranken arbeiten. Das sind ganz wichtige Bereiche. In der bei mir einge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: henden Post wird allerdings – mehrere Redner haben es Ich schließe die Aussprache. angesprochen – von vielen, die in anderen Bereichen tä- tig sind, gefragt: Sind wir weniger wichtig? Diese Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagen – jede! – Abgrenzung ist problematisch. auf den Drucksachen 16/5200 und 16/5245 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist genau sen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Über- das Problem!) weisung so beschlossen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9851

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 h Überweisungsvorschlag: (C) sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 f auf: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 29 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Wolfgang Bosbach, Dr. Hans-Peter Uhl, Kristina regierung Köhler (Wiesbaden), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeord- Bericht der Bundesregierung über die deutsche neten Fritz Rudolf Körper, Maik Reichel, Klaus humanitäre Hilfe im Ausland 2002 bis 2005 Uwe Benneter, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines – Drucksache 16/3777 – Gesetzes zur Änderung des Mikrozensusgeset- Überweisungsvorschlag: zes 2005 und des Bevölkerungsstatistikgesetzes Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 16/5239 – Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Innenausschuss (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Entwicklung b) Beratung des Antrags des Bundesministeriums g) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche der Finanzen Delegation in der Interparlamentarischen Union Entlastung der Bundesregierung für das 115. Interparlamentarische Versammlung vom Haushaltsjahr 2006 – Vorlage der Haushalts- 16. bis 18. Oktober 2006 in Genf, Schweiz und Vermögensrechnung des Bundes (Jahres- rechnung 2006) – – Drucksache 16/4121 – Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/4995 – Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Schuster, Dr. Karl Addicks, Florian Toncar, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung Für eine Neuausrichtung der deutschen Afri- (B) kapolitik Siebzehnter Bericht nach § 35 des Bundesaus- (D) bildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung – Drucksache 16/5130 – der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhun- Überweisungsvorschlag: dertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2 Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/4123 – Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Entwicklung Haushaltsausschuss Haushaltsausschuss ZP 4 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- d) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ gebrachten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Gesetzes zur Änderung des Bundesausbil- SES 90/DIE GRÜNEN dungsförderungsgesetzes (22. BAföGÄndG) Fortschritte für Zypern – Eine Aufgabe für die – Drucksache 16/5172 – deutsche EU-Ratspräsidentschaft Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 16/5259 – Technikfolgenabschätzung (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Auswärtiger Ausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der Bluhm, Katrin Kunert, Katja Kipping, weiterer Fraktion der FDP Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Beitritt des Bundes zum Rechtsstreit des Lan- Rechtsanspruch auf Mieterberatung für Men- des Schleswig-Holstein gegen die EU-Kommis- schen mit geringem Einkommen sion – Drucksache 16/5247 – – Drucksache 16/4607 – 9852 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an (C) Rechtsausschuss (f) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union überweisen. – Damit sind Sie ebenfalls einverstanden. Dann ist das so beschlossen. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Ab- Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 k geordneter und der Fraktion der LINKEN sowie den Zusatzpunkt 5 auf. Es handelt sich um die Be- schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra- Irakische Flüchtlinge in die EU aufnehmen – che vorgesehen ist. In Deutschland lebende Iraker und Irakerin- nen vor Abschiebung schützen Tagesordnungspunkt 30 a: – Drucksache 16/5248 – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Überweisungsvorschlag: nen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Innenausschuss (f) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Gesetzes über die Wahl des Bundespräsiden- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten ten durch die Bundesversammlung Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner – Drucksache 16/3303 – Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- Unternehmen leistungsgerecht besteuern – ordnung (1. Ausschuss) Einnahmen der öffentlichen Hand stärken – Drucksache 16/5096 – – Drucksache 16/5249 – Überweisungsvorschlag: Berichterstattung: Finanzausschuss (f) Abgeordnete Dr. Ole Schröder Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Jörg van Essen e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Dr. Dagmar Enkelmann Hermann, Fritz Kuhn, Peter Hettlich, weiterer Volker Beck (Köln) Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- (B) Schieneninfrastruktur ist öffentliche Auf- (D) lung auf Drucksache 16/5096, den Gesetzentwurf auf gabe – Moratorium für die Privatisierung der Drucksache 16/3303 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Deutsche Bahn AG die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Hand- – Drucksache 16/5270 – zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist Überweisungsvorschlag: der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ohne Gegenstim- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) men und ohne Enthaltung angenommen. Innenausschuss Rechtsausschuss Dritte Beratung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ausschuss für Gesundheit Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz- Ausschuss für Tourismus entwurf mit dem gleichen Ergebnis wie vorher ange- Haushaltsausschuss nommen. f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn) und Tagesordnungspunkt 30 b: der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung des Europäischen Technologie- Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes instituts abwenden – Bestehende europäische – Drucksache 16/4198 – Förderstrukturen stärken und weiterentwi- ckeln Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – Drucksache 16/5254 – (15. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 16/5274 – Technikfolgenabschätzung (f) Berichterstattung: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Abg. Haushaltsausschuss Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein- lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf fachten Verfahren ohne Debatte. Drucksache 16/5274, den Gesetzentwurf des Bundes- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9853

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) rates auf Drucksache 16/4198 in der Ausschussfassung Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (C) anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- gen? – Damit ist die Sammelübersicht 212 einstimmig wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um angenommen. das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Tagesordnungspunkt 30 g: gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stim- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- men des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der ausschusses (2. Ausschuss) Fraktion Die Linke angenommen. Sammelübersicht 213 zu Petitionen Dritte Beratung – Drucksache 16/5123 – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – gen? – Diese Sammelübersicht ist angenommen mit den Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf mit dem Stimmen der Fraktionen der Koalition und des gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen. Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP Tagesordnungspunkt 30 c: und der Linken ohne Enthaltungen. Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- Tagesordnungspunkt 30 h: ausschusses (6. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Übersicht 6 ausschusses (2. Ausschuss) über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- Sammelübersicht 214 zu Petitionen ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- gericht – Drucksache 16/5124 – – Drucksache 16/5138 – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Damit ist die Sammelübersicht angenommen mit Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Gegen- den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und vom Bünd- probe! – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussemp- nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die fehlung einstimmig angenommen. Linke. Tagesordnungspunkte 30 d bis k sowie Zusatz- Tagesordnungspunkt 30 i: punkt 4. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) (B) Tagesordnungspunkt 30 d: (D) Sammelübersicht 215 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/5125 – Sammelübersicht 210 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Diese Sammelübersicht ist angenommen mit den – Drucksache 16/5120 – Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen. tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 210 einstim- Tagesordnungspunkt 30 j: mig angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 30 e: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 216 zu Petitionen ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/5126 – Sammelübersicht 211 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- – Drucksache 16/5121 – gen? – Diese Sammelübersicht ist angenommen mit den Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Stimmen der Koalition und der Linken gegen die Stim- tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 211 durch Zu- men der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen. stimmung der Fraktionen der Koalition und der FDP bei Tagesordnungspunkt 30 k: Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenom- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- men. ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 30 f: Sammelübersicht 217 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 16/5127 – ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht ist angenommen mit den Sammelübersicht 212 zu Petitionen Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi- – Drucksache 16/5122 – tion. 9854 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Zusatzpunkt 5: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was eine Fußball- (C) weltmeisterschaft ausmacht, Herr Müntefering!) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Für dieses Jahr wird mit einem Wachstum des Binnen- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu marktes von 1,5 Prozent bis 1,6 Prozent gerechnet. der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vor diesem Hintergrund kann ich uns bei allem, was Grünbuch wir in den nächsten Wochen zu entscheiden haben, nur Die Überprüfung des gemeinschaftlichen empfehlen, weiterzumachen. Besitzstands im Verbraucherschutz (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) KOM (2006) 744 endg.; Ratsdok. 6307/07 Wir müssen nicht nur sanieren, sondern auch investie- – Drucksachen 16/4635 Nr. 2.20, 16/5272 – ren, damit der Binnenmarkt in Bewegung bleibt. Damit Berichterstattung: verbindet sich ein Absinken der Beschäftigungs- Abgeordnete Julia Klöckner schwelle. Alle Ökonomen haben uns immer wieder er- Marianne Schieder zählt, dass der Arbeitsmarkt erst bei einem Wachstum Hans-Michael Goldmann von 2 Prozent bis 2,5 Prozent in Bewegung geraten Karin Binder würde. Nach neuen Erkenntnissen ist das bei einem Ulrike Höfken Wachstum zwischen 1 Prozent und 1,5 Prozent der Fall. Das ist gut und hängt mit dem Dienstleistungssektor zu- Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner sammen, der schneller in Bewegung gerät als andere Be- Beschlussempfehlung, die Unterrichtung zur Kenntnis reiche. Das heißt, wir können auch für dieses Jahr eine zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- positive Entwicklung erwarten. 1,1 Millionen Arbeits- lung? – Die Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- lose weniger als vor zwei Jahren bzw. 824 000 weniger schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen als vor einem Jahr – darunter fast 180 000 Arbeitslose der Koalition, der FDP und der Linken gegen die Stim- über 50 Jahren und 153 000 unter 25-jährige – sind eine men des Bündnisses 90/Die Grünen. gute Bilanz für die Koalition und für die Regierung. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Drucksache 16/5272 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- der CDU/CSU) schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss- Punkt zwei. Es heißt immer, die Zahl der Langzeit- empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann arbeitslosen, der Arbeitslosengeld-II-Empfänger, sei ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stim- (B) doch unverändert geblieben. Das ist falsch. Wir hatten (D) men der Koalition und der FDP gegen die Stimmen des vor einem Jahr 2,978 Millionen Arbeitslosengeld-II- Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Linken. Empfänger, heute nur noch 2,613 Millionen. Das sind Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 1 auf: 365 000 Arbeitslosengeld-II-Empfänger weniger. Das entspricht einem Minus von 12,3 Prozent. Das heißt, Aktuelle Stunde dass wir etwa 3 Milliarden bis 4 Milliarden Euro in die- auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und sem Bereich weniger ausgeben, genauso wie wir es im der SPD Haushalt sehr ehrgeizig angesetzt hatten. Wir haben al- lerdings ein Problem: Die Zahl derjenigen, die Aktuelle wirtschaftliche Entwicklung und Lage Arbeitslosengeld II bekommen, aber nicht arbeitslos auf dem Arbeitsmarkt sind, steigt, und zwar seit zwei Jahren um 800 000. Wir Ich eröffne die Rednerliste und erteile das Wort dem haben fast so viele, die nicht arbeitslos sind, also mehr Bundesminister Franz Müntefering. als 15 Stunden arbeiten, und ergänzend Arbeitslosen- geld II bekommen, wie Arbeitslose, die Arbeitslosen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geld II bekommen. Es gibt dagegen ein Mittel. Das heißt der CDU/CSU) Mindestlohn. Darüber werden wir bei anderer Gelegen- heit sprechen. Aber hier liegt das Problem. Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und (Beifall bei der SPD) Soziales: Punkt drei. Nun geht es um die Bekämpfung der So- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ckelarbeitslosigkeit. Wir haben gestern im Kabinett be- Gestatten Sie mir in der in einer Aktuellen Stunde gebo- schlossen, einen Qualifizierungskombi für junge Men- tenen Kürze einige Anmerkungen zu dem genannten schen unter 25 aufzulegen, die schwer vermittelbar sind, Thema. Das Wachstum im letzten Jahr war gut; es war weil sie keine Ausbildung haben. Diesen wollen wir eine besser, als wir es Anfang des Jahres vermutet haben. Chance geben. Wir haben des Weiteren beschlossen, Auch die Wirtschaftsweisen waren am Ende des Jahres etwa 100 000 Menschen im Bereich des sozialen Ar- überrascht über die gute Entwicklung. beitsmarktes eine Chance zu geben. Besonders gut war die Entwicklung des Binnenmark- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tes. Der Binnenmarkt war im Jahr 2004 mit 0,0 Prozent, im Jahr 2005 mit 0,5 Prozent und im Jahr 2006 mit Wir müssen denjenigen, die sehr schwer vermittelbar 1,6 Prozent am Wachstum beteiligt. sind, eine Chance geben, in Arbeit zu kommen; denn Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9855

Bundesminister Franz Müntefering (A) diese Menschen haben auch bei einem hohen Beschäfti- dort gibt es quasi eine Vororganisation und wird eine (C) gungsstand kaum eine Chance. Wir haben in Deutsch- Vorentscheidung getroffen, die sich viele Firmen zu- land eine Definition gewählt, die sehr anspruchsvoll ist: nutze machen. Das ist zwar heute nicht Thema. Aber die Wer in absehbarer Zeit drei Stunden am Tag arbeiten Frage nach der hinreichenden Qualifizierung wird uns in kann, gilt als beschäftigungsfähig. In Großbritannien den nächsten Jahren zunehmend beschäftigen. Wir müs- sind das ganz andere Zahlen. Wir haben mit unserer De- sen nicht nur darauf achten, dass es auf dem Arbeits- finition dazu beigetragen, dass 3,1 Prozent der Men- markt insgesamt Bewegung gibt. Vielmehr muss die nö- schen im Erwerbsalter als nicht erwerbsfähig gelten. Das tige Qualifikation gesichert bleiben. sind in Großbritannien 6,5 Prozent und in den Niederlan- den 8 Prozent. Wenn wir das anders definierten, stiege Die deutsche Wirtschaft muss wissen: Wir müssen die die Zahl der Arbeitslosen sofort. Das wollen wir nicht. Arbeit, die wir haben, mit den Menschen erledigen, die Aber wir wollen denjenigen, die Beschäftigungshemm- in unserem Land leben. Es geht nicht, zu sagen: Uns feh- nisse aufweisen, helfen, ins Erwerbsleben zu kommen. len qualifizierte Leute. Macht das Tor auf! Holt Men- Hierzu hat die Bundesregierung gestern wichtige Ent- schen aus aller Welt zusammen! – Die Arbeit, die wir in scheidungen getroffen. Wir werden sie so schnell wie Deutschland haben, muss zuerst mit dem Potenzial, das möglich umsetzen. wir hier haben, erledigt werden. Dafür werden wir jeden- falls streiten. Wir werden prüfen, was wir in den Bereichen tun können, in denen die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das betrifft nicht nur, aber in hohem Maße Ostdeutsch- der CDU/CSU) land. In Westdeutschland liegt die Arbeitslosenquote bei Wir werden die Instrumente im zweiten Halbjahr zu 7,8 Prozent, während sie in Ostdeutschland bei überprüfen haben. Das ist so vereinbart worden, und das 15,9 Prozent liegt. Nun bin ich gegen eine saubere Tren- werden wir zusammen mit der Agentur, mit den Argen nung zwischen Ost und West, sage aber: Wir müssen in und mit den optierenden Gemeinden auch tun. den Bereichen, in denen es eine hohe Langzeitarbeitslo- sigkeit gibt, die selbst in einer so guten Konjunkturphase Ich will einmal ausdrücklich ein Dankeschön in diese wie der jetzigen nicht verringert werden kann, noch Richtung sagen. Diese haben in den beiden letzten Jah- mehr tun. Wir müssen dort helfen, wo die Arbeitslosig- ren von vielen, auch von uns, mächtig etwas auf das keit dramatisch hoch ist, ganz gleich, ob die Gebiete im Haupt bekommen. Wir haben sie ziemlich alleingelas- Westen oder im Osten Deutschlands liegen. Wir müssen sen, als wir damals das Ganze geschaffen haben. Ich versuchen, hier neuen Schwung hineinzubringen. sage – auch weil ich mir das vor Ort angesehen habe –: Großen Respekt vor denen, die in der Bundesagentur, in (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (B) den Argen und in den optierenden Gemeinden jeden Tag (D) Punkt vier. Ich bin mit einem Punkt in der Entwick- ihr Bestes tun, um die Probleme zu lösen, die es objektiv lung nicht einverstanden. Darüber ist jetzt nicht zu dis- gibt. kutieren, aber ich will ihn nennen: Das ist der Ausbil- dungsbereich. Hier müssen wir in Deutschland besser (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) werden. Es hat im letzten Jahr Erweiterungen und Ver- Das kann noch besser werden. Dabei müssen wir helfen; besserungen gegeben. Diese waren aber nicht ausrei- aber an dieser Stelle großen Respekt. chend. Der Ehrgeiz der Koalition ist: Wir müssen in die- ser Legislaturperiode hinbekommen – das ist angesichts Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir, die Bundesre- der Lage auf dem Arbeitsmarkt möglich –, dass wirklich gierung, haben in Europa in der Zeit unserer Präsident- und wahrhaftig kein junger Mann und keine junge Frau schaft das Thema „Gute Arbeit“ gesetzt. Ich finde, das mehr von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit kommt. ist etwas, was wir auch in Deutschland als Messlatte für Wir müssen es zusammen mit den Unternehmen und der das gut gebrauchen können, was in den kommenden Jah- Wirtschaft schaffen; das ist möglich. Wir müssen neuen ren zu tun ist. Druck entwickeln, damit wir an dieser Stelle wirklich „Gute Arbeit“ heißt, das Ziel der Vollbeschäftigung befriedigende Ergebnisse erzielen. nicht aus den Augen zu verlieren. Ich weiß, viele sagen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das schafft ihr nicht, nicht schnell. Das weiß ich. Trotz- dem dürfen wir es nicht aus den Augen verlieren. Alle Punkt fünf. Das ist durch die Entwicklung auf dem Menschen müssen eine Chance haben. Arbeit ist sinn- Arbeitsmarkt regelrecht aufgerissen worden: Wir stehen stiftend für die Menschen, und sie ist wohlstandssi- in hohem Maße vor einem Qualifizierungsproblem. Uns chernd. fehlen 20 000 bis 25 000 Ingenieure. Aber auch andere Bereiche haben große Schwierigkeiten. Das ist eine pa- Zu „Guter Arbeit“ gehört ein fairer, ehrlicher, Exis- radoxe Situation: Die Zahl der offenen Stellen ist von tenz sichernder Lohn. Zu „Guter Arbeit“ gehört Arbeits- 420 000 im vergangenen Jahr auf 920 000 Stellen in die- schutz, auch präventiv. Zu „Guter Arbeit“ gehört sem Jahr gestiegen. Nun kann man meinen, dass schnel- familiengerechte und familienfreundliche Gestaltung der ler vermittelt wird. Aber die Lebenswirklichkeit ist: Die Arbeitswelt. Dass es so viele junge Mütter unter den Vermittlungszeiten werden länger, weil die Fachleute, Langzeitarbeitslosen gibt, hängt damit zusammen, dass die man sucht, nicht mehr so schnell gefunden werden, wir an der Stelle nicht so gut sind, wie wir es sein müss- wie man es sich eigentlich wünscht. Daraus erklärt sich ten. Die Debatte über die Betreuung der unter Dreijähri- übrigens der große Boom der Zeit- und Leiharbeit; denn gen hat auch darin eine gute Begründung. Wir müssen an 9856 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Bundesminister Franz Müntefering (A) der Stelle drauflegen. Wir müssen sehen, dass es besser und nicht die Trittbrettfahrer, die jetzt Etikettenschwin- (C) vorangeht. del betreiben und sagen, wir waren es. – Darum geht es nicht. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu- ruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Entscheidend ist jetzt aber, dass sich die Regierung nach dem heißen April nicht wirtschaftspolitisch Hitze- Zur „Guten Arbeit“ gehört auch eine hinreichend gute frei nimmt. Vielmehr muss sie die gute Entwicklung, Vertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, über die wir uns alle freuen – wir freuen uns darüber, damit ihre Rechte auch in Zukunft gesichert bleiben. dass wir Wachstum haben, und zwar weit mehr, als es Dieses sind im Stakkato vorgetragene wichtige Eck- vorausgesagt worden ist; wir freuen uns darüber, dass es punkte zu der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Man mehr Arbeitsplätze gibt –, fortsetzen. muss sich ja ab und zu auch einmal selbst zensieren. Ich würde sagen: Zwei minus. Wir können auf „Eins“ kom- (Dr. [CDU/CSU]: Die Freude men, wenn wir uns in den nächsten beiden Jahren an- ist Ihnen anzusehen!) strengen. Ich sage dies vorbeugend, weil ich vermute, Aber sie muss jetzt die richtigen Hausaufgaben anpa- Herr Brüderle wird dazu wieder nicht bereit sein. Er ist cken, Strukturreformen durchziehen, damit daraus ein nicht objektiv in seiner Darstellung der Probleme. langfristiger Trend wird. Dabei ist sie bei weitem noch (Beifall bei der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe nicht. Sie müssen den Haushalt konsolidieren, die Neu- [CDU/CSU]: Genau!) verschuldung auf null zurückführen, aber auch Steuern senken, damit Sie den Wachstumstrend verstärken. Deshalb muss ich selbst die Zensur für uns ausstellen. (Beifall bei der FDP) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Wir hätten weniger Arbeitslose, Herr Müntefering, wenn (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sie nicht mit der Mehrwertsteuererhöhung die größte Steuererhöhung aller Zeiten zum 1. Januar in Deutsch- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: land durchgeführt hätten. Das hat Arbeitsplätze gekostet. Kollege Rainer Brüderle hat das Wort für die FDP- (Beifall bei der FDP) Fraktion. Wir erleben jetzt Vorzieheffekte wegen der Abschaf- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Jetzt wird fung der degressiven Abschreibung, aber von Vorzieh- es sozial-liberal! – Heiterkeit) effekten kann man auf Dauer nicht leben. Sie müssen endlich an die Pflegeversicherung herangehen und diese (B) Rainer Brüderle (FDP): in Ordnung bringen und den Haushalt umstrukturieren. (D) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war Sie haben überhaupt nicht gespart. Sie haben die Ausga- vorhersehbar, dass die Große Koalition diese Aktuelle ben erhöht, und Sie haben die Steuern erhöht. Das ist Stunde anberaumt, um sich selbst zu feiern und zu be- kein Umstrukturierungs-, kein Modernisierungspro- weihräuchern. Das ist ja völlig klar. gramm. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Zu Recht! – (Beifall bei der FDP) Andrea Nahles [SPD]: Freuen Sie sich mit!) Sie haben sich vor allen harten Aufgaben gedrückt. Sie Wenn wir heute etwas zu feiern haben, dann müssen sind Hans im Glück, weil die Wirtschaft aus anderen wir feiern, dass die Unternehmen in Deutschland, die Gründen gut läuft. Arbeitnehmer, eine gewaltige Restrukturierungsleistung erbracht haben, dass wir vernünftige Tarifabschlüsse (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Franz im hatten und vor allen Dingen, dass der Boom in der Welt- Glück!) wirtschaft in Deutschland angekommen ist Das hat aber nichts mit der Regierung zu tun. Sie haben (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb die Wirtschaft eher behindert. Jetzt verfolgen Sie noch [FDP]: Nur die Bundesregierung hat damit die falsche Strategie. nichts zu tun!) Herr Müntefering ist Arbeitsminister; aber ein Ar- und alle darin bestätigt worden sind, die für offene Gren- beitsminister, der Mindestlöhne einführen will, ist ein zen, nicht für Abschottung, waren. Arbeitsplatzverhinderungsminister; denn Mindestlöhne werden keine Arbeitsplätze bringen. (Zuruf) (Beifall bei der FDP) – Ja, wir haben auch Osteuropäer, die hier arbeiten; aber wir verkaufen außerordentlich viel nach Osteuropa. Da- Die Wirtschaftsforscher rechnen es Ihnen vor: Ein Min- her kommt auch der Schwung. Ohne den dynamischen destlohn von 7,50 Euro, den der DGB will, kostet Export wäre die Entwicklung in Deutschland relativ saft- 620 000 Arbeitsplätze, ein Mindestlohn von 6,50 Euro, und kraftlos. den Herr Müntefering will, kostet 465 000 Arbeitsplätze. Ich sehe schon, dass wieder ein fauler Kompromiss he- Das sind die Leute, die es gemacht haben, die man rauskommt. Die CDU wird wieder umfallen. Es wird feiern muss, keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ge- (Beifall bei der FDP) ben, sondern branchenbezogene Mindestlöhne. Das ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9857

Rainer Brüderle (A) noch schlimmer als flächendeckende Mindestlöhne, weil rede darüber! – Ich glaube, deswegen ist es richtig, dass (C) sie zusätzlich Strukturen verzerren. Sie machen es noch wir diese Aktuelle Stunde heute angesetzt haben. schlimmer. (Rainer Brüderle [FDP]: Reden allein ist zu (Beifall bei der FDP) wenig!) Das wird wie bei der Gesundheitsreform werden. Sie ha- Wir haben einen Wirtschaftsaufschwung, unser Wirt- ben nicht den Mut, etwas Vernünftiges zu tun. Sie treffen schaftsmotor läuft auf vollen Touren. Wir haben den wieder eine Fehlentscheidung nach der anderen, nur um stärksten Aufschwung seit sieben Jahren. Die Auftrags- etwas gemeinsam hinzukriegen. Wenn ich mir den Pro- bücher sind voll, die Bilanzen vieler Konzerne sind glän- grammentwurf der Union ansehe, dann finde ich nichts zend. Die Industrie- und Handelskammern haben gestern mehr von den Ideen der alten Union, die sie vor der Bun- mitgeteilt – das freut uns sehr –, dass die Anzahl der destagswahl hatte, nämlich betriebliche Bündnisse für Ausbildungsplätze inzwischen um 13 Prozent höher ist Arbeit, modernes Kündigungsrecht, mehr Flexibilisie- als im letzten Jahr. Ich glaube, das gibt uns, was diesen rung. Da zeigt sich der Umgang der beiden sozialdemo- Bereich angeht, noch größere Zuversicht. kratischen Parteien – eine rot, eine schwarz – miteinan- der. Die färben gegenseitig ab, und es kommt dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) undefinierbare Gulasch heraus. Das ist nicht die Strate- gie, die nach vorne führt. Für uns ist unwahrscheinlich wichtig, dass das kein Strohfeuer ist. Alle Experten hier sind sich inzwischen Eines haben Sie nicht angesprochen, Herr einig – das ist selten –: Dieser Aufschwung ist robust, er Müntefering: Gut ein Drittel der neu entstandenen Ar- steht auf einem stabilen Fundament und er wird noch an beitsplätze kommt durch Zeitarbeitsfirmen. Das ist der Breite gewinnen. Gestern ist das Gutachten des Schwei- Beleg dafür, dass die fehlende Flexibilität eine der Kern- zer Managerinstituts IMD herausgegeben worden. Die- ursachen dafür ist, dass wir nicht mehr Arbeitsplätze ha- ses Institut untersucht jedes Jahr 55 Staaten im Hinblick ben. auf ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Aus die- (Beifall bei der FDP) sem Gutachten geht ganz klar hervor, dass sich Deutsch- lands internationale Wettbewerbsfähigkeit enorm ver- Sie müssen den Umweg über Zeitarbeitsfirmen gehen, bessert hat. Während wir letztes Jahr noch auf Platz 25 weil dort der Kündigungsschutz nicht wirkt und dort waren, so sind wir dieses Jahr auf Platz 16. Frankreich mehr Flexibilität herrscht. Machen Sie es doch gleich ist zwölf und Großbritannien ist sechs Plätze hinter uns. richtig, nicht immer nur indirekt! Haben Sie den Mut, Es heißt: Es ist die stärkste positive Veränderung, die es den Arbeitnehmern und den Selbstständigen durch steu- auf der Welt je gegeben hat. (B) erliche Entlastung und eine Steuerreform, die den Na- (D) men verdient – einfach, niedrig und gerecht, das ist das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Modell von Hermann Otto Solms –, die Chance zu ge- ben, dass das verfügbare Einkommen steigt. Das wird Ich glaube, das spricht für sich. Unsere Wachstumspro- Wachstum bringen. Haushaltskonsolidierung und Steu- gnose für dieses Jahr mit 2,3 Prozent ist sehr verhalten. erreform sind zwei Seiten derselben Medaille. Sie gehö- Die Europäische Kommission und auch andere Institute ren geistig und instrumentell zusammen. gehen von weit höheren Wachstumszahlen aus. (Beifall bei der FDP) Wichtig für uns ist: Die Menschen haben wieder Zu- versicht. Die Menschen haben nicht mehr so große Sie werden leider wieder nicht die Kraft haben, das zu Angst vor einem Verlust des Arbeitsplatzes. Sie konsu- tun. Sie sonnen sich jetzt im Licht der guten wirtschaftli- mieren wieder mehr. Deswegen ist es wichtig, dass die chen Entwicklung. Aber wenn Sie zu lange in der Sonne Konjunktur wieder auf zwei Beinen stehen kann: Wir liegen, haben Sie nicht mehr die Kraft zum Denken. Ge- sind nicht mehr so exportlastig, wie wir es vorher gewe- hen Sie aus der Sonne, krempeln Sie die Ärmel hoch, sen sind; vielmehr hat die Binnenkonjunktur angezogen. und machen Sie etwas Vernünftiges! Die Menschen in Ich glaube, dass wir in der Zukunft bei außenwirtschaft- Deutschland hätten es verdient. lichen Störungen weniger schockanfällig sein werden. Vielen Dank. Das ist für uns ein ganz wichtiger Faktor. Wir profitieren endlich wieder von der Weltwirtschaft. Wir sind endlich (Beifall bei der FDP – [FDP]: Das wieder Lokomotive. Anders als in den vergangenen Jah- kann er jetzt Kurt Beck sagen!) ren sind wir eine der treibenden Kräfte. Zu verdanken ist das unserer technologischen Kompetenz, die internatio- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nal anerkannt und international wettbewerbsfähig ist. Jetzt spricht die Kollegin Dagmar Wöhrl für die Bun- desregierung. Wir müssen aufpassen – der Herr Minister hat es vor- hin angesprochen –: Unser Konjunkturaufschwung kann (Beifall bei der CDU/CSU) durch unseren momentanen Fachkräftemangel gebremst werden; dieser könnte wie eine Zeitbombe wirken. Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- 50 000 Ingenieurarbeitsplätze konnten letztes Jahr nicht minister für Wirtschaft und Technologie: besetzt werden. Ich wiederhole: 50 000 Ingenieurar- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- beitsplätze. Das heißt: Wir verlieren Aufträge. Produkte gen! Lieber Kollege Brüderle, es heißt: Tue Gutes, und und Dienstleistungen im Wert von 3,5 Milliarden Euro 9858 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl (A) konnten nicht angeboten werden. Sie wurden höchst- nen Haushalt vorzulegen. Das ist eine kleine finanzpoli- (C) wahrscheinlich im Ausland angeboten. tische Sensation, die nicht von ungefähr kommt. Wir müssen noch mehr für die Nachwuchsförderung (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tun. Wir sind inzwischen Weltmeister beim Nutzen von NEN]: Und wann machen Sie das auf Bundes- iPods, von Handys und von Computern. Was unseren ebene? Nicht immer nur ablenken und auf die jungen Leuten fehlt, ist die Neugierde darauf, welche Länder verweisen!) Technologie in diesen Geräten steckt. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen versuchen, diese Neugierde zu Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind aber auch wecken. Deswegen müssen wir auch dafür sorgen, dass Stimmen zu hören, die sagen: Alles ist wunderbar. Es das Thema Technologie an den Schulen in Zukunft ver- sind genug Reformen durchgeführt worden. Jetzt müs- mehrt behandelt wird. sen wir nichts mehr tun. – Vor dieser Einstellung warne ich. Sie ist nämlich höchst gefährlich. Denn wir dürfen Das Wichtigste für uns ist, dass die Beschäftigungssi- eines nicht vergessen: Nur wer gute Zeiten für Reformen tuation hier so gut wie seit langem nicht mehr ist. Nicht nutzt, wird auch in Zukunft international wettbewerbsfä- nur die Anzahl der Minijobs wird größer, sondern auch hig sein und Arbeitsplätze schaffen. die der Vollzeitarbeitsplätze. (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) NEN]: Es müssen aber die richtigen Reformen sein! Nicht nur Steuersenkungen für die gro- Ich bin froh, dass wir im Vergleich zum letzten Jahr über ßen Konzerne!) 600 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäfti- gungsverhältnisse haben. Wir konnten feststellen, welch großes Potenzial in Deutschland steckt und welche Kräfte hierzulande frei- Das kommt aber nicht von ungefähr; das ist klar. Wir gesetzt werden können. Aber wir haben noch viele Auf- wissen, dass es eine ganze Reihe von Faktoren gibt, die gaben vor uns. Wir müssen die Haushaltskonsolidierung zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Die weltwirt- fortsetzen. Wir müssen Teil II der Föderalismusreform schaftliche Lage hilft uns natürlich: Wir sind ein Export- auf den Weg bringen. Wir müssen die Flexibilisierung land und daher von der Weltwirtschaft stark abhängig. des Arbeitsmarktes angehen. Es stimmt, dass ein großer Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Exporteure ist aber Teil der neu geschaffenen Arbeitsplätze Zeitarbeitsplätze kein Zufall. Wer auf den wachsenden Weltmärkten, also sind. Das hängt damit zusammen, dass unser Arbeits- global, unterwegs ist, der ist nur wettbewerbsfähig, markt unflexibel ist. Wir müssen den Wettbewerb stär- wenn er seine Hausaufgaben gemacht hat und wenn die ken. Unser Wirtschaftsminister legt sehr großen Wert Bedingungen zu Hause stimmen. Ich glaube, dass alle (B) darauf, vor allem den Wettbewerb auf den Energiemärk- (D) Beteiligten ihre Hausaufgaben gemacht haben: Die Ta- ten zu stärken. rifparteien haben eine moderate Lohnpolitik betrieben; die Unternehmen, vor allem die kleineren und mittleren, Ich bin zuversichtlich: Wenn wir alle – die Regierung, haben sich für den Wettbewerb fit gemacht, und das un- die Tarifparteien und die Unternehmen – zusammenar- ter manchmal nicht ganz einfachen Bedingungen. Sie beiten, klug handeln und die nötigen Reformen durch- sind kostengünstiger und schneller geworden. Neueste führen, dann werden wir den Aufschwung nicht nur ver- Studien zeigen, dass die Familienunternehmen, auf die stetigen, sondern auch dafür sorgen, dass er sich weiter wir in unserem Land sehr stolz sind, den DAX-Konzer- fortsetzt. nen inzwischen den Rang als Konjunkturmotor abgelau- fen haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Auch die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) macht – deswegen habe ich gesagt: „Tue Gutes, und rede darüber“ –: Wir haben ein Wachstums- und Impulspro- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gramm aufgelegt und die Lohnzusatzkosten gesenkt. Da- Jetzt spricht Kornelia Möller für die Linke. mit haben wir die zur Verbesserung der konjunkturellen Entwicklung notwendigen Schritte eingeleitet. (Beifall bei der LINKEN)

Wir haben es geschafft – das ist wichtig –, dass die Kornelia Möller (DIE LINKE): Menschen und die Investoren wieder Vertrauen in den Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Standort Deutschland haben. Wir haben all das gemacht, Große Koalition jubelt. Die Wirtschaft boomt. Die Leute ohne ein wichtiges Ziel aus den Augen zu verlieren: die kaufen wieder. Das ist das gern gesehene öffentliche Haushaltskonsolidierung. Dieses Ziel werden wir auch Bild. Doch die Realität sieht anders aus. weiterhin verfolgen. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir in diesem Jahr ein Haushaltsdefizit in Höhe von (Dr. Rainer Wend [SPD]: Jetzt kommt die traurige 1,2 Prozent verzeichnen können, sodass wir das Maas- Wirklichkeit! Die Menschen verhungern!) trichtkriterium einhalten werden. Bei den meisten Menschen ist der Aufschwung über- Das beste Beispiel dafür, welch guten Weg wir einge- haupt nicht angekommen, schon gar nicht in ihren Brief- schlagen haben, ist die gegenwärtige Situation in Berlin. taschen. Die Reallöhne sind im Jahre 2004 um Es ist zu lesen, dass es der dortige Finanzsenator Sarrazin 1,1 Prozent gesunken, im Jahre 2005 um 1,5 Prozent und sogar für möglich hält, im Jahre 2008 einen ausgegliche- im Jahre 2006 um 0,7 Prozent. Von einer deutlichen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9859

Kornelia Möller (A) Aufwärtsentwicklung am Arbeitsmarkt kann ebenfalls Arbeit. Dass die offiziellen Erwerbslosenzahlen trotz- (C) keine Rede sein. dem zurückgingen, liegt vielleicht auch an jeder Menge statistischer Ungereimtheiten. Nachdem der Arbeitsmi- (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Was ist nister die Arbeitsmarktzahlen am 1. Mai stolz selbst los? – Franz Obermeier [CDU/CSU]: Lesen verkündete, rechnete ihm und uns die Stiftung Markt- Sie denn keine Zeitung? Oder lesen Sie nur wirtschaft vor, welche Menschengruppen bei seinem das „Neue Deutschland“?) Zahlenspiel nicht berücksichtigt wurden: rund 300 000 Lassen wir, damit diese von den Koalitionsfraktionen Menschen in Ein-Euro-Jobs, 206 000 Menschen in Wei- beantragte Aktuelle Stunde nicht zur Vernebelungs- und terbildungsmaßnahmen, 332 000 Menschen, die Förder- Schönrednerveranstaltung verkommt, ein paar Fakten mittel für Eingliederungsmaßnahmen sowie Existenz- sprechen. gründerzuschüsse erhalten, 485 000 Vorruheständler. Zu diesen circa 1,4 Millionen kommen weitere 800 000 (Dr. Rainer Wend [SPD]: Jetzt aber!) Menschen, die sogenannte stille Reserve. Real fehlen Wie sieht die Lage am Arbeitsmarkt wirklich aus? also weit über 6 Millionen Arbeitsplätze. Erstens. Unbestritten ist, dass die Zahl der Arbeitslo- Viertens. Dass der Arbeitsmarkt trotz Gesundbeterei sen zurückgegangen ist. Aber es sind nicht überall nicht gesund ist, zeigt sich am Zustand der beruflichen gleichzeitig sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze Weiterbildung und Qualifizierung. Nicht nur die Zahl of- entstanden. fener Stellen ist gewachsen – wie Sie ja selber ange- merkt haben –, gerade weil geeignete Fachkräfte fehlen, (Peter Rauen [CDU/CSU]: Es waren ja „nur“ sondern auch das erschreckend hohe Niveau der Lang- 650 000!) zeitarbeitslosigkeit ist skandalös. Die hier seit 2002 vor- Der viel beschworene Aufschwung am Arbeitsmarkt ist handenen Defizite haben zwar in erster Linie die Damen vor allem ein weiterer Aufschwung prekärer Beschäfti- und Herren von der Sozialdemokratie zusammen mit den gungsverhältnisse. Grünen zu verantworten. Allerdings haben sie die Hartz- Gesetze natürlich mit dem Segen von CDU/CSU und (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Meckelburg FDP beschlossen. [CDU/CSU]: Blödsinn! ) (Beifall bei der LINKEN) Bereits zu Beginn dieses Jahres waren 30 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse sogenannte atypische Be- Aber auch die Große Koalition hat bisher nichts ge- schäftigungsverhältnisse. Auch der Bundestag zahlt Hun- tan, um diese Situation positiv zu verändern. Um die (B) gerlöhne. Die Gebäudereiniger arbeiten hier zu Löhnen Langzeiterwerbslosen macht nämlich nicht nur die Kon- (D) unterhalb des gerade beschlossenen Mindestlohns für Ge- junktur einen Bogen; auch die Regierung und die hofbe- bäudereiniger. Das gilt ebenso für die Fensterputzer. richterstattenden Medien tun das. Vorwürfe gab es auch beim Wachdienst, schreibt Fünftens. Dank Hartz I bis Hartz IV nehmen wir bei heute der „Berliner Kurier“ unter der Überschrift: der Langzeiterwerbslosenquote einen Spitzenplatz in Die Lohn-Sklaven vom Bundestag. Europa ein. Das hat natürlich seine Gründe. Einen haben Sie gerade angesprochen, als Sie den Fachkräftemangel Von Herrn Müntefering höre ich dazu: Ja, da gibt es beklagt haben. Aber wenn man zeitgleich die Förderung ein anderes Mittel, das heißt Mindestlohn, darüber wer- der beruflichen Weiterbildung herunterfährt und Weiter- den wir aber an anderer Stelle reden. Dazu sage ich: Es bildungsträger kaputtmacht, muss man sich nicht wun- wäre sinnvoll, wenn wir endlich einmal darüber reden dern, wenn man irgendwann einen Fachkräftemangel und nicht so wie Ende April hier im Parlament das hat. Ganze verschieben würden, statt sofort abzustimmen, und auch nicht so wie gestern im Ausschuss unseren An- (Beifall bei der LINKEN) trag qua Mehrheit ablehnen würden. Das Thema wäre wirklich dran. Andere Gründe sind die einseitige betriebswirtschaftli- che Ausrichtung der Bundesagentur, die verstärkte (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Privatisierung von Vermittlungsaufgaben, der Aussteue- NIS 90/DIE GRÜNEN) rungsbetrag und die Senkung der Beiträge zur Arbeitslo- Zweitens. Die Misere auf dem Ausbildungsstellen- senversicherung. Dort, wo Sie als Große Koalition schon markt hat sich trotz Wirtschaftsaufschwungs nicht geän- längst etwas gegen Langzeitarbeitslosigkeit hätten tun dert. Die Zahl der betrieblich gemeldeten Ausbildungs- können, haben Sie bis jetzt versagt. Das betrifft beson- plätze ging gegenüber dem Vorjahr sogar um 3,1 Prozent ders die Ausweitung öffentlich geförderter Beschäfti- zurück. Auf einen einzigen Ausbildungsplatz kommen gung. Da haben Sie gestern nach neun Monaten – so derzeit durchschnittlich vier Bewerberinnen und Bewer- lange liegen unsere Anträge mittlerweile im Parlament – ber. In Ostdeutschland sind es sogar 13. Hartz-IV-Karrie- endlich etwas beschlossen. ren sind damit vorprogrammiert. Drittens. Trotz wirtschaftlicher Belebung ist das Ar- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: beitsvolumen annähernd konstant geblieben. Der bishe- Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom- rige Konjunkturaufschwung brachte also kaum mehr men. 9860 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Kornelia Möller (DIE LINKE): (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerald (C) Ich komme zum Schluss, überspringe eine ganze Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU]) Menge, und sage Ihnen nur eines: Arbeitslosigkeit zer- Eine Frage ist: Hat auch die Politik etwas mit der Ent- stört Selbstbewusstsein und Kreativität. Und sie macht wicklung zu tun? Herr Brüderle und Teile der Wirtschaft krank. Ich verzichte heute auf Ihren Lieblingssatz, zitiere sagen, die Politik habe damit gar nichts zu tun. Für mich einfach nur Viviane Forrester. Die bringt es nämlich auf stellt es schon intellektuell ein Problem dar, nachzuvoll- den Punkt, wenn sie schreibt, Arbeitslosigkeit sei die ziehen, wenn man mir in den Zeiten, in denen die Wirt- Brutalität der Ruhe. Also tun Sie jetzt endlich was! schaft in Deutschland schlecht läuft, sagt, die einzige Ur- Ich danke Ihnen. sache dafür sei die bescheidene Politik, die jetzt in Berlin oder damals in Bonn gemacht wurde, aber jetzt, (Beifall bei der LINKEN) wo die Wirtschaft gut läuft, sagt, dafür kann nur einer die Verantwortung tragen, nämlich nicht die Politik, son- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dern die Wirtschaft. Eine solche Argumentation zeugt also zum einen von intellektuell begrenztem Niveau. Ich Jetzt hat Dr. Rainer Wend für die SPD-Fraktion das halte sie aber zum anderen auch politisch für gefährlich. Wort. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Wir sagen damit doch den Bürgerinnen und Bürgern durch die Blume, Dr. Rainer Wend (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Zuruf von der FDP: Der Sachverständigenrat Herr Minister Müntefering hat die beeindruckenden der Bundesregierung!) Zahlen zum Wirtschaftswachstum und zur erfreulichen ob wir gute oder schlechte Politik im Bundestag machen, Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt vorgetragen. Ich ist völlig unerheblich für die wirtschaftliche Entwick- finde, es lohnt sich, im Bundestag über die Ursachen für lung. Dann könnte man ja auch ganz davon absehen, diese Entwicklung zu sprechen. Schlau ist man, wenn politisch tätig zu werden. Das wäre ein Angriff auf die man dabei als Erstes nicht sich selbst, sondern andere demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft. Den lobt. Deshalb will ich das aufgreifen, was einige schon wehre ich ab und halte dagegen: Jawohl, Politik hat et- gesagt haben. was mit dieser wirtschaftlichen Entwicklung zu tun. Eine erste Ursache für die gute Entwicklung liegt bei (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) den Unternehmen in unserem Land selbst. Sie haben (D) (B) sich nämlich wettbewerbsfähig gemacht, indem sie sel- Was sind also die politischen Ursachen für diese Ent- ber Strukturen geschaffen haben, mit deren Hilfe sie im wicklung? Ich möchte dabei, ohne vordergründig partei- internationalen Wettbewerb gut bestehen können. Die politisch zu denken, auf Folgendes hinweisen: Spä- Familienunternehmen waren dabei besonders gut; das testens seit Mitte der 80er-Jahre sind uns doch drei sieht man daran, dass sie im Durchschnitt mehr Personen Grundprobleme unserer Gesellschaft bekannt: die Glo- eingestellt haben als die DAX-Unternehmen. balisierung mit ihren großen Auswirkungen auf die Wirtschaft, aber auch auf die soziale Dimension unserer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Marktwirtschaft, die demografische Entwicklung mit ih- der CDU/CSU) ren Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme und die technologische Entwicklung, die beispielsweise Deswegen sagen wir als Sozialdemokraten ganz deut- Auswirkungen auf das Qualifikationsniveau von Be- lich: Es bewährt sich eben, wenn Unternehmen ihre Be- schäftigten hat. Die Wahrheit ist: Wir alle, von der FDP schäftigten noch im Auge haben. Es bewährt sich, wenn über die Union und die Grünen bis zur SPD, müssen uns sie die Familien der Beschäftigten, den regionalen vorhalten lassen, dass wir es in den 90er-Jahren – wir in Standort und den Standort Deutschland im Auge haben. der Opposition, Sie an der Regierung – im Grunde ver- Wer das tut, hat mittel- und langfristig im Wirtschaftsle- säumt haben, durch grundlegende Reformen auf diese ben Erfolg. drei großen Herausforderungen unserer Gesellschaft ein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zugehen. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Als Zweites sind die Gewerkschaften zu nennen. Es Das Ende vom Lied war: Seit 1993 – egal, ob Sie oder, ist wahr: Durch acht bis zehn Jahre Lohnzurückhaltung wie ab 1998, wir regiert haben – stand Deutschland im- haben wir inzwischen die niedrigsten Lohnstückkosten mer auf dem letzten oder vorletzten Platz bei der wirt- aller vergleichbaren Länder in Europa. Damit sind wir schaftlichen Entwicklung bzw. dem Wirtschaftswachs- wettbewerbsfähig. Deswegen darf man auch mit Fug tum der EU-Länder. und Recht hinzufügen: Wenn es jetzt mit der wirtschaft- (Peter Rauen [CDU/CSU]: Richtig!) lichen Entwicklung aufwärts geht, dann ist der Zeitpunkt gekommen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Dann hat es – auch das bitte ich jetzt nicht nur partei- mer wieder an dem partizipieren, was in unserem Land politisch motiviert zu verstehen – eine Bundesregierung erwirtschaftet wird. Auch das muss im Auge behalten gegeben, die zum ersten Mal bewusst gesagt hat: Wir werden. wissen, dass ein Weiter-so unserem Land nicht mehr hel- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9861

Dr. Rainer Wend (A) fen kann und grundlegende Reformen eingeleitet werden rückhaltung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, (C) müssen, damit soziale Sicherungssysteme in unserem mit der mühsamen Strukturreform in den Unternehmen Land eine Zukunft haben und die wirtschaftliche Prospe- selbst und mit sehr mühsamen Strukturreformen im Zu- rität gewährleistet werden kann. Die damalige Bundes- sammenhang mit der Agenda 2010 – das heißt auch mit regierung hat dank der politischen Kräfteverhältnisse dem, was die rot-grüne Regierung gemacht hat. Frau – im Bundesrat wurde das ja teilweise auch von den an- Wöhrl, ich erwähne das an dieser Stelle, weil Sie immer deren Parteien unterstützt – entsprechende Maßnahmen sagen, man müsse auch feiern, wenn man Gutes geleistet durchgesetzt. Ich erinnere nur einmal an die erste Steuer- habe. senkung, bei der die Körperschaftsteuer von 45 auf Aber, meine Damen und Herren, Ihre Reaktion, sich 25 Prozent und der Eingangssteuersatz bei der Einkom- sozusagen aufs Sonnendeck zu setzen und dort vor sich mensteuer um gut 10 Prozent gesenkt wurden, an die hinzudösen, Verkürzung des Bezugszeitraums für das Arbeitslosen- geld, an die 4 Milliarden Euro für Ganztagsbetreuung (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Machen wir – das hat es in der letzten Legislaturperiode schon ein- doch gar nicht!) mal gegeben, meine Damen und Herren –, an die Zusam- menlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, an das statt gemeinsam in den Maschinenraum zu gehen und Prinzip Fordern und Fördern von Arbeitslosen. Das war aus dieser Situation etwas zu machen, ist nicht die rich- ein Gesamtpaket, das aus der politischen Erkenntnis, tige. Denn es geht im Kern nicht darum, wem dieser dass wir Reformen brauchen, um die Zukunft unserer Aufschwung zu verdanken ist, sondern darum, wer da- Gesellschaft zu sichern, angestoßen wurde. von profitiert und wer nicht und was wir für die Zukunft daraus machen. Das sind die zentralen Fragen, auf die Die Große Koalition hat jetzt die Aufgabe, die Umset- ich ein wenig eingehen möchte. zung dieser Erkenntnis fortzusetzen. Damit begonnen Wer profitiert vom Aufschwung? Die Unternehmen; hat sie mit dem Regierungsprogramm zur Verbesserung das ist auch gut so. Aber was machen Sie daraus? Sie be- von Abschreibungsmöglichkeiten bei der Gebäudesanie- schließen – dazu hätte ich gerne etwas gehört, Herr rung. Dadurch wurden mehr Aufträge vergeben. Auch Wend – eine Unternehmensteuerreform, durch die die die Rente mit 67, die vor uns liegende Unternehmensteu- großen Konzerne um etwa 10 Milliarden Euro entlastet erreform und die Haushaltskonsolidierung gehören dazu. werden sollen, und das in der Phase eines konjunkturel- Was wäre es für ein Erfolg, wenn am Ende dieser Legis- len Aufschwungs, von dem sie ohnehin profitieren. Aber laturperiode das erste Mal seit 40 Jahren der Staat wie- nicht nur das: Diese Steuerreform wird zulasten der mit- der feststellen kann, dass er nicht mehr Geld ausgibt, als telständischen und kleinen Unternehmen gestaltet. Herr er einnimmt, und einen ausgeglichenen Haushalt Müntefering, Sie feiern hier den Arbeitsmarkt; aber wir (B) schafft? Diese Botschaft wäre für die wirtschaftliche (D) wissen, dass eine zukünftige positive Beschäftigungsent- Entwicklung unseres Landes großartig. wicklung in Deutschland zum großen Teil nur von den Die Große Koalition steht in den nächsten Jahren vor kleinen und mittleren Unternehmen ausgehen kann. diesen Aufgaben. Sie darf und wird sich nicht in klein- (Peter Rauen [CDU/CSU]: Das ist richtig!) teiligem politischem Streit verzetteln, Genau diese werden Sie aber belasten. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ja ganz was Neues, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) was Sie jetzt erzählen!) Das, meine Damen und Herren, ist die falsche Entschei- sondern sich der großen Aufgabe der Kontinuität der Re- dung. formpolitik stellen. Herr Wend, Sie fordern eine Haushaltskonsolidierung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ein. Richtig so! Wann, wenn nicht jetzt? Im konjunktu- rellen Aufschwung müsste das möglich sein. Aber Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: machen das Gegenteil. Die Unternehmensteuerreform ist ein Beispiel dafür; aber es ist noch viel mehr in der Aus- Jetzt spricht die Kollegin Dr. Thea Dückert für Bünd- gaben-Wundertüte, wie wir in den letzten Tagen in der nis 90/Die Grünen. Zeitung lesen konnten. Sie machen keine ambitionierte Haushaltspolitik, die die zukünftigen Generationen ent- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lasten würde. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seien Sie gegrüßt zu dieser Feierstunde der Regierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall der Abg. Andrea Nahles [SPD] – Wer profitiert noch vom Aufschwung? Ich hoffe, dass Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Niemand die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die heute Be- von Ihren eigenen Leuten hat über Ihren Witz schäftigung haben, über die Tarifverhandlungen davon gelacht!) profitieren werden, weil ihnen in der Vergangenheit zu- gesetzt worden ist. Die bereits abgeschlossenen Tarifver- Es ist schon so: Der Aufschwung ist solide, und ich träge weisen darauf hin, dass sie profitieren werden. Ich hoffe, dass er solide bleibt. Wir können zu Recht feststel- glaube aber auch – das sage ich in Richtung der Tarif- len – Herr Wend hat darauf hingewiesen –, dass das sehr parteien –: Jetzt ist der Zeitpunkt, in den Tarifverhand- viel mit der Vergangenheit zu tun hat: mit der Lohnzu- lungen den positiven Faden der Vergangenheit wieder 9862 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Dr. Thea Dückert (A) aufzunehmen und in den Tarifverträgen mehr Qualifizie- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) rung und lebenslanges Lernen in den Betrieben vorzuse- Frau Kollegin! hen. Auch in Bezug auf mehr Gewinnbeteiligung in den Unternehmen muss man jetzt den Worten Taten folgen Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lassen. Das wird der Wirtschaft und den Beschäftigten in die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sem Land in Zukunft schaden. Sie vertun Ihre Chancen! Schade! Das war die Seite, die von dem Aufschwung profi- tiert. Es gibt andere, an denen dieser Aufschwung vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beigeht, und zwar diejenigen – Herr Müntefering hat darauf hingewiesen – im Niedriglohnbereich. Ungefähr Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: eine halbe Million Menschen bekommt trotz Vollzeitar- Jetzt spricht der Kollege Laurenz Meyer für die CDU/ beit zusätzlich Arbeitslosengeld II, und die Zahl ist ge- CSU-Fraktion. stiegen. (Beifall bei der CDU/CSU) Jetzt ist der Zeitpunkt, um über einen Mindestlohn zu reden, und nicht, wie Herr Müntefering es will, irgend- Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): wann. Jetzt ist der Zeitpunkt, weil wir hier im Hause Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr eine Mehrheit dafür haben. Wir Grüne haben dazu übri- Brüderle, bei Ihnen habe ich irgendwie immer den Ein- gens einen Antrag vorgelegt. Es ist auch aus konjunktu- druck, dass Sie eine Rede im PC haben, bei der vor je- reller Sicht der richtige Zeitpunkt. Wenn man nach Eng- dem Auftritt hier eine Zufallsvariable eingegeben wird, land schaut, sieht man, dass so etwas am Anfang einer die die Sätze ein bisschen neu mixt. Dann kommt wieder positiven konjunkturellen Entwicklung ökonomisch gut dasselbe, was Sie beim letzten Mal gesagt haben – nur in eingefädelt werden kann. ein bisschen veränderter Reihenfolge –, heraus. Deshalb, finde ich, ist es ein Armutszeugnis für die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- SPD, darauf hinzuweisen, dass die Wahl in Bremen eine neten der SPD – Rainer Brüderle [FDP]: Das Testwahl für den Mindestlohn sei. Nein, die Bremerin- ist nur so, weil Sie nicht zuhören! – Jürgen nen und Bremer haben damit nichts zu tun. Wir unter- Koppelin [FDP]: Dann warten Sie mal ab! stützen Sie gern hier im Bundestag bei diesem Projekt. Frau Nahles spricht gleich!) Voran damit! Das ist die Zeit dafür! Ich finde, Sie sollten in den Redetexten wirklich ein biss- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chen nachrüsten. (B) (D) Ich möchte auch noch kurz etwas zu den Langzeitar- Zu den Linken möchte ich vorweg noch einen Satz beitslosen sagen. Die Zahl der Langzeitarbeitlosen sinkt sagen: Sie haben nur zum Besten gegeben, dass die langsamer als die Zahl der anderen Arbeitslosen. An ih- Wahrheit stört und dass Sie sich noch nicht einmal mit nen geht der Aufschwung vorbei. Wir sehen nicht, dass den 500 000 Menschen freuen können, die innerhalb ei- im Bereich der Qualifizierung etwas getan wird. Wir se- nes Jahres einen neuen sozialversicherungspflichtigen hen nicht, dass die Regierung zum Beispiel im Niedrig- Job erhalten haben, und mit den Hunderttausenden, die lohnbereich die Lohnnebenkosten konzentriert absenkt, nicht mehr arbeitslos sind. um mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für Geringquali- fizierte zu schaffen. Wir haben mit dem Progressivmo- (Beifall bei der CDU/CSU) dell ja einen Vorschlag gemacht. Was Ihre Beispiele betrifft, müssten Sie nur einmal Ganz zum Schluss möchte ich Ihnen sagen, was mir die Protokolle des Bundestages der letzten Monate nach- in dieser doch so positiven Situation, die Chancen für prüfen. Sie führen die Situation der Gebäudereiniger als eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in besonderen Missstand an. Die Gebäudereiniger haben Deutschland liefert, am meisten Sorgen macht. Sorgen wir gemeinsam in das Entsendegesetz aufgenommen. macht mir, dass unser Wirtschaftsminister nicht sieht, Solche Grundkenntnisse sollten vorhanden sein. dass aus dem Klimabericht deutlich wird, dass wir nur (Kornelia Möller [DIE LINKE]: Und trotzdem ein kleines Zeitfenster für eine nachhaltige Wirtschafts- arbeiten die hier unter diesem Lohn! Sie sind politik haben, die einen Transformationsprozess in der nicht auf der Höhe der Zeit!) Wirtschaft auf den Weg bringen muss. Sorgen macht mir – Dass Sie dabei nervös werden, kann ich mir vorstellen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Kornelia Möller [DIE LINKE]: Da brauche Frau Kollegin! ich nicht nervös zu werden! Sie lesen einfach nicht die Tagespresse!) Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In diesem Zusammenhang ist auch der Mindestlohn – und damit komme ich zum Schluss –, dass wir am gerade noch einmal angesprochen worden, auch von Ih- Anfang einer konjunkturellen Aufschwungphase nichts nen, Frau Dückert. Die Gutachten der letzten Tage, die für eine ernsthafte Umsteuerung tun, sondern in Europa sich damit beschäftigen, sollten uns doch vor Augen hal- im Bremserhäuschen sitzen. Unser Wirtschaftsminister ten, worauf es eigentlich ankommt. Uns kommt es da- tut das gerade in Bezug auf den Klimaschutz. rauf an, dass die Menschen ein ausreichend hohes Ein- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9863

Laurenz Meyer (Hamm) (A) kommen haben, um davon leben zu können. Wenn die (Martin Zeil [FDP]: Dann müsst auch ihr mal (C) Folge eines flächendeckenden Mindestlohnes ist, dass was tun!) man zwar – so sagen es die Gutachten – vielen Men- schen hilft, weil sie mehr verdienen und deshalb weniger Wir müssen deshalb darüber nachdenken, wie man auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, dies aber Lockerungen auf dem Arbeitsmarkt, die sich auf Neu- einstellungen positiv auswirken, sozialverträglich durch- gleichzeitig Hunderttausende den Job kostet, dann sage führen kann. ich: Lasst uns nach Möglichkeiten suchen, die nicht sol- che Kollateralschäden nach sich ziehen wie ein flächen- (Martin Zeil [FDP]: Nicht denken! Handeln!) deckender Mindestlohn. Die Bevölkerung ist bereit für Veränderungen; denn sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sieht, dass Reformen etwas bringen. der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Aus unserer Sicht gibt es bisher keine Alternative zu Ich will noch auf Folgendes hinweisen: 900 000 of- dem, was wir das Mindesteinkommen nennen. Wir müs- fene Stellen sind eine Aufforderung an uns, schnell zu sen uns auch mit den „Aufstockern“ beschäftigen, dem handeln. Dazu gehören auch Maßnahmen im Ausbil- harten Kern der Arbeitslosen. Das sind die weniger Qua- dungsbereich, die Sie, Herr Müntefering, angesprochen lifizierten, bei denen sich noch zu wenig getan hat. haben. Es will mir nicht in den Kopf, dass sich einige von Ihnen – gegen ihre eigenen vernünftigen Einsichten – Die Binnenkonjunktur springt jetzt an. Sie springt dagegen wehren, jungen Leuten unter 18 Jahren zu ge- nicht deswegen an, weil die Menschen am wirtschaftli- statten, bis 23 Uhr im Gaststättenbereich im Rahmen ei- chen Aufschwung über höhere Löhne beteiligt werden; ner Lehre zu arbeiten. Diese jungen Leute warten dann, das kommt ja erst noch. Die Binnenkonjunktur springt bis die 18-Jährigen mit ihrer Arbeit fertig sind, um da- vielmehr an, weil das Angstsparen abgenommen hat. Im- nach gemeinsam in die Disco zu gehen. Hier könnten mer weniger Menschen haben Angst um ihren Arbeits- 2 000 zusätzliche Ausbildungsplätze auf einen Schlag platz. Diese hatten bisher jeden Euro auf die Seite gelegt entstehen. Warum kann man solche kleinen Dinge nicht – das ist doch völlig natürlich –, weil sie nicht wussten, sofort regeln? was auf sie zukommt. Die zusätzliche Sicherheit, hervor- gerufen durch die positive Arbeitsmarktentwicklung und Wir brauchen mehr Flexibilität. Der Arbeitsminister durch die Wachstumsraten, lässt erstmalig seit langer braucht Mut für weitere Veränderungen. Die Bevölke- Zeit bei uns die Binnenkonjunktur anspringen. Deshalb rung hat verstanden. Sie hat erkannt, dass Veränderun- sind Aktuelle Stunden über dieses Thema so wichtig. gen auch etwas für den Einzelnen bringen. Deshalb müs- (B) Damit verbreiten wir eine Aufbruchstimmung in ganz sen wir hier weitermachen. (D) Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Gabriele Frechen [SPD])

Der Kollege Wend hat in seiner Rede – in vielen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Punkten stimme ich mit ihm überein – Reformen ange- Es spricht nun Andrea Nahles für die SPD-Fraktion. sprochen, die zu einem großen Teil von uns gemeinsam beschlossen worden sind. Deswegen sollten wir uns ge- genseitig keine Noten geben. Herr Müntefering hat da- Andrea Nahles (SPD): rauf hingewiesen, dass bei uns die Beschäftigungs- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schwelle von über 2 Prozent auf 1 bis 1,5 Prozent gesun- Herr Brüderle, wir als Rheinland-Pfälzer müssen das ken ist. Freuen doch nicht lernen. Wir können es doch am bes- ten. Ein Punkt kam in der Rede des Kollegen Wend nicht vor, dem ich aber eine sehr große Bedeutung zumesse: Die Opposition hat es immer schwer. Wenn es dann Nicht nur die Bedingungen für die Unterstützung – ich aber noch gut läuft, wird es wirklich hart. nenne das Arbeitslosengeld II und die Hartz-IV-Gesetze – (Beifall der Abg. Gabriele Frechen [SPD]) wurden neu geregelt, sondern auch die Bedingungen für die Zeitarbeit. Diese geänderten Rahmenbedingungen Herr Brüderle, Ihnen ist es wohl nicht möglich, für die Zeitarbeit haben zu mehr Flexibilität im Markt anzuerkennen, dass es in diesem Land 20 Prozent zu- geführt. sätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs- verhältnisse gibt, Es zeigt sich doch – lasst uns darüber ohne Schaum (Beifall des Abg. Gerald Weiß [Groß-Gerau] vor dem Mund reden! –, dass mehr Flexibilität am Ar- [CDU/CSU]) beitsmarkt für die Menschen positive Auswirkungen hat. Dass über die Hälfte der Arbeitsplatzzuwächse im Be- seitdem diese Große Koalition regiert. Wir werden es in reich der Zeitarbeit erfolgt, ist doch ein Zeichen dafür, dieser Legislaturperiode schaffen, die Neuverschuldung dass die Unternehmen angesichts eines stark reglemen- gegen null zu führen. Die Zahl der Arbeitslosen wird un- tierten Arbeitsmarktes die beiden einzigen ihnen zur ter 4 Millionen bleiben. Wenn das kein Grund zum Verfügung stehenden Ventile, nämlich Zeitarbeit und Freuen ist, dann lade ich Sie, Herr Brüderle, in die Eifel Minijobs, nutzen. ein: Dann üben wir das einmal. 9864 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Andrea Nahles (A) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – führt – ein spezielles Förderprogramm in Form einer (C) Dr. Rainer Wend [SPD], an Abg. Rainer Kombination aus Qualifizierung und Kombilohn aufge- Brüderle [FDP] gewandt: Und dann freust du legt. Dies werden wir jetzt anpacken, um gerade diejeni- dich, Rainer!) gen, die keine Berufsausbildung haben, in dieser guten Situation in den ersten Arbeitsmarkt hineinzubekom- Jetzt wird oft gefragt: Wer ist denn verantwortlich da- men. für, dass wir uns freuen dürfen? Es ist tatsächlich so, dass wir das größte Investitionswachstum seit der Wie- Wir legen zudem ein Programm für 100 000 Lang- dervereinigung haben. Insbesondere im Gewerbebau, in zeitarbeitslose auf. Denn wir wissen: Nicht alle schaffen der Industrie und in den unternehmensbezogenen es, durch bloße Aktivierung auf den ersten Arbeitsmarkt Dienstleistungsbereichen ist das die Marke, die sich zu gelangen. Wir nehmen dies ernst. Wir schaffen des- auch auf die Beschäftigung auswirkt. In allen Bundes- wegen einen geförderten Arbeitsmarkt in Deutschland, ländern und in allen Branchen gibt es mehr Beschäfti- der den Betroffenen auch wirklich eine Brücke baut. gung. Wesentlich mehr Beschäftigung gibt es in Ost- Herr Brüderle, Zeitarbeit ist doch kein Problem. Zeit- deutschland, insbesondere in Brandenburg und Sachsen. arbeit an sich ist keine prekäre Arbeit. Wenn es in der Das sind die Früchte von zwei großen Entscheidun- Zeitarbeit einen Mindestlohn gibt – im Tarif ist dies gen: Das ist zum Ersten die Frucht der Strukturreformen, schon vorgesehen; die Arbeitgeber und die Arbeitneh- die unter Rot-Grün richtigerweise eingeleitet wurden. mer wollen dies –, dann ist Zeitarbeit für mich, soweit es Das ist zum Zweiten die Frucht eines Impulsprogramms, in diesem Bereich vernünftig läuft – die Branche hat in das wir am Anfang dieser Legislaturperiode initiiert ha- den letzten Jahren Gutes geleistet –, keine prekäre, son- ben. Wir haben gesagt: Wir müssen erst einmal einen dern eine sinnvolle Arbeit. Sie sollte aber bitte mit Min- Schub geben, damit es tatsächlich ein selbsttragendes destlöhnen und sozialen Standards einhergehen, und es Wachstum gibt. Wir haben die degressive AfA verbes- sollte kein Wildwuchs und keine Schmutzkonkurrenz sert. Wir haben ein Programm zur energetischen Gebäu- untereinander bestehen, wie das jetzt noch der Fall ist. desanierung aufgelegt, das gerade in der Bauwirtschaft (Beifall bei der SPD) entsprechend gewirkt hat. Genau an dieser Stelle haben wir, anknüpfend an die Strukturreformen von Rot-Grün, Deswegen klipp und klar unsere Aussage: Die Ein- zu Anfang dieser Legislaturperiode in der Großen Koali- führung eines Mindestlohns wird diesen Aufschwung tion die richtigen Weichen gestellt. Das darf man doch nicht blockieren. Sie wird auch keine Arbeitsplätze kos- selbstbewusst hier sagen. Warum sollte man das ver- ten, Herr Meyer. Das ist Propaganda; dafür gibt es gute schweigen? Das ist die Wahrheit. Gegenbeispiele. Ein Mindestlohn kann den Auf- (B) schwung, den wir jetzt haben, so gestalten, dass alle da- (D) (Beifall bei der SPD – Zustimmung des Abg. von profitieren. Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]) (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Sie Insoweit sage ich ehrlich Dank denjenigen – auch da wollen die Gutachten nicht zur Kenntnis neh- sollte man einmal mit einigen Vorurteilen aufräumen –, men!) die das zuwege gebracht haben. Wir haben mit unserer Gesetzgebung zu Hartz IV erhebliche Stolpersteine für Das ist das erklärte Ziel der Sozialdemokratie und, wie die Leute vor Ort, in den BAs, in den Argen, den Op- ich hoffe, auch der Großen Koalition. Die CDU/CSU tionskommunen usw., produziert. Diese Stolpersteine, wirft ihr Herz über die Hürde; da bin ich mir ganz sicher. zum Beispiel was das Softwareprogramm anging, haben Am Montag werden wir nämlich über Mindestlöhne re- diese Menschen mit Überstunden und mehr gemeistert. den. Dann werden Sie Ihr Herz über die Hürde werfen. Ich würde mich freuen. Wir können jetzt wirklich sagen, dass es im letzten Jahr im Bereich des SGB III 25 Prozent weniger Arbeits- Vielen Dank. losigkeit und – das erscheint mir noch wichtiger – im Be- (Beifall bei der SPD) reich des SGB II 12 Prozent weniger Arbeitslosigkeit gab. Das liegt auch an der professionelleren und effizien- teren Vermittlung, die wir durch unsere Reformen einge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: leitet haben. Jetzt spricht der Kollege Franz Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch dazu von meiner Seite danke schön! Franz Obermeier (CDU/CSU): Den Aufschwung muss es für alle geben. Bei all der Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! In einer Freude vor allem derjenigen aus dem Bereich des sozialen Marktwirtschaft ist ein wirtschaftlicher Auf- SGB III, die gut vermittelt wurden, muss man auch an schwung immer das Produkt der Arbeitnehmer, der Un- diejenigen denken, die in einer solchen Aufschwung- ternehmer und auch der Politik. Ich möchte diese Aktu- phase aufgrund verschiedenster Vermittlungshemmnisse elle Stunde dazu nutzen, das Thema von einer etwas zurückbleiben. Aber auch hier, liebe Kollegen, ist die anderen Seite zu beleuchten: Welche schwierigen Auf- Große Koalition nicht tatenlos. Im Gegenteil: Wir haben gaben liegen vor uns? Wir stehen tatsächlich vor schwie- für die Jungen – Franz Müntefering hat es gerade ausge- rigen Aufgaben. Wir sollten die Zeit und die Ereignisse, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9865

Franz Obermeier (A) die wir jetzt feiern, nutzen, um folgende Fragen zu be- lassen, dann trifft auch – das ist Ihr Spruch, Herr (C) antworten: Wie ist ein solcher Aufschwung in der Bun- Brüderle – zu: desrepublik Deutschland nachhaltig zu gestalten? Wie (Rainer Brüderle [FDP]: Jetzt kommt es!) können wir seitens der Politik die Rahmenbedingungen so setzen, dass sich die Phase des Aufschwungs, des Er liegt in der Sonne und denkt nicht. wirtschaftlichen Wachstums so entwickelt, dass wir möglichst viele Jahre von einem gesunden wirtschaftli- Wir haben noch eine ganze Reihe von Aufgaben vor chen Wachstum ausgehen können? uns. Das ist wahr. Die Pflegeversicherung bedarf einer vernünftigen Lösung. Der Haushalt ist Jahr für Jahr ein Das Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland schwieriges Thema. Wir werden auch das Erbschaftsteu- steht auf zwei Füßen – die Frau Staatssekretärin hat es errecht auf eine vernünftige Schiene setzen. schon betont –: Zum einen ist es die Binnennachfrage, (Rainer Brüderle [FDP]: Was immer das zum anderen ist es das Auslandsgeschäft. Bei der Bin- heißt!) nennachfrage müssen wir klar erkennen, dass nicht die Stärkung der Massenkaufkraft an sich die Ursache ist. – Ja, was immer das heißt. – Heute ist so viel Positives Die Ursache ist nach meinen Erkenntnissen vielmehr, über die deutschen Familienunternehmen gesagt wor- dass weite Teile unserer Bevölkerung aufgrund der wirt- den. Durch die Erbschaftsteuerreform werden wir insbe- schaftlichen und politischen Geschehnisse in der Bun- sondere die deutschen Familienunternehmen entlasten. desrepublik Deutschland insgesamt wieder mehr Ver- trauen in ihre eigene wirtschaftliche Situation setzen. ( [FDP]: Steuersenkung!) Durch diese mentale Einstellung sitzt das Geld wieder Wir werden keine Steuersenkung, sondern eine Erb- etwas lockerer. Bei der Exportwirtschaft müssen wir klar schaftsteuerbefreiung vornehmen. sehen, dass man im Ausland erkannt hat, dass deutsche Produkte nicht nur teurer, sondern in weiten Bereichen (Otto Fricke [FDP]: Aha!) auch qualitativ besser und damit ihr Geld wert sind. Sie müssten eigentlich mitfeiern, wenn wir solche Dinge machen. Um die Frage der Nachhaltigkeit weiter zu beantwor- ten, komme ich auf Herrn Brüderle zu sprechen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Rainer Brüderle [FDP]: Das ist gut!) Wir haben noch viel vor, um den Aufschwung nach- haltig zu gestalten. Wir haben auch die Risiken im Auge Herr Brüderle, es ist ja ganz toll, was Sie Mal für Mal – die dürfen wir nämlich nicht übersehen –, zum Bei- verkünden. spiel die Entwicklung der US-Konjunktur und den an- (B) (D) (Rainer Brüderle [FDP]: Da sind Sie einmal haltenden Aufwertungsdruck auf den Euro. Auch der ehrlich!) Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise ist gefährlich. Ferner müssen wir mit den Risiken, die zu hohe Lohnab- Ich sage Ihnen eines: Wenn es noch einen Fanatiker für schlüsse oder zu lange Arbeitskämpfe mit sich bringen, Steuersenkungen in diesem Haus gibt, dann bin ich es. leben. Wir müssen sie immer im Auge haben. Ich meine aber: Deutschland hat eine gute Perspektive. Deutsch- (Dr. Rainer Wend [SPD]: Ihr beide? Oh, oh!) land hat eine gute Regierung. Wir werden den Auf- Aber ist es in einer Situation, in der wir bei einem Bun- schwung nachhaltig gestalten. deshaushaltsvolumen in Höhe von 260 Milliarden Euro Herzlichen Dank. rund 40 Milliarden Euro allein für Zinsen ausgeben, zu verantworten, den Menschen zu suggerieren, wir wären (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in der Lage, die Steuern nennenswert zu senken? Ist das neten der SPD) wirklich seriös? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Otto Jetzt spricht Katja Mast für die SPD-Fraktion. Fricke [FDP]: Wenn man nicht sparen kann! – Zuruf des Abg. Rainer Brüderle [FDP]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich bin in dieser Frage ganz bestimmt nicht nur ein Haushälter oder Buchhalter, sondern wirklich auch ein Katja Mast (SPD): Kaufmann. Aber die Nettoneuverschuldung zum jetzi- Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und gen Zeitpunkt wieder anzuheben, indem man bei den Kollegen! Können Sie sich noch an den 23. Mai 2005 er- Einnahmen kürzt, ist für meine Begriffe unredlich. Das innern, den Tag der Landtagswahlen in Nordrhein-West- muss man der Bevölkerung sagen. falen? Das war der Tag, an dem Gerhard Schröder im Kampf um die Fortsetzung sozialdemokratischer Re- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und formpolitik vorgezogene Neuwahlen forderte. Können der SPD – Otto Fricke [FDP]: Sie müssen bei Sie sich erinnern, was Sie damals über Konjunktur und den Ausgaben kürzen!) Arbeitsmarkt dachten? Es ist ganz sicher nicht mit dem zu vereinbaren, was wir Und heute? Die Wirtschaft brummt. Das Wirtschafts- der Bevölkerung mitteilen wollen: dass sie Vertrauen in wachstum lag 2006 bei 2,7 Prozent. Die Lohnnebenkos- diese Politik setzen soll. Wenn wir solche Sprüche los- ten liegen bei 40 Prozent. Die Arbeitslosigkeit sinkt unter 9866 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Katja Mast (A) 4 Millionen, und wir haben 650 000 sozialversicherungs- Wir wollen keine Armutslöhne, die vom Staat und damit (C) pflichtig Beschäftigte mehr. Die Renten steigen wieder. von den Steuerzahlern, also jedem Einzelnen von uns, Wenn alle Gewerkschaften ähnliche Tarifverträge wie bezahlt werden. Für die Lohnzahlung sind in Deutsch- die IG Metall in Baden-Württemberg abschließen, kön- land die Unternehmen verantwortlich. Wir Sozialdemo- nen wir die Renten wieder deutlicher erhöhen. kraten sind übrigens diejenigen gewesen, die über das Entsendegesetz Mindestlöhne für das Baugewerbe gesi- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerald chert haben. Erst jüngst haben wir mit den Stimmen der Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU]) Koalition das Gebäudereinigerhandwerk, in dem Die Nettoneuverschuldung liegt bei unter 20 Milliarden 850 000 Menschen arbeiten, in dieses Gesetz aufgenom- Euro und ist damit die niedrigste seit der Wiedervereini- men. gung. Die Defizitkriterien der Europäischen Union wer- (Beifall bei der SPD – Laurenz Meyer den eingehalten. [Hamm] [CDU/CSU]: Wie war das? Ich Können Sie sich daran erinnern, mit welchen Umfra- fürchte, da haben Sie nicht richtig nachgele- gewerten die SPD in den kurzen, aber harten Wahlkampf sen! Das war Herr Blüm, junge Frau! Ist der startete, welche Argumente uns Sozialdemokraten am jetzt übergetreten? – Gegenruf des Abg. Infostand begegnet sind? Dr. Rainer Wend [SPD]: Man könnte es manchmal glauben!) (Jürgen Koppelin [FDP]: Welche denn?) Wisst ihr noch, wie schwer es war, die Entscheidungen Aber auch für die, die vom Aufschwung noch nicht trotz schlechter Umfragewerte durchzuhalten? Wir ha- erreicht werden, bleiben wir nicht still, nicht nur beim ben durchgehalten, gemeinsam mit den Grünen; die wur- Thema Mindestlohn. Wir wollen Jobperspektiven für den dafür aber ein bisschen weniger kritisiert. Der jet- Langzeitarbeitslose. Diejenigen, die arbeiten wollen, zige Aufschwung, die sinkenden Arbeitslosenzahlen und sollen das dort tun, wo Arbeit heute brachliegt, ob im so- die verbesserte Haushaltssituation sind Früchte der rot- zialen Bereich, im öffentlichen Bereich oder in der Wirt- grünen Regierung und der Kontinuität in der Großen Ko- schaft. Sie sollen statt Arbeitslosengeld eigene Ansprü- alition. che erwerben und voll sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein. (Rainer Brüderle [FDP]: Sieht das Herr Meyer auch so?) Ja, wir sind stolz auf die Arbeit unserer Regierung, und wir sind stolz, dass sich diese Leistungen im Auf- Mutige Handlungen wie die Reformen am Arbeits- schwung widerspiegeln. Aber für uns von der SPD ist markt, das 3-Prozent-Investitionsziel im Bereich For- der Aufschwung kein Selbstzweck: Die Wirtschaft hat (B) schung und Bildung, das Ganztagsschulprogramm, die dem Menschen zu dienen und nicht der Mensch der (D) Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, unsere Steuer- Wirtschaft. Deshalb gibt die SPD so lange keine Ruhe, reform, die kleine Einkommen, Familien und mittelstän- bis dieser Aufschwung bei jedem Einzelnen ankommt. dische Unternehmen entlastet hat – diejenigen, die Ar- Wir wollen Aufschwung für alle. beitsplätze in Deutschland schaffen –, und nicht zuletzt der Atomausstieg, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gerald Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU]) (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Der Atomaus- stieg trägt zum Aufschwung bei?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der mit der Förderung regenerativer Energien gekoppelt Jetzt spricht der Kollege Wolfgang Meckelburg. wurde – das sind nur einige der Maßnahmen, die zum jetzigen Aufschwung beigetragen haben und von der vo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rangegangenen Regierung veranlasst wurden. Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Wir führen diese Arbeit kontinuierlich fort: Das El- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! terngeld, die steuerliche Begünstigung privater Sanie- Die bemerkenswerteste Ausführung heute war, wie ich rungen, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, die finde, der Satz von Frau Nahles über die große Große Weiterentwicklung des Ausbildungspaktes und die För- Koalition. Es hat mich beeindruckt, dass selbst Frau derung des Ehrenamtes sind nur einige Beispiele für die Nahles gesagt hat, die Große Koalition kriegt etwas Gro- Kontinuität in der heutigen Koalition. ßes hin – manche von Ihnen bestreiten das ja. Wie ge- (Jürgen Koppelin [FDP]: Wie wäre es einmal sagt, ich finde das großartig; denn das ist eine Basis, um mit Schuldenabbau?) in den strittigen Fragen ein Stückchen weiterzukommen. Bei der Debatte um den Mindestlohn steht die SPD (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) felsenfest. Sie haben zugegeben, dass Sie zu Ihrer Regierungs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen zeit ein paar Stolpersteine gebaut haben; dem widerspre- bei der LINKEN) che ich nicht. Doch wenn Sie, Frau Nahles, hier so ein- fach sagen: „Beim Mindestlohn wird am Montag Wir wollen tarifliche Vereinbarungen. Dort, wo das nicht gesprungen“, dann vertun Sie sich. Mit den Mindestlöh- geht, wollen wir eine gesetzliche Lösung. nen ist das nicht so einfach. Jeder, der eine Zahl nennt, (Beifall bei der SPD) bekommt Schwierigkeiten. Die Leute überbieten sich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9867

Wolfgang Meckelburg (A) mit Forderungen: Der eine will einen Mindestlohn von Frau Dückert, Sie haben vorhin gesagt, wir stünden auf (C) 6,50 Euro, der Nächste von 7 Euro, dann kommt einer dem Sonnendeck, wir sollten uns mal in den Maschinen- und fordert 7,50 Euro, die KAB, habe ich gehört, fordert raum begeben. Dieses Bild ist alt; das haben wir schon ge- sogar 8,50 Euro. Da kann ich nur sagen: Wer so etwas braucht, als Sie noch mit Rot zusammen regiert haben. gesetzlich festlegt, der macht Arbeitsplätze kaputt. An Heute stelle ich fest, dass wir im Maschinenraum sitzen. dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei. Während Ihrer Regierungszeit sind 65 Monate lang (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Monat für Monat sozialversicherungspflichtige Beschäf- tigungsverhältnisse abgebaut worden. Insgesamt waren Von anderer Seite heißt es, man müsse ja nur festle- es 1,5 Millionen. gen, sittenwidrige Löhne beginnen unterhalb von zwei Dritteln von dem, was in der Branche durchschnittlich (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Da haben vereinbart ist. Das hilft der berühmten Friseurin in Thü- wir es!) ringen auch nicht. Zwei Drittel von 3,18 Euro ist nicht Seit Mai letzten Jahres steigt die Zahl wieder. Wir haben viel. Für diese Festlegung würde ich mich also auch 650 000 neue sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. nicht unbedingt einsetzen. Das ist die größte Leistung des letzten Jahres auf dem Wir brauchen irgendeine Auffanglinie, die sich an den Arbeitsmarkt. Nehmen Sie das einfach zur Kenntnis. Daten, die wir haben, orientiert. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert (Andrea Nahles [SPD]: In welcher Höhe?) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So etwas ist doch peinlich! – Gegenruf des Abg. Dr. Ralf – Darüber sollte man sich hinter verschlossenen Türen Brauksiepe [CDU/CSU]: Für Sie ist das pein- langsam einigen. lich! Sie haben versagt! Das ist peinlich!) (Andrea Nahles [SPD]: Ah! Am Montag!) – Nein, das ist nicht peinlich. Die Zahl stimmt. Sie kön- nen daran drehen, wie Sie wollen. – Nein, nein. Das können nur die Tarifpartner vereinba- ren. Ich will auch in Richtung von Herrn Brüderle noch et- was sagen. Wir sind und bleiben in der Politik freund- Überall, wo es in Europa Mindestlöhne gibt, sind die schaftlich miteinander verbunden, aber es kann nicht Rahmenbedingungen völlig anders als bei uns in der sein, dass Sie uns hier vorwerfen, wir würden heute eine Bundesrepublik: Dort ist die Tarifautonomie nicht wich- Feierstunde abhalten und uns sonnen, während Sie als tig, spielen die Gewerkschaften eine völlig andere Rolle, Schattenwerfer auftreten und wirklich jedes Stichwort (B) gibt es andere Systeme. In unserem System sind die Ta- aus der Kiste holen, um den Schatten möglichst so groß (D) rifparteien diejenigen, die in den Regionen und für ihre zu machen, dass von dem Erfolg der Bundesregierung Branchen am besten aushandeln können, was machbar nichts mehr übrig bleibt. ist und was nicht. Auf diesen Weg sollten wir uns end- lich begeben! (Rainer Brüderle [FDP]: Einer muss euch doch die Wahrheit sagen! Ihr seid doch schon besof- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. fen!) Andrea Nahles [SPD]) Herr Brüderle, wären Sie mit uns zusammen in der Ko- Wovon ich gar nichts halte – damit auch das klar ist –, alition, dann würden Sie Seite an Seite bei uns stehen ist, wenn Gewerkschaften – ich nenne sie jetzt nicht na- und Feste feiern, bis es nicht mehr geht. mentlich –, die an Tarifabschlüssen beteiligt waren, bei (Dr. Rainer Wend [SPD]: Dann hätte es nur an- denen unwahrscheinlich niedrige Löhne vereinbart wor- dere Ergebnisse gegeben!) den sind, jetzt auf die Straße gehen und von uns verlan- gen, dass wir, die Politik, das mit Mindestlöhnen korri- Wir feiern diese Feste heute nicht, sondern wir stellen gieren. Von solchen Gewerkschaften halte ich nichts; die fest, dass wir in diesem einen Jahr auf dem Arbeits- manchen ihren Job nicht. markt, beim Wirtschaftswachstum und bei den Steuer- einnahmen wesentlich weiter vorangekommen und auf ( [SPD]: Das sind christliche!) einem guten Weg sind. – Nein, das sind nicht die christlichen. Ich meine Verdi; Wenn das gilt, was Frau Nahles hinsichtlich der gro- damit Sie es wissen. ßen Großen Koalition gesagt hat, dann liegen noch große Jahre vor uns. Lassen Sie mich zum Thema der Aktuellen Stunde et- was sagen: Der Aufschwung geht weiter. Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hat den kräftigsten Aufschwung seit der Wiedervereini- neten der SPD) gung. Die Gewinne der Unternehmen steigen, die Auf- tragsbücher der Firmen sind voll. Fachkräfte werden Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dringend gesucht; wir werden uns in allernächster Zeit Jetzt hat Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion das über Fachkräftemangel unterhalten müssen. Die Arbeits- Wort. losigkeit sinkt merklich; die Zahlen sind genannt worden. Das Wichtigste ist: Die Zahl der sozialversicherungs- (Beifall bei der SPD – Rainer Brüderle [FDP]: pflichtigen Beschäftigungsverhältnisse steigt wieder. Ihr müsst nüchtern bleiben!) 9868 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Gabriele Frechen (SPD): ausgeben, bleibt in der Regel in der Region. Wenn Rie- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und senprojekte des Bundes europaweit ausgeschrieben wer- Kollegen! Nicht, dass jetzt jemand das Gerücht streut, in den, dann ist nicht gesagt, dass der Auftrag in Deutsch- der Großen Koalition würden nur schlagende Argumente land bleibt. Bei den Kommunen ist das anders. Jeder zählen. Es ist nur mein Zahn. Wir schlagen uns also noch Euro, den die Kommunen mehr haben, entspricht einem nicht, sondern wir tauschen die Meinungen so aus. Förderprogramm für die lokale Wirtschaft. „Spiegel Online“ meldete am 30. April 2007, dass der (Beifall der Abg. Andrea Nahles [SPD]) Aufschwung am Arbeitsmarkt angekommen ist. Es ist für mich in der Tat die wichtigste Aussage zu der wirt- Erst wenn sich die Menschen in ihrer Kommune wohl- schaftlichen Entwicklung in Deutschland, dass der Auf- fühlen, weil die dringend notwendigen Investitionen schwung endlich am Arbeitsmarkt angekommen ist. – ob in Straßen, Gebäude, soziale Einrichtungen, Schu- 650 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäfti- len oder Kinderbetreuung – getätigt werden, sind sie gungsverhältnisse sind nämlich zumindest für die Men- wieder selber bereit, zu investieren. Dies ist notwendig, schen, die sie bekommen haben, weiß Gott mehr als nur weil es den Binnenmarkt stärkt. 650 000 neue Jobs. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das kommunale Investitionsprogramm, das noch auf der CDU/CSU) die Regierung Schröder zurückgeht, ist nicht umsonst Die positiven Zahlen sind für uns Ansporn und Bestä- wieder aufgelegt worden. Im Jahr 2006 sind rund tigung zugleich. Sie sind Bestätigung, weil die sozialde- 3,2 Milliarden Euro ausgegeben worden. Damit sind mokratische Agendapolitik endlich wirkt, und sie sind rund 1 450 Vorhaben mitfinanziert worden. Ich darf in Ansporn, diesen Weg in der Großen Koalition natürlich diesem Zusammenhang an das Ganztagsschulprogramm auch weiterzugehen. Wir werden ihn so lange gehen, bis erinnern, mit dem den Kommunen 4 Milliarden Euro für der Aufschwung bei allen Menschen angekommen ist; Baukosten zur Verfügung gestellt wurden. Auch dieses denn schließlich haben die Millionen Arbeitnehmerin- Geld geht an regionale Unternehmen und stärkt das nen und Arbeitnehmer in den Fabrikhallen, den Büros Handwerk und die heimische Wirtschaft, weil es vor Ort und den Handwerksbetrieben diesen Aufschwung miter- ausgegeben wird. arbeitet. Auch die privaten Haushalte – lange Zeit ein vernach- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Reformen brauchen lässigter Sektor, was die Beschäftigung anbelangt – stär- Zeit. Dieser Satz ist so lapidar wie richtig. Dies gilt auch ken wir durch steuerliche Maßnahmen. Die Sanierung und besonders für Steuerreformen und für die Haushalts- und die Modernisierung von Wohnraum werden ebenso (B) (D) politik, durch die der Aufschwung in den vergangenen steuerlich gefördert wie Kinderbetreuung, Pflege oder Jahren mitbewirkt wurde. Anfang 2006 haben wir ein die Reinigung der Wohnung. Damit holen wir diesen 25-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm auf den Weg Wirtschaftssektor aus dem grauen oder schwarzen Be- gebracht. Das war die Initialzündung für Wachstum und reich und fördern legale Beschäftigung. Beschäftigung. Dazu werden wir auch mit der Unterneh- mensteuerreform einen Beitrag leisten. Ich denke, wir haben allen Grund, uns zu freuen, und glaube, dass die Handvoll Beispiele, die ich genannt Frau Dückert, hier muss ich Ihnen widersprechen. Es habe, deutlich machen, dass der Aufschwung zwar nicht ist toll und plakativ, zu sagen: Ihr gebt den Großen und nur, aber auch etwas mit der Regierung und der Koali- nehmt den Kleinen. – Es stimmt nicht. Der „Focus“ hat tion zu tun hat. die Studie des ZEW ausgewertet. Dort steht: Vielen Dank. Allerdings seien in erster Linie mittelständische Unternehmen auf der Gewinnerseite, da sie von den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geplanten Gegenfinanzierungsmaßnahmen weitge- der CDU/CSU) hend verschont bleiben würden … Es sind nicht die Großkonzerne; vielmehr wird der Mit- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: telstand durch uns gestärkt, genau der Mittelstand, der Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde erhält hier eben gelobt wurde, weil er für den Beschäftigungs- der Kollege Gerald Weiß für die CDU/CSU-Fraktion das aufschwung gesorgt hat. Wort. (Beifall bei der SPD – Dr. Thea Dückert (Beifall bei der CDU/CSU) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre eigenen Leute sagen Ihnen das! Gucken Sie sich mal Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): Ihre eigenen Kritiken an!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Wir haben die Kommunen in den vergangenen Jahren Herren! Kollege Brüderle ist schuld daran, dass ich an- gestärkt, und wir werden sie auch weiter stärken. Die ders anfangen muss, als geplant. Sie haben eine Zeit lang Kommunen erleben seit 2004 ein Rekordjahr nach dem geleugnet, dass es einen Aufschwung gibt. Jetzt können anderen. Warum ist das so wichtig? Die Kommunen sind Sie das nicht mehr tun; denn es gibt unverkennbar mehr die größten öffentlichen Auftraggeber, und – das ist min- Wachstum und mehr Arbeitsplätze in Deutschland. Das destens genauso wichtig – das Geld, das die Kommunen können Sie nicht mehr leugnen. Jetzt darf es Ihrer Mei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9869

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (A) nung nach aber nicht der Regierung zugute gehalten tisch erfasst wurde. Die Aufträge von heute sind die Ar- (C) werden. beitsplätze von morgen, Herr Brüderle. Das ist der Zu- sammenhang mit der Beschäftigung. Es handelt sich um (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) einen Vertrauensaufschwung. Ich lade Sie zu folgendem Der Aufschwung ist zwar nicht nur der Regierung zu Gedankenmodell ein: Wenn Genossen à la Gysi und verdanken – auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Lafontaine heute die Regierungsverantwortung hätten, mer, die Unternehmer, die Weltwirtschaft, die Wissen- gäbe es kein Zukunftsvertrauen. Aber die Große Koali- schaft und andere haben ihren Beitrag dazu geleistet –, tion hat es trotz vieler Mühseligkeiten – die Rente mit 67 sie hat aber mit der positiven Änderung der wirtschaftli- ist sicherlich nicht populär, aber langfristig notwendig – chen Rahmendaten, die für die Menschen wichtig sind, geschafft, das Vertrauen und das Zutrauen der Menschen ihren Anteil daran. in die Zukunft wieder zu festigen. Das setzt sich um: gestern in verbesserte Investitionspläne, heute in verbes- (Ute Kumpf [SPD]: Sie haben die Fußball- serte Investitionsmaßnahmen und – erkennbar – im Kon- weltmeisterschaft vergessen!) sumverhalten. Die Menschen trauen sich mehr. Da die Als Spezialservice für den ehemaligen Studienkolle- Menschen keine Angst mehr haben, beispielsweise den gen aus Mainz greife ich aus dem oft erwähnten 25-Mil- Arbeitsplatz zu verlieren, trauen sie sich, hochwertige liarden-Euro-Programm der Bundesregierung nur einen Gebrauchsgüter anzuschaffen. Auch im Konsumbereich Baustein heraus, um die Wirkung abzuleiten. Das er- zeigt sich also das gestiegene Zukunftsvertrauen. wähnte CO -Gebäudesanierungsprogramm hat im Jahr 2 Wir sind noch lange nicht am Ziel. Das sind wir erst, 2006 Investitionen im Umfang von 11 Milliarden Euro wenn der Aufschwung alle Menschen erfasst, wenn es al- ausgelöst. Das können Sie anhand der Wachstumsrate len besser geht. Deshalb kümmern wir uns um die Pro- nachprüfen. Mit einem Anteil von 0,5 Prozent am So- blemgruppen. Mit dem, was es jetzt beschlossen hat, zialprodukt bedeutet das einen Wachstumsschub, der zu verfolgt das Kabinett die Absicht, den Menschen zielge- den verbesserten Wachstumsraten in Deutschland ge- richtet zu helfen, die nicht ohne Weiteres durch mehr führt hat. Wachstum in die Wirtschaft integriert werden können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wenn wir die sozialen Sicherungssysteme zielgenauer neten der SPD) machen, wie es beim Sozialgesetzbuch II in mehreren Schritten geschehen ist, dann erfüllen wir das zweite Wenn man berücksichtigt, dass Investitionen in Höhe Kernanliegen unseres Koalitionsvertrages, die sozialen von 1 Milliarde Euro 25 000 neue Arbeitsplätze erschlie- Sicherungssysteme zu festigen. Die sozialen Sicherungs- ßen, dann ist der Zusammenhang zwischen Investitionen systeme spiegeln ebenfalls schon den Aufschwung wider. und Beschäftigung hergestellt. (B) (D) Wirtschaftswachstum ist sicherlich nicht alles. Aber (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Herr ohne es ist alles andere nichts. Die geringeren Ausgaben Brüderle hat sich im Studium nicht weiterge- und die verbesserten Einnahmen des Sozialstaates – das bildet!) gilt vor allem in der Arbeitslosenversicherung – zeigen, Frau Möller, Sie haben in düsteren Farben beschrie- dass wir auf einem guten Weg sind. Den sollten wir wei- ben, dass der Aufschwung nicht die Menschen erreicht. tergehen. Wir haben aber 823 000 Arbeitslose weniger, Danke schön. 650 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr, 27 Prozent weniger arbeitslose Jugendliche, 14 Prozent (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) weniger ältere Arbeitslose über 50 und 80 000 mehr Be- schäftigte über 55 Jahre als im Vorjahr. All diese Men- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schen hat der Aufschwung konkret und glücklich er- Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. reicht. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Widerspruch bei der LINKEN) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- neten Jerzy Montag, Hans-Christian Ströbele, Wie können Sie das leugnen? Wolfgang Wieland, weiteren Abgeordneten und (Zuruf des Abg. Rainer Brüderle [FDP]) der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes – Ich könnte auch von der Absenkung des Beitrags zur zum Schutz von Journalisten und der Presse- Arbeitslosenversicherung reden, Kollege Brüderle. Das freiheit in Straf- und Strafprozessrecht will ich an dieser Stelle aber nicht tun. – Drucksache 16/576 – Es ist vor allem ein Vertrauensaufschwung. Am An- fang gibt es mehr Vertrauen und Zutrauen. Es ist demos- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- kopisch belegbar, dass es seit Antritt der Großen Koali- schusses (6. Ausschuss) tion eine Zunahme bei den Investitionsplänen gibt. Die – Drucksache 16/5283 – Investitionspläne von gestern sind die Aufträge von heute. Herr Brüderle, wir haben mit einem Plus von Berichterstattung: 10 Prozent bei den Auftragserteilungen in der Industrie Abgeordnete Siegfried Kauder den größten Zuwachs zu verzeichnen, der jemals statis- (Villingen-Schwenningen) 9870 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Joachim Stünker rend der Medienmitarbeiter, der genau dazu angestiftet (C) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat, generell straflos bleiben soll. Wolfgang Nešković Jerzy Montag Damit würde die Grenze zwischen noch erlaubter journalistischer Grundrechtsausübung und der aktiven Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, Begehung von Straftaten insgesamt ins Rutschen gera- hierüber eine Dreiviertelstunde zu debattieren. – Dazu ten. Wenn Sie das Prinzip von Täterschaft und Teil- höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. nahme an dieser Stelle durchbrechen – für eine Berufs- gruppe, für die es übrigens keine klare Definition gibt –, Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Parlamentarischen Staatssekretär Alfred (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hartenbach für die Bundesregierung. NEN]: Die Definition ist in der Strafprozess- ordnung!) Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- dann wird das nicht ohne Folgewirkungen für andere desministerin der Justiz: Straftaten bleiben. Darin sehe ich mich auch durch das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Ergebnis der Sachverständigenanhörung im Rechtsaus- Liebe Kollegen! Wenn man den Titel des heute vorlie- schuss bestätigt. genden Gesetzentwurfes wörtlich auslegte, dann müsste man zu dem Schluss kommen, dass es um die Pressefrei- Für Ihren Gesetzentwurf gibt es auch keine verfas- heit in unserem Land schlecht bestellt ist. sungsrechtliche Notwendigkeit, auch nicht nach der „Cicero“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Tut es auch!) (Dr. Peter Danckert [SPD]: Erst recht nicht!) Kollege Montag, richtig ist jedoch: Die Pressefreiheit Diese Entscheidung hat die Strafbarkeit von Anstiftung genießt nach unserer Verfassungsordnung besonderen und Beihilfe zum Geheimnisverrat gerade nicht in Zwei- Schutz, auch im Straf- und Strafverfahrensrecht. Sie ge- fel gezogen. Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht nießt aber keinen uneingeschränkten Schutz. Es geht in wichtigen Punkten die Rechtslage klargestellt. Ob die deshalb immer um einen sachgerechten Ausgleich zwi- Voraussetzungen für eine Beihilfe zum Geheimnisverrat schen Pressefreiheit und Strafverfolgung. Nicht nur die bei Medienmitarbeitern vorliegen, müssen unter Beach- Pressefreiheit, sondern auch die Aufgabe des Staates, tung dieser Vorgaben Staatsanwaltschaften und Gerichte Straftaten aufzuklären und Straftäter zur Rechenschaft von Fall zu Fall sorgfältig prüfen. zu ziehen, hat Verfassungsrang. Auch die vorgeschlagenen Änderungen des Strafver- (B) (D) Dabei müssen zwei Aspekte auseinander gehalten fahrensrechts sind allesamt verfassungsrechtlich nicht werden. Da ist zum einen die Bewertung der gesetzlichen geboten und zum Teil unpraktikabel. Regelungen – darauf werde ich mich konzentrieren –, (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] und da ist zum anderen die von mir nicht zu behandelnde [CDU/CSU]: So ist es!) Frage, ob die geltenden Vorschriften im Einzelfall von Gerichten und Staatsanwaltschaften mit dem nötigen Ich greife wegen der Kürze der Zeit nur zwei Beispiele Augenmaß angewandt worden sind. heraus. (Dr. Peter Danckert [SPD]: Genau! Das ist die Erstens. Der absolute Richtervorbehalt bei Be- Frage!) schlagnahmen in Journalistenwohnungen geht an der Realität vorbei. Staatsanwälte und Polizeibeamte dürfen Der geltende § 353 b Strafgesetzbuch, also die Straf- eine Beschlagnahme schon nach geltendem Recht nur vorschrift über die Verletzung von Dienstgeheimnis- bei Gefahr im Verzug selbst anordnen. Im Eilfall muss sen, sorgt für einen angemessen Ausgleich zwischen dies weiterhin möglich sein. dem Geheimhaltungsinteresse des Staates und dem Inte- resse der Bürger und Medien an einer öffentlichen Kon- Zweitens. Ein absolutes Verbot, Verbindungsdaten trolle staatlichen Handelns, wie es in einem Rechtsstaat von Medienmitarbeitern zu erheben, ist ebenfalls nicht unverzichtbar ist. Ihr Gesetzentwurf würde an dieser zu rechtfertigen. Das Bundesverfassungsgericht hat wie- Stelle eine Schieflage verursachen, weil er den Interes- derholt – zuletzt in seiner „Cicero“-Entscheidung – be- sen der Medien einen generellen Vorrang einräumt. tont, dass ein genereller Vorrang der Pressefreiheit vor dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafver- Dass Anstiftung und Beihilfe strafbar sind, ist fester folgung nicht anzuerkennen ist. Es ist vielmehr in jedem Bestandteil unseres Strafrechtssystems Einzelfall der Stellenwert der Pressefreiheit mit dem konkreten Strafverfolgungsinteresse abzuwägen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Noch eines, meine lieben Kolleginnen und Kollegen und gilt grundsätzlich für alle Deliktsbereiche, auch für von den Grünen: den Verrat von Dienstgeheimnissen, weil auch hier An- stiftung und Beihilfe einen eigenen Unwertgehalt haben. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das war ja mal nett!) Man kann deshalb nicht, wie Sie es wollen, den Amtsträger als Haupttäter bestrafen, weil sein Geheim- Wie wollen Sie eigentlich erkennen, ob ein Verbindungs- nisverrat wichtige öffentliche Interessen gefährdet, wäh- datum gerade im Zuge einer Kommunikation verarbeitet Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9871

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) wurde, die vom Zeugnisverweigerungsrecht geschützt Pressefreiheit über alles gestellt wird und jedes Augen- (C) ist? Das steht nämlich nicht drauf. maß verloren geht, (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Richtig!) (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ihr heute zur Abstimmung stehender Entwurf greift durch seinen nur punktuellen Ansatz zu kurz. Geboten sondern es geht um Korrekturen im Strafgesetzbuch und ist vielmehr ein stimmiges Gesamtkonzept, wie es die in der Strafprozessordnung, und zwar an einigen Stellen. Bundesregierung Mitte April beschlossen hat. Danach (Beifall bei der FDP) bleiben die bestehenden Presseschutzregelungen unein- geschränkt erhalten. Das betrifft sowohl das Zeugnisver- Deshalb teilen wir von der FDP-Bundestagsfraktion den weigerungsrecht als auch den Beschlagnahmeschutz und Grundansatz, der mit diesem Gesetzentwurf verfolgt das Verbot von Wohnraumüberwachungen. Worin vor wird. diesem Hintergrund ein Angriff auf die Pressefreiheit Wir haben einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht, liegen soll, wie er in der letzten Zeit der Bundesregie- der ebenfalls Gegenstand der Anhörung im letzten Jahr rung unterstellt wurde – ich habe nicht gesagt, dass Sie gewesen ist. Wir wollen die Vorschläge, die in unserem das unterstellt haben –, bleibt mir unergründlich. Gesetzentwurf zum Strafgesetzbuch, aber auch zur Straf- Der von der Bundesregierung beschlossene Entwurf prozessordnung enthalten sind, dann in die Beratungen schreibt fest, dass sowohl offene als auch verdeckte Er- einbringen, wenn wir uns hier mit den Änderungen der mittlungsmaßnahmen gegen zeugnisverweigerungsbe- Telekommunikationsüberwachung beschäftigen wer- rechtigte Medienmitarbeiter nur nach einer vorherigen den; denn das ist der Moment, um konkret zu prüfen, ob sorgfältigen Verhältnismäßigkeitsprüfung zulässig sind. es Änderungen zum Beispiel des § 97 StPO bedarf und Kommt diese Abwägung zu dem Ergebnis, die geplante wie wir mit den Telekommunikationsverbindungsdaten Ermittlungsmaßnahme wäre unverhältnismäßig, etwa von Zeugnisverweigerungsberechtigten umgehen. Dann weil es nur um die Aufklärung einer eher geringfügigen können wir auch Ihren Vorschlag diskutieren, der eine Straftat geht, dann ist die Maßnahme zu unterlassen oder generelle Verhältnismäßigkeitsprüfung bei einigen Zeug- zu beschränken. Wenn allerdings, lieber Kollege Montag nisverweigerungsberechtigten enthält. – ich vermisse Herrn Ströbele ein bisschen –, Ich kann an dieser Stelle schon sagen, dass ich da er- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hebliche Bedenken habe. NEN]: Reiche ich Ihnen nicht?) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein Journalist in eine Straftat selbst verstrickt ist oder NEN]: So ist es! Die teilen wir!) (B) (D) wenn der Journalist sogar selbst Beschuldigter in einem Im Gesetz steht, dass erst die Verhältnismäßigkeitsprü- Strafverfahren ist, müssen die dargestellten Schutzrege- fung stattfinden muss. Wir kennen die Verfahren der lungen hinter das Strafverfolgungsinteresse zurücktre- letzten Jahre, bei denen schon jetzt unter Achtung des ten. Denn nach unserer Verfassung gilt eben auch: Es Art. 5 Grundgesetz Staatsanwaltschaften und Richter steht dem Gesetzgeber nicht frei, bestimmte Berufsfel- hätten abwägen müssen, was aber letztlich in der Form der von jeglicher Strafverfolgung einfach auszunehmen. nicht erfolgt ist; denn sonst wäre es nicht zur Entschei- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dung des Bundesverfassungsgerichts zu „Cicero“ ge- NEN]: Das tun wir auch nicht!) kommen. – Doch, das tut ihr, Freunde. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Mit unserem Konzept stehen wir in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Genau dort ist nicht richtig in der Praxis geprüft worden. stellen sowohl eine freiheitliche Presse als auch eine ef- Nun könnte man sagen, Herr Hartenbach, das sei in fektive Strafverfolgung sicher. Ordnung, mit dieser Klarstellung – das ist ja nicht die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einzige Entscheidung; es hat schon immer entsprechende Entscheidungen gegeben – seien alle Probleme beseitigt. Beides ist mir gleichermaßen ein großes Anliegen. Nein, auch wir als FDP-Fraktion sind der Meinung, dass man auch § 353 b – Verletzung eines Dienstgeheimnis- Vielen Dank. ses und die Strafbarkeit von Beihilfehandlungen – auf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) den Prüfstand stellen muss; denn er ist zu einem Ein- fallstor staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen gewor- den. Es hat in der Vergangenheit in keinem einzigen Fall Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: eine Verurteilung eines Journalisten gegeben, dem vor- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat jetzt das geworfen wurde, er sei der Beihilfe verdächtig. Man hat Wort für die FDP-Fraktion. die Regelung vielmehr benutzt, um Ermittlungen anzu- stellen und Erkenntnisse zu gewinnen, die auf undichte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Stellen und Lücken in Behörden hinweisen, weil man Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- selbst anders nicht zum Erfolg gekommen ist. Das kann nen und Kollegen! Herr Hartenbach, es geht bei dem nicht Sinn und Zweck einer solchen Regelung sein. Ich vorliegenden Gesetzentwurf nicht darum, dass jetzt die meine, es ist nur richtig und notwendig, dass das gerade 9872 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) angesichts der Verfahren hier im Bundestag auf den (Beifall bei der FDP) (C) Prüfstand gehört. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Unser Gesetzentwurf geht allerdings nicht so weit wie der des Bündnisses 90/Die Grünen. Wir halten eine An- Jetzt hat für die CDU/CSU der Kollege Reinhard stiftungshandlung für eine Handlung mit einem anderen Grindel das Wort. Unrechtsgehalt als eine Beihilfehandlung nach Vollen- (Beifall bei der CDU/CSU) dung eines Delikts. Hier geht es ja um ein Institut der sukzessiven Beihilfe, zu dem das Bundesverfassungsge- Reinhard Grindel (CDU/CSU): richt im „Cicero“-Urteil keine abschließende Bewertung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! abgeben musste. Wenn es darum geht, jemanden dazu Die Pressefreiheit ist nicht irgendein Grundrecht, son- anzustiften, das Dienstgeheimnis zu verletzen, dann ist dern für unsere Demokratie schlechthin konstituierend. das in den Augen der FDP-Fraktion ein Vorgang, der mit Das ist in einzelnen Ermittlungsverfahren, etwa im Fall einem anderen Unrechtsgehalt versehen ist. Deshalb se- „Cicero“, nicht hinreichend beachtet worden. Wir haben hen wir hier eine sehr viel differenziertere Regelung vor. das fraktionsübergreifend kritisiert. Aber es geht hier um In diesem Punkt unterscheidet sich unser Entwurf von fehlerhafte Rechtsanwendungen, nicht um fehlerhafte dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf Rechtsgrundlagen. des Bündnisses 90/Die Grünen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dass sich die Arbeitswelt von Journalisten in den Dr. Peter Danckert [SPD]) letzten Jahren verändert hat, ist bekannt. Üblich ist nicht mehr, dass man allein in einer Redaktion sitzt und dort Mein Kollege Siegfried Kauder wird gleich eine seine Texte schreibt. Aufgrund moderner Kommunika- Reihe wichtiger rechtspolitischer Anmerkungen ma- tionsmöglichkeiten ist das Schreiben von Beiträgen chen. Meine Fraktion hat mir hier sozusagen ein gewis- auch an anderen Orten möglich, zunehmend in privaten ses Journalistenprivileg eingeräumt. Ich will auf Grund- Räumen. Wir wollen, dass ein Richter entscheidet; der- lage meiner beruflichen Erfahrungen sagen: Ich finde zeit ist das nicht der Fall. Das Umsetzen unserer Forde- schon, Herr Kollege Montag, wir sollten festhalten, dass rung wäre eine vorsichtige Korrektur der Strafprozess- wir uns in Deutschland im Vergleich zu westeuropäi- ordnung. Dies unterläge auch nicht dem Übermaßverbot. schen Ländern, von anderen Ländern der Welt ganz ab- Es würde also nicht über die Stränge geschlagen. Ich gesehen, sowohl bezüglich der Print- als auch der elek- hoffe, dass wir im Rahmen der Beratungen über eine tronischen Medien, was die Qualität, die Vielfalt und die grundlegende Neuregelung der Telekommunikations- Unabhängigkeit unserer Presselandschaft angeht, nicht zu verstecken brauchen. Mit dem Gesetzentwurf der (B) überwachung darüber noch im Einzelnen werden reden (D) können. Bei der ersten Lesung dieser Gesetzentwürfe im Grünen sollte nicht der Eindruck erweckt werden, dass letzten Jahr wurde hier im Bundestag, zum Teil aus den die Freiheit der Presse durch staatliche Einrichtungen Koalitionsfraktionen, die Bereitschaft geäußert, sich bei – womöglich mit wachsender Tendenz – beeinträchtigt diesen Punkten zu öffnen. Ich würde mich freuen, wenn wird. diese Bereitschaft auch bei den Beratungen über Ände- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – rungen der StPO vorhanden wäre. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Fakten sprechen gegen Sie! Da sprechen Auch das Beweiserhebungsverbot für Telekommuni- Sie nicht für Ihre Kollegen!) kationsverbindungsdaten, § 100 h StPO, sieht den abso- luten Schutz von Zeugnisverweigerungsberechtigten Herr Kollege Montag, lassen Sie mich, ohne aller- vor. Es ist doch nicht so, als würde jetzt erfunden, dass dings abzuschweifen, im Hinblick auf die Qualität und Zeugnisverweigerungsberechtigte nicht hinsichtlich ih- Freiheit unserer Presse einen weiteren Gedanken äußern: rer Telekommunikationsverbindungsdaten ausgeforscht Vielleicht ist das Problem nicht in erster Linie, dass der werden sollen. Aber man hat hier differenziert; in mei- investigative Journalismus ständig von Staatsanwalt- nen Augen hat man hier falsch differenziert. Die Journa- schaften eingeschränkt wird, sondern, dass investigativer listen, bei denen der Informantenschutz entscheidend ist Journalismus gar nicht mehr stattfindet, weil manche In- – das hat das Bundesverfassungsgericht noch einmal vestoren bei Zeitungen oder Fernsehsendern – ich muss ausdrücklich festgestellt –, hat man von dieser Regelung leider sagen: vor allem ausländische Investoren – nicht nicht ausgenommen. Vielmehr sagt man: Nach gelten- so sehr an den publizistischen, sondern eher an den wirt- dem Recht kann man die Telekommunikationsverbin- schaftlichen Erfolg des Mediums denken. Das hat zur dungsdaten ausforschen. Bei anderen Zeugnisverweige- Folge, dass man sich keinen investigativen Journalismus rungsberechtigten, bei Anwälten, bei Geistlichen, gilt mehr leistet. dies nicht. Wenn man das abwägt, dann kann man sehr (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: wohl zu dem Ergebnis kommen, dass es sinnvoll ist, eine Das stimmt!) entsprechende Einbeziehung vorzunehmen. Vielleicht ist das in Zukunft sogar das größte Problem, Da sich unser Entwurf von dem Gesetzentwurf der mit dem wir uns beschäftigen müssen. Grünen in einigen Punkten unterscheidet, werden wir uns bei der heutigen Abstimmung enthalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Sabine Leutheusser- Vielen Dank. Schnarrenberger [FDP]: Nicht nur, aber auch!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9873

Reinhard Grindel (A) Der Fall „Cicero“ hat deutlich gemacht, dass unser frei- sollte die Wirkungen des „Cicero“-Urteils abwarten. (C) heitlicher Rechtsstaat funktioniert. Das Bundesverfas- Entscheidend ist: Das Bundesverfassungsgericht hat in sungsgericht hat völlig zu Recht entschieden, dass diesem Fall offensichtlich keinen gesetzgeberischen Durchsuchungen und Beschlagnahmen in einem Ermitt- Nachbesserungsbedarf gesehen. lungsverfahren gegen Presseangehörige verfassungsrecht- Ich habe übrigens den Eindruck, dass die Bundes- lich unzulässig sind, wenn sie ausschließlich oder vorwie- regierung den Schutz von Journalisten im Zusammen- gend dem Zweck dienen, die Person des Informanten zu hang mit dem Gesetzentwurf zur Regelung der Telekom- ermitteln. Die Durchsuchungen der „Cicero“-Redak- munikationsüberwachung verbessert. Das betrifft auch tion und des Hauses des Journalisten Bruno Schirra hat- das Problem der Zufallsfunde. ten das Ziel, beim BKA und beim BND undichte Stellen zu finden. Darauf kam es an. Kollege Montag, ich finde, dass die Grünen mit ihrem Gesetzentwurf, der Straffreiheit für die Anstiftung zum (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geheimnisverrat vorsieht, weit über das Ziel des Schut- Aber das war verfassungswidrig!) zes der Pressefreiheit hinausschießen. Für mich ist das Wir waren uns damals in einer Sondersitzung des Innen- nicht nur, wie es in der Anhörung des Rechtsausschusses ausschusses einig, dass unter dem Deckmantel der Ver- hieß, in rechtsethischer Hinsicht ein Problem, sondern es folgung einer angeblichen Beihilfehandlung eines Jour- ist auch mit dem journalistischen Ethos kaum vereinbar. nalisten zum Geheimnisverrat in Wahrheit in die (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pressefreiheit eingegriffen wurde, indem man in großem Das muss ja keiner machen!) Stil Akten beschlagnahmt hat. Dadurch wurde der Schutz der Vertraulichkeit und der Informationsquellen Da wir angesichts des wachsenden Wettbewerbs auf dem gefährdet, der für die Arbeit der Presse unentbehrlich ist. Medienmarkt und angesichts eines immer problemati- scheren Kampfes um tatsächliche oder angebliche Exklu- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe übrigens sivstorys ohnehin einen gewissen Sittenverfall im Journa- nicht vergessen, dass der frühere Bundesinnenminister lismus beklagen, frage ich mich, ob es die Pressefreiheit diese Kritik in seinem bekannten Stil abge- wirklich gebietet, den Instrumentenkasten mit der Anstif- tan tung zum Geheimnisverrat – sozusagen unter ausdrückli- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: cher Billigung des Gesetzgebers – noch weiter zu öffnen. Ich sage nur: „Hanseln“! – Jerzy Montag (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!) neten der SPD) und einzelne Kritiker als „Hanseln“ bezeichnet hat. Ich sage: Wir sollten das nicht tun. Ein Journalist, der (B) (D) (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) zum Geheimnisverrat anstiftet, darf sich nicht auf den Schutz durch die Pressefreiheit berufen können. Jetzt hat sich herausgestellt, dass zumindest sieben die- ser „Hanseln“ Richter am Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht hat schon im „Spie- sind. Das „Cicero“-Urteil ist nicht nur eine Ohrfeige für gel“-Urteil, aber auch in der „Frontal“-Entscheidung be- tont, dass es eine Mitverantwortung der Presse für die diejenigen, die in Brandenburg für das Ermittlungsver- Sicherheit des Staates gibt. Hierbei geht es um die Ab- fahren verantwortlich waren, sondern auch – das muss wägung der Pressefreiheit gegen das Recht des Bürgers man ganz klar sagen – für den früheren Bundesinnenmi- auf Sicherheit. Die journalistische Ethik verlangt, dass nister. man die Folgen seines Tuns selbstkritisch prüft. Ein Bei- (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) spiel: In dem entsprechenden „Cicero“-Artikel hat der Autor Handynummern von al-Qaida-Führern veröffent- – Lieber Herr Kollege Tauss, Sie wissen ganz genau, licht. Das war für die Geschichte unter journalistischen dass das ein unpassender Zuruf ist; Gesichtspunkten nicht zwingend. Aber dadurch wurden (Jörg Tauss [SPD]: Schäuble ist eine Steige- Operationen und womöglich auch Quellen des BND rung von Schily! – Dr. Peter Danckert [SPD]: massiv gefährdet. – Daran wird deutlich: Wir brauchen im Journalismus eine Kultur der Selbstverantwortung Was erzählen Sie denn da?) und in besonderen Fällen – wenn die Grundrechte Dritter denn der Kollege Körper hat sowohl gestern als auch auf dem Spiel stehen – auch eine Kultur der Selbstbe- heute erklärt, dass man, was die Onlinedurchsuchungen schränkung. anbetrifft, auf einem sehr guten Weg ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der SPD – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE Das hört sich aber sehr schlecht an!) GRÜNEN]: Dagegen haben wir gar nichts!) Vielleicht fragen Sie einmal bei ihm nach. Wir werden in Durch die „Cicero“-Entscheidung wurde die Freiheit für der Koalition zu sachgerechten Ergebnissen kommen. Journalisten gestärkt. Aber das zwingt die Journalisten, sorgfältig mit dieser Freiheit umzugehen. Verantwortli- Ich kann mir angesichts des Urteils des Bundesverfas- cher Journalismus kann eben auch darin bestehen, dass sungsgerichts nicht vorstellen, dass in Zukunft noch ein- man nicht alles veröffentlicht, was man weiß. mal in dieser Weise eine Durchsuchung bei einem Jour- nalisten wegen des Verdachts der Beihilfe zum (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Geheimnisverrat vorgenommen wird. Ich meine, man Thierse) 9874 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Reinhard Grindel (A) Wir werden den Gesetzentwurf ablehnen, weil die (Beifall bei der LINKEN) (C) vorgeschlagenen Regelungen nicht sinnvoll sind. Aber festhalten will ich gleichwohl – um deutlich zu machen, Deshalb will Die Linke, dass Journalistinnen und Jour- dass wir an dieser Stelle nicht unterschiedlicher Mei- nalisten auch nicht mehr wegen Beihilfe zum Geheim- nung sind –: Das eigentliche Problem der undichten Stel- nisverrat belangt werden können. len in Sicherheitsbehörden sind nicht die Journalisten, (Beifall bei der LINKEN – Joachim Stünker [SPD]: Denn sie wissen nicht, was sie tun!) (Beifall bei der FDP) Aktuell kursieren hier im Parlament drei Anträge – sondern Mitarbeiter, die mit Indiskretionen unserem alle von der Opposition, also ein Antrag der FDP, einer Staat und der Sicherheit seiner Bürger schweren Scha- von den Linken und einer von Bündnis 90/Die Grünen. den zufügen. Das sind keine Kavaliersdelikte. Alle drei sind auf die Stärkung der Pressefreiheit gerich- Um diese undichten Stellen aufzuspüren, stehen unse- tet und auf den Schutz von Journalistinnen und Journa- ren Sicherheitsbehörden vielfältige Maßnahmen zur Ei- listen vor staatlichen Eingriffen. Dies sage ich auch mit gensicherung zur Verfügung. Aber Zielobjekt muss da- Blick auf die Gelüste des Bundesinnenministers, Kom- bei immer der untreue Beamte sein. Der Umweg über munikationsdaten zu horten und Computerdaten online den Journalisten, um an undichte Stellen zu kommen, ist beschlagnahmen zu lassen. Die Linke lehnt das ab. ein Holzweg. Wer glaubt, so unseren Rechtsstaat schüt- (Beifall bei der LINKEN) zen zu müssen, wird ihn in Wahrheit schwächen. Das wollen wir nicht. Die Pressefreiheit hat einen ganz ho- Stattdessen schlägt Die Linke zur Stärkung der Pres- hen Rang, den wir bei der Gesetzgebung mit beachten. sefreiheit Änderungen im Strafgesetzbuch vor. Wir wollen damit ausschließen, dass die Veröffentlichung Herzlichen Dank. von Informationen durch Journalistinnen und Journalis- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ten gegen diese gewendet und als Beihilfe zum Geheim- nisverrat geahndet werden kann. Wir wollen also mehr Rechtsklarheit. Vizepräsident Dr. h. c. : Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Dabei gehen wir einen Schritt weiter als Bündnis 90/ Linke. Die Grünen mit ihrem Antrag. Wir wollen alle, die Me- dien machen, vor dem Vorwurf der Beihilfe zum Ge- heimnisverrat schützen und nicht nur diejenigen, die Petra Pau (DIE LINKE): hauptberuflich als Journalisten tätig sind. Wir meinen (B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nämlich, das Grundrecht auf Pressefreiheit ist nicht an (D) Pressefreiheit ist für die Demokratie unverzichtbar. Das einen besonderen journalistischen Status gebunden, son- ist ein Schulsatz. Der Umkehrschluss heißt: Eingriffe in dern gilt generell. die Pressefreiheit und Angriffe auf den besonderen Schutz von Journalistinnen und Journalisten sind Ein- (Beifall bei der LINKEN) griffe in die Demokratie. Es gibt sie dennoch – nicht als Es gibt einen weiteren Punkt, den wir in unserem Ent- Novum, sondern wiederkehrend. Deshalb befassen wir wurf klarer gefasst haben; er betrifft die Strafprozess- uns heute hier mit diesem Thema. ordnung. Die Beschlagnahme in Redaktionsräumen darf nur durch eine Richterin oder einen Richter angeordnet Aktuell geht es um den Fall „Cicero“, ein Magazin, werden. Bei Beschlagnahmen in Privaträumen von Jour- dessen Redaktionsräume durchsucht wurden. Außerdem nalistinnen und Journalisten reicht zumeist eine Anord- kam es in den Privaträumen zweier Journalisten zu um- nung der Staatsanwaltschaft oder einer von ihr befugten fangreichen Beschlagnahmen – angeblich, weil sie sich Person. Auch das ist widersinnig. So entsteht Pressefrei- strafbar gemacht hätten, indem sie aus einer geheimen heit und Informantenschutz erster und zweiter Ordnung. Akte zitiert hätten. Tatsächlich wollte man – das wurde hier schon angesprochen – das Sicherheitsleck, also den Wir wollen, dass möglichst keine Razzien und Be- Informanten, finden. So weit die Rechtfertigung für schlagnahmungen stattfinden. Wenn dennoch eine gut diese Maßnahmen! begründete Ausnahme greift, dann generell nur auf An- ordnung einer Richterin oder eines Richters. Auch da- Der Fall „Cicero“ hat mediale Wellen geschlagen. Er rauf zielen unsere Vorschläge ab. ließ bei allen, denen die Pressefreiheit wichtig ist, die Glocken läuten. Er wird auch im Parlamentarischen Un- Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch tersuchungsausschuss noch eine Rolle spielen; denn eine Bemerkung. Es gibt Vertrauensberufe, die einen auch hier stellt sich die Frage: Wurden im sogenannten besonderen Schutz genießen und deshalb privilegiert Antiterrorkampf Grund- und Bürgerrechte suspendiert werden: Ärzte, Anwälte, Geistliche, auch Journalistin- und wenn ja, durch wen? nen und Journalisten. Sie besitzen diese Privilegien nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Schutz der Bürge- Es geht um Geheimnisverrat. Geheimnisverrat kön- rinnen und Bürger und der Demokratie. Wir dürfen nen nur Geheimnisträger begehen, die zur Geheimhal- schon aus Eigennutz nicht zulassen, dass diese Rechte tung verpflichtet sind. Journalisten sind das nicht. Sie beschnitten werden. sind vielmehr der Öffentlichkeit verpflichtet; das ist ihr Part. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9875

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ veröffent- (C) Ich erteile das Wort nun Kollegen Jerzy Montag, licht jedes Jahr eine Rangliste der Pressefreiheit. Im vor- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. letzten Jahr rutschte die Bundesrepublik Deutschland von Platz 11 auf Platz 18. Letztes Jahr rutschte die Bun- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): desrepublik Deutschland von Platz 18 auf Platz 23 dieser Rangliste. Dabei wurde die Bundesrepublik Deutschland Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor genau wegen der Maßnahmen gegen einzelne Journalisten und einer Woche, am 3. Mai, fand weltweit der Tag der Pres- wegen Redaktionsdurchsuchungen ausdrücklich negativ sefreiheit statt. Deswegen finde ich es angemessen, dass erwähnt. wir das Hohelied auf den angeblich so guten Zustand der Pressefreiheit, wie es die Bundesregierung hier gesun- Zum Schluss: Die OSZE hat ebenfalls im Mai einen gen hat, einmal mit der Realität konfrontieren. Zustandsbericht über die Pressefreiheit in den Mitglied- staaten veröffentlicht. Von den 56 Mitgliedstaaten der (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Ich OSZE wurde 20 Staaten eine befriedigende Situation bei habe nicht gesungen! – Dr. Peter Danckert der Pressefreiheit bescheinigt. Leider gehörte die Bun- [SPD]: Die Realität des Jerzy Montag! Er desrepublik Deutschland nicht zu diesen 20, sondern zu weiß, was die Realität ist!) denjenigen, die von der OSZE gerügt worden sind. Ein Die Realität zeigt eine durchaus schlechte Situation ausdrücklich erwähntes negatives Beispiel waren die für die Pressefreiheit in Deutschland. Die Verfolgung Hausdurchsuchungen in Redaktionen in Deutschland. von Journalisten geht auch im Jahr 2007 unvermindert weiter. Im Januar hat die Staatsanwaltschaft in Hamburg Deswegen sagen wir Grünen auch heute: Es besteht gegen Journalisten des „Stern“ und von „Financial dringender Handlungsbedarf. Unser Gesetzentwurf ist Times Deutschland“ neue Verfahren, wieder wegen Bei- jetzt über ein Jahr in der Beratung. Vor über einem Jahr, hilfe zur Verletzung des Dienstgeheimnisses, eingeleitet. am 16. März 2006, hat es hier eine Debatte gegeben. Da Der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger hat deswe- hat der Kollege Stünker für die SPD ebenfalls erklärt, gen im Februar dieses Jahres über einen eklatanten Ein- dass es Handlungsbedarf gibt. Er hat unsere materielle griff in die Pressefreiheit geschrieben und – damit geht Lösung abgelehnt und – im Gegensatz zum Kollegen er sogar weiter als die Forderungen der Grünen – die Ab- Kauder von der eigenen Koalition – schaffung des Straftatbestands des Geheimnisverrats ge- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Was? Das fordert. glaube ich nicht!) (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das wäre schön! gesagt, dass im Strafprozess Reformen notwendig sind. (B) Das kann ich mir vorstellen!) Zu mir, mit Verlaub, Herr Kollege Stünker, haben Sie ge- (D) Als Anfang dieses Jahres, Herr Kollege Danckert, die sagt: Gemach, Gemach, Herr Montag, bis zum Sommer Pläne der Großen Koalition, die Vorratsdatenspeiche- wird es einen Entwurf mit einer Novellierung geben. rung einzuführen, bekannt geworden sind, hat es eine Er- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Es ist doch noch klärung von 27 gesellschaftlichen Verbänden der Bun- gar nicht Sommer!) desrepublik Deutschland gegeben, unter ihnen der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger, der Ver- – Es war aber das Jahr 2006, das gemeint war. Jetzt sind band Deutscher Zeitschriftenverleger, die Deutsche wir im Jahr 2007 und haben immer noch keinen Entwurf Journalisten-Union und der Deutsche Journalisten-Ver- von Ihnen. band. Alle diese Organisationen haben wörtlich von ei- ner Untergrabung journalistischer Quellen und einer Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – schädigung der Pressefreiheit im Kern in Deutschland Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Es gibt doch je- gesprochen. des Jahr einen Sommer, Herr Montag!) (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das wird deshalb Nun, lieber Herr Kollege Kauder, zu dem, was Sie vor nicht richtiger!) über einem Jahr gesagt haben. Meiner Meinung nach ha- ben Sie sich damit in einer unglaublichen Weise diskre- Im Mai hat sich der Bundesverband der Freien Berufe ditiert. Sie haben uns Grünen vor über einem Jahr vorge- – in ihm sind die Dachverbände der Anwaltschaft, der worfen, wir würden Kriminelle unterstützen, Ärzteschaft und der Journalisten zusammengefasst – zu Wort gemeldet; er sieht in seiner Erklärung vom 3. Mai (Jörg Tauss [SPD]: Was?) die Pressefreiheit in Deutschland ernsthaft durch fol- gende Maßnahmen der Großen Koalition bedroht: Tele- weil unser Gesetzentwurf sich ausdrücklich nur auf den fonüberwachung, Vorratsdatenspeicherung, Reform des Schutz der „Cicero“-Journalisten richten würde, und Zollfahndungsdienstgesetzes, Überlegungen zur Online- haben wortwörtlich gesagt, unser Vorgehen sei „eine Un- durchsuchung. Der Bundesverband der Freien Berufe verschämtheit gegenüber den Ermittlungsbehörden“. spricht davon, dass der Informantenschutz und das Wenn Sie die Zitatstelle wissen wollen, nenne ich sie Ih- Zeugnisverweigerungsrecht der Journalisten in Deutsch- nen: Protokoll vom 16. März 2006, Seite 1 993. Auf Zi- land ernsthaft in Gefahr sind. tate sind Sie ja scharf. Nun hat sich herausgestellt, lieber Kollege, dass das Bundesverfassungsgericht genau das, (Joachim Stünker [SPD]: Das wissen Sie doch gegen das wir vorgegangen sind, als eine Unverschämt- besser!) heit bezeichnet hat, nämlich die verfassungswidrigen 9876 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Jerzy Montag (A) Angriffe gegen die Journalisten durch die Ermittlungs- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (C) behörden. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Belege haben Sie selbst geliefert!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bitte Sie, Herr Kollege Montag, dass wir die Debatte – dazu bin ich bereit – sachlich führen und uns über Ein- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zelheiten Ihres Gesetzentwurfs, den Sie hier fast ver- Herr Kollege Montag, Ihre Redezeit ist zwar zu Ende, schwiegen und in den letzten 30 Sekunden Ihrer Rede- aber Sie haben die Chance, sie zu verlängern, wenn Sie zeit gerade noch erwähnt haben, unterhalten, statt zu eine Zwischenfrage zulassen. polemisieren und alle möglichen Stimmungen zu erzeu- gen. Ihre Argumentation ist schlicht absurd. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn Sie wollen, dass wir, wie es, glaube ich, Frau Mit einer großen Freude. Pau angedeutet hat, auf Geheimnisse verzichten und al- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das kann ich mir les der Öffentlichkeit zugänglich machen, ist das eine vorstellen! – Heiterkeit) andere Debatte. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ Das habe ich doch gar nicht gesagt!) CSU): Ich meine, dass unser Staat ein Recht darauf hat, be- Herr Kollege Montag, würden Sie bitte exakt zitieren, stimmte Dinge als Geheimnis zu deklarieren und den wo in meiner Rede ich Ihnen vorgehalten habe, Sie wür- Verrat dieser Geheimnisse in jedem Fall unter Strafe zu den Kriminelle unterstützen. Ich verwahre mich gegen stellen. diese Behauptung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DIE GRÜNEN]: Das haben wir doch gar nicht Herr Kollege, ich werde Ihnen die Fundstelle sofort infrage gestellt!) nachliefern. Sie liegt auf meinem Tisch. Es ist auf jeden Fall die Seite 1 993 des Bundestagsprotokolls vom Dem Kollegen Grindel muss ich allerdings sagen: 16. März 2006. Dort können Sie das, wenn Sie wollen, Wenn Sie unseren ehemaligen Innenminister Otto Schily nachlesen. für das, was vor dem Hintergrund des Falls „Cicero“ ge- schehen ist, verantwortlich machen, dann kann ich Ihre (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] Auffassung überhaupt nicht teilen und weise sie zurück. (B) [CDU/CSU]: Wenn Sie solche Vorwürfe ma- (D) chen, bitte ich Sie, die zu belegen!) ( [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Gefeiert hat er das Ganze! Ich muss jetzt, weil der Präsident mich schon auf die Lesen Sie doch einmal nach!) Zeit hingewiesen hat, zu meinem letzten Satz kommen. – Ich weiß, dass die Große Koalition unseren Gesetzent- Ich bin sehr wohl der Meinung – insofern nähern wir uns wurf heute ablehnen wird. Aber wir werden auch nach vielleicht an –, dass man sich politisch darüber streiten dieser Abstimmung dranbleiben; denn das sind wir der kann, ob die Ermächtigung zur Strafverfolgung vom Pressefreiheit und den Journalisten in Deutschland August 2005 der richtige Weg war. Darüber kann man so schuldig. Wir werden die Debatte fortführen und unsere oder so entscheiden; der Innenminister hat sich für die Ideen weiter in den Bundestag einbringen, um die Situa- Ermächtigung entschieden. Aber was danach gelaufen tion für die Presse und die Journalisten in Deutschland ist, liegt nicht im Verantwortungsbereich des damaligen zu verbessern. Innenministers, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jerzy Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Gute Sache!) Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat doch selber mit den Zeitungsverlegern ge- redet!) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Peter Danckert, SPD- der ja nicht den Antrag auf Durchsuchung und Beschlag- Fraktion. nahme gestellt hat und auch nicht für die Entscheidung des Landgerichts Potsdam zuständig war. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)

Dr. Peter Danckert (SPD): Da sollten wir die Kirche im Dorf lassen, damit wir vernünftig miteinander diskutieren können. Der Fall Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Cicero“ ist in der Tat der Ausgangspunkt gewesen; da- Wenn man den Kollegen Montag hier so reden hört, rüber gibt es gar keine Debatte. dann hat man den Eindruck, dass in Deutschland jeden Tag die Pressefreiheit von den staatlichen Organen Poli- Dass das Bundesverfassungsgericht in den letzten zei und Staatsanwaltschaft kujoniert und verfolgt wird. 50 Jahren immer wieder einmal Grund hatte – das kann Das ist ein geradezu absurdes Bild, das Sie hier zeich- man ja nachlesen –, korrigierend einzugreifen, liegt in nen. der Natur unserer grundgesetzlichen Regelung. Wir ha- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9877

Dr. Peter Danckert (A) ben in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz die Pressefrei- dungen aus Potsdam gab, damit das Bundesverfassungs- (C) heit, die aber – um das einmal verkürzt auszudrücken – gericht die Verfassungsbeschwerde, die ein kluger An- in keiner Weise schrankenlos ist, sondern nach Art. 5 walt, der mein Schüler war, eingereicht hat – – Abs. 2 Grundgesetz durch allgemeine Gesetze durchaus eingeschränkt werden kann. (Heiterkeit bei der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Da kann man einmal sehen, wie (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sich Lehrer und Schüler unterscheiden! – Jerzy NEN]: Ein Glück, dass Sie das noch erwäh- Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So nen!) kommt es heraus!) Dass das wiederum nicht heißen kann, dass mit den – Jetzt kommt es heraus. Da können Sie einmal sehen, allgemeinen Gesetzen die Pressefreiheit generell desa- aus welchem Hause ich und meine Mitarbeiter stammen. vouiert und eingeschränkt werden kann, liegt auch in der Aber jetzt lassen wir das einmal beiseite. Natur dieser verfassungsrechtlichen Vorschriften, die dann im Lichte des gesamten Grundgesetzes ausgelegt Das ist der Ausgangspunkt. Aber das, was Sie popu- werden. Das ist gang und gäbe und nichts Besonderes. listisch mit Ihrem Antrag daraus gemacht haben, geht So kommt es immer wieder zu einem solchen Konflikt weit über das Ziel hinaus. Es ist in meinen Augen – das zwischen den allgemeinen Gesetzen und unseren grund- trifft auch auf andere zu, die sich dazu geäußert haben – rechtlichen Bestimmungen, insbesondere im Bereich des geradezu absurd, die Anstiftung herauszunehmen. Wel- Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz. Das ist die Ausgangs- ches rechtsstaatliche Verständnis haben Sie eigentlich, lage. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich verhehle nicht – das habe ich an anderer Stelle wenn der Journalist, der den Geheimnisträger zum Ge- auch schon gesagt –, dass mir diese Entscheidungen vom heimnisverrat anstiftet, in Zukunft straflos bleiben soll, Potsdamer Amtsgericht, Landgericht und in der Folge weil das nach Ihrer Meinung keine rechtswidrige Tat ist? dann übrigens auch vom Brandenburger Justizministe- Da stellen Sie unser ganzes Rechtssystem – jedenfalls rium, das das alles noch gutgeheißen hat, in keiner Weise das Strafrechtssystem – auf den Kopf. Sie hätten lieber gefallen haben. noch ein paar Minuten länger nachdenken sollen, bevor (Beifall bei der SPD) Sie das vorschnell in eine Richtung lenken, die unser materielles Strafrecht auf den Kopf stellt. Wenn aber hier die Debatte so geführt wird, als seien die Journalisten die weißen Schafe, die zu schwarzen ge- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: macht werden – nämlich zu Straftätern –, dann ist das Jetzt übertreiben Sie doch wieder!) (B) (D) jenseits der Realität. Dasselbe gilt im Grunde genommen für die Beihilfe. Wir haben auf der einen Seite den Geheimnisträger, Ich kann wirklich nicht ernsthaft erkennen, warum Jour- der das Gespräch mit dem Journalisten sucht oder ange- nalisten ein Privileg haben sollen, das andere Menschen, sprochen wird. Das ist doch die Realität, die wir viel- die durchaus wegen Anstiftung und Beihilfe bestraft leicht nicht immer in allen Details so belegen können. werden sollen, nicht haben. Wenn sie sich korrekt ver- Aber es ist ja nicht so, dass sie sich zufällig in der Bahn halten, dann haben sie an dieser Stelle nichts zu befürch- treffen und dann miteinander über Geheimnisse – Staats- ten. geheimnisse – reden. Vielmehr spricht der eine den an- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) deren ganz bewusst an, und zwar nicht in dem Sinne, dass da nur ein feines Hintergrundgespräch geführt wird, Ein solches Privileg wäre absurd. sondern mit der Absicht, etwas in die Öffentlichkeit Sie wollen den § 353 d Nr. 3 des Strafgesetzbuches dringen zu lassen oder – auf der anderen Seite – etwas zu streichen, weil er angeblich keine praktische Relevanz veröffentlichen. hat. Nach diesem Kriterium könnte man noch ganz an- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der dere Strafnormen abschaffen. CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Endlich einmal eine lebensnahe Darstellung NEN]: Dann machen wir das doch! Es wäre der Vorgänge!) nicht schlecht, wenn man etwas abschaffen An dieser Nahtstelle befinden wir uns in der Tat. Das würde!) Bundesverfassungsgericht hat, wie ich meine, sehr fein- Wir lassen aus guten Gründen alles so, wie es ist. Jour- sinnig entschieden, dass, soweit es keinen belegbaren nalisten haben kein Recht darauf, besonders privilegiert Verdacht gibt, dass der Journalist den Geheimnisträger zu sein. Sie hingegen wollen an dieser Stelle eine Neure- angestiftet oder ihm Beihilfe zugesagt hat, man mit gelung. Durchsuchungen sehr vorsichtig sein muss. Das ist eine gute, positive und notwendige Entscheidung, über die Ich lasse mit mir darüber reden – wir werden sehen, wir uns, glaube ich, an dieser Stelle nicht unterhalten wie die Diskussion läuft –, im Bereich des Verfahrens- müssen. Es ist ein Segen, dass wir das Verfassungsge- rechts einige Punkte – ich sage ganz vorsichtig: mögli- richt haben! Ich würde vielleicht sogar sagen, dass es in- cherweise – zu verändern und zu verbessern. Ich meine sofern – insofern! Nur, dass wir uns an dieser Stelle nicht schon, dass nicht nur die Redaktionsräume einen beson- missverstehen – gut ist, dass es diese beiden Entschei- deren Schutz genießen, sondern – ich sage wieder ganz 9878 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Dr. Peter Danckert (A) vorsichtig: möglicherweise – auch der Arbeitsplatz zu Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ (C) Hause. CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! FDP) Wir haben heute in den Reden viel über Pressefreiheit gehört. Das ist auch gut so. Denn Pressefreiheit gehört Denn immer mehr Menschen arbeiten zu Hause, sie ar- zu einem demokratischen Staat und ist zu Recht grund- beiten unter anderen Bedingungen, als das noch vor Jah- rechtlich geschützt. ren der Fall war. Darüber kann man reden. Wir haben aber, so glaube ich, zu wenig über innere In § 98 der Strafprozessordnung wollen Sie ganz neue Sicherheit gesprochen. Denn die Pressefreiheit steht in Begriffe einführen. einem natürlichen Spannungsverhältnis zur inneren Sicherheit. Nicht nur die Presse braucht Informationen (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und geschützte Informanten, auch die Ermittlungsbehör- NEN) den brauchen Informationen und geschützte Informan- Sie haben die Begrifflichkeit der Strafprozessordnung ten. Wer sich für dieses Spannungsverhältnis im Detail sozusagen beiseite gelegt und erfinden neue Begriffe. interessiert, dem kann ich nur das Nachlesen der Ent- Das ist an dieser Stelle nicht hilfreich. scheidung des Bundesverfassungsgerichts im 107. Band, Seite 299 ff. empfehlen, in der es um die Frage der Erhe- Der entscheidende Punkt ist, dass die Staatsanwälte bung von Telekommunikationsdaten gegangen ist. darauf hingewiesen werden, dass sie präzise Anträge zu stellen haben, wenn es um Durchsuchungs- und Be- In diesem Fall wurde ein Terrorist gesucht, dem drei schlagnahmeanordnungen geht. Das sollten sie eigent- Morde zur Last gelegt wurden und der irgendwo in Eu- lich nach dem zweiten Staatsexamen gelernt haben. ropa abgetaucht war. Durch die Erhebung der Telekom- munikationsdaten bei einer „Stern“-Reporterin ist es ge- lungen, den Aufenthaltsort dieses Terroristen ausfindig Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und ihn dingfest zu machen. Weil er sich für die Kron- Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. zeugenregelung entschieden hat, wurde er nicht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, sondern zu einer Freiheits- Dr. Peter Danckert (SPD): strafe von neun Jahren verurteilt. Ich komme zum Ende. – Dass das nicht immer der Das Bundesverfassungsgericht hat in der von mir be- Fall ist, kennen wir auch aus anderen Gebieten. Wie Ab- reits zitierten Entscheidung die Erhebung von Telekom- (B) geordnete bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen fehl- munikationsdaten für verfassungsrechtlich unbedenklich (D) bar sind, so können auch Richter und Staatsanwälte fehl- angesehen. bar sein. Aber ich halte es nicht für richtig, übertrieben zu reagieren. Wir werden mit dem Telekommunikations- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Hört! Hört!) überwachungsgesetz eine Neuregelung auf den Weg bringen und gemeinsam darüber diskutieren: Ich finde es Darüber müssen wir auch einmal reden. Sowohl in die- richtig, was Frau Leutheusser-Schnarrenberger an dieser ser Entscheidung als auch in der „Cicero“-Entscheidung Stelle dazu gesagt hat. wurde verfassungsrechtlich nicht vorgegeben, dass im Bereich der Telekommunikationsüberwachung und im Bereich der Pressefreiheit irgendetwas geändert werden Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: müsse. Herr Kollege, Sie müssen jetzt wirklich zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit deutlich überzogen. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es ist ja nicht das erste Mal, dass Sie sich mit Pressefreiheit be- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aber es war fassen. gar nicht schlecht!) (Dirk Manzewski [SPD]: Rot-Grün?) Dr. Peter Danckert (SPD): – Entschuldigung, ich meine die Kollegen vom Bünd- Ich bedanke mich, Herr Präsident, dass Sie mich so nis 90/Die Grünen. lange haben reden lassen. Mit dem Kollegen Montag werde ich außerhalb dieser Debatte sprechen. (Heiterkeit bei der SPD) Vielen Dank. Aber auch die andere Variante stimmt. – Es ist, wie ge- sagt, nicht das erste Mal, dass Sie sich mit Pressefreiheit (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der befassen. Im Jahr 2001 – da war Rot-Grün an der Regie- CDU/CSU) rung – gab es einen Regierungsentwurf, in dem sehr be- hutsam vorgegangen wurde. Er nannte sich nämlich: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozess- Ich erteile das Wort Kollegen Siegfried Kauder, CDU/ ordnung“. Dahinter war das Anliegen der Pressefreiheit CSU-Fraktion. versteckt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Joachim Stünker [SPD]: Was?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9879

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) Dem Kollegen Montag kann ich dies nicht vorhalten, hörden das Abwägungsgebot nicht beachtet hätten. Die (C) weil er damals noch nicht im Bundestag saß, aber ande- Bundesverfassungsgerichtsentscheidung besagt, dass ren Abgeordneten vom Bündnis 90/Die Grünen. das Recht in Ordnung ist, das Recht aber deshalb nicht ordnungsgemäß angewendet worden ist, weil keine tat- Ich kann Ihnen sagen, was in diesem Gesetzentwurf sächlichen Anhaltspunkte für eine Haupttat gegeben wa- zugunsten der Pressefreiheit gemacht worden ist. Man ren. Drei Beispiele wurden genannt: Es kann ja sein, hat § 53 der Strafprozessordnung, also das Zeugnisver- dass eine Information versehentlich an die Presse weigerungsrecht, im sachlichen Bereich etwas geöffnet. gekommen ist, dass ein Nichtgeheimnisträger die Infor- Man hat in § 97 Abs. 5 der Strafprozessordnung, wo es mation weitergegeben hat oder dass es nur um eine Hin- um die Beschlagnahme und Durchsuchung geht, auf tergrundinformation ging, sodass kein Veröffentli- Art. 5 des Grundgesetzes und den Verhältnismäßigkeits- chungswille vorlag. Die Argumente, die Bündnis 90/Die grundsatz hingewiesen. Und, Herr Kollege Montag, Grünen für diesen Gesetzentwurf ins Felde führt, ste- mehr war nicht. chen also nicht. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NEN]: Mehr war nicht drin!) neten der SPD) Dieser Gesetzentwurf, der auch angenommen wurde, war seriös. Wie populistisch dieser Gesetzentwurf gestrickt ist, zeigt der Umstand – das habe ich dem Kollegen Montag Nun kam aus aktuellem Anlass das Bündnis 90/Die im Rechtsausschuss vorgehalten –, dass man auch Grünen auf einmal auf die Idee, das Thema Pressefrei- § 353 d Nr. 3 des Strafgesetzbuches abschaffen will. heit populistisch auszuschlachten. Am 12. September Diese Vorschrift verbietet, dass ein Nebenkläger den 2005 fand die Durchsuchung der Redaktionsräume Haftbefehl, der gegen den Beschuldigten ergangen ist, von „Cicero“ statt. Im Oktober des Jahres 2005 gab es im Internet veröffentlicht. einen Aufschrei in vielen Pressepublikationen, und we- nige Monate später präsentierte Bündnis 90/Die Grünen (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einen Gesetzentwurf, in dem exakt auf dieses Vorgehen NEN]: Nein, nur wortwörtlich!) gegen „Cicero“ Bezug genommen worden ist. Das ist eine Schutzvorschrift für Beschuldigte. Ist es (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht das Bündnis 90/Die Grünen, das sich immer zum Wir haben drei Monate gebraucht!) Vorreiter der Schutzvorschriften für Beschuldigte auf- spielt? In diesem Fall aber wirft man auf einmal alles „Cicero“ war also Anlass für eine Gesetzesänderung, die über den Haufen. Die materiell-rechtliche Lösung ist si- (B) man im Jahre 2001 so nicht für notwendig gehalten cherlich nicht der richtige Ansatzpunkt. Der richtige An- (D) hatte, obwohl sich die Sach- und Rechtslage überhaupt satzpunkt wäre allenfalls, sich Gedanken zu machen, wie nicht geändert hat. man im Prozessrecht etwas ändern kann. Nun hätte ich eigentlich erwartet, dass Kollege Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, was die Montag hier seinen ach so guten Gesetzentwurf präsen- Telekommunikationsüberwachung anbelangt, der Hin- tiert. Denkste wohl! Davon war nicht die Rede. Stattdes- weis: Auch das ist in trockenen Tüchern und verfas- sen ergeht er sich in Zitaten, die er mir noch belegen sungsrechtlich ordnungsgemäß ausgestaltet. Das ergibt muss und die so nicht stimmen; denn Kollege Montag sich sehr schön aus der bereits zitierten Entscheidung glaubt, mir vorhalten zu müssen, ich hätte in der ersten des Bundesverfassungsgerichts im 107. Band, Seite 299 ff. Lesung des Gesetzentwurfs vom Bündnis 90/Die Grü- nen erklärt, die Grünen würden Kriminelle unterstützen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So ist jeder Zeigen Sie mir, wo ich das gesagt habe! Für den Fall, von der Opposition bedient worden!) dass Sie das nicht können, erwarte ich von Ihnen, dass Sie sich für diese unwahre Behauptung angemessen ent- Über eines wird man sich unterhalten müssen: über schuldigen. die Beschlagnahme von Zufallsfunden bei Journalis- ten. Bezeichnenderweise war all das, was man im Fall (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) „Cicero“ gefunden hat, ein Zufallsfund. Bündnis 90/Die Grünen glaubt, populistisch einen Ich kann dem Kollegen Stünker nur beipflichten: Wir Diener vor der Presse machen zu müssen, indem man sind auf einem richtigen Weg. Sie werden den Entwurf meint, das materielle Recht auf den Kopf stellen zu kön- eines Gesetzes zur Telekommunikationsüberwachung nen: ein Sonderrecht für Journalisten zu schaffen, indem sehen. Lenken Sie Ihr Augenmerk besonders auf § 53 b man die Beihilfe und die Handlung der Anstiftung der Strafprozessordnung. zum Geheimnisverrat von Journalisten straffrei ausge- stalten will. Da wird es eine Regelung geben, die die Erhebung von Zufallsfunden bei Journalisten deutlich erschweren Ich hätte eigentlich erwartet, dass Bündnis 90/Die wird. Das, was Kollege Stünker in der ersten Lesung Grünen spätestens nach der „Cicero“-Entscheidung des versprochen hat, werden wir in einem gemeinsamen Ent- Bundesverfassungsgerichts den Gesetzentwurf wieder wurf umsetzen. einrollt oder zurückzieht; denn in der „Cicero“-Entschei- dung wurde selbst in diesem Fall gesagt, dass es nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- um das Problem gegangen ist, dass die Ermittlungsbe- neten der SPD) 9880 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) Populistisch gestrickte Gesetzentwürfe werden wir al- Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C) lerdings nicht unterstützen. Deswegen kann man den der FDP Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen nur ablehnen. Die Entwicklungszusammenarbeit mit Kenia (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) auf den Prüfstand stellen – Drucksachen 16/965, 16/2363 – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Berichterstattung: Ich schließe die Aussprache. Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen) Gabriele Groneberg Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf Dr. Karl Addicks eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Hüseyin-Kenan Aydin Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit in Straf- Ute Koczy und Strafprozessrecht. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5283, ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Addicks, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann, auf Drucksache 16/576 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand- Neue Strategien für die deutsche Entwick- zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der lungszusammenarbeit mit Afrika erarbeiten Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen und durchsetzen von CDU/CSU und SPD bei Enthaltung von FDP und Linkspartei gegen die Stimmen der Grünen abgelehnt. – Drucksache 16/5243 – Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- Überweisungsvorschlag: tere Beratung. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b so- Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und wie Zusatzpunkt 6 auf: Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss 6 Entwicklungspolitische Afrikadebatte Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartwig Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Fischer (Göttingen), Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (B) der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundes- (D) Groneberg, Dr. , Dr. Bärbel Kofler, ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD (Beifall bei der SPD) Für eine intensive wirtschaftliche und ent- wicklungspolitische Zusammenarbeit mit dem Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für afrikanischen Kontinent auf Augenhöhe wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Af- – Drucksache 16/5257 – rika ist in Bewegung. Wir können helfen, Gutes zu be- Überweisungsvorschlag: wirken. Die Menschen in Afrika wollen ihr eigenes Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Schicksal selbst voranbringen. Wir waren in den letzten Entwicklung (f) Tagen zusammen mit einer Delegation der Parlamenta- Auswärtiger Ausschuss rier in der Demokratischen Republik Kongo. Dort gibt Innenausschuss es – Sie wissen das – seit letztem Jahr eine gewählte Re- Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gierung. Wir, Deutschland, haben mitgeholfen, dass die Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Wahlen dort stattfinden konnten und dass heute eine Verbraucherschutz Regierung existiert. Wir haben dazu beigetragen, die Ausschuss für Arbeit und Soziales Wahlen zu sichern. Alle Menschen, die uns im Kongo Verteidigungsausschuss begegnet sind, haben gesagt: Wir danken Ihnen, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Deutschen, wir danken der EUFOR und auch der Bun- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit deswehr, dass sie diesen Einsatz geleistet haben. Sonst Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe wäre der Kongo heute wieder im Bürgerkrieg. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE Haushaltsausschuss GRÜNEN]) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Aber der Kongo ist längst nicht über den Berg. Die richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Menschen müssen in ihren positiven und zukunftswei- sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) senden Anstrengungen unterstützt werden. Das ist einer zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl der Gründe, warum wir als Zeichen einer Dividende des Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner Friedens einen Friedensfonds für die Demokratische Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9881

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Republik Kongo in Höhe von rund 50 Millionen Euro (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (C) für mehrjährige Maßnahmen in Aussicht gestellt haben. CDU/CSU) Wir wollen dazu beizutragen, dass junge Menschen un- Es geht aber auch darum, das System der Mikro- mittelbar Beschäftigung finden, dass die Infrastruktur kredite voranzubringen. Die Kollegen, die mit in Afrika wiederhergestellt wird und dass damit auch die Wirt- waren, werden dieses Thema bestimmt aufgreifen. In schaft und die demokratische Entwicklung vorankom- Kinshasa haben wir mit dem Team der Pro-Credit-Bank men. Das ist eine Hilfe zur Selbsthilfe, die – wie wir hof- gesprochen. Die deutsche Entwicklungszusammenar- fen – dazu beitragen wird, dass der Kongo über den Berg beit hat mit 1,4 Millionen Euro – das ist, verglichen mit kommen kann. der Gesamtsumme, ein sehr geringer Anteil – dazu bei- Es geht für die Menschen auf dem ganzen Kontinent getragen, dass diese Bank zur größten Bank im Kongo um sichtbare Erfolge. Es geht um politischen, ökonomi- wurde. Diese Bank führt mittlerweile 22 000 Sparkonten schen und sozialen Fortschritt. Herzstück der politischen und hat seit 2005 3 000 neue Kleinkreditkunden. Dahin- Bewegung Afrikas ist zum einen NEPAD, die Partner- ter stehen Tausende von Existenzen, Menschen, die eine schaft der Reformstaaten, und zum anderen die Afrika- Zukunft haben. Wir haben dazu beigetragen, diese Hilfe nische Union. Sie ist der entscheidende Ansatz, die ent- zur Selbsthilfe in Gang zu setzen. Das ist wunderbar. scheidende Institution, die politische Lösungen auf dem Wir wünschen den Menschen den Erfolg, den sie ver- Kontinent voranbringt. dient haben. Wir haben auf der Reise deutliche Beispiele der neuen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – politischen Selbstständigkeit erlebt. Dazu zähle ich übri- Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: gens auch, dass das Vorgehen Chinas keineswegs unkri- Und das in anderthalb Jahren!) tisiert hingenommen wird – das ist ein gutes Zeichen für – Und das in anderthalb Jahren. Danke, Herr Fischer. – die afrikanischen Staaten – und dass der Dialog zwi- Auf dem G-8-Gipfel wollen wir diesen Weg mit einer schen Regierung, Opposition und Zivilgesellschaft als zusätzlichen Initiative zur Stärkung der Mikrofinanzin- notwendig betrachtet wird. stitutionen in Afrika fortsetzen. Gleichzeitig geht es um ökonomische Fortschritte. Es geht aber auch um soziale Fortschritte. Wir sollten Weil das immer wieder hinterfragt wird, will ich an die- die Erfolge nicht kleinmachen, sondern klarmachen. Ich ser Stelle sagen: Wir halten die Zusage, die Mittel für die will an dieser Stelle noch einmal daran erinnern: Auf- Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika bis zum Jahr grund des Schuldenerlasses, der im Jahr 1999 für die 2010 zu verdoppeln, ein. Das gilt gleichfalls für den in ärmsten Entwicklungsländer beschlossen worden ist, ge- Gleneagles beschlossenen Schuldenerlass. hen heute 20 Millionen Kinder zusätzlich in die Schule. (B) (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das sind 20 Millionen Perspektiven, Hoffnungen und Chancen mehr. Das ist ein wunderbares Ergebnis. Diese Das sind wir den Menschen in den afrikanischen Län- Menschen haben nun Hoffnung und eine Zukunftsper- dern und unserer eigenen Glaubwürdigkeit schuldig. spektive. Natürlich geht es aber auch darum, dass die Ressour- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) cen der Partnerländer gestärkt werden. In diesem Zu- Wir haben uns vorgenommen, auf dem G-8-Gipfel sammenhang will ich die Demokratische Republik diesmal die Entwicklung der Gesundheitssysteme in den Kongo nennen. Die Steuern, die dort erwirtschaftet wer- Mittelpunkt zu rücken, insbesondere zusätzliche Finanz- den, gehören den Menschen in den betroffenen Ländern mittel für HIV/Aids vorzusehen. und sollten nicht als Finanzpaket auf Nummernkonten im Ausland aufbewahrt werden. Zum Schluss: Es gibt viele Vorurteile über Afrika, die überhaupt nichts mehr mit der Lebenswirklichkeit zu tun (Beifall bei Abgeordneten der SPD) haben. Für Afrikas Zukunft stehen nicht Diktatoren, Deshalb müssen wir alles tun, damit die Einnahmen, die auch nicht Diktatoren im Endstadium, sondern viele krea- mit der Rohstofferzeugung erwirtschaftet werden, tat- tive Menschen und Persönlichkeiten wie Desmond sächlich in den Landeshaushalt, zum Beispiel des Tutu, Nelson Mandela und Kofi Annan sowie eine neue Kongo, fließen und für den Wiederaufbau eingesetzt Generation von Politikerinnen und Politikern wie der werden können. ghanaische Präsident Kufuor oder die liberianische Prä- sidentin Ellen Johnson-Sirleaf oder Donald Kaberuka, Ich will daran erinnern, dass die potenziellen Steuer- Chef der Afrikanischen Entwicklungsbank. einnahmen im Kongo allein im Rohstoffsektor Das Afrika der Vergangenheit hat Kolonialismus und 400 Millionen US-Dollar jährlich betragen, bisher aber den Kalten Krieg erlitten. Das Afrika der Zukunft steht noch nicht einmal ein Zehntel dieser Summe tatsächlich für globale Partnerschaft. Wir wollen dazu beitragen, in den Haushalt einfließt. Wir haben uns vorgenommen, dass diese Partnerschaft geschlossen wird. Ich möchte auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm dazu beizutragen, auch da mit Kofi Annan enden, der, als er hier in Berlin dass die Transparenzinitiativen im Bereich Rohstoffer- der Kanzlerin die Bewertungen der Umsetzung der Ziele zeugung von allen G-8-Ländern unterstützt werden, und von Gleneagles übergeben hat, gesagt hat: zwar sowohl finanziell als auch politisch. Das ist ein ak- tiver Beitrag zur Förderung der Transparenz der Ich glaube, dass Krieg in Europa heute undenkbar Finanzströme. ist, und das, obwohl dies ein Kontinent ist, der zwei 9882 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Weltkriege gesehen hat. Ich hoffe, dass meine Kin- Wir Liberale machen mit den heute von uns einge- (C) der oder ihre Enkelkinder morgen sagen werden, brachten Anträgen deutlich, dass die deutsche Afrika- dass Krieg in Afrika undenkbar ist. entwicklungspolitik von Taten und nicht von Worten ge- prägt sein sollte, dass wir die neuen reformerischen Ich denke, wir sollten gemeinsam in diese Richtung ar- Kräfte in Afrika, die sichtbar sind, unterstützen müssen beiten. und dass wir uns in der Diskussion über eine verbesserte Vielen Dank. entwicklungspolitische Strategie nicht in der Forderung nach mehr Geld festfahren dürfen. Mehr Geld ist gut; (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) aber besser ist es, wenn das verfügbare Geld erst einmal effizient eingesetzt wird. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Ich erteile das Wort Kollegen Karl Addicks, FDP- CDU/CSU) Fraktion. Frau Ministerin, es ist erfreulich, dass Sie in den (Beifall des Abg. Hellmut Königshaus [FDP]) Kongo fahren und dort 50 Millionen Euro für einen Friedensfonds zusagen. Es ist richtig, dass der Kongo Dr. Karl Addicks (FDP): dieses Geld dringend braucht, und 50 Millionen Euro Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und sind auch kein Pappenstiel. Aber noch besser wäre es ge- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Afrika steht wesen, wenn direkt oder sehr bald nach der Wahl im derzeit tatsächlich sehr hoch im Kurs, die Präsenz von Kongo, die, von EUFOR unterstützt, erfolgreich durch- Afrikathemen ist beachtlich: In Talkshows wird über geführt worden ist, Konzepte für eine EZ verfügbar ge- Afrika debattiert – da geht es um Malaria –, in den Print- wesen wären. medien werden ganze Serien zu Afrika gebracht, und (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: auch im Deutschen Bundestag haben wir in der Vergan- Waren doch!) genheit verstärkt über Afrika gesprochen. Denn wir glauben, dass, bevor dieses Geld fließen kann, Heute sprechen wir wieder einmal aus entwicklungs- im Kongo die zuverlässigen Strukturen entstehen müs- politischer Sicht über Afrika. Wir messen damit dem sen, die nötig sind, damit es sinnvoll verwendet werden Thema den Stellenwert bei, der ihm zukommt. kann. Das sehe ich im Kongo derzeit noch nicht. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Walter (Beifall bei der FDP) Riester [SPD]) (B) Es ist nach unserer Auffassung wenig förderlich, (D) Denn Afrika ist gerade für die deutsche, aber auch für wenn wir unser Geld per Budgethilfe weiter in korrupte die europäische Entwicklungspolitik von größter Bedeu- Strukturen hineinbuttern. Frau Ministerin, Sie haben das tung. Das heißt nicht, dass wir andere Entwicklungslän- heute auch angesprochen. Ich denke, wir müssen das der, in Lateinamerika oder in Südostasien, vergessen. noch viel häufiger und viel deutlicher ansprechen. Das Aber Afrika ist die größte Herausforderung, und Afrika Wort „versickern“ ist mittlerweile zu einem halbwegs liegt nun einmal direkt vor unserer Haustür. politisch korrekten Terminus technicus für das Abhan- Subsahara-Afrika ist dabei der Teil des Kontinents, denkommen, für das „Verdunsten“, für das Verschwin- auf den wir unser Augenmerk richten müssen; ich denke, den von Geld geworden. Frau Kollegin Koczy hat uns darüber sind wir uns einig. Die nordafrikanischen Staa- nach ihrer Rückkehr aus dem Tschad berichtet, dass dort ten sind größtenteils auf einem ganz guten Weg. mal eben 500 Millionen Euro versickert sind. Das sind erhebliche Summen, die für die Entwicklung von Afrika (Beifall der Abg. Gabriele Groneberg [SPD]) gebraucht werden. Sie dürfen nicht auf irgendwelchen Viele der 45 Staaten in Subsahara-Afrika sind ebenfalls Nummernkonten in anderen Ländern verschwinden. Das auf einem hoffnungsvollen Weg. Doch manche erleben müssen wir langsam wirklich entschieden angehen. finstere Zeiten. (Beifall bei der FDP – Heike Hänsel [DIE Aber, Frau Ministerin, ich gebe Ihnen recht: Afrika LINKE]: Bankgeheimnis lüften!) macht Mut, wir haben Anlass zur Hoffnung. Die Zahl Die Entwicklungszusammenarbeit muss als Instru- derjenigen, die finstere Zeiten durchleben, wird immer ment zur Durchsetzung von guter Regierungsführung ef- kleiner. Die Zahl derjenigen, die positive Geschichte ma- fektiver genutzt werden. Good Governance darf nicht chen, ist viel größer als die Zahl der Simbabwes und Su- zu einem Schlagwort verkommen, sondern Bad Gover- dans. Côte d’Ivoire kann man eigentlich schon nicht nance muss offen und deutlich angeprangert werden. mehr dazuzählen; dort hat man sich ja geeinigt. Die ge- Wir tun das heute mit unserem Keniaantrag. samte Region weist Staaten in sehr unterschiedlichen Stadien der Entwicklung auf. Dem müssen wir Rech- (Beifall bei der FDP) nung tragen. Deshalb brauchen wir für jeden Staat eine maßgeschneiderte deutsche Entwicklungszusammen- Er ist mittlerweile zwar nicht mehr ganz aktuell, aber zu arbeit. der Zeit, als wir ihn gestellt haben, passierten in Kenia Dinge, zu denen sich die Bundesregierung nicht so geäu- (Beifall bei der FDP) ßert hat, wie wir uns das gewünscht hätten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9883

Dr. Karl Addicks (A) In Fällen unzuverlässiger Regierungsführung macht Überall werden fieberhaft Entscheidungen vorbereitet (C) das Instrument der Budgethilfe keinen Sinn. Wir müssen und wird um Dokumente gerungen. uns genau überlegen und wir müssen genau hinschauen, in welchen Ländern – bei welcher Regierung – wir eine Mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktio- Budgethilfe leisten können. Das müssen zuverlässige nen wollen natürlich auch wir den Gang der Dinge ein und verantwortungsvolle Regierungen sein, und das darf bisschen beeinflussen. Dies wollen wir auch bei einem nicht einfach nach dem Motto geschehen: Die Budget- Thema, das für uns ein besonderer Schwerpunkt ist, hilfe mit der Gießkanne einfach drübergießen. Das wol- nämlich der Politik gegenüber Afrika. Wir beide, die Af- len wir nicht. rikaner und die Europäer, brauchen diesen Erfolg; denn die Entwicklung in Afrika – das wurde schon gesagt – (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Arnold hat Licht und Schatten. Gott sei Dank gibt es immer Vaatz [CDU/CSU]) mehr Hoffnungsträger, nämlich nicht nur Südafrika, Ghana und Mosambik, sondern es gibt auch neue Hoff- Leider wird die Budgethilfe in der bilateralen deut- nung im Kongo, in Liberia und anderswo. schen und auch in der europäischen Zusammenarbeit zu- nehmend ausgeweitet. Ich befürchte, dass die Steigerung 16 Länder in Afrika hatten während der letzten zehn der ODA-Quoten bis 2015 dazu führen wird, dass sie so Jahre stabile Wachstumsraten von über 4,5 Prozent. weit aufgeblasen wird, dass es den Ländern in Afrika Auch im Gesundheitsbereich, im Bildungsbereich sowie nicht mehr gut tut. Wie ich gerade gesagt habe, kann die im Bereich der Demokratie und anderswo gibt es, wie Budgethilfe nur in Ländern mit verantwortlichen Eliten schon erwähnt, große Fortschritte. Wir müssen aber na- eingesetzt werden. Diese gibt es mehr und mehr. Wir türlich auch sehen, dass 50 Prozent der Afrikaner nach müssen sie aber genau aussuchen und von Hand verle- wie vor in absoluter Armut leben und dass Afrika eine sen. Region ist, in der die Armut in den letzten zwei Dekaden zugenommen hat. Auch die fortschreitende Islamisie- Dabei muss sich die deutsche Entwicklungszusam- rung macht uns Sorge. menarbeit auf die schwächsten und ärmsten Länder kon- zentrieren. Schwellenländer wie China, Brasilien, Me- Daneben müssen wir eine groteske Fehlentwicklung xiko und Südafrika müssen früher oder später aus der im Bereich der Wirtschaft erkennen. Trotz Rohstoff- Entwicklungszusammenarbeit herausfallen. China müsste hausse, trotz Rohstoffgewinnung auf Rekordhöhe, hat der im Prinzip sofort herausfallen, weil es selbst Entwick- Anteil Afrikas am Welthandel abgenommen. Er ist auf lungshilfe leistet. Wir haben das schon oft genug gesagt. unter 2 Prozent gesunken. Auch die privaten Investoren Lassen Sie uns das Geld also lieber woanders sinnvoller – von einigen Ausnahmen abgesehen – machen nach wie verwenden. vor einen großen Bogen um Afrika. (B) (D) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Norbert Natürlich ist es für uns Europäer wichtig – das hat Geis [CDU/CSU]) sich in den letzten Jahren herausgestellt –, zu erkennen, dass der Erfolg oder Misserfolg der Entwicklung Afrikas Es gibt in Afrika wahrlich Länder, die dieses Geld dring- auch ökonomische, ökologische und sicherheitspoliti- licher brauchen. sche Auswirkungen auf uns hat. Wir brauchen dann natürlich auch Anschlusskon- Wir haben selbst – das müssen wir auch nach außen zepte für die Länder, die irgendwann aus der Entwick- betonen – ein vitales Interesse an der Stabilisierung des lungszusammenarbeit herausfallen. Wir haben das ge- Kontinents. Wir haben Interesse an einer ausgewogenen rade gesehen: Die Republik Kap Verde hat tolle Entwicklung zugunsten der breiten Bevölkerung in Entwicklungsfortschritte gemacht. Auf einmal hörte die Afrika. Wir haben ein Interesse daran, fundamentalisti- deutsche EZ auf. Das wünschen wir uns auch nicht. Wir sche und radikalistische Strömungen in Afrika zu dämp- müssen dann Anschlusskonzepte für die Außenwirt- fen und dass die Menschen in Afrika auch in ihren Hei- schaft haben. Hier sind die Außenwirtschaftler gefragt. matländern eine Perspektive finden. Wir werden heute im weiteren Verlauf der Tagesord- Deswegen ist es wichtig, dass wir nach all den voran- nung noch über das Thema Ressourcen sprechen. Das gegangenen G-8-Gipfeln mit vielen Papieren und Erklä- werde ich dann zu diesem Zeitpunkt ansprechen. rungen in Heiligendamm einen entscheidenden Schritt vorankommen werden. Das heißt für mich vor allem, Ich danke Ihnen jetzt für Ihre Aufmerksamkeit. dass die Frage im Mittelpunkt steht, wie wir die Selbst- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Norbert hilfekräfte der Afrikaner zur Lösung ihrer Probleme Geis [CDU/CSU]) stärken können, statt sie zu blockieren. Es ist in unserem ureigenen Interesse, dass die Handelspolitik, die wir als Europäer gegenüber Afrika betreiben, nicht dazu führt, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dass zarte Pflänzchen afrikanischer Märkte und Produk- Ich erteile das Wort Kollegen Christian Ruck, CDU/ tion abgewürgt werden. CSU-Fraktion. (Dr. Karl Addicks [FDP]: Das ist ein guter Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Punkt!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Wir haben auch ein ureigenes Interesse daran, eine in- G-8-Gipfel in Heiligendamm rückt in greifbare Nähe. ternationale und europäische Entwicklungspolitik zu be- 9884 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Dr. Christian Ruck (A) treiben, die – auch mit Blick auf die Hilfe zur Selbsthilfe – Es ist auch eine zutiefst afrikanische Aufgabe, mit den (C) koordinierter, gezielter und effizienter wird. Wir sollten eigenen natürlichen Reichtümern nicht die eigenen Ta- in unserer Politik von der Fata Morgana Abstand neh- schen zu füllen, sondern sie für die eigene Bevölkerung men, man könnte Afrika von außen sozusagen schlüssel- und deren Entwicklung zu nutzen. Das heißt, dass der fertig aufbereiten. Aufbau von Rechts- und Investitionssicherheit, einer funktionierenden Verwaltung und regionaler Märkte so- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wie von Sozialsystemen eine zutiefst afrikanische Auf- Wir sollten vielmehr versuchen, die afrikanischen Ka- gabe ist. Hier müssen die Weichen von afrikanischen Po- pazitäten für Problemlösungen zu stärken. Dazu gehört litikern gestellt werden. Partnerschaft auf Augenhöhe neben Bildung und Ausbildung, Wissenschaftstransfer bedeutet nicht nur, dass wir unsere Hausaufgaben ma- und ländlicher Entwicklung, dass wir – das haben wir chen, sondern auch, dass wir von unseren afrikanischen neulich in einem Hearing der Konrad-Adenauer-Stiftung Partnern einfordern müssen, ihre Hausaufgaben zu erle- gelernt – als Parlamentarier die demokratischen Parteien digen. und die Demokratien in Afrika und auch die Zivilgesell- Das ist eine große Aufgabe für den G-8-Gipfel in Hei- schaft stärken. ligendamm. Hier müssen wir einen Schritt vorankom- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. men. Wir Entwicklungspolitiker haben unsere Hausauf- Gabriele Groneberg [SPD] gaben zumindest mit dem fraktionsübergreifenden Antrag erfüllt. Wir hoffen, dass man auf dem Gipfel in Das bedeutet auch Hilfe zur Selbsthilfe beim Aufbau Heiligendamm zu einem guten Ergebnis für Afrika von Sicherheitsstrukturen. Darauf wird Hartwig kommt. Fischer noch eingehen. Dazu gehört für mich auch, wor- auf Sie, Frau Ministerin, schon hingewiesen haben, näm- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lich dass man bei der Demobilisierung nach Beendigung von Konflikten und Unruhen sehr schnell und auch un- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: bürokratisch auf Instrumentarien zurückgreifen kann, Ich erteile das Wort Kollegen Hüseyin-Kenan Aydin, um den Kindersoldaten und den Armeeangehörigen die Fraktion Die Linke. Chance zu geben, sich wieder in ein normales Privatle- (Beifall bei der LINKEN) ben einzugliedern. Dazu gehört auch – das wurde ebenfalls bereits ange- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): sprochen –, dass die großartigen Reichtümer Afrikas Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuerst professioneller erschlossen und zum Wohle der eigenen (B) eine Anmerkung zu der gegenwärtigen Situation bezüg- (D) Entwicklung der Länder Afrikas verwandt werden. lich der Kriminalisierung der G-8-Gegner, die in Heili- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gendamm demonstrieren wollen: Wir lehnen diese Kri- der SPD) minalisierung mit aller Schärfe ab. (Beifall bei der LINKEN) Von dem G-8-Gipfel muss auch ein Signal von unserer Seite als wichtigste und reiche Rohstoffbezieher ausge- Wir erwarten von allen anderen Fraktionen, sich diesbe- sandt werden, dass auch wir viel stärker als bisher dazu züglich zu positionieren. beitragen werden, dass die Reichtümer Afrikas nicht in Wir leben in einer Welt der Extreme. Die 1 000 Wildwestmanier und auch nicht zum Schaden einer ge- reichsten Menschen der Welt verfügen über 3 500 Mil- sunden Entwicklung Afrikas ausgebeutet werden. liarden Dollar. Die Hälfte davon reichte aus, um alle China wurde bereits angesprochen. Es muss auch ein Schulden der Entwicklungsländer zu tilgen. Auf der an- Signal an China ausgehen, dass mit neuer Macht auch deren Seite gibt es extreme Armut. In Afrika haben neue Verantwortung verbunden ist und dass mit dem 40 Prozent der Menschen – darauf wurde bereits hinge- massiven Auftreten Chinas in anderen Kontinenten eine wiesen – weniger als 1 Dollar am Tag zum Leben zur größere Verantwortung für die friedliche Entwicklung Verfügung. Die Zahl der Hungernden dort ist in den letz- dieser Länder verbunden ist. Das müssen wir von der ten Jahren auf über 200 Millionen gestiegen und steigt Volksrepublik China einfordern. weiter an. Sie von der Regierung finden sich damit ab. Deshalb demonstrieren auch wir in Heiligendamm gegen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- diese Politik. neten der SPD und der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Spiegelbildlich zu unserer Verantwortung gibt es auch eine Verantwortung der Afrikaner. In unserem Antrag ist Zugegeben, die Entwicklungszusammenarbeit in von einer Partnerschaft auf Augenhöhe die Rede. Der Deutschland will dieses Elend beseitigen. Aber die Re- Schlüssel für die Entwicklung Afrikas liegt vor allem in gierung tut es nur halbherzig. Alle Bemühungen werden den Händen der Afrikaner selbst. Aus dieser Verantwor- durch die Außenwirtschaftspolitik der EU und der USA, tung können wir niemanden in Afrika entlassen. Das aber auch Chinas systematisch hintertrieben. Nehmen heißt auch, dass es eine zutiefst afrikanische Aufgabe ist, wir als Beispiel die Fischerei. Mit Millionenbeträgen afrikanische Diktaturen und Massenmörder zu ächten. hat die EU-Kommission umfangreiche Fanglizenzen vor Westafrika erworben. Die Folge ist: Heute stehen dort (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 70 Prozent der Fischbestände vor dem Kollaps. Die ar- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9885

Hüseyin-Kenan Aydin (A) men Fischer in Senegal stehen vor dem Aus; denn die Wir müssen uns überlegen, ob China Mittel in Höhe (C) schwimmenden Fabriken aus Europa und China lassen von 57 Millionen Euro aus dem Entwicklungstopf be- kaum noch etwas für sie übrig. Ich sage: Die deutsche kommen soll. Wenn es außen- und wirtschaftspolitisch Politik hat Mitschuld, dass die Menschen Westafrikas sinnvoll ist, sollte die Finanzierung über das Wirtschafts- hungern müssen. ministerium, nicht aber aus dem Topf des Entwicklungs- ministeriums erfolgen. (Beifall bei der LINKEN) Die Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit (Beifall bei der LINKEN) bleiben stumpf, wenn der IWF Konzerninteressen durch- Das muss aufhören. Die Gelder müssen auf Länder drückt. So wurden vor Jahren den Tomatenbauern in konzentriert werden, denen keine ausreichenden eige- Senegal Traktoren, finanziert mit Entwicklungsgeldern, nen Mittel zur Verfügung stehen. Ohne ausreichende geschenkt, was schön war. Doch 2001 erzwang der IWF Mittel ist keine Entwicklung möglich. Statt Tornados die Privatisierung der Tomatenverarbeitung in Senegal. nach Afghanistan zu schicken, geben Sie dieses Geld Damit beseitigte er die Abnahmegarantie, die die staatli- für die Bekämpfung der Armut aus, meine Damen und che Verarbeitungsindustrie den einheimischen Gemüse- Herren! bauern gewährte. Der IWF erzwang auch die Absenkung der Agrarzölle. Damit machte er den Weg für subventio- (Beifall bei der LINKEN) niertes Tomatenmark aus Italien und China frei. Welcher Irrsinn! So werden die Gemüsebauern des Senegals rui- Der vorliegende Antrag der Regierungsparteien spie- niert. gelt die ganze Widersprüchlichkeit der deutschen Afri- kapolitik wider. Sie fordern zwar die Verfolgung euro- Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft beschleunigt päischer Firmen, die sich durch Bestechung in Afrika solche verheerenden Entwicklungen noch. Kernstück ih- Vorteile verschaffen, aber es bleibt dennoch folgenlos. rer Afrikapolitik ist der Abschluss sogenannter Wirt- schaftspartnerschaftsabkommen, die ab 2008 eine wei- Frau Merkel stellt ihren Kampfgeist gegen die Kor- tere Marktöffnung in den armen Ländern vorsehen. Die ruption in diesen Tagen mit ihrem lauten Schweigen zur Folgen werden mehr Arbeitslosigkeit und mehr Hunger Affäre Wolfowitz knallhart unter Beweis. sein und nicht weniger. Ist das das Zusammenspiel von Entwicklungs- und Außenwirtschaftspolitik, von der die (Beifall bei der LINKEN) Bundesregierung immer spricht? Das ist es nicht. Die eu- Zu solch einer Politik der leeren Worte sagen wir ropäischen Wirtschaftsminister hauen den afrikanischen Nein. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen, meine Bauern die Beine weg. Hinterher verteilen die Entwick- Damen und Herren. (B) lungsminister großzügig Almosen. Das reicht nicht. (D) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Sascha Raabe (Beifall bei der LINKEN) [SPD]: So ein Unsinn! Sie werden doch noch Die Entwicklungspolitik in Deutschland und in Eu- Zeitung lesen können, wenn Sie sonst schon ropa hat keinen Einfluss auf die Handelsvereinbarungen. keine Ahnung haben!) Wir fordern, dass die Entwicklungspolitik die Ursachen der Armut bekämpft. Sie muss nachhaltig helfen, Armut Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zu vermeiden. Ich erteile das Wort Kollegen Thilo Hoppe, Fraktion Die Linke will die konsequente Ausrichtung der Ent- Bündnis 90/Die Grünen. wicklungszusammenarbeit auf folgende Kernbereiche. Erstens: Hungerbekämpfung und Wasserversorgung. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zweitens: Bildung, Gesundheit und Beschäftigung; Bil- dung nicht nur im quantitativen Sinn, damit man statis- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich tisch 20 Millionen Kinder ausweisen kann, sondern im würde diese Rede am liebsten mit einem Zwillingsbru- qualitativen Sinn. der halten und sie in verteilten Rollen vortragen. (Beifall bei der LINKEN) Der eine übernimmt die Rolle des Optimisten. Er be- richtet von erfreulichem Wirtschaftswachstum im Durch- Wir wollen drittens Infrastrukturmaßnahmen und Um- schnitt von 5,5 Prozent in den afrikanischen Ländern, weltschutz. Tatsächlich gibt es viele gute Projekte, die in von beachtlichen Reformanstrengungen und auch von Afrika die fehlende sozialstaatliche Struktur auffangen. Erfolgen im NEPAD-Prozess, von den Signalen des Auf- Dazu gehört auch ein Projekt des Entwicklungsministe- bruchs und der Hoffnung. riums, mit dem Deutschland in Kenia den Aufbau einer Krankenversicherung unterstützt, die auch für die Ar- Der andere Zwillingsbruder übernimmt nicht die men offen ist. Rolle des Pessimisten, aber die eines doch sehr besorg- ten und bedrückten Menschen, der auf all das Elend hin- Leider sind solche Projekte in eine widersprüchliche weist, das es gerade in Afrika südlich der Sahara nach Gesamtstrategie eingebettet. Die Bekämpfung der Ar- wie vor gibt und das in einigen Sektoren sogar noch grö- mut in Afrika ist keineswegs der Schwerpunkt. Stattdes- ßer geworden ist. Insbesondere die Zahl der Hungernden sen hält das Ministerium weiterhin am sogenannten An- kerländerkonzept fest. steigt. Man muss sich das vor Augen halten: Ein Drittel aller Menschen in Afrika, in der Subsahara, sind in be- In diesem Punkt stimme ich mit der FDP überein. drohlicher Weise chronisch unterernährt. 9886 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Thilo Hoppe (A) Nach so einer doppelten Rede, vorgetragen von Zwil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) lingsbrüdern, könnten wir darüber streiten, wer von bei- und bei der LINKEN) den nun recht hat oder mehr recht hat. Die Antwort ist einfach: natürlich beide. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass es, obwohl viele Probleme in Afrika verursacht werden und wir tatsäch- Kontraproduktiv würde es werden, wenn der eine lich in vielen Fällen bei der Problemlösung helfen, auch Bruder auf die Idee käme, dem anderen Bruder den Sektoren gibt, auf denen die Europäische Union selber Mund zu verbieten, wenn wir nur noch auf das Leid der ein Teil des Problems ist. Aidswaisen, der Bürgerkriegsflüchtlinge, auf fortschrei- tende Wüstenbildung, auf die Rohstoffplünderung, auf Wenn ich alle Anträge, die vorliegen und in der Dis- den Sumpf der Korruption und auf unfähige Regierun- kussion sind, miteinander vergleiche, dann stelle ich gen hinweisen würden. Dann würden sich die Menschen fest, dass es in der Tat viele Gemeinsamkeiten gibt. Aber hier in Deutschland mit Grausen abwenden und sagen, aufgrund der knappen Redezeit möchte ich jetzt nicht das ist ein verlorener Kontinent, man raubt den Men- diese beleuchten, sondern mich auf die Unterschiede schen in Afrika die Würde, man degradiert sie zu reinen konzentrieren. Gerade wenn ich unseren Antrag mit al- Almosenempfängern. Aber auch die andere Einseitig- ten Afrikaanträgen vergleiche, die noch unter der rot- keit, mit der die wirtschaftlichen Erfolge, die Signale des grünen Regierung gestellt wurden, dann stelle ich fest, Aufbruchs überbetont werden, ist unmenschlich, weil sie dass Bereiche fehlen, für die sich besonders die Grünen die Vergessenen, die Opfer ignoriert oder gar verhöhnt. stark eingesetzt haben. Die ökologischen Fragen werden Sowohl auf Wirtschaftskongressen als auch auf Wohltä- unterbelichtet, und das große Problem, dass die ländliche tigkeitsveranstaltungen und -konzerten kann man die Entwicklung vernachlässigt wurde und noch vernachläs- eine oder andere Einseitigkeit erleben. sigt wird, besteht nach wie vor. Es werden Strategien be- schrieben, die auf die Metropolen zielen, es wird eine Unser Antrag ist von beiden Zwillingsbrüdern ge- Wirtschaftsstrategie beschrieben, wonach Wirtschafts- schrieben worden. Wir würdigen die Stärken, wir würdi- kerne weiter gestärkt werden sollen, aber die abgehäng- gen die Reformbemühungen, aber wir decken auch scho- nungslos die Missstände auf. ten Menschen in der Peripherie, in den ländlichen Ge- genden kommen nur in wenigen Zeilen vor. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Diese Politik, nämlich die Vernachlässigung der Beides macht auch die Koalition in ihrem Antrag, ländlichen Entwicklung, ist in einer Studie von Oxfam aber es fehlt die Selbstkritik bei der Frage nach den und der Welthungerhilfe kritisiert worden. In der Studie Ursachen der Missstände. Es werden vor allem die wird deutlich gesagt, dass die G-8-Staaten immer mit (B) Fehler benannt, die die afrikanischen Regierungen selber vollmundigen Versprechen und mit großen Verlautba- (D) produzieren. Die Folgen der Kolonialgeschichte, die ver- rungen daherkommen. Wenn man aber genau rechnet, heerenden Zwangstherapien des IWF, ein gescheiterter dann sind die Leistungen der G-8-Staaten seit Glen- Liberalisierungskurs, illegitime Schulden oder schädli- eagles sogar um 5 Prozent zurückgegangen. Wenn die Ver- che Megaprojekte werden ausgeblendet. Lediglich die sprechungen, die die Ministerin heute gemacht hat und negativen Auswirkungen der Agrarexportsubventionen die ich unterstütze, wirklich mit Leben erfüllt werden, werden etwas kleinlaut zugegeben. dann müssen wir noch einen riesigen Schritt nach vorne gehen. Ich sehe das aber noch nicht. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Kleinlaut?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Da könnte man sehr viel drastischer argumentieren. Ich möchte mich nicht in jeder Debatte wiederholen Gerade die Afrikapolitik der Europäischen Union ist – das wird irgendwann langweilig –, aber wo sind die in- nach wie vor von großen Widersprüchen geprägt. Was novativen Finanzierungsinstrumente, die schon seit Mo- die eine Hand aufbaut, zerstört die andere Hand. naten und Jahren angekündigt werden? Ohne diese Fi- (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: nanzierungsinstrumente werden wir es nicht schaffen, Genau!) den Worten Taten folgen zu lassen. Wir haben das Beispiel der Tomaten aus dem Senegal Im Antrag der Linken findet sich berechtigte Kritik an gehört. Ich hätte noch ein Beispiel aus Ghana. Dort hat den wirtschaftlichen Zusammenhängen, aber einen Be- man einerseits den Anbau von Tomaten mithilfe der Ent- reich blenden Sie völlig aus: die sicherheitspolitische Di- wicklungszusammenarbeit erfolgreich gefördert, ande- mension. Sie fordern, dass die Menschenrechte unbe- rerseits ist aber alles wieder durch immense Einfuhren dingt eingehalten werden müssen – d’accord –, aber sie von hochsubventioniertem Tomatenmark „kaputtge- verschließen die Augen davor, dass dies beispielsweise dumpt“ worden. Bei meiner letzten Reise – ich konnte in Darfur ohne ein robustes Mandat einer UN-Friedens- mit Horst Köhler fahren – haben mir Politiker aus Ghana truppe einfach nicht möglich ist. Ich hoffe, dass Sie dies- bestätigt, dass die Europäische Union indirekt damit ge- bezüglich intern noch eine Debatte führen. Ich weiß, droht hat, die Entwicklungshilfe einzustellen, sollte dass es dafür Anzeichen gibt. Ich hoffe, dass Sie in der Ghana auf die Idee kommen, den Außenschutz zu erhö- Frage, wie der schleichende Völkermord in Darfur ein- hen, um sich gegen diese Dumpingeinfuhren zu wehren. gedämmt werden kann, zu neuen Erkenntnissen kom- Das ist wirklich irrsinnig. men. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9887

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Afrikanische Union – kurz AU – bemüht sich seit (C) Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. ihrer Gründung im Jahre 2002 aktiv um die Gestaltung multilateraler Konfliktlösungsmechanismen in Afrika. Elf afrikanische Staaten haben Ende 2006 zum Beispiel Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ein Abkommen über Sicherheit, Stabilität und Entwick- Wie gesagt, es liegen viele Anträge vor. Ich glaube, lung in der Region der Großen Seen mit einer Laufzeit dass unser Antrag im Vergleich vorne liegt; denn unser von 20 Jahren unterzeichnet. Es ist mittlerweile also ge- Ansatz ist wirklich kohärent und ganzheitlich. Er zielt rade einmal fünf Jahre her, dass die AU diesbezüglich darauf ab, den Menschen in Afrika ein Leben in Würde aktiv ist. Wir, Deutschland, und weitere internationale zu ermöglichen. Geber unterstützen die AU und andere Staaten natürlich in ihren Bemühungen. Aber auch wir in Europa haben Danke schön. lange gebraucht, bis wir zu dieser Sicherheit und Stabili- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tät gekommen sind. Wir sollten uns einmal daran erin- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und nern, dass wir Afrika nicht mit unseren Maßstäben mes- der SPD) sen können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: CDU/CSU) Ich erteile das Wort Kollegin Gabriele Groneberg, In diesem Zusammenhang darf ich Herrn Nooke nach SPD-Fraktion. seinen heutigen Bemerkungen einmal sanft daran erin- nern, dass es bis zum Wegfall des Ost-West-Konflikts in (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Europa doch eigentlich so gewesen ist, dass wir unsere CDU/CSU) Konflikte stellvertretend auf dem afrikanischen Kontinent ausgetragen haben. Wie viele gegenseitige Gabriele Groneberg (SPD): Blockaden hat es gegeben, und zwar zum Schaden einer Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wirksamen Entwicklungspolitik! Das war manchmal Sehr geehrte Gäste! Wenn wir im Bundestag über den doch eher eine Entwicklungspolitik des gegenseitigen afrikanischen Kontinent reden, dann geht es tatsächlich Behinderns. Das sollten wir einmal ehrlich zugeben. oft um Krisen, um Kriege, um korrupte Regime, um Auch das gehört zu einer ehrlichen Analyse. Über das Hungersnöte oder um HIV/Aids. Diejenigen, die einen Stadium des gegenseitigen Behinderns sind wir Gott sei intensiveren Kontakt zum afrikanischen Kontinent ha- Dank hinweg. (B) ben, nehmen Afrika aber auch ganz anders wahr. Sie se- Selbstkritisch sollten wir feststellen, dass der Bereich (D) hen, es gibt dort Staaten mit Regierungen, die sich inten- der Agrarpolitik mit ganz vielen eigenen Interessen ver- siv um demokratische Strukturen und um die Einhaltung bunden ist. Thilo Hoppe, wir werden im Ausschuss noch von Menschenrechten kümmern. Dort gibt es eine mu- intensiv darüber reden. tige Zivilgesellschaft. Es gibt dort Staaten, die auf den Gebieten Gesundheitsversorgung und Bildung gute Er- Offensichtlich hat sich Herr Nooke wenig mit Ent- gebnisse vorweisen können. In der allgemeinen Wahr- wicklungshilfe beschäftigt; sonst wüsste er nämlich, nehmung Afrikas sind diese Inseln des Fortschritts aller- dass wir unsere Hilfe seit Jahren vor allen Dingen an dings nicht zu finden, und das zu Unrecht. guter Regierungsführung ausrichten. Eine gemein- same internationale Strategie dazu ist eigentlich erst mit Wir sind uns natürlich bewusst, dass unsere Bemü- der Millenniumserklärung entwickelt worden. Ich erin- hungen – wie die der anderen wichtigen Geber – zu gu- nere an die Millenniumsentwicklungsziele, die wir ge- ten und zu schlechten, das heißt zu sehr unterschiedli- meinsam definiert haben. Diese Erklärung und die chen Ergebnissen in der Entwicklung Afrikas geführt MDGs haben eine neue globale Partnerschaft für Ent- haben. Insgesamt ist das nicht zufriedenstellend – das ist wicklung eingeleitet, und das erst im Jahre 2000. Das ist richtig –; sonst würden wir hier nicht darüber reden. gerade einmal sieben Jahre her. Gute Regierungsfüh- rung, Good Governance, der Aufbau einer wehrhaften Man fragt sich natürlich, warum wir unzufrieden sind. und mutigen Zivilgesellschaft zur Kontrolle von Regie- Die Antworten darauf sind nicht einfach. Es gibt nicht rungen, der Aufbau demokratischer Strukturen sind ganz nur eine schlüssige Antwort, sondern mehrere, ganz dif- wichtige Elemente und Kriterien unserer Entwicklungs- ferenzierte Antworten. Einige will ich geben. Vor allem politik. sind die vielen bewaffneten Auseinandersetzungen zu nennen. Viele positive Ansätze und Entwicklungen in Zugegebenermaßen gibt es immer wieder Fälle, wo der Vergangenheit sind durch die verheerenden Kon- wir nachbessern müssen, weil wir festgestellt haben, flikte, die irgendwann wieder stattgefunden haben, zer- dass Entwicklungshilfegelder nicht dorthin kommen, stört worden. Erst seit der jüngsten Vergangenheit sind wohin sie gehören. Aber das kann man eben nicht verall- wir uns alle – damit meine ich die Afrikaner genauso gemeinern, Herr Addicks. In diesen Fällen haben wir wie den Rest der Welt – einig darüber, dass es nötig ist, entsprechend reagiert bzw. – siehe Kenia – sind wir da- in der Bewältigung von Konflikten gemeinsam aktiv zu bei, zu reagieren. Deshalb ist Ihr Antrag überflüssig ge- werden, und dies mithilfe militärischer Einsätze, um Si- worden. Im Übrigen habe ich das Gefühl, dass wir in cherheit in Konfliktregionen zu organisieren. Die Minis- diesem Zusammenhang auch einmal kritischer auf uns terin hat das Beispiel Kongo gerade genannt. selbst schauen sollten. Man muss ehrlich zugeben: Be- 9888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Gabriele Groneberg (A) kannte Beispiele zeigen, dass Korruption auch bei uns Nun komme ich auf die demokratischen Strukturen (C) vorkommt. Insofern sollten wir uns an die eigene Nase und auf die Beteiligung der Bevölkerung zu sprechen. fassen und mit vernünftigem Maß messen. Freie und fair gewählte Parlamente sind eine wichtige Grundlage für den Entwicklungsprozess. Das Ziel von (Dr. Karl Addicks [FDP]: Das ist doch kein uns Parlamentariern ist, den Austausch mit den dortigen Grund, zur afrikanischen Korruption zu Parlamenten zu vertiefen und durch Kontakte ihr Selbst- schweigen!) bewusstsein zu stärken. Wir wollen, dass die Parlamente Unabhängig davon leisten wir humanitäre und Not- über die Entwicklungshilfeleistungen und deren Höhe hilfe in Staaten, die sich durch Menschenrechtsverlet- informiert werden. Sie müssen in die Lage versetzt wer- zungen und Korruption auszeichnen, und das in negati- den, vor Ort die notwendige Kontrolle ausüben zu kön- vem Sinne. Gerade ein Menschenrechtsbeauftragter nen. Wir wollen die Kooperation mit den Parlamenten sollte sich überlegen, ob er das bestreiten möchte. Aber auf allen Ebenen, bis hin zur kommunalen Ebene, ver- sollte man deshalb tatsächlich darüber nachdenken, gar bessern. keine Hilfe mehr zu leisten? Ich glaube nicht, dass das Meine letzte Bemerkung: Der Bundestag wird prüfen, im Sinne der Menschenrechte wäre und dass wir uns das ob es möglich ist, ein Parlamentarisches Patenschaftspro- im Namen der Menschlichkeit erlauben könnten. gramm für afrikanische Jugendliche einzurichten. Wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sollten uns darum bemühen. Jugendliche sind unsere Zu- der CDU/CSU) kunft. Das gilt vor allen Dingen für Afrika. Durch einen solchen Austausch könnten wir die afrikanische Jugend In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass sich gezielt unterstützen. Deutschland hat ein sehr großes In- seit der Gründung von NEPAD im Jahre 2001 26 afrika- teresse daran, die Kooperation mit Afrika insbesondere nische Staaten verpflichtet haben, im Rahmen des Afri- in diesem Bereich fortzusetzen. can Peer Review Mechanism die notwendigen Reformen und die Grundsätze des Good Governance in Afrika Herzlichen Dank. massiv voranzutreiben, und zwar im Erfahrungsaus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tausch zwischen den afrikanischen Staaten. Nun muss der CDU/CSU) darauf geachtet werden, dass die gegebenen Zusagen eingehalten werden. Der eigentliche Fortschritt ist, dass Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sich die Afrikaner jetzt dazu bekannt haben, die entspre- Ich erteile das Wort Kollegen Hartwig Fischer, CDU/ chenden Maßnahmen durchführen zu wollen. CSU-Fraktion. (B) Sicherlich haben wir in der Vergangenheit einen gro- (Beifall bei der CDU/CSU) (D) ßen Fehler gemacht: Wir haben versucht, die Probleme Afrikas nach unserem europäischen Verständnis zu lö- sen. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Das kann Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): nur begrenzt funktionieren. In den letzten Jahren wurde Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich es daher zum zentralen Bestandteil unserer Programme danke Ihnen, Frau Dr. Merkel und Frau Wieczorek-Zeul, und unserer Entwicklungshilfe, zum einen die Eigenver- dafür, dass es Ihnen in den letzten Monaten gelungen ist, antwortlichkeit der afrikanischen Staaten einzufordern Afrika im Rahmen der EU-Präsidentschaft und der G-8- und zum anderen gemeinsam mit ihnen nach Lösungen Präsidentschaft Deutschlands in den Mittelpunkt der zu suchen, die der afrikanischen Kultur gerecht werden Politik zu rücken. und die Bevölkerung einbeziehen. Nur so kann man (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nachhaltige Prozesse einleiten. der SPD) Herr Addicks, das gilt auch für den Kongo und die ge- Es ist selten genug der Fall, dass dieses Thema im Parla- plante Einrichtung des Fonds. Dieser Fonds wird nicht ment zur Sprache kommt. Ich bedanke mich insbeson- über die Regierung organisiert. Wir speisen diesen dere deshalb, weil im Vorfeld der beiden Gipfel offene Fonds, die KfW baut ihn auf, und die Abwicklung er- Dialoge geführt worden sind – auf Ministerkonferenzen folgt über die NGOs im Land. Genau das wollen wir. und in Workshops der Ministerien, der Fraktionen, der Deshalb verstehe ich Ihre Kritik an dem geplanten Fonds Stiftungen, der Kirchen, aber auch der NGOs. Es hat nicht. also ein breit angelegter Begleitprozess stattgefunden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Karl Herr Aydin, Ihnen sage ich ganz offen: Nehmen Sie Addicks [FDP]: Ich habe nicht den Fonds kri- an der Demonstration teil, aber leisten auch Sie Ihren tisiert, sondern die Tatsache, dass kein Kon- Beitrag, dass sie friedlich bleibt! Diesen Anspruch sollte zept vorhanden ist! Auch nach einem halben man haben. Jahr immer noch nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und – Es gibt ein Konzept; sonst würden wir diesen Fonds der SPD – Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: nicht in Zusammenarbeit mit den NGOs aufbauen. Da- Das wird auch so sein, Herr Fischer! Diskrimi- rüber werden wir im Ausschuss noch intensiv reden. nieren Sie nicht die Demonstranten!) (Dr. Karl Addicks [FDP]: Es wird auch lang- Deutschland gilt in Afrika aufgrund seiner zielgerich- sam Zeit!) teten Entwicklungspolitik als glaubwürdiger und vor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9889

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) bildlicher Partner. Zu der Art und Weise, in der Sie, Herr Aber wenn Sie sich die Programme ansehen, dann wer- (C) Aydin, das dargestellt haben, muss ich Ihnen allerdings den Sie merken, dass wir in den letzten Jahren im Auf- sagen: So können Sie, wenn Ihnen das gefällt, mit der wuchs gerade bei der Dezentralisierung stark geworden Ministerin sprechen. Aber so, wie Sie es vorgetragen ha- sind. Wir haben die Mittel in die Dezentralisierung ge- ben, ist das ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die für steckt, um die Menschen selbst in die Lage zu versetzen, die Technische Zusammenarbeit, die Finanzielle Zusam- zu handeln. Ich komme darauf gleich noch zurück. menarbeit, die Durchführungsorganisation verantwort- Wir haben bei der Rechtstaatlichkeit geholfen, beim lich sind und die für ihre Professionalität und Effektivität Aufbau von Justiz und Polizei. HIV und Aids will ich bekannt sind. heute nicht noch einmal ausdrücklich erwähnen, weil (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Dann wir dazu Extraerklärungen gehabt haben. Aber wir brau- haben Sie mir nicht zugehört!) chen – da unterstütze ich Gabi Groneberg ausdrücklich – Partnerschaft mit den Parlamentarierinnen und Parla- Es ist gleichzeitig ein Schlag ins Gesicht der NGOs, der mentariern, gerade auch über AWEPA. Kirchen und der Stiftungen, die sich dort humanitär engagieren, Capacity Building leisten und Hilfestellung Ich stelle drei Schwerpunkte heraus und knüpfe zu- in Sachen Demokratie geben. nächst an das an, was die Ministerin vorgetragen hat: an Mikrofinanzen und das, was wir im Kongo erlebt haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) was einige auch woanders erlebt haben. Wenn wir Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen: Mikrofinanzprojekte vorantreiben, dann helfen wir da- Das, was sich in den letzten Monaten an Entwicklungs- mit Kleinstunternehmen und Kleinunternehmen aus al- prozessen gezeigt hat, macht mir deutlich, dass Heiligen- len Sektoren, Selbstständigkeit zu entwickeln, eigenver- damm nicht nur eine Fortschreibung von Gleneagles sein antwortlich zu handeln. Die Konsequenzen sehen wir wird, sondern dass diese Präsidentschaft genutzt wird, dort, wo es Mikrofinanzprojekte gibt. Sie bedeuten nicht um Schwerpunkte zu setzen. nur eigenes Einkommen, ein vermehrtes Einkommen über dem Durchschnitt der Bevölkerung, was dann Man kann Schwerpunkte setzen, weil Deutschland breite Bevölkerungsschichten erreicht, sondern sie be- gute Regierungsführung unterstützt hat, weil Deutsch- deuten gleichzeitig, dass die Familien – es sind vor allen land in der Vergangenheit Schwerpunkte bei der Be- Dingen Frauen, die diese Kredite in Anspruch nehmen – kämpfung der Korruption gesetzt hat, weil man mit der ihre Kinder zur Schule schicken können. Bildung bedeu- EITI-Initiative und der Stärkung von Good Governance tet wiederum einen Rückgang von Aidsraten und Ähnli- richtige Schwerpunkte gesetzt hat, weil wir in der Frage chem. Das heißt, wir müssen in diesem Bereich noch Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensför- stärker werden und einen zusätzlichen Schwerpunkt set- (B) (D) derung Schwerpunkte gesetzt haben. Ein Fünftel der bi- zen. lateralen EZ-Mittel in Afrika fließen in diesen Bereich. 2 Milliarden Euro unserer Mittel für Entwicklungszu- Ich sage trotzdem: Wir müssen die Wirtschaft mit ein- sammenarbeit sind bi- und multilateral in die Subsahara bauen. Unsere Wirtschaft darf den afrikanischen Konti- geflossen, zurzeit jährlich 386 Millionen Euro allein in nent nicht anderen überlassen; denn wenn die ihre Stan- den Energiesektor. Das sind vorbildliche Beispiele, die dards setzen, werden wir in Zukunft außen vor sein. Wir man bei den Verhandlungen vorzeigen kann. setzen damit gleichzeitig Wertemaßstäbe, für die es sich lohnt, dort zu kämpfen. Es gibt einen weiteren wichtigen Punkt, den die Präsi- dentschaft über Frau Dr. Merkel und unsere Ministerin (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) für Entwicklungszusammenarbeit angedeutet hat: Das ist Der zweite wichtige Schwerpunkt, den ich mir wün- die Frage des Verhaltenskodexes, wenn medizinisches sche – und von dem ich den Eindruck habe, dass er ein- Personal abgeworben wird. Wir haben das gerade wieder fließen wird –, betrifft die Frage von Rohstofftranspa- bei Besuchen in Afrika erlebt. Beispiel Malawi: Es gibt renz und Rohstoffökonomie, damit die Wertschöpfung in England mehr Fachärzte aus Malawi als in Malawi in den entsprechenden Ländern bleibt. Ich habe das im selbst. Das ist ein Trend, der umgekehrt werden muss. Zusammenhang mit EITI angesprochen. Ich bin sehr Meine Damen und Herren, es müssen aber auch froh, dass auch wir uns des Themas fossile Brennstoffe Schwerpunkte und Akzente insbesondere im Rahmen annehmen. Im Zusammenhang mit dem Klimawandel ist der Kooperation und Partnerschaft zwischen EU und AU es ja wichtig, dass wir dafür sorgen, dass regenerative und den afrikanischen Regionalorganisationen gesetzt Energien gefördert werden. werden. Das kann man noch verstärken. Der dritte Schwerpunkt ist die Krisenprävention. Herr Hoppe, Sie haben gesagt, wir konzentrierten uns Das ist natürlich mein großes Wunschthema, nachdem so sehr auf die großen Städte. Wir müssen uns auch auf ich die Krisenherde gesehen und mitbekommen habe, die großen Städte konzentrieren. Bei einer Stadt wie La- wie viele Tausend Menschen gestorben sind. Wir als Eu- gos mit 16 Millionen bis 18 Millionen Einwohnern kann ropäer müssen die African Standby Force bei Logis- man nicht daran vorbeisehen, was dort an Umweltver- tikausbildung sowie Technik und Ausbildung stärker schmutzung, an Wasserverschmutzung, an Krankheiten unterstützen, um Afrika das Wahrnehmen von Eigenver- und Ähnlichem entsteht. antwortung zu ermöglichen. (Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Damen und Herren, Partnerschaft mit den afri- Das eine tun, das andere lassen!) kanischen Ländern und den Partnern dort heißt, unsere 9890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) Interessen und die Beweggründe für unsere Politik deut- Berichterstattung: (C) lich zu machen. Vier davon will ich ganz kurz aufzählen. Abgeordneter Horst Friedrich (Bayreuth) Erstens: ethische und humanitäre Beweggründe. – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Beide Bereiche hängen ganz eng mit unseren Grundwer- gemäß § 96 der Geschäftsordnung ten zusammen. Wir wissen, dass auf dieser Erde täglich – Drucksache 16/5244 – 30 000 Kinder sterben und davon unglaublich viele in Afrika. Deshalb müssen wir diese Partnerschaftspolitik Berichterstattung: machen. Abgeordnete Bartholomäus Kalb Klaas Hübner Zweitens: Rohstoffökonomie. Das heißt, dass wir Dr. Claudia Winterstein Rohstoffe zu Weltmarktpreisen kaufen und die Wert- Michael Leutert schöpfung aus der Förderung dieser Rohstoffe in den Ur- Anna Lührmann sprungsländern verbleibt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Drittens: ein fairer Import und Export, bei dem dafür Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre gesorgt wird, dass nicht durch Subvention Märkte kaputt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. gemacht werden. Da stimme ich mit den Kollegen, die das angesprochen haben, überein. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen- tarischen Staatssekretär Achim Großmann das Wort. Viertens: Die Migrationsbewegung aus Afrika – je- der Migrant hat ja ein besonders furchtbares Schicksal – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten muss durch die Ermöglichung von eigenverantwortli- der CDU/CSU) chem Leben in diesen Ländern gestoppt werden. Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- Ergebnisse in diesem Sinne erhoffe ich mir auch von desminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: dem Gipfel in Heiligendamm. Ich bin davon überzeugt, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im dass unsere Kanzlerin mit unserer Entwicklungsministe- Zusammenhang mit der Einführung der Lkw-Maut ha- rin dafür kämpft. ben sich im Mai 2003 Bundesrat, Bundestag und Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) desregierung darauf verständigt, dem Straßengüterver- kehrsgewerbe wegen der Wettbewerbsbedingungen im europäischen Güterverkehr ein sogenanntes Harmonisie- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: rungsvolumen von 600 Millionen Euro jährlich zu ge- (B) Ich schließe die Aussprache. währen. Die Bundesregierung steht zu dieser Vereinba- (D) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf rung und setzt sich, wie bisher, auch weiterhin für die den Drucksachen 16/5257 und 16/5243 an die in der Ta- Realisierung geeigneter Maßnahmen ein. gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Dem nach dem Mautkompromiss vom Mai 2003 vor- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann rangig zu verfolgenden sogenannten Mautermäßigungs- sind die Überweisungen so beschlossen. verfahren, das zusammen mit dem Gewerbe erarbeitet worden war, hat die Europäische Kommission im Beihil- Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt- feprüfverfahren Ende Januar 2006 wegen einer De-facto- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Diskriminierung von Ausländern nicht zugestimmt. Eine Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Die Ent- Anrechnung bereits gezahlter Mineralölsteuern auf die wicklungszusammenarbeit mit Kenia auf den Prüfstand Maut ist damit nicht möglich. stellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/2363, den Antrag der Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf soll nunmehr die FDP auf Drucksache 16/965 abzulehnen. Wer stimmt für ebenfalls im Mai 2003 verabredete Änderung der Kraft- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – fahrzeugsteuer umgesetzt werden. Das deutsche Güter- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den kraftverkehrsgewerbe wird entlastet, indem die Höchst- Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der FDP-Frak- steuer für schwere Nutzfahrzeuge auf das europarechtlich tion angenommen. zulässige Mindestniveau abgesenkt wird. Die Absenkung hat ein Gesamtvolumen von 150 Millionen Euro jährlich. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Die den Ländern entgehenden Einnahmen aus der Kraft- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- fahrzeugsteuer werden aus dem Mautaufkommen ausge- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes glichen. Das Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahr- zur Änderung kraftfahrzeugsteuerlicher und zeuge wird entsprechend angepasst. autobahnmautrechtlicher Vorschriften Die Gegenfinanzierung der Steuersenkung erfolgt – Drucksachen 16/2718, 16/2935 (neu) – aus Mehreinnahmen bei der Lkw-Maut. Die Mautsätze werden entsprechend angehoben. In den Kategorien A Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- und B wird der Mautsatz um 1 Cent je Kilometer und in ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung der Kategorie C um 1,5 Cent je Kilometer angehoben. (15. Ausschuss) Bei der Erhöhung der Mautsätze wurde auch die Fi- – Drucksache 16/5234 – nanzierung des sogenannten Innovationsprogramms, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9891

Parl. Staatssekretär Achim Großmann (A) das ebenfalls im Mai 2003 verabredet wurde, berück- Maut als auch Mineralölsteuer zahlt, zu entlasten. Auch (C) sichtigt. Das Programm sieht die Förderung der Anschaf- könnte die Möglichkeit der Angleichung der Steuern auf fung besonders emissionsarmer schwerer Nutzfahrzeuge gewerblichen Diesel an das Steuerniveau der Nachbar- vor. Unternehmen sollen zwischen einem zinsgünstigen länder einen wirkungsvollen Beitrag zur Eindämmung Kredit und einem einmaligen Direktzuschuss wählen des Tanktourismus in Deutschland leisten. können. Das Innovationsprogramm selbst bedarf als För- Das BMVBS wird die Kommission bei ihrem Richtli- derprogramm keiner gesetzlichen Regelung und ist somit nienvorschlag unterstützen. Dieser kann – das wissen nicht Inhalt dieses Gesetzentwurfs. Sie – allerdings nur dann wirksam werden, wenn alle Die Europäische Kommission hat das Innovations- Mitgliedstaaten ihn akzeptieren. Es gilt also noch dicke programm Ende Januar 2007 beihilferechtlich geneh- Bretter zu bohren. migt. Entsprechend der Beschlussempfehlung des Ver- Ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg. Wir kön- kehrsausschusses des Bundestages soll die Anhebung nen noch nicht zufrieden sein, weil ein Teil – ich habe es der Mautsätze, soweit sie das Innovationsprogramm be- geschildert – fehlt. Ich bitte Sie, heute in zweiter und trifft, auf den 30. September 2008 befristet werden. dritter Lesung diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Diese Forderung ist vor dem Hintergrund der Auflage der Europäischen Kommission zu verstehen, Fahrzeuge Vielen Dank. mit Schadstoffnorm Euro 5 nur bis zum 30. September 2008 zu fördern. Die Bundesregierung beabsichtigt, die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Förderung von Euro-6-Fahrzeugen aufzunehmen, wenn diese technologisch zur Verfügung stehen, sobald diese Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Schadstoffnorm definiert ist. Das ist ja die Vorausset- Ich erteile das Wort Kollegen Horst Friedrich, FDP- zung. Bis dahin wird die Förderung von sogenannten Fraktion. EEV-Fahrzeugen – Enhanced Environmentally Friendly (Beifall bei der FDP) Vehicle; überwiegend gasbetriebene Fahrzeuge – mög- lich sein. Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Da die Einnahmen aus der Lkw-Maut gemäß § 11 Au- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei- tobahnmautgesetz zweckgebunden zu verwenden sind, gentlich komme ich heute mit zwiespältigen Gefühlen bedarf es der Erweiterung der Zweckbindung, um das hierher; denn ich weiß nicht, ob ich es begrüßen soll, Innovationsprogramm aus Mauteinnahmen finanzieren zu können. (Jörg Vogelsänger [SPD]: Doch!) (B) Mit der Absenkung der Kfz-Steuer und dem Innova- dass man wenigstens angefangen hat, das umzusetzen, (D) tionsprogramm wird also nur ein Teil des im Mai 2003 ver- was man dem Gewerbe im Jahre 2003 versprochen hat, einbarten Harmonisierungsvolumens von 600 Millionen nämlich dass mit Einführung der Maut ein Harmonisie- Euro umgesetzt. Aus dem parlamentarischen Raum so- rungsbeitrag von 600 Millionen Euro zur Verfügung wie von den Verbänden, also dem Gewerbe, wurden steht. jüngst verschiedene Maßnahmen steuerlicher Art vorge- Die Maut funktioniert in Deutschland seit zwei Jah- schlagen, um die bestehende Harmonisierungslücke ren. Aber erst jetzt fängt man ein bisschen mit einer Lö- von 350 bis 450 Millionen Euro – je nachdem, ob man sung an. das Innovationsprogramm hinzuzählt oder nicht – zu schließen. Die Bundesregierung prüft derzeit, ob diese (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) Maßnahmen geeignet und inwieweit sie mit den Be- Das ist das Positive. Das Negative ist: Sie sind nach wie schlüssen der Bundesregierung zur Neuausrichtung der vor – das hat Ihre Rede, Herr Staatssekretär, deutlich ge- Subventionspolitik vereinbar sind. macht – nicht in der Lage, dem Gewerbe belastbar und Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehe ich planbar nachzuweisen, wie man die 350 oder 450 Millio- auch die EU in der Verantwortung. Auf europäischer nen Euro, die noch ausstehen, aufbringen will. Ebene muss eine Harmonisierung der Besteuerung der Ich finde es schon bemerkenswert, dass Sie jetzt mit Kraftstoffe erreicht werden. Die Europäische Kommis- dem Finger auf die EU zeigen und sagen, diese könnte sion hat am 13. März 2007, also vor wenigen Wochen, uns ja erlauben, die Mineralölsteuer für den Diesel für einen Richtlinienvorschlag für die Besteuerung von ge- die gewerbliche Nutzung zu senken. Wenn ich recht in- werblich genutztem Diesel vorgelegt. Mit der darin vor- formiert bin, hat die Bundesregierung, die Sie schon mit- geschlagenen Änderung würde für Deutschland die getragen haben – nämlich die rot-grüne –, mit der Öko- Möglichkeit zur Absenkung des Steuersatzes für ge- steuer begonnen, die bei uns schon immer vorhandene werblichen Diesel und damit die Möglichkeit einer Steu- Spreizung bei Mineralölsteuererhöhungen zwischen Ot- erspreizung zwischen gewerblich und privat verwende- tokraftstoff und Dieselkraftstoff ganz bewusst aufzuhe- tem Diesel entstehen. ben. Das BMVBS begrüßt die Initiative der Kommission (Zuruf von der FDP: Richtig!) ausdrücklich, die einen wichtigen Schritt zur Harmoni- sierung der Besteuerung der Kraftstoffe auf europäischer Wir sind eines der wenigen Länder in der EU, das be- Ebene darstellt. Damit würden wir die Möglichkeit er- reits jetzt über den Mindeststeuersätzen für Mineralöl halten, das deutsche Transportgewerbe, das sowohl liegt, die die EU für das Jahr 2012 vorsieht. Was hindert 9892 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Sie denn jetzt daran – Sie haben doch die Mehrheit! –, der schon das versprochen hat, sagt, es stehe ja im Ge- (C) als Abrundung des ganzen Programms die Mineralöl- setz, dass, wenn das im Anschluss nicht kommt, die steuer für das Gewerbe zu reduzieren und damit den Mautsätze wieder reduziert werden, dann kann ich nur Harmonisierungsbeitrag zu erfüllen? sagen: Das ist ein Zukunftsversprechen, an das ich erst dann glaube, wenn es tatsächlich erfüllt worden ist. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Nein, Sie retten sich seit langer Zeit mit der famosen Aussage, die Absenkung der Maut bei deren Einführung Vor dem Hintergrund werden Sie Verständnis dafür um 600 Millionen Euro gegenüber dem Durchschnitts- haben, dass wir Investitionsbeihilfen, die zeitlich immer satz, den die EU uns für Autobahnen genehmigt hat, sei befristet sein werden, grundsätzlich nicht gegen eine un- ein Harmonisierungsbeitrag gewesen. Das hat Herr begrenzt geltende Mautanhebung eintauschen werden. Stolpe schon erzählt, Herr Tiefensee setzt das fort, und Dieses Instrument ist untauglich; es gibt andere. Deswe- Sie bringen es auch regelmäßig. Das gleichmäßige Ab- gen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen. Wir senken der Maut für alle ist doch kein Harmonisierungs- wollen uns nicht in Haft nehmen lassen, wenn die Bun- beitrag für das deutsche Gewerbe! Das war nie richtig desregierung gegenüber dem deutschen Transportge- und wird auch nicht durch ständiges Wiederholen richti- werbe wieder wortbrüchig wird. ger. Danke sehr. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Deswegen setzen Sie jetzt etwas um, was die Op- position damals schon als Plan B rechtzeitig für den Fall Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: aufsetzen wollte, dass sich andeutet, dass die EU das Mi- Ich erteile der Kollegin Dorothée Menzner von der neralölsteueranrechnungsverfahren, das Sie so hoch ge- Fraktion Die Linke das Wort. halten haben, nicht genehmigt. Nein, Sie haben es erst einmal in Brüssel scheitern lassen müssen. Sie haben Dorothée Menzner (DIE LINKE): dann einen zweiten Anlauf genommen, der wieder ge- scheitert ist. Die Begründung war, man könne doch nicht Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und einen Plan B aus der Schublade holen, weil man damit Kollegen! Die Lkw-Maut in diesem Land ist kein Ruh- seine Position in Brüssel beim Mautanrechnungsverfah- mesblatt: weder für die jetzige Bundesregierung noch für ren schwäche. Entschuldigen Sie, aber das ist doch Un- die vorherige. sinn! (Zurufe von der SPD: Doch! – Ein Erfolgs- (B) Das Problem ist, dass man dem Gewerbe mit Einfüh- modell!) (D) rung der Maut eine Harmonisierungsleistung zugesagt Es ist schon angesprochen worden: Mehr als zwei hat, die sich aus ganz anderen Kriterien ergibt. Ich habe Jahre ist es her, dass die Lkw-Maut eingeführt wurde. noch die Worte des ehemaligen Verkehrsministers Doch unsere Spediteure können erst jetzt mit einer teil- Bodewig bei einer Versammlung des Bundesverbandes weisen Mautkompensation rechnen, die ihnen vor lan- für Güterverkehr und Logistik, als es um die Harmoni- ger, langer Zeit – auch das wurde schon angesprochen – sierung ging, im Ohr. Er hat damals gesagt, dass wir in in Aussicht gestellt wurde. Deutschland dann, wenn die anderen Länder in Europa die Vorteile nicht umsetzen, die Harmonisierung einfüh- Im Mai 2003, also vor genau vier Jahren, haben Bun- ren werden. Auf die Umsetzung dieser Zusage warte ich destag, Bundesrat und Bundesregierung den legendären eigentlich heute noch. Mautkompromiss getroffen. Damals wurde vereinbart, 600 Millionen Euro aus den Mauteinnahmen zugunsten (Beifall bei der FDP) des hiesigen Speditionsgewerbes als Ausgleich für die Kfz- und die Mineralölsteuer zu verwenden, die auslän- Als Antwort von Rot-Grün kam dann: Wir beteiligen dische Lkw hierzulande nicht entrichten. uns doch nicht an einem Wettlauf nach unten bei der Be- steuerung; Europa ist gefordert. – Es bleibt also zwie- Die Linke meint: Da sollte jetzt schnellstens Klarheit spältig. Deswegen kann ich in Bezug auf das Gewerbe geschaffen werden. Einerseits hat das Speditionsge- sagen, dass es bei der Kfz-Steuer ein kleines Licht am werbe Anspruch auf einen korrekten Ausgleich. Ande- Ende des Tunnels gibt. Das Interessante an dem Gesetz- rerseits muss die Lkw-Maut schnellstens auf das EU- entwurf mit den Investitionsanreizen ist Folgendes: Sie rechtlich mögliche Maß erhöht werden. Das beträgt be- erhöhen die Maut. Wenn sich aber bis zum 30. Septem- kanntlich 15 Cent je gefahrenen Kilometer. Aber dem ber 2008, wenn die Förderung auslaufen muss, weil die steht dieser Mautkompromiss jetzt entgegen. EU für diesen Zeitpunkt den Euro-5-Motor gesetzlich vorgeschrieben hat, nichts Neues in der Anschlussförde- Die Koalition und die Regierung kneifen. Sie geben rung ergibt, soll die Maut wieder reduziert werden. Das den inländischen Spediteuren durch die Senkung der kann man glauben – oder auch nicht! Kfz-Steuer, wie eben angesprochen, nur 150 Millionen Euro zurück. Da fehlen noch 350 Millionen bis 450 Mil- Dem Gewerbe wurden per Handschlag im Kanzler- lionen Euro. Statt Zusagen einzuhalten, wurschtelt die amt 600 Millionen Euro Harmonisierungsbeitrag ver- Regierung weiter. Die Maut soll von zurzeit 12,4 Cent sprochen, wenn die Maut kommt. Das dauert nun vier um etwa einen Cent auf 13,5 Cent erhöht werden. Es ist Jahre und ist zu 20 Prozent erfüllt. Wenn jetzt jemand, in Aussicht gestellt, dass sie ab Oktober 2008 um Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. 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Dorothée Menzner (A) 0,45 Cent je Kilometer gesenkt wird. Wenn unserem Markt mit. Nebenbei gesagt: Bedauerlich ist nur, dass (C) Verkehrsminister zwischenzeitlich noch eine andere Re- dies in der Ökobilanz der DB AG, die gerade den Tages- gelungsmöglichkeit einfällt, dann gibt es 2009 vielleicht zeitungen beigelegt worden ist, keinen Niederschlag ge- wieder eine Erhöhung. Das würde bedeuten, dass es in- funden hat. Ein Schelm, der Böses dabei denkt! nerhalb von 18 Monaten vier verschiedene Mautsätze gibt. In Deutschland hat das überwiegend mittelständisch geprägte Straßengüterverkehrsgewerbe rund 600 000 Be- Man muss wissen, dass Fachleute sagen – auch das ist schäftigte und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von kein Geheimnis –, dass eine grundlegende Reform der 30 Milliarden Euro. Die Branche gehört nicht nur zu den Maut anstehen würde. Nicht irgendwann in ferner Zu- zentralen Wirtschaftszweigen am Standort Deutschland, kunft, sondern relativ zeitnah müssten unterschiedliche sondern leistet auch einen hohen Beitrag zur Bruttowert- Mautsätze je nach Abgasausstoß der Fahrzeuge einge- schöpfung in unserem Land und ist Garant für den Fort- führt werden. bestand der arbeitsteiligen Volkswirtschaften Europas. Wir könnten uns jetzt damit trösten, dass die im Ge- Auch 14 Jahre nach Beginn des EU-Binnenmarktes setz ab Oktober 2008 festgelegten Mautsätze nach dem für Dienstleistungen gibt es immer noch keine vollstän- Zeitplan der Bundesregierung vielleicht nie zur Anwen- dige Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen. Das dung kommen. Aber ich nehme diesen Gesetzentwurf deutsche Straßengüterverkehrsgewerbe leidet besonders der Bundesregierung zum Anlass, einmal sehr ernsthaft stark unter den fortbestehenden Wettbewerbsverzer- zu fragen, was wir hier eigentlich tun. Wir reden perma- rungen. Nach der EU-Erweiterung haben die Kostenun- nent vom Bürokratieabbau, aber gleichzeitig schaffen terschiede zwischen den alten und den neuen EU-Staaten wir mit solch unzulänglichen Gesetzen mehr Undurch- den ohnehin schon hohen Preisdruck deutlich verschärft. sichtigkeit. Faire Wettbewerbsbedingungen für die deutschen Be- (Beifall bei der LINKEN) triebe sind eigentlich nur durch eine schnelle Harmoni- sierung innerhalb der EU zu erreichen. Dieses Gesetz – das muss man Ihnen lassen – ist durchaus ein Meisterwerk, ein Meisterwerk getreu dem Mit der Einführung der streckenbezogenen Lkw- Motto „Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht Maut in unserem Lande ist eine gerechtere Wegekosten- nass!“. Es hält allen Akteuren die Türen weiter offen, um anlastung für das europäische Straßengüterverkehrsge- munter an den Stellschrauben zu drehen. Dass mit dieser werbe in Deutschland erreicht worden. Die Union hat Pfennigfuchserei über die Notwendigkeiten hinwegge- stets die Auffassung vertreten, dass weitere Harmoni- täuscht wird, finde ich wahrlich meisterlich. sierungsmaßnahmen dringend erforderlich sind, damit (B) Uns als Linke ist das zu wenig. Genau aus diesem das deutsche Güterverkehrsgewerbe den Wettbewerb in (D) Grund können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustim- Europa erfolgreich bestehen kann. men. Mit einer Senkung der Maut ab Oktober 2008 wür- (Beifall bei der CDU/CSU) den wir dazu beitragen, einen minimalen Anreiz – er ist wirklich nur minimal – für eine bessere ökologische Bi- Deswegen hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion 2003 lanz des Lkw-Verkehrs wieder zu kassieren. Gerade im Vermittlungsverfahren zum Autobahnmautgesetz da- nach den Debatten und nach dem, was wir in den letzten rauf gedrängt, das deutsche Straßengüterverkehrsgewerbe Tagen in den Zeitungen lesen konnten, entspricht dies mit einem Harmonisierungsvolumen von 600 Millionen nicht den Zeichen der Zeit. Euro zu entlasten. Das war in der Tat ein Faustpfand, (Beifall bei der LINKEN) Herr Kollege Friedrich, und keine Harmonisierung. Im- merhin war es aber eine Kostenentlastung. Als Faust- Angesichts des Klimawandels ist ein großer Wurf nö- pfand haben wir damals vereinbart, dass der geplante tig – er ist nach EU-Recht auch möglich –, aber nicht durchschnittliche Mautsatz nicht 15 Cent pro Kilometer diese Flickschusterei, die uns hier vorgelegt wird. beträgt, sondern auf 12,4 Cent pro Kilometer gesenkt wird, bis er dann mit der Durchsetzung einzelner Harmo- Danke. nisierungsschritte für das Gewerbe jeweils sukzessive er- (Beifall bei der LINKEN) höht werden kann. Damit haben wir damals eine richtige Entscheidung getroffen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Im Koalitionsvertrag hat sich die Große Koalition zu Nun erteile ich dem Kollegen Dirk Fischer, CDU/ dieser Zusage bekannt und das Ziel der Schaffung fairer CSU-Fraktion, das Wort. Wettbewerbsbedingungen für das deutsche Güterkraft- verkehrsgewerbe festgeschrieben. Das zunächst prioritär Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): verfolgte Mautermäßigungsverfahren in Verbindung Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und mit in Deutschland gezahlter Mineralölsteuer wurde von Kollegen! Die Verkehrsleistung des Straßengüterver- der EU-Kommission im Beihilfeprüfverfahren abge- kehrsgewerbes betrug 2006 434 Milliarden Tonnenkilo- lehnt. – Herr Kollege Friedrich, an dieser Stelle muss meter. Der Anteil des Gewerbes am Modal Split in deutlich gesagt werden: Es war der Wunsch des Gewer- Deutschland beträgt rund 70 Prozent. Selbst die DB AG bes, zunächst dieses Verfahren zu betreiben, wodurch mischt über ihre Lkw-Sparte Schenker, den größten natürlich, da es gescheitert ist, ein Zeitverlust eingetreten Lkw-Carrier in Deutschland und Europa, in diesem ist. – Nach Auffassung der Kommission hätte dieses 9894 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. 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Dirk Fischer (Hamburg) (A) Verfahren ausländische Spediteure benachteiligt, die sel- die Kfz-Steuer und ein Teil der gezahlten Lkw-Maut (C) tener in Deutschland tanken. künftig nicht mehr aufwandsmindernd abgerechnet, son- dern direkt von den Gewinnsteuern abgesetzt werden Unabhängig von den Erfolgsaussichten einer Klage könnten und damit teilweise zu durchlaufenden Posten gegen die Entscheidung der Europäischen Kommission würden. hat sich die Bundesregierung angesichts eines Zeitbe- darfs von geschätzten sechs bis zehn Jahren bis zu einem Dazu gehört auch – der Parlamentarische Staatssekre- Endurteil in Abstimmung mit dem Gewerbe dafür ent- tär Achim Großmann hat es angesprochen; ich begrüße, schieden, dieses Mautermäßigungsverfahren nicht wei- was Sie dazu gesagt haben –, dass Art. 4 der geänderten ter zu verfolgen. EU-Energiesteuerrichtlinie die Möglichkeit vorsieht, den Steuersatz für Gewerbediesel im Zusammenhang mit Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden jetzt al- der Maut zu senken, sofern der Mindeststeuersatz nicht ternative Harmonisierungsmaßnahmen angegangen. Die unterschritten wird, was bisher schon möglich ist, wenn Kfz-Steuer für schwere Nutzfahrzeuge wird auf das eu- der Steuersatz nicht unter das Niveau vom 1. Januar roparechtlich zulässige Mindestniveau gesenkt. Das führt 2003 abgesenkt wird. zu einem Entlastungsvolumen von 150 Millionen Euro gegenüber den ausländischen Wettbewerbern. Ferner Unter dem Strich: Für die CDU/CSU-Fraktion ist das wird bis zum 30. September 2008 – länger ist es nicht ge- Thema Harmonisierung im Bereich des Straßengüterver- nehmigt – ein Innovationsprogramm von 100 Millio- kehrsgewerbes nicht erledigt. Wir sind und bleiben ver- nen Euro aufgelegt, um die Anschaffung besonders emis- pflichtet, die mit der Einführung der Lkw-Maut zuge- sionsarmer Lkws der Euro-5-Klasse zu fördern. Beide sagte Harmonisierung Zug um Zug zu erfüllen. Harmonisierungsmaßnahmen werden durch die Anhe- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. bung der Maut auf durchschnittlich 13,5 Cent pro Kilo- meter gegenfinanziert. (Beifall bei der CDU/CSU) Gleichzeitig haben wir geregelt, dass die Mautsätze mit dem Auslaufen des befristeten Innovationsprogramms Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zum 1. Oktober 2008 wieder automatisch um 0,44 Cent Nun hat Kollege Winfried Hermann, Fraktion Bünd- pro Kilometer gesenkt werden. Ob im Anschluss daran nis 90/Die Grünen, das Wort. ein Euro-6-Förderprogramm aufgelegt werden sollte, was gemäß EU-Genehmigung innerhalb eines Zeitraums Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): von insgesamt bis zu sechs Jahren möglich wäre, hängt Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen nach unserer Auffassung natürlich zunächst einmal von und Kollegen! Wir haben es heute mit einem richtig gro- (B) der Markteinführung solcher Fahrzeuge ab, aber auch ßen Gesetz der Großen Koalition zu tun. Man könnte es (D) von der aktuellen Beurteilung der Investitionskraft des auch den dritten Versuch einer Harmonisierung im Gewerbes. Man kann dem mittelständischen Gewerbe Bereich des Güterverkehrs nennen. Zweimal ist man nicht einen permanenten Investitionsstress aufoktroyie- gescheitert, zweimal hat man einen Vorstoß gemacht, der ren, den es mangels Investitionsfähigkeit gar nicht beste- nicht EU-kompatibel, der nicht mit dem Beihilferecht hen kann. Dann würde gerade bei den mittelständischen der EU vereinbar war. Jetzt macht man einen dritten An- Betrieben eine Förderung völlig ins Leere laufen. Des- lauf. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben deut- wegen müssen wir das hinterher prüfen. lich gemacht, dass es nur der Versuch einer Harmonisie- (Beifall bei der CDU/CSU) rung ist. Er ist nicht gelungen. Denn er ist, wie ich finde, zu kurz gegriffen, weil nur die Perspektiven des Gewer- Das heute beschlossene Harmonisierungsvolumen in bes und zu wenig andere Aspekte berücksichtigt werden; der Höhe von 250 Millionen Euro, von denen nur so haben auch manche Kollegen argumentiert. 150 Millionen Euro nachhaltig sind, ist also nur ein ers- Es handelt sich um den mutigen Schritt, die Kfz- ter Schritt zur Beseitigung von diskriminierenden Wett- Steuer abzusenken und gleichzeitig die Maut um bewerbsverzerrungen. Der Bund bleibt gegenüber dem 1,1 Cent zu erhöhen. So weit, so gut. Dies ist ein kleines Straßengüterverkehrsgewerbe in der Pflicht, weitere Schrittchen, das in einem Jahr wieder zurückgenommen Harmonisierungsschritte bis zum zugesagten Gesamtvo- wird, wenn die Lkw-Maut um 0,45 Cent gesenkt wird. lumen von 600 Millionen Euro zu erbringen. Er muss Am Ende bleiben von dem ganz großen Schritt daher alle Möglichkeiten prüfen, um die fortbestehende 0,65 Cent an Erhöhung übrig. Dies wird als mutige Er- Harmonisierungslücke zu schließen. Dazu gehört auch höhung dargestellt, obwohl wir die Chance hätten, im die fachliche Prüfung und politische Beurteilung der Güterverkehr durch die Maut als Steuerungsinstru- vom Gewerbe vorgeschlagenen steuerlichen Erleichte- ment tatsächlich lenkend in die Beförderungsleistung rungen, zum Beispiel der Verkürzung der Abschrei- von Straße und Schiene einzuwirken. Diese Möglichkeit bungsfrist und der Einführung eines Steuerfreibetrages der Politik ist hier glatt verspielt worden. für Fahrzeugveräußerungsgewinne. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dazu gehört auch, dass wir wahrnehmen müssen, dass die EU-Kommission es nicht untersagt hat, dass In anderen Ländern geht man deutlich mutiger voran. Frankreich für seine Transportunternehmen die Gewer- Die Schweiz ist inzwischen längst beim fünffachen Satz besteuer abgesenkt hat. Das Gewerbe weist auch darauf der deutschen Maut. So schnell und so mutig müssen wir hin, dass Doppelbelastungen vermieden würden, wenn nicht sein. Aber auch die Österreicher sind inzwischen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9895

Winfried Hermann (A) bei mehr als dem doppelten Satz. Deswegen meinen wir (Beifall bei der SPD) (C) Grüne, dass eine maßvolle Erhöhung der deutschen Das gilt sowohl für den Wettbewerb der Verkehrsträ- Maut aus Klimaschutzgründen angemessen und an der ger als auch für die notwendige Beteiligung deutscher Zeit ist. Wir könnten ohne weiteres auf 15 Cent pro Ki- und ausländischer Spediteure an den Kosten der Infra- lometer erhöhen. Das wäre nicht mehr als billig. struktur in Deutschland. Das sollte man in diesem Zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sammenhang nicht vergessen. Diese Beteiligung ist nach Auffassung der SPD-Fraktion genauso gerechtfertigt wie Wir sind der Meinung, dass die Ausweitung auf die das Harmonisierungsvolumen von 600 Millionen Euro kleinen Lkws bis 3,5 Tonnen, die bisher von der Maut jährlich. ausgenommen sind, ansteht. Wir glauben auch, dass die überregionalen Bundesstraßen, die Autobahnen ähn- Ohne EU-Kommission geht aber nichts. Dem Vorha- lich sind, endlich in das Mautsystem einbezogen werden ben der Bundesregierung vom Mai 2003 – damals war müssen. übrigens Rot-Grün an der Regierung; die Grünen waren also mit dabei – wurde, wie allgemein bekannt ist, von (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- der EU-Kommission im Januar 2006 nicht zugestimmt. SES 90/DIE GRÜNEN) (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- All das ist mehr als angemessen und notwendig. Das NEN]: Wir haben immer davor gewarnt!) Umweltbundesamt hat ebenso wie die Europäische Union mehrfach die externen Kosten ausgerechnet. In Deshalb erfolgt eine Absenkung des Kfz-Steuersatzes diesen Tagen hat die „Allianz pro Schiene“ eine neue für schwere Lkw auf das europarechtlich zulässige Min- Untersuchung vorgelegt. All diese Untersuchungen bele- destniveau. Mehr geht nicht. Das ist aber kein Grund, gen nicht nur eindeutig, dass die Belastung durch den nicht neue Wege zu suchen. Diese Absenkung hat im- Schwerverkehr auf den Straßen für die Straßen groß ist, merhin ein Volumen von 150 Millionen Euro. Nach un- sondern auch, dass die Folgen für Umwelt und Klima serer Auffassung ist das ein richtiger Schritt. Ich gehe gewaltig sind. Man kann die Belastung ausrechnen: Ihr fest davon aus, dass der Bundesrat den Weg dafür in sei- Volumen umfasst mehrere Milliarden Euro. Wenn man ner nächsten Sitzung endgültig freimacht. das in Cent umrechnet – so sagt es zum Beispiel das Damit sind wir bei der gemeinsamen Verantwortung UBA –, wäre es angemessen, die Maut um 17 Cent zu für die Infrastruktur in Deutschland. Die Koalition hat erhöhen. bei den Haushaltsberatungen 2007 für eine Nachbesse- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wir dürfen rung im dreistelligen Millionenbetrag gesorgt. Es heißt doch nur 15! Das wisst ihr doch, Mensch! Ihr immer: Jeder kann seinen Beitrag leisten. Mitunter ist (B) wart doch auch ein paar Jahre an der Regie- der Beitrag der Länder in diesem Bereich aber etwas (D) rung!) dürftig. Das gilt übrigens für jede Farbenlehre, auch für die FDP, die in Niedersachsen an der Regierung beteiligt – Ich sage, dass das aus ökologischen Gründen angemes- ist, was den Anteil an Investitionen in Landesstraßen be- sen wäre; so argumentiert das UBA. Auch ich weiß, dass trifft. das nicht möglich ist. Das deutet aber an, was ökologisch zu rechtfertigen ist, was zwingend zu tun wäre und wie (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Stets über klein der Schritt ist, der mit dieser Maßnahme gemacht jeden Zweifel erhaben!) wurde. Güterverkehr gibt es auch auf Landesstraßen. Das ist Sie sehen: Mit diesem kleinen Gesetz werden kleine übrigens ein Grund, der allgemeinen Ausweitung der Schritte unternommen. Es wirkt fast ein bisschen pein- Lkw-Maut auf Bundesstraßen nicht zuzustimmen. Eine lich: einen Cent hoch und dann wieder runter. Das ist Möglichkeit der Umfahrung mautpflichtiger Straßen aber typisch für diese Koalition: Sie ist groß und macht würde sich dann nämlich an jeder Straßenkreuzung bie- ganz kleine Schritte. ten. Das sollte man sich auch im Interesse des nachge- ordneten Netzes gut überlegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Na, na!) (Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau) Es ist immer richtig, einen Beitrag zur Reduzierung Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der Emissionen zu leisten. Dazu dient das 100-Millio- Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Vogelsänger, SPD- nen-Euro-Programm zur Anschaffung emissionsar- Fraktion. mer Nutzfahrzeuge. Es ist zwar zeitlich begrenzt, ich gehe aber davon aus, dass es nicht das letzte Programm (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dieser Art ist. Im Interesse der Umwelt müssen und wer- den wir diesbezüglich am Ball bleiben. Jörg Vogelsänger (SPD): (Beifall bei der SPD) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Die Lkw-Maut hat im Bundestag Das Transportgewerbe ist einer der größten Arbeitgeber schon für viel Diskussionsstoff gesorgt. Jetzt kann insge- in unserem Land; der Kollege Fischer hat darauf hinge- samt eine positive Bilanz gezogen werden: Die Maut wiesen. Wir sollten deshalb verdeutlichen: Die wirt- sorgt für mehr Gerechtigkeit. Das sage ich auch an die schaftliche Entwicklung, der Aufschwung wäre ohne das Adresse der Grünen. Transportgewerbe nicht möglich. Der Transport muss si- 9896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Jörg Vogelsänger (A) chergestellt werden. Es sind Menschen, die dafür sorgen, rer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- (C) dass die Transporte zu den Unternehmen und zu den KEN Menschen kommen. Ich bin dagegen, dass, wie es immer Vollständige Öffnung der Postmärkte stop- wieder geschieht, ihnen der Schwarze Peter zugescho- pen – Universaldienstverpflichtung absi- ben wird. chern (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der – Drucksachen 16/3623, 16/4044, 16/4600 – CDU/CSU) Berichterstattung: Deutschland ist und bleibt die wichtigste Verkehrs- Abgeordneter Klaus Barthel drehscheibe in Europa. Das Netz der Bundesautobahnen b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- hat die beeindruckende Länge von mehr als neten Sabine Zimmermann, Werner Dreibus, Ulla 12 000 Kilometern. Wir sollten das als Standortvorteil Lötzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion begreifen. Gerade wir Verkehrspolitiker haben die Auf- der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines gabe, mit diesem Standortvorteil für Deutschland Wer- … Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes bung zu machen. – Drucksache 16/4908 – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schuss) – Drucksache 16/5276 – Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Berichterstattung: Abgeordneter Alexander Dobrindt Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kraftfahrzeugsteuerlicher und autobahnmautrechtlicher dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vorschriften. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung Ich eröffne die Aussprache. auf Drucksache 16/5234, den Gesetzentwurf der Bundes- Das Wort hat der Kollege Alexander Dobrindt für die regierung auf Drucksachen 16/2718 und 16/2935 (neu) Unionsfraktion. (B) in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- (D) gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da- gegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit Alexander Dobrindt (CDU/CSU): in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Frak- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über tion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Frak- die Postdienstleistungen reden, müssen wir uns bewusst tion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. machen, dass in Deutschland in diesem Bereich mehr als 200 000 Menschen beschäftigt sind. Nebenbei bemerkt: Dritte Beratung Für viele kann es eine berufliche Chance bedeuten, zu- künftig einen liberalisierten Postmarkt zu haben. Es gibt und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Millionen Menschen in Deutschland, die sich täglich der Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Postdienstleistungen bedienen, sie nutzen, Briefe ver- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- schicken und sonstige Dienstleistungen in Anspruch entwurf ist damit angenommen. nehmen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Große Chance!) a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Die Menschen beschäftigt letztlich die Frage: Hat der richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Wettbewerb, hat der freie Markt, der kommen soll, für nologie (9. Ausschuss) mich positive oder negative Auswirkungen? Selbstver- – zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Zeil, ständlich müssen wir auf diese Frage eine Antwort ge- Gudrun Kopp, , weiterer Ab- ben. Genauso müssen wir klären, wann, wo und unter geordneter und der Fraktion der FDP welchen Bedingungen Wettbewerb bei den Postdienst- leistungen entstehen soll. Darauf gebe ich die klare Ant- Keine Verlängerung des Briefmonopols – wort: Für mich ist der 1. Januar 2008 das Datum, zu dem Wettbewerb auf dem deutschen und euro- wir eine Liberalisierung des Postmarkts haben wollen. päischen Postmarkt ermöglichen (Beifall bei der FDP) – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Diese Öffnung soll natürlich in bestimmten Rahmen- Sabine Zimmermann, Dr. Barbara Höll, weite- bedingungen passieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9897

Alexander Dobrindt (A) (Beifall bei der SPD) der Menschen, die zusätzlich zu ihrem Lohn weiteres (C) Geld vom Arbeitsamt erhalten –, im Rahmen von Post- Es geht dabei um die Rahmenbedingungen für die Kun- dienstleistungen beschäftigt sind. Wenn man rechnen den, um die Rahmenbedingungen für die betroffenen kann – Sie haben uns das in dieser Woche im Ausschuss Arbeitnehmer und um die Rahmenbedingungen für die ja vorgerechnet –, dann kommt man auf eine Zahl von betroffenen Unternehmen. Wir wollen Rahmenbedin- circa 8 000 Menschen. Ich will jetzt nicht sagen, dass sie gungen, die so sind, dass wir in der Summe eine positive nur im Rahmen von alternativen Postdienstleistungen Weiterentwicklung des Postdienstmarktes bekommen. oder sonst wo beschäftigt sind, aber selbstverständlich Meine Damen und Herren, es klingt immer ein bisschen muss man sich die Frage stellen, ob es in Ordnung ist, leicht dahergesagt: Betreiben wir einen freien Wettbe- dass es Unternehmen gibt, die durch sehr, sehr niedrige werb bei Postdienstleistungen. – In Wirklichkeit steckt Löhne für einen erheblichen Teil ihrer Mitarbeiter versu- natürlich ein riesiger Markt in Europa dahinter. 90 Mil- chen, hier ein Geschäft zu machen. liarden Euro werden in diesem Markt jährlich umgesetzt. Eines der größten Projekte der Europäischen Union in ( [SPD]: Oder geringerer Ar- der nahen Zukunft ist es, hier einen echten Binnen- beitszeit!) markt zu forcieren. Wir erwarten uns von diesem Bin- Wir müssen ganz klar sagen: Wir haben den Auftrag nenmarkt und diesem verstärktem Wettbewerb letztlich an alle erteilt, dafür zu sorgen, dass in den nächsten Mo- natürlich sinkende Preise für die Verbraucher, neue Pro- naten hier Abhilfe geschaffen wird und dass sicherge- dukte, in der Summe einen besseren Service und natür- stellt wird, dass diese Leute durch ihre Beschäftigung lich auch mehr Kundenzufriedenheit. Also noch einmal: eine ordentliche Entlohnung erzielen können. Es stellt sich die entscheidende Frage, ob diese Post- dienstleistungen für die Menschen besser oder schlechter (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden. DIE GRÜNEN) Man kann darüber diskutieren, ob ein Markt einfach Ich selber habe in den Gesprächen mit den Wettbewer- besser ist. Ein Markt ist aus meiner Sicht nur dann bes- bern festgestellt, dass sie sich bemühen, diese Arbeitssi- ser, wenn er ein europäisch funktionierender Markt ist. tuationen zu schaffen. In Gesprächen mit den entspre- Wir erleben auch Märkte, bei denen wir große Hoffnun- chenden Sozialpartnern wollen sie dafür sorgen, dass es gen hatten und wo inzwischen Bedenken eingetreten hier zu einer deutlichen Besserung kommt. Ich möchte sind. Ich erinnere einmal an den Strommarkt. Wir hätten erleben, dass es irgendwann in Deutschland nicht nur es gerne, dass er besser funktioniert, als er es heute tut. fair gehandelten Kaffee, sondern auch eine fair gehan- Ich erinnere auch gerne daran, dass wir schon in den delte Briefmarke gibt. Wir wollen, dass auch in Zukunft (B) (D) vergangenen Wahlperioden darüber diskutiert haben, die Postdienstleistungen in ihrer bisherigen Güte mög- wie wir mit dem Thema Post umgehen können. Jeder lich sind. Ich glaube daran, dass wir das auch innerhalb von Ihnen kann sich heute sicherlich noch an die Situa- Europas schaffen. tion erinnern, als es um den Abbau von Briefkästen, die In diesem Zusammenhang möchte ich mich auch bei Schließung von Postfilialen und Postämtern in Deutsch- der Bundesregierung für ihr Bemühen bedanken, alle eu- land und vieles mehr ging. Wir hatten große Bedenken, ropäischen Länder in dieses Vorhaben mit einzubeziehen ob der Dienstleistungsmarkt für den Kunden so aufrecht- und einen europäischen Gleichklang zu erreichen. erhalten werden kann, wie er bisher war. Nach dem bisherigen Stand – das sieht die europäische Wir müssen heute auch feststellen: Es gibt positive Postrichtlinie vor – soll die Liberalisierung der Post- Entwicklungen. Postpoint ist eine, die ich hier nennen märkte bis zum 1. Januar 2009 erreicht werden. Es ist will. Durch dieses Format der Post werden heute in der aber auch davon die Rede, dass sie zu einem späteren breiten Fläche – auch im ländlichen Raum; sicherlich in Zeitpunkt erfolgen kann. Entscheidend ist aber nicht, ob reduzierter Form – postalische Dienstleistungen angebo- es 2008, 2009 oder 2010 sein wird. Für uns ist die ent- ten. Ich glaube, dass hier schon erkennbar ist, dass es scheidende Frage, ob möglichst viele Märkte in Europa auch im Wettbewerb neue Formen geben wird, die letzt- beteiligt sein werden, wenn es zur Liberalisierung des lich dazu führen, dass die Menschen, die diese Post- Postmarktes in Europa kommt, und ob es zu einem euro- dienstleistungen in Anspruch nehmen, einen größeren päischen Wettbewerb kommen wird, den wir gerne wol- Nutzen haben. len. Wir haben in den letzten Wochen die in den Medien Wir treten auch weiterhin dafür ein, die Märkte zu inzwischen sehr deutlich werdende Diskussion über die öffnen. Wir wollen aber auch, dass sich alle anderen mit Frage hören können – allerdings durchaus mit Sorge –, uns gemeinsam bemühen, diesen europäischen Markt zu ob es im alternativen Postbereich Lohndumping gibt. schaffen. Ich glaube, dass wir dann die Chance haben, Dies ist ein Thema, das wir heute mitdiskutieren müssen. für die Kunden, die Mitarbeiter und die Unternehmen Ich sage Ihnen, dass wir das, was hier teilweise erkenn- eine Marktsituation zu schaffen, die letztlich für alle pro- bar ist, natürlich mit großem Unbehagen und großer fitabel ist, und einen neuen Postmarkt zu ermöglichen, Sorge betrachten. der neue Produkte, Anreize und Möglichkeiten für alle Kunden bietet. Es gibt eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen. In ihr steht, dass 1,4 Prozent der Ich glaube, dass wir insgesamt auf einem guten Weg 600 000 Aufstocker, die es in Deutschland gibt – also sind. Auch wenn es zurzeit noch Probleme gibt, bleibt es 9898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Alexander Dobrindt (A) dabei, dass wir die Liberalisierung des Postmarktes zum ter mannhaft: „Ich halte am Ende des Briefmonopols (C) 1. Januar 2008 wollen. fest“, während der Finanzminister gleichzeitig über eine Verlängerung spekuliert. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nach einem Gipfeltreffen von Frau Merkel und Herrn neten der SPD) Beck zu diesem Thema hieß es: Wir haben uns endgültig geeinigt; das Briefmonopol fällt. – Wenige Tage später nutzte dann der Vizekanzler die Gunst der Stunde, um Vizepräsidentin Petra Pau: Herrn Beck wieder einmal vorzuführen. Gegen dieses Das Wort hat der Kollege Martin Zeil für die FDP- ewige Hin und Her ist ein Slalom eine gerade Linie. Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Diese Debatte muss nun dringend beendet werden; Martin Zeil (FDP): denn sie gibt nicht nur die Bundesregierung der Lächer- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lichkeit preis. Vielmehr verunsichert sie auch die Markt- Die Auseinandersetzung um das Postmonopol ist fast so teilnehmer. Die Argumente sind weitgehend ausge- alt wie das Postwesen selbst. Der Exklusivauftrag Kaiser tauscht. Ich möchte nur ganz kurz auf die wesentlichen Friedrichs III. an den ersten Thurn und Taxis im Jahre eingehen. 1451 war noch relativ unumstritten, da es außer den rei- Erstens. Wir haben durch eine Liberalisierung die tenden Boten noch keine Wettbewerber gab. Aber schon Chance, eher zu einem Aufbau als zu einem Abbau von bald wollten auch andere im Deutschen Reich – Fürsten- Arbeitsplätzen zu kommen. Es gibt Schätzungen, die tümer, Reichsstände, Städte und Kaufmannschaften – am bis zu 53 000 neuen Arbeitsplätzen reichen. Auch die einträglichen Postgeschäft mit verdienen. Sie gründeten Furcht vor den ausländischen Anbietern ist unberechtigt. ihre eigene Post, die in Konkurrenz zu der Reichspost Postunternehmen handeln global. Arbeitsplätze werden trat. aber vor Ort geschaffen. Die Wettbewerber der Post sind Daraufhin erklärte Kaiser Rudolf II. die Reichspost weitgehend inländische Unternehmer. Deswegen liegt im Jahre 1597 zum kaiserlichen Privileg. Damit erlangte eine Marktöffnung auch im deutschen Interesse. Selbst die Post zum ersten Mal eine Monopolstellung. Doch wenn andere EU-Länder noch länger brauchen, werden wieder regten sich die ersten Geister des Wettbewerbs. die Widerstände langsam zusammenbrechen. Zudem hat So hat das Herzogtum Württemberg 1622 eine landesei- bislang kein einziges Unternehmen aus einem Land, das gene „Post- und Metzgerordnung“ erlassen. Erst mit der einer Marktöffnung skeptisch gegenübersteht, eine (B) Gründung des Deutschen Reichs 1871 unter Bismarck Lizenz in Deutschland beantragt. (D) wurde das deutsche Postwesen endgültig unter einem Zweitens. Der Vorwurf des Lohndumpings ist nicht Dach zusammengefasst und war dann über 100 Jahre zutreffend. Das Postgesetz sieht vor, dass die von priva- lang verstaatlicht. ten Postunternehmen gezahlten Löhne das ortsübliche Wenn wir nun 18 bzw. 13 Jahre nach den von der FDP Lohnniveau für vergleichbare Tätigkeiten nicht erheb- mit durchgesetzten Postreformen – die Sie übrigens mit- lich unterschreiten dürfen. Ich darf zu Ihrem Antrag sa- getragen haben – heute zum wiederholten Male über die gen, meine Damen und Herren von der Linken: Es ist Beseitigung der letzten Reste dieses staatlichen Mono- erstaunlich, dass Sie sich auf Bundesebene so starkma- pols diskutieren, dann zeigt sich, wer in welcher Tradi- chen, während Berlin, das letzte Land, in dem Sie Mit- tion steht. verantwortung tragen, seine Verwaltungspost durch ei- nen Wettbewerber der Deutschen Post AG austragen (Beifall bei Abgeordneten der FDP) lässt. SPD und Linke verteidigen das Staatsdenken zu Kaisers Zeiten. Die liberale Fraktion steht in der Tradition derje- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nigen, die der staatlichen Wirtschaftsbetätigung schon der CDU/CSU) immer kritisch gegenüberstanden und für die der frei- Das zeigt doch, wie scheinheilig Ihre Politik und Posi- heitsstiftende Gedanke des Wettbewerbs seit jeher als tion ist. Auf der einen Seite verfluchen Sie den Kapita- richtig galt. lismus. Auf der anderen Seite nutzen Sie seine Vorzüge. (Beifall bei der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Ich kann abschließend die wenigen verbliebenen Zurück in den Feudalismus!) marktwirtschaftlichen Ordnungspolitiker innerhalb der Im Übrigen ist Ihre Politik auch völlig widersprüch- Koalition deshalb nur bitten: Knicken Sie nicht schon lich. Erst haben Sie die Reformen mitgetragen. Jetzt wieder ein! Die Widerstände innerhalb der EU gegen das – kurz vor der Liberalisierung – glauben Sie, endlich ein Ende des Briefmonopols brechen zusammen. Sie sind Thema für den Wettbewerb mit der Linkspartei gefunden zusammen mit der FDP von Verbündeten umgeben. Nut- zu haben. Das Briefmonopol eignet sich aber nicht als zen Sie wenigstens diesen Punkt, um dem Motto Ihrer weitere Spielwiese für die Diskussion über Mindest- Regierung „mehr Freiheit wagen“ zumindest in einem löhne. kleinen, aber nicht unwichtigen Punkt zum Durchbruch zu verhelfen! Aber auch der Entscheidungsprozess ist für diese Ko- alition bezeichnend. Da verkündet der Wirtschaftsminis- (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9899

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: terunternehmen, Beteiligungen und Verflechtungen in- (C) Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus ternationalisiert. Das ist eben der Charakter des europäi- Barthel das Wort. schen Binnenmarktes. Das sind nicht die Hartz-IV- Beschäftigten in den neuen Bundesländern. Klaus Barthel (SPD): Der Druck kommt – zweitens – über die Arbeitsbe- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Post- dingungen. Die Postboten in Deutschland sind, wie wir politik erleben wir heute wieder in allen Facetten: den alle wissen, nicht auf Rosen gebettet, auch nicht die bei reservierten Bereich aufheben oder ihn für alle Ewigkeit der Deutschen Post AG. Aber jetzt gibt es Wettbewerber, aufrechterhalten, Portodiskussion, Arbeitsbedingungen. die höchstens die Hälfte der Löhne bezahlen, die bei der Alles kommt vor. Tatsächlich hängt alles miteinander Deutschen Post AG üblich sind. Das heißt, es droht kein zusammen. Aber, Herr Zeil, so einfach, wie es sich die Wettbewerb über mehr Dienstleistungen, höhere Quali- FDP macht – alles wird gut, wenn man liberalisiert –, ist tät, mehr Volumen, sondern es droht eine Kannibalisie- die Welt nicht. Mein Kollege Dobrindt hat zu Recht da- rung der Unternehmen gegeneinander über die Arbeits- rauf hingewiesen, dass das wirkliche Leben gerade in bedingungen. diesem Bereich anders ist. (Beifall bei der LINKEN) In Europa ist die Situation – anders als Sie es be- hauptet haben – keineswegs geklärt. Die Mehrheiten Es wäre besser gewesen, man hätte damals auf uns sind nach wie vor offen. Ich glaube nicht, dass sich zum gehört und das Postgesetz wirklich umgesetzt, nämlich Beispiel die französische Haltung nach den Wahlen ge- dass Lizenzen zu versagen sind, wenn die wesentlichen ändert hat. Das niederländische Parlament hat erst in die- branchenüblichen Arbeitsbedingungen nicht eingehal- sen Tagen die Entscheidung über eine Liberalisierung ten werden. vertagt, und zwar aus denselben Gründen, über die wir Anders, als es die FDP behauptet, weist das Säcker- hier diskutieren. Wir sind von einem Konsens weit ent- Gutachten, das die Bundesnetzagentur in Auftrag gege- fernt. Es bleibt dabei, dass wir die Bundesregierung bei ben hat, zwei Dinge nach: erstens, dass die sozialen der zeitnahen Umsetzung des verbindlichen Zeitplans Lizenzbedingungen EU- und verfassungskonform sind unterstützen, wie wir ihn im Wirtschaftsausschuss be- – das wurde immer bestritten –, und zweitens, dass die schlossen haben. Das wäre meiner Meinung nach der ei- Bundesnetzagentur ihren Pflichten leider nicht nachge- gentliche Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums: kommen ist, weil es eben nicht darum ging, wie es im- Anstatt innenpolitische Debatten gegen den Koalitions- mer behauptet wurde, dass das Gesetz auf Arbeitsver- partner zu führen, sollte es sich darum kümmern, dass hältnisse abhebt, also auf die Frage, ob es sich um (B) wir uns in der EU mit unserer Linie durchsetzen. geringfügige Beschäftigungen handelt, sondern darum, (D) Zum reservierten Bereich in Deutschland. Auch dies- dass es im umfassenden Sinn auf Arbeitsbedingungen bezüglich ist – anders, als es berichtet wurde – noch abhebt, nämlich im Wesentlichen, wie es auch der keine Entscheidung in der Koalition gefallen. Wir sind Rechtsprechung entspricht, auf Lohn, Arbeitszeit und uns noch nicht einig geworden. Wir weisen einfach noch Urlaub. einmal darauf hin – das hat Herr Dobrindt auch schon Diese Arbeitsbedingungen hätten festgestellt und getan –, dass dieser reservierte Bereich kein Selbstzweck durchgesetzt werden müssen. Das heißt, die Rechtslage ist. ist völlig klar. Deshalb ist auch der Antrag der Fraktion Es geht vielmehr – erstens – um die Wettbewerbs- Die Linke, der uns zu diesem Thema heute vorliegt, situation in Europa. Deutschland ist der zentrale Markt – schlichtweg überflüssig. von der Bevölkerung her, von der Kaufkraft her und von Stattdessen weiß die Bundesnetzagentur von Amts der geografischen Lage her. Deshalb kann man uns nicht wegen bis heute nicht, was in der Branche tatsächlich los mit Vergleichen mit dem offenen Markt in Schweden, in ist. Die Öffentlichkeit weiß es. Wir wissen es aus Gut- Finnland und in Großbritannien kommen. Diese liegen achten, die von anderer Seite in Auftrag gegeben worden abseits. Das Entscheidende ist, was in Deutschland pas- sind. siert, wo sich dann der Wettbewerb abspielen wird. Da- raus resultiert ein enormer Druck in diesem Wettbewerb Das Tragische ist, dass die neuen Anbieter nicht dort- auf alle. hin gehen, wo die große Kaufkraft ist, wo im Postbereich ein Geschäft mit höherwertigen Diensten, wie es im Ge- Im Übrigen – auch an die FDP gerichtet –: Der Wett- setz steht, zu machen wäre, sondern dass sie dort sind, bewerbsdruck, wenn er sich auf Deutschland konzen- wo die Arbeitslosenquote am höchsten ist, nämlich im triert, betrifft doch nicht nur die Deutsche Post AG, son- Wesentlichen in den neuen Bundesländern. dern alle Wettbewerber in Deutschland; die müssen dann diesen Druck aushalten. Sehen wir uns nur einmal die Lizenzdichte an. Diese ist in den neuen Bundesländern dreimal so hoch wie zum Der Druck kommt aus Konzernen, Herr Zeil, da hilft Beispiel in Bundesländern wie Bayern und Baden- alles nichts. Der Wettbewerb wird nicht auf die Hartz-IV- Württemberg. Das heißt, sie korreliert unmittelbar mit Boten in Ostdeutschland beschränkt bleiben oder auf ein der Arbeitslosigkeit. paar Verlage, die sich jetzt dort tummeln, sondern es wird sehr schnell dazu kommen, dass vielleicht nicht die Dann macht aber Herr Professor Säcker – das macht französische Post selbst hier tätig wird, aber über Toch- uns große Sorge – einen halsbrecherischen Salto rück- 9900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Klaus Barthel (A) wärts. Er behauptet – das muss ich hier schon einmal zi- heute gesagt hat, dann kann ich feststellen, dass wir auf (C) tieren –: einem sehr guten Weg sind. Für die Feststellung der üblichen Arbeitsbedingun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen sind daher auch die Tarifverträge im Subunter- der CDU/CSU) nehmerbereich und im Bereich von Personallea- singfirmen, die zur Briefbeförderung in der Lage Vizepräsidentin Petra Pau: sind und als Verrichtungs- und Erfüllungsgehilfen des Lizenznehmers eingesetzt werden können … Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für als Bezugspunkt der Üblichkeit heranzuziehen. die Fraktion Die Linke. Auch die Arbeitsentgelte geringfügig Beschäftigter (Beifall bei der LINKEN) … sind als übliche Arbeitsbedingungen zu berück- sichtigen … Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lassen – von lebenslang bezahlten und versorgten Pro- Meine Damen und Herren! Ich muss erst einmal Herrn fessoren. Diese wollen die Minijobs zum Maßstab des Dobrindt korrigieren: Die Anfrage war von uns, und die Postsektors und anderer Sektoren machen. Das wird mit Zahlen habe ich Ihnen gestern schon genannt. Sie kön- uns nicht zu machen sein. nen sie heute offiziell im Netz nachlesen. (Beifall bei der SPD) (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Die An- Abgesehen davon, dass hier von Tarifverträgen die frage der Grünen war besser!) Rede ist, die es gar nicht gibt, ist diese Logik pervers; Über die 8 000 haben wir gestern schon diskutiert. Ich denn erst sagt der Herr Professor sinngemäß, eigentlich musste Sie gestern korrigieren, als Sie von Einzelfällen dürfte es die Hungerlöhne von 5 Euro und die Hartz-IV- sprachen. Es sind 8 000. Aufstocker gar nicht geben; weil es sie aber jetzt gibt, sind sie plötzlich der Branchenmaßstab. Das heißt, (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Ich habe 8 000 Vollzeitbeschäftigte bei den privaten Wettbewer- gestern schon widersprochen!) bern im 5-Euro-Bereich sind plötzlich der Maßstab für 90 000 Vollzeitbeschäftigte der Deutschen Post AG. Da Herr Zeil, Ihre Geschichtserklärung war sehr interes- stimmt doch etwas nicht. Zwei Drittel von den sant. 46 000 Beschäftigten der Lizenznehmer sind Minijobber (Martin Zeil [FDP]: Reden sollen ja auch bil- (B) – 30 000 Leute –, und die sollen der Maßstab – Herr den!) (D) Dobrindt hat es gesagt – für eine Branche mit 200 000 Menschen werden? Ich will Ihnen zur PIN AG nur sagen, dass Tarifverhand- lungen geführt werden. Ich finde es richtig, dass man Üblich ist also, was schlecht und billig ist. Wenn der dort eingegriffen hat. Rot-Rot hat im Koalitionsvertrag Markt erst einmal ganz geöffnet ist, zahlen der Arbeitge- eindeutig gesagt, dass öffentliche Aufträge nur dann ver- ber und die Arbeitnehmer der Deutschen Post AG die geben werden, wenn Tarifverträge abgeschlossen wer- Steuern und die Sozialversicherungsbeiträge dafür, dass den. die in- und ausländischen Wettbewerber der Deutschen Post AG ungestraft Lohn- und Sozialdumping betreiben (Beifall bei der LINKEN) dürfen. Das kann doch nicht die Zukunft des Postmark- tes in Deutschland sein. Ich muss schon sagen: Es ist ein fürchterliches Schau- spiel, das die Große Koalition seit Wochen rund um die (Beifall bei der SPD) gelbe Post bietet. Deswegen sagen wir ganz klar: Marktöffnung erst dann (Martin Zeil [FDP]: Das stimmt! Da haben Sie und nur dann, wenn der Universaldienst gesichert ist, wiederum recht!) wenn die Arbeitsbedingungen klar geregelt sind, näm- lich durch Mindestlöhne und dadurch, dass Arbeitsbe- Der Briefdienst gehört zu einer Branche – ich freue dingungen definiert, gesichert und kontrolliert werden, mich, dass Sie, Herr Zeil, mir zustimmen –, in der Hun- gerlöhne voll auf dem Vormarsch sind. Manchmal erin- (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Ohne nert das wirklich an frühkapitalistische Verhältnisse. Mindestlöhne! Darüber reden wir noch! – Briefträgerinnen und Briefträger arbeiten sogar teilweise Martin Zeil [FDP]: Also doch Mindestlöhne!) für Stundenlöhne von unter 1 Euro. Hinzu kommt – Herr Barthel, ich bitte Sie, zuzuhören, damit Sie darauf ant- und wenn der faire Wettbewerb innerhalb der Europäi- worten können –, dass es in dieser Branche bereits Tau- schen Union möglich ist. All dieses ist bis heute nicht sende sind, deren Monatslohn so niedrig ist, dass sie er- absehbar. Deswegen möchte ich Sie als Berichterstatter gänzend Arbeitslosengeld II beantragen müssen. Da geht zu dem Thema bitten, der Ausschussempfehlung zu fol- es nur um die sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- gen, die vorliegenden Anträge alle aus den Gründen, die gungsverhältnisse, es geht noch nicht einmal um die Mi- ich genannt habe, abzulehnen und es der Koalition zuzu- nijobs. trauen, dass sie eine gute Lösung in diesem Bereich fin- det. Wenn ich mir vergegenwärtige, was Herr Dobrindt (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9901

Sabine Zimmermann (A) Das lassen Sie zu mit Ihrer Politik gegen die Beschäftig- Um dem Sozialdumping im Briefdienst einen Riegel (C) ten der Post AG, meine Damen und Herren der Großen vorzuschieben, schlägt die Linke vor, das Postgesetz zu Koalition. ändern. Sie müssen verbindliche Standards wie Lohn, Arbeitszeit und Urlaub festlegen. Briefdienstleistern, die (Klaus Barthel [SPD]: Haben Sie schon mal diese unterlaufen, muss die Beförderung von Briefen un- was von der Unabhängigkeit der Regulie- tersagt werden. rungsbehörde gehört?) (Klaus Barthel [SPD]: Bestehende Rechtslage Was tun Sie? Sie reden und reden und reden. Da gebe ist das!) ich meinem Kollegen Zeil recht, der gesagt hat: Hin und her, rein in die Kartoffeln und raus aus den Kartoffeln. – Dafür muss nur ein Satz geändert werden. Das kann gar nicht so schwer sein. Es kostet nichts. Sie müssen nur (Dr. Rainer Wend [SPD]: 16. Jahrhundert! – Ihre Hand heben für die Beschäftigten der Post AG. Ich Klaus Barthel [SPD]: Von Kartoffeln habe ich hoffe, die SPD wird dies, entsprechend ihrem Flugblatt, gar nichts gesagt!) auch tun. Noch schlimmer, Sie wollen den Postmarkt im kommen- den Jahr vollständig öffnen und nehmen einen Erdrutsch Handeln werden dagegen Zehntausende Beschäftigte von Billigjobs in Kauf. Sie sehen zu, dass hier Zehntau- aus dem Postdienst am kommenden Montag, wenn sie sende von regulären Arbeitsplätzen in Gefahr sind. Des- hier in Berlin gegen die geplante Liberalisierung auf die halb fordert auch die Linke, dass das Briefmonopol über Straße gehen. Die Linke wird dabei sein und die Be- 2007 verlängert wird. schäftigten unterstützen. Herr Barthel, sicher werden auch Sie dabei sein und die Wahrheit sagen. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Martin Zeil [FDP]) (Klaus Barthel [SPD]: Können Sie mir noch einmal zuhören?) – Das ist richtig. Ich weiß das, Kollege Zeil. – Ja, das werde ich tun. Eine Studie der Gewerkschaft Verdi zeigt, dass der durchschnittliche Stundenlohn neuer Briefdienstleister Vizepräsidentin Petra Pau: in Ostdeutschland bei etwa 6 Euro und in Westdeutsch- land bei 7 Euro liegt. Die Deutsche Post AG zahlt noch Diese Verabredung müssen Sie außerhalb Ihrer Rede- einen Stundenlohn von etwa 12 Euro. Aber auch sie be- zeit treffen. teiligt sich inzwischen durch Tausende Minijobs an dem Lohn- und Sozialdumping im Briefdienst. Sabine Zimmermann (DIE LINKE): (B) Genau. – In diesem Sinne werden wir uns sicherlich (D) Wie ist es eigentlich zu dem Wettlauf um die billigs- sehen. ten Löhne gekommen? Die SPD hat das Thema Mindest- lohn wiederentdeckt. Das ist vielleicht deshalb gesche- Danke schön für die Aufmerksamkeit. hen, weil sie einmal wieder mit den Gewerkschaften reden will. Auf einem Flugblatt von Ihnen heißt es: (Beifall bei der LINKEN) Lohndumping und prekäre Beschäftigungsverhältnisse hängen mit der Öffnung des deutschen Postmarktes zu- Vizepräsidentin Petra Pau: sammen. Was ich von Ihnen höre, ist ein bisschen wider- Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die sprüchlich. Sie wissen es also. Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. (Beifall bei der LINKEN) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es steht auf diesem Flugblatt, und Sie sehen es offen- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sichtlich. Die Linke stimmt Ihnen da völlig zu. Wir fra- Herren! Wir diskutieren hier über zwei Anträge. Letzt- gen uns bloß – darauf habe ich von Ihnen, Herr Barthel, lich diskutieren wir über die Aufhebung des Briefmono- keine Antwort bekommen –: Warum zieht die SPD da- pols Ende 2007. Ich will für die Fraktion des Bündnis- raus keine Konsequenzen? ses 90/Die Grünen ganz klar sagen, dass wir für die (Klaus Barthel [SPD]: Das tun wir doch!) Aufhebung des Briefmonopols zum Ende dieses Jahres sind. Wir halten das für richtig. Hier sind Versprechun- – Nein, eben nicht. Sie haben noch keine Antwort gege- gen gemacht und Investitionen seitens der Wettbewer- ben. – Gegenwärtig sind 20 Prozent des Briefmonopols ber, der Anbieter getätigt worden. Es ist daher richtig, liberalisiert. Bereits das hat zu einem beispiellosen So- das Briefmonopol aufzuheben. zialdumping geführt. Die entsprechenden Zahlen liegen auf dem Tisch. Wie können Sie angesichts dessen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) restlichen 80 Prozent dem freien Wettbewerb überge- Die Formulierungen von SPD und CDU/CSU, die wir ben? Meine Damen und Herren in diesem Hohen Haus, hier hören, lassen zumindest auf einen heißen Herbst in niedrige Löhne müssen bekämpft und dürfen nicht ge- dieser Sache schließen. Ich habe noch nicht den Ein- fördert werden. druck gehabt, dass Sie sich absolut einig sind. (Beifall bei der LINKEN) (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Es ist Sie dagegen fördern sie. doch alles beschlossen!) 9902 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Kerstin Andreae (A) – Ja, es ist alles beschlossen. Aber wir kennen ja durch- menbedingungen und fairen Wettbewerb gewährleisten (C) aus die Möglichkeit, dass beschlossene Dinge noch ein- zu können. mal verhandelt werden. Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die (Klaus Barthel [SPD]: Das haben wir mit den flächendeckende Versorgung. Natürlich muss es so Grünen damals auch gemacht!) sein, dass ein Brief aus dem südbadischen St. Peter ge- nauso schnell ins norddeutsche St. Peter-Ording ge- Ich will Folgendes sagen: Wettbewerb – ja, Liberali- bracht wird wie von München nach Berlin. Wir müssen sierung – ja; aber wir brauchen einen Wettbewerb unter uns über die Frage unterhalten, wie dieser Universal- ganz klaren Rahmenbedingungen. Wir sind absolut der dienst aufrechterhalten und die Regelung zur Entschädi- Meinung, dass es wichtig ist, über die Lohnstruktur im gung der Anbieter ausgestaltet werden kann. Der Uni- Postgewerbe zu sprechen. Herr Zeil, Sie haben behaup- versaldienst muss gewährleistet sein. tet, das sei kein richtiges Problem und die Lohnstruktur bei den privaten Anbietern sei letztlich nicht so drama- Wir sagen: Die Liberalisierung wird nur dann ein Er- tisch, wie es uns teilweise dargestellt werde. Diese Auf- folg, wenn es die Regierung schafft, die Rahmenbedin- fassung teile ich nicht. Tatsächlich ist das Lohngefüge gungen für faire Löhne und flächendeckende Versorgung bei privaten Anbietern davon geprägt, dass es Aufsto- zu schaffen. Unserer Meinung nach ist es falsch, zu sa- cker gibt und dass man mit aggressivem Lohndumping gen: Dafür brauchen wir noch ein Jahr mehr Zeit. – Sie in den Wettbewerb eintritt. haben noch ein halbes Jahr Zeit. Gehen Sie dieses Thema an. Dann können wir den Investoren im Mittel- (Martin Zeil [FDP]: Bei der Post auch!) stand, die sich darauf eingestellt haben, dass das Brief- Das heißt für uns: monopol im Jahre 2008 fällt, den versprochenen Markt bieten. Erstens. Es ist ganz wichtig, dass die Gewerkschaften mit den alternativen Postanbietern verhandeln. Das ist Mein letzter Punkt. Eines sehe ich überhaupt nicht ein jetzt angekündigt worden, und das ist auch richtig so. – Herr Barthel, ich finde, in diesem Punkt war Ihre Dar- stellung nicht richtig –: Die Deutsche Post agiert als glo- Zweitens. Wir brauchen aber auch branchenabhän- bales Unternehmen im europäischen Ausland. Sie aber gige Mindestlöhne, und wir brauchen eine Ausweitung wollen nicht – das haben Sie geschildert –, dass die fran- des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. zösische Post oder ein anderer europäischer Anbieter auf Herr Dobrindt, Sie haben unsere Anfrage angespro- dem deutschen Markt agiert. Das ist nicht mein Ver- chen: In dieser Anfrage steht – das ist der entscheidende ständnis des europäischen Binnenmarktes. Satz –, dass die Bundesregierung derzeit prüft, ob und (Martin Zeil [FDP]: Ganz genau!) (B) gegebenenfalls welche Maßnahmen im Niedriglohnsek- (D) tor eventuell auch branchenbezogen ergriffen werden Ich sehe überhaupt nicht ein, dass wir einem Unterneh- sollen. men Wettbewerbsvorteile gewähren und sich dieses Un- (Klaus Barthel [SPD]: Jetzt hört die Frau ternehmen mit seinen Monopolgewinnen dann als globa- Zimmermann wieder nicht zu!) les Unternehmen etablieren kann. – Sie kennt das. – Das war eine Anfrage, in der es tat- (Martin Zeil [FDP]: So ist es!) sächlich um die Mindestlöhne im Bereich des Postsek- Wir müssen weg von der Strategie der nationalen Cham- tors geht. Ich finde es richtig, dass sich die Bundesregie- pions und hin zu einer dezentralen und wettbewerbsori- rung für Liberalisierung und Wettbewerb einsetzt, dass entierten Politik mit fairen Rahmenbedingungen. sie sich aber auch mit der Lohnstruktur bei den Anbie- tern auseinandersetzt. Denn Wettbewerb zu unfairen Be- Vielen Dank. dingungen und Wettbewerb über Lohndumping, das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht korrekt. (Martin Zeil [FDP]: Das steht ja schon im Ge- Vizepräsidentin Petra Pau: setz!) Ich schließe die Aussprache. Daher müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen für Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- den Wettbewerb schaffen. schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Keine Verlänge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rung des Briefmonopols – Wettbewerb auf dem deut- Die Große Koalition ist allerdings völlig tatenlos. schen und europäischen Postmarkt ermöglichen“. Der Herr Müntefering hat angekündigt, die Frage existenz- Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- sichernder Löhne gesetzgeberisch zu klären. Aber das fehlung auf Drucksache 16/4600, den Antrag der Frak- macht man nicht, indem man Briefe an sich selber tion der FDP auf Drucksache 16/3623 abzulehnen. Wer schreibt. Die CDU/CSU blockiert und macht aus unserer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Sicht untaugliche Vorschläge wie die Festschreibung der dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Aussage, dass sittenwidrige Löhne sittenwidrig sind; das lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD- wissen wir schon. Wir sagen: Gehen Sie dieses Problem Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen an, und lösen Sie es. Sie haben noch ein halbes Jahr Zeit. der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion des Bünd- Dieser Schritt ist dringend erforderlich, um faire Rah- nisses 90/Die Grünen angenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9903

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- (C) sache 16/4600 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des nister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4044 Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit dem Titel „Vollständige Öffnung der Postmärkte Sehr geehrte Damen und Herren! In gut zwei Wochen stoppen – Universaldienstverpflichtung absichern“. Wer findet die 59. Jahrestagung der Internationalen Walfang- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt kommission in Alaska statt. Sie wird sich auch in diesem dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Jahr wieder mit der Gefährdung, mit der Nutzung und Fall. Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim- vor allem auch mit dem Schutz der großen Wale be- men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP- schäftigen. Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange- Deutschland hat in der Vergangenheit immer auf der nommen. Seite der Walfanggegner, der Walschützer gestanden und wird diese Position auch in Zukunft mit großem Nach- Wir kommen damit zur Abstimmung über den Ge- druck vertreten. setzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Postgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Techno- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP logie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Drucksache 16/5276, den Gesetzentwurf der Fraktion bei Abgeordneten der LINKEN) Die Linke auf Drucksache 16/4908 abzulehnen. Ich bitte Bei der letzten Jahrestagung gab es zum ersten Mal diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, eine knappe Mehrheit für die Walfangbefürworter. Die um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Gibt es Ent- hat zwar nicht gereicht, um das Walfangmoratorium haltungen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf aufzuheben, weil dafür eine Dreiviertelmehrheit notwen- ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfrak- dig ist. Aber diese knappe Mehrheit hat deutlich ge- tion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Frak- macht, dass wir uns noch viel stärker engagieren müs- tion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen sen, um weitere Bündnispartner der Walschützer zu der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach finden. unserer Geschäftsordnung eine weitere Beratung. Deshalb hat sich auch die Bundesregierung gemein- Ich rufe den Tagessordnungspunkt 9 auf: sam mit den Regierungen anderer Staaten in den letzten Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Monaten intensiv dafür eingesetzt, weitere Mitglieds- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz länder für die Internationale Walfangkommission zu fin- und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) den, Walschützer zu finden, die unsere Position unter- (B) stützen und damit auch bei Entscheidungen auf künftigen (D) – zu dem Antrag der Abgeordneten Ingbert Jahrestagungen der Internationalen Walfangkommission Liebing, Marie-Luise Dött, stärken. (Potsdam), weiterer Abgeordneter und Fraktion Diese Bemühungen waren erfolgreich. In diesem Jahr der CDU/CSU sowie der Abgeordneten werden voraussichtlich 74 stimmberechtigte Mitglied- Christoph Pries, Marco Bülow, Dirk Becker, staaten an der Tagung teilnehmen. Trotzdem wird es al- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der ler Voraussicht nach nur eine knappe Mehrheit für den SPD Walschutz geben. Aber immerhin: Wir rechnen mit einer Schutz der Wale sicherstellen knappen Mehrheit. Das zeigt jedoch ebenso deutlich, dass wir auch in Zukunft in den Bemühungen nicht – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia nachlassen dürfen, dass wir uns weiter einsetzen müs- Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike sen; denn zu dem absoluten Walschutz gibt es aus unse- Höfken, weiterer Abgeordneter und der Frak- rer Sicht keine Alternative. tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Am Walfangmoratorium festhalten und Wal- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie schutz auf der IWC stärken bei Abgeordneten der LINKEN) – Drucksachen 16/4843, 16/5105, 16/5284 – Deshalb freuen wir uns sehr über das deutliche Votum Berichterstattung: gestern im Umweltausschuss für diese deutsche Posi- Abgeordnete Ingbert Liebing tion, für den Walschutz. Ich bin sehr dankbar, dass hier Christoph Pries über alle Fraktionen hinweg eine Position gefunden wer- Angelika Brunkhorst den konnte, die unsere Verhandlungsposition bei den an- Eva Bulling-Schröter stehenden Konferenzen deutlich stärkt. Dafür will ich Markus Kurth ganz ausdrücklich danken. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Wir werden auch dem tödlichen sogenannten wissen- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre schaftlichen Walfang eine klare Absage erteilen; denn dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. das ist nichts anderes als ein Unterlaufen der Walschutz- bemühungen. Wir werden die Inuit und die Eskimos Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla- nicht schwächen und ihnen den Walfang nicht untersa- mentarische Staatssekretärin Astrid Klug. gen; denn er gehört zur Erhaltung ihrer Kultur, er gehört 9904 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Parl. Staatssekretärin Astrid Klug (A) zu ihrer Erhaltung überhaupt. Das wollen wir weiter zu- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) lassen; dort werden wir nicht aktiv werden. Aber wir Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin werden sehr genau darauf achten, dass die Bemühungen Angelika Brunkhorst. nicht über die Definition, wer Ureinwohner ist, unterlau- fen werden, und dass wir keine Ausweitung der Defini- (Beifall bei der FDP) tion bekommen, die sich nach Ansicht von manchen Walfangbefürwortern auf alle Bewohner von Küsten- Angelika Brunkhorst (FDP): staaten erstrecken soll. Das kann aber nicht in unserem Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wale Interesse sein; denn dadurch würden die Walschutzbe- haben einen besonderen Symbolwert für den Schutz der mühungen deutlich unterlaufen. Meere und können als Indikator für den Gesamtzustand der Ozeane angesehen werden. Darüber hinaus spielen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem beim Walfang natürlich auch große Emotionen eine BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Rolle. geordneten der LINKEN) Wir von der FDP haben zwar jetzt zu diesem Punkt Wir werden die anstehende Vertragsstaatenkonfe- keinen gesonderten Antrag vorgelegt, aber wir haben renz des Washingtoner Artenschutzübereinkommens, uns in einem aktuellen maritimen Antrag auch mit dem CITES, nutzen, um auch dort unsere Position deutlich zu Gesamtzustand der Meere, den äußeren Einflüssen und machen und um den Antrag von Japan abzulehnen, das den notwendigen Schutzmaßnahmen befasst. Trotz eini- den Schutzstatus der Wale überprüfen will. Auch diese ger Erfolge ist der Schutz der Meere nach wie vor eine Konferenz Anfang Juni wird ein wichtiger weiterer Mei- große Herausforderung. Die Erhaltung der Ökosysteme lenstein in unseren Bemühungen sein. Wir werden unsere und der biologischen Vielfalt der Meere dient dem Rolle im Rahmen der Präsidentschaft nutzen, um Europa Schutz der gemeinsamen natürlichen Ressourcen. Davon dort mit einer starken Position in diesem Sinne zu vertre- wollen letztendlich auch wir immer wieder profitieren. ten. Ich denke, das ist ein Ziel, das nur durch internationale Vereinbarungen erreicht werden kann. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der geordneten der FDP und der LINKEN) CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Die Bundesregierung wird auch weiterhin jegliche Neben dem kommerziellen Walfang sind die Meeres- Initiativen ablehnen, die gerade im Nachgang zu der Er- säuger unterschiedlichsten Umwelteinflüssen ausge- (B) klärung von St. Kitts und der von Japan ausgerichteten setzt. Das wissen wir alle. Die Gleichgewichte in der (D) Normalisierungskonferenz auf eine Normalisierung – das Nahrungskette verschieben sich, der CO2-Anstieg führt bedeutet in dem Fall eine Wiederzulassung des kommer- zur Versauerung der Meere, und durch die Klimaerwär- ziellen Walfangs nach IWC-Regeln – zielen. Wir werden mung steigen auch die Wassertemperaturen, was die Wale gar nicht mögen. Die Bedrohung der Wale durch dort jegliche Initiativen in dieser Richtung ablehnen und äußere Einflüsse ist nicht geringer geworden. Die schäd- all jene Initiativen aktiv unterstützen und an diesen mit- lichen Einflüsse durch Eintrag von Schadstoffen und wirken, die auf den Walschutz gerichtet sind, und Reso- durch Zunahme des Unterwasserlärms – das wird ein im- lutionen weiter voranbringen. mer drängenderes Problem werden – bestehen fort. Auch Wir brauchen diese Allianzen für den Walschutz. Da- die Folgen der Überfischung sind nicht zu unterschätzen, mit verbinden wir die Zielsetzung, das Moratorium auf- weil das zunehmend zur Nahrungsknappheit für die rechtzuerhalten und den sogenannten wissenschaftlichen Wale führt. Kleinwale und Delfine – wir haben im Deut- Walfang zu beenden. schen Bundestag ja schon über einzelne diesbezügliche Anträge debattiert – finden als Beifang aufgrund der In diesem Sinne wollen wir die Zusammenarbeit in Fangmethoden häufig den Tod. der IWC noch weiter ausbauen. Wir wollen auf die Ver- Der Schutz der Wale ist ein Anliegen aller Fraktionen; ringerung von Konfrontationen unter den Mitgliedstaa- das hat Frau Klug eben schon festgestellt. Es gab dazu ten hinwirken; das heißt auch, den Schutz der Wale bereits im Jahre 2003 einen interfraktionellen Antrag, durch mehr Meeresschutz, also nicht nur durch Be- nämlich von den Fraktionen der damaligen rot-grünen schlüsse für den Walschutz, sondern auch durch aktiven Koalition zusammen mit der FDP. Ich denke, die Positio- Meeresschutz, zum Beispiel durch Anstrengungen zur nen, die dort vertreten wurden, haben heute noch Gültig- Vermeidung von Beifängen in der Fischerei, und die keit. Wir von der FDP freuen uns natürlich, dass sich Ausweisung von Walschutzgebieten im Verbund mit an- jetzt die CDU/CSU im Gegensatz zu damals dem Schutz deren Staaten voranzubringen. Dafür brauchen wir eine der Wale in gleicher Weise widmet. politische Mehrheit. Dabei hilft uns das klare Votum des Deutschen Bundestages. Dafür ein herzliches Danke- Ich denke einmal, die Forderungen nach einem strik- schön. ten Walfangverbot, nach Beschränkung des wissen- schaftlichen Walfangs und nach Einschränkung des Han- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP dels mit Walprodukten sind Anliegen aller Initiativen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Wir werden beiden vorliegenden Anträgen zustimmen. bei Abgeordneten der LINKEN) Die FDP stimmt darüber hinaus in vollem Umfang der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9905

Angelika Brunkhorst (A) Forderung zu, weitere Schutzgebiete auszuweisen bzw. Vizepräsidentin Petra Pau: (C) bestehende zu erweitern. Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Ingbert Liebing. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]) (Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Guter Mann!) Das Walfangmoratorium zeigt erste Erfolge. Die Walbestände erholen sich aber sehr langsam; das ist ganz klar, denn die Reproduktionszyklen der großen Walarten Ingbert Liebing (CDU/CSU): erstrecken sich über lange Zeiträume. Die Bestände kön- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nen sich nicht in einigen Jahren, sondern nur im Laufe Ende dieses Monats finden sich in Anchorage in Alaska von Jahrzehnten regenerieren. Deshalb ist die Einführung die Mitglieder der Internationalen Walfangkommission, eines funktionierenden internationalen Inspektions- und IWC, wieder zu ihrem jährlichen Treffen zusammen. Ich Überwachungssystems notwendig, um sicherzustellen, bin sicher, dass diese Konferenz ein ungleich höheres in- dass die Schutzgebiete auch wirklich beachtet werden. Es ternationales öffentliches Interesse hervorrufen wird als besteht – Frau Klug hat es angesprochen – derzeit tatsäch- die vorangegangenen Konferenzen. Schließlich ist das lich die Gefahr, dass das Walschutzmoratorium ins Wan- Treffen im letzten Jahr besonders durch die unrühmliche ken gerät, und zwar deswegen, weil es verschiedenste Ini- St.-Kitts-Deklaration aufgefallen, mit der sich erstmals tiativen der Pro-Walfang-Staaten Japan, Island, Norwegen eine Mehrheit der Mitgliedstaaten der IWC für die Wie- und Dänemark gibt, um eine Lockerung des Walfangver- deraufnahme des kommerziellen Walfangs ausgespro- botes zu erwirken. chen hat. Zwar haben sie die notwendige Dreiviertel- mehrheit verfehlt, um das seit 1982 bestehende Es ist zu befürchten, dass sich bei der schon angespro- Moratorium gegen den kommerziellen Walfang aufzuhe- chenen IWC-Tagung und den Verhandlungen zum Was- ben; aber es war schon ein Alarmsignal. hingtoner Artenschutzabkommen die Mehrheiten ver- schieben. Wir hoffen natürlich, dass sie sich nicht in die Im Februar hat die japanische Regierung, die seit falsche Richtung verschieben. Aber deswegen ist es Jahren unter zweifelhaftem Deckmantel sogenannten heute besonders wichtig, dass aus dem Deutschen Bun- wissenschaftlichen Walfang betreibt, ein ebenso faden- destag ein klares Signal kommt und dass die Fraktionen scheiniges Treffen der Walfangbefürworter in Tokio or- sich einig sind. ganisiert. Man sprach von einem Normalisierungstref- fen, dem Deutschland sowie die anderen erklärten In dem Sinne hätte ich mir gewünscht, dass ein inter- Walschutzstaaten demonstrativ ferngeblieben sind. Die fraktioneller Antrag auf den Weg hätte gebracht werden Intention dieses Treffens bestand offenkundig nicht da- (B) können. Ein kleiner Wermutstropfen bei der Geschichte rin, den IWC-internen Konflikt zu lösen. Vielmehr sollte (D) ist, dass die Koalitionsfraktionen den Antrag von den der Konflikt in diplomatischer Rhetorik erstickt und der Grünen vielleicht nicht befürworten. Aber möglicher- Wiederaufnahme des kommerziellen Walfangs der Weg weise haben Sie sich ja noch eines Besseren besonnen. bereitet werden. Deswegen ist es gut, dass sich unsere (Mechthild Rawert [SPD]: Im Ausschuss hat Bundesregierung auf dieses Possenspiel nicht eingelas- sich auch die FDP enthalten!) sen hat. Ebenso wichtig ist, dass auch die Europäische Union (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) jetzt eine klare Linie vertritt und auf das Mitgliedsland Aber die Fronten sind klar, und es besteht weiterhin Dänemark einwirkt. Das ist sehr wichtig, und das müsste die Gefahr, dass sich in Zukunft die notwendige Drei- auch zu schaffen sein. viertelmehrheit findet, um das Walfangmoratorium auf- Der Fortbestand des Moratoriums ist uns ein Anlie- zuheben. Gerade Japan wirbt sehr offensiv um neue gen. Wir werden uns gleichzeitig dafür einsetzen, dass IWC-Mitglieder, deren unabhängiges Stimmverhalten die indigenen Völker weiterhin nachhaltigen Walfang angezweifelt werden darf. Es heißt, dass hier Entwick- für den eigenen Bedarf betreiben dürfen. lungshilfegelder an Stimmverhalten gekoppelt worden seien. Wenn dem tatsächlich so sein sollte, dann wäre Zum Schluss möchte ich einen Appell an uns selbst das ein absolut inakzeptables politisches Gebaren Ja- richten. Auch wir sind ja ein Land mit weiten Küstenab- pans. schnitten. Ich bin sehr dafür, dass die maritime Wirt- schaft ihren Platz findet. Aber wir müssen natürlich bei In dieser Situation ist es besonders bedeutungsvoll, allen unseren Bestrebungen im Küstenbereich – Hafen- dass ein klares Signal für den Schutz der Wale, der „Gi- ausbau, Hafenerweiterung, Ausbau von Offshoreanla- ganten der Meere“, aus Deutschland kommt. Wir können gen, Pipelineausbau – darauf achten, die sensiblen Le- bei weitem noch nicht von einer Erholung der Bestände bensräume der Wale zu schützen, sie nicht zu ausgehen, sodass eine Aufhebung des Walfangmoratori- verkleinern, damit sie ihre Kinderstuben behalten kön- ums gerechtfertigt wäre. Die Bestände liegen teilweise nen. noch unter 20 Prozent des Ausgangsbestandes. Deshalb müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, um dem Schutz Ich danke für die Aufmerksamkeit. der Wale gerecht zu werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- SES 90/DIE GRÜNEN) geordneten der FDP und der LINKEN) 9906 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Ingbert Liebing (A) Das gilt für die Beschlüsse der IWC im Mai in An- Wir dürfen aber auch nicht aus den Augen verlieren, (C) chorage, es gilt genauso für die Vertragsstaatenkonfe- dass es noch weitere Gefährdungen für die Wale gibt. renz des Washingtoner Artenschutzabkommens, CITES, Über die Bedrohung der Meeresökologie durch Klima- im Juni in Den Haag, und es wird auch im kommenden wandel, zunehmende Versauerung und Verschmutzung Jahr in Bonn gelten, wenn die 9. Vertragsstaatenkonfe- der Gewässer, Unterwasserlärm sowie Überfischung und renz zum Übereinkommen zum Schutz der biologi- Fischereipraktiken, die die marinen Ökosysteme dauer- schen Vielfalt hier bei uns in Deutschland stattfindet. haft schädigen, haben wir in der Vergangenheit bereits Denn diese Konferenz legt Deutschland eine besondere mehrfach diskutiert. Dadurch werden die Wale in beson- Verantwortung auf, insbesondere wenn es um den derem Maße in Mitleidenschaft gezogen. Schutz der marinen Arten geht. Deswegen haben wir als Vor ein paar Tagen konnten wir in den Zeitungen le- CDU/CSU-Fraktion die Initiative für einen Bundestags- sen: Kanadische Grauwale vom Hungertod bedroht. Es beschluss ergriffen, der Ihnen jetzt als Antrag der Koali- ist eine akute Hungersnot ausgebrochen, die sich zu- tionsfraktionen vorliegt. Ich freue mich, dass diesem An- nächst selbst Walforscher nicht erklären konnten. Im trag gestern im Umweltausschuss alle Fraktionen schlimmsten Fall könne diese für die betroffene Grau- zugestimmt haben. walpopulation genau das einleiten, was wir mit dem Walfangmoratorium eigentlich verhindern wollen, näm- (Beifall bei der CDU/CSU) lich das Aussterben dieser Art. Mittlerweile ist geklärt, dass diese Unterernährung auf ein Fehlen kleiner Krus- Weil eine fraktionsübergreifende Beschlussfassung tentiere zurückzuführen ist, die den Walen als Nahrungs- ein gutes Signal ist, waren wir als Koalitionsfraktionen grundlage dienen. Diese wiederum wurden aufgrund des gerne bereit, zwei Änderungsvorschläge von Bündnis 90/ deutlich erwärmten Pazifikwassers stark dezimiert. Die Die Grünen zu übernehmen, um auch Ihnen die Zustim- natürliche Nahrungskette ist unterbrochen worden. mung zu unserem Antrag zu ermöglichen. Ein solches einstimmiges Votum ist ein ganz wichtiger Schritt und (Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert) ein deutliches Plädoyer für den Walschutz, der von Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, welche gravierenden Deutschland ausgeht. Auswirkungen der Klimawandel gerade auf die Meere Unser Antrag enthält die Ablehnung jeglicher Vor- und die marinen Ökosysteme hat. Es zeigt, wie nötig der schläge, die zur Wiederaufnahme des kommerziellen Schutz der Meere ist. Walfangs führen. Die Europäische Union müsste unse- Der Walfang ist eine Bedrohung für diese schützens- rer Auffassung nach aber mit einer einheitlichen Position werten Arten. Wir wollen dieser Bedrohung kraftvoll (B) vertreten sein. Wir wissen, dass es dabei noch ein Pro- entgegentreten. Lassen Sie uns deshalb ein deutliches Si- (D) blem mit unserem Nachbarn Dänemark gibt. Aber das gnal nach Anchorage senden! Stärken wir unserer Bun- lösen wir nicht, indem wir die Dänen an den Pranger desregierung den Rücken für den Schutz der Wale! stellen. Die Sensibilität der Dänen habe ich gerade in der vergangenen Woche erneut erlebt, als ich mit der Gruppe Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. der schleswig-holsteinischen CDU-Abgeordneten in Ko- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem penhagen war. Hierbei ist diplomatisches Gespür nötig, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- und ich vertraue darauf, dass die Bundesregierung in geordneten der FDP und der LINKEN) diesem Sinne wirksam vorgeht. Das ist auch der ent- scheidende Grund, weshalb wir dem Antrag der Grünen Präsident Dr. Norbert Lammert: nicht zustimmen können. Ich erteile das Wort der Kollegin Eva Bulling- Ansonsten sind wir uns in der Sache ja sehr einig Schröter, Fraktion Die Linke. – das ist gut –, auch in der Ablehnung des sogenannten (Beifall bei der LINKEN) wissenschaftlichen Walfangs, wie er von Japan prakti- ziert wird. Unter diesem Vorwand sind seit 1986 etwa Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): 26 000 Wale getötet worden. Für die daraus gewonnenen Produkte gibt es nicht einmal in den walfangbetreiben- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 85 Millionen Tonnen Fisch werden jährlich gefangen. den Staaten Absatzmärkte. Wesentliche wissenschaftli- Mit in die Netze gehen 30 Millionen Tonnen Mee- che Erkenntnis daraus gibt es genauso wenig. restiere, Jungfische, Seesterne, Muscheln, Krebse, Haie Etwas ganz anderes ist unserer Auffassung nach der und 60 000 Wale, die keiner will – Beifang, behandelt Subsistenzwalfang, also jener traditionell betriebene wie Müll. Zu diesem Müll gehört auch der Grauwal, ein Walfang der Inuit-Gemeinschaften Alaskas und Russ- Nomade der Meere. Im Laufe seines Lebens schwimmt lands. Dafür sind zu Recht die entsprechenden Fangquo- er eine Strecke bis zum Mond und wieder zurück. Natio- ten freigegeben worden. Dabei handelt es sich – wenn nalstaatliche Rechtsklüngeleien sind ihm wurscht; er kennt keine Grenzen. Deshalb sind internationale Regeln man es vernünftig definiert – um eine nachhaltige, den so wichtig, auch und gerade im Meer. Walbestand nicht gefährdende Art der Bejagung. Diese Völker wissen, wie sie mit ihren natürlichen Lebens- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- grundlagen umzugehen haben. Sie sägen gerade nicht NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- den Ast ab, auf dem sie sitzen. ten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9907

Eva Bulling-Schröter (A) Nur sie können diesen gigantischen Säuger vor Fisch- Deshalb fordert die Linke für die einheimischen Wal- (C) und Walfang schützen, wie das Walfangmoratorium arten erstens einen sofortigen Stopp der seismischen von 1982. Tests in der Nordsee, zweitens keine Genehmigung von Munitionssprengungen in der Ostsee, drittens die Auf- Jetzt beginnt es zu bröckeln. Die Japaner wünschen nahme von Großwalen in das ASCOBANS-Abkommen, sich eine „Normalisierung“ der Internationalen Walfang- viertens die Ausdehnung und Erforschung weiterer Mee- kommission, das heißt die Wiedereinführung des kom- resschutzgebiete und fünftens Regeln, wie und wann merziellen Walfangs. Bei der letzten IWC-Tagung waren seismische Tests gemacht werden dürfen. Das, denke 30 Mitgliedstaaten dafür. Ich halte das für eine Tragödie. ich, müssen wir jetzt angehen. (Beifall bei der LINKEN) Danke. Aber noch lebt das Moratorium. Es muss weiterleben, (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ohne Wenn und Aber. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Deshalb fordern wir: ten der SPD) Erstens. Keine als Wissenschaft getarnten Walfänge. Präsident Dr. Norbert Lammert: Zweitens. Keine Quotenfänge und deshalb kein Re- Cornelia Behm ist die nächste Rednerin für die Frak- vised Management Scheme. Dieser geschwollene Be- tion Bündnis 90/Die Grünen. griff steht für Bewirtschaftungsverfahren und bedeutet Quotenfang durch die Hintertür. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Drittens. Ein nationales Verbot für den Verkauf jegli- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und cher Walprodukte – wo kein Absatzmarkt, da keine Ge- Kollegen! Wie Staatssekretärin Klug eingangs festge- winnaussichten. stellt hat, ist es in diesem Jahr ganz besonders wichtig, (Beifall bei der LINKEN) dass Deutschland weiterhin für einen strikten Walschutz eintritt und deutlich macht, wie wichtig das Walfangmo- Viertens. Kein internationaler Handel mit Walproduk- ratorium ist. Es gilt, die Mehrheit für das Moratorium ten. Entsprechende Resolutionsvorschläge sind abzuleh- durch inhaltliche Überzeugungsarbeit und Anwerbung nen. neuer im Walschutz engagierter Mitgliedstaaten zurück- zugewinnen. Daher fordert das Bündnis 90/Die Grünen Fünftens. Kein Small-Type Coastal Whaling. Wer vor der diesjährigen Jahrestagung vom 28. bis 31. Mai in hier so putzig von traditionellem oder subsistenzwirt- Anchorage ein klares Signal der Bundesregierung zu- schaftlichem Küstenwalfang spricht, der lügt. Küsten- (B) gunsten der Wale und gegen den Walfang. (D) walfang ist kommerzieller, gnadenloser Walfang. Des- halb stimmen wir beiden Anträgen zu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sechstens. Wale und Delfine sollen nicht nur vor dem Fang geschützt werden. Dreck aus der Chemie- und Öl- Wir haben einen Antrag vorgelegt, in dem die Bun- industrie, Lärm, zerstörerische Fischfangflotten, Militär desregierung aufgefordert wird, ihre Aktivitäten im und Munitionssprengungen gefährden die Säuger eben- Walschutz zu verstärken. Wir Grüne begrüßen sehr, falls. dass auch die schwarz-rote Bundesregierung an der Ab- lehnung des Walfangs festhält. Dies war im Übrigen kei- Meine Damen und Herren, alle weltweit bekannten neswegs selbstverständlich, wenn man erlebt hat, wie Walarten sind gefährdet, auch die vor der eigenen Haus- walfangfreundlich die Union – Herr Liebing, ich muss es tür. Frau Staatssekretärin Klug, im April hat das Landes- leider sagen – in der letzten Legislaturperiode im Bun- amt für Bergbau, Energie und Geologie in Clausthal-Zel- destag agiert hat. Zur Anhörung „Schutz der Walbe- lerfeld eine Untersuchung der Erdgasvorkommen mit stände“ hatte die Union – und im Übrigen auch die FDP – seismischen Tests in der Nordsee genehmigt. Dass es in Sachverständige unter anderem aus Norwegen und der Nordsee Schweinswale gibt, ist bekannt. Seit weni- Island bestellt, die versuchten, den Walfang als notwen- gen Tagen weiß man auch, dass es am Testort sogar dig und sinnvoll hinzustellen und die Gefahren für das Zwergwale gibt. Vielleicht nicht mehr lange: Schallim- Ökosystem Meer herunterzuspielen. Auch die gesamte pulse mit 260 Dezibel donnern alle acht Sekunden und Fragestrategie der Union war darauf ausgerichtet, die 24 Stunden täglich bis zum Herbst durch das Wasser – in Argumente der Walschützer infrage zu stellen und die einem Naturschutzgebiet! Das ist qualvoller Lärm für der Walfänger zu stützen. die Wale. Zum Vergleich: Wenn auf Ihrer Schulter ein Feuerwerkskörper explodiert, dann ist das nur halb so Offensichtlich hat der öffentliche Druck von Umwelt- laut wie das, was den Walen angetan wird. und Tierschutzverbänden und der Druck von uns Grünen Ich frage mich schon, warum das Bergbauamt nicht die Union zu einer Kehrtwende bewegt. Dies begrüßen den Empfehlungen des Bundesamts für Naturschutz wir, da uns, wie gesagt, sehr viel daran liegt, dass Deutschland weiter zu den Walschutzländern gehört. folgt. Wir müssen auch hier die Wale schützen. Deshalb und weil wir diesem Anliegen möglichst großen (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Nachdruck verleihen wollen und da in Ihrem Antrag NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- keine Aussagen stehen, die wir Grüne ablehnen, stim- ten der SPD) men wir dem Koalitionsantrag zu. 9908 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Maßnahmen zum verbesserten Schutz aller Walarten vor (C) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Lärm einzutreten. Zu diesem Problem hat Bündnis 90/ Kollegen Liebing? Die Grünen bereits einen weitergehenden Antrag einge- bracht. Den werden wir, denke ich, bei anderer Gelegen- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): heit hier gesondert beraten. Ja, gerne. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Frau Kollegin Behm, ich will zwar die traute Gemein- Präsident Dr. Norbert Lammert: samkeit heute Nachmittag bei diesem Thema nicht stö- Nun erhält der Kollege Liebing das Wort zu einer ren. Aber da Sie in die Historie zurückgegangen sind, Kurzintervention, vermutlich auch, um uns nun das Zitat möchte ich Sie fragen, ob Sie von mir noch einmal hören möchten, was die CDU-Kollegin sei- vorzutragen. Bitte schön. nerzeit in der Debatte, als es um das Thema Walschutz (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ging, wirklich gesagt hat. Damals hat unsere Kollegin NEN]: Das wird nicht helfen! – Dr. Reinhard Connemann ausgeführt – – Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann gibt es eine kleine Lesestunde! Also, was hat Präsident Dr. Norbert Lammert: die Kollegin gesagt im Jahre 2004? Oder wann Jetzt müsste aber eigentlich erst die Kollegin Behm war das?) Gelegenheit haben, Ihre Frage, ob sie das wirklich hören möchte, zu beantworten. Ingbert Liebing (CDU/CSU): Jeder mag selber bewerten, warum Sie das Zitat nicht Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hören möchten. Aber da Sie mit Ihrer Darstellung der Ich würde Ihre Frage gerne beantworten. Ich möchte Vergangenheit den Eindruck erweckt haben, als ob die nämlich das, was Sie jetzt zitieren wollen, nicht hören. CDU/CSU-Fraktion seinerzeit in der Anhörung und im Das würde nur einen kurzen Ausschnitt der gesamten Plenum die Position von Island und Norwegen quasi un- Anhörungsdebatte wiedergeben und damit den Sinn mit kritisch übernommen hätte, möchte ich gerne zitieren, Sicherheit verfälschen. Deswegen verzichte ich auf Ihr was seinerzeit die Position der CDU/CSU-Fraktion ge- Angebot. wesen ist. Damals hat Gitta Connemann für unsere Frak- tion ausgeführt: (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des (B) (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD Deutschland ist 1982 der Internationalen Walfang- und der LINKEN) Kommission IWC beigetreten und hat sich seit 1986 für das Verbot des kommerziellen Walfangs Zurück zu den Anträgen. Unser Antrag – so muss ich eingesetzt sowie die Schaffung von Walschutzge- Ihnen sagen – erledigt sich mit dem Koalitionsantrag bieten unterstützt. Wir waren uns darin alle einig. nicht; denn in unserem Antrag erheben wir Grüne meh- Uns verbindet die Erkenntnis, dass wir die Wale rere Forderungen, die im Koalitionsantrag fehlen. Dazu schützen und sie vor der Ausrottung bewahren müs- gehört die Aufforderung, einem Walfangmanagement- sen. system nicht zuzustimmen. Auch soll die Bundesregie- rung etwaigen Anträgen auf die Vergabe von Küstenwal- Sie nimmt damit Bezug darauf, dass alle Bundesre- fangquoten die Zustimmung verweigern. Es muss klar gierungen seit der Bundesregierung von Helmut Kohl sein, dass beides der Einstieg in die Wiederaufnahme des das Verbot des kommerziellen Walfangs aktiv unterstützt kommerziellen Walfangs wäre. haben. Sie hat weiter ausgeführt: Außerdem soll die Bundesregierung für den Widerruf der St.-Kitts-&-Nevis-Deklaration eintreten. In unserem Für mich gibt es keinen Zweifel daran, dass Wale Antrag wird konkret Dänemark als dasjenige EU-Land auch ohne Legalisierung des Walfangs durch Um- benannt, das es zu überzeugen gilt, seine walfangfreund- weltveränderung bedroht sind wie nie zuvor. Dazu liche Haltung zu überdenken. Weiterhin hat es Schwarz- gehören die Klimaerwärmung, die Verschmutzung Rot versäumt, der Bundesregierung einen Auftrag zu ge- der Meere, aber auch die Bedrohung durch Lärm. ben, sich im Zusammenhang mit CITES dafür einzuset- Wale leben in einer akustischen Welt, ihr Gehör ist zen, dass sämtliche in Anhang I – dort sind die beson- ihr wichtigstes Organ. Wir brauchen deshalb auch ders zu schützenden Arten gelistet – aufgeführten das Einvernehmen der Nationen für einen besseren Walarten dort auch weiterhin verbleiben, damit mit die- Klima- und Umweltschutz. Wir brauchen gemein- sen auch zukünftig nicht gehandelt werden darf. Wegen same Strategien gegen die Lärmverschmutzung. dieser notwendigen Forderungen wäre es gut, wenn auch Wir brauchen Einigkeit, um das seit 1994 beste- Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, hende Schutzgebiet Antarktis nicht zu verlieren, unserem Antrag zustimmen würden. Wir empfehlen im sondern mehr zu gewinnen. Übrigen, nicht mit der Keule nach Dänemark zu gehen. Dies sind deutliche Belege dafür, dass die CDU/CSU- Zum Schluss nur noch dies: In einem Nebensatz for- Fraktion auch seinerzeit deutlich für den Walschutz ein- dert die Koalition die Bundesregierung auf, für konkrete getreten ist. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9909

Ingbert Liebing (A) Vielen Dank. Tiere führen – nicht zulassen wollen. Das war konkreter, (C) praktizierter Walschutz. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen aber – eine Kollegin hat das bereits er- wähnt – nicht nur in die Ferne schweifen. Mit dem Ab- Präsident Dr. Norbert Lammert: kommen zum Schutz der Kleinwale in Nord- und Ost- Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist see haben wir auch den Schutz unserer heimischen Wale, die Kollegin Mechthild Rawert, SPD-Fraktion. Schweinswale, Zwergwale, vorangetrieben. In der Dog- (Beifall bei der SPD) gerbank werden seit einigen Wochen seismische Mes- sungen vorgenommen, ausgerechnet jetzt, wo viele Schweinswale trächtig sind. Das ist eine massive Ge- Mechthild Rawert (SPD): fährdung. In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Es ist erstaunlich, dass wir auf Bundesebene konsequent Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir alle wün- Walschutz betreiben und uns in internationalen Gremien schen ausdrücklich nur den Mitgliedern der IWC in An- für den Walschutz einsetzen, die Regierung in Nieder- chorage Erfolg, die sich für den Walschutz einsetzen. In sachsen es aber versäumt, Walschutz zu betreiben. In diesem Fall, denke ich, ist es gut, nur einen Teil einer diesem Zusammenhang könnte man fast von einer Wolf- Konferenz zu begrüßen. im-schwarzen-Schafspelz-Regierung sprechen. Es kann Es wurde hier darauf hingewiesen, dass der Antrag im nicht angehen, dass wir zwar global denken, aber lokal Umweltausschuss beraten wurde, und es wurde gerade nicht handeln. die Frage gestellt, wie ein Mitglied des Ausschusses für (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz für Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Das ist Großwale zuständig sein kann. Auch im Ausschuss für doch Quatsch! – Zuruf von der CDU/CSU: Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz be- Hat in Niedersachsen jemand schon jemals schäftigen wir uns mit diesen Themen. Hier hat es eben- Wale gesehen?) falls eine einmütige Zustimmung zu unserem Koalitions- antrag gegeben. Auch ich unterstütze ausdrücklich die Forderung des Bundesamtes für Naturschutz nach begleitenden For- Das, was Kollege Liebing bereits gesagt hat, ist rich- schungsarbeiten, mit der Option, diese seismischen Un- tig: Die Bestandszahlen der meisten Walarten nehmen tersuchungen im Bedarfsfall einzustellen. ab, und das trotz des Moratoriums. Es freut mich, dass wir hier und heute einen so klaren Auftrag zum Schutz Hinzu kommt, dass die Doggerbank ein Flora-Fauna- (B) der Wale ergehen lassen und damit unsere Bundesregie- Habitat-Schutzgebiet ist und als solches an die Europäi- (D) rung bei der Tagung in Anchorage unterstützen. sche Kommission gemeldet wurde. Mit der Ausweisung dieser Gebiete wollen wir einen aktiven Beitrag zur För- Ich freue mich auch, dass es uns gelungen ist, die derung der biologischen Vielfalt leisten; denn wir wollen Mehrheiten für den Walschutz auszubauen. Wir begrü- nicht, dass wir Wale bald nur noch in ausgestopfter Form ßen Kroatien, Slowenien und auch Zypern auf der Seite im Naturkundemuseum betrachten können. Daher freue der Walschützer. Wir fordern unsere Bundesregierung ich mich über die Aktivitäten der Bundesregierung und auf, weiterhin aktiv bei anderen Staaten für den Wal- über unsere internationalen Bemühungen. Ich hoffe, dass schutz zu werben. wir in unserem föderalen System die Kraft haben, auch in Niedersachsen aktiv Walschutz zu betreiben. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ingbert Liebing [CDU/CSU]) Dazu lade ich uns alle ein. Wale – das wurde schon gesagt – werden nicht nur (Beifall bei der SPD) durch den Walfang gefährdet. Ihre Lebenswelt und damit sie selber werden immer stärker durch die Begleiter- Präsident Dr. Norbert Lammert: scheinungen unserer modernen Welt gefährdet: Meeres- Ich schließe die Aussprache. und Umweltverschmutzung, Klimawandel, Beifänge in der Fischerei, Schiffsverkehr, Unterwasserlärm und Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Offshoreaktivitäten. ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen soge- mit dem Titel „Schutz der Wale sicherstellen“. Der Aus- nannten negativen anthropogenen Einflüssen – so nennt schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung man den Schaden, den wir Menschen erzeugen – konse- auf Drucksache 16/5284, den Antrag der Fraktionen der quent entgegenzutreten. CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/4843 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Im September letzten Jahres haben wir hier den An- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer trag „Die weltweit letzten 100 westpazifischen Grauwale enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist schützen“ einstimmig beschlossen und klargestellt, dass einstimmig angenommen. wir eine Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen im Ochotskischen Meer vor Sachalin – das ist eine Insel in Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- der Nähe von Japan, die zu Russland gehört – zulasten sache 16/5284 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung dieser letzten Population – das kann auch zum Tod der des Antrages der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- 9910 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) nen auf Drucksache 16/5105 mit dem Titel „Am Wal- Was tut die Bundesregierung? Einerseits preist die (C) fangmoratorium festhalten und Walschutz auf der IWC Bundesregierung in den verschiedensten Veröffentli- stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – chungen Leiharbeit als Beschäftigungsform der Zu- Das ist nicht mehr ganz so einmütig. Wer stimmt dage- kunft. In der Tat hat Leiharbeit in den letzten Jahren gen? – Wer enthält sich der Stimme? – Diese Beschluss- drastisch zugenommen, allein von 2005 auf 2006 um empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die mehr als 20 Prozent. Andererseits – das finde ich hoch- Stimmen der Opposition angenommen. Der gegenteilige interessant – gibt es eine ganze Reihe von offiziellen Äu- Antrag ist damit nicht zum Zuge gekommen. ßerungen, auch von der Bundesregierung, in denen – ich sage es einmal mit meinen Worten – die miserable Qua- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: lität von vielen Leiharbeiten und Leiharbeitsverhältnis- Erste Beratung des von den Abgeordneten Werner sen anhand von eigenen Untersuchungen bestätigt wird. Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiteren Beispielsweise steht im „Bericht der Bundesregierung Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN einge- über den Stand von Sicherheit und Gesundheit bei der brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Arbeit … im Jahre 2005“: des Gesetzes zur Regelung der erwerbsmäßigen Die Zeitarbeit ist in weiten Bereichen gekennzeich- Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmerüber- net durch schlechte Arbeitsbedingungen, gering lassungsgesetzänderungsgesetz – AÜGÄndG) qualifizierte Tätigkeiten, fehlende Partizipation und – Drucksache 16/4805 – im Durchschnitt schlechte Entlohnung … Überweisungsvorschlag: Im Zehnten Bericht der Bundesregierung über Erfahrun- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) gen bei der Anwendung des AÜG heißt es: Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Besonders bei Großbetrieben sind Tendenzen er- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union kennbar, Stammpersonal durch Leiharbeitnehmer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die zu substituieren. Zum Teil werden Mitarbeiter ent- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die lassen, um sie über hauseigene Verleihfirmen zu- Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich meist zu ungünstigeren Tarifbedingungen in den al- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart. ten Betrieb zurück zu entleihen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst Ich habe in den letzten Tagen und auch heute eine der Kollege Werner Dreibus, Fraktion Die Linke. Reihe von Gesprächen geführt mit Betriebsräten sowohl von Leiharbeitsunternehmen als auch von Unternehmen, (Beifall bei der LINKEN) (B) die solche Praktiken, Leiharbeit zum Lohndumping zu (D) benutzen, einsetzen. Die Meinung der Betriebsräte ist Werner Dreibus (DIE LINKE): einhellig: Hier ist dringender gesetzlicher Handlungsbe- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! darf vorhanden. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der (Beifall bei der LINKEN) Bundesagentur für Arbeit, IAB, stellte im vergangenen Jahr in einer Untersuchung zum Thema Leiharbeit fest, Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir das Prinzip dass Leiharbeit Lohndumping begünstigt und bei den „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wieder einführen. Beschäftigten zu erheblichen Einkommenseinbußen Mit den Hartz-Gesetzen ist dieses Prinzip in einem ganz führt. Leiharbeiter verdienen deutlich weniger als die zentralen Bereich durchlöchert worden, und zwar mit Kolleginnen und Kollegen im Betrieb, die die gleiche den Ausnahmeregelungen, die 2005 eingeführt wurden. Arbeit verrichten, aber fest angestellt sind. Insbesondere, Wir wollen mit unserem Gesetzentwurf erreichen, dass so die IAB-Studie, bieten die Einstiegsentgelte in den diese Ausnahmeregelungen zurückgenommen werden unteren Lohngruppen mit 5 bis 6 Euro pro Stunde für und das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wie- Vollzeitarbeit kein existenzsicherndes Einkommen. der für alle gilt. (Unruhe) (Beifall bei der LINKEN) Die unmittelbaren Vorteile der gleichen Entlohnung Präsident Dr. Norbert Lammert: von Leiharbeit liegen auf der Hand: Eine Regelung wie Einen Augenblick! – Darf ich bitten, die offenkundig die, die wir vor 2005 im Prinzip hatten und die wir mit nicht alle diesem Thema gewidmeten Gespräche für ei- unserem Gesetzentwurf im Interesse sowohl der Leih- nen Augenblick zurückzustellen und für das Maß an arbeitsunternehmen als auch der Entleiher, vor allen Aufmerksamkeit zu sorgen, auf das der Redner An- Dingen aber der Betroffenen wieder einführen wollen, spruch hat? – Danke schön. begrenzt Lohndumping und schützt reguläre Beschäfti- gungsverhältnisse. Werner Dreibus (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Danke schön, Herr Präsident. Nicht nur ich, sondern auch die Leiharbeiter haben Anspruch auf Aufmerksam- Beim Thema „Lohndumping“ und „reguläre Beschäf- keit. tigungsverhältnisse“ will ich noch auf einen Punkt hin- weisen, der gleichzeitig mit weiteren Initiativen geregelt (Beifall bei der LINKEN) werden muss: Offensichtlich nimmt das Bestreben zu, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9911

Werner Dreibus (A) dass Unternehmen eigene AÜG-Gesellschaften gründen ger Fassung ist vorgesehen, dass sich der Verleiher und (C) mit dem ausschließlichen Ziel, sichere Arbeitsplätze der Leiharbeitnehmer – der vorher arbeitslose Arbeitneh- – Stammarbeitsplätze – abzubauen und Lohndumping mer; das möchte ich ausdrücklich betonen – einmalig für zu betreiben. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf insgesamt sechs Wochen der Überlassung darauf einigen einen Artikel im „Betriebs-Berater“ vom November können, dass der Leiharbeitnehmer lediglich ein Nettoar- 2004, in dem zwei Rechtsanwälte unter der Überschrift beitsgeld in Höhe des zuletzt bezogenen Arbeitslosengel- des erhält. Damit soll dem Verleihunternehmen ein An- Absenkung des Tarifniveaus durch die Gründung reiz gegeben werden, vormals Arbeitslose einzustellen. von AÜG-Gesellschaften als alternative oder flan- Zugleich soll die Bereitschaft der Arbeitgeber erhöht kierende Maßnahme zum Personalabbau werden, ein Arbeitsverhältnis mit einem ursprünglich ar- auf der Basis der Rechtsregelungen, die 2005 eingeführt beitslosen Arbeitnehmer zu versuchen. Es geht darum, worden sind, einen ganzen Katalog von Maßnahmen dass die Leute – insbesondere die Langzeitarbeitslosen – entfalten, wie man unmittelbar Lohndumping betreiben überhaupt erst einmal wieder einen Arbeitsplatz bekom- kann. men. Mit diesen Regelungen, mit diesen Möglichkeiten des Ab dem ersten Tag der gleiche Lohn: Das klingt na- Unterlaufens muss Schluss gemacht werden. Deshalb türlich erst einmal gut, Herr Dreibus. Sie müssen aber bitten wir darum, in den Ausschüssen und in der zweiten bedenken, dass es sich hier um eine Arbeitsförderungs- und dritten Lesung für unseren Gesetzentwurf zu stim- maßnahme handelt. Diejenigen, die hier vermittelt wer- men. den, sind zudem zu einem großen Anteil Hilfskräfte und Geringqualifizierte. Vielen Dank. Wozu würde Ihr Vorschlag führen? Geringqualifi- (Beifall bei der LINKEN) zierte und Langzeitarbeitslose hätten künftig nicht mehr die Chance, über diese Arbeitnehmerüberlassung einen Präsident Dr. Norbert Lammert: festen Job zu bekommen. Sie verkennen in Ihrem Ge- Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für setzentwurf auch, dass jährlich etwa 30 Prozent aller die CDU/CSU-Fraktion. Mitarbeiter in Leiharbeitsfirmen – das sind etwa 200 000 Mitarbeiter – aus einem Zeitarbeitsvertrag heraus in ein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) festes Arbeitsverhältnis übernommen werden.

Paul Lehrieder (CDU/CSU): (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Das ist ein Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! ganz anderes Thema!) (B) (D) Liebe Kollegen! Lieber Herr Dreibus, seit eineinhalb Das verschweigen Sie den Leuten. Sie sollten das ehrli- Jahren kennen wir uns hier in diesem Hohen Hause. Seit cherweise auch sagen. eineinhalb Jahren warte ich auf eine vernünftige Rede von Ihnen. Seit eineinhalb Jahren werde ich enttäuscht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Oh!) Sie haben hier gerade an diesem Pult gesagt, die Leih- arbeitnehmer würden weniger als Festangestellte verdie- Auch heute wieder, lieber Herr Dreibus, würde ich, nen. Das ist für die ersten sechs Wochen durchaus mög- wenn ich Lehrer in einer Schule wäre, sagen: Sechs, lich und zumutbar. Allerdings muss man auch die Thema verfehlt, setzen! Chancen der Leiharbeitnehmer auf einen Übergang in (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Was für ein Glück, ein festes Arbeitsverhältnis sehen. Dafür ist diese Ar- dass Sie kein Lehrer geworden sind!) beitsvermittlungsmaßnahme durchaus sinnvoll. Herr Dreibus, Sie selbst haben gerade die beiden – Ja, das ist aber wahr. Rechtsanwälte mit ihrem Artikel aus dem „Betriebs-Be- Liebe Freunde von der Linksfraktion, mit Ihrem An- rater“ zitiert, in dem sie gesagt haben: Die rechtlich zu- trag geben Sie den sozial Schwachen, den Arbeitslosen lässige Gestaltung des Arbeitnehmerüberlassungsgeset- und den Geringqualifizierten abermals Steine statt Brot. zes ist als Alternative zum Personalabbau auch in Sie streuen ihnen Sand in die Augen. Sie wollen ver- Erwägung zu ziehen. – Wollen Sie denn lieber Gekün- meintliche Wohltaten verkünden, die sich gerade eben digte und Arbeitslose haben, oder wollen Sie die Mög- nicht als solche entpuppen. lichkeit, dass jemand über diese Regelung in ein Zeitar- beitsverhältnis und über dieses Zeitarbeitsverhältnis in Auch, wenn Sie es sich noch so wünschen, dass die ein festes Arbeitsverhältnis kommen kann? beiden Ausnahmen in § 3 und § 9 des Arbeitnehmer- überlassungsgesetzes abgeschafft werden: Sie sind vor (Beifall bei der CDU/CSU – Werner Dreibus wenigen Jahren bewusst und mit Intention eingeführt [DIE LINKE]: Für die Hälfte des Geldes!) worden. Eine Abschaffung dieser beiden Regelungen – Für sechs Wochen. würde zunächst bedingen, dass sie entbehrlich sind. Dies sind sie gerade nicht. Sie hatten und haben ihre Berechti- (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Unbefristet!) gung. Zur anderen Alternative komme ich gleich. Ich komme Zunächst zur Sechswochenfrist. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 gleich zu den Tarifverträgen. Gedulden Sie sich, Herr des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes in derzeit gülti- Dreibus! Wir kommen schon noch dazu. 9912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Paul Lehrieder (A) Geringqualifizierte würden kaum mehr in die Zeitar- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) beit vermittelt werden, sondern nur noch die Hochquali- NEN]: Nein! Es gibt eine ganze Reihe von Un- fizierten und die Facharbeitskräfte. Viele andere fielen tersuchungen, Herr Lehrieder!) aus dem Markt heraus. Ihre Forderung würde zu – Melden Sie sich zu einer Zwischenfrage, oder beantra- Hartz IV statt einer Festanstellung führen. Das wäre in gen Sie Redezeit, Frau Pothmer! vielen Fällen die Folge, die Sie mit der von Ihnen ge- wollten Änderung erreichen würden. Das kann nicht Ihr Mit Blick auf die Tarifabschlüsse der drei großen Ver- Ernst sein, lieber Herr Dreibus. Ich habe Ihre polemi- bände der Zeitarbeit wird schnell klar, dass diese Unter- schen Reden hier zumindest immer so verstanden, dass stellung unhaltbar ist. Wenn Ungelernte und Geringqua- Sie sich gerade für die gesellschaftlich Schwachen ein- lifizierte im Westen an die 7 Euro Stundenlohn und im setzen wollen. Das tun Sie mit diesem heute eingebrach- Osten an die 6 Euro pro Stunde erhalten, kann eine sol- ten Gesetzentwurf gerade nicht. che Bezahlung wohl kaum als Lohndumping bezeichnet werden, erst recht nicht, wenn man die Bezahlung von (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Lin- anderen Berufsgruppen mit abgeschlossener Ausbildung ken: Doch, das tun wir!) berücksichtigt, die in einigen Branchen bei bestehenden Tarifverträgen, an denen die Gewerkschafter in Ihren Sie fordern, vom ersten Tag an Equal Pay anzuwen- Reihen zum Teil mitgewirkt haben, zwischen 4 und den. Das ist in vielen Fällen schlicht unpraktikabel. Wie 5 Euro liegt. soll zum Beispiel jemand bezahlt werden, der im ersten Monat an die Firma A, im zweiten Monat an die Firma B Dagegen sprechen auch Statistiken der Bundesagen- und anschließend vielleicht noch an die Firma C entlie- tur für Arbeit über die Zeitarbeitsbranche. Als aufsicht- hen wird, in denen unter Umständen ganz unterschiedli- führende Behörde fragt die Bundesagentur für Arbeit halbjährlich bei den Zeitarbeitsunternehmern die Zahlen che Lohnstrukturen existieren? Auch dazu geben Sie in über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. Diese Zah- Ihrem Antrag keine Aufklärung. len belegen, dass Zeitarbeit auch für Höherqualifizierte Zum Tarifvorbehalt. Diesbezüglich wollen Sie § 9 des immer mehr zu einer Alternative wird. Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ändern. Hiernach kön- (Beifall bei der CDU/CSU) nen in einem Tarifvertrag vom Gleichbehandlungsgrund- satz abweichende Regelungen grundsätzlich zugelassen Das wäre wohl kaum der Fall, wenn in dieser Branche werden. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages Dumpinglöhne bezahlt würden. können auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Ar- Sie tun sich mit der Zeitarbeitsbranche etwas schwer, beitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelung in- weil es ein neues Instrument ist, Herr Dreibus. Aber mir (B) (D) dividualrechtlich vereinbaren. ist jemand in Zeitarbeit lieber als ein Hartz-IV-Empfän- ger oder ein ALG I beziehender Mitbürger. Sehr geehrte Kollegen von der Linkspartei – ich ver- misse übrigens den Kollegen Lafontaine und auch etli- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: che von Ihren Gewerkschaftern; sie werden schon wis- Richtig! Sehr gut!) sen, warum sie nicht anwesend sind –, mit diesem Der Tarifvorbehalt soll Fehlentwicklungen vorbeu- Gesetzentwurf zeigen Sie Ihren Frust bzw. Ihr fehlendes gen. Auch das sollten Sie anerkennen, Herr Dreibus. So Vertrauen in die Gewerkschaften, sich nach unseren ta- wurde gegen das Diskriminierungsverbot bei der Leih- rifrechtlichen Bestimmungen auf einen Tarif einigen zu arbeit immer wieder vorgebracht, dass ein positiver können. Sie meinen, die Tarifvertragsparteien können Beschäftigungseffekt nicht zu erwarten sei – ich habe das nicht mehr, die Gewerkschaften seien ohnmächtig. eingangs darauf hingewiesen, dass 70 Prozent der Leih- Mit diesem Vorschlag attestieren Sie ihnen die Ohn- arbeitnehmer in ein festes Arbeitsverhältnis überführt macht. Deshalb muss der Bundesgesetzgeber jetzt alle werden –; denn durch die Pflicht zur Gleichbehandlung Regelungen, die früher die Tarifvertragsparteien ausge- verteuere sich die Leiharbeit derart, dass sie für Entleih- handelt haben, schaffen. Das zeigt Ihr Verständnis der und Verleihunternehmen wirtschaftlich nicht mehr renta- Gewerkschaften. Ich nehme das erstaunt zur Kenntnis, bel sei. Die Möglichkeit, Personalkosten zu reduzieren, weil viele aus Ihrer Partei – ich glaube, es sind 50 Pro- ist jedoch zentraler Beweggrund, Leiharbeitnehmer im zent – aus diesem Bereich kommen. eigenen Betrieb zu beschäftigen, insbesondere wenn ein Unternehmen durch einen Nachfrageüberhang kurzfris- Die pauschale Unterstellung, dass die Tariföffnungs- tig mehr Personal braucht und eine Festanstellung aus klausel im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz von den Ar- diesen Gründen nicht vornehmen will. Darüber hinaus beitgebern zum Lohndumping missbraucht wird, ent- verursacht die Regelung einen administrativen Mehrauf- behrt jeder Grundlage. wand, wenn Leiharbeitnehmer zu einer Vielzahl von Ar- beitseinsätzen in verschiedenen Betrieben überlassen (Werner Dreibus [DIE LINKE]: Das steht in werden. dem Bericht der Bundesregierung!) Diesen Bedenken begegnet die am 1. April 2004 ein- Entsprechend schwammig ist in Ihrer Vorlage auch nur geführte Neuregelung im Arbeitnehmerüberlassungsge- von praktischen Erfahrungen die Rede, ohne dass dem setz mit der Möglichkeit des Abschlusses abweichender irgendwelche konkreten Zahlen und Fakten zugrunde Tarifverträge. Die sich hieraus ergebenden Chancen, die gelegt werden. Rahmenbedingungen der Leiharbeit im Spannungsver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9913

Paul Lehrieder (A) hältnis zwischen Arbeitnehmerschutz und wirtschaftli- werden durch die Zeitarbeit Beschäftigungspotenziale (C) cher Notwendigkeit sozial ausgewogen zu bestimmen, nutzbar gemacht, die ansonsten ungenutzt blieben. Die sind nicht zu unterschätzen. Zeitarbeitsplätze verdrängen nicht, wie von der Fraktion Die Linke oft angeprangert, reguläre Arbeitsplätze, son- (Beifall bei der CDU/CSU) dern sie gehen diesen regelmäßig voraus. Dies zeigen die bislang erfolgten Tarifabschlüsse, die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hinsichtlich des Arbeitsentgelts sowohl dem Entleiher der CDU/CSU) als auch dem Verleiher hinreichenden finanziellen Spiel- raum und dem Arbeitgeber Flexibilität bei kurzfristigen Mit dem Boom der Zeitarbeitsbranche ist auch ein Ima- Auftragsüberhängen einräumen. gewandel einhergegangen. Zeitarbeitsunternehmen wer- den nicht mehr – wie in der Vergangenheit oft der Fall – Ich sehe aus diesen Gründen keine Veranlassung, im in die Ecke der Schmuddelkinder gestellt oder als Ar- Sinne der Linkspartei Änderungen am Arbeitnehmerü- beitgeber zweiter Klasse angesehen. Dadurch, dass sie berlassungsgesetz vorzunehmen. ihren Kunden die notwendige Flexibilität geben, die (Zuruf von der LINKEN: Das ist diese bei der Personalplanung brauchen, haben Zeit- enttäuschend!) arbeitsunternehmen gerade bei einem wirtschaftlichen Aufschwung die Rolle eines Jobmotors inne, den es auf – Das ist nicht enttäuschend; es war vielmehr zu erwar- Touren zu halten gilt. ten. – Sie können sicher sein, dass die Interessen der Ar- beitnehmer ebenso wie die Interessen der Arbeitslosen in Die Bundesregierung sollte die relativ gute konjunk- den Händen der CDU/CSU und der SPD besser aufgeho- turelle Ausgangslage, die wir derzeit haben, nutzen, die ben sind als bei den Populisten der Linkspartei. dringend notwendigen Maßnahmen zur weiteren Flexi- bilisierung des Arbeitsmarktes in Deutschland zu ergrei- (Lachen bei der LINKEN – Werner Dreibus fen. [DIE LINKE]: Das ist übrigens wirklich über- raschend!) (Beifall bei der FDP) Danke schön. Es gibt gute Gründe, im Sektor Zeitarbeit weitere Refor- men durchzuführen. Gerade für Arbeitslose und Berufs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- einsteiger ist die Zeitarbeit eine sehr gute Möglichkeit, neten der SPD) den Einstieg in eine Beschäftigung zu finden. Zeitarbeit ist eine Brücke zurück in den ersten Arbeitsmarkt, die Präsident Dr. Norbert Lammert: sich für viele Arbeitslose als tragfähig erwiesen hat. (B) Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb, (D) FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Ich will zwei Vorschläge zur weiteren Deregulierung im Bereich der Zeitarbeit machen. Erstens. Zu überlegen ist, ob das Verbot gewerbsmäßiger Arbeitnehmerüber- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): lassung in Betrieben des Baugewerbes für Arbeiten, die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! üblicherweise von Arbeitern verrichtet werden, nicht Deutschland erlebt derzeit einen Aufschwung, über den aufgehoben werden kann. Ich sehe aktuell keinen Grund wir uns freuen, zu dem allerdings die amtierende Bun- mehr, warum Zeitarbeit im Baugewerbe in Deutschland desregierung und die sie tragende Koalition nichts, aber nicht zugelassen ist bzw. nicht zugelassen sein soll. Die- auch gar nichts beigetragen haben. ses Verbot ist ein Wettbewerbsnachteil für die Baubran- (Beifall bei der FDP) che und die Personaldienstleister in Deutschland, denen damit ein Zugang zu einem wichtigen Kundenmarkt ver- Zu den Branchen, die besonders vom Aufschwung profi- wehrt wird. tieren, gehört auch die Zeitarbeitsbranche. Sie hat sich geradezu rasant entwickelt und zeichnet sich seit Jahren (Beifall bei der FDP) durch hohe Wachstumsraten aus. Im Jahr 2006 hat die Zweitens. Weil sich die Zeitarbeitsverhältnisse zu ei- Zahl der Leiharbeiter erstmals die Grenze von 500 000 nem wichtigen und gleichrangigen Bestandteil des Ar- überschritten. beitsmarktes entwickelt haben, gibt es nach unserem So erfreulich der Aufschwung dieser Branche ist, Dafürhalten ein besonderes Schutzbedürfnis von Arbeit- Herr Kollege Dreibus, so nötig ist es, auf folgenden Zu- nehmern in der Zeitarbeit gegenüber der Beschäftigung sammenhang hinzuweisen: Die Zeitarbeitsbranche profi- bei anderen Arbeitgebern nicht mehr. tiert in hohem Maße davon, dass wir in Deutschland (Beifall bei der FDP) einen noch immer viel zu reglementierten Arbeits- markt haben. Trotz der guten Konjunkturlage trauen Es ist daher zu überprüfen, ob das Arbeitnehmerüberlas- sich die Unternehmen nicht, selbst Beschäftigte einzu- sungsgesetz mittelfristig nicht ganz abgeschafft werden stellen; denn feste Beschäftigungsverhältnisse bedeuten sollte. relativ starre Kapazitäten. Unternehmen müssen aber im (Beifall bei der FDP) globalen Wettbewerb oft flexibel reagieren. Sie tun dies durch die Beschäftigung von Zeitarbeitern. Ich finde die Das wäre der richtige Weg der Deregulierung. Fatal wäre Einstellung von Zeitarbeitern gut; denn im Ergebnis es aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion hingegen, die 9914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Zeitarbeitsbranche unter das Dach des Arbeitnehmer- Neoliberalismus gehört. Ich sage ganz klar: Grundsätz- (C) Entsendegesetzes zu ziehen und damit für mehr Regu- lich und generell ist gegen Zeitarbeit nichts einzuwen- lierung zu sorgen sowie einen Mindestlohn durch die den. Zeitarbeit ermöglicht es, Spitzenauslastungen der Hintertür einzuführen. Die Begehbarkeit der Brücke Unternehmen abzudecken. Zeitarbeit bietet Unterneh- würde eingeschränkt. Gerade Problemgruppen unter den men Flexibilität. Immerhin 30 Prozent der Leiharbeit- Arbeitslosen wären von einer solchen Maßnahme betrof- nehmer erreichen eine Festeinstellung beim Entleiher. fen. Ich sage aber genauso klar: Sozialdumping muss ein Riegel vorgeschoben werden. Wir wollen keine Zeitar- Mit dem Gesetz, über dessen Entwurf wir heute in beit in der Schmuddelecke. Wir wollen, dass Zeitarbeit erster Lesung beraten, will die Linksfraktion die im Be- zu fairen und zu annehmbaren Bedingungen durchge- reich der Arbeitnehmerüberlassung vorgesehenen beiden führt wird. Ausnahmen von dem sonst geltenden Grundsatz „glei- cher Lohn für gleiche Arbeit“ aufheben. Die FDP-Frak- (Beifall bei der SPD) tion hatte schon im Gesetzgebungsverfahren 2001 die Aufnahme dieses Grundsatzes abgelehnt. Das halte ich Wir haben im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz fest- heute noch für richtig, da die Zeitarbeitsunternehmen, geschrieben, dass einem Leiharbeitnehmer für die Zeit müssten sie ihren Leiharbeitnehmern tatsächlich diesel- der Überlassung an einen Entleiher die im Betrieb dieses ben Arbeitsbedingungen gewähren, die der Entleiher Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des vergleichbaren Arbeitnehmern bietet, mit einer erhebli- Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen chen Verteuerung ihres Angebotes und verschlechterten einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren sind. Das Marktchancen konfrontiert wären, von der zusätzlichen heißt, wenn ein Leiharbeitnehmer in einem Betrieb der Bürokratie ganz abgesehen. In der Praxis haben die Ver- Metall- und Elektroindustrie arbeitet, dann hat er auch leiher das Problem dadurch gelöst, dass sie von der Rechte wie nach dem Metalltarifvertrag, und das ist rich- Tariföffnungsklausel im Gesetz Gebrauch machen und tig so. Lediglich ein Tarifvertrag kann abweichende Re- dass die Tarifparteien in der Zeitarbeitsbranche eigene gelungen zulassen. Das ist dem Grunde nach ebenfalls Tarifverträge abgeschlossen haben. Die Linksfraktion richtig. Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Das ist Kon- bewirkte vor diesem Hintergrund mit ihrem Gesetz im sens in dieser Gesellschaft. Ergebnis, dass, würde diese legale Ausweichmöglichkeit Wir haben als Gesetzgeber klar zum Ausdruck ge- beendet, zwangsläufig zahlreiche Arbeitsplätze in der bracht, dass wir die Gleichbehandlung der Zeitarbeitneh- Zeitarbeitsbranche verloren gingen. Herr Dreibus, ich mer mit den Beschäftigten im Entleiherbetrieb wün- wundere mich, wie es die Fraktion Die Linke in ihren schen. Auf dieser Basis haben alle Gewerkschaften Vorlagen immer wieder schafft, solche einfachen und verhandelt; sie hatten den Gleichbehandlungsgrundsatz (B) zwingenden Zusammenhänge schlichtweg auszublen- als Unterstützung im Rücken. (D) den. Die christlichen Gewerkschaften für Zeitarbeit haben (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist dann in Nordbayern einen Tarifvertrag abgeschlossen, Dialektik!) der nur ein extrem niedriges Arbeitsentgelt vorsieht. Die Zum Schluss: Die bisherigen Flexibilisierungen der DGB-Gewerkschaften verhandelten zu diesem Zeitpunkt Arbeitnehmerüberlassung haben – wie eingangs erwähnt noch. Sie hatten sich mit den Arbeitgeberverbänden in – einen wichtigen Beitrag zur Schaffung von Arbeits- einem Eckpunktepapier auf 11 Euro verständigt. Das plätzen in diesem Bereich geleistet. Statt das Rad zu- Vorgehen der christlichen Gewerkschaften war wirklich rückzudrehen, wie es die Linksfraktion anstrebt, sollten sehr hilfreich! Nach diesem Tarifabschluss machten die wir dort, wo noch Hemmnisse für Beschäftigung beste- Arbeitgeberverbände iGZ und BZA natürlich nicht mehr hen, über weitere Liberalisierungen im Arbeitnehmer- mit. Die christlichen Gewerkschaften haben die Ver- überlassungsgesetz nachdenken. Die Ansatzpunkte dafür handlungsposition des DGB kaputt gemacht. habe ich genannt. Ich sage ganz klar: Die Tarifpolitik der Tarifgemein- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. schaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit gefällt uns nicht. (Beifall bei der FDP) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das mit der Präsident Dr. Norbert Lammert: Tarifautonomie, Frau Kramme! Das muss nicht Ihnen gefallen, sondern den Beschäftig- Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Kramme, ten!) SPD-Fraktion. Es ist nicht in Ordnung, dass die christlichen Gewerk- (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb schaften beispielsweise mit Allbecon Personaldienstleis- [FDP]: Frau Kramme, jetzt gibt es die Gene- tungen einen Stundenlohn um die 5 Euro vereinbaren. ralabrechnung!) Dasselbe gilt beispielsweise für die AES, die Arbeits Entlastungs Service GmbH in Düsseldorf. Wir haben Anette Kramme (SPD): nicht den Eindruck, dass bei Tarifvertragsverhandlungen Ich habe keine gescheiten Vorlagen gefunden. – Sehr durch die christlichen Gewerkschaften jemals Arbeitneh- geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- merinnen- und Arbeitnehmerinteressen vertreten worden gen! Wir haben hier das Wort des Tages der FDP zum sind. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9915

Anette Kramme (A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie können Sie native gestellt, entweder den Verlag zu verlassen oder (C) das sagen?) am bisherigen Schreibtisch zu bleiben, allerdings als Leiharbeitnehmer und selbstverständlich zu deutlich Die Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeit- schlechteren Konditionen. Immerhin für neun Zeitungs- arbeit betreibt Lohndumping, sie macht Gefälligkeits- verlage sind solche Leiharbeitskonstruktionen bekannt tarifverträge. Das ist ein Skandal. geworden. (Beifall bei der SPD) Ich kann aber auch ein Beispiel aus meinem Wahl- Ich bedauere sehr, dass das Bundesarbeitsgericht bei der kreis nennen. Bayreuth hat ein Klinikum in öffentlich- Christlichen Gewerkschaft Metall von deren Tariffähig- rechtlicher Trägerschaft mit ungefähr 2 000 Beschäftig- keit ausgeht. ten. Die Geschäftsleitung intendierte zunächst, alle Mit- arbeiter bis auf die Ärzte und die leitenden Kräfte in eine Die Sprücheklopferei des neu gegründeten Arbeitge- Leiharbeitsfirma zu überführen. Ziemlich offen wurde berverbandes AMP „Wir sind noch billiger“ stellt nur erklärt, das sei eine Maßnahme zur Reduzierung von eine Abwandlung der Geiz-ist-geil-Mentalität dar. Das Lohnkosten. Der Betriebsrat hat errechnet, dass eine hat auf dem Arbeitsmarkt nichts zu suchen. Krankenschwester in der Arbeitnehmerüberlassungs- Lassen Sie uns in der Zeitarbeit zunächst das machen, firma 40 Prozent weniger als nach dem ansonsten anzu- was zeitnah möglich ist. Es ist gut, dass sich die DGB- wendenden TVöD verdient. Die Entscheidung ist dann Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände iGZ und aufgrund politischen Drucks anders ausgefallen. Das BZA zusammengesetzt und einen gemeinsamen bundes- Klinikum hat sich entschieden, die befristeten Arbeits- weiten Tarifvertrag mit Mindestbedingungen für die verhältnisse bei sich auslaufen zu lassen und Neueinstel- Zeitarbeit vereinbart haben. Es wird Zeit, dass unser lungen grundsätzlich nur noch über die Leiharbeitsfirma Koalitionspartner mit uns die entsprechende Änderung zu tätigen und hierüber 10 Prozent der Belegschaft abzu- des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes beschließt. decken. Die Gewerkschaft geht davon aus, dass in der Leiharbeitsfirma mittlerweile mehr als 200 Arbeitneh- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!) mer beschäftigt sind. Meine Damen und Herren der Union, ich befürworte Leider gilt auch, dass Firmen zunehmend nicht nur ausdrücklich, dass auch für die Leiharbeitsbranche die Tochterunternehmen als Leiharbeitsfirmen einsetzen, Möglichkeit geschaffen wird, die Tarifverträge per Rechtsverordnung – und nicht über das Tarifvertragsge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider ist die setz – für allgemeinverbindlich zu erklären. Es ist fast Welt nicht so, wie Frau Kramme sie sich vor- unmöglich geworden, außerhalb des Arbeitnehmer-Ent- stellt! Gott sei Dank wird sie auch nie so sein!) (B) sendegesetzes Tarifverträge über den Tarifausschuss, (D) sondern auch sonstige Leiharbeitsunternehmen zur Um- also über das Tarifvertragsgesetz, für allgemeinverbind- gehung des eigenen Tarifvertrages einschalten. Da wer- lich erklärt zu bekommen. Die Arbeitgeberseite geriert den Stammarbeitskräfte durch Leiharbeitskräfte ersetzt. sich in unerträglicher Weise. In der Zeitarbeitsbranche sind derzeit circa 2 Prozent Bei dieser Gelegenheit: Die FDP hat als Regierungs- der Arbeitnehmer beschäftigt. Bei der Gelegenheit sei partei ursprünglich dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz erwähnt, in den Niederlanden sind es circa 4,5 Prozent und dem ihm zugrunde liegenden Gedanken zuge- und in Großbritannien sogar 4,7 Prozent der Beschäftig- stimmt. Sehr vernünftig. ten. Im Jahr 2005 griffen circa 2,5 Prozent der deutschen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich kann mich Betriebe auf Leiharbeit zurück. Im Durchschnitt wurden noch gut daran erinnern!) in jedem dieser Betriebe circa 6,7 Zeitarbeitnehmer ein- gesetzt. Wir brauchen dringend empirisches Zahlenma- Mir fällt da nur eines ein: Die größten Kritiker der Elche terial über die Substitution von Stammarbeitern durch waren früher selber welche. Leiharbeitnehmer. Wir als SPD beobachten mit äußerster (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dazu könnte ich Aufmerksamkeit diese skandalösen Prozesse, und wir Ihnen einiges erzählen!) diskutieren intensiv über die verschiedenen Handlungs- varianten. Kurt Beck hat sich zur Thematik geäußert. Mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz werden wir inländische und ausländische Leiharbeitnehmer und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sagen Sie etwas Leiharbeitnehmerinnen vor Lohndumping schützen. Wir zu den Vorschlägen der FDP! Machen Sie da müssen uns auch auf die Zeit einstellen, wenn das mit?) 2+3+2-Abkommen abläuft. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, Die Gewerkschaften berichten uns von Skandalen in als ich Ihren Gesetzentwurf das erste Mal gelesen habe, der Leiharbeitsbranche. Der Deutsche Journalisten- fiel mir spontan ein: Willkommen in der fabelhaften Verband beispielsweise schreibt uns, dass Medienunter- Welt. Sie formulieren Forderungen und gucken wie ein nehmen, insbesondere Zeitungsverlage, eigene Leihar- Pferd mit Scheuklappen nicht nach rechts oder links. Sie beitsfirmen als Tochterfirmen gründen. Redakteurinnen fordern eine Streichung der Ausnahmeregelungen bei und Redakteure würden seit geraumer Zeit von den Zei- dem gesetzlich fixierten Grundsatz von Equal Pay und tungsverlagen generell nur noch befristet eingestellt, und Equal Treatment. Sie zeichnen sich immer durch eine zwar mit Verträgen mit einem oder nur zwei Jahren Arbeitshaltung aus, die da lautet: Hoppla hopp! Machen Laufzeit. Nach Ablauf der Frist würden sie vor die Alter- wir doch mal eben etwas! – Es ist Ihnen schlicht egal, ob 9916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Anette Kramme (A) und wie Ihre Regelungen umsetzbar sind. Es ist so wie (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Jawohl, Frau (C) früher: Da muss nur einmal schnell der Rat beschließen, Pothmer! Ich heiße Lehrieder!) und dann wird der Mehrjahresplan schon von den Kom- binaten erfüllt werden. – Herr Lehrieder! Sie kommen für mich immer so als Lehrer daher. – (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es ist fast wie (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Manche bedür- bei der Bundesregierung!) fen der Belehrung!) Ich finde bei Ihnen keine Auseinandersetzung mit der Andererseits wird dieses Instrument zur gezielten Ver- verfassungsrechtlichen Problematik, die in der rechts- schlechterung der Arbeitsbedingungen genutzt. Das wissenschaftlichen Literatur ziemlich intensiv diskutiert müssen Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen. wird. Ich sage nicht, dass eine solche Regelung verfas- sungswidrig ist, aber Überlegungen sind schon erforder- Wenn Sie sich konstant weigern, Untersuchungen zu lich. Ich finde bei Ihnen keine Abwägung von Alternati- diesem Thema zu lesen, dann sollten Sie sich nicht hier- ven. Die romanischen Staaten wie Frankreich und hin stellen und der Bundesregierung unterstellen, dass Belgien lassen Leiharbeit beispielsweise nur bei einem sie keine wahrheitsgemäßen Aussagen macht. Das Pro- Sachgrund zu, ähnlich unseren Regelungen im Teilzeit- blem, dass Leiharbeit zu Lohndumping führt und zur und Befristungsrecht. Es wird nicht darüber nachge- Verschlechterung von Arbeitsbedingungen genutzt wird, dacht, dass die Ablösung von vorhandenen Belegschaf- existiert. Das hat die Bundesregierung in ihrer Antwort ten durch eine gesetzliche Regelung unter Umständen auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion sehr deutlich ausgeschlossen wird. festgestellt. Sie werden doch Ihrer eigenen Bundesregie- rung nicht widersprechen wollen. Das gehört sich nicht, Wir akzeptieren kein Lohndumping in der Leihar- Herr Lehrieder, jedenfalls nicht in Ihren Reihen. beitsbranche. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Jawohl, Frau Pothmer, das gehört sich nicht!) Wir brauchen dringend die Ausdehnung des Arbeitneh- mer-Entsendegesetzes. Wir akzeptieren nicht, dass durch Herr Dreibus, Sie sehen: Ich leugne dieses Problem Leiharbeitsfirmen Tarifflucht begangen wird. nicht. Aber ich finde, dass Sie es sich in Ihrer Vorlage zu einfach machen. Wenn wir diesem Gesetzentwurf zu- In diesem Sinne herzlichen Dank. stimmten, liefen wir Gefahr, dafür zu sorgen, dass die (Beifall bei der SPD) Leiharbeit die Funktion einer Brücke in den ersten Ar- (B) beitsmarkt zukünftig nicht mehr ausfüllen könnte. Ich (D) meine, dass wir darauf nicht verzichten sollen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält die Wir wollen doch den Missbrauch bekämpfen. Der Missbrauch entsteht in erster Linie dadurch, dass die Kollegin Brigitte Pothmer, Fraktion des Bündnisses 90/ derzeitigen Leiharbeitsregelungen Lohndumping zulas- Die Grünen, das Wort. sen.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Werner Dreibus [DIE LINKE]: So ist es! Deshalb gesetzliche Änderungen!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, was hier beschrieben worden ist: Die Leiharbeit – Aber dann lassen Sie uns doch einen anderen Weg ge- nimmt tatsächlich eine immer größere Bedeutung an. hen. – Frau Kramme hat hier doch auf die unmöglichen Zustände in der Leiharbeit hingewiesen. Wir könnten (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und das ist auch das Lohngefälle dadurch mildern, dass wir die Leih- gut so!) arbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufnehmen. 1 Million Menschen war im Laufe des Jahres 2006 im Diese Möglichkeit hat diese Branche inzwischen längst Bereich der Zeitarbeit tätig. 70 Prozent dieser Menschen geschaffen. waren vorher arbeitslos oder nicht erwerbstätig, Herr Frau Kramme, Sie stellen sich hierhin und weinen Dreibus. Ein erheblicher Teil von ihnen hat es tatsäch- Krokodilstränen. lich geschafft, über Leiharbeit eine Festanstellung zu er- reichen. (Anette Kramme [SPD]: Ich weine nicht! Se- hen Sie was? – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das könnten Heute kriegt jeder sein Fett weg von Frau noch mehr sein, wenn man auch den Baube- Pothmer!) reich öffnen würde!) Sie sagen: Wir wollen diese Situation nicht länger hin- – Das sind nicht allzu viele; ich gebe Ihnen recht. – Das nehmen. Sie gehen auf die Straße und sammeln Unter- ist die eine Seite der Leiharbeit. Sie ist ein Instrument schriften für Mindestlöhne. Sie haben hier im Hause zur Integration von Menschen in den Arbeitsmarkt. Es eine Mehrheit dafür, Mindestlöhne einzuführen. Wir bietet zudem den Unternehmen mehr Flexibilität. Das würden sehr gerne einen Antrag von Ihnen mittragen, wollen wir durchaus. Auf der anderen Seite, Herr der fordert, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz entspre- Lehrrieder – – chend zu ändern. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9917

Brigitte Pothmer (A) (Anette Kramme [SPD]: Sie können dem- und Daten über die Lenk- und Ruhezeiten, danach Lö- (C) nächst mit abstimmen! – Gegenruf des Abg. schung der Daten und Vernichtung der Scheiben, es sei Werner Dreibus [DIE LINKE]: Wann?) denn, sie sind nach den Vorschriften des Arbeitszeitge- setzes oder der Abgabenordnung weiterhin aufzubewah- Tun Sie mir einen Gefallen: Geben Sie mir ein Mal die ren, viertens die Bußgeldbewehrung für die Verantwor- Möglichkeit, einer Initiative von Ihnen zuzustimmen. tung der Beförderungskette für Verstöße gegen die Lenk- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Ruhezeiten, fünftens die Ahndung von im Ausland sowie bei Abgeordneten der LINKEN) begangenen Verstößen und sechstens die Übergangs- regelung zu den Bußgeldverfahren. Das wäre schön für mich. Das wäre gut für die Leihar- beit. Ich glaube, das täte auch der sozialdemokratischen Der vorliegende Gesetzentwurf enthält die entspre- Seele gut. chenden Regelungen. So wird eine ausdrückliche Er- mächtigung für Auskünfte aus dem Kontrollgerätkarten- Ich danke Ihnen. register an die zuständigen Behörden und Stellen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – geschaffen. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass Werner Dreibus [DIE LINKE]: Da werden wir festgestellt werden kann, ob und wie viele Fahrerkarten lange warten können!) zur Bedienung des digitalen Kontrollgerätes einer Per- son bereits ausgestellt wurden. Es geht also, obwohl sich Präsident Dr. Norbert Lammert: die ersten Sätze meiner Rede sehr bürokratisch anhörten, Ich schließe die Aussprache. um ein zentrales Thema: die Verkehrssicherheit. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Die Anpassung der Fristen zur Aufbewahrung der wurfs auf Drucksache 16/4805 an die in der Tagesord- Daten aus dem Massespeicher des digitalen Kontrollge- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es rätes an die europäische Grundregelung – ein Jahr – be- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. deutet eine Eins-zu-eins-Umsetzung. Um dem Unterneh- Dann ist die Überweisung so beschlossen. mer die Möglichkeit zu geben, diese Daten auch für andere vom Gesetzgeber im Arbeitszeitgesetz bzw. in Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 11 auf: der Abgabenordnung vorgeschriebenen Zwecke zu ver- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- wenden, wird ihm nun ermöglicht, die Daten erst dann gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten zu löschen, wenn er sie für die vorgenannten – rechtli- Gesetzes zur Änderung des Fahrpersonalge- chen – Zwecke nicht mehr braucht. Gleiches gilt in Zu- setzes kunft auch für die aufzubewahrenden Tachografenschei- ben des mechanischen Kontrollgerätes und deren (B) (D) – Drucksache 16/4691 – Vernichtung. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Der Gesetzentwurf enthält weiterhin eine Bußgeld- ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung bewehrung der Verantwortung in der Beförderungs- (15. Ausschuss) kette. Die dort Beteiligten müssen die Beförderungszeit- – Drucksache 16/5238 – pläne so vereinbaren, dass für die Fahrer die Einhaltung der Lenk- und Ruhezeiten möglich ist. Daneben wird in Berichterstattung: Ergänzung der Verordnung klargestellt, dass Ordnungs- Abgeordneter Patrick Döring widrigkeiten künftig auch dann geahndet werden kön- Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FDP vor. nen, wenn sie nicht im Geltungsbereich des Fahrperso- nalgesetzes begangen wurden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Letztendlich enthält der Gesetzentwurf eine punktu- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. elle Aufhebung der Meistbegünstigungsklausel im Hinblick auf Verstöße gegen die Lenk- und Ruhezeiten Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst bis zum 10. April 2007. Bis zu diesem Zeitpunkt waren der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann. die Lenk- und Ruhezeiten in der Verordnung Nr. 3820/85 geregelt, also in einer anderen Verordnung der Europäi- Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- schen Gemeinschaft. Diese wurde dann am 11. April desminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: 2006 ersetzt. Nach § 4 Abs. 3 des Ordnungswidrigkei- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der tengesetzes ist bei einer Gesetzesänderung, die zwischen heute zu behandelnde Entwurf eines Dritten Gesetzes der Begehung der Handlung und der Entscheidung in zur Änderung des Fahrpersonalgesetzes soll die Voraus- Kraft tritt, zugunsten des Betroffenen das mildere Gesetz setzungen für die Ergänzung der Verordnung der Euro- anzuwenden. Danach ist die Ahndung einer Ordnungs- päischen Gemeinschaft über die Lenk- und Ruhezeiten widrigkeit unzulässig, wenn die Tat in der Zeit zwischen im Straßenverkehr schaffen. ihrer Begehung und der gerichtlichen Entscheidung ein- mal nicht mit einer Geldbuße bedroht war. Hierzu ist Folgendes erforderlich: erstens die Ergän- zung einer Verordnungsermächtigung, zweitens die Re- Da das geänderte Fahrpersonalgesetz am 11. April gelungen zum Datenschutz im Zusammenhang mit der 2007 noch nicht in Kraft getreten war, hätten in der Zwi- Einführung eines digitalen Kontrollgeräts, drittens eine schenzeit bis zum Inkrafttreten alle vor dem 10. April einjährige Aufbewahrungsfrist für Tachografenscheiben 2007 noch nicht geahndeten Verstöße nicht weiterver- 9918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Parl. Staatssekretär Achim Großmann (A) folgt werden können. Dieses Prinzip der Meistbegünsti- In Wahrheit war diese Misere, die zu dem Urteil ge- (C) gung hat einfachgesetzlichen Charakter und kann daher, führt hat, und die nicht mehr gegebene Möglichkeit der wie im vorliegenden Fall, durch ein anderes Gesetz Verfolgung solcher Verstöße gegen Lenk- und Ruhezei- punktuell aufgehoben werden. Es werden dadurch keine ten das Produkt – ich sage es einmal vorsichtig – unpro- Handlungen rückwirkend unter Strafe gestellt, sondern fessioneller Regierungsarbeit. es wird lediglich das Prinzip der Meistbegünstigung auf- gehoben. Dies stellt, auch unter Aspekten des Vertrau- (Beifall bei der FDP) ensschutzes, keine unzumutbare Beeinträchtigung dar; Damit haben Sie jedenfalls dem Gewerbe, auch wenn denn die Fahrer, die bis zu diesem Zeitpunkt Verstöße das Ganze vielleicht in einem anderen Haus verschuldet gegen die Lenk- und Ruhezeitenvorschriften begangen wurde, keinen Gefallen getan. haben, mussten mit einer Bestrafung rechnen. (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- Der Bundesrat hat am 16. Februar 2007 keine grund- Eckardt) sätzlichen Einwände gegen den Regierungsentwurf erho- ben, allerdings manche Änderungen bzw. Ergänzungen Zweite Bemerkung. Egal, ob die Zahlen, die dort ge- gewünscht. Einige dieser Vorschläge sind annehmbar. nannt werden, überzogen sind oder nicht, wahr ist, dass Die Bundesregierung konnte ihnen in ihrer Gegenäuße- das Signal fatal ist, dass es gerade die Bundesrepublik rung zustimmen. Im Ergebnis wird dieses Gesetz einen Deutschland in Europa nicht schafft, diese Verordnung Beitrag zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und zur rechtzeitig in deutsches Recht zu überführen, dass ge- Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Fahrer leisten. rade wir während unserer Ratspräsidentschaft Schwie- rigkeiten bekommen, europäische Regelungen für dieses Noch ein Wort zu den Zahlen, die immer wieder ge- Gewerbe in Kraft zu setzen. Auch das möge man beden- handelt werden, was dem Staat an Einnahmen durch die ken. leider eingetretene Verzögerung angeblich entgangen ist: (Beifall bei der FDP) Das Bundesamt für Güterverkehr hat im gesamten Jahr 2006 11 Millionen Euro an Bußgeldern und Ver- Zum Inhalt selbst. Ich habe in der Ausschussberatung warnungen vereinnahmt. In diesem Fall geht es um acht für meine Fraktion beim Thema Meistbegünstigungs- Wochen. Ich weiß also nicht, wie man auf dreistellige klausel nachgefragt, ob das Ganze hinsichtlich der sei- Millionensummen kommt, von denen man in der Presse nerzeit am OLG Stuttgart entschiedenen Frage, ob man immer wieder lesen konnte. diese Klausel einfachgesetzlich außer Kraft setzen dürfe, inzwischen mit dem BMJ abgeklärt ist. Es war übrigens Wir sind mit der Vorlage rechtzeitig im Dezember im 1998 beim Bundesnaturschutzgesetz unter der Umwelt- (B) Kabinett gewesen. Aber es hat einer langen Abstimmung ministerin Dr. das erste Mal der Fall, (D) bedurft, weil es eine sehr komplizierte Gesetzgebung dass die Meistbegünstigungsklausel einfachgesetzlich war. Ich hoffe, dass wir jetzt in der Lage sind, das, was außer Kraft gesetzt worden ist. Das hat das OLG Stutt- die Europäische Gemeinschaft als Richtlinie beschlossen gart damals für verfassungskonform gehalten. Seitdem hat, mit entsprechenden Bußgeldern zu bewehren. Des- ist relativ viel Zeit ins Land gegangen. In der heutigen halb bitte ich um Ihre Zustimmung. Ausgabe der „Deutschen Verkehrszeitung“ wird uns auf Vielen Dank. einer ganzen Seite von einer Kanzlei für Verkehrsrecht dargelegt, dass diese Aufhebung wahrscheinlich verfas- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sungswidrig ist. (Der Redner hält eine Zeitungsseite hoch) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich hatte in der Ausschusssitzung darum gebeten, das zu Der Kollege Patrick Döring für die FDP-Fraktion ist klären, damit uns das nicht noch einmal passiert. Sie, der nächste Redner in dieser Debatte. Herr Staatssekretär, haben das in Ihrer Rede bestätigt. (Beifall bei der FDP) „Wir werden sehen“, sage ich einmal. Aber sollte das passieren, wäre das das zweite Gesetz aus Ihrem Haus – neben einem großen Gesetzentwurf –, das wahrschein- Patrick Döring (FDP): lich verfassungswidrig ist. Damit führen Sie die Rang- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! liste vermutlich an. Erste Bemerkung. Am Ende Ihrer Rede, Herr Staatsse- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Anton kretär Großmann, haben Sie darauf hingewiesen, dass Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) der Gesetzentwurf, nachdem die Frist verstrichen und die Verordnung in Kraft ist und es ein amtsgerichtliches Zu unserem Entschließungsantrag, liebe Kolleginnen Urteil aus Schleswig-Holstein gibt, auf einmal ganz und Kollegen: Wir hätten uns gewünscht – wenn das schnell in der letzten Sitzungswoche im Ausschuss war ganze Verfahren so gelaufen wäre, wie es hätte laufen und die Bundesregierung sich mehrfach dafür entschul- sollen –, als Verkehrspolitiker in der Diskussion klären digt hat, dass die Ressortabstimmung so furchtbar lange zu können, ob die eine oder andere Regelung, die mit der gedauert hat; aber nun müsste man ja ganz schnell zu EU-Verordnung unmittelbar nichts zu tun hat, für das Potte kommen. Natürlich gab es dann ganz schnell Än- Gewerbe tatsächlich noch Sinn macht. Da geht es insbe- derungsvorschläge aus der Koalition. Mit einem Mal sondere um die seit 1971 gültige Regelung für Fahr- ging’s. zeuge zwischen 2,8 und 3,5 Tonnen. Wir hören von den Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9919

Patrick Döring (A) Handwerkskammern vor Ort – sicher auch in Ihrem Wahl- Bevor ich zum Inhalt des Fahrpersonalgesetzes (C) kreis –, dass die seit 1971 gültige 50-Kilometer-Rege- komme, lassen Sie mich etwas zu den neuen Lenk- und lung, für die wir eine gesetzliche Sonderregelung haben Ruhezeiten sagen. Wozu erlässt die EU jetzt neue – das hat nichts mit Europa zu tun –, nicht mehr prakti- Grenzwerte für Lenk- und Ruhezeiten? Dahinter steht kabel ist. das Bestreben der EU nach mehr Sicherheit im Straßen- verkehr. Im Weißbuch Verkehr von 2001 hat sie sich Deshalb hätten wir mit einer längeren und ruhigeren zum Ziel gesetzt, die Zahl der Verkehrstoten im Straßen- Beratung für mittelständische Betriebe das tun können, verkehr zwischen 2001 und 2010 zu halbieren. Von 2001 was hier in der Kernzeit in Sonntagsreden von anderen bis 2005 ging die Zahl der tödlichen Unfälle im Durch- Ministern immer wieder vorgetragen wird, nämlich un- schnitt um mehr als 17 Prozent zurück. Das ist sicherlich praktikable und bürokratische Regelungen abzuschaffen sehr erfreulich, aber dieser Rückgang ist immer noch zu bzw. auf den Prüfstand zu stellen und den Grenzwert zu gering. Es bleibt für uns alle noch viel zu tun. übernehmen, der nach der europäischen Verordnung möglich ist, nämlich die 100-Kilometer-Grenze. Meine Damen und Herren, Lenk- und Ruhezeiten sind natürlich nicht der alleinige Faktor. Wir lesen im- Ich finde es bemerkenswert, dass ein anderer Staats- mer wieder von großen Unfällen. Es gibt manchmal sekretär aus Ihrem Hause, der geschätzte Kollege auch Fehlverhalten von Menschen: Sei es, dass der Kasparick, wenige Tage bevor die europäische Verord- Druck oder die Vorgabe zu groß ist, oder aus welchem nung beschlossen wurde, in der Fragestunde des Deut- Grunde auch immer. Ich komme darauf aber gleich noch schen Bundestages noch sagt: Wahrscheinlich wird eine einmal zurück. Ausweitung der 50-Kilometer-Regelung in Europa nicht beschlossen. Tatsächlich ist es europarechtlich nun mög- Neben einer ausgefeilten Fahrzeugtechnologie und ei- lich, Fahrten im Umkreis von 100 Kilometern zu erlau- ner guten Straßenverkehrsinfrastruktur ist, wie ich eben ben. Diese sind mit Fahrzeugen zwischen 2,8 und sagte, das Verhalten der Menschen entscheidend. Die 3,5 Tonnen europarechtlich ohnehin möglich. neue Lenk- und Ruhezeitverordnung setzt hier an und wird einen großen Beitrag zu mehr Sicherheit leisten. Wir hätten uns gewünscht, dass der Verkehrsaus- Seit dem 11. April gelten diese neuen Lenk- und Ruhe- schuss ein Signal für Bürokratieabbau gegeben und eine zeiten unmittelbar auch für Deutschland. mittelstandsfreundliche Regelung umgesetzt hätte. Dazu Im Wesentlichen beinhaltet der Gesetzentwurf fol- waren Sie in diesem Verfahren nicht bereit. Ich kann das gende Punkte: Die Verordnungsermächtigung wird er- zwar zum Teil nachvollziehen, glaube aber zugleich, gänzt; der Datenschutz wird im Zusammenhang mit der dass man hier eine Chance hat verstreichen lassen. Des- Einführung des digitalen Kontrollgerätes verbessert; die (B) halb werden wir dieser Gesetzesänderung nicht zustim- einjährige Aufbewahrungsfrist für Tachografenscheiben (D) men, sondern uns enthalten. Wir hoffen, dass wir an an- und Daten über die Lenk- und Ruhezeiten wird neu gere- derer Stelle Gelegenheit erhalten, die Fehler, die im gelt; die Bußgeldbewehrung für Verstöße gegen die jetzigen Gesetzgebungsverfahren entstanden sind, aus- Lenk- und Ruhezeiten in der Beförderungskette wird zubügeln. Ich bin sicher, wir werden damit noch befasst, ausgedehnt – das ist ein sehr wichtiger Punkt –; die Ahn- wenn das Verfassungsgericht entschieden hat. dung von im Ausland begangenen Verstößen wird er- Herzlichen Dank. leichtert. Im Detail bedeutet dies, dass der Verweis auf die alte (Beifall bei der FDP) Verordnung aus dem Fahrpersonalgesetz durch den Ver- weis auf die nun aktuelle Lenk- und Ruhezeitverordnung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ersetzt wird. So wird die Verordnungsermächtigung er- Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege gänzt und die Ahndung von Verstößen gegen die Lenk- Wilhelm Josef Sebastian. und Ruhezeiten erst legitim. Für einen verbesserten Datenschutz werden die von Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU): der Kontrollbehörde abgerufenen Daten gleich nach der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Überprüfung der Fahrerkarten gelöscht. Außerdem wird gen! Die Europäische Union hat die Lenk- und Ruhezei- sichergestellt, dass die Daten nur zu Kontrollzwecken ten in einer Verordnung neu geregelt. Damit hat sie für abgerufen werden dürfen. alle Mitgliedstaaten verbindlich festgelegt, wie lange Die Aufbewahrungsfristen werden neu geregelt, und Fahrer am Steuer sitzen dürfen. Mit dem heute zu be- zwar folgendermaßen: Ein Unternehmer hat die von der schließenden Gesetz werden wir die Dinge so regeln, Fahrerkarte und den Massenspeichern kopierten Daten dass für alle möglichst schnell wieder Rechtssicherheit und die Schaublätter im Regelfall ein Jahr lang aufzube- gegeben ist. wahren, es sei denn, sie sind nach Vorschriften des Ar- beitszeitgesetzes oder der Abgabenordnung länger auf- Durch die neue Verordnung sind eine Reihe von Än- zubewahren. Danach sind die Daten unverzüglich zu derungen notwendig. Das Fahrpersonalgesetz müssen löschen bzw. die Schaublätter unverzüglich zu vernich- wir deswegen ändern, weil es auf einer alten EU-Verord- ten. nung basiert, die am 10. April außer Kraft gesetzt wurde. Darüber hinaus wurden zwei weitere europäische Ver- „Unverzüglich“ ist – das hat sich in den Beratungen ordnungen geändert, auf die es ebenso aufbaut. herausgestellt und ist im Ausschuss fraktionsübergrei- 9920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Wilhelm Josef Sebastian (A) fend als richtig angesehen worden – realitätsfremd. Es Die in den Medien dargestellte Summe der ausfallen- (C) würde bedeuten, dass der Unternehmer ständig den ge- den Bußgelder erscheint mir zu hoch. Auch Staatssekre- nauen Zeitpunkt überwachen müsste, zu dem die Jahres- tär Großmann hat das schon angesprochen. Er hat auch frist abläuft, um dann die Daten zu löschen und die dargelegt, in welchem Zeitabschnitt welche Einnahmen Schaublätter zu vernichten. Dies kann man nicht verlan- zu verbuchen sind. Aber ob die Staatskasse unbedingt gen, weil es viel zu bürokratisch und aufwendig wäre. darunter leidet, wenn es einmal eine straffreie Zeit gibt, Deswegen schlagen wir in unserem Änderungsantrag ist an anderer Stelle zu beurteilen. vor, dass dieser Vorgang bis zu einem gewissen Stichtag Ich will zum Schluss noch auf etwas aufmerksam ma- im Jahr erledigt sein muss. Dies soll der 31. März des chen, das nach meinem Ermessen von uns nicht außer Kalenderjahres sein, das auf das Kalenderjahr folgt, in Acht gelassen werden kann. Wir verlangen verlängerte dem die Aufbewahrungsfrist endet. Ruhezeiten, damit die Sicherheit erhöht wird, aber oft- Nebenbei bemerkt bietet die Umstellung auf das digi- mals haben die Fahrer große Schwierigkeiten, an unse- tale Kontrollgerät auch für das Transportunternehmen ren Autobahnen entsprechende Parkplätze zu finden, viele Vorteile. Zusammen mit entsprechenden Soft- um die Ruhezeiten einzuhalten. warelösungen lassen sich die Lenk- und Ruhezeiten auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) für betriebliche Dinge durchaus sinnvoll nutzen. Bewe- gungsprofile, Geschwindigkeiten und Bremsverhalten Wir als Gesetzgeber können über diese Schwierigkeiten lassen sich auch in anderen Unternehmensbereichen ein- nicht einfach hinwegsehen. Wir sind aufgefordert, Vor- setzen, bis hin zur Lohnbuchhaltung. Nicht zuletzt warnt sorge zu treffen, damit es zu Verbesserungen kommt, so- die Elektronik schon die Disponenten, die eine Fahrt pla- dass die geforderten Ruhezeiten auch eingehalten wer- nen, vor Überschreitung der Lenkzeiten. den können. Zum Schluss will ich ein Zitat aus einer Veröffentli- Ich habe schon eben angesprochen, dass mancher chung in einer Verkehrszeitung aufgreifen. Ich zitiere: Fahrer durch Vorgaben unter Druck gerät, weshalb er die eine oder andere Pause auslässt. Deshalb ist auch gere- Am 11. April haben Unternehmen die Reise in ein gelt, dass die Haftung zukünftig auf die gesamte Kette neues Zeitalter angetreten. Seitdem gelten in der ausgedehnt wird. Fahrer, Verlader, Speditionen, Subun- Europäischen Union neue Lenk- und Ruhezeiten. ternehmer und Fahrervermittlungsagenturen werden für Die Fahrt führt allerdings ins Ungewisse. Verstöße gegen die Lenk- und Ruhezeitenverordnung in Mit der heutigen Beschlussfassung hat das ein Ende. die Pflicht genommen, also nicht nur das letzte Glied in Durch die Zustimmung des Bundesrats in wenigen Wo- der Kette, der Fahrer. (B) chen ist diese Fahrt ins Ungewisse beendet. (D) Zudem können die Kontrollbehörden ab Inkrafttreten Vielen Dank dieses Gesetzes auch alle im Ausland begangenen Ver- stöße ahnden. Bisher konnte das Bundesamt für Güter- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – verkehr nur ermitteln, wenn ihm entsprechende Hin- Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das glaube weise aus dem Ausland zugingen. Die Neuregelung ist ich nicht!) bei dem mittlerweile zum Alltag gehörenden grenzüber- schreitenden Güterkraftverkehr längst überfällig. Je- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: doch kann sie empfindliche Mehrkosten nach sich zie- Es spricht jetzt die Kollegin Dorothée Menzner für hen. Was bei uns 100 Euro kostet, kann woanders ein Die Linke. Vielfaches kosten. (Beifall bei der LINKEN) Bei der Beratung des Gesetzentwurfs haben wir fest- gestellt, dass dieser in einem weiteren wichtigen Punkt Dorothée Menzner (DIE LINKE): ergänzungsbedürftig war. Zusammen mit dem Ministe- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- rium haben wir Abhilfe geschaffen, indem wir eine trag- gen! Liebe Zuhörer! Die neuen Regelungen zum Fahr- bare Übergangsregelung für die vor dem 11. April be- personalgesetz dienen der weiteren Humanisierung des gangenen, aber noch schwebenden Bußgeldverfahren Arbeitsplatzes hinter dem Lenkrad. Nur ausgeruhte und geschaffen haben. Der Kollege Döring sprach eben an, fitte Fahrer sorgen für mehr Sicherheit auf unseren Stra- ob das Gesetz verfassungskonform sei. – Nach meinem ßen. Kenntnisstand ist es übrigens ein Urteil des OLG Stutt- gart gewesen, das bezüglich der Umweltfragen geurteilt Verbesserungen sind zum Beispiel die Erhöhung der Ruhezeiten sowie die Pflicht zu einer Pause von min- hat. – Wir sind davon überzeugt, dass ansonsten eine destens 45 Stunden alle 14 Tage. Jeder wird einsehen, nicht hinnehmbare Besserstellung der Fahrer die Folge dass Verstöße gegen diese Vorschriften mit Bußgeldern gewesen wäre. Wir mussten davon ausgehen, dass nach geahndet werden müssen. Dies betrifft Unternehmen, dem Prinzip der Meistbegünstigung aufgrund der weg- Reiseveranstalter und Disponenten. Doch auch der Fah- fallenden Verordnungen sämtliche nicht rechtskräftig ab- rer ist und bleibt in der Verantwortung, die vorgesehenen geschlossenen Verfahren nicht mehr hätten geahndet Lenk- und Ruhezeiten einzuhalten. werden können. Dies wären alle Verfahren, die vor dem 10. April zwar eingeleitet wurden, aber noch nicht abge- Trotzdem ist Kritik angebracht. Nach dem Gesetzent- schlossen sind. wurf, der jetzt vorliegt, darf die tägliche Lenkzeit zwei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9921

Dorothée Menzner (A) mal in der Woche auf zehn Stunden angehoben werden. zu überschreiten. Der geringe Schutz der Fahrer soll also (C) Die Begründung dafür ist, dass kein Wettbewerbsnach- weiter minimiert werden. Das ist in unseren Augen teil gegenüber ausländischen Fuhrunternehmen entste- Steinzeitliberalismus. Den FDP-Antrag lehnen wir des- hen dürfe. Eine generelle Begrenzung der täglichen wegen allemal ab. Lenkzeit auf acht – als Ausnahme höchstens neun Stun- (Zuruf von der FDP: Überraschend!) den, wie ursprünglich geplant – wäre durchaus sinnvol- ler gewesen. Ich danke. Wie kann es aber sein – das wurde schon angespro- (Beifall bei der LINKEN) chen –, dass eine neue EU-Regelung in Kraft tritt, es aber vom Bundesverkehrsministerium versäumt wird, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: das Bundesrecht rechtzeitig anzupassen, sodass Ver- Es spricht jetzt Toni Hofreiter für Bündnis 90/Die stöße gegen das Fahrpersonalgesetz nicht weiter geahn- Grünen. det werden konnten? Inzwischen werden Lkw-Fahrer vom Vorwurf der Überschreitung der Lenkzeiten freige- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sprochen, weil es an einer gesetzlichen Grundlage fehlt. Ich verweise nur auf das Urteil des Amtsgerichts Itze- Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hoe. NEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Deshalb darf ich hier die Fraktionen der Koalition, Kollegen! Wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir zu- vor allem den verehrten Kollegen Dirk Fischer, dafür lo- geben, dass die wichtigsten Punkte in diesem Bereich ben, dass sie schnell nachgebessert haben. Dies war nö- nicht in dem vorliegenden Gesetz, sondern in der entspre- tig, um diese Verstöße wieder ahnden zu können. chenden EU-Verordnung geregelt werden. Letztendlich (Lachen bei der CDU/CSU und der SPD – Zu- steht das, worauf es ankommt, in der EU-Verordnung. ruf von der FDP: Neue Verbündete!) Was müssen wir letztendlich umsetzen? Wir müssen um- setzen, dass die EU-Verordnung vor Ort durchgesetzt Wir müssen einmal beleuchten, was der Grund dafür wird, das heißt, dass die Polizei kontrollieren kann, Buß- ist, dass auf einmal ein rechtsfreier Raum entstand. Hat gelder verhängen kann usw. das vielleicht etwas damit zu tun, dass wir uns langsam daran gewöhnen, dass Änderungsanträge und Vorlagen Man muss sagen, dass es eigentlich nicht kompliziert den Fachpolitikern häufig erst am Abend vor den Aus- war, diese Verordnung umzusetzen. Komischerweise ist schusssitzungen zugeleitet werden und damit eine es dieser ach so Großen Koalition nicht einmal gelun- (B) gründliche Analyse nicht mehr möglich ist? Diese Art gen, eine relativ einfache EU-Verordnung fristgerecht in (D) und Weise, Abgeordnete zu unterrichten und eine De- nationales Recht umzusetzen. Da fragt man sich natür- batte zu organisieren, hatte durchaus ernste Folgen. Die lich: Was würde diese Große Koalition machen, wenn es weicheren alten Vorschriften des Fahrpersonalgesetzes um komplizierte und komplexe Sachen geht? Man weiß gelten ein halbes Jahr länger. Bescheide sind anfechtbar, es, man befürchtet es: Es würde noch mehr schiefgehen. nur weil im Ministerium geschlafen wurde. Einige Mil- Das ist das eigentlich Tragische an dieser Geschichte, lionen Euro – über die Höhe mag ich mich gar nicht nicht dass Sie wieder einmal einen Monat vertrödelt ha- streiten – an Verlusten von Einnahmen sind dem Fiskus ben. Das kann man ja verstehen; so etwas passiert in Mi- dabei entstanden. nisterien. Das Schlimme ist aber: Sie trödeln sogar bei simpelsten Sachen. Das ist es, was hier anzuprangern ist. Das ist keine solide Regierungsarbeit. Wenn mein Sohn – er geht in die dritte Klasse – Hausaufgaben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlampig anfertigt, dann gibt es einen sogenannten sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- Hausaufgabenstrich und ich als Mutter bekomme eine KEN) Mitteilung. Wir freuen uns darüber, dass die Aufbewahrungsfris- (Zuruf von der FDP: Kriegt er das?) ten jetzt unbürokratischer geregelt worden sind. Wir hat- ten diesbezüglich einen Änderungsantrag eingebracht, Was das Ministerium hier abgeliefert hat, ist schlampig der von den beiden Koalitionsfraktionen dankenswerter- und, um im Bild zu bleiben, einen Hausaufgabenstrich weise flott übernommen wurde. Es ist schön, dass zumin- wert. Ich finde, der Wähler sollte das wissen. dest die Fraktionen noch lernfähig sind; beim Ministe- Es liegt – darauf möchte ich noch kurz eingehen – ein rium haben wir da aufgrund der Erfahrungen aus anderen Änderungsantrag der FDP vor, der Lkw unter 3,5 Tonnen Gesetzgebungsverfahren unsere Zweifel. von der Fahrtschreiberpflicht ausnehmen will. Damit Letztendlich muss man sagen: Die EU-Verordnung ist würden Tür und Tor geöffnet, dass im Güterverkehr bei ein Fortschritt. Es ist gut, dass das Gesetz jetzt umge- kleinen Lastern jegliche Dokumentationspflicht entfällt. setzt wird. Dem Änderungsantrag der FDP können wir Unter dem Deckmantel der Entbürokratisierung wollen wirklich nicht zustimmen, auch wenn wir der FDP im die Liberalen Gesetzesverstöße legalisieren Verkehrsbereich manchmal wohlgesonnen sind – (Zuruf von der SPD: So ist es!) (Zuruf von der SPD: Oh!) und ermöglichen, dass der ohnehin sehr wenig ge- allerdings eher, wenn es um die Bahn geht. Das, was die schützte Fahrer unter Druck gesetzt wird, die Lenkzeiten FDP hier vorlegt, ist die übliche Klientelpolitik. So ken- 9922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Dr. Anton Hofreiter (A) nen wir die FDP; sie ist eine nette Lobbyistenpartei. Wir haben wir uns alle vorgenommen, die Sicherheit zu ver- (C) sind in diesem Fall aber nett und enthalten uns einfach, bessern. Dazu gehört eine entsprechende Begrenzung weil wir euch in anderen Fällen ab und zu mal brauchen. der Lenkzeiten. Ich kann die Sorgen der Unternehmen zwar nachvollziehen. Aber ich sage auch ganz klar: Si- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) cherheit muss oberste Priorität haben. Ich ziehe das Resümee: Dieses Gesetz ist ein Beitrag zu mehr Verkehrssicherheit. Die Hauptarbeit hat aller- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dings die EU geleistet. Immerhin, mit einem guten Mo- der CDU/CSU) nat Verzögerung hat unser Ministerium die Umsetzung Die neuen Regelungen zu Lenk- und Ruhezeiten kön- geschafft. Darüber freuen wir uns einfach. nen von den Reiseunternehmen auch positiv genutzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden. Es gibt einen Anbieter von Studienreisen, der schon vor Inkrafttreten der EU-Verordnungen diese um- gesetzt und nur Verträge mit Unternehmen geschlossen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hat, die diese Lenk- und Ruhezeiten auch einhielten. Si- Als Nächste hat die Kollegin Rita Schwarzelühr- cherheit kann man auch als Gütesiegel begreifen; mit Sutter für die SPD das Wort. ihm kann man auch werben. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Wenn wir den Gesetzentwurf gleich beschließen, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und kann das Änderungsgesetz im Juli in Kraft treten. Ab Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe ge- dann werden dann tatsächlich Verstöße gegen die neuen dacht, jetzt freuen sich einige, dass wir die Bußgeldver- Lenk- und Ruhezeiten geahndet. ordnung endlich auf den Weg bringen und vor allem, Herr Döring, wir haben eine Demokratie. In einer De- dass wir dabei die ganze Kette in die Pflicht nehmen. mokratie gibt es parlamentarische Verfahren. In diesem Wenn ein Auftrag erteilt wird, den die Fahrer nur unter Fall war es nicht das Ministerium, sondern der Bundes- Missachtung der Lenk- und Ruhezeiten erfüllen könn- rat, der Änderungen gewünscht hat. ten, so sind jetzt auch die Spediteure, die Reiseveranstal- ter und die Fahrvermittlungsagenturen haftbar. Das ist (Patrick Döring [FDP]: Darauf nehmt ihr ja doch ein wirklicher Fortschritt. sonst auch keine Rücksicht! – Sören Bartol [SPD]: Das war bestimmt Niedersachsen!) Die Regelarbeitszeit – ich rede jetzt von allen Bran- (B) chen – beträgt heute acht Stunden am Tag. Das war frü- Darüber haben wir diskutiert. Deswegen hat das Verfah- (D) her einmal anders. Zu Zeiten der Industrialisierung wa- ren etwas länger gedauert. Ich denke, das sind wir unse- ren es im Durchschnitt zwölf Stunden und länger. Es rer Demokratie schuldig. hatte handfeste wirtschaftliche Gründe, dass man dies geändert hat: Die Leistungsfähigkeit nimmt ab, wenn Der Gesetzentwurf, über den wir jetzt entscheiden, man zu lange arbeiten muss. Die Menschen können sich findet eine breite Zustimmung; darüber bin ich froh. We- nicht mehr regenerieren. Die Qualität der Arbeit ver- niger Zustimmung findet der Antrag der FDP. Auch bei schlechtert sich. Dies führt zu Sicherheitsrisiken. Mit Handwerkern hat Sicherheit oberste Priorität. Wenn ein den Verordnungen zur Verlängerung der Ruhezeiten und Handwerker mehr als acht Stunden auf einer Baustelle zur Verkürzung der Lenkzeiten wird dies aufgegriffen war und noch drei Stunden hin- und drei Stunden zu- und umgesetzt. rückfahren muss, dann gefährdet auch das die Straßensi- cherheit. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Sicherheitsaspekte sind insbesondere dort von Bedeu- tung, wo Menschen mit Maschinen arbeiten, zum Bei- Danke. spiel im Straßenverkehr, wo durch eine unaufmerksame (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sekunde das Leben Dutzender gefährdet werden kann. der CDU/CSU) Es muss sichergestellt sein, dass das nicht passiert und die Fahrer in der Lage sind, sich zu regenerieren und die geforderte Leistung tatsächlich zu erbringen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der SPD) Sie wissen genau, dass diese Zeiten in dieser Branche, Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- die einem starken Wettbewerb ausgesetzt ist, oftmals desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur nicht eingehalten wurden. Dem wollen wir mit der Än- Änderung des Fahrpersonalgesetzes. Der Ausschuss für derung des entsprechenden Gesetzes begegnen. Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5238, den Ge- Einige Busunternehmen haben gegen die EU-Vorla- setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4691 gen protestiert. Sie sehen sich in ihrer Wirtschaftlichkeit in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- bedroht. Sie sagen – damit haben Sie recht –, dass Bus- gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das fahren bereits heute eine sehr sichere und klimafreundli- Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – che Art, zu reisen, ist. Aber ich erinnere an die schlim- Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den men Busunfälle in den Jahren 2002 und 2003. Damals Stimmen der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grü- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9923

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) nen ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung der Fraktion Es gibt zumindest zwei Punkte, die ich dafür anführen (C) der FDP und der Linken angenommen. möchte. Herr Hoppe, Sie haben heute früh hinsichtlich des Afrikaantrages, wie ich finde, nicht ganz zu Unrecht Dritte Beratung kritisiert, dass die historische Belastung, unter der die und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem jetzigen Regierungen Afrikas zu leiden haben, zu wenig Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- angeführt ist. Diese Frage wird in diesem Antrag über- genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent- haupt nicht thematisiert. Aber im Antrag steht im Kern wurf mit dem gleichen Stimmenergebnis wie vorher an- nicht zu Unrecht, dass korrupte Eliten in demokratische genommen. Prozesse eingebunden werden müssen als Voraussetzung dafür, dass Rohstoffgewinne in nachhaltige Entwicklung Abstimmung über den Entschließungsantrag der umgesetzt werden. Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5281. Wer stimmt Im letzten Absatz ist aufgeführt – auch dem stimme für den Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Ent- ich zu, aber es trifft das Problem nicht –, dass die Verant- haltungen? – Damit ist der Entschließungsantrag bei Zu- wortung nicht nur bei den korrupten Machteliten liegt, stimmung der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der sondern auch bei den Abnehmern. Wie die korrupten Koalition und der Linken und bei Enthaltung des Machteliten entstanden sind, müssen wir der Ehrlichkeit Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. halber aufzeigen. Ich weiß ja, wie man solche Anträge Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf: formuliert und wie die Diskussionen ablaufen. Sie for- dern von unserer Kanzlerin, dieses Thema beim G-8- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Treffen einzubringen. Mindestens vier große Länder bei richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- diesem G-8-Treffen haben historisch viel Schuld bei der sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) Entwicklung Afrikas auf sich genommen. In vielen Be- zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, reichen ist die Schuld mit großen materiellen Interes- Thilo Hoppe, (Bremen), weite- sen an Rohstoffen verbunden gewesen. Der Prozess hat rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegen- NISSES 90/DIE GRÜNEN wart. Das macht mich etwas nachdenklich. Rohstoffeinnahmen für nachhaltige Entwick- Der zweite Punkt. Sie führen die Demokratische Re- lung nutzen publik Kongo und Angola an. Zur Demokratischen Re- publik Kongo kann ich wenig sagen, außer dass ich als – Drucksachen 16/4054, 16/5273 – junger Mensch erlebt habe, dass der erste Versuch, nach der Überwindung der Kolonialherrschaft demokratische (B) Berichterstattung: (D) Abgeordnete Dr. Christian Ruck Wahlen durchzuführen, damit geendet hat, dass Patrice Gabriele Groneberg Lumumba von gekauften Söldnern europäischer Unter- Dr. Karl Addicks nehmen umgebracht wurde. Der zweite Anlauf, demo- Heike Hänsel kratische Wahlen durchzuführen, liegt nur wenige Wo- Ute Koczy chen zurück. Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie- Über Angola kann ich ein bisschen mehr sagen. Ich ren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so will Ihnen gerade in Bezug auf die Rohstofffrage schil- beschlossen. dern, welche Erfahrungen ich gemacht habe und wo ich mich auch korrigiert habe. Ich bin mit einem ähnlichen Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Bild, wie es im Antrag formuliert ist, nach Angola ge- Kollegen Walter Riester für die SPD-Fraktion. fahren, also vor dem Hintergrund der Informationen, die ich hier aus der Presse hatte, und eines mich sehr beein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten druckenden Films mit dem Titel „Reiches Land, armes der CDU/CSU) Volk – Angola und das Öl“, den ich auf Arte gesehen habe und in dem genau diese Rohstofffrage angespro- Walter Riester (SPD): chen wurde. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kamen in ein Land, das durch 32 Jahre Bürger- Ich glaube, es gibt in diesem Parlament kaum ein Mit- krieg zerstört ist. Die ganze Infrastruktur ist kaputt. glied, das dem Antrag von der Überschrift her gesehen Wir hatten dort ein Gespräch mit dem Außenminister. Er nicht sofort zustimmen würde. Viele Inhalte haben wir sagte uns: Wir haben versucht, über eine Geberkonfe- – Gott sei Dank! – in dieser Legislaturperiode schon be- renz Europa zu bewegen, uns zu helfen, die Infrastruktur schlossen, und viele sind bereits umgesetzt. aufzubauen, weil ohne die Entwicklung der Infrastruktur Armutsminderung überhaupt nicht möglich ist. Unsere Es gibt in dem Antrag ein paar Positionen, denen ich Bitte war umsonst. Wir haben uns jetzt auf Abkommen persönlich besonders zustimme. Das ist zum Beispiel die mit der chinesischen Regierung eingelassen, die uns in auch an mich herangetragene Kritik hinsichtlich der vielen Punkten nicht gefallen. Die einzige Möglichkeit Koordinierungsstelle für die Umsetzung der OECD- für uns war, die kaputte Infrastruktur wieder aufzubauen. Leitlinien; das muss ein Thema sein. Nun mögen Sie fra- gen: Warum kann man dem Ganzen dann nicht zustim- Der nahezu einzige Rohstoff, den sie dafür einsetzen men? können, ist Erdöl. Das hat mich dazu gebracht, über 9924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Walter Riester (A) meine Meinung, die ich mir hier vorschnell gebildet ten; davon bin ich fest überzeugt. Hier müssen wir, so (C) habe, bevor ich die Bedingungen vor Ort kannte, nach- denke ich, ansetzen. zudenken. Wir sollten nicht nur einen moralischen Appell aus- Ich habe eine zweite Erfahrung gemacht. Jetzt gehe sprechen – auch wenn das richtig ist –: Ihr Industriena- ich über den Antrag hinaus. Was heißt Nachhaltigkeit? tionen, die ihr nicht zuletzt für die Entwicklung Afrikas In den Gesprächen, die wir in Angola geführt haben, ist eine große historische Schuld auf euch geladen habt uns geschildert worden, dass das Land nie die Chance – das wird in dem Antrag gar nicht gesagt –, solltet euch hatte – das ist gut nachvollziehbar –, die in den Rohstof- fragen, was ihr einbringen könnt, um die Entwicklung fen liegenden Werte über Veredelungsprozesse in Wert- nachhaltig positiv zu gestalten! Mir ist der Appell zu we- schöpfung umzusetzen. Sie haben immer den Rohstoff nig, wenn der Kauf von Rohstoffen oder sogar die Gabe verkauft. Die Wertschöpfung liegt aber, wie wir alle wis- von Entwicklungshilfe von dem Aufbau demokratischer sen, nicht im Rohstoff, der im Boden liegt, sondern in oder demokratieähnlicher Strukturen abhängig gemacht der Weiterverarbeitung. werden soll. Ich bin sehr dafür, dass wir eine Entwick- lung in Richtung Demokratie anstreben, ich bin aber da- Wenn ich unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit gegen, dass wir holzschnittartig vorgehen. Aus diesem einen progressiven Ansatz wählen müsste, würde ich sa- Grunde kann ich nicht empfehlen, diesen Antrag anzu- gen: Versuchen wir, wirtschaftliche Unterstützung so zu nehmen. gestalten, dass nachhaltige Wirtschaftsprozesse aufge- baut werden können, dass der Reichtum des Landes zu- Herzlichen Dank. mindest über einige Etappen des Wertschöpfungsprozes- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ses im Land bleibt. Die Kollegen, die an dieser Reise teilgenommen ha- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ben – ich sehe den Herrn Fischer –, und ich hatten die Jetzt spricht für die FDP-Fraktion der Kollege Möglichkeit, ein Gespräch mit einer Delegation des Vor- Hellmut Königshaus. standes der Commerzbank zu führen, die gleichzeitig in Angola war. Das war eine sehr beeindruckende Erfah- Hellmut Königshaus (FDP): rung. Diese Delegation verhandelte mit der Regierung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! über einen ungebundenen 1-Milliarde-Euro-Kredit der Es ist, so glaube ich, ein deutliches Signal, dass wir in Commerzbank, der also nicht über Hermesbürgschaften abgesichert ist. Auf unsere Frage, wie er wirtschaftlich diesen Bereichen weitgehend übereinstimmende Analy- sen und wahrscheinlich auch weitestgehend gemeinsame abgesichert sei, sagten uns die Herren: Über 20 Jahre Forderungen haben. Vorhin war die Rede davon – ich (B) Erdgaslieferungen aus Angola. (D) glaube, Frau Pothmer hat das gesagt –, dass man endlich Meine Position dazu: Ich bin dafür, dass sich einmal einem Antrag der anderen Seite zustimmen will. Deutschland engagiert. Ich bin dafür, diesen Aufbaupro- Dieser Antrag kommt dem ganz nahe – auch wenn wir zess in Angola zu unterstützen. Wir haben dann aber die ihm nicht ganz folgen können. Frage diskutiert: Wie können wir uns mit anderen, nach- Wir wissen alle um die Probleme, die der Hunger haltigeren Projekten in diesen Prozess einbringen, mit nach Energie, insbesondere nach den entsprechenden Projekten, die über das hinausgehen, was von China kri- Rohstoffen, mit sich bringt, und wir kennen die damit tisiert wird? Ein nachhaltiger Ansatz wäre in diesem Zu- verbundenen Ausbeutungstendenzen. Wir wissen aber sammenhang die Unterstützung der industriellen Ent- auch, dass letzten Endes nicht die Nachfrage allein das wicklung und die Förderung der Qualifikation der Problem ist, sondern das, was mit den Gewinnen aus Menschen. Diese Punkte fehlen mir in Ihrem Antrag. dem Verkauf dieser Rohstoffe passiert. Die nachhaltige (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Entwicklung im Land selbst, für die wir uns einsetzen, Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und der Aufbau entsprechender Strukturen werden mit Die stehen da aber drin!) diesen Gewinnen häufig nicht gefördert. Die Einnah- men aus dem Verkauf von Rohstoffen sind für den – Das steht nicht drin. Ich habe den Antrag sehr genau afrikanischen Kontinent – Sie haben das angesprochen – gelesen, Frau Koczy. Er enthält viele Punkte, die ich so- oftmals eher Fluch als Segen, sie führen zu Zerstörung, fort unterstreichen würde. Das, was ich Ihnen gerade ge- weil sie zur Finanzierung kriegerischer Auseinanderset- sagt habe, ist ja auch nicht Teil der alltäglichen Diskus- zungen verwendet werden, die in diesem Umfang sonst sion über diese Fragen. Ich möchte aber dazu ermuntern, nicht möglich wären. dass wir uns mit diesen Fragen ein bisschen eingehender beschäftigen, dass wir die Diskussion nicht nur unter Sie von den Grünen nennen in Ihrem Antrag als Bei- dem Motto „korrupte Machteliten verkaufen an gierige spiel Nigeria. Zu Recht: Nirgendwo sonst gibt es so Entnahmeländer“ führen. viele Ölfelder, nirgendwo sonst wird die Entwicklung der Förderung in Zukunft so stürmisch sein. Nigeria ist Welche Chance zur Entwicklung hat Angola im Mo- also im Grunde genommen von der Natur verwöhnt, die- ment, abgesehen von dem Weg, den es jetzt wählen ses Land könnte sich selbst entwickeln. Wir sehen aber, muss, weil Europa den anderen Weg nicht mitgegangen dass dieses bedauerlicherweise nicht passiert. Die politi- ist? Welche nachhaltigen Angebote, so frage ich mich, sche Elite ruiniert das Land, sie versteht es nicht, diesen können wir tatsächlich bieten? Wir können welche bie- natürlichen Reichtum zu nutzen. Sie verscherbelt die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9925

Hellmut Königshaus (A) Ressourcen, und das erlangte Geld wird der Versicke- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) rung überlassen. Herr Kollege, möglicherweise geht es jetzt auch bei Ihnen zu weit. Das Beispiel Angola, das Sie angesprochen haben, zeigt den gleichen unseligen Mechanismus. Auch wenn dort andere Verantwortlichkeiten mit hineinkommen, Hellmut Königshaus (FDP): muss man natürlich darüber reden, dass diese Länder, Ich bin sofort fertig. – Heute Morgen haben wir be- statt ihre Rohstoffe nur zu exportieren, Wertschöpfung klagt, dass beispielsweise Länder wie China im eigenen vor Ort aufbauen sollten. Dafür haben wir eine Verant- Interesse Projekte entwickeln. Dann dürfen wir sie ihnen wortung. eben nicht vor ihren Rachen werfen, sondern dann müs- sen wir natürlich eine entsprechende Finanzierung er- Wofür ich nicht bin, ist, dass wir Entwicklungshilfe möglichen. oder Entwicklungszusammenarbeit koppeln mit einer historischen Verantwortung für die Ausbeutung des Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kontinents, die im Übrigen mehr durch andere und we- niger durch Deutschland stattgefunden hat. Unsere Ent- Herr Kollege! wicklungszusammenarbeit muss nach vorne gerichtet sein, sie muss sich am Bedarf orientieren und nicht an Hellmut Königshaus (FDP): historischer oder politischer Verantwortlichkeit. Deshalb können wir diesem Antrag nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten. (Beifall bei der FDP) Danke schön. Afrika ist also noch immer auf unsere Unterstützung angewiesen – andere Länder der Dritten Welt sind es (Beifall bei der FDP) auch –, und zwar deshalb, weil die Bodenschätze ver- kauft werden, die Einnahmen aber durch die gierigen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Eliten veruntreut werden. Nigeria, Angola, Sudan sind Jetzt hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/ nur einige Beispiele, dass trotz hoher Exporteinnahmen CSU-Fraktion das Wort. keine nennenswerten Entwicklungserfolge vorgewiesen werden können. Korruption – das zeigt sich auch hier – (Beifall bei der CDU/CSU) ist ein zentrales Problem; nur so kann dieses Versicke- rungssyndrom ermöglicht werden. Deshalb dürfen wir Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Good Governance nicht bloß propagieren, sondern müs- Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Das sen sie zur Voraussetzung der Entwicklungszusammen- (B) Erfreuliche an dem Politikfeld, das wir hier gemeinsam (D) arbeit machen. Wir sind schließlich den Steuerzahlern beackern, ist, dass es jenseits aller Wurzeln und Details gegenüber verantwortlich für das, was wir für Entwick- im Kern einen Konsens darüber gibt, was wir wollen. lungszusammenarbeit ausgeben. Deshalb müssen wir si- cherstellen, dass Good Governance die Grundlage der Hier geht es um die entwicklungsorientierte Verwen- Zusammenarbeit ist. Andernfalls nehmen wir billigend dung der Einnahmen der Entwicklungsländer aus den in Kauf, dass die Mittel versickern, anstatt dass sie dafür Rohstoffquellen. Das ist ein zentrales Anliegen zur För- verwendet werden, wofür sie gebraucht werden. derung der Stabilität in diesen Ländern. Weil es diesen Konsens gibt, erlaube ich mir an dieser Stelle, dieses (Beifall bei der FDP) Thema auch einmal aus einer anderen Perspektive zu be- leuchten, nämlich aus der Perspektive der nationalen Die Grünen haben – für uns in diesem Zusammen- deutschen Interessen. hang überraschend – eine unseren eigenen Einschätzun- gen weitgehend entsprechende Analyse vorgenommen; Ich glaube, dass es auch den Entwicklungspolitikern die unsrige haben wir in zahlreichen Anträgen, wenn- gut ansteht, diese nationalen Interessen ab und zu in den gleich breiter gefächert, formuliert. Sie stellen völlig zu Vordergrund zu stellen; denn es geht natürlich auch um Recht fest, dass die Ölexporte der Entwicklungsländer die Akzeptanz der Entwicklungshilfe bei unseren nicht zu mehr Demokratie und Transparenz geführt ha- Wählerinnen und Wählern in der Bundesrepublik ben, dass Korruption und fehlende staatliche Strukturen Deutschland. Ich glaube auch, dass es uns deshalb gut entscheidende Merkmale dieser erdölexportierenden ansteht, das zu tun, weil diese Interessen gar nicht ge- Länder sind. Die daraus hergeleiteten Forderungen grei- genläufig sein müssen. Ein Interesse unserer Seite an fen unsere Positionen auf. Deshalb würden wir gerne zu- Good Governance in den Entwicklungsländern ent- stimmen. Doch wir können Ihnen nicht zustimmen, weil spricht natürlich auch dem Interesse der Bevölkerung in manchen Bereichen wieder das Kind mit dem Bade vor Ort. Insofern wird es auch hier aus meiner Sicht kei- ausgeschüttet wird. nen Dissens, sondern einen Konsens geben. Weil mir die Zeit wegläuft – Frau Präsidentin, ich Wenn ich mir die Situation in Deutschland anschaue, habe es gesehen, und ich beeile mich auch, zum Ende zu dann stelle ich fest, dass wir hinsichtlich der Rohstoffe kommen –, möchte ich hier als Beispiel einfach nur an- ein hohes Maß an Importabhängigkeit haben und dass führen, dass Sie auch fordern, dass die Weltbank und die deshalb die Themen Entwicklung und Außenpolitik im Entwicklungsbanken überhaupt keine Kredite mehr für Zusammenhang mit Rohstoffen und Energie jetzt plötz- die Erdöl- und Erdgasprojekte vergeben. Das geht zu lich einen neuen und, wie ich meine, auch besonders weit. positiven und wichtigen Stellenwert bekommen. Ich 9926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Dr. Georg Nüßlein (A) meine auch, dass wir mit unserem Verhalten und beim positiv, dass mit dem G-8-Gipfel in Heiligendamm ein (C) Umgang mit den Ressourcen ein Vorbild sein müssen. entsprechender Dialog in Gang kommt und dass Roh- Wir müssen zeigen, dass wir auf der einen Seite Wohl- stoffe und Good Governance zentrale Themen dieses stand schaffen und vergrößern und auf der anderen Seite Gipfels sein werden. im Interesse der Umwelt und des Klimas Ressourcen Im Zusammenhang mit der Transparenz möchte ich schonen können. noch einen Randaspekt ansprechen, nämlich die Zertifi- Nur dann, wenn es uns gelingt, zu zeigen, dass Ökolo- zierungssysteme. Ich bin der festen Überzeugung, dass gie und Ökonomie miteinander vereinbar sind, haben wir die Entwicklung im Bereich der Biomasse bei uns wir auch eine Chance, dass uns die Entwicklungs- und nur dann verteidigen und ausbauen können, wenn es uns die Schwellenländer bei diesem Prozess unterstützen gelingt, die Rohstoffe, die aus dem Ausland kommen und dass sie mitmachen und mit in dieses Boot kommen, bzw. kommen müssen, zu zertifizieren und zu belegen, in das sie unbedingt müssen, wenn wir zum Beispiel im dass sie aus nachhaltigem Anbau kommen und nicht bei- Interesse des Klimaschutzes wirklich etwas bewegen spielsweise zulasten der Regenwälder angebaut werden. wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Lassen Sie mich noch einen letzten Aspekt anspre- Nun sehe ich auch die Probleme, die wir haben: Roh- chen. Nicht alle Entwicklungsländer verfügen über Roh- stoffverknappung wegen neuer Wettbewerber – Indien stoffvorkommen. Deshalb sollte man auch deren Situa- und China – und ein Großteil der Ressourcen in politisch tion beleuchten. Wie Sie alle wissen, stellen steigende instabilen Ländern sowie der Versuch, dies machtpoli- Rohstoffpreise ein entscheidendes Problem für die Ent- tisch zu missbrauchen. Deshalb müssen wir hier in unse- wicklungsländer dar. Sie haben gravierende Folgen für rem Land folgenden Weg gehen: Diversifizierung der deren Devisenausgaben. Kenia zum Beispiel hatte durch Rohstoffquellen und Rohstoffarten, Sicherung der Roh- den Anstieg des Ölpreises von 2002 bis 2006 zusätzliche stoffversorgung durch den Einsatz erneuerbarer Ener- Devisenausgaben in Höhe von 800 Millionen US-Dollar gien und Sicherung der Ressourcenversorgung durch zu verzeichnen. Das ist sehr viel Geld. Wir laufen Pflege der Beziehungen zu Anbieter und Konkurrenten Gefahr, wieder in die Verschuldungsproblematik der sowie durch Unterstützung stabiler Verhältnisse auf der 70er-Jahre zurückzufallen. Das darf nicht passieren. Ich Anbieterseite. Allerdings darf sich das eigene Interesse meine, das ist ein entscheidender Punkt, den man be- nicht darauf richten, wer am schnellsten und billigsten rücksichtigen sollte. an Ressourcen aus Entwicklungsländern kommt. Horst Deshalb sollte Deutschland Energieversorgung nicht Köhler hat in diesem Zusammenhang gesagt, es wäre als Einbahnstraße betrachten, um sich mit Rohstoffen zu eine Tragödie für die Menschheit, wenn nach der Skla- (B) versorgen; vielmehr sollten wir auch die Chance sehen, (D) verei, dem Kolonialismus und dem Kalten Krieg jetzt durch deutsche Technologie Impulse zu geben, damit ein neuer Megatrend – nämlich die Nachfrage nach Roh- auch in den Ländern, die nicht über Rohstoffvorkommen stoffen und Öl – afrikanische Bemühungen um Demo- verfügen, energieeffizient gewirtschaftet wird und die kratie, gute Regierungsführung und Armutsbekämpfung erneuerbaren Energien eine größere Rolle spielen. Das unterlaufen würde. ist, glaube ich, entwicklungspolitisch von entscheiden- Ob diese Tragödie letztendlich eintritt, hängt in wei- der Bedeutung. ten Teilen nicht nur von den afrikanischen Ländern ab, sondern auch davon, wie wir uns verhalten und ob wir es Den Antrag, den wir heute beraten, finde ich zwar in- schaffen, in diesem Bereich für Transparenz zu sorgen haltlich gut, aber er ist insofern überflüssig, als dieses und verschiedene Fragen zu beantworten. Subsahara- Thema bereits Bestandteil des Regierungshandelns der Afrika zum Beispiel hat im Jahr 2006 Erdöleinnahmen Großen Koalition ist. in Höhe von 64 Milliarden US-Dollar erzielt. In diesem (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zusammenhang stellt sich die Frage, wo dieses Geld ge- Das glaube ich nicht!) blieben ist. Das meine ich mit Transparenz. Das muss auf beiden Seiten beobachtet werden. Dazu sind Kon- – Das glauben Sie nicht? Ich behaupte es einfach. Sie ha- trollmechanismen und ein Verhaltenskodex notwendig. ben anschließend die Chance, das zu widerlegen. Es ist sicherlich positiv, dass Deutschland als Mitinitia- Außerdem gibt es von den Koalitionsfraktionen einen tor an vorderster Front steht. Ich denke zum Beispiel an weitergehenden Antrag, der sich zwar in der Überschrift den Kimberleyprozess zur Zertifizierung von Rohdia- sehr stark auf das Thema Energie bezieht, der aber das manten, den „Forest Law Enforcement and Governance ganze Rohstoffthema beinhaltet. Deshalb brauchen wir Process“ zum Schutz des Waldes und die „Extractives Ihren Antrag nicht. Aber wir nehmen zur Kenntnis, dass Industries Transparency Initiative“ im Zusammenhang Sie unserer Meinung sind. mit Öl, Gas und Bergbau. Mit all diesen Maßnahmen ha- ben wir einen Weg eingeschlagen, der in die richtige Vielen herzlichen Dank. Richtung führt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Doch auch wenn wir durchaus auf dem richtigen Weg sind, kommt es entscheidend darauf an, dass sich insbe- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sondere die Schwellenländer China, Brasilien, Indien Heike Hänsel hat jetzt das Wort für Die Linke. und beispielsweise auch Russland endlich beteiligen und vermehrt als Investoren auftreten. Insofern ist es (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9927

(A) Heike Hänsel (DIE LINKE): Klartext: Ein militärischer Einsatz zur Sicherung der (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Rohstoffversorgung wird nicht ausgeschlossen. Ähnli- Gäste! Wir sehen, dass Ihr Antrag, liebe Kolleginnen che Sätze finden wir auch im neuen Weißbuch der Bun- und Kollegen der Grünen, einige gute Forderungen ent- deswehr. Wir lehnen diese Politik ab. hält. Allerdings halten wir sie für nicht ausreichend. Wir (Beifall bei der LINKEN) sprechen heute über die entwicklungspolitische Verwen- dung von Rohstoffeinnahmen. Sie beziehen sich in Ih- Wenn wir über Rohstoffe reden, dann dürfen wir nicht rem Antrag unter anderem auf die Initiative EITI, eine nur über Bedingungen von Erschließung, Handel und Initiative zur Verbesserung der Transparenz in der Verbrauch reden, sondern müssen auch über Macht- Rohstoffindustrie. Diese will die Bundesregierung beim und Besitzstrukturen im globalen Energie- und Roh- G-8-Gipfel in Heiligendamm voranbringen. Es geht vor stoffsystem sprechen. Die Gewinne landen meistens allem darum, Schwellenländer wie China in diese Initia- noch immer bei den multinationalen Konzernen. Wir tive einzubinden. Der chinesischen Regierung wird fast wollen ganz andere Ansätze, die dazu führen, dass die täglich vorgeworfen, unlauteren Wettbewerb beim Rohstoffeinnahmen in den betreffenden Ländern ver- Kampf um Rohstoffe zu betreiben. Die deutsche Wirt- bleiben und für eine nachhaltige Entwicklung eingesetzt schaft erhofft sich von dieser Transparenzinitiative einen werden. Solche Ansätze gibt es in Lateinamerika, zum Vorteil für die eigenen Unternehmen. Deshalb muss ich Beispiel in Bolivien oder Venezuela. Bolivien hat durch die grundsätzliche Frage stellen: Was steht bei dieser die Verstaatlichung der Erdgas- und Erdölvorräte im Transparenzinitiative eigentlich im Vordergrund? Geht letzten Jahr seine Einnahmen verdoppelt und verwendet es um Entwicklung und Armutsbekämpfung, oder geht diese Gelder nun für soziale Programme. Das ist für es unter anderem darum, unbequeme Wettbewerber zu mich eine entwicklungspolitisch sinnvolle Verwendung. bremsen? Wenn es um ernsthafte Armutsbekämpfung geht, dann reicht diese Transparenzinitiative überhaupt (Beifall bei der LINKEN) nicht aus. Ecuador hat vorgeschlagen, Rohstoffe wie Erdöl erst (Beifall bei der LINKEN) gar nicht zu fördern und dafür Kompensationszahlungen zu bekommen. Das wären aus meiner Sicht Ansätze, die Sie ist eine rein freiwillige Initiative ohne Sanktions- man auch bei den Vereinten Nationen ins Auge fassen möglichkeiten. Sie sagt auch nichts über die Verwen- könnte, zum Beispiel Kompensationszahlungen für nicht dung der Rohstoffeinnahmen, geschweige denn über die gefördertes Erdöl vorzunehmen. Das sind langfristige, Verteilung der Gewinne aus. Das Mindeste wäre – das richtig gute Ansätze, die wir fördern müssen, anstatt uns fordern wir –, eine international bindende Konvention ausschließlich auf freiwillige Initiativen zu begrenzen. (B) daraus zu machen. (D) Abschließend noch einmal: Der Antrag der Grünen ist (Beifall bei der LINKEN) gut gemeint, aber die herrschenden Machtstrukturen Davon hält aber unter anderem der BDI, der Bundes- werden überhaupt nicht infrage gestellt. Im Gegenteil: verband der Deutschen Industrie, nicht viel, der nach wie Sie wenden sich sogar noch an die G 8 und fordern, dass vor auf die Freiwilligkeit dieser Initiative pocht. Er hat ausgerechnet die G-8-Staaten, die größten Klimakiller vor ein paar Wochen seinen zweiten Rohstoffkongress und rohstoffhungrigsten Länder, einen Aktionsplan zum mit hohem Besuch durchgeführt. Kanzlerin Angela Umgang der Entwicklungsländer Merkel hat dort eine „enge und koordinierte Zusammen- arbeit bei der deutschen Rohstoffsicherung“ zugesagt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und gleich die Einrichtung eines vom BDI gewünschten Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom- interministeriellen Ausschusses für Rohstoffpolitik an- men. gekündigt, an dem auch das BMZ beteiligt sein wird. Der BDI formuliert seine Ansprüche an die deutsche Entwicklungspolitik so: Heike Hänsel (DIE LINKE): mit ihren Rohstoffeinnahmen entwickeln sollen. Das Die Entwicklungspolitik bietet viel mehr Möglich- lehnen wir absolut ab. keiten, zur Sicherheit unserer Rohstoffversorgung beizutragen, als gemeinhin angenommen wird, sie Ich kann nur sagen: Wir unterstützen soziale Bewe- kann in Entwicklungsländern hinwirken auf Rechts- gungen, die gegen diese Ausbeutung der Rohstoffländer sicherheit, Investitionsschutz, Abbau von Exportbe- kämpfen. Diese kommen nämlich nach Heiligendamm schränkungen oder Unterbindung des illegalen Ex- zum G-8-Gipfel. Dort können sie viel lernen. Wir wer- ports von Rohstoffen … den auch dort sein. Und jetzt zur Verwendung und Verarbeitung der Roh- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Christian Ruck stoffe in den betreffenden Ländern. Sämtliche Freihan- [CDU/CSU]: Sie lernen nichts mehr!) delsabkommen der EU enthalten mittlerweile die Forde- rung nach Abbau von Exportbeschränkungen, Herr Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Riester. Das verhindert die inländische Verarbeitung der Jetzt hat die Kollegin Ute Koczy für die Fraktion Rohstoffe. Der BDI schließt zudem nicht aus, dass die Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Sicherheit der Rohstoffversorgungswege im Extremfall auch die Sicherheitspolitik betreffen kann. Das heißt im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 9928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der aus meiner Sicht wichtigste Punkt betrifft die (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Konfliktrohstoffe. Die Konfliktrohstoffe sind auch des- Liebe Gäste! Ich bin Herrn Riester sehr dankbar, dass er wegen ein Anliegen der Nichtregierungsorganisationen, diesen nachdenklichen Ton in die Debatte eingebracht weil wir, in die Zukunft gerichtet, feststellen müssen, hat, weil dadurch die Debatte eine ganz andere Richtung dass wir durch die Verknappung der Rohstoffe vor der genommen hat als das, was wir das letzte Mal, als wir Situation stehen, durch die Förderung von weiteren Roh- über diesen Rohstoffantrag zusammen mit dem Antrag stoffen Konflikte zu schaffen. der Koalition diskutiert haben, besprochen haben. Ich möchte einmal kurz zitieren, was die Große Ko- Sie haben ein Thema angesprochen – historische alition in ihrem Antrag geschrieben hat. Ich meine, Sie Schuld und Gegenwart – und haben gesagt, der grüne An- müssten über die Konfliktrohstoffe intensiver diskutie- trag sei holzschnittartig. Ich möchte darauf reagieren und ren. Sie wollen zwei Regionen in das engere Blickfeld sagen, dass wir uns aus ganz bestimmten Gründen auf be- nehmen, die Länder Zentralasiens und die Staaten Nord- stimmte Punkte konzentrieren wollten, weil wir der Mei- afrikas und der Subsahara. Sie schreiben: nung sind, dass wir in die Zukunft blicken müssen, dass Deutschland hat ein vitales Interesse daran, die sich Entwicklungen abzeichnen, die wir jetzt mit be- wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung stimmten Rahmensetzungen, mit dem Einrammen von dieser rohstofffördernden Staaten und Regionen all- Pflöcken begrenzen müssen, und dass wir darauf reagie- gemein zu unterstützen und damit letztlich die ei- ren müssen. gene Energieversorgung und -preisentwicklung zu stabilisieren. Das, was Sie, Herr Riester, gefordert haben, ist offen- kundig nicht konsensfähig. Ein Teil davon ist im Koali- Wir wissen, dazu gehört das Land Turkmenistan. tionsantrag enthalten, aber eben nicht alles. Deshalb Welche Bank verwaltet die Gelder von Turkmenistan? müssten Sie Ihren Antrag einer Nacharbeit unterziehen. Es ist die Deutsche Bank. Damit schließt sich der Kreis, und damit kommen wir zu dem, was wir in unseren An- Ich möchte das an einem Punkt festmachen. Sie haben trag geschrieben haben. gesagt, wir hätten das Thema Bildung nicht angespro- chen. Wir haben es ganz kurz erwähnt, nämlich mit dem (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Was sagt uns Satz: das, Frau Kollegin?) Aufgrund von Windfall Profits durch die hohen Es geht darum, zu verhindern, dass solche Gelder bei Rohstoffpreise auf den Weltmärkten existieren der Deutschen Bank, bei unseren Investitionsinstitutio- überdies kaum Anreize für Investitionen in Bildung nen angelegt werden und damit unmöglich gemacht (B) (D) und Forschung. wird, dass Gerechtigkeit in diesem Land Einzug hält. Wir wissen, wie der Diktator dort geherrscht hat. Deswe- Das haben wir sehr wohl deswegen hineingeschrieben, gen ist es so wichtig, dass die Gelder, die aus den Ver- weil es so ist und weil dieser Punkt angesprochen wer- käufen von Rohstoffen, die dem Volk geraubt werden, den muss. stammen, auf internationaler Ebene geächtet werden und darauf hingewirkt wird, dass so etwas nicht mehr ge- Wir haben vier konkrete Forderungen, die uns wichtig schieht. sind und die wir in den 13 Punkten unseres Antrages ausführlich erläutert haben. Was sind das für vier Unser Antrag ist in die Zukunft gerichtet. Deswegen Punkte? Es geht einmal um die OECD-Leitlinien, die haben wir nicht die ganze Vergangenheit aufgearbeitet. hier niemand kennt, die aber sehr wichtig sind. Sie wür- Wir haben uns nicht so sehr auf die Gegenwart bezogen, den das ja unterstützen. Ich würde mich freuen, wenn sondern wir haben deutlich gemacht, was wir tun müs- das das nächste Mal in Ihrem Antrag stehen würde. sen. Wir müssen jetzt handeln. Dafür ist der Antrag das geeignete Mittel. Sie können eigentlich nur zustimmen. Wir haben gefordert: keine Kredite der Weltbank oder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Entwicklungsbanken an Erdöl-, Gas- und – wenn man so will; wenn man dem Salim-Bericht folgt – an Ex- tractive-Industries-Projekte. Diese Forderung wurde Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schon im Salim-Report aufgestellt; darüber wurde auch Ich schließe die Aussprache. im Bundestag öffentlich diskutiert. Was erleben wir? Die Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Weltbank erhöhte 2005, 2006 massiv die Investitionen in schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- diese Bereiche. Das ist nicht nachhaltig. Das wollten wir wicklung zu dem Antrag der Fraktion des Bündnis- in unserem Antrag klipp und klar festhalten. ses 90/Die Grünen mit dem Titel „Rohstoffeinnahmen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für nachhaltige Entwicklung nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Der nächste Punkt. Wir haben in unserem Antrag ge- sache 16/5273, den Antrag der Fraktion des Bündnis- fordert: Wir wollen mehr Transparenz hinsichtlich der ses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4054 abzulehnen. Bürgschaftsentscheidungen der Bundesregierung. Auch Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- darüber müssen wir hier diskutieren. Das wird im Bun- stimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschluss- destag normalerweise nicht eingefordert. Deswegen ist empfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die es in dem Antrag ebenfalls enthalten. Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9929

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke ange- struktive bilaterale Zusammenarbeit, auch und gerade in (C) nommen. Fragen der Menschenrechte. Wir wollen diese Diskus- sion rational führen. Es geht uns nicht um eine pauschale Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf: Verurteilung, und wir tun dies auch nicht mit dem erho- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- benen Zeigefinger. Es geht um ganz konkrete Miss- richts des Ausschusses für Menschenrechte und stände, die wir in unserem Antrag benennen und die zum Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) Wohl der Menschen einer Veränderung bedürfen. – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, Lassen Sie mich Folgendes an dieser Stelle mit der ge- der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ botenen Nüchternheit sagen: Die Auseinandersetzung mit DIE GRÜNEN gravierendsten Menschenrechtsverletzungen, wo auch immer auf dieser Welt sie geschehen, ist eine Notwendig- Für die Verurteilung des Systems der La- keit in allen nationalen Parlamenten. Sie ist eine Erfüllung ogai-Lager in China völkerrechtlicher Verpflichtungen, und sie ist – darüber – zu dem Antrag der Abgeordneten Florian sind wir schon lange hinweg – keine Einmischung in die Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner inneren Angelegenheiten eines Landes, sondern eine Er- Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion füllung international geltender Normen. der FDP (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Für die Verurteilung des Systems der La- FDP) ogai-Lager in China Das Europäische Parlament hat vor zwei Wochen in – Drucksachen 16/4559, 16/855, 16/5146 – Straßburg den Jahresbericht 2006 zur Menschenrechts- lage in der Welt und zur Menschenrechtspolitik in der Berichterstattung: Europäischen Union verabschiedet. Darin heißt es – dem Abgeordnete Holger Haibach stimme ich uneingeschränkt zu –, dass der Menschen- Christoph Strässer rechtsdialog auf dieser Ebene mit der Volksrepublik Florian Toncar China fortgesetzt werden muss; Themen wie „Zwangsar- Michael Leutert beit, Meinungs- und Religionsfreiheit, die Rechte religi- Volker Beck (Köln) öser und ethnischer Minderheiten und das Lagersystem Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. – Laogai sollten im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 Dazu höre ich keinen Widerspruch. in Peking verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden“. (B) Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen (D) Christoph Strässer für die SPD-Fraktion das Wort. In der kommenden Woche findet der nächste EU-China-Menschenrechtsdialog in Berlin unter der (Beifall bei der SPD) deutschen Ratspräsidentschaft statt. Deshalb war das Ansinnen der chinesischen Botschaft, das zu überdenken Christoph Strässer (SPD): und eine Beschlussfassung auszusetzen, nicht wirklich Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- zielführend. Wir wollen, dass diese Position des Deut- legen! Die wirtschaftliche und politische Entwicklung in schen Bundestages bei der Führung des nächsten Men- China vollzieht sich in einer beeindruckenden Ge- schenrechtsdialoges Bestandteil der Verhandlungen ist. schwindigkeit. China ist in jeder Hinsicht zu einem Glo- Ich glaube, das ist die richtige Antwort auf all das, was bal Player geworden. Die Volksrepublik ist heute ein uns hier in diesen Tagen vorgehalten wird. wichtiger Akteur und Partner mit Verantwortung in der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP internationalen Politik und in unserer globalisierten und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wirtschaft. Ein Land mit dieser Bedeutung steht natür- lich auch im besonderen Fokus der Weltöffentlichkeit In den letzten Jahren – das verkennt keiner bei uns – und hat auch besondere Aufmerksamkeit verdient. Dies ist in China durchaus ein Fortschritt bei wirtschaftlichen meine ich zunächst durchaus in positivem und anerken- und kulturellen Rechten zu beobachten. Bei der Umset- nendem Sinne. Doch diese Aufmerksamkeit muss alle zung der individuellen Freiheits- und Menschenrechte ist Bereiche in der gesellschaftlichen Entwicklung in die- aber noch ein ganz großer Rückstand aufzuholen. Ge- sem großen Land gleichermaßen betreffen. Wir wollen rade bei Reformen im Justizwesen, vor allem im Bereich mit diesem Antrag die Bereiche, in denen diese Entwick- des Strafrechts, herrscht akuter Nachholbedarf. lung noch nicht das Tempo erreicht hat, das erforderlich Trotz wiederholter Forderungen aus dem In- und Aus- wäre, konkret beleuchten. Wir wollen dabei keine Berei- land, das System der Laogai-Lager abzuschaffen, wird che aussparen. Ich denke, China ist sich dessen bewusst diese Form der Straf- und Arbeitslager weiter im großen und sollte dies auch akzeptieren. Maßstab genutzt. Dieses Straflagersystem wurde erst- Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland mals 1957 flächendeckend eingesetzt. Seit Jahrzehnten und der Volksrepublik China sind in ihrer Geschichte und noch heute wird das System harter Arbeit als Umer- selten besser gewesen als heute. Wir haben ein Interesse ziehungsmethode für Systemabweichler jeder Art, für daran, das Verhältnis so zu gestalten, dass es stark und Kleinkriminelle, für Angehörige von Religionsgemein- belastbar genug ist, dass auch kritische Fragen themati- schaften, für Homosexuelle und für politische Kritiker siert werden können. Es geht uns dabei um eine kon- genutzt. Es kam zu willkürlichen Verhaftungen von 9930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Christoph Strässer (A) Wanderarbeitern, Obdachlosen und unterprivilegierten führen, dass eine entsprechende Bereitschaft zur Verän- (C) Bevölkerungsgruppen. derung des Strafrechts- und des Verwaltungsrechtssys- tems durchaus besteht. Wir sind sehr gespannt darauf, ob Ohne rechtsstaatliche Verfahren werden die Betroffe- die Ankündigungen auf der jüngsten Tagung des Natio- nen inhaftiert und „politisch umerzogen“. Umerziehung nalen Volkskongresses, dass in China eine Reform der durch Arbeit – Lao Jiao – heißt eine Form der Administra- Administrativhaft eingeführt wird und im Jahr 2008 Gel- tivhaft, durch die politische Dissidenten als „antisozialisti- tung erlangt, Wirklichkeit werden. Angesichts der bishe- sche“ und „parteifeindliche Elemente“ ohne gerichtliche rigen Ankündigungen und ihrer Folgen muss ich aller- Überprüfung bis zu vier Jahren in solche Arbeitslager dings sagen: Ich habe meine Zweifel. Aber ich denke, verbracht werden können. Die Entscheidungen werden wir sollten an dieser Stelle weiterarbeiten. von Komitees aus Vertretern der lokalen Verwaltung und der Büros für öffentliche Sicherheit getroffen. Meine Damen und Herren, die Theorie ist die eine Seite der Medaille, die Praxis die andere. Neben den Be- Die Haft- und Arbeitsbedingungen sind katastrophal. kundungen der Regierung bleibt das Problem der Imple- Körperliche und psychische Demütigung und Folter sind mentierung und bleiben die Schwierigkeiten bei der nicht selten. Die Vorschriften zur Verhängung der Haft Kontrolle der Umsetzung bestehen. Insbesondere die sind nur teilweise öffentlich einsehbar, und ihre Formu- Menschen auf dem Land haben unter der Willkür der lo- lierungen sind oftmals derart vage und vieldeutig, dass kalen Bürokratien und der Parteisekretäre zu leiden, die sie einer eigenmächtigen Auslegung Tür und Tor öffnen. es zu kontrollieren gilt. Daneben berichten Amnesty In- Nach offiziellen Angaben der chinesischen Behörden ternational und Human Rights Watch, dass im Vorfeld sitzen circa 220 000 Menschen in solchen Umerzie- der Olympischen Spiele im Sommer 2008 die Anwen- hungslagern ein. Schätzungen von Amnesty Internatio- dung der Administrativhaft, des Systems der Umerzie- nal und anderen Menschenrechtsorganisationen gehen hung durch Arbeit durch Behörden genehmigt wird, um allerdings von einer vielfach höheren Zahl inhaftierter Peking einerseits von Landstreichern, Kleinkriminellen Menschen aus. Wegen der restriktiven Informationspoli- und politisch Andersdenkenden „zu befreien“ und ande- tik der Regierung ist es schwierig, zu sagen, wie viele rerseits öffentliche gerichtliche Verfahren zu umgehen. Umerziehungslager es tatsächlich in jeder Provinz gibt. Wir alle freuen uns auf die Olympischen Spiele. Sie Eine, wie ich finde, legitime Forderung in unserem An- mögen ein beeindruckendes Fest des Friedens und der trag ist deshalb, die Regierung der Volksrepublik China Völkerverständigung werden. Aber oft genug sind große aufzufordern, die genaue Zahl und die genaue Lage die- Sportveranstaltungen schon zu Propagandazwecken ser Lager anzugeben und Besuche internationaler Be- missbraucht worden. Deshalb ist es im Vorfeld dieses obachter zu gestatten. Der Kollege Haibach wird eine Events die Verpflichtung aller, insbesondere von Politik (B) Delegation unseres Ausschusses im Herbst in die Volks- und Sport, nicht die Augen vor den Geschehnissen in (D) republik China anführen. Wir werden darauf bestehen, diesem Land zu verschließen, sondern dieses Ereignis dass wir Zugang zu einem solchen Lager haben. Ich und die damit verbundene Aufmerksamkeit zu nutzen, glaube, auch das gehört zur Vertrauensbildung in der in- um auf eine deutliche Verbesserung der Menschen- ternationalen Gemeinschaft. rechtssituation in der Volksrepublik China hinzuwirken. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Herzlichen Dank. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Es ist an der Zeit, diesem menschenrechtswidrigen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) System ein Ende zu setzen. Ein solches Unrechtsregime verhindert die weitere Entwicklung Chinas zu einem Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: freiheitlichen, toleranten und demokratischen Rechts- Florian Toncar spricht jetzt für die FDP. staat. Das System der Arbeitslager muss deshalb mittel- fristig abgeschafft werden, und kurzfristig müssen die Lebens- und Arbeitsbedingungen in diesen Lagern spür- Florian Toncar (FDP): bar verbessert werden. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das, was hier gerade stattfindet, ist eine men- Ich möchte die Gelegenheit nutzen – wie wir es auch schenrechtliche Sensation. So hat es jedenfalls die Inter- in den Dialogen tun –, an China zu appellieren, den In- nationale Gesellschaft für Menschenrechte in einer Mel- ternationalen Pakt über bürgerliche und politische dung vom Dienstag dieser Woche bezeichnet. Auch ich Rechte, der von China bereits 1998 gezeichnet wurde, möchte meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass endlich zu ratifizieren. es möglich war, den Antrag, den die FDP im letzten Jahr (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) eingebracht hat, als Grundlage zur Erarbeitung eines fraktionsübergreifenden gemeinsamen Antrages zu ver- Ich möchte auch daran erinnern, dass die Volksrepu- wenden. blik als Mitgliedstaat der ILO, der Internationalen Ar- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beitsorganisation der UNO, Konventionen über die der CDU/CSU und der SPD) Rechte von Arbeitern und Arbeitsbedingungen unter- zeichnet hat. Die chinesischen Behörden haben den Wil- Im Wesentlichen sind es drei Punkte, die wir an den len bekundet, das System der Administrativhaft umzu- sogenannten Laogai-Lagern zu kritisieren haben. Der gestalten. Wir spüren auch in den Dialogen, die wir erste Aspekt betrifft das Prinzip der Administrativhaft: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9931

Florian Toncar (A) dass eine lokale Behörde und nicht etwa ein Richter an- schen Verbraucher selber solche Produkte nicht wollen. (C) ordnen darf, dass ein Mensch bis zu vier Jahre lang fest- Kontrollen von Zollbehörden können die Herkunft eines gehalten wird. Das ist ein klarer Verstoß gegen Art. 9 des solchen Produktes zwar manchmal, aber oft eben auch Internationalen Pakts über bürgerliche und politische nicht aufdecken, zumal wenn es sich nur um Komponen- Rechte. Wie berechtigt die Kritik, die in Europa an der ten, um einzelne kleine Teile von importierten Produkten Administrativhaft geäußert wird, ist, zeigt sich daran, handelt. Wer soll das herausfinden? Wie soll man das er- dass die Administrativhaft für die chinesische Legisla- kennen? Deswegen ist es wichtig, dass wir auf die Her- tive eines der zentralen Reformprojekte der nächsten steller und die Importeure zugehen, dass wir sie motivie- Jahre darstellt. Wir können davon, wie ich glaube, keine ren, sich genau darüber zu informieren, wo sie ihre Abschaffung dieser Lager erwarten. Aber das macht Komponenten beziehen, mit wem sie auf chinesischer deutlich, dass die Notwendigkeit einer Reform bzw. die Seite zusammenarbeiten und ob sich nicht vielleicht Notwendigkeit, dieses System zu überprüfen, selbst in doch auch eine Laogai-Einrichtung hinter einer gewöhn- China erkannt wird. Daher glaube ich, dass unsere Kritik lichen Fabrik verbirgt. gar nicht so falsch sein kann. Beispielhaft möchte ich – weil es wirklich ein gutes (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Beispiel ist – eine Initiative der deutschen Spielwarenin- der CDU/CSU und der SPD) dustrie nennen. Die hat in den letzten Monaten über den Branchenverband eine Liste von 125 deutschen Spielwa- Zweiter Punkt. Die Arbeitsbedingungen in den Laogai- renherstellern erstellt. Da fehlt praktisch keiner von de- Lagern sind menschenunwürdig. Zwangsarbeit darf es nen, die man kennt. Diese Hersteller haben sich ver- nicht geben. Das gilt auch für Gefangene. Überall auf pflichtet – es sind viele, die auch in China produzieren –, der Welt haben Menschen ein Anrecht darauf, dass ihre sich darüber zu informieren, ob alle Spielwaren unter Arbeitskraft nicht ausgebeutet wird, indem sie gezwun- menschrechtskonformen Bedingungen hergestellt wor- gen werden, bis zu 16 Stunden am Tag zu arbeiten, ohne den sind. Ich glaube, was die deutsche Spielwarenindus- auch nur einen freien Tag im Jahr zu haben. So etwas trie geschafft hat, das können auch andere Branchen. Ich dürfen wir nicht akzeptieren. halte diese Initiative ausdrücklich für vorbildlich und Dritter Punkt. Die Laogai-Lager werden im Gegen- nachahmenswert. satz zu manch anderen Gefängnissen als Instrument des (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD politischen Kampfes genutzt. Dieses System richtet und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sich nicht nur gegen Kleinkriminelle, sondern auch ge- gen sogenannte asoziale Elemente. Dazu gehören aus- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es für nö- drücklich auch die Gruppe der politischen Dissidenten, tig, dass wir uns auch mit der chinesischen Seite über (B) der sogenannten antisozialistischen oder parteifernen dieses Thema auseinandersetzen, und zwar auch außer- (D) Elemente, und religiöse Minderheiten wie Falun Gong. halb der institutionalisierten Menschenrechtsdialoge, die stattfinden. Deswegen finde ich es zunächst einmal rich- Von den Häftlingen, die in diesen Lagern unterge- tig, dass wir auf unsere Initiative auch von chinesischer bracht sind, ging keine Gefahr für das chinesische Recht Seite eine Reaktion bekommen. Die Frage ist nur, ob aus. Diese Menschen haben keine Straftaten wie Dieb- man mit einer „Kaltfront“ oder mit einer sehr pauscha- stahl oder Körperverletzung begangen. Sie sollen len, schnellen Drohung hinsichtlich der Qualität der Be- schlicht und ergreifend aufgrund ihrer Weltanschauung ziehungen in der Sache unbedingt weiterkommt. oder Religion unterdrückt oder umerzogen werden. Die- ser Aspekt macht deutlich, warum die Laogai-Lager ein Die Chinesen haben jedes Recht der Welt, ihre Mei- ganz besonders berüchtigtes und schlimmes System dar- nung zu unserem Antrag zu äußern. Aber sie täten auch stellen, das abgeschafft werden muss. gut daran, uns zu ermöglichen, beispielsweise diese La- ger zu sehen. Es ist doch bezeichnend, dass es entgegen (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD aller internationalen Übung, entgegen sämtlichen Stan- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dards nicht gelingt, die UN-Sonderberichterstatter in Es ist keine Frage der Zeit, bis die Laogai-Lager der diese Lager zu lassen, dass es nicht gelingt, das Rote Vergangenheit angehören, sondern es ist eine Frage des Kreuz in diese Lager zu lassen. Ein allererster Beitrag politischen Willens. Es stimmt, dass sich im Zuge einer dafür, dass man sich auch mit der chinesischen Seite zunehmend positiven Entwicklung eines Landes auch sachlich über dieses Thema auseinandersetzen könnte, die Situation im Bereich der Menschenrechte von allein wäre die Schaffung von Transparenz. Lassen Sie uns verbessert. Aber es gibt Menschenrechte, die so elemen- diese Lager besichtigen! Lassen Sie uns ein Urteil vor tar sind, dass wir sie nicht einfach der Entwicklung des Ort fällen! Dann können wir mit der chinesischen Seite Landes überlassen und sie zehn Jahre lang ignorieren objektiver über die Situation in diesen Lagern diskutie- können. Wenn es um die Einhaltung elementarer Men- ren. Die pauschale Drohung hinsichtlich der Qualität der schenrechte geht, muss eine Verbesserung sofort eintre- Beziehungen hilft mit Sicherheit nicht weiter. ten. Daher müssen wir sie heute einfordern. Das tun wir Einen Erfolg – ich komme zum Schluss, Frau Präsi- mit unserer heutigen Initiative. dentin – hat unsere Initiative mit Sicherheit schon jetzt Ein Punkt, der mir noch besonders wichtig ist: Wir gehabt: Sie hat dafür gesorgt, dass ein in Europa bisher sollten alles dafür tun, zu vermeiden, dass in den Laogai- kaum bekanntes Thema auf die Tagesordnung gekom- Lagern hergestellte Produkte auch auf den deutschen men ist und dass es im öffentlichen Bewusstsein ist. Markt kommen. Ich bin mir sicher, dass unsere heimi- Vielleicht ist das ein Beitrag – neben dem, was wir im 9932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Florian Toncar (A) Antrag verlangen –, dass die Laogai-Lager schon bald Das chinesische Strafgesetzbuch sieht vor, dass jeder (C) der Vergangenheit angehören werden. arbeitsfähige, rechtskräftig verurteilte Verbrecher eine – wie es da heißt – Reform durch Arbeit durchlaufen (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD soll. Nicht alle Laogai-Insassen sind jedoch nach rechts- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) staatlichen Verfahren – selbst nach chinesischen Maßstä- ben von Rechtsstaatlichkeit, die der unseren durchaus Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht entspricht – bzw. Verfahren, die in China für Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin rechtsstaatlich gehalten werden, verurteilt worden. Die Erika Steinbach. sogenannte Administrativhaft macht es möglich, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) missliebige Personen einfach so per Polizeiverfügung bis zu drei Jahre eingesperrt werden können. Davon wird in der Praxis sehr rege Gebrauch gemacht. Die Betroffe- Erika Steinbach (CDU/CSU): nen haben dann überhaupt kein Recht auf Verteidigung Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- oder Berufung. Nicht selten werden Aussagen, die durch legen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „China Folter erpresst wurden, als Geständnis deklariert. droht dem Bundestag mit Kaltfront“ titelt heute die „Ta- geszeitung“. Der Deutsche Bundestag lässt sich nicht Die Lager – das wurde auch schon deutlich – sind an drohen, von niemandem. Wir sind auch Anwalt von Fabriken, Minen oder Farmen angeschlossen. Hier wer- Menschen, die in ihren Ländern keinen Anwalt haben. den die Häftlinge bis zu 18 Stunden täglich zur unent- Menschenrechte bedürfen des Anwaltes. Der Deutsche geltlichen Arbeit gezwungen. Wer das Arbeitspensum Bundestag nimmt diese Themen auf, ob sie China oder nicht schafft, dem droht dann auch noch Nahrungsent- andere Länder betreffen. Das mag letzten Endes auch zug mit der Folge, dass er noch schlechter arbeiten kann. China akzeptieren. Die Lebensbedingungen in diesen Lagern sind men- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP schenverachtend. Misshandlungen, Mangelernährung, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auch sexueller Missbrauch sind dort trauriger Alltag. Angewandte Foltermethoden sind seit jeher aus kommu- Genauso wie die russischen Gulags längst zum In- nistischen und anderen Lagersystemen bekannt, nämlich begriff für … systematische Menschenverachtung Hiebe, Schlafentzug, Stromschläge oder psychische Fol- geworden sind, sollte auch das chinesische Wort ter. All das kennen wir aus anderen Lagersystemen. Laogai in jedes Wörterbuch aufgenommen werden. Neben Zwangsarbeit ist Gehirnwäsche, die soge- Das ist ein Zitat von Harry Wu, dem Vorsitzenden der nannte Gedankenreform – man muss sich das Wort Ge- Laogai-Stiftung und vielen von Ihnen als sehr engagier- (B) dankenreform einmal vorstellen –, eine zweite Kompo- (D) ter Kämpfer gegen das chinesische Laogai-Zwangsarbei- nente des Laogai-Systems. Die Lagerinsassen müssen tersystem bekannt. Von ihm wissen wir sehr viel. ihre realen oder auch vermeintlichen Missetaten geste- Sein Wunsch hat sich inzwischen erfüllt. Der Duden hen, Selbstkritik üben und schließlich Reue zeigen. Ziel hat den Begriff Laogai mittlerweile in seinen Wortschatz ist es, ihren Willen zu brechen und ihre Selbstachtung zu aufgenommen. Ich wünsche mir allerdings, dass dieses untergraben, um sie so zu treuen Anhängern des Sozia- Wort eines Tages wieder daraus verschwinden kann, lismus chinesischer Prägung umzuerziehen. nämlich dann, wenn der Schrecken, den es bezeichnet, Ein besonders schockierender Auswuchs dieses Sys- auf dem Schutthaufen der Geschichte gelandet sein wird, tems hat uns in den letzten Monaten immer wieder be- wo er hingehört. schäftigt, nämlich ein blühender Organhandel. Es ist 19 Jahre hat der Katholik Harry Wu als sogenannter längst kein Geheimnis mehr, dass toten Häftlingen Or- rechter Abweichler in einem der chinesischen Laogai- gane entnommen und diese gewinnbringend für Trans- Lager eingesessen. Er selbst bezeichnet diese Lager als plantationszwecke weiterverkauft werden. Dies alles ge- ein „ausgeklügeltes System für die physische, geistige schieht laut offizieller chinesischer Lesart mit der und psychische Vernichtung eines Menschen“. In der Tat angeblich freiwilligen Zustimmung der Gefangenen handelt es sich derzeit um das weltweit größte System bzw. deren Familienangehörigen. In einem solchen La- von Umerziehungs- und Arbeitslagern – eine moderne gersystem muss allerdings jede angeblich freiwillig ab- Form der Sklaverei. Bis zu 50 Millionen Menschen, so gegebene Erklärung als höchst fragwürdig betrachtet schätzt man, haben seit der Einführung des Laogai-Sys- werden. Ich traue dem Ganzen nicht über den Weg. Be- tems unter Mao Zedong ihr Leben in diesen Lagern ge- sonders erschütternd sind Berichte, die man immer wie- fristet. der einmal hört, über Tötungen ausschließlich zum Zwe- cke der Organentnahme. Dabei sollen durch zuvor Unabhängige Schätzungen gehen davon aus, dass ge- stattfindende Reihenuntersuchungen geeignete Perso- genwärtig 4 bis 6 Millionen Chinesen – die Zahl ist nicht nen identifiziert werden, die dann erst bei Bedarf getötet genau bekannt, aber wir wollen das irgendwann auch werden. einmal wissen – in bis zu 1 000 Lagern einsitzen. Dazu gehören politisch Inhaftierte genauso wie Angehörige Die chinesische Regierung hat inzwischen angekün- von ethnischen oder religiösen Minderheiten wie Tibe- digt – das ist immerhin ein Fortschritt –, den illegalen ter, Mongolen, Uiguren und Falun-Gong-Praktizierende; Handel mit Organen gesetzlich zu unterbinden. Die Ge- aber auch Drogensüchtige und Homosexuelle werden oft setzesänderung ist offensichtlich eine Reaktion auf den jahrelang in Lagerhaft genommen. anhaltenden internationalen Druck von Politikern und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9933

Erika Steinbach (A) Menschenrechtsorganisationen. Das macht auch deut- chinesische Drache ist ein Symbol für Weisheit. So kön- (C) lich, wie wichtig es ist, dass wir im Bundestag über diese nen wir vielleicht gemeinsam hoffen, dass China seine Themen sprechen. Organentnahme ohne Einwilligung menschenverachtende Politik in Weisheit endlich korri- des Spenders soll nunmehr strafrechtlich verfolgt wer- giert. den. Das wäre schon ein Schritt in die richtige Richtung. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Ob jetzt nur Papier beschrieben wurde oder sich die Pra- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) xis tatsächlich ändert, wird sich zeigen.

Geschäfte werden jedoch nicht nur mit den Organen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der Häftlinge gemacht, sondern auch mit ihrer kostenlo- Michael Leutert hat jetzt das Wort für die Linke. sen Arbeitskraft. Was die Aufklärungsarbeit erschwert, ist ein mangelnder Überblick unsererseits über Produk- (Beifall bei der LINKEN) tionsstätten und Produktionsmethoden. Daher ist es nicht ganz einfach, nachzuvollziehen, welche Produkte tat- Michael Leutert (DIE LINKE): sächlich aus Zwangsarbeiterlagern kommen. China ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! weigert – mit ganz wenigen Ausnahmen – internationa- Auch für uns besteht kein Zweifel, dass dieses Laogai- len Delegationen regelmäßig einen Besuch in den Lagersystem keiner menschenrechtlichen Betrachtung Lagern. Unsere Ausschussvorsitzende musste das kürz- standhält, dass es verurteilt und abgeschafft gehört. lich selbst erfahren, als sie China besuchte. Vielleicht ha- ben die Kollegen beim nächsten Besuch mehr Erfolg; ich (Beifall bei der LINKEN) hoffe es sehr. Trotzdem möchte ich auf zwei Punkte des Antrags kri- (Holger Haibach [CDU/CSU]: Das hoffen wir tisch eingehen. auch!) Der erste Punkt ist, wie ich vermute, ein Lapsus, aber – Ich drücke die Daumen. doch etwas zynisch: Den US-Kongress als Kronzeugen der Menschenrechte heranzuziehen, wenn es um ein La- Nur der Aufklärungsarbeit von Menschen wie Harry gersystem geht, das wir verurteilen wollen, halte ich nun Wu ist es zu verdanken, dass wir etwas Licht in das Dun- wirklich für verfehlt und zynisch. kel bekommen haben und dass wir immer wieder auf die Menschenrechtsverletzungen hingewiesen worden sind. (Beifall bei der LINKEN – Peter Bleser [CDU/ CSU]: Das ist eine Unverschämtheit!) Die chinesische Regierung bestreitet offiziell den Ex- Gerade die USA, die mit Guantánamo ein Lagersystem port von Laogai-Produkten. De facto werden sie aber in – das ist ja bekannt – aufgebaut haben! Von den Ameri- (B) alle Welt exportiert. So werden beispielsweise 20 Pro- (D) kanern habe ich bis heute noch kein Zeichen, ob ich zent der chinesischen Kohleproduktion durch Laogai- meine Reise nach Guantánamo antreten darf. Der Bot- Häftlinge gefördert, und es ist zu vermuten, dass ein schaftsrat hat uns in Vorbereitung auf unsere Delega- Drittel des chinesischen Weltmarkttees aus diesen La- tionsreise nach China immerhin angekündigt, unser Vor- gerproduktionen stammt. haben zu unterstützen, dieses Lager zu besuchen. Mit dem Laogai-System stehen dem chinesischen (Peter Bleser [CDU/CSU]: Da vergleichen Sie Regime Millionen von kostenlosen Arbeitskräften für Äpfel mit Birnen!) zahllose Produkte zur Verfügung. Damit bekommt die Aussage „Made in China“ einen besonders bitteren Bei- – Diesen Vergleich muss man sich schon gefallen lassen, geschmack. wenn man die USA im Antrag erwähnt. Allen internationalen Protesten zum Trotz hat China (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Anfang dieses Jahres angekündigt, die Laogai-Lager und Ich bin der Meinung, man sollte das Angebot des Bot- die Administrativhaft nicht abzuschaffen, sondern ledig- schaftsrats annehmen und entsprechend handeln. lich zu verbessern. Berichten zufolge wird über eine Umwandlung der Laogai-Lager in ein System von Punkt zwei; das ist der inhaltlich stärkere Kritikpunkt. Erziehungsanstalten nachgedacht. Ich halte es für Uns geht der Antrag bezüglich der Kritik an der Zwangs- wichtig, dass man sie nicht umbenennt, sondern ganz arbeit einfach nicht weit genug. In diesem Antrag wird einfach abschafft, um die Lebensbedingungen der Men- Zwangsarbeit nur mit Blick auf die Laogai-Lager verur- schen zu verbessern. teilt. Die Zwangsarbeit bei den „Normalarbeitsverhält- nissen“ wird nicht angesprochen. Das führt meines China hat kürzlich angekündigt, dass es auch in Zu- Erachtens zu einer Verharmlosung der Situation in der kunft keine unabhängige Justiz geben wird. Das lässt für übrigen Arbeitswelt in China. die Bekämpfung von Folter nichts Gutes erahnen, da China zwar Fortschritte bei der Gesetzgebung macht, Ich möchte ein Beispiel nennen. Ich bin erstaunt, dass aber bei der Durchsetzung von Recht nach wie vor die niemand sonst dieses Beispiel genannt hat. Wir reden im Kommunistische Partei die Entscheidung über Urteile Forderungskatalog von einer Selbstverpflichtung der fällt. deutschen Wirtschaft. Kollege Toncar, Sie hatten die Spielwarenindustrie angesprochen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der große Chinese Konfuzius sagte: „Einen Fehler begangen haben Ich nenne einmal ein anderes Beispiel. Die „taz“ ti- und ihn nicht korrigieren: Erst das ist ein Fehler.“ – Der telte am 8. Mai 2007 – es ist also kein alter Bericht –: 9934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Michael Leutert (A) Teuer bezahlte Aldi-Schnäppchen Aber dies mit der jetzigen Debatte zu vermengen, halte (C) ich für völlig unangebracht. Darunter heißt es: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Aldi ist der achtgrößte Textilhändler der Republik. der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Viele Hemden und Hosen kommen aus China, wo die Näherinnen oft sieben Tage die Woche schuften, Denn das, was in den Laogai-Lagern geschieht, ist noch neben den Fabrikhallen schlafen und weniger als einmal zehn Nummern schärfer und kann mit prekären den gesetzlichen Mindestlohn verdienen. Arbeitsverhältnissen in anderen Bereichen nicht vergli- chen werden. Weiter heißt es: Auch zu Guantánamo gab es kritische Worte aus vie- Morgens um acht haben sie an der Maschine zu sit- len Fraktionen. Aber es geht heute um die Laogai-Lager. zen, abends um neun endet ihr Werktag … Darauf sollten wir uns konzentrieren und gemeinschaft- Das ist also ein Dreizehnstundentag. lich und fraktionsübergreifend einen scharfen Protest zum Ausdruck bringen. In manchen Fabriken gilt die 7-Tage-Woche … (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Um noch eins draufzusetzen: bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Wer kündigen will, braucht dafür die Erlaubnis des Die chinesische Wirtschaft boomt. Fast 20 Prozent Arbeitgebers … des Außenhandels der Volksrepublik werden mit den EU-Ländern getätigt, und Deutschland ist auf Platz fünf Nichts anderes schreiben wir zu dem Laogai-Lager- im Außenhandelsranking. Ministerpräsident Jürgen system. Es gibt dort eine Siebentagewoche, einen Sech- Rüttgers forderte kurz nach seiner Chinareise, den Han- zehnstundentag; die Leute sind eingesperrt und Repres- del mit China kräftig zu erweitern. Das ist legitim. Aber salien ausgesetzt. Wenn man seinen Arbeitgeber fragen wir müssen viel stärker der Frage nachgehen, was denn muss, ob man kündigen darf, ist man natürlich ebenso der Hintergrund von den vielen Billigimporten aus eingesperrt. Wenn dazu kein Satz in diesem Antrag steht, China ist und unter welchen Bedingungen sie produziert ist das für mich natürlich ein Problem. Das zeigt uns wurden. Das ist die Kehrseite der verlockenden Geiz-ist- doch zumindest eines: Mit reiner Selbstverpflichtung geil-Angebote. der deutschen Wirtschaft ist es nicht getan. Es muss hier eine Verpflichtung her und nicht nur eine Selbstver- Leider ist es noch immer so, dass die Boomwirtschaft pflichtung. China sich sehr wenig um soziale Mindeststandards und Menschenrechte kümmert. Billigprodukte sind oft des- (B) (D) (Beifall bei der LINKEN) halb so billig, weil sie aus den Laogai-Arbeitslagern Letzter Punkt. Ich freue mich, dass es bei der CDU/ kommen. Der geringe Preis kommt dadurch zustande, CSU einen Erkenntnisgewinn gibt. Denn Sie können den dass der Faktor Arbeit in diesen Lagern nichts kostet. Antrag nur dann mit einreichen, wenn Sie Ihr Motto Die Menschen – es sind mindestens zwei Millionen – „Sozial ist, was Arbeit schafft“, das Sie einmal aufge- werden unter unsäglichen Bedingungen ausgebeutet; das stellt haben, korrigieren. ist schon von vielen Rednerinnen und Rednern vor mir gesagt worden, und ich muss es nicht wiederholen. Es (Unruhe bei der CDU/CSU) gibt Demütigungen – vereinzelt auch Folter –, und Men- schen werden auf eine unmenschliche Art und Weise Denn dieses Beispiel dürfte uns zeigen – die Internatio- ausgebeutet. nale Arbeitsorganisation und die entsprechenden Nor- men sind angesprochen worden –: Sozial ist Arbeit nur, Die Laogai Research Foundation schätzt, dass seit der wenn sie unter humanen Bedingungen und für einen ge- Regierungszeit von Mao Zedong 40 Millionen bis rechten Lohn geleistet wird. 50 Millionen Menschen in diesen Arbeitslagern umge- kommen sind. Kein Wunder also, dass die chinesische Vielen Dank. Botschaft viel unternommen hat, um die Debatte, die wir (Beifall bei der LINKEN – Hermann Gröhe heute führen, zu unterbinden. Die Aussage der chinesi- [CDU/CSU]: Einfach nur peinlich!) schen Botschaft, die Umerziehung durch Arbeit sei ein legitimes Mittel, um die innere Sicherheit zu gewährleis- ten, klingt zynisch und muss nicht weiter kommentiert Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werden. Ein chinesisches Sprichwort sagt, frei übersetzt: Jetzt spricht Thilo Hoppe für das Bündnis 90/ „Wenn Du nicht willst, dass Dein Handeln jemand er- Die Grünen. fährt, dann handele einfach nicht so.“

Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir erkennen an, dass es im Menschenrechtsdialog mit China in einzelnen Sektoren Fortschritte gibt. Die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! chinesische Regierung muss aber aushalten, dass hier Lieber Kollege Leutert, Sie vermischen da ganz ver- auch über die Schattenseiten, über die prekären Verhält- schiedene Themen, die alle gesondert diskutiert werden nisse offen und schonungslos debattiert wird. müssten. Natürlich müssen wir Debatten über notwen- dige ökologische und soziale Mindeststandards sowie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei über Freihandels- und Sonderwirtschaftszonen führen. der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9935

Thilo Hoppe (A) Sie muss aushalten, dass wir Menschenrechte und Wirt- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5146, den (C) schaftsfragen nicht miteinander aufwiegen. Die Drohun- Antrag auf Drucksache 16/4559 anzunehmen. Wer gen, die im Vorfeld dieser Debatte ausgestoßen wurden, stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- haben mich doch mehr als irritiert. men? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfeh- lung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktionen Frau Kollegin Steinbach hat darauf hingewiesen, dass der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die uns sehr erschreckende Meldungen über illegale Organ- Stimmen der Linken angenommen. entnahmen bei Menschen, die hingerichtet wurden oder hingerichtet werden sollen, erreicht haben. Es gibt auch Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Berichte von einem ehemaligen kanadischen Staatssek- Drucksache 16/5146 empfiehlt der Ausschuss, den An- retär und von einem Menschenrechtsanwalt, dass auch trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/855 mit Falun-Gong-Anhänger Opfer dieser illegalen Organent- dem Titel „Für die Verurteilung des Systems der Laogai- nahmen geworden sind. Die Berichte, die wir gehört ha- Lager in China“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für ben, klingen schier unglaublich. Der Wahrheitsgehalt diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- dieser Berichte kann so schnell nicht verifiziert werden, haltungen? – Damit ist diese Beschlussempfehlung ein- aber wir bitten die Bundesregierung, diesen Vorwürfen, stimmig angenommen. diesen Anschuldigungen sehr sorgsam und gründlich nachzugehen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 c auf: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- der CDU/CSU, der SPD und der FDP) richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu Wir müssen auch bei der Ausbildung von Medizinern dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel aufpassen – es gibt ja eine deutsch-chinesische Koopera- Happach-Kasan, Cornelia Pieper, Hans-Michael tion auf diesem Gebiet –, dass wir nicht unbewusst zu Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Komplizen bei der illegalen Organentnahme werden. tion der FDP Das wäre gar nicht auszuhalten. Eigentumsrechte und Forschungsfreiheit Ich bin sehr froh, dass wir hier weitgehend fraktions- schützen – Entschiedenes Vorgehen gegen Zer- übergreifend die unmenschlichen Bedingungen in den störungen von Wertprüfungs- und Sortenver- Laogai-Arbeitslagern scharf verurteilen. Wir erwarten suchen sowie von Feldern mit gentechnisch jetzt von der Bundesregierung, dass dieser gemeinsame veränderten Pflanzen Protest der chinesischen Regierung gegenüber klar und deutlich zum Ausdruck gebracht wird. – Drucksachen 16/2835, 16/4474 – (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Berichterstattung: bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Abgeordnete Dr. Max Lehmer Die Initiative der Spielwarenindustrie wurde von Ih- Elvira Drobinski-Weiß Dr. Christel Happach-Kasan nen, Herr Toncar, schon angesprochen. Wir fordern, dass Dr. Kirsten Tackmann sich auch andere Sektoren der deutschen Wirtschaft stär- ker für Transparenz einsetzen und dass sich die Verbrau- Ulrike Höfken cherschutzverbände dieses Themas annehmen. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, Undine Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kurth (Quedlinburg) und der Fraktion des Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Keine Freisetzung von gentechnisch veränder- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ten Pflanzen auf dem Gelände des Instituts für Die Konsumentinnen und Konsumenten müssen die Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung Möglichkeit erhalten, die Augen aufzumachen und Pro- in Gatersleben dukte aus diesen Arbeitslagern zu boykottieren. – Drucksache 16/4904 – Ich danke Ihnen. Überweisungsvorschlag: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Technikfolgenabschätzung Ich schließe die Aussprache. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm und der schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der Einfuhrverbot für Produkte aus dem gentech- FDP und von Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für nisch veränderten Mais MON863 anordnen die Verurteilung des Systems der Laogai-Lager in China“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- – Drucksache 16/4905 – 9936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Überweisungsvorschlag: landwirtschaftliche Praxis und letztlich viertens eine bio- (C) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und logische Datengrundlage für praktikable Haftungsre- Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Gesundheit geln. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Technikfolgenabschätzung ein Hauptargument der Gentechnikgegner immer war, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union die Gentechnik sei nicht genug erforscht und es gebe zu wenig Versuchsergebnisse, um die ökologischen Aus- Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. – wirkungen durch den Anbau von GVO-Pflanzen umfas- Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be- send beurteilen zu können. Genau dem wollen wir abhel- schlossen. fen. Wir tun also etwas zur Beruhigung unserer Gegner. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kollegen Max Lehmer für die CDU/CSU-Fraktion. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Eine wichtige Frage dabei ist: Wie kann man wirksam gegen Feldzerstörungen vorgehen? Das Eckpunktepa- Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): pier sieht vor, dass im öffentlichen Teil des Standortre- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten gisters zukünftig nur noch die Gemarkung angegeben Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wird. Das ist sicher eine Möglichkeit, aber keine umfas- Sehr verehrte Gäste! In meinem kurzen Vortrag möchte sende, um in jedem Fall zu vermeiden, dass das Stand- ich Stellung nehmen zum Antrag der FDP und zu den ortregister als Wegweiser für Genfeldzerstörer ver- Anträgen des Bündnisses 90/Die Grünen, die teilweise wendet wird. Dies geschieht deswegen, um dem schon im Ausschuss thematisch besprochen und vorbe- Informationsinteresse der Öffentlichkeit zu entsprechen handelt wurden. und dabei gleichzeitig – das ist sehr wichtig – weitere Zunächst einmal zum Antrag der FDP-Fraktion Feldzerstörungen zu verhindern. Aber jedem, der ein be- „Eigentumsrechte und Forschungsfreiheit schützen“. rechtigtes Interesse an der genauen Lage eines entspre- Die Feldzerstörungen sind in jedem Falle auf das chenden Grundstücks darlegt, wird diese mitgeteilt. Das Schärfste zu verurteilen und strafrechtlich zu verfolgen. gilt insbesondere für Nachbarn und Imker in der umlie- Darüber, glaube ich, sollten wir uns alle einig sein. genden Region. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der In diesem Zusammenhang kurz einige Sätze zum Pro- FDP) blemkreis „Akzeptanz und Kommunikation“. Die (B) Ängste in der Bevölkerung gegenüber modernen Tech- (D) Hierin stimmen wir auch mit Ihnen von der FDP über- nologien müssen wir auf jeden Fall ernst nehmen. ein; daran gibt es keine Zweifel. Ängste basieren meist auf fehlenden verständlichen In- formationen. Das ist gerade bei der Grünen Gentechnik Eine Entscheidung über die Zukunft von Wissen- der Fall. Die Bürger unseres Landes müssen endlich schaftsdisziplinen – hierbei geht es um eine wichtige sachlich aufgeklärt werden und wissenschaftlich fun- Wissenschaftsdisziplin – kann nur auf der Basis transpa- dierte Fakten über die Grüne Gentechnik und die Zielset- renter und reproduzierbarer Versuchsergebnisse gefun- zungen gerade der Freilandversuche erhalten. den werden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) Viele Ängste wurden und werden immer noch durch sehr einseitige und überzogene Risikodarstellungen von Zerstörung kann keinesfalls ein Mittel der Auseinander- Organisationen verursacht, die bewusst und absichtlich setzung über strittige Wissenschaftsdisziplinen sein. die Grüne Gentechnik ablehnen, ja diese sogar bekämp- (Beifall bei der CDU/CSU) fen. Eine Abwägung zwischen Chancen und Risiken kann aber nur in einem angst- und ideologiefreien Klima Im Rahmen der notwendigen Forschungen zur Grü- stattfinden. Ich denke, das ist unbestritten. nen Gentechnik sind Freilandversuche unverzichtbar, auch wenn teilweise das Gegenteil behauptet wird. Ich muss also feststellen: Wir stimmen in vielen CDU/CSU und SPD haben bereits bei ihren Koalitions- Punkten mit dem Antrag der FDP überein. Wesentliche verhandlungen die Bedeutung der Forschung für diese Punkte wurden aber schon erfüllt oder werden, wie im innovative Technologie erkannt und deshalb in den Ko- Eckpunktepapier vorgesehen, noch erfüllt. Deshalb hal- alitionsvertrag die Absicht aufgenommen, die For- ten wir den Antrag in der vorgelegten Form für überflüs- schung in der Grünen Gentechnik zu fördern. sig. Außerdem ist für die öffentliche Sicherheit und Ord- nung in Deutschland und damit für die Unversehrtheit Freilandversuche sind die Voraussetzung dafür, ver- der Versuchsfelder nicht der Bund, sondern sind die Län- lässliche, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zu fol- derbehörden zuständig. genden Fragen, die durchaus noch nicht alle geklärt sind, zu erlangen: erstens Erkenntnisse zur Koexistenz, also Nun zum Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen zum zu Anbauabständen, Nachbarkulturen, Mantelsaaten, Problemkreis „Keine GVO-Freisetzungen in Gatersle- zweitens Erkenntnisse zu den Auswirkungen auf das Bo- ben“. Konkret geht es bei diesem Antrag um zwei ver- denleben, drittens Basisdaten und Fakten für die gute schiedene Freisetzungsversuche: zum einen um einen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9937

Dr. Max Lehmer (A) Versuch mit Weizen und zum anderen um einen mit Erb- gebaut. Er ist in der EU als Lebens- und Futtermittel zu- (C) sen. Beide sind durch das BVL genehmigt. Entscheiden- gelassen. der Punkt dabei ist: Der Leiter der angeblich betroffenen Genbank, Herr Professor Dr. Andreas Graner, sieht sei- Die französischen Wissenschaftler stützten sich auf nerseits als Experte keinerlei Risiko für die pflanzenge- eine erneute Auswertung aller Unterlagen aus den Fütte- netischen Ressourcen der Genbank. Ein besseres Argu- rungsversuchen, die im Vorfeld der Zulassung von dem ment ist nicht vorstellbar. Ich sage ausdrücklich: Auch Unternehmen Monsanto durchgeführt wurden. Die uns sind der Erhalt und die Sicherheit der Genbank ein Gruppe sieht Anzeichen dafür, dass Leber und Nieren ausgesprochen großes Anliegen. der mit MON 863 gefütterten Versuchstiere geschädigt wurden. Nach der von Greenpeace finanzierten erneuten (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Analyse der Monsanto-Unterlagen – ich denke, das al- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- lein ist schon ein sehr bemerkenswerter Vorgang – ten der FDP) kommt Professor Séralini zu dem Ergebnis, dass neue Fütterungsversuche über einen längeren Zeitraum erfor- Auch das BVL kam in seiner der Genehmigung vo- derlich seien, bevor die gesundheitliche Unbedenklich- rausgegangenen Sicherheitsbewertung zu dem Schluss, keit beurteilt werden könne. dass von dem Freisetzungsversuch keine schädlichen Einflüsse auf Menschen und Tiere sowie auf die Umwelt (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Genau!) zu erwarten sind. Es hat aber trotzdem vorsorglich zu- sätzliche Sicherheitsmaßnahmen verfügt. Das Leibniz- Laut EFSA wurde die von Monsanto durchgeführte Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenfor- Fütterungsstudie an Ratten entsprechend dem Qualitäts- schung wird während der Freisetzung keine zum Sorti- sicherungsstandard und den OECD-Richtlinien durchge- ment der Genbank gehörenden Erbsen im Freiland kulti- führt, und sie umfasst wissenschaftlich profunde toxiko- vieren, sodass Auskreuzungen in das Erbmaterial der logische Untersuchungen, Frau Tackmann, Genbank vermieden werden. Zu Flächen außerhalb des (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Institutsgeländes, auf denen konventionelle Erbsen an- NEN]: Das glaubt doch kein Mensch!) gebaut werden, wird ein Abstand von mindestens 1 000 Metern eingehalten. Bei den Weizenpflanzen ist es sowie korrekte statistische Auswertungen der Versuchs- ein Abstand von 500 Metern. Da sowohl bei den Wei- ergebnisse. Darüber können Sie sich als wissenschaftlich zen- als auch bei den Erbsenpflanzen überwiegend geschulte Kollegin informieren. Selbstbestäubung stattfindet, ist die Wahrscheinlichkeit Schon vor der Zulassung von MON 863 in Europa einer Auskreuzung ohnehin äußerst gering. wurde über die Interpretation der Daten aus der Fütte- (B) Für die Entscheidung des BVL wurden Stellungnah- rungsstudie diskutiert. Es hat im Blutbild der mit (D) men des Bundesamtes für Naturschutz, des Bundesinsti- MON 863 gefütterten Tiere statistisch auffällige Abwei- tuts für Risikobewertung und des Robert Koch-Institutes chungen gegeben. Die Experten der Europäischen Be- eingeholt. Gleichzeitig wurden Stellungnahmen des un- hörde für Lebensmittelsicherheit hatten diese Auffällig- abhängigen Wissenschaftler- und Sachverständigengre- keiten aber als biologisch nicht relevant eingestuft, da miums, der Zentralen Kommission für die Biologische sie sich im Rahmen normaler biologischer Streuung be- Sicherheit und der Biologischen Bundesanstalt für Land- wegten. und Forstwirtschaft in die Entscheidung einbezogen. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Woher Darüber hinaus wurde das BVL durch die fachliche Stel- wissen Sie das?) lungnahme des Landes Sachsen-Anhalt unterstützt. Auch bei weiteren Untersuchungen haben die Behörden Ich halte als Fazit fest: Von der Freisetzung gehen keine Hinweise auf mögliche gesundheitliche Gefähr- nach Erkenntnissen aller Wissenschaftler und Experten dungen gefunden. keine Risiken aus, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: weder für die Genbank noch sonst für Mensch, Tier oder Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. Umwelt. Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. Folglich lehnen wir diesen Antrag ab. Nach Ansicht des BfR liefert die französische Ana- Nun zum zweiten Antrag des Bündnisses 90/Die Grü- lyse der Daten ebenfalls keine Belege, welche die frühe- nen zum Einfuhrverbot für Produkte aus Mais ren Bewertungen der 90-tägigen Rattenstudie infrage MON 863. Über dieses Thema haben wir schon mehr- stellen. Deshalb lehnen wir auch diesen Antrag ab, eben- fach diskutiert. Dieser Antrag bezieht sich auf eine falls das beantragte Moratorium, das jeglicher EU-recht- Gruppe französischer Wissenschaftler, die neue Zweifel lichen Grundlage entbehrt. an der gesundheitlichen Unbedenklichkeit des gentech- Vielen Dank. nisch veränderten Maises MON 863 geäußert hat. Zur Erläuterung: MON-863-Mais besitzt eine Resistenz ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen den Maiswurzelbohrer und wird in Nordamerika an- neten der FDP) 9938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Lob und Anerkennung derer erfahren, die sich mit die- (C) Die Kollegin Happach-Kasan spricht jetzt für die sem Thema intensiv beschäftigt haben. FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP)

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir beraten heute über einen Antrag der FDP, der sich Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich au- mit der Zerstörung von Feldern befasst. Kollege Lehmer ßerordentlich darüber, dass sich die SPD, die Grünen hat einiges dazu gesagt. Kollege Lehmer, ich stimme Ih- und auch Die Linke nun entschlossen haben, an dieser nen nicht zu: Dieser Antrag ist nicht überflüssig. Debatte aktiv teilzunehmen. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne (Zurufe von der SPD: Oh!) Kastner) Ich bedanke mich vor allem beim Kollegen Lehmer, dass Wer sich im Internet informiert, stellt fest, dass sich er mir die Stange gehalten hat und von Anfang an gesagt Gentechnikgegner wieder einmal sammeln, um weitere hat, dass er reden wird. Das finde ich ausgesprochen Zerstörungsaktionen durchzuführen. Wer das sieht, nett. weiß, dass dieser Antrag nicht überflüssig ist. Es ist wichtig, dass wir darüber beraten. Damit machen wir (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: deutlich, dass die Zerstörung von Feldern ein krimineller So billig! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Billig! – Akt ist, der bestraft werden muss. Im Übrigen sind die René Röspel [SPD]: Ich war auch immer fürs Täter auch bestraft worden. Reden!) (Beifall bei der FDP) – Frau Präsidentin, habe ich das Wort? Die Zerstörung von Feldern ist zum einen Ausdruck (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist billig!) von Dummheit. Das muss man angesichts der Tatsache – Frau Präsidentin, habe ich das Wort, oder habe ich es sagen, dass in Bayern Mineralöl auf einen Acker gekippt nicht? wurde. Zum anderen ist die Zerstörung Ausdruck eines Demonstrationstourismus. Wer einmal bei einem sol- chen Happening dabei gewesen ist, weiß, dass das Frei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zeitgestaltung ist und mit Engagement überhaupt nichts Sie haben das Wort. zu tun hat. (Ulrich Kelber [SPD]: Waren Sie dabei?) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (B) (D) Ich habe in einer der letzten Ausgaben des „Stern“ – Kollege Kelber, sagen Sie doch bitte, dass Sie eine dieses wunderschöne Foto von Tomaten gefunden. Es Zwischenfrage stellen möchten, anstatt dazwischenzuru- hat mir ausgesprochen gut gefallen. Es waren transgene, fen. allergenfreie Tomaten abgebildet. Wer im Internet forscht, findet auch transgene, allergenfreie Apfelsorten. (Ulrich Kelber [SPD]: Waren Sie dabei oder Diese Zuchtlinien gibt es inzwischen. Sie sind in Europa nicht?) erforscht worden, zum Beispiel in Wien, in Deutschland – Wenn Sie eine Frage stellen möchten, tun Sie das. oder den Niederlanden. Oder lassen Sie sich Redezeit geben! Das wäre viel bes- Den Allergikern müssen wir aber leider sagen: Sie ser. werden diese Sorten nicht essen können; denn sie wer- Ich habe mir die Rede einer Demonstrantin durchge- den bei uns nicht angebaut werden. Somit wird diese lesen. Ich bin betroffen davon, dass diese Frau ohne je- Forschung, da bin ich mir sicher, in die USA gehen. den Grund Angst hat. All diejenigen, die den Menschen 75 Prozent der Allergiker in den USA freuen sich bereits Angst einjagen, ob von den Grünen, der SPD oder der auf solche Sorten. Ich hoffe sehr, dass sie sie auch erhal- Linken, ten werden; denn Äpfel und Tomaten schmecken richtig gut, auch den Allergikern. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Oder das Bundesministerium!) Die Hightechstrategie der Bundesregierung ist mit sehr vielen Worten angekündigt worden. Sie wurde zwar machen sich schuldig. Sie vermiesen dieser Frau das Le- hoch gelobt, aber es fehlt ihr etwas: Es fehlt die Novelle ben durch Ängste, die völlig überflüssig sind. des Gentechnikgesetzes. Kollege Lehmer, auch Sie mussten heute leider wieder nur von den Eckpunkten (Beifall bei der FDP) sprechen. Sie konnten keine Novelle des Gentechnikge- Die FDP lehnt den Antrag der Grünen zum Thema setzes vorlegen, mit der der Anbau und die Forschung Gatersleben ab. Ich finde ihn absolut überflüssig. Dass tatsächlich gefördert würden. Bundesminister Seehofer, die Grünen gegen die Gentechnik sind, wissen wir. Ich der Ankündigungsminister, steht mit leeren Händen da. glaube, dass das, was der Leiter der Genbank gesagt hat, (Beifall bei der FDP) viel aussagekräftiger ist, dass nämlich von den Freiset- zungsversuchen keinerlei Gefährdung für die Gendaten- Die FDP-Bundestagsfraktion hat dagegen bereits eine bank ausgeht. Das ist das Entscheidende, und er ist der Novelle des Gentechnikgesetzes vorgelegt und dafür Fachmann, nicht die Grünen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9939

Dr. Christel Happach-Kasan (A) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Seit durch die Presse ein Schreiben der zuständigen (C) NEN]: Mit der freien Wissenschaft haben wir Genehmigungsbehörde, des Bundesamtes für Verbrau- unsere Erfahrungen!) cherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL, bekannt wurde, in welchem dem IPK nahegelegt wird, die Ver- Im Übrigen möchte ich einmal daran erinnern, dass mehrungsflächen der Genbank zu verlagern, ist die Auf- Auskreuzungen bei allen Pflanzen passieren, ob sie gen- regung groß. Das lässt sich zum Teil auf eine Fehlinter- technisch verändert sind oder nicht. Das heißt, die Gen- pretation des BVL-Schreibens zurückführen: Anders als datenbank wäre, wenn Ihre Annahme zuträfe, von jedem im Antrag der Grünen behauptet geht das BVL nicht da- Anbau, ob es Weizen ist oder ob es Erbsen sind, betrof- von aus, dass die Freisetzungsversuche eine Gefährdung fen. Sie liegen daher mit Ihrem Antrag total falsch. für die Genbank darstellen. Vielmehr ging es darum, ( [FDP]: Richtig!) durch eine räumliche Trennung der Erhaltungsflächen und der Versuchsflächen die öffentliche Diskussion zu In der letzten Ausschusssitzung haben wir das Vorge- entschärfen und den vielen Einwendungen Rechnung zu hen des BVL beraten. Man sollte sich noch einmal ganz tragen. Ob der Weg, die neuen, relativ kleinen Versuchs- klar vor Augen führen, was da passiert ist. Nach dem flächen am Standort zu belassen und die wesentlich grö- Gentechnikgesetz muss der Anbau von gentechnisch ßeren Erhaltungsflächen, die sich dort seit langem befin- verändertem Mais angekündigt werden. Das ist irgend- den, zu verlagern, richtig ist, darüber werden wir im wann im Januar geschehen. Was ist daraufhin passiert? Ausschuss sicherlich ausführlich diskutieren. Mir ist bis- Nichts. Es wurde veröffentlicht. Was ist daraufhin pas- her nicht bekannt, wie sich das IPK zu den Empfehlun- siert? Nichts. Der Mais ist ausgesät worden. Was ist da- gen des BVL verhält. raufhin passiert? Auch nichts. Aber eine Woche nach der Mich persönlich haben die Einwendungen nachdenk- Aussaat erließ das BVL eine Anordnung, nach der die lich gemacht. Auskreuzungen von den Versuchsfeldern weitere Aussaat verboten wurde. Das ist doch komisch. mit gentechnisch verändertem Weizen lassen sich nicht (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu hundert Prozent ausschließen. Wenn es aber zu sol- NEN]: Vielleicht hatten die neue Erkennt- chen Auskreuzungen kommt, dann kann hier ein Stück nisse!) biologische Vielfalt verloren gehen. Dabei sollte der Schutz der biologischen Vielfalt angesichts des Klima- Das ist so, als ob man das Angeln in Teichen verbieten wandels Priorität haben. würde, aus denen das Wasser gerade abgelassen wurde. Das ist eine Symbolhandlung. Damit hat Bundesminister (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Seehofer wieder einmal seine Möglichkeiten verstärkt, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) CSU-Vorsitzender in Bayern zu werden. Er handelt ver- Auch für die Gentechnologie ist der Schutz der biologi- (D) antwortungslos gegenüber den Menschen in diesem schen Vielfalt von grundlegender Bedeutung; denn sie Lande. Er sollte sich einmal durchlesen, was die DFG ist das Reservoir, aus dem die Gentechnik schöpft. Wer über die Abwanderung von Wissenschaftlern schreibt! den Verlust von Arten riskiert, beschneidet auch die Er sollte sich einmal durchlesen, welche Beschäfti- Möglichkeiten der Gentechnik. gungspotenziale der Ausbau der Biotechnologie in Deutschland hat: 600 000 Arbeitsplätze! Er sollte sich Hinzu kommt, dass sich in Bezug auf die Weizenver- einmal anschauen, was er mit seinem Handeln an Verun- suche die Frage stellt, ob dieses Weizenkonstrukt noch sicherung der Menschen in diesem Lande verursacht! Er zeitgemäß ist, finden sich hier doch alle Eigenschaften wird seiner Aufgabe als Minister nicht gerecht. versammelt, die die Grüne Gentechnik in Verruf ge- bracht haben: zwei Antibiotikaresistenzgene – nach EU- Ich danke für die Aufmerksamkeit. Vorgaben soll darauf verzichtet werden, um Resistenzen zu vermeiden – sowie eine Resistenz gegen das Totalher- (Beifall bei der FDP) bizid Basta. Insgesamt soll sich dieser gentechnisch ver- änderte Weizen durch einen erhöhten Proteingehalt aus- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zeichnen, alles in allem eine Entwicklung, deren Vorteile Nächste Rednerin ist die Kollegin Elvira Drobinski- zweifelhaft, zumindest aber schwer vermittelbar sind. Weiß, SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Weizen als Nahrungsmittelpflanze Nummer eins ist CDU/CSU) besonders emotional besetzt. Gentechnisch veränderter Weizen ist darüber hinaus ein großes wirtschaftliches Ri- Elvira Drobinski-Weiß (SPD): siko für die Landwirte und die Lebensmittelproduzenten. In einem Beitrag des Mitteldeutschen Rundfunks vom Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und 27. Oktober 2006 zu diesem Thema äußerte ein konven- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Genehmi- tionell arbeitender Müller, dass er beim Einkauf ein Ge- gung der Freisetzungsversuche in Gatersleben auf dem biet, von dem er wisse, dass dort GVO-Weizen angebaut Gelände des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und werde, meiden würde – und er wisse, dass seine Kolle- Kulturpflanzenforschung, IPK, hat schon im letzten Jahr gen ebenso verfahren würden. hohe Wellen geschlagen. Tausende uralter Sorten wer- den in der dortigen Genbank bewahrt und zur Erhaltung Wir werden dieses Thema, wie ich bereits sagte, im immer wieder im Freiland angebaut. Ausschuss ausführlich diskutieren. In diesem Zusam- 9940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Elvira Drobinski-Weiß (A) menhang liegt uns darüber hinaus ein Antrag auf ein form. Sie erreichen damit auch gar nicht das angestrebte (C) Einfuhrverbot für Produkte aus dem gentechnisch verän- Ziel. Es lohnt sich aber, darüber nachzudenken, warum derten Mais MON 863 vor. Menschen zu solchen Protestformen greifen. Das sage ich ausdrücklich vor dem Hintergrund meiner ostdeut- Auch wir haben uns mehrfach für Transparenz bei schen Biografie. den Sicherheitsprüfungen, eine Veröffentlichung der Studien und die stärkere Ausrichtung auf Langzeit- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Na, also!) beobachtungen eingesetzt; denn nur mit Transparenz kann man Vertrauen schaffen. Nachher spricht ja noch Ich habe gelernt, nicht nur über Protestformen nachzu- der Kollege Röspel, der dazu auch noch etwas sagen denken, sondern auch über Protestgründe. Die FDP setzt wird. mit ihrer Definition von Forschungsfreiheit die Existen- zen Dritter aufs Spiel. Des Weiteren liegt uns die Beschlussempfehlung un- seres Ausschusses zum FDP-Antrag zu den Feldzerstö- Wer fordert, dass Verschleppungen aus Genfeldern rungen vor, mit dem wir uns auch an dieser Stelle mehr- bis zu einem Grenzwert von 0,9 Prozent toleriert werden fach ausführlich befasst haben. müssen, der steht eben nicht auf der Seite der Verbrau- cherinnen und Verbraucher (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: An dieser Stelle einmal!) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Solche Zerstörungen sind Straftaten – das wurde heute Abend auch von meinen Vorrednern und Vorrednerinnen und auch nicht an der Seite der Landwirte, die keine gesagt –, die auch wir ganz entschieden verurteilen. Agro-Gentechnik anwenden wollen. Uns ist der Schutz ihrer Rechte deutlich wichtiger als Monsanto, Pioneer Den Antrag der FDP lehnen wir ab, und Co. (Ernst Burgbacher [FDP]: Weil er von der FDP kommt!) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- da sich ein Zusammenhang – wie immer wieder gerne NEN]) behauptet wird – zwischen Feldzerstörungen und dem öffentlichen Standortregister nicht herleiten lässt. Auch der angebliche Zusammenhang zwischen der Feldbefreiung und dem öffentlichen Standortregister ist Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. nicht belegbar. Die Linke lehnt Zugangsbeschränkungen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie zum Standortregister ab, weil der von der FDP völlig zu (B) der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE Recht geforderte öffentliche Dialog zu der Problematik (D) GRÜNEN]) nur dann stattfinden kann, wenn es Transparenz gibt. Aus unserer Sicht geht die FDP mit ihrem Antrag daher in die falsche Richtung. Deshalb wird er abgelehnt. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort der Kollegin Dr. Kirsten (Beifall bei der LINKEN) Tackmann, Fraktion Die Linke. Zum zweiten Antrag. Über 30 000 Menschen haben (Beifall bei der LINKEN) gegen die Freisetzung von genverändertem Weizen in Gatersleben Einspruch erhoben. Wer schon einmal Un- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): terschriften gesammelt hat, der weiß, wie gigantisch Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und diese Zahl an Unterschriften ist. Gebracht hat es bis jetzt Kollegen! Liebe Gäste! Die Skepsis gegenüber und die allerdings nichts. Die nicht auszuschließende Gefähr- Ablehnung der Agro-Gentechnik sind nach wie vor dung der 150 000 alten Kultursorten in der dortigen groß – nicht hier im Bundestag, aber draußen in der rich- Genbank wird ignoriert. Der Gipfel der Absurdität ist: tigen Welt. Das BVL untersagt nicht den Freisetzungsversuch mit gentechnisch verändertem Weizen und gentechnisch ver- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ist der Bundes- änderten Erbsen, sondern es empfiehlt die Verlagerung tag nicht in der richtigen Welt?) der Genbank. Dies wurde durch eine Studie der GfK Marktfor- Ich habe der Gaterslebener Institutsleitung letzte Wo- schung vom Dezember 2006 erneut belegt. 74,9 Prozent che einen Brief geschrieben und eindringlich die Frage von 1 023 Befragten lehnen die Entwicklung und Ein- gestellt: Was ist, wenn Sie das Verschleppungsrisiko un- führung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln ab. terschätzen? Die Antwort lautete: Das kann nicht passie- Nur 6,7 Prozent befürworten sie, und 18,3 Prozent ist ren. – Es gibt aber kein Null-Risiko. Es gibt keine Null- das Thema egal. Dieses Votum können wir nicht ignorie- Irrtumswahrscheinlichkeit. Warum sollten wir also un- ren. Möglicherweise ist das ja auch ein Votum gegen nötige Sicherheitsrisiken für diese Genbank eingehen? Zwangsbeglückung. Ich bleibe dabei: Die Vernunft gebietet die sofortige Be- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Zwangsbeglü- endigung und Aussetzung dieser Freisetzungsversuche. ckung?) Null-Risiko für die Genbank! Zunächst zu den Anträgen der FDP. Wir halten die so- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- genannten Feldbefreiungen für keine geeignete Protest- NIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9941

Dr. Kirsten Tackmann (A) Antrag drei. Die Schlagzeile „Rattengift im Popcorn“ Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) ist sicherlich daneben. Worum geht es aber? Französi- Ja. sche Wissenschaftler – das wurde schon genannt – haben bei einer Neuauswertung der Daten festgestellt – den Zu- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): gang zu diesen Daten mussten sie sich übrigens gericht- lich erstreiten –, dass durch den gentechnisch veränder- Liebe Kollegin Höfken, wir haben in der letzten Aus- ten Mais MON 863 bei Versuchstieren Schädigungen schusssitzung am Mittwoch das Thema „Bescheid des von Leber und Nieren verursacht wurden. Die Verände- BVL“ beraten, und wir haben beide unseren Unmut da- rungen blieben zwar innerhalb der biologischen Variabi- rüber geäußert, dass der Bescheid erst Ende April ergan- lität, aber vielleicht lag das ja auch daran, dass nur drei gen ist, obwohl dem Bundesministerium bereits seit Ja- Monate lang getestet wurde. Es ist jedoch ein statistisch nuar bekannt war, auf welchen Feldern gentechnisch signifikanter, also nicht zufälliger Unterschied zwischen veränderter Mais ausgesät werden würde. Gleichwohl den Versuchs- und den Kontrollgruppen. Beim Zulas- hat das Ministerium bis Ende April damit gewartet, den sungsverfahren für MON 863 wurde dieser Befund igno- Bescheid zu erlassen. riert. Man kann nun trefflich darüber diskutieren, ob das Sie haben sicherlich auch gehört, dass ich dem Staats- Ergebnis biologisch relevant ist, aber ignorieren darf sekretär Dr. Müller die Frage gestellt habe, welche man es nicht. neuen Erkenntnisse diesen Bescheid rechtfertigen. Dr. Müller konnte die Frage aber nicht beantworten. Er (Beifall bei der LINKEN) hat uns nicht bestätigt, dass es neue Erkenntnisse gibt. Was auch immer man von dieser Studie hält: Die Es gibt offenbar keine neuen Erkenntnisse. Haben Sie Bundesregierung muss aus unserer Sicht nach dem Vor- das nicht gehört, oder wie muss ich Ihre Einlassung zu sorgegrundsatz handeln und die neuen Hinweise prü- diesem Thema verstehen? fen. Bis zur Neubewertung muss aus unserer Sicht nach Art. 23 der Freisetzungsrichtlinie – der sogenannten Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schutzklausel – die Inverkehrbringung ruhen. MON 863 Ich danke Ihnen für die Frage. Wir sind uns durchaus darf bis zur Klärung der Fragen nicht mehr als Futter- einig darin, dass die Anweisung und das Verbot des wei- oder Lebensmittel genutzt werden. Das ist das Mindeste, teren Verkaufs viel zu spät erfolgt sind. Ich habe einen was die Verbraucherinnen und Verbraucher von uns er- ganzen Ordner mit Argumenten gegen MON 810 gefüllt, warten können. den ich auch in den Ausschuss mitgebracht hatte, und Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. darauf hingewiesen, dass wir als Grüne drei Gutachten erstellt haben, die die gesundheitlichen, ökologischen (B) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- und rechtlichen Bedenken gegen diese Zulassung noch (D) NIS 90/DIE GRÜNEN) einmal begründet haben. Das heißt, der Minister hätte ebenso wie die Landesbehörden, die ich alle einzeln an- geschrieben habe, sehr viel früher handeln müssen. Da Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: das Ganze aber inzwischen auch im Amtsblatt veröffent- Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken, licht wurde, kann ich es Ihnen noch weiter vorlesen. Bündnis 90/Die Grünen. In der Begründung heißt es: Erst mit jüngeren Unter- suchungen wurde deutlich, dass und in welchem Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ausmaß das Bt-Toxin über die Pflanze in höhere Nah- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und rungskettenglieder gelangt. Die Exposition von Nicht- Kollegen! Was die Vorwürfe des Kollegen Lehmer und zielorganismen höherer Nahrungskettenglieder usw. mit der Kollegin Happach-Kasan angeht, frage ich mich, wo dem Bt-Toxin ist damit belegt. sie eigentlich leben. In den Anweisungen des Bundes- ministers Seehofer und des in seinen Zuständigkeitsbe- Weiter heißt es zu den Risiken für den Boden: Bei Bt- reich fallenden Bundesamtes für Verbraucherschutz und Pflanzen sind die Wirkung und die Verweildauer des in Lebensmittelsicherheit zu MON 810, dem Bt-Mais, Pflanzen gebildeten Toxins im Boden derzeit ungeklärt, heißt es: Da berechtigter Grund zu der Annahme besteht, sie bergen jedoch ein relativ hohes Potenzial für ökologi- dass der gentechnisch veränderte Mais eine Gefahr für sche Folgen. die menschliche Gesundheit oder Umwelt darstellt, wird Es werden also in vielerlei Hinsicht auf die Wirkun- die sofortige Vollziehung des Bescheides angeordnet. – gen des verwendeten Bt-Toxins als Pestizid hingewiesen Dabei geht es um das Verbot des Verkaufs. Heißt das, sowie eine Reihe von Gefahren aufgezeigt. Das hat dazu dass Sie Herrn Seehofer, der Ihrer Fraktion angehört, der geführt, dass mit sofortiger Wirkung der weitere Verkauf Ideologie beschuldigen oder gar Schlimmeres? Das dieses Maises verboten wurde. – Jetzt bin ich mit der Be- Gleiche gilt dann vielleicht auch für das Verwaltungsge- antwortung Ihrer Zwischenfrage fertig, Frau Happach- richt Augsburg. Kasan.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Ich habe die Nachfrage, aus welchen Jahren diese neuen Frau Kollegin, entschuldigen Sie, dass ich Sie unter- Untersuchungen stammen!) breche. Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Happach-Kasan? – Das stand nicht im Amtsblatt. 9942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: einen sofortigen Stopp der Freisetzungen in der Nähe (C) Frau Kollegin, Nachfragen lässt nach wie vor die Prä- dieser Genbank zu erlassen. sidentin zu oder nicht zu. Es tut mir leid. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich werde gerne nachfragen, Frau Happach-Kasan, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wie das zu bewerten ist. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege René Auf jeden Fall ist eines klar geworden: Der Minister Röspel, SPD-Fraktion. selbst hat mit Verweis auf Art. 23 der Freisetzungsricht- (Beifall bei der SPD) linie eine nationale Schutzmaßnahme ergriffen, ich denke: aus gutem Grund, wie Sie sicherlich bestätigen werden. Das ist eine Erkenntnis, die zu Konsequenzen René Röspel (SPD): führen muss; denn es kann von uns nicht im Ernst erwar- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und tet werden, dass wir das angebaute Zeug tatsächlich in Herren! Frau Happach-Kasan, ich bin froh – darum habe unsere Nahrungskette gelangen lassen. Nicht nur der ich ausdrücklich gebeten –, heute reden zu dürfen; denn Verkauf muss verboten werden. Vielmehr brauchen wir sonst hätte ich mein Gekrakel ordentlich aufschreiben ein Moratorium für die weitere Verwendung von sol- und dann zu Protokoll geben müssen. Das wäre viel chen gentechnisch veränderten Maisprodukten oder gen- mehr Aufwand gewesen und hätte sich im Hinblick auf technisch veränderten Pflanzen insgesamt. Genauso ist den vorliegenden FDP-Antrag, über den wir hier min- es nötig, den weiteren Anbau und die Verwendung der destens zum fünften Mal zu diskutieren haben, nicht daraus entstehenden Produkte sofort zu stoppen. gelohnt. Ich gebe gern wieder zu Protokoll, dass die SPD-Bundestagsfraktion natürlich die Beteiligung an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Straftaten ablehnt. Das ist für uns aber eine Selbstver- ständlichkeit. Sie glauben doch nicht wirklich, dass man das noch an Tiere verfüttern kann oder in die Nahrungskette gelan- Der eine Antrag der Grünen bezieht sich auf das Insti- gen lassen darf! tut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung. Das ist unter anderem eine Genbank, in der über Das Augsburger Verwaltungsgericht hat gesagt – es 120 000 oder 130 000 Saatgutarten und -varietäten auf- ist Ihrer Meinung nach vielleicht ebenfalls von ideologi- bewahrt werden. Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß schen Sichtweisen umschattet –, es könne nicht sein, aus meiner Fraktion hat zu Recht gesagt: Es ist ein kultu- (B) dass die Produkte der Landwirtschaft kontaminiert wer- relles und landwirtschaftliches Gedächtnis und Ver- (D) den, und hat auf Antrag eines Imkers per Eilentscheid mächtnis. Es ist ein Erbe alter Arten und Sorten. Es ist effektive Schutzmaßnahmen verlangt und sehr strenge von großer Bedeutung, diese Gen- bzw. Saatgutbank zu Auflagen gemacht; das ist richtig. Das ist eine wichtige erhalten, weil sie noch heute ein Lieferant für Saatgut ist. Entscheidung im Hinblick auf den Schutz der gentech- Das ist vor allen Dingen eine Zukunftschance. nikfreien Erzeugung. Wenn wir irgendwann, vielleicht in einigen Jahren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine alte Art, die wir schon längst vergessen haben – ein- geräumt in die Schublade dieser Genbank, dieser Saat- Minister Seehofer hätte sich also eine Menge Ärger er- gutbank –, doch wieder entdecken, weil sie Eigenschaf- sparen können, wenn er vorausschauend gehandelt hätte ten hat, die wir vorher nicht gekannt oder nicht genutzt und unseren Forderungen frühzeitig nachgekommen haben, dann ziehen wir die Schublade auf und wir kön- wäre. nen dieses Saatgut wieder verwenden. Diese Erkenntnisse müssen dreimal mehr gelten, Voraussetzung für eine funktionierende Genbank, für wenn es um MON 863 geht, wozu wir einen Antrag vor- dieses Gedächtnis und Vermächtnis, ist eben, dass die gelegt haben; denn MON 863 ist nicht nur im Hinblick Saatgutarten rein vermehrt werden können. Wenn gen- auf die ökologischen und die gesundheitlichen Risiken technisch veränderte Pflanzen, sogar gleicher Sorten und ähnlich wie MON 810 zu bewerten. Darüber hinaus ent- Arten, in unmittelbarer Nähe und auf den Flächen des hält MON 863 die bereits erwähnten Antibiotika, die IPK angepflanzt werden, halte ich das ausdrücklich für laut EU-Beschlüssen gar nicht mehr verwendet werden falsch. Das werden wir im Ausschuss noch einmal inte- sollen. Deswegen verlangen wir einen sofortigen Stopp ressiert diskutieren. des Importes dieses Maises, um zu verhindern, dass er in unsere Futter- und Lebensmittelkette gelangt. Bei dem zweiten Antrag der Grünen geht es um einen gentechnisch veränderten Mais, MON 863, der ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Insektengift produziert. Er ist im Jahr 2002 in das Zulas- sungsverfahren gegangen, und zwar mit einer 1 000-sei- Ein letztes Wort zu Gatersleben: Ich kann meinen tigen Stellungnahme des Herstellers über Fütterungs- Vorrednern von SPD und Linken nur zustimmen. Es studien an Ratten. Er ist mittlerweile als Futter und kann nicht sein, dass wir ein Kulturgut wie die Genbank Lebensmittel zugelassen. in Gatersleben gefährden, die ihre Sorten weiter vermeh- ren muss. Angesichts der Erkenntnisse über den Bt-Mais Im Jahr 2003 gab es die erste Kritik an dieser Zulas- MON 810 ist es das Gebot der Stunde, zu handeln und sung. Im Jahr 2004 hat Greenpeace – man kann dazu ste- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9943

René Röspel (A) hen, wie man will – die Herausgabe dieser Studie ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) langt. Monsanto als Hersteller hat dagegen geklagt und DIE GRÜNEN) verloren. Im Jahr 2007 kam dann eine weitere Studie. Séralini Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und andere haben sich diese 1 000 Seiten mit Daten zu Ich schließe die Aussprache. Gemüte geführt und sie anders ausgewertet. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Wenn man in diese Studie hineinschaut – veröffent- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- licht in einem wissenschaftlichen Organ über Gutachter- cherschutz zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem systeme –, dann stellt man Differenzen fest. Es sind gen- Titel „Eigentumsrechte und Forschungsfreiheit schützen – technisch veränderte und gentechnisch nicht veränderte Entschiedenes Vorgehen gegen Zerstörungen von Wert- Maiskörner an Ratten verfüttert worden, die sogenannte prüfungs- und Sortenversuchen sowie von Feldern mit Kontrolle. Es gibt Veränderungen: bei den Leberwerten, gentechnisch veränderten Pflanzen“. bei den Triglyceriden, um die 40 Prozent, bei den Nie- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- renwerten um 35 Prozent, bei Eosinophilen und Retiko- lung auf Drucksache 16/4474, den Antrag der Fraktion lozyten, bestimmten Zellarten des Knochenmarks, um der FDP auf Drucksache 16/2835 abzulehnen. Wer 50 Prozent. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Wenn Ihr Arzt so eine Abweichung von den Norm- dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschluss- werten feststellen würde, würde er Sie ganz schnell zu empfehlung mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, sich rufen. Nun sind das Tierversuche. Nun sind das der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU zweifelsohne ganz bestimmte Versuche. Dennoch wird gegen die Stimmen der FDP angenommen worden. man sie interpretieren können. Das Bundesinstitut für Tagesordnungspunkte 14 b und c: Interfraktionell wird Risikobewertung bleibt ja bei seiner Einschätzung, dass die Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 16/4904 es eben nicht aus der Reihe schlagen würde. Trotzdem und 16/4905 an die in der Tagesordnung aufgeführten sage ich: So einfach vom Tisch wischen – es gibt Indi- Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- zien darüber, dass man sich wenigstens Gedanken ma- den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- chen muss, ob wir den richtigen Weg gehen –, das kann schlossen. man auch nicht machen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Je länger ich mich damit beschäftigt habe – auch mit den Möglichkeiten und den Verfahrensweisen, wie die Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- (B) Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen geprüft regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten (D) wird –, desto größer sind meine Zweifel geworden. Ich Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die stelle nämlich fest, dass nicht wie üblich wissenschaft- Deutsche Bundesbank lich standardisierte Methoden angewandt werden, son- – Drucksache 16/4971 – dern dass die Kontrollverfahren durchaus zweifelhaft sind, dass die Auswertungsmöglichkeiten sehr breit sind Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- – das zeigt die Studie – und dass eine ganze Reihe von schusses (7. Ausschuss) Parametern und Kriterien in diesem Zusammenhang im- mer wieder auftauchen, die ich wissenschaftlich nicht – Drucksache 16/5286 – für haltbar halte. Berichterstattung: (Zuruf von der FDP) Abgeordneter Leo Dautzenberg Morgen wird Greenpeace eine Studie über eine an- Die Kollegen Leo Dautzenberg, Jörg-Otto Spiller, dere gentechnisch veränderte Pflanze, MON 810, veröf- Frank Scheffler, Dr. Herbert Schui, Dr. Gerhard Schick fentlichen, bei der auf sehr interessante Weise die unter- sowie die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara schiedliche Konzentration dieses Insektengiftes und die Hendricks haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Ich teilweise mangelhafte Beurteilung dieser Pflanzen deut- weise vor der Abstimmung darauf hin, dass der Kollege lich werden wird oder zumindest interpretiert werden Hans Eichel eine persönliche Erklärung gemäß § 31 der kann. Geschäftsordnung abgegeben hat. Ich habe in meiner letzten Rede – damit komme ich Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- zum Schluss, weil die Zeit drängt – dargestellt, dass es desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- sehr viele Gutachten mit Pro und Kontra zur Gentechnik rung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank. Der gibt und dass ich die Lösung noch nicht gefunden habe. Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Aus meiner Sicht sind aber die Zweifel größer gewor- lung auf Drucksache 16/5286, den Gesetzentwurf der den. Wenn es diese Zweifel gibt, dann ist es – es sind Bundesregierung auf Drucksache 16/4971 anzunehmen. eben sehr wichtige Entscheidungen – richtig, dass man Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen ihnen nachgeht und versucht, sie auszuräumen oder zu wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- bestätigen und Konsequenzen zu ziehen. haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- ratung mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, werden das in den SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltungen der Antragsberatungen und darüber hinaus genau prüfen. Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. 9944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Dritte Beratung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: (C) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- zur Änderung medizinprodukterechtlicher wurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stim- und anderer Vorschriften menergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. – Drucksache 16/4455 – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 c auf: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja ses für Gesundheit (14. Ausschuss) Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN – Drucksache 16/5280 – Bildungszugang von Kindern und Jugend- Berichterstattung: lichen stärken – Finanzierung von Schüler- Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer und Schülerinnenbeförderung im SGB II er- Die Kollegen Jens Spahn, Daniel Bahr, Frank Spieth möglichen und die Kolleginnen Dr. Marlies Volkmer, Elisabeth – Drucksache 16/4486 – Scharfenberg sowie der Parlamentarische Staatssekretär Rolf Schwanitz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung medizinprodukterechtlicher und anderer Vorschriften. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Be- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia schlussempfehlung auf Drucksache 16/5280, den Gesetz- Hirsch, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4455 in weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, KEN die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- Kommerzialisierungstendenzen im Schul- men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- wesen stoppen – Bildungsteilhabe für alle Kin- gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in der und Jugendlichen sichern zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, der CDU/ CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des – Drucksache 16/5139 – Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke (B) (D) Überweisungsvorschlag: angenommen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Dritte Beratung Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Kurth, Dr. Thea Dückert, Irmingard Schewe- wurf ist damit mit demselben Stimmenergebnis wie in Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der zweiten Beratung auch in dritter Beratung angenom- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN men. Teilhabechancen für Kinder und Jugendliche Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: aus armen Haushalten fördern Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 16/5253 – richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Überweisungsvorschlag: Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) der Abgeordneten Peter Hettlich, Winfried Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abge- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Die Kollegen Karl Schiewerling, Wolfgang Grotthaus, Markus Kurth sowie die Kolleginnen Gesine Multhaupt, Energieeinsparverordnung zügig verabschie- Miriam Gruß und Cornelia Hirsch haben ihre Reden zu den – Energieausweis als Bedarfsausweis ein- Protokoll gegeben. führen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf – Drucksachen 16/4787, 16/5235 – den Drucksachen 16/4486 und 16/5139 an die in der Ta- Berichterstattung: gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Abgeordneter Rainer Fornahl Die Vorlage auf Drucksache 16/5253 zu Tagesordnungs- punkt 16 c soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage Die Kollegen , Rainer Fornahl, auf Drucksache 16/4486 überwiesen werden. Sind Sie Joachim Günther, Hans-Kurt Hill, Peter Hettlich sowie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth haben Überweisung so beschlossen. ihre Reden zu Protokoll gegeben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9945

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Innenausschuss (C) schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Verteidigungsausschuss Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe dem Titel „Energieeinsparverordnung zügig verabschie- Die Kollegen Norbert Geis, Dr. Carl-Christian den – Energieausweis als Bedarfsausweis einführen“. Dressel, Jörg van Essen, Jan Korte und Volker Beck Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung (Köln) haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. auf Drucksache 16/5235, den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4787 ab- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – wurfs auf Drucksache 16/3139 an die in der Tagesord- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie empfehlung ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/ damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des Überweisung so beschlossen. Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: angenommen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei- Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der NISSES 90/DIE GRÜNEN Aufwendungen für die Prozesskostenhilfe Weg vom Öl im Kunststoffbereich – Chance (Prozesskostenhilfebegrenzungsgesetz – PKH- der Novelle der Verpackungsverordnung nut- BegrenzG) zen und mit Biokunststoffen echte Kreisläufe – Drucksache 16/1994 – schließen Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/3140 – Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Die Kollegen Dirk Manzewski, Wolfgang Nešković, Verbraucherschutz Jerzy Montag sowie der Parlamentarische Staatssekretär Die Kollegen Michael Brand, Gerd Bollmann, Horst Alfred Hartenbach und die Kollegin Mechthild Meierhofer sowie die Kolleginnen Eva Bulling-Schröter Dyckmans sowie die Justizministerin Niedersachsens, und Sylvia Kotting-Uhl haben ihre Reden zu Protokoll Elisabeth Heister-Neumann, haben ihre Reden zu Proto- (B) gegeben. (D) koll gegeben. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf wurfs auf Drucksache 16/1994 an die in der Tagesord- Drucksache 16/3140 an die in der Tagesordnung aufge- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Dann ist die Überweisung so beschlossen. so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiteren Abgeordneten Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Ent- Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Zuschau- wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des ern auf der Tribüne noch einen schönen Abend. Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialisti- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- scher Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege destages auf morgen, Freitag, den 11. Mai 2007, 9 Uhr, (2. NS-AufhGÄndG) ein. – Drucksache 16/3139 – Die Sitzung ist geschlossen. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) (Schluss: 21.32 Uhr)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9947

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Welches besondere außen- und sicherheitspolitische Inte- resse gemäß den politischen Grundsätzen der Bundesregie- Liste der entschuldigten Abgeordneten rung für den Export von Kriegswaffen liegt für einen Export deutscher U-Boote und dessen Absicherung durch Bürgschaf- ten aus Sicht der Bundesregierung vor? entschuldigt bis Über derartige Rüstungsexportvorhaben befindet der Abgeordnete(r) einschließlich Bundessicherheitsrat, der in geheimer Sitzung tagt. Von daher ist es nicht möglich, zu den einzelnen Abwägungs- Beckmeyer, Uwe SPD 10.05.2007 kriterien, die dem jeweiligen Einzelfall zugrunde liegen, Auskunft zu geben. Diese Abwägung findet jeweils auf Bismarck, Carl-Eduard CDU/CSU 10.05.2007 der Grundlage der Politischen Grundsätze der Bundes- von regierung für Rüstungsexporte statt und kann – wie dies auch bereits in der Vergangenheit wiederholt der Fall Dağdelen, Sevim DIE LINKE 10.05.2007 war – zur Genehmigung des Exports von U-Booten in Länder außerhalb der EU und der NATO führen. Export- Gabriel, Sigmar SPD 10.05.2007 kreditgarantien des Bundes können nur im Rahmen der Gloser, Günter SPD 10.05.2007 im Außenwirtschaftsrecht geltenden rechtlichen Vor- schriften übernommen werden. Für Exportkreditgaran- Griefahn, Monika SPD 10.05.2007 tien im Zusammenhang mit dem Export von Kriegswaf- fen und sonstigen Rüstungsgütern gelten die Politischen Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 10.05.2007 Grundsätze der Bundesregierung vom 19. Januar 2000 und die Entscheidungen des Bundessicherheitsrates. Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 10.05.2007

Höger, Inge DIE LINKE 10.05.2007 Anlage 3 Kasparick, Ulrich SPD 10.05.2007 Antwort Knoche, Monika DIE LINKE 10.05.2007 des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Frage (B) des Abgeordneten Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE (D) Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ 10.05.2007 GRÜNEN) (96. Sitzung, Drucksache 16/5213, Frage 13): DIE GRÜNEN Wie beurteilt die Bundesregierung unter Berücksichtigung der fortgeschrittenen Bestrebungen Pakistans, den nuklearfä- Lafontaine, Oskar DIE LINKE 10.05.2007 higen Marschflugkörper „Babur“ auch in U-Boote zu integrie- ren, die Auswirkungen auf die regionale Sicherheitslage? Leibrecht, Harald FDP 10.05.2007 Die Bundesregierung genehmigt – auch gemäß ihren Merten, Ulrike SPD 10.05.2007 Verpflichtungen aus den entsprechenden Nichtverbrei- tungsregimen – keine Exporte, die die Nuklearwaffen- Dr. Miersch, Matthias SPD 10.05.2007 oder Trägertechnologiefähigkeiten Pakistans stärken könnten. Der Bundesregierung liegen im Übrigen auch Raidel, Hans CDU/CSU 10.05.2007 keine Erkenntnisse über „fortgeschrittene Bestrebungen“ Pakistans zur Integration des Marschflugkörpers Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 10.05.2007 „Babur“ in U-Boote vor. Schummer, Uwe CDU/CSU 10.05.2007

Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/ 10.05.2007 Anlage 4 DIE GRÜNEN Erklärung nach § 31 GO Dr. Troost, Axel DIE LINKE 10.05.2007 des Abgeordneten Hans Eichel (SPD) zur Abstimmung über den Entwurf eines Achten Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 10.05.2007 Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank (Tagesordnungspunkt 15) Dem Regierungsentwurf eines Achten Gesetzes zur Anlage 2 Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank Antwort stimme ich nicht zu, weil dem Bundesrat nunmehr zu- sätzlich das Recht eingeräumt werden soll, einen Vor- des Parl. Staatssekretärs Hartmut Schauerte auf die Frage schlag für die Besetzung des Vizepräsidenten der Deut- des Abgeordneten Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE schen Bundesbank zu machen. Diese Position wird nach GRÜNEN) (96. Sitzung, Drucksache 16/5213, Frage 12): bisheriger Rechtslage vom Bund besetzt. 9948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Es gibt seit der Eingliederung der Bundesbank in das An dem Bestellungsverfahren für den Bundesbank- (C) System der europäischen Zentralbanken keinen plau- vorstand ändert sich mit dem Achten Änderungsgesetz siblen Grund mehr für eine Mitbestimmung der Länder zunächst einmal nichts. Das heißt, es bleibt kurz- und bei der Besetzung des Vorstandes der Bundesbank. Da- mittelfristig beim Vorschlagsrecht von Bundesregierung her geht die jetzt angestrebte Gesetzesänderung in die und Bundesrat. Dieser Pluralismus der Vorschlagsinstan- falsche Richtung. Sie schwächt die Position der Bundes- zen hat sich in der Vergangenheit bewährt, insbesondere bank national und international. weil dadurch die Unabhängigkeit der Bundesbank zusätzlich gestärkt wurde. Gerade in Zeiten, als die Bun- desbank noch die geld- und währungspolitische Souve- Anlage 5 ränität innehatte, war es wichtig, politische Einfluss- nahme auf Zinsentscheidungen zu unterbinden. Zu Protokoll gegeben Reden In den letzten Tagen hat das jüngste Bestellungsver- zur Beratung des Entwurfs eines Achten Geset- fahren für den Bundesbankvorstand viel öffentliche Auf- zes zur Änderung des Gesetzes über die Deut- merksamkeit erweckt. Ich möchte diese Diskussion, die sche Bundesbank (Tagesordnungspunkt 15) ich im Übrigen für alle Beteiligten etwas unrühmlich fand, nicht weiter kommentieren. Nur so viel: Grund- sätzlich darf ich doch davon ausgehen, dass Ministerprä- Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Mit Spannung ha- sident Oettinger mit Unterstützung des Bundesrates eine ben Bankvolkswirte heute die Sitzung des EZB-Rates in kompetente Person mit entsprechenden Qualifikationen Dublin erwartet. Die große Frage: Wird EZB-Präsident vorgeschlagen hat. Jean-Claude Trichet – wie von ihnen prognostiziert – den Weg für eine weitere geldpolitische Straffung eb- Abseits und unabhängig von dieser Diskussion ist es nen? Er hat ihn geebnet. Eine Zinserhöhung von allerdings mittelfristig richtig, die Frage zu stellen, ob 3,75 Prozent auf 4 Prozent im Juni ist damit wahrschein- das derzeitige Bestellungsverfahren auch künftig noch lich. angemessen ist. Berücksichtigt man den verkleinerten Vorstand sowie die Tatsache, dass die ehemaligen Lan- Seit nunmehr acht Jahren ist die EZB – nicht mehr die deszentralbanken mittlerweile weisungsabhängige Deutsche Bundesbank – der geld- und währungspoliti- Hauptverwaltungen sind, könnte man da zu unterschied- sche Souverän, auf den einmal monatlich alle Augen und lichen Ergebnissen kommen. Die Frage des künftigen Ohren gerichtet sind. Bestellungsverfahrens müssen wir aber jetzt nicht ab- schließend klären. Was für uns mittlerweile gängige Praxis ist, bedeutete (B) für die Institution Bundesbank über Jahre hinweg einen Fünf Jahre nach Verabschiedung des Siebten Bundes- (D) herausfordernden Veränderungsprozess: Leitungs-, Ent- bankänderungsgesetzes ist es mir vor allem wichtig, zu scheidungs- und Personalstrukturen mussten reformiert würdigen, dass die Bundesbank die durch das Gesetz in und an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst Gang gesetzte Organisationsreform mittlerweile erfolg- werden. reich bewältigt hat und weiter auf veränderte Anforde- rungen reagiert. Gerade die Neuorganisation der Haupt- Mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Gesetzes verwaltungen – ehemals Landeszentralbanken – und des über die Deutsche Bundesbank haben wir im Jahr 2002 Filialnetzes war für die Bundesbank eine große Heraus- den rechtlichen Rahmen für eine umfassende Strukturre- forderung. Diese neue Struktur trägt heute wesentlich zu form der Deutschen Bundesbank gesteckt. Mit dem schlankeren und effizienteren Organisationsabläufen in heute zur Verabschiedung anstehenden Achten Ände- der Bundesbank bei. rungsgesetz nehmen wir eine weitere sinnvolle Anpas- sung vor: Der Vorstand der Bundesbank wird spätestens Die Übertragung der geld- und währungspolitischen zum 30. April 2009 von derzeit acht auf sechs Mitglieder Souveränität von der Bundesbank auf die EZB ist schon verkleinert. seit geraumer Zeit – für die Öffentlichkeit sichtbar – abge- schlossen. Weniger transparent und bekannt sind die Die mittelfristige Verkleinerung des Bundesbankvor- wichtigen Aufgaben, die die Bundesbank weiterhin – ins- standes ist aus zwei Gründen zu unterstützen: Zum einen besondere für die Stabilität des deutschen Finanzplatzes – bin ich davon überzeugt, dass – angesichts der neuen innehat. Aufgaben der Bundesbank – eine kleinere Leitungs- Die „neue“ Deutsche Bundesbank befindet sich in ei- ebene noch effizienter arbeiten kann. Zum anderen ist ner Doppelrolle: Sie ist zum einen eine unabhängige In- die Verkleinerung des Bundesbankvorstandes ein wichti- stitution Deutschlands. Zum anderen ist sie integraler ges Signal an die Mitarbeiter. Die Mitarbeiter mussten Bestandteil des einheitlichen europäischen Zentralban- bei den Umstrukturierungsmaßnahmen in den letzten kensystems. Jahren ein großes Maß an Flexibilität unter Beweis stel- len und Gehaltskürzungen in Kauf nehmen. Erst im letz- Im Fokus der strategischen Neuausrichtung der Deut- ten Jahr haben wir im Haushaltsbegleitgesetz 2006 eine schen Bundesbank stehen fünf Geschäftsfelder: Preis- Kürzung der Bundesbankzulage vereinbart. Durch die stabilität im Euroraum, Stabilität des Finanz- und Verkleinerung des Vorstandes leistet nun auch die Bun- Währungssystems, Sicherheit und Effizienz von Zah- desbankspitze einen wichtigen Sparbeitrag. Das ist mehr lungsverkehrs- und Abwicklungssystemen, effiziente als nur Symbolik. Bargeldversorgung und -infrastruktur und Funktionsfä- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9949

(A) higkeit der deutschen Kredit- und Finanzdienstleistungs- ein fairer und sachkundiger Partner. Besonders möchte (C) institute. ich auf seine Arbeit bei der Ausarbeitung der Eigenkapi- talregeln für Kreditinstitute hinweisen, die unter dem Be- Gerade für die Funktionsfähigkeit der deutschen Kre- griff „Basel II“ bekannt geworden sind. Edgar Meister ditwirtschaft übernimmt die Bundesbank wertvolle Auf- hat in Sachen Verbesserung der Stabilität der Finanz- gaben. Nicht zuletzt aufgrund ihrer jahrelangen Erfah- märkte viel vorangetrieben. rung ist sie bei der Überwachung der Kreditinstitute ein wichtiger Partner für die BaFin. Wenn wir uns in den Der veränderten Situation der Deutschen Bundesbank kommenden Wochen an die Neujustierung einiger Pro- entspricht es auch, dass das Benennungsverfahren für zesse bei der BaFin begeben, sollten wir dies immer mit die Vorstandsmitglieder etwas geändert wird. Der Bun- bedenken. desrat wird die Möglichkeit haben, der Bundesregierung bei der Bestellung des Vizepräsidenten einen Vorschlag Kurzum: Die Aufgabenvielfalt der Bundesbank zeigt: zu machen. Die Bundesregierung ist daran nicht gebun- Auch wenn in puncto Zinsentscheidung an Tagen wie den, aber es erhöht bestimmt die Chance des Bundesra- heute mittlerweile alle Augen auf die EZB gerichtet tes, mit seinem Vorschlag auch Gehör zu finden, wenn sind, bleibt die Deutsche Bundesbank eine Institution die vorgeschlagene Person neben aller sonstigen Kom- mit herausragender Bedeutung für Deutschland. Weil petenz und Qualifikation auch eine spezifische Eignung dem so ist, bleibt es unsere Aufgabe als Gesetzgeber, die für das Bankenwesen mitbringt. Deutsche Bundesbank als Institution immer wieder den neuen Anforderungen anzupassen. Frank Schäffler (FDP): Wir begrüßen die Verklei- So beschließen wir also das Achte Bundesbankände- nerung des Bundesbankvorstandes, die mit dem vorlie- rungsgesetz, wissend, dass irgendwann ein Neuntes genden Gesetzentwurf vorgenommen wird. Sie ist eine kommen wird und kommen muss, um die Bundesbank logische Folge der mit der Einrichtung der Europäischen wiederum auf neue Entwicklungen im Finanzsystem ein- Zentralbank, EZB, eingeleiteten europäischen Entwick- zustellen. lung. Die Strukturen der Bundesbank wurden bereits mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Jörg-Otto Spiller (SPD): Der vorliegende Gesetz- Deutsche Bundesbank angepasst; nunmehr wird auch die entwurf zur Änderung des Bundesbankgesetzes ist ein Leitungsebene der Bundesbank effizienter gestaltet. weiterer Schritt zur Anpassung der Bundesbank an die veränderte Situation, die existiert, seit es die Europäi- Bedenklich ist die zunehmende Politisierung der Bun- sche Zentralbank gibt. desbank. Diese gefährdet ihre Unabhängigkeit. Die Un- abhängigkeit ist gerade für die Bundesbank aber von be- (B) Die Deutsche Bundesbank hat seit ihrer Gründung sonderer Bedeutung. Die Bundesbank war mit ihrer (D) über Jahrzehnte eine hervorragende Arbeit geleistet. Sie erfolgreichen Rolle als Garant der Stabilität der D-Mark war so erfolgreich, dass die Europäische Zentralbank ein Vorbild für die EZB, die nun selbst zum Erfolgsmo- nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank gestaltet dell geworden ist. ist. Allerdings hat die Bundesbank heute aufgrund der Einführung unserer gemeinsamen Währung Euro nicht Kritisch betrachten wir die aktuelle Diskussion über mehr dieselbe Stellung wie in der Vergangenheit. Sie äh- die Aufgaben der Bundesbank. Dabei werden der Bun- nelt ein Stück weit der Stellung, die zu D-Mark-Zeiten desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, im- die Landeszentralbanken innegehabt haben. Es ist des- mer mehr Aufgaben übertragen. Aktuell überlegt die halb folgerichtig, dass mit dem vorliegenden Gesetzent- Bundesregierung nach Medienberichten, die Aufsicht wurf der Vorstand der Bundesbank verkleinert wird, und über die „systemrelevanten“ Kreditinstitute auf die zwar auf sechs Mitglieder. BaFin zu übertragen. Damit legt die Bundesregierung die Axt an die bewährte Tätigkeit der Bundesbank. Dies Gleichwohl hat die Bundesbank weiterhin wichtige würde dem Finanzmarkt in Deutschland schaden. Einen Funktionen. Sie ist einmal integraler Bestandteil des Eu- schleichenden Verlust von Zuständigkeiten der Bundes- ropäischen Systems der Zentralbanken, ESZB. Sie er- bank sollte es nach Auffassung der FDP-Fraktion daher füllt wichtige Funktionen für den Zahlungsverkehr. Er- nicht geben. Nicht zuletzt das Gutachten des Deutschen wähnen möchte ich auch ihre Arbeit im Bereich der Instituts für Wirtschaftsforschung zur Evaluierung der monetären und volkswirtschaftlichen Statistiken und Bankenaufsicht hat im vergangenen Jahr bestätigt, dass Analysen. Eine besonders wichtige Aufgabe ist ihre Mit- die Kreditwirtschaft mit der Tätigkeit der Bundesbank wirkung bei der Bankenaufsicht. zufrieden ist. Dabei wurden die Prüfer der Bundesbank Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, dem Mann tendenziell besser bewertet als die der BaFin. Es muss zu meine Hochschätzung auszusprechen, der über ein Jahr- einer klaren Aufgabenverteilung zwischen Bundesbank zehnt als Mitglied des Direktoriums beziehungsweise und BaFin kommen, um Doppelprüfungen bei Kredit- des Vorstands der Bundesbank für die Bankenaufsicht instituten zu vermeiden; dieses Ziel teilen wir ausdrück- zuständig war und vor ein paar Tagen aus Altersgründen lich. So, wie es die Bundesregierung zu planen scheint, aus der Bundesbank ausgeschieden ist: Edgar Meister. ist es jedoch der falsche Weg. Herr Dr. Meister hat wie kein anderes Mitglied des Di- rektoriums oder Vorstands der Bundesbank den Kontakt Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Nachdem der Euro zum Finanzausschuss des Deutschen Bundestages ge- eingeführt und die EZB gegründet worden ist, sind die pflegt. In allen Fragen des Finanzmarktes war er für uns Kompetenzen der Bundesbank bedeutend geringer ge- 9950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) worden. Das ist seit 1999 der Fall. Von diesem Zeitpunkt Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) an wäre es angezeigt gewesen, den Vorstand der Bundes- Die Bundesregierung plant mit ihrem Gesetzentwurf, bank zu verkleinern; denn wo weniger zu entscheiden den Vorstand der Bundesbank zu verkleinern und damit ist, da sind auch weniger Vorständler nötig. Schließlich die Leitungsebene effizienter zu gestalten. Statt acht soll nimmt die Bundesbank nach Gründung der Europäi- der Bundesbankvorstand künftig nur noch sechs Mitglie- schen Zentralbank nun eine viel weniger bedeutende der umfassen. Die Umstrukturierung des Vorstandes soll Funktion wahr. Sie ist jetzt einer früheren Landeszentral- bis April 2009 abgeschlossen sein. Ich kann für meine bank sehr ähnlich. Man bedenke: Die Führung der EZB Fraktion vorweg sagen, dass wir die Stoßrichtung der besteht aus sechs Personen, der Vorstand der Banque de neuen Regelung begrüßen, uns aber wegen zwei zentra- France lediglich aus drei. Da sollten doch drei Vor- ler Kritikpunkte der Stimme enthalten werden. standsmitglieder für die Bundesbank vollauf reichen. Wir meinen, dass die Bundesregierung bei der Vor- Nun endlich wird ein Gesetz vorgelegt, das nach einer lage des Gesetzes die Chance vertan hat, gleich noch Übergangsregelung spätestens im Frühjahr 2009 den weitere Mängel am Bundesbankgesetz zu beseitigen. Da Vorstand auf sechs Mitglieder verringern will. Wenn ist an erster Stelle das Besetzungsverfahren zu nennen. auch spät und unzureichend, so ist es doch endlich eine Im Gesetz steht zwar, dass die Mitglieder des Vorstandes kleine Reaktion auf die veränderten Umstände. Die „besondere fachliche Eignungen besitzen“ müssen. In Linke stimmt diesem Gesetz zu, wenngleich mit Beden- der Praxis kam es in jüngster Vergangenheit erneut da- ken, denn drei Vorständler statt acht würden zu Erspar- rauf an, aus welchem Bundesland ein Kandidat für den nissen in Höhe von 1,125 Millionen Euro führen. Vorstand kommt und welches Parteibuch er besitzt. An- ders ist es nicht zu erklären, dass Rudolf Böhmler an die- Zufrieden ist die Koalition mit dem von der Bundes- sen Posten gekommen ist. Nichts gegen Herrn Böhmler, regierung eingebrachten Gesetz offenbar nicht. Der er ist ein ausgewiesener Verwaltungsfachmann und seit haushaltspolitische Sprecher der SPD, Carsten langem im Dienst verschiedener Ministerpräsidenten Schneider, sagt in der ARD, dass er eine Verkleinerung meines Heimatbundeslandes Baden-Württemberg. Aber des Vorstandes auf fünf Personen wünsche. Hans Eichel Herr Böhmler ist weder Geld- noch Bankenspezialist. unterstützt ihn hierbei. Warum also nicht gleich ein Ge- Das ist auch den anderen Vorstandsmitgliedern der Bun- setz, das die Größe des Vorstands der Bundesbank auf desbank nicht entgangen, worauf sie ihn bei einer inter- drei Personen verringert? nen Anhörung durchfallen ließen. Das spielt aber für die Berufungschancen von Herrn Böhmler keine Rolle, denn Scheinbar steht dem das Vorschlagsrecht der Länder er ist Chef der Stuttgarter Staatskanzlei und Kandidat entgegen. Baden-Württemberg ist gegenwärtig an der von Ministerpräsident Oettinger; also haben dessen Kol- (B) Reihe. Ministerpräsident Oettinger wünscht, dass der legen der Personalie zugestimmt, anschließend hat die (D) Posten von Böhmler besetzt wird. Das neue Bundes- Bundesregierung den Vorgang abgenickt. Ein Bundes- bankgesetz könnte sich darüber hinwegsetzen. Die bankvorstand ist aber kein Ort, an dem verdiente Beamte Kanzlerin aber will sich zu der Sache nicht äußern. Der nur aufgrund ihrer Herkunft und ihres Parteibuchs sitzen Fall sei zu unwichtig. Einen Konflikt mit ihrem Partei- dürfen. Wenn die Bundesbank weiterhin bedeutsam sein freund Oettinger will sie deswegen nicht riskieren. Posi- soll im System der europäischen Notenbanken, dann tion zu beziehen, ist hier aber wichtig. Denn offenbar hat geht das in Zeiten der einheitlichen Geldpolitik nur nicht nur die SPD Bedenken. Die Bundesbank selbst, de- durch Kompetenz, aber auf gar keinen Fall durch Pro- ren Vorstand bei der Neubesetzung angehört werden porz. Die föderalen Besetzungsstrukturen sind untaug- muss, hat sich eindeutig gegen Böhmler als neues Vor- lich. Dass sie nicht im Zuge der Föderalismusreform standsmitglied ausgesprochen. All das soll aber nichts abgeschafft wurden, beweist erneut deren schlechte Qua- bedeuten, weil die Kanzlerin es sich mit dem Minister- lität. Dass sie auch nicht durch das vorliegende Gesetz präsidenten Oettinger nicht verderben will. geändert wurden, ist ein großes Versäumnis. Die Verkleinerung des Vorstandes der Bundesbank ist Neben dem Besetzungsverfahren sollte die Bundes- jedoch kein unwichtiger Fall. Es sind nicht nur regierung über eine weitere Verkleinerung des Bundes- bankvorstandes nachdenken und konkrete Vorschläge 1,125 Millionen Euro einzusparen; es geht hier überdies vorlegen. Die Strukturreformen sind ja an anderer Stelle darum, nichtrationale, nichtwirtschaftliche Verwaltung bereits mutig angegangen worden, allein der Filialbe- umzugestalten. Das ist eine sehr grundsätzliche Frage, stand wird bis Ende 2007 mit 47 Filialen um etwa zwei wegen der die Bundesregierung bekanntlich den Nor- Drittel, der Personalbestand mit etwa 11 100 Beschäftig- menkontrollrat berufen hat. Ist dieses Gremium in dieser ten um gut 30 Prozent geringer sein als fünf Jahre zuvor. Angelegenheit tätig geworden? Nichts ist bekannt. Und Die Zahl der Führungspositionen wurde insgesamt um weiter: Böhmler kümmert sich in Stuttgart im Auftrag 74 Stellen und damit um mehr als die Hälfte verringert. des Ministerpräsidenten um die Beseitigung von über- Ab 2008 werden die jährlichen Kosten im Vergleich zum flüssiger Verwaltung, also um den so genannten Büro- Jahre 2002 um rund 280 Millionen Euro geringer sein, kratieabbau. Wenn er aber seinen mit 225 000 Euro jähr- wobei die Beschäftigten der Bundesbank dabei den lich bezahlten Posten bei der Bundesbank antritt, dann größten Anteil geleistet haben. Hier hinkt die Entwick- kann von „Bürokratieabbau“ nicht die Rede sein. Im Ge- lung beim Vorstand deutlich hinterher. Erst bis April genteil: Das sind sinnlose Verwaltungsausgaben, hier: 2009 soll die vorgeschlagene Verkleinerung abgeschlos- unnötige Bürokratie als Preis für Frieden in der CDU. sen sein. Das ist zu langsam. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9951

(A) Das Bundesbankgesetz muss deutlicher als durch den – Kommerzialisierungstendenzen im Schul- (C) vorgelegten Entwurf geändert werden. Das Besetzungs- wesen stoppen – Bildungsteilhabe für alle verfahren spiegelt einen falsch verstandenen Föderalis- Kinder und Jugendlichen sichern mus wider, der in Zeiten einer einheitlichen Geldpolitik erst recht nichts mehr zu suchen hat. Die vorgeschlagene – Teilhabechancen für Kinder und Jugend- Verkleinerung des Vorstands geht zwar in die richtige liche aus armen Haushalten fördern Richtung, aber nicht weit und nicht schnell genug. Des- (Tagesordnungspunkt 16 a bis c) wegen wird sich meine Fraktion bei der Abstimmung zu diesem Gesetz der Stimme enthalten. Karl Schiewerling (CDU/CSU): Nicht zuletzt seit den PISA-Studien wird die Bildungssituation in Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Deutschland beklagt. Bildungsdebakel, Bildungsrück- Bundesminister der Finanzen: Der dem Bundestag zur stand und soziale Ungleichheit sind die Schlagworte, Annahme vorliegende Gesetzentwurf dient dazu, die welche die Diskussion um das deutsche Bildungswesen Anzahl der Mitglieder des Vorstandes der Deutschen bestimmen. Im Kreuzfeuer der Kritik steht dabei der Bundesbank mittelfristig von acht auf sechs Mitglieder enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und er- zu verringern. Die Bundesregierung hatte einen solchen zielten Bildungsleistungen. Dass es diesen Zusammen- Vorschlag bereits in ihrem Gesetzentwurf für die Bun- hang gibt, ist nicht wegzudiskutieren. desbankstrukturreform von 2002 gemacht. Im Gesetzge- bungsverfahren war seinerzeit diese Passage im Kom- Auch wir machen uns zunehmend um die Kinder Sor- promisswege geändert worden. Die Notwendigkeit einer gen, die aus sozial schwachen Familien kommen und Verkleinerung des Vorstandes der Deutschen Bundes- nicht den Fuß in die Tür des Berufslebens setzen kön- bank aus Effizienzgründen besteht aus Sicht der Bundes- nen. Die starke Verknüpfung zwischen geringer Qualifi- regierung unverändert fort. kation und Arbeitslosigkeit zeigt, dass Bildungsförde- rung auch eine präventive Beschäftigungspolitik ist. Dem sechsköpfigen Vorstand sollen künftig der Präsi- dent, der Vizepräsident und vier weitere Mitglieder an- Aus diesem Grund ist es in meinen Augen notwendig, gehören. Damit wird die Effizienz der Leitungsebene der in Zukunft wesentlich stärker präventiv zu arbeiten. Ich Deutschen Bundesbank weiter verbessert; gleichzeitig stelle mir hierbei eine Vernetzung zwischen dem SGB II, werden Kosten reduziert. Das bisherige Bestellungsver- dem SGB VIII und dem SGB XII vor. fahren für die Vorstandsmitglieder wird beibehalten. Das heißt, der Präsident, Vizepräsident und ein weiteres Mit- (B) Gerade erst haben wir den ersten Teil der Föderalis- (D) glied des Vorstandes werden von der Bundesregierung, musreform verabschiedet. Was wir nun bestimmt nicht die übrigen Mitglieder vom Bundesrat vorgeschlagen. machen werden, ist, in den Kompetenzbereich der Län- Allerdings ist nunmehr vorgesehen, dass der Bundesrat der einzugreifen. Nicht nur die Bildungshoheit liegt bei zukünftig der Bundesregierung für die Bestellung des den Ländern, auch die Beförderung der Schüler zu den Vizepräsidenten einen Vorschlag unterbreiten kann, den Schulen. Jedes Bundesland regelt in speziellen Gesetzen, die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung berücksich- Verordnungen und Erlassen, wie die Beförderung der tigen kann, aber nicht muss. Schüler zu organisieren ist und wer die Kosten dafür trägt. Oft werden die Kosten für die Beförderung im öf- Während einer Übergangszeit – längstens bis zum fentlichen Nahverkehr bezuschusst oder in ländlichen 30. April 2009 – kann der Bundesbankvorstand aus sie- Gebieten die Beförderung mit speziellen Schulbussen ben Mitgliedern bestehen. Dies ermöglicht eine Vor- gewährleistet. standsverkleinerung ohne Entlassung von Vorstandsmit- gliedern, denn der Zeitplan ist mit dem normalen In Ihrem Antrag gehen Sie auch auf Privatschulen ein. Auslaufen der Verträge von Vorstandsmitgliedern abge- Ich kann nichts Verwerfliches daran erkennen, wenn El- stimmt. tern sich es leisten können, ihre Kinder auf Privatschulen Ich freue mich, dass heute ein weiterer Schritt zur Re- zu schicken. Das ist keine Katastrophe, sondern eine form der Leitungsebene der Deutschen Bundesbank um- Chance. Zu einer Katastrophe wird es erst, wenn Schüle- gesetzt werden kann. rinnen und Schüler anderer Schulen dadurch benachtei- ligt werden. Das kann ich nicht erkennen. Diese Diskus- sion schürt Neid. Es geht nicht um Gleichheit, sondern um gerechte Bildungschancen. Es geht um Chancen- Anlage 6 gleichheit. Zu Protokoll gegebenen Reden Ich verstehe auch nicht, warum Sie ein Problem ha- zur Beratung der Anträge: ben, wenn Unternehmen Schulen Computer spenden. Vielmehr frage ich mich, warum Sie es der Wirtschaft – Bildungszugang von Kindern und Jugend- verbieten wollen, sich im Bildungsbereich zu engagie- lichen stärken – Finanzierung von Schüler- ren? In meinem Wahlkreis klappt die Zusammenarbeit und Schülerinnenbeförderung im SGB II zwischen Unternehmen und Berufskollegs hervorra- ermöglichen gend. 9952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Die Firmen stellen das Material zur Verfügung, und beit und Soziales möchte ich mich auf den Aspekt der (C) die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Ausbildungs- Anträge konzentrieren, der sich um Regelungen im und weiterführenden Bildungsgängen entwickeln durch Sozialgesetzbuch II und XII dreht. Die Bewertung der ihre innovativen Projekte Lösungen, die von den Betrie- mehr bildungspolitischen Gesichtspunkte wird meine ben nachgefragt werden. Nicht zuletzt durch diese Ver- Kollegin Gesine Multhaupt vornehmen. netzung von Schule und Betrieb erfolgt eine Stärkung des Mittelstandes. Die Arbeitslosenquote in meinem Die Intention der Anträge, armutsbedingte Benachtei- Wahlkreis beträgt 5,5 Prozent. Das ist für mich perfekte ligungen beim Zugang zu Bildung zu beseitigen, ist Vernetzung von Schule und Wirtschaft. nicht falsch und steht auch nicht im Widerspruch zu der von uns verfolgten Politik. So wie es sich die Antragstel- Natürlich hat Schul-Sponsoring auch seine Grenzen. ler vorstellen, ist ein Auffangen einer Benachteiligung in Sponsoring darf niemals staatliche Leistungen und Bezug auf die Gewährung von Fahrtkostenzuschüssen Pflicht ersetzen. Gutes Sponsoring ist dann gegeben, und Lehrmittelfreiheit über eine Regelung im SGB nicht wenn die Schulen einen Mehrwert erfahren. Der pädago- zu regeln. gische Nutzen muss im Vordergrund stehen. Die Schule darf auf keinen Fall instrumentalisiert werden. Die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen der schu- lischen Ausbildung fällt vorrangig in die Kultuszustän- Sponsoring hat auch nicht immer etwas nur mit Geld digkeit der Länder. Deshalb muss dort auch die Kosten- zu tun. Wenn der Chemiekurs einmal im Jahr seine beteiligung so geregelt werden, dass hilfebedürftige Experimente in den Profi-Labors des benachbarten Che- Familien von den finanziellen Belastungen, die durch miekonzerns machen darf, ist das für die Schülerinnen die Fahrtkosten oder durch Lernmittel, Mittagsspeisung und Schüler nicht nur ein unvergessliches Erlebnis, son- entstehen können, nicht in einem unangemessenen Um- dern auch möglicherweise die Brücke zur Berufsausbil- fang belastet werden. Oder es muss sogar eine Befreiung dung. von den Kosten ermöglicht werden. Im SGB II ist geregelt, welche Leistungen der Bund Diese Leistungen dann vom Bund einzufordern, wenn und welche die Kommunen zu erbringen haben. Die die Länder sich weigern oder die Notwendigkeit nicht Kommunen sind zuständig für die Schüler- und Schüle- erkennen, bedeutet eine Verlagerung von Zuständigkei- rinnenbeförderung. Ebenso für die Schulspeisung und ten. Warum sollen die Länder dann überhaupt noch an- die Übernachmittagsbetreuung. schließend die Leistungen übernehmen, wenn sie doch wissen, dass der Bund hier einspringt. Es ist übrigens zu beobachten, dass es in vielen Län- dern innovative Schulprojekte gibt, die ganz bewusst in Nein, die von den Oppositionsfraktionen für ihre An- (B) sozial schwierigen Regionen durchgeführt werden. träge zum Anlass genommene Problematik der Schüler- (D) beförderungskosten und anderer Sozialleistungen ist Ich weise daraufhin, dass es beispielsweise in Nord- nicht Sache des Bundes. rhein-Westfalen diverse Projekte rund um das Thema ge- sunde Ernährung an Schulen gibt. Doch die präventive Uns ist auch nur aus dem Land Niedersachsen diese Arbeit hat nur Erfolg, wenn wir es den Kindern vorle- Problematik bekannt. Das Bundesministerium für Arbeit ben, in der Schule, in der Freizeit und vor allem in der und Soziales ist bereits tätig geworden. Die zuständigen Familie. Eltern haben eine Vorbildfunktion, egal, ob bei Stellen haben sich mit jenen des Landes Niedersachsen gesunder Ernährung oder bei der täglichen Arbeit. ins Benehmen gesetzt, um zu veranlassen, dass dort die erforderlichen Schritte durch das Land eingeleitet wer- Wenn es eine zunehmende Anzahl von Familien gibt, den. in der Kinder nie erlebt haben, dass Eltern durch eigene Arbeit den Lebensunterhalt verdienen, sondern nur von Einen Handlungsbedarf auf Bundesebene darüber hi- Transferleistungen leben, kann das für die Entwicklung naus sehe ich nicht, insbesondere deshalb nicht, weil der des Kindes höchst problematisch sein. Umfang der Leistungen abschließend gesetzlich geregelt ist. Die Regelleistung bildet das soziokulturelle Exis- Dank der guten Konjunktur sinkt die Arbeitslosigkeit tenzminimum ab und umfasst auch Ausgaben für die und steigt die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Nutzung von Verkehrsmitteln, Nahrung und Schulmate- Beschäftigungsverhältnisse. Wir haben große Chancen, rial. Das Bundessozialgericht hat noch im November Langzeitarbeitslose aus dem SGB-II-Bezug herauszu- 2006 Höhe und Art der Bedarfsermittlung als verfas- führen und ihnen durch Arbeit eine neue Perspektive zu sungsgemäß in § 23 Abs. 3 SGB II geregelt und mit dem geben. Hier müssen auch vor Ort Lösungen gefunden Gesetz zur Fortentwicklung des SGB II sind weiterge- werden. Diese liegen sicherlich nicht darin, über eine an- hende Sonderleistungen ausdrücklich ausgeschlossen. gebliche Beeinflussung von Schülerinnen und Schülern Gesetzlicher Regelungsbedarf besteht auch nicht im Be- durch Unternehmen zu diskutieren, die Schulen einen reich des SGB XII und des Asylbewerberleistungsgeset- Computer spenden. zes.

Wolfgang Grotthaus (SPD): Das Thema „Bildungs- Von daher werden wir die uns vorliegenden Anträge zugang von Kindern und Jugendlichen stärken“ wird ablehnen. heute auf der Grundlage von drei Anträgen der Opposi- tionsparteien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen Gesine Multhaupt (SPD): Mit den vorliegenden erstmals beraten. Als Mitglied des Ausschusses für Ar- Anträgen glaubt die Fraktion Die Linke, einen Beitrag Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9953

(A) zur Verbesserung des Bildungszugangs von Kindern und Die Länder sind aufgefordert, im Sinne unserer Kin- (C) Jugendlichen leisten zu können. In einem entsprechen- der den hier begonnenen Weg konsequent fortzusetzen. den Forderungskatalog werden die Finanzierung der Zu Recht weisen Sie auf wesentliche Unterschiede bei Schülerbeförderung, Kosten für Mittagessen und Lern- der Unterstützung in den einzelnen Bundesländern hin. mittel sowie die Zulassung von privaten Bildungsein- richtungen thematisiert. Mein Kollege Wolfgang Aus Rheinland-Pfalz wissen wir, dass die Landesre- Grotthaus hat sich bereits zur sozialpolitischen Dimen- gierung zu einem Vorbild geworden ist. Dort ist der sion der vorliegenden Anträge geäußert. Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im letzten Kindergartenjahr vor der Einschulung seit Januar 2006 Auch auf der Suche nach dem bildungspolitischen beitragsfrei. Damit entlastet das Land die Familien um Kern der vorliegenden Texte kann ich an keiner Stelle durchschnittlich 600 Euro pro Kind. Weiterhin bekommt bundespolitische Kompetenzen entdecken. Die Ausge- jedes Kind mit Sprachproblemen vor dem Schuleintritt staltung der Schulpolitik, die Beförderung von Schülern, eine spezielle Förderung. Kontrolle von Schulbüchern, Unterrichtsmaterialien und Unterrichtsinhalten liegt in der Zuständigkeit der Län- Die Umsetzung des Ganztagsschulprogramms in Nie- der. Der Bund hat keine Möglichkeit, hier gestaltend ein- dersachsen findet hingegen nur sehr halbherzig statt. Da zugreifen. zusätzliche Lehrer von der niedersächsischen Landesre- gierung gegenwärtig nicht eingestellt werden, können In der Tat werfen die von Ihnen angesprochenen The- die Ganztagsschulen nicht ausreichend Förderunter- men – Bildungserfolge von Schülern mit problemati- richt, Übungsstunden und Betreuungsangebote am scher sozialer Herkunft sowie die wachsende Bedeutung Nachmittag bereitstellen. Dies erklärt möglicherweise privater Nachhilfe – insgesamt Fragen zur Leistungsfä- den wachsenden Bedarf an privater Nachhilfe. higkeit unseres Schulsystems auf. Die SPD-Bundestags- In Thüringen beschäftigt sich eine gemeinsame Ar- fraktion hat diese Probleme rechtzeitig erkannt, und wir beitsgruppe mit dem Phänomen von materieller Armut, haben auch gehandelt. Erziehungsdefiziten, mangelnden sozialen Kontakten Schon in der letzten Legislaturperiode hat die SPD- und Bildungsarmut. Ich bin davon überzeugt, dass hier geführte Bundesregierung mit und auch gerade im Hinblick auf die von ihnen angesproche- den Zug auf die richtige Schiene ge- nen Themen sinnvolle Lösungsansätze gefunden wer- setzt. Mit einem Investitionsprogramm von insgesamt den. 4 Milliarden Euro haben wir gezielt durch bauliche Die Schülerbeförderung in den Ländern stellt sich Maßnahmen Schulen zu Ganztagsschulen ausgebaut zwar sehr unterschiedlich dar, in der Regel wird aber die oder erweitert und damit den Zugang zu Bildung für alle (B) soziale Lage der Familien berücksichtigt. Außerdem bie- (D) Schüler in unserem Land erheblich verbessert. ten die Nahverkehrsverbunde ermäßigte Schülerzeitkar- Die Betreuungsangebote werden wir auch in dieser ten an, die alle Schüler nutzen können, die aufgrund der Legislaturperiode für Kinder unter drei Jahren quantita- Landesregelung keinen kostenfreien Transfer in An- tiv und qualitativ weiter ausbauen. Obwohl es sich beim spruch nehmen können. Ausbau der Kinderbetreuung und dem Ausbau von Ich möchte abschließend feststellen: Sie analysieren Ganztagsschulen um eine Pflichtaufgabe von Ländern Probleme in unserem Schulsystem, die wir bereits vor und Kommunen handelt, haben wir hier mit erheblichen vielen Jahren erkannt haben. Mit unserem Regierungs- Bundesmitteln die Schulbildung und die Betreuung deut- handeln geben wir für Kinder und Jugendliche die richti- lich verbessert. Sie sehen, wir debattieren nicht nur über gen Antworten, während Sie sich damit begnügen, in al- bessere Chancen für alle Kinder und Jugendlichen; wir ter Tradition mehr Geld zu fordern und dann zu hoffen, handeln auch. dass damit einer guten Bildung und Betreuung Genüge Nicht folgen kann ich der Ihrem Antrag zugrunde lie- getan sei. Dass dieses nicht ausreicht, haben wir Ihnen genden Logik, dass die unzureichende Bildungsbetei- aus sozial- und bildungspolitischer Sicht erklärt. Dass ligung von Kindern aus den genannten Familien ur- wir die vorliegenden Anträge ablehnen, wird Sie von da- sächlich mit mangelnden oder gar fehlenden her nun nicht verwundern. Transferleistungen zu tun hat. Um den Teufelskreislauf Die SPD wird sich auch in Zukunft in den Ländern, in – Arbeitslosigkeit, niedriges Bildungsniveau, kein struk- denen wir Verantwortung tragen, und auf Bundesebene turierter Tagesablauf und eine Mentalität des „Durch- sehr dafür einsetzen, dass wir insbesondere bei Kindern wurschtelns“ – zu durchbrechen, müssen diese Kinder so und Jugendlichen zu mehr Chancengleichheit gelangen. früh wie möglich öffentliche Bildungsangebote wahr- nehmen. Diese Familien benötigen Angebote und Unter- stützung, um ihre Kinder frühzeitig aus dem familiären Miriam Gruß (FDP): Hätte die Bundesregierung Teufelskreislauf herauszunehmen. den Bericht des UN-Sonderberichterstatters Vernor Muñoz aufmerksam gelesen und daraus die richtigen Wir sorgen dafür, dass diese Kinder Angebote wohn- Schlüsse gezogen, würden wir heute Abend nicht über ortnaher Bildungs- und Betreuungseinrichtungen wahr- dieses Thema debattieren. Denn die Quintessenz aus nehmen können. Allein mit immer mehr finanziellen dem Muñoz-Bericht ist klar: Hinter den Ungleichheiten Mitteln – das wissen Sie so gut wie ich – helfen Sie hier im deutschen Bildungssystem steht eine soziale Un- niemandem. gleichheit, die weitreichende Folgen für die betroffenen 9954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Kinder und Jugendlichen hat. Diese soziale Ungerech- Bundespolitisch sind uns die Hände in dieser Sache (C) tigkeit gilt es abzubauen. gebunden. Deshalb sind viele Ihrer Forderungen, liebe Kollegen der Bündnisgrünen und der Linken, so ehren- Bei der Bundesregierung kann ich den entschiedenen haft sie auch sein mögen, leider von uns nicht beein- Willen dazu leider immer noch nicht erkennen. Aber wie flussbar. soll sie auch tätig werden, wenn sie sich selbst aller bil- dungspolitischen Kompetenzen dank der Föderalismus- Wir können aber für einen breiten gesellschaftlichen reform beraubt hat? Konsens werben, der Erziehung und Bildung Priorität In seinem Bericht stellt Muñoz zweifelsfrei fest: vor anderen Zielen einräumt. Das bedeutet vor allem, Deutschland verfügt nicht über ein einheitliches Bil- mehr Geld in Bildung und in Familien zielgenau zu in- dungssystem, da es keinen länderübergreifenden konsis- vestieren. Lebensstandard und Wohlstand einer Familie tenten Rahmen gibt. dürfen nicht mit der Geburt eines oder mehrerer Kinder sinken. Kinder müssen gesellschaftlich besser abgesi- Leider hat die Bundesregierung damit nicht nur sich chert werden. Gleiches gilt für Mütter, die sich frei für selbst viel Ärger eingebrockt, sondern auch unseren Kin- Kinder entscheiden sollen, ohne gleichzeitig Angst vor dern, die nun qua Geburtsort dem Bildungssystem ihres Arbeitslosigkeit oder schlechteren Chancen auf dem Ar- Bundeslandes ausgeliefert sind. Ihre Anträge, werte Kol- beitsmarkt zu haben. legen der Grünen und der Linken, lesen sich in Teilen wie eine Parodie auf den Föderalismusmurks. Insgesamt muss es zu einer besseren Verzahnung von Kindertagesstätten, Vorschulerziehung und Grundschule Die PISA-E-Studie hat gezeigt, dass es in keinem kommen, um Kindern einen möglichsten gleichen Start deutschen Bundesland gelungen ist, allen Heranwach- in die Schulzeit und gleiche Zugangschancen zu Bildung senden gleich gute Bildungschancen zu geben, sie indi- zu ermöglichen. Es müssen die elterlichen Ressourcen viduell zu fördern und gleichzeitig soziale, ethnische gestärkt, die institutionellen Rahmenbedingungen ver- und kulturelle Unterschiede der Bildungsbeteiligung und bessert und das Bewusstsein aller, für das Aufwachsen des Bildungserfolgs auszugleichen. Dies sind ja gerade von Kindern mitverantwortlich zu sein, gefördert wer- die Ziele Ihrer Anträge! den. Doch wie können wir es nun schaffen, soziale Un- Darüber hinaus muss die Bildungsforschung, insbeson- gleichheiten im Bildungssystem abzubauen und damit dere im Bereich der frühkindlichen Bildung, intensiviert allen Kindern – unabhängig von ihrem Elternhaus – das werden. Hier brauchen wir außerdem eine Qualitätsoffen- Rüstzeug mit auf den Weg zu geben, das so essentiell ist sive mit pädagogischen Zielen und Bildungsmindest- für die Entwicklung ihres gesamten Leben, nämlich Bil- standards. Wir Liberalen schlagen zur Qualitätssiche- (B) dung? rung ein System der Akkreditierung bzw. Zertifizierung (D) Ich glaube, wir müssen erstens ganz gezielt bei den der Einrichtungen vor. Elternhäusern und Familien der Kinder ansetzen. Ein in- Das Kinderhilfswerk UNICEF hat heute in einer Pres- taktes, bildungsorientiertes Zuhause ist ein Grundstein semitteilung noch einmal darauf hingewiesen: Bildung für gute Bildungschancen, das steht fest. ist das wichtigste Kapital für die Zukunft der Welt – Zweitens müssen wir auch in die Schulen investieren. preiswert, erneuerbar und voller Energie. Sie sind kein Auffanglager für vernachlässigte Kinder. Schule muss sich darauf verlassen können, dass Eltern Werden wir alle zu Bildungsbotschaftern in unseren ihren Kindern ein Mindestmaß an Benehmen, Sozial- Gemeinden und Kommunen. Denn nur wer Bildung auf- kompetenz, Sprachvermögen und Allgemeinbildung baut, baut soziale Ungleichheiten ab! vermitteln, auf dem Lehrer aufbauen können. Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Wenn im Bundestag Eltern müssen sich jedoch ebenso darauf verlassen und in der Öffentlichkeit über Bildung diskutiert wird, können, dass ihren Kindern in den Schulen das Wissen betonen Abgeordnete aller Fraktionen, dass Bildung für beigebracht wird, das sie für einen erfolgreichen Start in sie ein überaus wichtiges Thema ist. Mit dieser Einigkeit die Berufsausbildung benötigen, und darauf, dass Schule ist aber Schluss, sobald es zur konkreten Politik und ihren Kindern nicht schadet, dass also das schulische Herangehensweise kommt. Die Linke ist der Auffas- Umfeld und die Aktivitäten dort keinen negativen Ein- sung, dass Bildung – gerade weil sie sowohl für die indi- fluss auf die Schüler haben. Im Gegenteil: Schule muss viduelle als auch die gesellschaftliche Entwicklung so auf ein Fundament aufbauen und weiterbilden, ohne zu bedeutend ist – ein Grundrecht sein muss. Die Teilhabe selektieren. an Bildung muss für alle garantiert werden. Von Ihnen Schule und Eltern sind also gleichermaßen in der hören wir dagegen, dass Bildung wichtig sei, weil sie je- Pflicht und in einer Erwartung. Sie bedingen sich gegen- dem einzelnen Menschen die Chance bietet, sich eigen- seitig, soll den Kindern eine optimale Bildung und Er- verantwortlich um gute Zukunftsperspektiven zu küm- ziehung zuteil werden. Versagt eine der beiden Institu- mern. Wer diese Chance nicht nutzt, hat eben Pech tionen, kommt es zum Zusammenbruch des Systems, gehabt. Auf diese Weise verschleiern Sie aber, dass nicht denn die jeweils andere Seite kann dieses Versagen nur jeder und jede gleichermaßen die Möglichkeit zur Teil- sehr bedingt auffangen oder ausgleichen. Leidtragende habe an Bildung hat. Schlimmer noch: Mit Ihrer Politik sind dann die einzelnen Kinder, die weder für das eine vergrößern Sie die Kluft zwischen Arm und Reich und noch für das andere etwas können. produzieren immer mehr Armut. Armut führt aber zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9955

(A) Ausgrenzung und dies verhindert gerade auch die Teil- Spenden hoffen. Es fehlt somit an allen Ecken und En- (C) habe an Bildung. den an Geld. Das Gymnasium, auf das Katrin geht und das in einer guten Wohngegend liegt, hat da deutlich Ich möchte Ihnen das an drei Beispielen verdeutli- mehr Möglichkeiten. Schließlich gelten ihre Mitschüle- chen. Das erste Beispiel betrifft Ihre Sozialpolitik. Die rinnen und Mitschüler als besonders kaufkräftig und das Linke lehnt Hartz IV ab; alle anderen Fraktionen waren Sponsoring an dieser Schule ist eine überaus gute Wer- dafür. Ich empfehle Ihnen allen deshalb, sich das Flug- bemöglichkeit für Unternehmen. blatt der GEW zu diesem Thema durchzulesen. Dort wird anhand eines typischen Falls auf die Folgen von All diese Entwicklungen folgen dem Prinzip: Gute Hartz IV verwiesen: Nicole. Sie ist vierzehn und lebt in Bildung für wenige, die es sich leisten können, schlechte einer Bedarfsgemeinschaft. Der monatliche Regelsatz Bildung für die große Mehrheit, die wenig Geld hat. Die von Nicole beträgt 207 Euro. Darin sind weniger als Linke findet das falsch. Wir wollen das öffentliche 3 Euro pro Tag für Verpflegung enthalten, weniger als Schulsystem stärken, und dazu braucht es allen voran neun Euro monatlich für Fahrtkosten und kein einziger eine bessere öffentliche Finanzierung. Ein erster Schritt Cent für sonstige Schulkosten. Nicole zahlt aber dahin wäre es, wenn Sie endlich die Umsatzsteuerbefrei- 2,50 Euro für das Mittagessen in der Schule. Ihre Mo- ung für kommerzielle Nachhilfeanbieter abschaffen. natskarte kostet fast 30 Euro. An sonstigen Schulkosten Drittes und letztes Beispiel ist Ihr ständiges Gerede kommen für Bücher, sonstige Lernmaterialien oder von Wettbewerb. Auch in der Bildung können Sie nicht Klassenfahrten viele weitere Ausgaben zusammen. Mit genug vom Wettbewerb bekommen. Mit mehr Wettbe- einem Regelsatz von 207 Euro lässt sich das nicht finan- werb – so behaupten Sie – wäre sichergestellt, dass sich zieren. Das Beispiel von Nicole – und solche Beispiele die Besten der Besten durchsetzen. Bitte erinnern Sie könnte man zu Tausenden finden – zeigt: Ihre Politik sich noch einmal an das Beispiel von Katrin und Nicole. führt zu Armut. Und diese Armut verhindert gerade auch Nicole hatte keinen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, die Teilhabe an Bildung. und ich habe beschrieben, mit welch geringen finanziel- Mit unseren heutigen Anträgen fordern wir Sie des- len Mitteln sie auskommen muss. In der Grundschule halb dazu auf, das SGB II anzupassen und zu erweitern. hatte sie von vorneherein deutlich schlechtere Ausgangs- Dies wäre zumindest ein erster Schritt in die richtige bedingungen als Katrin, die nicht nur einen Kindergarten Richtung. Umfassend lässt sich Bildungsteilhabe aller- besucht hat, sondern dank der Finanzierung ihrer Eltern dings nur realisieren, wenn die Gebührenfreiheit der Bil- nebenbei auch noch Geigenstunden nehmen konnte. dung grundlegend gesichert ist. Die Bundesregierung Kein Wunder also, dass Nicole nach der Grundschule in muss gemeinsam mit den Ländern für die Wiedereinfüh- die Hauptschule und Katrin aufs Gymnasium kommt. Diverse Studien haben dieses selektive Sortieren des (B) rung der Lernmittelfreiheit eintreten. Darüber hinaus (D) muss mit Armutslöhnen endlich Schluss sein: Beenden deutschen Schulsystems kritisiert. Und wenn es Nicole Sie endlich Ihr Koalitionstheater, und führen Sie einen ausnahmsweise doch aufs Gymnasium geschafft hätte, gesetzlichen Mindestlohn ein. dann hätten sie noch viele weitere Hürden erwartet. Spä- testens der Zugang zum Studium wäre ihr dann ange- Zweites Beispiel. Mit Ihrer Politik unterstützen Sie sichts von Studiengebühren und nicht ausreichendem private Bildungsdienstleister, während zugleich das öf- BAföG versperrt geblieben. Ihr bliebe nur die Alterna- fentliche Bildungssystem immer weiter ausgehöhlt wird. tive, sich durch Studienkredite hoch zu verschulden. Dies lässt sich unter anderem an der wachsenden Bedeu- Katrin muss sich um solche Dinge keine Sorgen machen. tung von Nachhilfe zeigen: Jedes vierte Kind nimmt pri- vate Nachhilfe in Anspruch. Die Kosten liegen durch- Diese Beispiele zeigen, dass das Gerede um „die Bes- schnittlich bei rund 100 Euro monatlich. Anders als ten“ schlicht Blödsinn ist. Diejenigen, die die besten Nicoles Eltern können die Eltern der gleichaltrigen Ausgangsbedingungen haben, kommen nach oben. Un- Katrin, die zu den Gutverdienenden gehören, die Nach- gleiche Ausgangsbedingungen werden durch Wettbe- hilfe ihrer Tochter finanzieren. Nicole bleibt außen vor. werb weiter zementiert und verschärft. Das Muster Ihrer Förderangebote in ihrer Schule gibt es so gut wie keine Politik ist: Denjenigen, die viel haben, wird weiter viel mehr. Schließlich kann selbst der reguläre Unterricht nur gegeben. Denjenigen, die wenig haben, müssen damit mit Mühe und hohen Belastungen für die Lehrkräfte auf- rechnen, aussortiert zu werden. rechterhalten werden. Privatisierung zeigt sich auch an Die Linke steht für eine andere Bildungspolitik. Ich der Entwicklung der Privatschulen: In den letzten zehn möchte unsere zentralen Forderungen abschließend noch Jahren hat sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler an einmal zusammenfassen: Erstens. Für uns ist Bildung Privatschulen mehr als verdoppelt. Im Grundgesetz ist kein Patentrezept gegen Armut. Bildungsteilhabe setzt zwar festgelegt, dass dies nicht mit einer sozialen Sortie- die Bekämpfung von Armut voraus. Deshalb streiten wir rung einhergehen darf. Inzwischen gibt es aber Privat- für eine grundlegende Umverteilung von oben nach un- schulen, deren Gründungszweck Gewinnerzielung ist. ten. Nur so kann auch das Recht auf Bildung wirklich für Welches Interesse besteht hier, Kinder wie Nicole aufzu- alle eingelöst werden. nehmen? Zweitens. Wir wollen das öffentliche Bildungssystem Noch weiter verbreitet als Privatschulen ist stärken. Privatisierung von Bildung heißt gute Bildung Schulsponsoring. Schulen sind mehr und mehr darauf für wenige und schlechte Bildung für viele! Deshalb leh- angewiesen, private Spenden einzuwerben. Die Haupt- nen wir Bildungsprivatisierungen egal in welcher Form schule, die Nicole besucht, kann aber nicht auf viele ab. 9956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Drittens. Wir fordern ein Bildungssystem, das auf und Jobcenter vor Ort in Zukunft wenigstens eine (C) Gleichheit und nicht auf Wettbewerb zielt. Wettbewerb Rechtsgrundlage haben, um auf aktuelle Hilfebedarfe zementiert und verschärft ungleiche Ausgangsbedingun- von Kindern und Jugendlichen durch die Gewährung gen. Dies machen die aufgeführten Beispiele mehr als von Sachleistungen schnell und unbürokratisch reagie- deutlich! Indem Sie unseren heutigen Anträgen zustim- ren zu können. men, können Sie ein Zeichen setzen: Machen sie endlich einen Schritt in die richtige Richtung – auch wenn es zu- Diese Maßnahmen sollen für die Versorgung mit nächst nur ein kleiner ist. Lernmitteln, aber auch für die Verpflegung in Schulen und Kitas gelten. Gegenwärtig können die örtlichen SGB-II- und SGB-XII-Leistungsträger selbst im Einzel- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit fall keine Lernmittel auf dem Weg der Vorleistung zur Inkrafttreten des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch Verfügung stellen. – SGB II – wird ein Problem immer deutlicher: In meh- reren Bundesländern – darunter NRW und Niedersach- Viele Eltern im Leistungsbezug haben ihre Kinder sen – sind Kinder in Haushalten mit Arbeitslosengeld-II- von der Schulverpflegung abgemeldet. Die Kostenbetei- Beziehenden nicht mit Schulbüchern versorgt. Die Lern- ligung für ein Mittagessen in einem Kindergarten, einem mittelfreiheit in diesen Ländern wurde abgeschafft, ohne Hort oder einer Ganztagsschule liegt in der Regel deut- dass eine Ausnahme für Kinder aus armen Haushalten, lich höher als die im Regelsatz täglich vorgesehenen insbesondere ALG-II-Haushalten geschaffen wurde. 1Euro. Das Land NRW hat in der erst kürzlich erfolgten No- Nach unserem Antrag soll zum Beispiel die Differenz vellierung des Landesschulgesetzes erneut nicht die Ge- zu den tatsächlichen Kosten als Sachleistung auf Antrag legenheit genutzt, diesen unsäglichen Missstand zu be- gewährt werden können. Ebenso wollen wir die Inan- enden. Stattdessen verweist die NRW-Schulministerin spruchnahme von kommunalen Sportangeboten, Musik- Sommer von der CDU darauf, sie überlasse es den Kom- schulen und Bibliotheken für Kinder von Sozialleis- munen, ob sie die Schulbücher für Kinder von Langzeit- tungsbeziehern dadurch erleichtern. Auch die Kosten arbeitslosen bezahlen. Nur: Längst nicht alle Kommunen hierfür sollen künftig als Sachleistung in angemessenem können oder dürfen die Kosten für Lernmittel überneh- Umfang gewährt werden können. men. Bei der Bekämpfung von Armut geht es nicht nur um Die Kostenübernahme für Lernmittel ist eine freiwil- finanzielle Transferleistungen. Dennoch müssen die lige Leistung der Kommune, keine Pflichtleistung. Ste- staatlichen Leistungen so ausgestaltet sein, dass sie das hen Kommunen in der sogenannten Haushaltssicherung, Existenzminimum sichern. Wir stellen dies bei den aktu- (B) kann die Kommunalaufsicht ihnen die Genehmigung des ellen und nun für das gesamte Bundesgebiet einheitli- (D) Haushalts versagen, wenn sie die Kostenerstattung für chen Regelsätzen stark infrage. Umso wichtiger wäre Lernmittel garantieren. Dass Kommunen – wie etwa das eine flexible Regelung, durch die kurzfristig dringliche rot-grün regierte Dortmund – die Kosten trotz Haushalts- Sonderbedarfe wenigstens bei Kindern ermöglicht wer- sicherung übernehmen, ist anzuerkennen. In vielen ande- den können. ren Städten jedoch müssen Kinder mit kopierten Zetteln hantieren, anstatt wie ihre Klassenkameraden ein Buch aufschlagen zu können. Anlage 7 Ich sage es deutlich: Dieser Zustand ist ein Skandal. Zu Protokoll gegebene Reden Die Länder versagen auf ihrem ureigensten Gebiet, ob- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur wohl sie bei jeder Gelegenheit – zuletzt im Rahmen der Änderung medizinprodukterechtlicher und Föderalismusreform – die Bildungskompetenz für sich anderer Vorschriften (Tagesordnungspunkt 17) reklamieren. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fordert Jens Spahn (CDU/CSU): Mit dem Gesetz zur Än- nun in ihrem Antrag, für die Jobcenter die Möglichkeit derung medizinprodukterechtlicher und anderer Vor- zu schaffen, die Kosten für Schulbücher zu erstatten. Da- schriften passen wir die gesetzlichen Regelungen des bei wollen wir die Länder nicht aus ihrer Pflicht entlas- Medizinprodukterechts neuesten Entwicklungen an, be- sen und sehen deshalb auch nicht die Kostenübernahme heben akute Vollzugsprobleme und schließen vorsorg- als Pflichtleistung für den Träger der Grundsicherung für lich Lücken für den Zivil- und Katastrophenschutz. Arbeitslose vor. Würde man dies tun – wie es etwa die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert –, würden Erstens. Es ist in Zukunft möglich, die vom Bund unverzüglich alle Bundesländer die Finanzierung der zum Zwecke einer möglichen Pockenschutzimpfung an- Lernmittel für Kinder von Langzeitarbeitslosen dem geschafften Impfnadeln über das darauf angegebene Ver- Bund überlassen. fallsdatum hinaus zu verwenden. Dies ist unschädlich, da nach Einschätzung der Experten die Sterilität der Na- Unser Antrag ist als eine Art Sofortmaßnahme für be- deln bei entsprechender Lagerung auch nach Ablauf des dürftige Kinder und Jugendliche zu sehen, die eindeuti- Gewährleistungszeitraumes des Herstellers gewahrt ist. gen Notfallcharakter hat, um das völlige Versagen eini- So können unnötige und kostspielige Neuanschaffungen ger Bundesländer zumindest teilweise auszugleichen. vermieden werden. Die regelmäßige Überprüfung der Nach unserer Vorstellung sollten die Sozialhilfeträger Produkte wird von den bevorratenden Stellen sicherge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9957

(A) stellt. Diese Freistellung hat sich bereits in der Ver- Weiterhin haben wir auch im Bereich der Medizinpro- (C) gangenheit für die Bundeswehr bewährt, welche Ihre dukte-Sicherheitsplanverordnung im Sinne einer Entbü- Produkte von vornherein ohne Verfallsdatum beziehen rokratisierung Veränderungen vorgenommen. Künftig kann. werden die zuständigen Behörden des Bundes für bereits ausreichend untersuchte Vorkommnisse Ausnahmen von Zweitens wird zur Klarstellung der Erstattungspraxis der Meldepflicht oder eine zusammenfassende Meldung arzneimittelähnlicher Medizinprodukte die Erstattungs- in regelmäßigen Zeitabständen anordnen. Damit stellen fähigkeit im Gesetz präzisiert. Bereits nach geltendem wir einen ressourcensparenden, risikoangemessenen Recht sind arzneimittelähnliche Medizinprodukte, die Einsatz der personellen Kapazitäten sicher, ohne die ef- im Sinne des Arzneimittelgesetzes mit Stand vom fektive Gefahrenabwehr zu vernachlässigen. Zudem 31. Dezember 1994 apothekenpflichtige Arzneimittel wurde die Kontrollzuständigkeit des Bundesinstituts für gewesen wären, in die Arzneimittelversorgung einbezo- Arzneimittel und Medizinprodukte im Zuge des Gesetz- gen. Allerdings führte diese Formulierung zu Schwierig- gebungsverfahrens auf aus dem Ausland stammende Me- keiten in der praktischen Umsetzung, nahm sie doch auf dizinprodukte beschränkt. Damit vermeiden wir im Sinne einen überholten Gesetzestext Bezug. Deswegen soll der der Deregulierung Doppelzuständigkeiten von Bundes- Gemeinsame Bundesausschuss dazu künftig in Richtli- und Landesbehörden für Produkte aus dem Inland. nien festlegen, in welchen Fällen ausnahmsweise arznei- mittelähnliche Medizinprodukte in die Arzneimittelver- Hierneben haben wir im Omnibusverfahren einige sorgung einbezogen werden. Das bedeutet, dass der Korrekturen und Ergänzungen am SGB V vorgenom- Gemeinsame Bundesausschuss den gesetzlichen Auftrag men, welche Inkrafttretensregelungen im GKV-Wettbe- erhält, eine Liste mit erstattungsfähigen arzneimittelähn- werbsstärkungsgesetz korrigieren. Damit stellen wir si- lichen Medizinprodukten abzufassen. Die Hersteller cher, dass die erstrebten Wirkungen sich sachgerecht können und sollen frühzeitig die Aufnahme in die Liste entfalten können. beantragen. Um sicherzustellen, dass die Erstattungsfä- Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass wir im higkeit dieser Produkte nicht zum 30. Juni diesen Jahres Sinne klarer Erstattungsregeln, unbürokratischen Ver- schlagartig einbricht, haben wir auf die Anregung des braucherschutzes und der Vorsorge für Katastrophenfälle Gemeinsamen Bundesausschusses reagiert, die Rege- wichtige Detailfragen regeln und dabei auch viele Anre- lung umformuliert und sichergestellt, dass die Gesetzes- gungen aus der Anhörung aufgenommen haben. Daher änderung erst zum 1. Juli 2008 in Kraft tritt. Dadurch freut es mich sehr, dass die gesamte Opposition dieses wird auch künftig sichergestellt, dass etwa eine Mull- Gesetz unterstützt. Solch konstruktives Verhalten binde, die eine schmerzlindernde Salbe abgibt, von der wünschte ich mir öfter. gesetzlichen Krankenversicherung auch künftig nicht er- (B) stattet werden muss, wenn der Gemeinsame Bundesaus- (D) schuss der Auffassung ist, dass dieses Kombinationspro- Dr. Marlies Volkmer (SPD): Wir beschäftigen uns dukt arzneimittelähnlich und etwa in seiner Wirkung der heute mit der Reform des Medizinproduktegesetzes, heute bereits nicht erstattungsfähigen Schmerzsalbe in einer notwendigen und sinnvollen Reform wie ich an- Kombination mit einer einfachen Mullbinde vergleich- merken möchte. Die letzte Änderung des Medizinpro- bar ist. duktegesetzes liegt bereits über drei Jahre zurück, und es ist müßig, darauf hinzuweisen, dass sich in einem sol- In Zukunft werden wir drittens medizinprodukte- chen Zeitraum einige notwendige Änderungen ansam- rechtliche Vorschriften auch auf Produkte anwenden, meln. Dieses Gesetz steht sicherlich nicht im Mittel- welche nicht als solche in den Verkehr gebracht, aber mit punkt des öffentlichen Interesses. Nichtsdestoweniger ist der Zweckbestimmung eines Medizinproduktes einge- es von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Un- setzt werden. Hierbei haben wir die begründeten Beden- ternehmen der Medizinproduktebranche, für Labore und ken einiger Sachverständiger sowie der über den Bun- natürlich für die Patientinnen und Patienten in Deutsch- desrat beteiligten Bundesländer als zuständige Prüf- und land, die zu Recht ein Höchstmaß an Schutz durch den Kontrollinstanzen berücksichtigt. Es galt dabei zu be- Gesetzgeber erwarten. rücksichtigen, dass die Überwachungs-, Dokumenta- Ein wichtiger Bestandteil dieser Novelle ist die Aus- tions- sowie Sicherheitsanforderungen in der prakti- weitung des Anwendungsbereichs des Medizinprodukte- schen, ärztlichen Anwendung durch diese Regelung gesetzes. Bisher war ein Medizinprodukt ein Produkt, nicht überdehnt werden und keine unnötige Bürokratie das von seinem Hersteller als solches auf den Markt ge- entsteht. Bei enger Auslegung wäre sonst womöglich so- bracht wurde, nachdem es die notwendigen Sicherheits- gar ein Waschlappen, mit welchem einem Patienten das prüfungen erfolgreich durchlaufen hat, zum Beispiel Gesicht gereinigt wird, als überwachungspflichtiges Pro- eine Gehhilfe oder ein Katheterschlauch. Produkte, die dukt anzusehen gewesen. Der Anwendungsbereich die- zwar den Zweck eines Medizinproduktes erfüllten, aber ser Regelung wird deswegen ausdrücklich auf solche von ihren Herstellern nicht als solche deklariert wurden, Produkte eingegrenzt, für welche nach der Medizinpro- mussten die hohen Sicherheitsstandards hingegen nicht dukte-Betreiberverordnung sicherheits- bzw. messtech- erfüllen. Diese Sicherheitslücke wird durch dieses Ge- nische Kontrollen vorgesehen sind. Damit werden im setz nun geschlossen. So wird die Patientensicherheit in Sinne eines vorbeugenden Verbraucherschutzes in si- Deutschland nachhaltig erhöht. cherheitsrelevanten Bereichen alle Medizinprodukte und als solche verwendete Produkte künftig der Überprüfung Kritiker der Ausweitung des Anwendungsbereichs unterzogen. haben die Befürchtung geäußert, dass nun auch Wasch- 9958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) lappen oder Kühlschränke nachträglich zu Medizinpro- So muss die Finanzierungsregelung für die Selbsthilfe (C) dukten gemacht würden. Dies würde die genannten Pro- zum 1. Januar 2008 und nicht – wie bislang in der Ge- dukte nicht nur unnötig verteuern, sondern widerspricht sundheitsreform geregelt – zum 1. April 2007 außer ganz einfach dem gesunden Menschenverstand. Durch Kraft treten, da es ansonsten zu einer Finanzierungslü- entsprechende Änderungsanträge haben wir im Ausschuss cke kommt. Peinlich genug! für Gesundheit dieses Problem gelöst und ungewollte Was haben Sie nicht im Herbst des letzten Jahres alles Konsequenzen der Ausweitung des Anwendungsbereichs versprochen, als Sie den Start der Gesundheitsreform um ausgeschlossen. Nun können weder ein Kühlschrank drei Monate verschoben haben: „Qualität geht vor noch ein Waschlappen nachträglich zum Medizinpro- Schnelligkeit“ konnte man landauf, landab lesen. An dukt erklärt werden, sondern nur Produkte, die die fest- dieser Stelle möchte ich nicht über inhaltliche Fehler des gelegten Kriterien eines Medizinproduktes wirklich er- GKV-WSG sprechen, sondern darauf hinweisen, dass füllen. Sie, obwohl Sie sich mehr Zeit nahmen, eine so große Ein weiteres wichtiges Element dieses Gesetzes ist Fülle von Fehlern fabrizierten. Es ist ein Armutszeugnis, die Frage der Erstattung von arzneimittelähnlichen Me- wenn Sie so eine Leistung abliefern. Mehrfach wurde dizinprodukten. Die Erstattung durch die gesetzliche diese Reform als Meisterstück der schwarz-roten Koali- Krankenversicherung war in der Vergangenheit zwar tion angekündigt – mit dieser Leistung wären Sie kra- grundsätzlich möglich, aber die bisherige Fassung des chend durch jede Gesellenprüfung gefallen. betreffenden Paragrafen im Fünften Buch Sozialgesetz- Die FDP-Bundestagsfraktion hatte seinerzeit in ihrem buch hat sich in der Praxis leider nicht bewährt. In der Entschließungsantrag zum GKV-WSG ausführlich dar- Vergangenheit gab es an dieser Stelle immer wieder Un- gelegt, warum sie dieses Gesetz ablehnt. Nun stellt sich sicherheiten bis hin zu Gerichtsverfahren über die Frage, hier und heute die Frage: Wie wollen wir uns hinsicht- ob ein bestimmtes Medizinprodukt von den gesetzlichen lich des Gesetzes zur Änderung medizinprodukterechtli- Krankenkassen erstattet wird. Um eine sichere und ein- cher und anderer Vorschriften verhalten? deutige Rechtslage zu schaffen, haben wir diesen Para- grafen neu formuliert. Wir haben immer unsere Unterstützung zugesagt, wenn von der Bundesregierung sachgerechte Gesetze Die Opposition kritisiert doch so häufig die angeblich vorgelegt werden. Immer dort, wo es dem Wohle des fehlenden Bemühungen der Großen Koalition beim Bü- Patienten, der Erleichterung der Arbeit der Ärzteschaft rokratieabbau. Sehen Sie sich dieses Gesetz ruhig einmal und es der Unterstützung der Medizintechnologieunter- näher an; denn hier wird an vielen Stellen Deregulierung nehmen und damit der Sicherung von über 150 000 Ar- und Entbürokratisierung konsequent umgesetzt. Davon beitsplätzen dient, wird die FDP sich nicht verweigern. (B) profitieren die betroffenen Unternehmen und letztend- Solchen Gesetzen werden wir zustimmen. (D) lich die ganze Volkswirtschaft. Um nur einige Beispiele zu nennen: Überflüssig gewordene Regelungen zu In- An dieser Stelle lohnt ein Blick in die Branche, um vitro-Diagnostica werden gestrichen, nicht notwendige die es hier geht. Wir sprechen von hochinnovativen Un- Anzeigepflichten bei Klinischen Prüfungen entfallen ternehmen, die in über 11 000 Unternehmen insgesamt und Einrichtungen, die Medizinprodukte steril aufberei- über 150 000 Menschen einen Arbeitsplatz bieten. Der ten und den Behörden bereits bekannt sind, müssen nicht Medizintechnologiemarkt in Deutschland ist nach den mehr zusätzlich behördlich erfasst werden. USA und Japan der drittwichtigste Markt weltweit. Circa 20 Milliarden Euro werden jährlich in Deutsch- Dieses Gesetz verfolgt mehrere Ziele: mehr Transpa- land umgesetzt. Übrigens führt die Branche der Medi- renz, Entbürokratisierung und vor allem die Erhöhung zintechnik die Liste der angemeldeten Patente in der Sicherheit der Medizinprodukte für die Patienten. Deutschland an, weit vor anderen Branchen. Die Unter- Verantwortliche Gesundheits- und Verbraucherpolitik nehmen der Medizintechnik investieren 7 Prozent ihres muss den Patientenschutz immer in den Mittelpunkt ih- Umsatzes in Forschung und Entwicklung und tragen so res Handelns stellen. Diesem Grundsatz folgt dieses Ge- zur Arbeitsplatzsicherheit und zu innovativen Produkten setz. in Deutschland bei. Das ist vorbildlich, vor allem zum Wohle der Patienten, denen innovative und gute Pro- Daniel Bahr (Münster) (FDP): Heute beraten wir dukte zur Verfügung stehen. hier im Deutschen Bundestag nicht nur über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än- Es ist gut und richtig, dass dieses Gesetz heute auf derung medizinprodukterechtlicher und anderer Vor- den Weg kommt. Es baut Bürokratie ab, trägt zur schriften, sondern auch noch einmal über das GKV- Kostenersparnis der öffentlichen Hand bei und stärkt die WSG und hier im Speziellen über die Arbeitsweise bzw. Innovationskraft der Unternehmen. Ziel des Gesetzent- die handwerklichen Fähigkeiten der Bundesregierung. wurfs zur Änderung medizinprodukterechtlicher und an- derer Vorschriften ist es unter anderem, dass Medizin- Im sogenannten Omnibusverfahren haben Sie eine produkte zum Zivil- und Katastrophenschutz auch nach große Anzahl von Änderungen im GKV-WSG dem vor- Ablauf des Verfalldatums eingesetzt werden können. liegenden Gesetzentwurf angehängt, um „formale“ Feh- Hervorzuheben ist das Beispiel der vom Bund zum Zwe- ler zu beheben. Nach Ihrer Darstellung beheben die Än- cke einer möglichen Pockenimpfung beschafften Impf- derungen lediglich technische und redaktionelle Fehler. nadeln. Da diese Nadeln nach Einschätzung von Exper- Sie sind aber vor allem ein Beleg für eine schlecht ge- ten gefahrlos auch über das Verfalldatum hinaus machte Gesundheitsreform. eingesetzt werden können, soll dies künftig auch recht- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9959

(A) lich zulässig sein, um eine unnötige und kostenintensive den betroffenen 300 000 Menschen, die in Deutschland (C) Neuanschaffung zu vermeiden. Voraussetzung ist, dass ohne Versicherungsschutz sind, immer noch circa Qualität, Leistung und Sicherheit der Produkte weiterhin 295 000 unversichert. Sie müssen sich vor jeder Erkran- gewährleistet sind. Schon bisher hat die Möglichkeit be- kung, jeder Verletzung fürchten, weil ein Beinbruch zum standen, Medizinprodukte ohne Verfalldatum an die persönlichen Bankrott führen kann. Denn sie können Bundeswehr abzugeben. Dies sollte nun auch für die Ab- sich im wahrsten Sinne des Wortes die Beiträge nicht gabe an die zuständigen Behörden des Bundes und der leisten. Arbeitslose, die aus Furcht vor Arbeitslosen- Länder zum Zweck des Zivil- und Katastrophenschutzes geld II in die Selbstständigkeit gegangen sind, haben oft gelten. Befürchtungen über Qualitätsverluste haben sich nur 700 bis 800 Euro brutto und müssen davon 200 Euro in den Beratungen nicht bestätigt. Krankenversicherungsbeitrag und die Miete zahlen. Da Eine weitere Änderung des Medizinproduktegesetzes bleibt zum Leben nichts mehr übrig. betrifft die Eigenherstellung, die speziell von In-vitro- Doch nun zum eigentlichen Gesetzentwurf. Von dem Diagnostika. Zudem will die Bundesregierung mit einem Medizinprodukterecht werden in Deutschland über Verzicht auf bestimmte Anzeigepflichten in Bezug auf 500 000 Medizinprodukte mit einem geschätzten Jahres- klinische Prüfungen, Aufbereitung und Sonderanferti- umsatz von etwa 23 Milliarden Euro erfasst. Ein be- gungen einen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten. trächtlicher Markt, der für die Industrie wie auch für die Die Regelung der Aufnahme von Produkten in das Nutzer von großem Interesse ist. Angefangen bei einem Medizinproduktegesetz, die nicht originär als Medizin- Verband bis hin zu Operationsrobotern – alle Gerätschaf- produkte hergestellt wurden, wurde verändert. Damit ten, die für die Behandlung von Patienten zum Einsatz wurde die Kritik der Fachverbände und der FDP aufge- kommen, werden auf dieser Grundlage zugelassen und nommen und eingearbeitet. Der ursprünglich geplanten überprüft. Das ist notwendig, ist allerdings in seiner An- Regelung hätten wir nicht zustimmen können. Die Aus- wendung oftmals schwerfällig. Deshalb sollte das Medi- weitung wäre zu weit gegangen und hätte viel Aufwand zinproduktegesetz mit diesem Entwurf entbürokratisiert in den Praxen bedeutet. Es wäre zu befürchten gewesen, und dereguliert werden. Aber was hier vorgelegt wird, dass selbst ein Teelöffel, den ein Arzt bei Untersuchun- führt nach Meinung vieler der in der Ausschussanhörung gen nutzt, als Medizinprodukt gegolten hätte. Unsere vertrenen Experten mitnichten zu einer Vereinfachung. Bedenken haben sich in der Anhörung bestätigt. Erfreu- Stattdessen werden nun auch Geräte, die bisher nicht als licherweise hat die Koalition aber die Kritik aufgegriffen Medizinprodukte gehandelt werden, unter dieses Gesetz und mit einem Änderungsantrag eine praktikable und fallen. So muss der Arzt ein Fahrradergometer, mit dem sachgerechte Lösung gefunden. Somit besteht nunmehr er Belastungs-EKGs durchführt, nun ebenfalls regelmä- (B) Klarheit, welche Produkte unter den Anwendungsbe- ßig überprüfen lassen. Ein Mehr an Sicherheit kann ich (D) reich des Medizinproduktegesetzes fallen. Die Grenzen daran nicht erkennen, aber die beträchtlichen Mehrkos- zwischen normalen Produkten und Medizinprodukten ten, die eine Zertifizierung mit sich bringt, sehe ich droht nun nicht mehr zu verwischen. wohl. Ist dieses Vorgehen entbürokratisierend, deregu- Deswegen wird die FDP heute dem Gesetz zum lierend und im Sinne der Nutzer? Wohle der Patienten, der Arbeitsfähigkeit der Ärzte- schaft und zur Unterstützung der Medizintechnologie- Für Patienten ist das Medizinproduktegesetz wegen branche zustimmen. Ich betone aber ausdrücklich, dass der Sondennahrung zur künstlichen Ernährung von be- die Zustimmung zum Gesetz keine Zustimmung zur ver- sonderem Interesse. Denn nur, wenn das entsprechende korksten Gesundheitsreform ist. Präparat auf der Ausnahmeliste der arzneiähnlichen Me- dizinprodukte steht, kann es auch von der Krankenkasse erstattet werden. Patientenverbände mahnen an, dass die Frank Spieth (DIE LINKE): In dem Gesetz ist mehr im Entwurf genannte Liste nicht ausreichend sei. Der drin, als draufsteht. Es werden im Huckepackverfahren Gemeinsame Bundesausschuss soll nun diese Liste über- gleichzeitig handwerkliche Fehler des GKV-Wettbe- prüfen und gegebenenfalls ergänzen. Wir unterstützen werbsstärkungsgesetzes korrigiert. So beseitigt die Re- ausdrücklich die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbst- gierung die offensichtlichen Macken, die im Gesetz hilfe, die zu Recht auf dieses Problem aufmerksam ge- reichlich Platz gefunden haben. In den Änderungsanträ- macht hat, und werden genau überprüfen, welche Konse- gen werden Fristen verschoben und Rechtschreibfehler behoben. Da diese Änderungen für sich gesehen schlüs- quenzen der Gemeinsame Bundesausschuss aus diesem sig sind, stimmen wir ihnen zu. An unserer grundsätzlich Auftrag zieht. ablehnenden Haltung zum WSG halten wir aber weiter Für den Katastrophenschutz wird es demnächst mög- fest, denn mit dieser „Reform“ wird ein Systemwechsel lich sein, Spritzen und Verbände auch dann zu verwen- vollzogen. Willentlich wird die Solidarität preisgegeben, den, wenn diese Medizinprodukte bereits das Haltbar- indem junge und gesunde Versicherte auf kostenspa- keitsdatum überschritten haben. Es mag ja sein, dass rende Teilkaskotarife ausweichen, während ältere und besondere Situationen besondere Maßnahmen erfordern. chronisch kranke Versicherte keine Chance auf solche Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, Rabattangebote haben und weiter „Vollkasko“ zahlen dass eines der reichsten Länder der Welt sich ausgerech- müssen. Damit wird die Solidargemeinschaft zerfallen. net für den Katastrophenfall gesundsparen möchte! Un- Trotz der nun bestehenden Möglichkeit, wieder in die ter anderem wegen der vorgenannten Gründe wird meine alte Krankenkasse aufgenommen zu werden, sind von Fraktion diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. 9960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Rolf Schwanitz, Parlamentarischer Staatssekretär (C) NEN): Kaum ist die Gesundheitsreform in Kraft, be- bei der Bundesministerin für Gesundheit: Wir beschlie- schäftigt sie uns schon wieder. Die Koalition wollte die ßen heute das Gesetz zur Änderung medizinprodukte- Diskussion um die misslungene Reform so schnell wie rechtlicher und anderer Vorschriften. Mit diesem Gesetz nur irgend möglich beenden. Deshalb hat sie auf der werden im Bereich des Medizinprodukterechts einige Zielgeraden des Gesetzgebungsverfahrens mehr auf Punkte neu geregelt bzw. klargestellt, die in den letzten Schnelligkeit als auf Sorgfalt gesetzt. Die Folgen sind Jahren Probleme im praktischen Vollzug bereitet haben. offensichtlich: Eine schier unübersehbare Zahl von tech- Außerdem werden Aufgaben von Behörden des Bundes nischen Fehlern. Diese Schludrigkeiten haben die Bera- neu geordnet, um sie künftig unbürokratischer zu erledi- tungen zum eigentlichen Inhalt des vorliegenden Geset- gen. In Teilbereichen der Anzeigepflichten wird zudem zesentwurfs stark behindert. Die Koalition hat die vielen dereguliert. Wir führen außerdem eine Ausnahme- regelung in das Medizinproduktegesetz für Krisen- und Flicken, die sie noch auf das GKV-Wettbewerbsstär- Katastrophenfälle ein, die hilft, unnötige Ausgaben zu kungsgesetz zu kleben hatte, einfach an den Gesetzes- vermeiden. entwurf angehängt. Damit werden aber zwei Gesetzes- materien vermischt, die überhaupt nichts miteinander zu Näher eingehen möchte ich auf drei Punkte, die in der tun haben. Alleine dieses Vorgehen würde schon eine Anhörung des Gesundheitsausschusses am 28. März Ablehnung des Gesetzentwurfes rechtfertigen. 2007 intensiv diskutiert wurden. Neben Medizinproduk- ten werden auch andere Produkte mit der Zweckbestim- Inhaltlich sind die diversen Änderungen der Gesund- mung eines Medizinproduktes eingesetzt. Ein Beispiel: heitsreform unproblematisch. Allerdings sollen sie ein Der Arzt setzt ein Fahrradergometer aus dem Fitnessbe- Gesetz nachbessern, das wir aus guten Gründen abge- reich für die Erstellung eines Belastungs-EKGs in seiner lehnt haben. Hinsichtlich des eigentlichen Anliegens des Praxis ein. Da dieses Produkt jedoch nicht als Medizin- Gesetzesentwurfs – der Änderung des Medizinprodukte- produkt in Verkehr gebracht wurde, können die für Me- gesetzes – wechseln Licht und Schatten. Zu begrüßen dizinprodukte geforderten messtechnischen Kontrollen sind die Regelungen, die den Patientenschutz verbes- für diese Produkte bisher nicht verlangt werden, obwohl sern. Dazu gehört die bessere Kontrolle von Geräten, die die Messgenauigkeit hier von großer Bedeutung für nicht als Medizinprodukte hergestellt wurden, aber in Diagnose und Therapie ist. Hier wurde in der Anhörung Krankenhäusern und Praxen als solche angewendet wer- vorgetragen, dass künftig angeblich zum Beispiel Tee- den. Sinnvoll ist auch die Regelung, dass künftig auch löffel, Waschlappen und Kühlschränke zu Medizinpro- mittelbare Gefährdungen durch ein Medizinprodukt dukten gemacht würden. Mein Kommentar: Das war nie durch das Gesetz erfasst werden. Zu begrüßen ist auch beabsichtigt. Um dies für jedermann klarzustellen, (B) (D) die Beendigung von Rechtsunsicherheiten bei der Erstat- wurde die Regelung aber überarbeitet. Durch die Ein- tung arzneimittelähnlicher Medizinprodukte. Allerdings schränkung der Erweiterung des Anwendungsbereichs wird man genau beobachten müssen, wie sich die vorge- auf Produkte mit hoher Sicherheitsrelevanz sowie auf sehene Listung durch den Gemeinsamen Bundesaus- bestimmte, insbesondere für die Diagnostik wichtige schuss auf die Leitungsansprüche der Patientinnen und Produkte mit Messfunktion erreichen wir drei Dinge: Patienten auswirkt. Auch die erweiterten Handlungs- Erstens. Ein Arzt darf auch weiterhin im Rahmen seiner spielräume für die Eigenherstellung von In-vitro-Dia- Therapiefreiheit Nichtmedizinprodukte einsetzen. Zwei- tens. Der vorbeugende Patientenschutz wird verbessert. gnostika sind grundsätzlich richtig. Allerdings ist der Drittens. Eine Überregulierung wird verhindert. Begriff „Medizinprodukte aus Eigenherstellung“ zu un- bestimmt. Hier wären deutlichere Anforderungen erfor- Auf eine neue rechtliche Grundlage wird künftig auch derlich gewesen, um für die notwendige Rechtssicher- die Erstattung sogenannter arzneimittelähnlicher Medi- heit zu sorgen. zinprodukte gestellt. Der Gemeinsame Bundesaus- schuss (G-BA) soll in Richtlinien nach § 92 SGB V die Aus Sicht des Patientenschutzes problematisch ist die erstattungsfähigen Produkte listen. Den in der Anhörung Regelung, dass Medizinprodukte, die für Krisen- und vorgetragenen Bedenken gegen eine entsprechende An- Katastrophenfälle angeschafft werden, auch nach Ablauf wendung von § 34 Abs. 1 Satz 1 bis 3 SGB V wurde des Verfallsdatums verwendet werden können. Die Be- durch einen Änderungsantrag Rechnung getragen. Diese dingung, „dass Qualität, Leistung und Sicherheit der Produkte müssen nicht der Behandlung einer schwerwie- Medizinprodukte gewährleistet sind“, ist rechtlich zu un- genden Erkrankung als Therapiestandard dienen. An- bestimmt. Es braucht klare Vorgaben für anzuwendende sonsten gelten die Ausschlusskriterien für Arzneimittel Kontrollverfahren. Falsch ist auch, dass der Zugang zur entsprechend. Dem Gemeinsamen Bundesausschuss Datenbank des DJMDI auf Behörden beschränkt werden wird ein Jahr Zeit gegeben, die Richtlinien zu erarbeiten. soll. Damit geht Transparenz gerade auch für Patientin- Dies kann aber nur gelingen, wenn die Hersteller früh- nen und Patienten verloren. zeitig entsprechend § 34 Abs. 6 SGB V Anträge an den Gemeinsamen Bundesausschuss stellen. Der letzte Punkt Wir werden den Gesetzesentwurf ablehnen. Die Än- betrifft die hauseigene Herstellung von In-vitro- derungen des Medizinprodukterechts werden an einigen Diagnostika. Wir brauchen eine Regelung, welche die Stellen zu neuen Rechtsunsicherheiten führen. Für mehr Belange von Patienten, Gesundheitseinrichtungen und Transparenz auf dem unübersichtlichen Markt für Medi- Herstellern ausgewogen berücksichtigt. Unser Aus- zinprodukte wird nichts getan. gangs- und Zielpunkt ist stets die Gesundheit der Bürge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9961

(A) rinnen und Bürger. Die Eigenherstellung in Gesundheits- wurde eine sachgerechte Lösung für die Frage der Wahl- (C) einrichtungen ist wichtig und anerkannt – nicht nur für freiheit bei den Energiesparausweisen gefunden. Tests zur Erkennung „seltener Erkrankungen“. Sie ist Ich möchte in diesem Zusammenhang deutlich ma- ebenso wichtig für die Neu- und Weiterentwicklung von chen, dass man einzelne Bestandteile unserer Klima- Diagnostika, die bereits auf dem Markt erhältlich sind. schutzanstrengungen, wie der EnEV, niemals isoliert be- Produkte aus Eigenherstellung müssen die gleichen An- trachten darf. Aus Sicht meiner Fraktion dürfen wir auf forderungen im Hinblick auf Sicherheit und Leistungsfä- keinen Fall den Blick für die Gesamtzusammenhänge higkeit erfüllen wie kommerzielle Produkte. Soweit die verlieren. Eigenherstellung in einem überschaubaren Rahmen stattfindet, genügt aber ein vereinfachtes Verfahren zum Der beste Klimaschutz besteht darin, erstens dafür zu Nachweis, dass die Produkte die gesetzlichen Anforde- sorgen, dass weniger Energie verbraucht wird; denn rungen erfüllen. Spielt sich die Herstellung allerdings in Energiesparen ist die beste und billigste Maßnahme zum einem industriellen Maßstab ab, gelten die gleichen Be- Klimaschutz. Deshalb kommt es zweitens darauf an, die dingungen, die auch für die Diagnostikaindustrie gelten. benötigte Energie so effizient wie möglich zu nutzen. Diese Neuregelung ermöglicht Innovation, ohne die Si- Energiesparen und Energieeffizienz werden drittens cherheit von Patienten zu gefährden. durch die Verwendung erneuerbarer Energien ergänzt. Mein Dank gilt allen Beteiligten. Wir haben in einem Neben der Energieeinsparverordnung gibt es eine positiven Miteinander kontrovers diskutierte Punkte zu Reihe von Instrumenten, die diesen richtigen Ansatz um- einer weitgehend einvernehmlichen Lösung geführt. Ich setzen. Um nur einige zu nennen: das CO2-Gebäude- bitte um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf. sanierungsprogramm, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, und das Marktanreizprogramm. Bürger und Unternehmen in Deutschland haben in Anlage 8 den letzten Jahren sowohl im privaten als auch im öf- Zu Protokoll gegebene Reden fentlichen Bereich freiwillig viel getan, um durch spar- samen Verbrauch von Energie, bauliche Veränderungen zur Beratung der Beschlussempfehlung und des und CO2-neutrale erneuerbare Energien einen Beitrag Berichts zu dem Antrag: Energieeinsparverord- zum Klimaschutz zu leisten. Daran sieht man: Die beste- nung zügig verabschieden – Energieausweis als henden Instrumente wirken. Die Menschen verstehen, in Bedarfsausweis einführen (Tagesordnungs- der Praxis damit umzugehen und sie anzuwenden. Wir punkt 18) sollten also vorsichtig sein, wenn wir weitere Instru- mente entwickeln, damit wir die Nutzer nicht überfor- (B) (D) dern. Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Die Bundes- gartenschau 2007 in Gera, in Ronneburg und im Land- Vielmehr müssen wir bestehende Instrumentarien kreis Greiz hat in diesen Tagen ihre Pforten erfolgreich fortschreiben, vereinfachen und ihre Finanzierung lang- geöffnet. Bei diesem Großereignis in meiner Thüringer fristig sicherstellen und verstetigen. Heimat sieht man, dass Umweltschutz und die Bewah- Wir müssen uns immer vor Augen führen: Energie- rung der Schöpfung in allen gesellschaftlichen Berei- verbrauch und -nutzung sind für die Menschen nicht die chen und Branchen einen hohen Stellenwert haben. einzigen Probleme, die sie zu bewältigen haben. Deswe- Zur Frage, was die Buga mit der Energieeinsparver- gen dürfen wir sie nicht mit bürokratischen Anforderun- ordnung – EnEV 2006 – zu tun hat, sage ich, nicht ohne gen überfrachten und sie im Rahmen ordnungspoliti- ein Augenzwinkern: scher Maßnahmen ständig überwachen und maßregeln. Erstens. Ich wäre ein schlechter Patriot, wenn ich die- Eine Energiepolizei – wenn man das so nennen darf – ses Ereignis im Herzen meiner ostthüringer Heimat nicht lehnt die Union ab; eine solche wäre kontraproduktiv. erwähnte. Den Menschen würde die Eigeninitiative verleidet, mit der sie schon jetzt erfolgreich Maßnahmen gegen den Zweitens. Wesentlicher ist, dass die Buga ein hervor- Klimawandel ergriffen haben. ragendes Beispiel dafür ist, wie Menschen einer ge- Die Einführung des Energieausweises, der in Umset- schundene Natur und Landschaft zu neuem Glanz und zung einer EU-Richtlinie erfolgte, dokumentiert die Er- im wahrsten Sinne des Wortes zu neuer Blüte verholfen folge, gleichzeitig aber auch die noch vorhandenen haben. Schwachstellen. Nach Auffassung der Union muss der Drittens. Die nachwachsenden Rohstoffe sind ein Energieausweis objektiv und einfach verständlich Aus- wichtiges Themenfeld dieser Bundesgartenschau. kunft über den wesentlichen energetischen Zustand eines Gebäudes geben. Er muss ohne bürokratischen Aufwand Man sollte selbst kommen und sich anschauen, was erstellt werden können und auch für den schmalen Geld- man tun kann, um dem Klimawandel aktiv entgegenzu- beutel erschwinglich bleiben. wirken. Da die Praktiker unter uns wissen, dass jeder Haus- Auch der Entwurf der Novelle zur EnEV ist ein Bei- eigentümer ohnehin eine Energieanalyse für sich macht, trag dazu. Sie wurde vom Kabinett beschlossen. Mit der ist es richtig, dass der Energieausweis nur bei Vermie- Einführung von Energieausweisen für Bestandsgebäude tung oder Verkauf erforderlich wird. Für Gebäude, die 9962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) der Wärmeschutzverordnung von 1977 oder vergleich- lung hat daher ein Gutachten in Auftrag gegeben, dessen (C) baren Richtlinien entsprechen, ist der Energieausweis Erkenntnisse in eine weitere Novellierung einfließen. auf Verbrauchsgrundlage ausreichend, ebenso bei mehr als fünf Wohnungen, da hier das subjektive Wohnverhal- Die EnEV ist auch der richtige Platz, um Regelungen ten eine geringere Rolle spielt. für die Anwendung regenerativer Wärmeenergie zu for- mulieren und Förderkriterien festzuschreiben. Geson- Der teurere Energiebedarfsausweis soll nur bei Woh- derte Gesetze sind daher nicht erforderlich. nungen erforderlich sein, die den beschriebenen Wärme- dämmstandard nicht erfüllen. Hier war es gerade unser Interesse, die Eigentümer von kleineren Häusern, die Rainer Fornahl (SPD): Die Bundesregierung hat am sich schon in der Vergangenheit um die energetische Sa- 25. April eine Verordnung zur Energieeinsparung be- nierung ihrer Häuser gekümmert haben, nicht durch schlossen und darin den Handlungsrahmen für die Aus- teure Energiebedarfsausweise unnötig zu belasten. stellung von Energieausweisen für den Gebäudebestand festgelegt. Damit hat sich ein Teil der Forderungen in Mit der Regelung in der vorliegenden Novelle haben dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, beispielsweise wir dafür Sorge getragen, dass der notwendige Ausweis die Forderung, den Energieausweis Mietern oder Käu- finanziell erschwinglich bleibt. Vielleicht nicht für je- fern auszuhändigen, erledigt. Die Berücksichtigung wei- den, aber doch für den Großteil der Hauseigentümer terer Forderungen ginge über eine 1:1-Umsetzung der macht es durchaus einen Unterschied, ob man 50 Euro zugrunde liegenden EU-Richtlinie 2002/91/EG über die oder 500 Euro dafür aufwenden muss. Da zieht auch das Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden hinaus, würde zu Argument, das Haus werde ja vermietet oder verkauft, Verzögerungen bei der Verabschiedung der novellierten wenig; denn Kosten sind Kosten. Es gilt, sie stets vor- Energieeinsparverordnung und erheblichen Mehrkosten sichtig zu planen und zu kalkulieren. Überbordende führen. Allein der Vorschlag, einen Ortstermin zwingend Bürokratieausgaben würden dafür sorgen, dass für den vorzuschreiben, würde wesentliche Bemühungen um eigentlichen Zweck, nämlich die energetische Sanie- eine kostenverträgliche Ausgestaltung der Energieaus- rung, Mittel fehlen. weise zunichtemachen und die Mindestkosten wenigs- tens verdoppeln. Auch die Einführung eines Zertifizie- Erklärte Ziele der Union sind Planungssicherheit und rungsverfahrens wäre eine unnötige bürokratische Verlässlichkeit für die Menschen. Mit einer Übergangs- Zusatzbelastung. Die Richtlinie fordert dies nicht, frist von zehn Jahren bei der Gültigkeit aller Energieaus- ebenso wenig Vorgaben zum Einsatz erneuerbarer Ener- weise können Hauseigentümer planen. gien. Hier gibt es Anreize durch die EnEV, das EEG und Da sich der Kabinettsbeschluss zur EnEV-Novelle in weitere Förderprogramme, sodass es keiner zusätzlichen (B) das Jahr 2007 hinein verzögert hat, halte ich die verein- Regelung bedarf. (D) barte vollständige Wahlfreiheit bis zum Inkrafttreten der geänderten Verordnung am 1. Januar 2008 für zu kurz. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass der sparsame Bleibt es bei der Frist, könnte es zu einem Antragsstau und effiziente Umgang mit Energie unabdingbare Vo- kommen; die Kapazitäten zur Erstellung der Bedarfsaus- raussetzung für eine sichere und kostengünstige Energie- weise sind vielleicht nicht ausreichend. Die Preise für versorgung ist, und dass in gleichem Maße Ressourcen die Ausfertigung könnten steigen; die Qualität der Er- und Klima geschont werden müssen. Ohne Zweifel ist arbeitung könnte sinken. Das wollen wir alle nicht. der Gebäudebereich dabei von zentraler Bedeutung. Hier gibt es ein großes Potenzial, Energie einzusparen und et- Eine angemessene Fristverlängerung kann die mögli- was für den Klimaschutz zu tun, indem wir die CO2- chen Missstände minimieren. Solche Forderungen aus Emissionen minimieren. Knapp 40 Prozent der gesamten der Wohnungswirtschaft, den Verbänden der Hauseigen- deutschen Endenergie geht in Gebäuden drauf, im We- tümer sowie aus den Ländern sollten ernst genommen sentlichen für die Heizung. Und drei Viertel der deut- werden. schen Wohngebäude sind älter als 30 Jahre; sie liegen damit außerhalb aller Wärmeschutzregeln, die erst 1977 Ich hatte eingangs darauf hingewiesen, dass wir mit erlassen wurden. Das geht am Klima nicht spurlos vor- den vorhandenen Instrumenten in der Lage sind, unsere bei: In deutschen Heizungskellern entsteht annähernd so ehrgeizigen klimapolitischen Ziele zu realisieren. So ha- viel CO2 wie im Autoverkehr. Durch Maßnahmen zur ben wir uns vorgenommen, bis 2020 den CO2-Ausstoß energetischen Gebäudesanierung kann der Ausstoß von um mindestens 30 Prozent, gegenüber 1990, zu reduzie- Kohlendioxid in diesem Feld binnen zehn Jahren um ren. Unser Ziel prägte auch wesentlich den Klimagipfel 30 Prozent reduziert werden. Es lassen sich bis 2020 im März: Die EU strebt bis 2020 ebenfalls eine Verringe- rund 40 Milliarden Euro Energiekosten sparen. Dies ent- rung um 30 Prozent an. spricht einer Einsparung von 500 Euro jährlich für eine Darum sollten wir die Diskussion der nächsten Mo- 80-Quadratmeter-Wohnung. nate dafür nutzen, notwendige Maßnahmen und mögli- che Entwicklungsschritte in die bestehenden Instrumente Die jetzige Novelle der EnEV ist ein wichtiger Schritt einzuarbeiten und nicht neue bürokratische Gebilde aus in diese Richtung. Die künftigen Energieausweise mit dem Boden zu stampfen. Eine weitere Novellierung die- ihren Modernisierungsempfehlungen zeigen, wie viele ser EnEV ist dazu ein wichtiger Baustein. Kilowattstunden Energie pro Quadratmeter und Jahr nö- tig sind, um die Räume von Gebäuden zu heizen und Die materiellen Anforderungen werden steigen. Das warmes Wasser zu erzeugen. Dadurch wird es Mietern Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick- und Käufern künftig erleichtert, die anstehenden Neben- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9963

(A) kosten abzuschätzen. Gleichzeitig wird mit dem neuen Joachim Günther (Plauen) (FDP): Wir haben ges- (C) Energieausweis ein Anreiz geschaffen, Gebäude so zu tern im Bauausschuss lange über Klimaschutz und damit sanieren, dass danach Energie gespart und besser genutzt verbundene Fragen der Reduzierung von CO2-Emissio- wird. Ziel ist es auch, den Ausstoß von Kohlendioxid zu nen gesprochen. Wir sind uns auch alle darin einig, dass verringern. Zwei verschiedene Verfahren werden ver- vor allem der Bausektor dazu einen gewaltigen Beitrag wendet, um Energieausweise zu erstellen. Der Ver- leisten kann. Immerhin stammen mehr als 40 Prozent der brauchsausweis wertet die Energieabrechnungen von CO2-Emissionen aus dem Gebäudebereich. Also nicht drei Jahren aus. Den Bedarfspass errechnen Energiebera- nur, weil wir ohnehin durch die EU-Richtlinie (Energie- ter nach einer Untersuchung der Bausubstanz. Es gab effizienzrichtlinie 2002/91/EG) verpflichtet sind, diese dazu Kritik von verschiedenen Seiten, insbesondere aus in nationales Recht umzusetzen, sondern auch, weil es der Wohnungswirtschaft. ein Gebot der Zeit und eine Pflicht gegenüber nachkom- menden Generationen ist, müssen wir uns diesen Fragen Die Bundesregierung hat in dieser Frage einen Kom- zuwenden. promiss beschlossen. Für alle nicht modernisierten Ge- bäude, die vor 1977, also vor der ersten Wärmeschutz- Im September 2005 ist das 2. Änderungsgesetz zum verordnung, gebaut wurden, gilt der bedarfsorientierte Energieeinsparungsgesetz in Kraft getreten, das die Er- Ausweis zwingend, wenn es in diesem Gebäude weniger mächtigungsgrundlage für die Einführung eines Energie- als fünf Wohnungen gibt. Für alle anderen Gebäude be- ausweises durch Verordnung der Bundesregierung ent- steht Wahlfreiheit. Mit diesem Kompromiss wurde, hält. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, können sich glaube ich, eine ausgewogene Lösung gefunden, die so- sicher noch alle gut daran erinnern, wie schwierig es wohl dem Anliegen der fachlichen Aussagekraft des war, Konsens zu Fragen des Energieausweises im Ener- Energieausweises und dem Anliegen einer ausreichen- gieeinsparungsgesetz zu finden. Die FDP hat sich seiner- den Berücksichtigung der Kostenseite angemessen zeit – damals noch gemeinsam mit der Fraktion der Rechnung trägt. Gleichzeitig ist der Kompromiss ein CDU/CSU – dafür stark gemacht, dass das Gesetz die Spiegelbild dessen, was mit dem Energieausweis be- Wahlfreiheit zwischen Bedarfs- und Verbrauchsausweis zweckt wird: mehr Transparenz auf dem Immobilien- vorsieht und dass der Energieausweis lediglich Empfeh- markt. Der Kauf- und Mietinteressent soll energetisch lungen ohne Sanktionscharakter haben soll. Mit beiden schlechte Gebäude erkennen können. Der Eigentümer Forderungen haben wir uns damals durchgesetzt. Mit soll Anreize zur sinnvollen energetischen Sanierung be- dem heute hier vorliegenden Antrag der Grünen soll eine kommen. Vor diesem Hintergrund ist die mit dem Kom- dieser beiden Regelungen, nämlich die Wahlfreiheit, promiss gefundene Grenzziehung bei der Anwendung wieder rückgängig gemacht werden. Dieselbe Forderung von Bedarfs- und Verbrauchsausweis zu verstehen. Der ist der Grund, weshalb wir erst jetzt, mehr als eineinhalb (B) Bedarfsausweis hat gerade bei Gebäuden mit wenigen Jahre nach Inkrafttreten des 2. Änderungsgesetzes zum (D) Wohneinheiten Vorteile, weil seine Aussagegenauigkeit Energieeinsparungsgesetz, über Inhalte eines Energie- größer ist und er nicht das Nutzerverhalten abbildet. ausweises reden können, denn seit Anfang 2006 hatte Wenn kleine Gebäude jedoch unter dem Regime der der Bundesumweltminister versucht, das Gesetz zu kon- Wärmeschutzverordnung, also ab Ende 1977 oder später terkarieren, indem er – wie jetzt die Grünen mit ihrem errichtet oder entsprechend modernisiert worden sind, Antrag – die Wahlfreiheit wieder aufheben und stattdes- weisen sie bereits eine bessere energetische Qualität sen die Einführung des Bedarfsausweises durchsetzen auf, sodass für sie der Verbrauchsausweis ausreichend wollte. ist. Das sieht die mir seit vorgestern nun vorliegende Fas- Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der bedarfsorien- sung der Energieeinsparverordnung zum Glück nicht tierte Ausweis flächendeckend durchsetzen wird, ist vor. Sie beschränkt zwar ab dem 1. Januar 2008 für meines Erachtens groß, denn wer künftig staatliche Gel- einige Gebäudetypen diese absolute Wahlfreiheit, aber der für die Gebäudesanierung in Anspruch nehmen will, damit können wir als FDP leben. Die FDP begrüßt vor braucht den Bedarfsausweis. Deshalb muss man die no- allem, dass der Verordnungsentwurf klar herausstellt, vellierte EnEV im Zusammenhang mit dem CO2-Gebäu- dass die mit einem Energieausweis gegebenen Empfeh- desanierungsprogramm sehen. Die EnEV schafft Trans- lungen keine rechtlichen Sanktionen nach sich ziehen für parenz und stellt Forderungen an den Vermieter oder den Fall, dass der Gebäudeeigentümer diese nicht um- Verkäufer. Das Gebäudesanierungsprogramm bietet Un- setzt. Es ist richtig, es dem Wettbewerb der Gebäude- terstützung, sodass tatsächlich saniert werden kann. Im eigentümer untereinander zu überlassen, wann sie in Jahr 2006 sind über die KfW 1,5 Milliarden Euro geflos- welchem Umfang Maßnahmen zur Energieeinsparung sen. Es wurden 265 000 Wohneinheiten saniert. Dadurch unternehmen. Die Marktpreise beim Verkauf oder der sparen wir rund 1 Million Tonnen CO2-Emissionen ein. Vermietung von Immobilien werden das konkrete Ver- halten der Eigentümer steuern – davon bin ich persönlich Die beschlossene Novellierung der EnEV ist ein fest überzeugt. Einer staatlichen Reglementierung bedarf wichtiger Beitrag zu mehr Energieeffizienz, wir dürfen es deshalb nicht. Die mit dem Antrag der Grünen gefor- aber hier nicht stehenbleiben. Die Ankündigung von derte Ortsbesichtigung durch den Gutachter halten wir Verkehrsminister Tiefensee, die Energieeinsparverord- für ein zusätzliches bürokratisches Monster, das außer- nung im kommenden Jahr weiter zu verschärfen, die dem den Energieausweis verteuern würde. Standards für Neugebäude anzuheben und die Energie- effizienz um bis zu 30 Prozent zu verbessern, ist jeden- Aus den genannten Gründen wird dem Antrag der falls uneingeschränkt zu begrüßen. Grünen nicht zugestimmt. 9964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Schon am Beginn die- Die Punkte drei bis fünf des vorliegenden Antrags (C) ser Legislaturperiode hatte Die Linke in ihrem Antrag sind also von der Großen Koalition nicht abgearbeitet „Die zukünftige Energieversorgung sozial und ökolo- worden. Deshalb stimmen wir dem Antrag zu. gisch gestalten“ die Einführung des bedarfsorientierten Energieausweises für Gebäude gefordert. Nach EU-Vor- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist gabe hätte der Energiepass schon Anfang 2006 Pflicht schon ein Kreuz mit dieser Bundesregierung. Vor über sein müssen. Aber nach guter Gewohnheit der Großen einem Jahr verkündete Minister Tiefensee noch stolz, er Koalition, Warten statt Taten, wurde auch dieses Vorha- habe sich mit seinem Kollegen Glos über die Energieein- ben um eineinhalb Jahre verschleppt. Dieses Problem sparverordnung geeinigt. Und dann? Still ruhte der zieht sich wie ein roter Faden durch die Legislatur: Es Tiefensee! Tatsächlich dauerte es noch bis vor 14 Tagen, wird viel angekündigt beim Klimaschutz, tatsächlich ge- als uns im Ausschuss die soeben im Kabinett beschlos- macht wird wenig. Ich nenne nur KWK-Novelle, regene- sene Verordnung vorgestellt wurde, und dies auch nur, ratives Energien-Gesetz und Emissionshandel. weil wir das Thema als Selbstbefassung auf die Tages- ordnung gesetzt hatten. Selbstredend, dass wir den ge- Nun hat die Regierung die Verordnung vorgelegt. druckten Entwurf auch dann noch nicht einmal vorliegen Doch das Ergebnis ist das Papier nicht wert, auf dem der hatten. Dies alles erinnerte mich doch sehr an das ver- Text geschrieben steht. Mit wirksamem Klimaschutz hat gangene Trauerspiel mit Ihrem Infrastrukturplanungsbe- das nichts zu tun. schleunigungsgesetz. Der Wahl-Energiepass ist doch Augenwischerei, Jetzt könnte ich ja wenigstens sagen: „Was lange meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. währt, wird endlich gut.“ Aber auch dieses Attribut kann Das ist ein fauler Kompromiss und ein Kniefall vor der ich dieser schwachen Energieeinsparverordnung beim Immobilienlobby. Denn genau die hat eine Wahl, der besten Willen nicht zubilligen. einfache Häuslebauer nicht. Ihr Energieausweis führt Denn sie bleibt in vielen Punkten weit hinter dem zu- zum Missbrauch und nicht zu sinkenden Nebenkosten. rück, was wir bereits heute im Bereich der Energieein- Wie viel Energie ein Gebäude tatsächlich verbraucht, sparung und Effizienzsteigerung baulich und technisch werden Wohnungsnutzer auch in Zukunft nicht wissen. realisieren können und angesichts des Klimawandels Wesentliche Beiträge zum Klimaschutz sind deshalb und der drohenden Klimakatastrophe auch dringend um- auch nicht zu erwarten. setzen müssten. Es scheint mir, als ob Sie bis heute schon wieder vergessen haben, worüber wir in den ver- Das Problem: Die meisten Gebäudeeigner brauchen gangenen Wochen so viele Debatten geführt haben. (B) lediglich die Verbrauchswerte der letzten Jahre anzuge- (D) ben. Das sagt aber nur wenig über ein Gebäude aus. Das Mit dieser Energieeinsparverordnung wird die zeigt nur an, wie sich der Vormieter beim Heizen verhal- Chance vergeben, zumindest im Gebäudesektor bezüg- ten hat. Denn der Energieverbrauch kann je nach Nutzer- lich der CO2-Emissionsreduktion einen großen Schritt verhalten um 50 Prozent schwanken. Vielleicht kann nach vorne zu machen, und das in einem Sektor, in dem Herr Schäuble die Daten für seine innere Sicherheit ge- Investitionen häufig eine Festlegung auf 50 Jahre und brauchen, den Verbraucherinnen und Verbrauchern sa- mehr bedeuten, und wir auch aus diesen Gründen keine Zeit mehr zu verlieren haben. gen die Zahlen nur wenig. Alle Welt diskutiert die IPCC-Berichte, und dieses Die Linke fordert deshalb aus gutem Grund einen Be- Gremium hat in der letzten Woche – auch von der Bun- darfs-Energiepass, der den Energiebedarf eines Hauses desregierung unwidersprochen – gefordert, dass wir un- vergleichbar darstellt. Dabei werden verwendete Bau- sere Emissionen in den nächsten acht bis 15 Jahren und stoffe und Heizungstechniken auf fachlichen Grundla- nicht erst in 50 Jahren drastisch reduzieren müssen. Aber gen bewertet. Gleichzeitig müssen Defizite bei der das scheint Sie nicht zu tangieren. Da setzen Sie lieber Wärmesanierung angezeigt und Vorschläge zur Energie- mühsam und bürokratisch eine uralte EU-Verordnung einsparung gemacht werden. Das macht Sinn, denn ein aus dem Jahre 2002 um, auch wenn ein paar Jahre zu Energiepass für Gebäude muss den Mietern helfen, kost- spät. Und natürlich muss dies auch eins zu eins gesche- spielige Wohnungen von denen mit guter Wärmedäm- hen; das steht ja schließlich so im Koalitionsvertrag. Ob mung und sparsamer Heizung zu unterscheiden. es dem Klima hilft oder nicht, ist egal, Hauptsache eins zu eins. Die Kollegen von der CDU/CSU hatten ja angeführt, dass bei einem Bedarfs-Energiepass „auf die Haus- und Dabei hätten wir von Ihnen erwarten müssen, dass Sie Wohnungseigentümer erhebliche Kosten zukommen einem Sektor, der für mindestens 20 Prozent der CO2- würden.“ Das stimmt natürlich nur, wenn sich Gebäude- Emissionen verantwortlich zeichnet, ambitionierte Ziele eigner weigern, in Wärmedämmung und moderne Hei- vorgeben, um wenigstens die von Ihnen selbst geforder- zungen zu investieren. Der Wert von klimaschädlichen ten Reduktionsziele erreichen zu können. und energieverschwendenden Häusern würde natürlich Das kann und wird mit dieser Verordnung nicht gelin- fallen. Aber genau das ist doch der Sinn der Verordnung: gen, denn sowohl bei den Wohn- als auch bei den Nicht- Energieeffiziente Häuser werden mehr nachgefragt. Wer wohngebäuden, sowohl beim Neubau als auch beim Be- Mieter an der Nase herumführen will, muss auffliegen. standsbau bleiben Ihre Anforderungen weit hinter den Das hat die Bundesregierung nun verhindert. Möglichkeiten zurück. Wir fördern schon heute mit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9965

(A) KfW-Mitteln Passivhäuser oder Niedrigenergiehäuser gieeinsparverordnung zu erlassen. Die im Antrag gefor- (C) 40 und 60 und wissen, dass es sogar noch besser geht. derte parlamentarische Beratung der neuen EnEV würde Aber selbst in der Bedarfsberechnung liegen normale zudem deren Verabschiedung erheblich verzögern. Dies Neubauten nach ENEV im Standard noch deutlich über würde bei der Öffentlichkeit, die an dieser Novellierung 100 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr. Noch großes Interesse zeigt, auf Unverständnis stoßen und schlimmer sieht es bei den Nichtwohngebäuden aus, bei wäre nicht sachgerecht. Weitere im Antrag aufgestellte denen der Standardbedarf bei 200 und mehr Kilowatt- Forderungen würden eine überschießende Richtlinien- stunden pro Quadratmeter und Jahr liegt, ganz zu umsetzung darstellen. schweigen von dem noch schlechteren Niveau bei mo- dernisierten Bestandsgebäuden. Die Bundesregierung ist, wie übrigens grundsätzlich bei Umsetzung von EG-Richtlinien, vom Grundkonzept Ich will nur am Rande darauf hinweisen, dass es sich der Eins-zu-eins-Umsetzung ausgegangen. Wir haben bei den Bedarfswerten um theoretische Werte handelt; in also bewusst nicht aufgesattelt, sondern uns an das, was der Praxis dürften der Energiebedarf und damit die CO2- die Richtlinie von den Mitgliedstaaten verlangt, gehal- Emissionen noch deutlich höher – selbst bei Neubauten – ten. sein. Das zeigen stichprobenartige Überprüfungen der Ausführungsqualität. Aber darüber spricht man ja lieber Hinzu kommt, dass wir in Zeiten, in denen Entbüro- nicht. kratisierung, bessere Rechtsetzung und Bürokratiekos- tenmessung wichtige Elemente unserer Politik sind, Die weiterhin unterschiedlichen Anforderungen an nicht ohne Not neue Bürokratien und neue Bürokratie- Wohn- bzw. Nichtwohngebäude zeigen zudem, dass der kosten aufbauen dürfen. gewerbliche und industrielle Sektor geschont wird und die privaten Haushalte offensichtlich die Hauptlast der Dies betrifft zum einen die Forderung nach einem CO2-Reduktion im Gebäudesektor tragen sollen. Zertifizierungsverfahren für die Energieausweisausstel- ler. Die Einführung eines Zertifizierungsverfahrens führt Bei den hochgelobten Energieausweisen schauen die sowohl zu neuen bürokratischen Strukturen als auch zu Verbraucherinnen und Verbraucher in die Röhre. Nur auf mehr Kosten. ausdrückliche Anforderung ist jetzt der Vermieter ver- pflichtet, den Mieterinnen und Mietern eine Kopie des Unser Konzept besteht deshalb darin, ohne Zulas- Energieausweises zu übergeben. Dann können sich diese sungsverfahren die erforderliche Qualifikation der Aus- mit den vermutlich fotokopierten – eigentlich farbigen – steller durch die rechtlichen Vorgaben in der Verordnung Diagrammen in Schwarz-Weiß herumärgern und rätseln, sicherzustellen. ob denn ihr Mietshaus vor oder nach dem Stichtag er- (B) richtet wurde und ob und warum es sich um einen Be- Die zweite Forderung, die mir in diesem Zusammen- (D) darfs- oder einen Verbrauchsausweis handelt. Was das hang besonders ins Auge sticht, ist die Forderung nach mit Transparenz zu tun hat, wird mir auf ewig ein Rätsel einer durchgängigen Verpflichtung, für alle Gebäudety- bleiben. Auch hier wird eine große Chance vergeben, pen sogenannte Bedarfsausweise vorzulegen, die auf in- denn durch eine optimale Information der Verbraucher genieurtechnischen Berechnungen beruhen. hätten diese bei der Wohnungswahl künftig mit den Hier sind wir beim zentralen Punkt dieser Verord- Füßen abstimmen können. Ob das so kommt, daran habe nung. Künftig muss den Interessenten bei Verkauf und ich meine ernsten Zweifel. Vermietung von Gebäuden ein Energieausweis zugäng- Wir werden bei diesem Thema nicht locker lassen, lich gemacht werden. Der Interessent soll wissen, ob es und wir kündigen Ihnen schon jetzt an, dass wir Sie bei um ein energetisch gutes oder um ein energetisch der von Ihnen bereits angekündigten erneuten Novellie- schlechtes Gebäude geht. Deshalb werden in Zukunft rung der EnEV noch in dieser Legislaturperiode zum Ja- Energieausweise eine wesentliche Rolle bei der Ent- gen tragen werden. Wir haben einfach keine Zeit mehr! scheidungsfindung von Kauf- und Mietinteressenten für Gebäude oder Wohnungen spielen. Hierdurch wird die Transparenz bezüglich der Energieeffizienz von Gebäu- Karin Roth, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- den auf dem Immobilienmarkt erheblich verbessert. minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Der An- trag betrifft die Novellierung der Energieeinsparverord- Bei der Frage, welcher Energieausweis in welchen nung, die das Kabinett am 25. April 2007 beschlossen Fällen zulässig ist, also der ingenieurtechnische Bedarfs- hat, und dabei insbesondere die Energieausweise. Mit ausweis oder der sogenannte Verbrauchsausweis, hat die dem Antrag werden unter anderen die Einbringung der Koalition sehr sorgfältig abgewogen und sich bei den EnEV in die parlamentarische Beratung und bestimmte Wohngebäuden auf ein differenziertes Modell verstän- Regelungen zu Energieausweisen und Modernisierungs- digt, das die entstehenden Kosten für die Immobilien- empfehlungen gefordert, die über die EG-Richtlinie über wirtschaft auf ein vertretbares Maß begrenzt: Energie- die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden hinausgehen. ausweis auf Bedarfsgrundlage bei „alten, unrenovierten“ Ich bitte um Ablehnung des Antrags, der bereits in al- Wohngebäuden mit weniger als fünf Wohnungen, also len beteiligten Ausschüssen abgelehnt wurde. mit einem relativ schlechten Wärmedämmstandard, das erreicht nicht das Niveau der 1. Wärmeschutzverord- Zu bedenken ist, dass der Deutsche Bundestag die nung von 1977; Energieausweis auf Verbrauchsgrund- Bundesregierung im Energieeinsparungsgesetz ermäch- lage als Wahlmöglichkeit bei allen anderen Wohngebäu- tigt hat, mit Zustimmung des Bundesrates die neue Ener- den. 9966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Mit diesem Kompromiss hat die Bundesregierung halb von acht Jahren. Diese Kostenlast trifft fast aus- (C) eine ausgewogene Lösung gefunden, die den verschiede- schließlich die Länder, denn bei den wenigen Bundesge- nen betroffenen Belangen angemessen Rechnung trägt, richten spielt die Prozesskostenhilfe keine nennenswerte also dem Anliegen nach fachlicher Aussagekraft des Rolle. Energieausweises und dem Anliegen nach ausreichender Der Ausgabenexplosion bei der Prozesskostenhilfe Berücksichtigung der Kostenseite. Grundsätzlich ist der können die Länder nicht tatenlos zusehen. Hier gilt es Energieausweis dem Kauf- und Mietinteressenten zu- gegenzusteuern, um den Anstieg der Ausgaben schnell gänglich zu machen. Auf Verlangen ist dem Interessen- und dauerhaft zu begrenzen und so die Haushalte der ten auch eine Kopie zu überlassen. Wir haben also Länder von vermeidbaren Ausgaben zu entlasten. Der durchaus die Fälle berücksichtigt, in denen ein Interes- Bundesrat hat daher mit breiter Mehrheit den heute zur sent eine Kopie mitnimmt, um zu einer Beurteilung und Beratung anstehenden Gesetzentwurf eingebracht, weil Entscheidungsfindung kommen zu können. er hier vordringlichen Handlungsbedarf sieht. Er befin- Eine Verschärfung der materiellen Anforderungen an det sich dabei in erfreulicher Übereinstimmung mit der Gebäude, Neu- und Altbauten, ist jetzt nicht vorgesehen, Bundesregierung, die in ihrer Stellungnahme zu dem wegen der eben erwähnten Eins-zu-eins-Umsetzung, Entwurf ihre Bereitschaft erklärt hat, die Länder bei der wird aber unmittelbar im Anschluss an diese Novelle Konsolidierung ihrer Haushalte zu unterstützen. vorbereitet und zeitnah umgesetzt. Der Entwurf schlägt eine Vielzahl von Maßnahmen Über die Notwendigkeit einer Anpassung der energe- zur Ausgabenbegrenzung vor, die eine Entlastung der tischen Anforderungen herrscht innerhalb der Bundesre- Länderhaushalte um annähernd 100 Millionen Euro pro gierung Einigkeit. Mit dieser Novelle sind unsere An- Jahr erwarten lassen. Sie sollen hier nur knapp skizziert strengungen zur Verbesserung der energetischen Qualität werden. Ein wesentliches Ziel ist es, den Gerichten wirk- im Gebäudebereich noch nicht am Ende angelangt. Wir samere Mittel gegen die missbräuchliche Inanspruch- werden alles tun, um die Potenziale der Energieeinspa- nahme von Prozesskostenhilfe an die Hand zu geben. rung und die Nutzung von erneuerbaren Energien im Ge- Dazu wird die Versagung der Prozesskostenhilfe bei bäudebereich weiter auszuschöpfen. mutwilliger Rechtsverfolgung erleichtert. Darüber hinaus sollen die Vorschriften über das Ver- fahren verbessert werden, um sicherzustellen, dass die Anlage 9 persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des An- Zu Protokoll gegebene Reden tragstellers einheitlich und zutreffend erfasst werden. Dazu werden die Gerichte zum einen in die Lage versetzt, (B) Zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur ähnlich wie schon jetzt Sozial- und Finanzbehörden, die (D) Begrenzung der Aufwendungen für die Prozess- Angaben des Antragstellers zu überprüfen. Zum anderen kostenhilfe (Prozesskostenhilfebegrenzungsge- soll die arbeitsintensive und von vielen Einzelumständen setz – PKHBegrenzG) (Tagesordnungspunkt 19) abhängige Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom Richter auf den Rechtspfleger übertra- Elisabeth Heister-Neumann, Ministerin der Justiz gen werden können. Wenn ein Rechtspfleger diese Auf- (Niedersachsen): Als Beauftragte des Bundesrates ist es gabe für das ganze Gericht erledigt, entlastet dies nicht meine Aufgabe, den vom Bundesrat eingebrachten Ent- nur die Richter, sondern es fördert auch die Einheitlichkeit wurf eines Gesetzes zur Begrenzung der Aufwendungen der Rechtsanwendung. für die Prozesskostenhilfe vor diesem Hohen Hause zu vertreten. Dieser Aufgabe komme ich gern nach, gibt sie Zentrales Anliegen des Gesetzentwurfs ist die Ver- mir doch Gelegenheit, Ihnen den Handlungsbedarf und stärkung der Eigenbeteiligung des Antragstellers. Dazu die besondere Dringlichkeit des Gesetzentwurfs aus gehört zunächst die Änderung der Freibeträge für das Sicht der Länder deutlich zu machen. Einkommen des Antragstellers, die an das sozialhilfe- rechtliche Existenzminimum angeglichen werden sollen. Die Justizhaushalte der Länder sind seit Jahren mit ei- Wer mit seinem Einkommen über diesen Freibeträgen ner enormen Ausgabensteigerung konfrontiert. Betroffen liegt, muss sich, wie schon nach geltendem Recht, durch sind insbesondere die Bereiche der Prozesskostenhilfe Ratenzahlungen an den Prozesskosten beteiligen. Jedoch und der Beratungshilfe sowie das Betreuungsrecht und soll ihm die Ratenzahlung künftig nicht mehr nach Verfahren nach der Insolvenzordnung. Auf allen diesen 48 Monaten erlassen werden, sondern erst dann, wenn Feldern sind die Ausgaben durch Bundesgesetze vorge- die von ihm zu tragenden Kosten des Rechtsstreits ge- geben. Sie können von den Ländern nicht ohne weiteres deckt sind. Schließlich soll der Antragsteller künftig zur beeinflusst werden. Deshalb brauchen wir die Unterstüt- Deckung der Prozesskosten dasjenige einsetzen, was zung des Bundesgesetzgebers, um die ich Sie nach- ihm im Rechtsstreit zugesprochen worden ist. Ebenso drücklich bitten möchte. wie eine vermögende Partei kann er den erstrittenen Be- trag nur nach Abzug der Prozesskosten beanspruchen. Besorgniserregend ist insbesondere die Entwicklung der Ausgaben für die Prozesskostenhilfe. Allein in der or- Mir ist bewusst, dass vor allem die zuletzt genannten dentlichen Gerichtsbarkeit haben sich die Zahlungen an Änderungsvorschläge Kritik auf sich gezogen haben. beigeordnete Rechtsanwälte bundesweit von 261,7 Millio- Auch die Bundesregierung macht verfassungsrechtliche nen Euro im Jahre 1998 auf 361,8 Millionen Euro im Jahre Bedenken geltend. Ich teile diese Bedenken nicht. Der 2005 erhöht. Das ist ein Anstieg um fast 40 Prozent inner- Bundesrat ist sich der Bedeutung der Prozesskostenhilfe, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9967

(A) die unbemittelten Bürgerinnen und Bürgern den Zugang Anhebung der Freibeträge zum 31. Dezember 2004 so- (C) zum gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet, vollauf wie der Anstieg der Rechtsanwaltsvergütung zum 5. Mai bewusst. Er hat daher besonderen Wert darauf gelegt, 2004 genannt. Anhebung und Anstiege im Jahre 2004 dass die Funktion dieses für unser rechtsstaatliches Ge- können aber nicht maßgeblich für Kostensteigerungen meinwesen notwendigen Instituts durch den Gesetzent- im Jahr 2003 sein. Hierzu fehlt vielmehr weiterhin jegli- wurf nicht beeinträchtigt wird. Die Vorgaben, die sich cher Vortrag. aus dem Grundgesetz und aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Ausgestaltung des Im Übrigen hätte ich Probleme damit, dass die be- Rechts der Prozesskostenhilfe ergeben, sind vollständig dürftigen Parteien die Folge staatlicher Eingriffe – und beachtet worden. Der Gesetzentwurf verlangt an keiner nichts anderes sind ja Anhebung von Freibeträgen und Stelle, dass die bedürftige Partei denjenigen Teil ihres Rechtsanwaltsvergütungen – zu tragen hätten. ursprünglich vorhandenen Einkommens und Vermögens einsetzt, den sie zur Deckung des Existenzminimums be- Mir fehlt es auch an einer konkreten Erfassung der nötigt. Er verlangt lediglich eine stärkere Eigenbeteili- tatsächlichen Belastung der Länderhaushalte. Denn die gung mit dem darüber hinausgehenden Einkommen und bloße Darlegung der Steigerung von gewährter Prozess- Vermögen. Für die Bezieher von Sozialleistungen wird kostenhilfe ist nichtssagend, wenn nicht zugleich auch sich also nichts ändern. die Rückflüsse präzisiert werden. Zudem lassen sich nur so auch die tatsächlich angedachten Einsparungen ver- Der Gesetzentwurf des Bundesrates unterscheidet nünftig einschätzen. sich damit deutlich von einem Referentenentwurf, den das Bundesministerium der Justiz im Januar 2007 vorge- Man muss bei dem Gesetzentwurf meiner Meinung legt hat. Mit dem sogenannten „Entwurf eines Gesetzes nach leider auch erhebliche verfassungsrechtliche Be- zur Entschuldung völlig mittelloser Personen“ – als ob denken anmelden. Aufgrund des in Art. 3 Abs. 1 GG sich mittellos noch steigern ließe – soll ein vereinfachtes normierten Prinzips der Rechtsgleichheit haben wir als Restschuldbefreiungsverfahren eingeführt werden. Zu Gesetzgeber dafür Sorge zu tragen, dass auch die nicht dessen Kosten soll der mittellose Schuldner mit einem so bemittelten Parteien in die Lage versetzt werden, ihre monatlichen Beitrag von 13 Euro herangezogen werden, Ansprüche in einem Rechtsstreit geltend zu machen. und zwar auch dann, wenn er lediglich Sozialhilfe oder Diesen Grundsatz sehe ich zum Beispiel gefährdet, wenn Arbeitslosengeld II bezieht. Dies erklärt der Entwurf die Partei nach dem Vorschlag des Bundesrats zur He- ausdrücklich für verfassungsrechtlich zulässig. Ich er- rausgabe sämtlicher Vermögenswerte verpflichtet wer- wähne dies nur, um zu zeigen, dass der verfassungs- den soll, die sie zuvor mithilfe von Prozesskostenhilfe rechtliche Spielraum offenbar größer ist, als es die Stel- erstritten hat. (B) lungnahme der Bundesregierung zu unserem Entwurf (D) Zwar muss eine Partei bereits nach geltendem Recht auf den ersten Blick vermuten lässt. Darüber wird bei die Verfahrenskosten mit dem in einem Rechtsstreit Er- den Ausschussberatungen im Einzelnen zu reden sein. langten zurückzahlen; der Vorschlag des Bundesrates Der Bundesrat würde es begrüßen, wenn der Bundes- geht jedoch weit über die bisherige Rechtslage hinaus, tag seine Beratungen über die Vorlage konstruktiv füh- weil er keine Rücksicht darauf nimmt, ob das Erlangte ren und zeitnah abschließen würde. Darum bitte ich Sie der Sicherung des grundgesetzlich geschützten Existenz- im Interesse der Länder. minimums dient oder entsprechendes Schonvermögen darstellt. Wenn dann auch noch die Begrenzung der Ra- Dirk Manzewski (SPD): Ziel des Gesetzentwurfs des tenzahlungsdauer aufgehoben, die Einkommensfreibe- Bundesrats ist eine Reduzierung der Ausgaben im Be- träge auf das sozialhilferechtliche Existenzminimum ab- reich der Prozesskostenhilfe. Ich kann ja durchaus nach- gesenkt und eine Pauschalierung der Ratenhöhe auf zwei vollziehen, dass dem weiteren Anstieg der zugegebener- Drittel des einzusetzenden Einkommens vorgenommen maßen in den letzten Jahren erheblich gestiegenen werden sollten, dann ist – um es vorsichtig auszudrü- Kosten für die Prozesskostenhilfe Einhalt geboten wer- cken – zumindest das Bündel dieser Maßnahmen geeig- den soll. Ich finde jedoch, dass es sich der Bundesrat mit net, Parteien, denen es nicht so gut geht, von der gericht- dem vorliegenden Gesetzentwurf dabei etwas zu einfach lichen Durchsetzung ihrer Rechte abzuhalten. macht. Denn abgesehen davon, dass sich dadurch die Pro- Mir fehlt es in dem Gesetzentwurf zum Beispiel zesskostenhilfe quasi vom Zuschuss zum Darlehen ver- bereits an einer umfassenden und nachvollziehbaren ändern würde, würde dies aufgrund der nicht mehr zu Analyse der Gründe für die Steigerungen. Die dem Ge- überblickenden zukünftigen Belastung dazu führen, dass setzentwurf zugrunde liegende Untersuchung des Rech- das Risiko einer Prozessführung gescheut und damit auf nungshofes Baden-Württemberg halte ich schon alleine die gerichtliche Durchsetzung der Rechte verzichtet deshalb nicht für exemplarisch, weil sich die finanziellen wird. Dies kann weder gewollt sein noch von uns sozial- Situationen in den einzelnen Bundesländern erheblich demokratischen Rechtspolitikern akzeptiert werden. voneinander unterscheiden. Soweit nach dem Vorschlag des Bundesrats bei der Zudem ist die Begründung widersprüchlich. Zum ei- Bemessung der Freibeträge der bundesweit pauschal nen wird hierin immer wieder insbesondere auf die Kos- maßgebliche Regelsatz gestrichen und stattdessen auf tenexplosion von 2002 auf 2003 hingewiesen. Zum an- die in den jeweiligen Bundesländern maßgeblichen deren wird als Hauptursache für den Kostenanstieg die Sätze abgestellt werden soll, halte ich dies für eine Ver- 9968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) komplizierung und weitere Belastung der Gerichte bei Die FDP hat in den vergangenen Jahren immer wieder (C) der Berechnung von Prozesskostenhilfe. darauf hingewiesen, dass Reformen der Justiz im Inte- resse der Bürgerinnen und Bürger nicht mit einer Ein- Von dem Vorschlag der Einführung einer gesonderten schränkung des Rechtsschutzes einhergehen dürfen. Re- Gebühr für die Festsetzung von Raten halte ich ebenso formeifer, der nur durch das Ziel der Kostenreduktion wenig. Abgesehen davon, dass insoweit schon eine getrieben ist, wird in der FDP keine Verbündeten finden. Schlechterstellung gegenüber denjenigen vorliegt, die Reformen, die ausschließlich von fiskalischen Gründen zwar keine Prozesskostenhilfe erhalten haben, aber im bestimmt sind, schwächen den Rechtsstaat und gefähr- Nachhinein dann im Zusammenhang mit der Kosten- den den Justizgewährleistungsanspruch. Die Ausgestal- rechnung eine Zahlungsvereinbarung mit der Landes- tung unseres Rechtsstaates ist zu Recht Vorbild für viele kasse treffen, würden gerade bei Verfahren mit niedrigen junge Demokratien überall in der Welt. Es ist daher je- Streitwerten Streitwert und Gebühr in keinem vernünfti- der, der weitere Reformen in der Justiz und insbesondere gen Verhältnis stehen. im Bereich der Prozesskostenhilfe vorschlägt, dafür be- weispflichtig, dass diese Reformen auch tatsächlich ge- Ich halte es durchaus für legitim, dass wir uns hier boten sind. An diesen Grundsätzen werden wir den Ge- darüber unterhalten, ob unsere Regelungen zur Prozess- setzentwurf des Bundesrates messen. kostenhilfe so tatsächlich noch zeitgemäß sind oder aber ob wir die Regularien nicht überarbeiten müssen. Ich Der Gesetzentwurf enthält einige Regelungen, die selbst frage mich zum Beispiel schon seit langem, wa- durchaus überlegenswert sind und die in der Tat zu einer rum Richter statt Rechtspfleger die Bedürftigkeit über- Effektivierung des Bewilligungsverfahrens beitragen prüfen müssen und wieso überhaupt auch noch bei den- können. Dazu zählt beispielsweise die Erweiterung des jenigen die Bedürftigkeit überprüft werden muss, denen Aufgabenbereichs der Rechtspfleger im PKH-Bewilli- dies gerade aktuell vom Sozialamt bzw. der Arge bestä- gungsverfahren. Es ist sachgerecht, dass die Prüfung der tigt worden ist. Bedürftigkeit der Partei, die mitunter äußerst kompliziert und zeitaufwendig sein kann, vom Rechtspfleger über- Den Entwurf des Bundesrates halte ich jedoch zumin- nommen wird. dest in der jetzigen Form allenfalls als Denkanstoß ge- eignet. Insgesamt überwiegen jedoch die Bedenken. In Teilen enthält der Gesetzentwurf Regelungen – so zum Beispiel die Definition der Mutwilligkeit in § 114 Abs. 2 ZPO –, Mechthild Dyckmans (FDP): Die Prozesskosten- die bereits ständige Rechtsprechung sind und daher einer hilfe ermöglicht es auch Bürgerinnen und Bürgern, die zusätzlichen Erwähnung im Gesetzentwurf nicht zwin- nur über ein geringes Einkommen oder über geringe gend bedürfen. § 114 Abs. 2 Satz 2 ZPO ist darüber hi- (B) (D) Finanzmittel verfügen, ein prozessuales Verfahren anzu- naus bedenklich, da dadurch der Eindruck entsteht, Baga- strengen. Damit wird sichergestellt, dass die Gewährung tellfälle sollen grundsätzlich aus der Prozesskostenhilfe von Rechtsschutz nicht von den finanziellen Verhältnis- hinausgedrängt werden. Der Kern der Kritik betrifft je- sen der beteiligten Personen abhängt. Die Gewährung doch die Vorschriften zur Art und Weise der Erhöhung der von Prozesskostenhilfe ist eine tragende Säule des Eigenbeteiligung der bedürftigen Partei an den Prozess- Rechtsstaatsprinzips. Der Zugang zu den Gerichten er- kosten. Diejenigen, deren Einkommen und Vermögen gibt sich neben der Rechtsschutzgarantie auch aus dem über das im Sozialhilferecht definierte Existenzminimum Justizgewährleistungsanspruch. hinausgeht, sollen Prozesskostenhilfe künftig nur noch als Darlehen erhalten, das durch Zahlungen aus ihrem einzu- Die Bundesländer behaupten, dass die Kosten der Jus- setzenden Einkommen und Vermögen vollständig zurück- tizhaushalte für die Gewährung von Prozesskostenhilfe zuzahlen ist. Damit holt sich der Staat vom Bürger das zu- in den vergangenen Jahren stetig gestiegen sind. Dies rück, was er ihm kurz zuvor erst gegeben hat. Wenn der trifft für einige Bundesländer sicherlich zu. Ich habe je- Bürger zur Durchsetzung von Ansprüchen, die sein Exis- doch Zweifel an den Berechnungen, die sich in der Be- tenzminimum sichern sollen, vor Gericht geht und ihm gründung des Gesetzentwurfs finden. Die Hochrechnung das Gericht hierfür Prozesskostenhilfe gewährt, soll er bei von Zahlen für einzelne Bundesländer auf das gesamte positivem Ausgang des Prozesses die geforderten Zahlun- Bundesgebiet erscheint mir doch sehr gewagt. Offen gen umgehend an die Staatskasse zurückgeben müssen. spricht der Gesetzentwurf die Gründe an, die zum Teil Wir sollten hier die Bewertung der Bundesregierung ernst ursächlich sind für den Anstieg der Prozesskostenhilfe. nehmen, die gegen die Vorschriften zur stärkeren Eigen- Dies sind zum einen die Erhöhung der Rechtsanwaltsge- beteiligung durchgreifende verfassungsrechtliche Beden- bühren durch das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz ken vorträgt. Der Gesetzentwurf weist zwar an verschie- und die Auswirkungen des Gesetzes zur Einordnung des denen Stellen darauf hin, dass die vorgeschlagenen Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch aus der ver- Maßnahmen sich in dem Rahmen bewegen, der verfas- gangenen Wahlperiode. In diesem Zusammenhang sungsrechtlich geboten ist. Ich möchte für die FDP-Bun- möchte ich deutlich darauf hinweisen, dass diese beiden destagsfraktion aber die Frage aufwerfen, ob das, was ver- Gesetzesinitiativen nicht an den Ländern vorbeigegan- fassungsrechtlich als Mindeststandard geboten ist, auch gen sind. Die Länder waren an den entsprechenden Ge- rechtspolitisch so gewünscht ist. setzgebungsverfahren beteiligt. Es kann also niemand zum jetzigen Zeitpunkt die Behauptung aufstellen, er Ich glaube, dass der Bundesrat zur Lösung des Pro- trage für die Erhöhung der Prozesskostenhilfe keine Ver- blems den falschen Weg einschlägt. Es macht keinen antwortung. Sinn, die Prozesskostenhilfe pauschal zu kürzen und die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9969

(A) für den Anstieg der Prozesskostenhilfe verantwortlichen richtet haben, was über den Bundesrat auf uns zukommt, (C) Strukturen innerhalb der Justiz unangetastet zu lassen. in diesem Haus in absehbarer Zeit keine Mehrheit finden Wir haben es hier in erster Linie mit Strukturproblemen wird.“ zu tun. Es ist bekannt, dass es die Justiz mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nicht schafft, nach Ab- Ganz sicher wäre ich gerne. Ich hoffe nun, dass der schluss eines Prozesses von der obsiegenden Partei die Kollege Stünker in seiner Fraktion einen ausreichenden gewährte Prozesskostenhilfe zurückzufordern bzw. in- Stand hat, um daran zu arbeiten, dass sich seine Voraus- nerhalb der Vierjahresfrist eine Überprüfung der Bedürf- sagen im Stimmverhalten in den Ausschüssen und noch tigkeit vorzunehmen. Ein weiteres Problem liegt darin, später im Plenum bewahrheiteten. Denn dieser Entwurf dass die Gerichte personell kaum in der Lage sind, die darf keinesfalls Gesetz werden! Das sollte sogar die SPD PKH-Anträge umfassend zu prüfen. Hier wäre eine Auf- erkennen. stockung der Ressourcen notwendig, um das Bewilli- gungsverfahren insgesamt zu effektivieren. Auch die Zu den unverbrüchlichen Prinzipien der sozialen De- Rechtsanwälte als Organ der Rechtspflege sollten jede mokratie gehört es, dass die Kraft des Rechtes und sein Möglichkeit nutzen, bei der Eindämmung etwaiger Schutz jeden Einzelnen erreichen müssen, und zwar un- Missbrauchsfälle mitzuhelfen. Ich halte es daher für den abhängig vom persönlichen Vermögen oder Unvermö- falschen Weg, zuerst beim Bürger anzusetzen, anstatt in gen. Doch zur Durchsetzung und der Verteidigung seiner erster Linie die Strukturprobleme in der Justiz zu behe- Rechte braucht der Mensch in aller Regel zweierlei: ei- ben. nen guten Rechtsbeistand und den Zugang zu den Ge- richten. Beide Voraussetzungen stellt für sozial Schwa- Ich bin sehr gespannt darauf, wie sich die Koalition che die Prozesskostenhilfe sicher. Beide gefährdet der zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates verhalten wird. aktuelle Entwurf, der die Prozesskostenhilfe beschnei- In der Debatte zum Justizhaushalt vom September 2006 den will und zudem an eine ganze Reihe von unzumut- hat der Kollege Stünker gesagt, der Gesetzentwurf des baren Bedingungen und Voraussetzungen knüpft. Bundesrats werde in diesem Haus keine Mehrheit fin- den. Die folgenden Beratungen im Rechtsausschuss ver- An dieser Stelle nur einige Beispiele: Auch in den sprechen daher spannend zu werden. Fällen eindeutiger Erfolgsaussicht soll es künftig noch leichter möglich werden, Prozesskostenhilfe wegen et- waiger mutwilliger Rechtsverfolgung zu verweigern. Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Ich bin mir nicht Der vorgesehene § 114 Abs. 2 ZPO unternimmt zu dem ganz sicher, ob man den sozialpolitischen Absichtserklä- Kriterium der Mutwilligkeit eine Definition, die die Ge- rungen der SPD wenigstens gelegentlich noch einmal fahr der Unwägbarkeit und des staatlichen Missbrauchs Glauben schenken darf. Entgegen aller Vernunft und ent- (B) gleich mitbringt. Sie ist auch aus sich heraus entlarvend. (D) gegen aller Erfahrung will ich diese Zuversicht – test- Sie entlarvt die Kaltherzigkeit der Entwurfsersteller. weise – für den aktuellen Gesetzgebungsprozess aufbrin- gen. Während es nach dem Entwurf nämlich jedem Gutbe- Grund für so viel unvorsichtige Hoffnung geben mir tuchten unbenommen sein wird, um einen Kleckerbetrag die kraftvollen Bekundungen des Kollegen Stünker in jahrelang zu prozessieren, werden für den PKH-Antrag der 45. Sitzung im September des vergangenen Jahres. des Mittellosen der „Einsatz“ und der „Gewinn“ eines In der 45. Sitzung wies ich in meiner Rede zum Haushalt Verfahrens ins Verhältnis gesetzt. Doch eigentlich kann auf die Tatsache hin, dass der heute zu behandelnde Ent- es keinem Menschen schwerfallen, zu erkennen, dass ein wurf des Bundesrates zur Begrenzung der Prozesskos- vermeintlicher Kleckerbetrag gleichzeitig eine sehr be- tenhilfe vor allem eines erkennbar und empfindlich be- deutende Summe sein kann, und zwar für jemanden, der grenzen wird: die soziale Gerechtigkeit. Sollte dieser in der Situation ist, überhaupt PKH beantragen zu müs- Entwurf Gesetz werden, dann wird fortan der Zugang zu sen. den Gerichten für sozial schlechter gestellte Menschen Die angesprochene Abwägung ist also nicht weniger erheblich erschwert sein. als eine unverhohlene Verhöhnung der Armen. Lesen Sie Es handelt sich um ein Vorhaben, das nicht nur der so- den Absatz einmal richtig! Man sagt dort den sozial Be- zialen Intention unseres Grundgesetzes zuwiderläuft, dürftigen: Wenn ihr um das Wenige kämpfen wollt, das sondern auch einen echten Anachronismus darstellt. Es euch noch zusteht, dann helfen wir euch nicht mehr! wäre die Rückkehr zum historischen Armenrecht, das Denn dieses Wenige ist uns zu billig. Es ist uns vor allem die Rechtsdurchsetzung für die Unbemittelten einst als zu teuer, euch dabei zu helfen, dieses Wenige zu erhal- ein gnädiges Almosen vergab. ten. Während die Kolleginnen der CDU/CSU in der da- Darüber hinaus sorgen die vom Entwurf vorgesehe- maligen Debatte angesichts des Entwurfs um ihren eige- nen drastischen Mitwirkungs- und Informationspflichten nen Rechtschutz kaum bange waren und sich daher zu dafür, dass sich der Bedürftige wie ein glückloser Bitt- meinen Ausführungen prächtig amüsierten, reagierte der steller vor dem Recht fühlen muss. Als Richter kann ich Kollege Stünker von der SPD einigermaßen entrüstet. Ihnen versichern, dass jedes Erfordernis, jede Mitwir- Immerhin war das wohl der zaghafte Ausdruck eines ei- kung, jede Bedingung, die der Gesetzgeber den Bürge- genen Unrechtsgefühls in dieser Sache. Wörtlich sagte rinnen abverlangt, zuallererst diejenigen trifft, denen es uns der Kollege Stünker: „Herr Kollege Nešković, Sie stets am schwersten fällt, vor solchen Hürden ihr Risiko können ganz sicher sein, dass das, was Sie über das be- und ihre Pflichten noch zu kalkulieren: den sozial 9970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Schwachen! Man macht es denen zusätzlich schwer, die Dieses Gesetz hatte der Bundesrat übrigens einstimmig (C) es ohnehin schon schwer haben. mitgetragen. Die schon damals vorhersehbaren und ge- wollten Folgen, die mit der notwendigen Anhebung der Teilt der Antragsteller etwa eine Anschriftsänderung Anwaltsvergütung verbunden waren, jetzt auf sozial versehentlich nicht oder verspätet mit, so soll dies nach Schwache abwälzen zu wollen, ist sozialpolitischer dem neuen § 124 Nr. 3 a ZPO – trotz anhaltender Be- Kahlschlag und – offen gesagt – schlicht unverfroren. dürftigkeit – zu einer Versagung oder Aufhebung der PKH führen. Willigt der Antragsteller nicht schon bei Ich will nun auf die einzelnen Vorschläge des Bundes- der Beantragung in die Einholung von Auskünften zu rates eingehen. Die schwerwiegendsten ignorieren die seinem Vermögen bei Dritten ein, zieht das nach den mit dem Justizgewährungsanspruch gezogenen verfas- vorgesehenen neuen §§ 117, 118 ZPO die Ablehnung sungsrechtlichen Grenzen und – das möchte ich schon der PKH nach sich. Ein begründeter Anlass für die Wei- jetzt vorwegnehmen – werden von uns Grünen konse- gerung im Einzelfall wird schon gar nicht für möglich quent abgelehnt: gehalten. Es wird dem Antragsteller bereits verwehrt, überhaupt konkret erläutern zu dürfen, warum er einer Die Prozesskostenhilfe beantragende Partei soll nach solchen Auskunftseinholung aufgrund konkreter Um- der Vorstellung der Länder eine noch stärkere Eigenbe- stände mit berechtigter Sorge begegnet. teiligung als bisher leisten. Zu diesem Zweck schlägt der Bundesrat vor, die Einkommensfreibeträge auf das so- Und dann kann sich der Entwurf, der ja auch die zialhilferechtliche Existenzminimum abzusenken. Im Übernahme von Gerichtsgebühren begrenzen will, rüh- Fall der Ratenzahlung sollen sogar pauschal Zweidrittel men, selbst eine neue Gebühr einzuführen: Die Bewilli- des Einkommens als Ratenhöhe eingesetzt werden. Und gung eines PKH-Antrages soll nach dem Entwurf jedem damit nicht genug: Die gegenwärtige zeitliche Begren- Antragsteller, der sich auch nur knapp überhalb des zung der Ratenzahlung auf maximal 48 Monate soll ge- Existenzminimums befindet, eine Pflicht zur Zahlung strichen werden. Damit werden gerade Menschen in pre- von 50 Euro bescheren. Das sind 50 Euro, die nicht er- kären finanziellen Situationen auf unabsehbare Zeit stattet werden und von der Gegenseite selbst im Falle belastet. des Obsiegens nicht zu übernehmen sind. Wir schließen uns der Bundesregierung hier aus- Zu schlechter Letzt ist es das Existenzminimum drücklich an, die in ihrer Stellungnahme gegenüber die- selbst, das der Entwurf für die ratenfreie PKH praktisch sem und fast allen anderen Vorschlägen der Länder neu definieren will: Das einzusetzende Schoneinkom- „durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken“ gel- men wird in etwa halbiert. Halbiert! Ich komme daher tend macht. auf die eingangs getroffene Überlegung zu der Glaub- (B) würdigkeit sozialdemokratischer Absichtserklärungen An den Rand des Existenzminimums will der Bun- (D) zurück: Sollte die SPD – trotz gegenteiliger Bekundun- desrat die Rechtssuchenden offenbar auch treiben, wenn gen – diesem Entwurf dennoch ihre Zustimmung geben, er vorschlägt, dass das durch den Prozess Erlangte für hätte sie sich endgültig als Partei sozialer Restgerechtig- die Rückzahlung der Prozesskostenhilfe vollumfänglich keit disqualifiziert. eingesetzt werden muss, und zwar ohne Begrenzung auf Existenzminimum oder Schonvermögen. Neben ihrer ins Auge springenden Verfassungswidrigkeit schaffen sol- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der che Vorschläge darüber hinaus den an anderer Stelle oft Gesetzentwurf des Bundesrates verfolgt das Ziel, der an- so verteufelten Bürokratiezuwachs. geblich exorbitant gestiegenen Prozesskostenhilfe einen Riegel vorzuschieben. Es ist ein reines Kostendämp- Doch nicht genug: Die Länder wollen daneben auch fungsgesetz ohne Rücksicht auf Verluste an Sozialstaat- noch – im Fall der Ratenzahlung – eine sogenannte Pro- lichkeit wie Rechtsstaatlichkeit. Die im Entwurf genann- zesskostenhilfe-Bewilligungsgebühr in Höhe von ten Zahlen, mit denen die Länder die behauptete 50 Euro einführen. Auch dies lehnen wir Grünen ab. Der „Kostenexplosion bei der Prozesskostenhilfe“ belegen Verstoß gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 GG liegt wollen, basieren auf recht windigen Hochrechnungen auf der Hand, wenn diejenigen keine Gebühr entrichten Sie stammen aus einer unveröffentlichten Kosten-Leis- müssen, die ohne Bewilligung von Prozesshilfe eine Ra- tungs-Gegenüberstellung des Landes Baden-Württem- tenzahlung erst nach Eingang der Kostenrechnung mit berg. Eine bundesweite Regelung, die die Prozesskos- der Landeskasse vereinbaren. Abgesehen davon ent- tenhilfe grundlegend infrage stellt, lässt sich so nicht spricht die Gebühr nicht – wie erforderlich – einer kon- seriös begründen. Ob die Länder – wie von der Bundes- kreten staatlichen Leistung. regierung angemahnt – inzwischen geeignete Maßnah- men zur genaueren Erfassung der PKH-Aufwendungen Erlauben Sie mir noch eine Schlussbemerkung: Aus ergriffen haben, ist nicht bekannt. sämtlichen Regelungsvorschlägen der Länder springt einen Missgunst an – eine Missgunst gegenüber denje- Richtig ist, dass die staatlichen Aufwendungen für die nigen, die nur mithilfe des Staates ihr Recht vor Ge- Prozesskostenhilfe gestiegen sind. Der Hauptgrund liegt richt geltend machen können. Als Beispiel sei hier nur in der gesetzlichen Anhebung der Rechtsanwaltsvergü- ein Satz aus der Begründung zitiert: „Zu den zentralen tung durch das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz von Anliegen des Gesetzentwurfs gehört es daher, den Ge- 2004. Sie war viele Jahre nicht angehoben worden und richten wirksamere Mittel gegen die missbräuchliche garantierte schon viel zu lang kein ausreichendes Ange- Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe an die Hand bot an qualifizierter anwaltlicher Vertretung vor Gericht. zu geben.“ Die Vorschläge richten sich aber mitnichten Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9971

(A) gegen Einzelne, sondern gegen alle Menschen, die Pro- ders bedenklich erscheint dies vor dem Hintergrund von (C) zesskostenhilfe benötigen, um zu ihrem Recht zu kom- Plänen in Baden-Württemberg, die Einziehung von For- men. derungen gerade auch für den Bereich der Prozesskosten- hilfe auf private Inkassounternehmen zu übertragen. Ich fordere deshalb alle in diesem Hohen Hause auf, der bisher auf den verschiedensten Podien und öffentli- Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen außer- chen Veranstaltungen zuweilen zu hörenden Ablehnung dem die Freibeträge an die sozialhilferechtlichen Regel- solcher Vorschläge Taten folgen zu lassen: Dieses Ge- sätze angeglichen und auf das reine Existenzminimum re- setz verdient nichts anderes als ein einhelliges Nein. duziert werden. Der Entwurf sieht neben dieser betragsmäßigen Absenkung auch eine Streichung der bis- her geltenden bundesweiten Pauschalierung der Freibe- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- träge vor und plädiert für eine Differenzierung nach einzel- desministerin der Justiz: Der Gesetzentwurf des Bundes- nen Ländern und Lebensaltersstufen bei Freibeträgen für rates soll die Ausgaben im Bereich der Prozesskostenhilfe Unterhaltsberechtigte. Zwar mag dieser Vorschlag den ver- spürbar reduzieren. Diese Ausgaben sind zuletzt erheblich fassungsrechtlichen Vorgaben noch genügen, ich glaube gestiegen. Natürlich steht die Bundesregierung den Län- aber, dass dadurch das Bewilligungsverfahren verkompli- dern bei der notwendigen Konsolidierung der öffentlichen ziert und bürokratischer wird. Es ist mehr als fraglich, ob Haushalte zur Seite. Allerdings müssen die Einschnitte für sich so die erhofften Einsparpotenziale realisieren lassen. die Betroffenen zumutbar sein, und sie dürfen nicht gegen die Verfassung verstoßen. Ich bin alles in allem gleichwohl zuversichtlich, dass am Ende der nun anstehenden Beratungen in diesem Die Bundesregierung begrüßt Maßnahmen, die einer Hause ein gutes Ergebnis stehen wird, das die sinnvollen missbräuchlichen Inanspruchnahme von Prozesskosten- und richtigen Vorschläge aus dem Bundesratsentwurf für hilfe entgegenwirken. Es ist daher richtig, wenn der Ent- ein Prozesskostenhilfebegrenzungsgesetz fortentwickelt wurf die Empfänger von Prozesskostenhilfe verpflichtet, und umsetzt. dem Gericht unaufgefordert eine Verbesserung ihrer Ein- kommenssituation mitzuteilen. Sinnvoll ist es außerdem, mutwillige Prozesskostenhilfeanträge genauer unter die Anlage 10 Lupe zu nehmen, damit der Staat keine unsinnigen Pro- zesse finanziert. Zu Protokoll gegebene Reden Kernstück des vorliegenden Entwurfes ist allerdings zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- die stärkere Eigenbeteiligung der Partei an den Kosten setzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhe- (B) des Rechtsstreits. Auch hier gibt es sicherlich Verbes- bung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in (D) serungsmöglichkeiten, an die aber mit Augenmaß heran- der Strafrechtspflege (2. NS-AufhGÄndG) (Ta- gegangen werden muss. Der Justizgewährungsanspruch gesordnungspunkt 20) zieht klare verfassungsrechtliche Grenzen, die wir zu respektieren haben. Daraus folgt, dass niemand dazu ge- Norbert Geis (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke zwungen werden darf, zur Verfolgung seiner Rechte das will mit dem vorliegenden Gesetzentwurf weitere Ur- verfassungsrechtlich verbürgte Existenzminimum einzu- teile, die in der nationalsozialistischen Zeit ergangen setzen. sind, ohne Einzelfallprüfung pauschal aufheben und für ungültig erklären. Mit dem Gesetz über die Aufhebung Ich habe Bedenken, ob diese verfassungsrechtlichen nationalsozialistischer Urteile vom 25. August 1998 hat Vorgaben in dem vorliegenden Entwurf überall hinrei- der Gesetzgeber Gesetze aufgelistet, die den elementa- chend beachtet worden sind. Problematisch erscheint ren Grundsätzen der Gerechtigkeit widersprochen ha- mir insbesondere der Vorschlag, die Partei zur Heraus- ben. Die aufgrund dieser Gesetze ergangenen Urteile gabe sämtlicher Vermögenswerte zu verpflichten, die sie wurden durch Gesetz pauschal aufgehoben. Den Katalog mithilfe der Prozesskostenhilfe erstritten hat. Mit diesem dieser Gesetze hat die rot-grüne Koalition mit Gesetz Vorschlag sollen auch solche Beträge abgeschöpft wer- vom 23. Juli 2002 ergänzt. Nun will die Fraktion Die den, die das Existenzminimum sichern oder sogenanntes Linke diesen Katalog um die Tatbestände des Militär- Schonvermögen darstellen. Das können insbesondere strafgesetzbuches, die vom Kriegsverrat handeln (§ 57, Unterhaltsansprüche oder Arbeitslohn sein. Es ist aber 59 und 60 NStGB) erweitern und damit auch alle Ur- widersprüchlich, ineffizient und bürokratisch, der be- teile, die auf Grundlage dieses Gesetzes ergangen sind, dürftigen Partei im Prozesskostenhilfeverfahren das zu pauschal aufheben. nehmen, was ihr der Staat bei der Sozialhilfe sogleich wieder zukommen lassen müsste. Man fragt sich natürlich, warum mehr als 60 Jahre nach Ende der Nazizeit immer noch die Forderung Im Übrigen könnte sich die bedürftige Partei gegen kommt, Urteile aus dieser Zeit pauschal aufzuheben. eine Vollstreckung von Verfahrenskosten durch den Staat Pauschal heißt, ohne Prüfung des Einzelfalles, ohne sich auf einen Pfändungsschutz berufen, wenn zum Beispiel die Frage zu stellen, ob einzelne Urteile damals, bei allen unpfändbarer Unterhalt oder Arbeitsentgelt abgeschöpft Abstrichen, die man machen muss, nach den damaligen werden sollen. Die hier vorgeschlagene Gesetzesänderung Umständen nicht doch rechtens gewesen sein könnten. zielt also letztlich darauf ab, dem Justizfiskus mit dem ei- nen Gesetz einen Anspruch zu verschaffen, den er wegen Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil eines anderen Gesetzes gar nicht durchsetzen darf. Beson- vom 19. Februar 1957 bei der pauschalen Aufhebung 9972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) von Gesetzen nationalsozialistischer Herkunft sehr abge- Mit dem Gesetz vom 23. Juli 2002 hat die damalige (C) wogene Maßstäbe gesetzt. Es hat festgestellt, dass unter rot-grüne Regierungskoalition diesen Katalog gegen das der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Gesetze Votum von CDU/CSU nochmals erweitert und darin die entstanden sind, denen die Unmenschlichkeit und Unge- § 175, 174 a RStGB sowie einzelne Vorschriften des rechtigkeit gewissermaßen auf der Stirn geschrieben Militärstrafgesetzbuches (unter anderem Desertion, stand, und dass ihnen deshalb jede Gültigkeit als Recht Feigheit vor dem Feind, unerlaubte Entfernung) aufge- abgesprochen werden muss. Selbstverständlich sind nommen. Für die CDU/CSU-Fraktion war bei der Ab- dann auch die Urteile, die auf solchen Gesetzesgrundla- stimmung klar, dass die Urteile von Militärgerichten ge- gen ergangen sind, von Anfang an nichtig. gen Homosexuelle pauschal aufzuheben waren, weil sie dem elementaren Gedanken der Gerechtigkeit wider- Das Verfassungsgericht hat aber auch ausgeführt, dass sprachen. Dies hatte der Bundestag bereits in einer frü- nicht alle Gesetze, nur weil sie in der Nazizeit erlassen heren Entschließung auch so zum Ausdruck gebracht. wurden, ohne Prüfung ihres Inhaltes pauschal als rechts- Die CDU/CSU-Fraktion war jedoch nicht damit einver- unwirksam aufgehoben werden dürfen: „Eine solche An- standen, dass auch die Urteile wegen Desertion pauschal nahme würde übersehen, dass auch eine ungerechte und aufzuheben waren, weil bekannt war, dass in manchen von geläuterter Auffassung aus abzulehnende Gesetzge- Fällen durch Desertion Unrecht geschehen ist. Dieses bung durch das auch ihr innewohnende Ordnungsele- Unrecht wollte die CDU/CSU damals im Nachhinein ment Geltung gewinnen kann.“ Das Verfassungsgericht nicht für Recht erklären. Im Übrigen wollten wir auch weist darauf hin, dass durch solche Gesetze wenigstens nicht die Richter, wie Dr. Sack, der mit Bonhoeffer hin- Rechtssicherheit geschaffen werden konnte und, wenn gerichtet worden ist, nachträglich pauschal ins Unrecht die äußersten Grenzen der Gerechtigkeit nicht über- setzen, weil sie solche Urteile erlassen haben. Deshalb schritten wurden, so dem Rechtschaos entgegengewirkt hat die CDU/CSU diesem Gesetz nicht zugestimmt. werden konnte. In diesem Sinne können auch Urteile Bestand haben, wenn sie innerhalb des weit gesteckten Immerhin aber hat der Gesetzgeber bei dieser Ände- Rahmens der Gerechtigkeit für Rechtssicherheit und für rung des NS-Aufhebungsgesetzes im Jahre 2002 be- Rechtsordnung gesorgt und dem Rechtschaos entgegen- wusst davon abgesehen, Verurteilungen wegen Kriegs- gewirkt haben. Deshalb ist also bei der pauschalen Auf- verrat per se als nationalsozialistisches Unrecht zu hebung solcher Urteile größte Sorgfalt anzuwenden. Im- qualifizieren. Dies heißt nicht, dass nicht nach Prüfung mer muss gefragt werden, ob diese Urteile, wenn auch des Einzelfalles die Staatsanwaltschaft feststellen kann, bei aller Unzulänglichkeit, nicht doch der Rechtsidee dass es sich um ein Unrechtsurteil handelt, das aufgeho- entsprochen haben, wie sie zu allen Zeiten Gültigkeit ben ist, weil es gegen die Generalklausel des § 1 des Ge- hat. setzes vom 25. August 1998 verstößt. Die rot-grüne Ko- (B) alition sah aber in einer generellen Aufhebung von (D) Diesen Gedanken des Verfassungsgerichtes hat das Urteilen, die sich auf den Tatbestand des Kriegsverrates Gesetz vom 25. August 1998 aufgegriffen. Durch § 1 bezogen, neues Unrecht. Wer Kriegsverrat beging, hat dieses Gesetzes wurden Urteile, die unter Verstoß gegen oft in einer verbrecherischen Weise den eigenen Kame- elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem raden geschadet, ja sie oft in Lebensgefahr gebracht, in 30. Januar 1933 erlassen wurden, pauschal aufgehoben. der sie dann auch umgekommen sind, dies zum Beispiel In diesen Fällen kann die Staatsanwaltschaft auf Antrag dann, wenn der Verräter zu den feindlichen Linien über- die Aufhebung des Urteils feststellen. Über die Feststel- wechselte und, um sich dort lieb Kind zu machen, die lung der Aufhebung erteilt die Staatsanwaltschaft eine Stellungen der eigenen Kameraden verriet, von der er Bescheinigung. Nicht also die Staatsanwaltschaft hebt geflüchtet war. Der Feind konnte sich darauf einrichten auf, sondern die Staatsanwaltschaft stellt nur fest, dass und den Standort der Truppe unter Beschuss nehmen, dieses Urteil unter die Generalklausel des § 1 und damit wobei viele ihr Leben verloren haben. durch das Gesetz vom 25. August 1998 pauschal aufge- hoben worden ist. Dies gilt auch für die Fälle, dass Überläufer Pläne von Truppenbewegungen an den Feind verraten haben. Dies Um nun der Staatsanwaltschaft die Feststellung, dass führte dazu, dass die eigenen Kameraden nicht selten in ein Urteil aus der NS-Zeit im Sinne dieser genannten eine tödliche Falle gerieten. Der Verräter hat in diesen Generalklausel aufgehoben ist, zu erleichtern, hat der Fällen auch nach unseren heutigen Maßstäben verwerf- Gesetzgeber in § 2 Regelbeispiele gebildet. Dazu gehört lich gehandelt. Aus diesem Grund hat die rot-grüne Ko- ein langer Katalog von Nazigesetzen. Bei solchen Geset- alition bei der seinerzeitigen Ergänzung des Gesetzes zur zen ist davon auszugehen, dass Urteile, die darauf beru- Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der hen, gegen die Generalklausel verstoßen und deshalb Strafrechtspflege vom 23. Juli 2002 ausdrücklich davon ohne Einzelfallprüfung aufgehoben sind. Beruhen Ur- abgesehen, die Urteile wegen Kriegsverrates pauschal teile nicht auf diesen Regelbeispielen, hat die Staatsan- aufzuheben. Die damalige Mehrheit scheute davor zu- waltschaft im Einzelfall dennoch die Möglichkeit, fest- rück, ein Verhalten, durch welches das Leben der eige- zustellen, dass ein Urteil im Sinne der Generalklausel nen Kameraden schwer in Gefahr geraten ist, nachträg- des § 1 des Gesetzes vom 25. August 1998 aufgehoben lich zu sanktionieren. Wer desertiert ist, um die eigene ist, weil die Voraussetzung des § 1 gegeben ist. Der da- Haut zu retten und um beim Feind überhaupt aufgenom- mals mit Gesetz von 1998 erstellte Katalog von Geset- men zu werden, auch die Stellungen seiner Kameraden zen wurde über die Parteigrenzen hinweg einvernehm- verriet, hat sich nach allen Maßstäben der zivilisierten lich beschlossen. Welt in höchstem Maße verwerflich verhalten. Durch die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9973

(A) generelle Aufhebung dieser damaligen Urteile wegen mus hinterlassen hat, ist dies auch nicht weiter verwun- (C) Kriegsverrates aber würde ein solch verwerfliches Ver- derlich. halten nachträglich sanktioniert werden. Dies kann nicht rechtens sein. Lassen Sie mich zunächst auf die bisherige Rechts- entwicklung eingehen. Durch das Gesetz zur Aufhebung Die Fraktion Die Linke will sich aber über diese nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechts- Grundsätze hinwegsetzen. Ihren Gesetzentwurf begrün- pflege vom 25. August 1998 wurden verurteilende straf- det sie damit, der Kriegsverrat sei immer politisch und gerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß gegen moralisch motiviert gewesen und sei mit kriminellen Ta- elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem ten nicht vereinbar. Dass dies im Einzelfall gerade nicht 30. Januar 1933 zur Durchsetzung des nationalsozialisti- richtig ist, habe ich dargetan. schen Terrors ergangen sind, aufgehoben. Berücksichtigt wurden hier strafgerichtliche Entscheidungen, die aus Im Gesetzentwurf wird als weiterer Grund genannt, politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder durch solche verräterische Taten sei die Militärmacht weltanschaulichen Gründen ergangen sind. Dieses Ge- Hitlers geschwächt worden und der Krieg sei auf diese setz hat sich zwar grundsätzlich bewährt, jedoch wurde Weise zu einem schnelleren Ende gekommen. die in einigen Fällen vorgesehene Einzelfallprüfung der Ganz abgesehen davon, dass ganz andere Gründe den Aufgabenstellung teilweise nicht gerecht. Aus diesem Zusammenbruch des Nazi-Regimes verursacht haben, ist Grund wurde das Gesetz am 23. Juli 2002 entsprechend diese Argumentation in hohem Maße machiavellistisch. geändert. Einige Verurteilungen – zum Beispiel wegen Man kann nicht den Teufel mit dem Beelzebub austrei- Kriegsverrats – blieben von der generellen Aufhebung ben, kann nicht Unrecht durch Unrecht ersetzen. So ent- weiterhin ganz bewusst ausgeschlossen – und dies aus steht immer neues Unrecht. Außerdem missachtet dieses guten Gründen, wie die Gesetzesänderung deutlich ge- Argument den wichtigen Unterschied, den das Völker- macht hat. Hier wurde ja versucht, sämtliche Tatbe- recht zu allen Zeiten gemacht hat: das ius in bello und stände des Militärstrafgesetzbuches zu erfassen, die eine das ius ad bellum. Hitler hatte zweifellos kein Recht zum pauschale Aufhebung rechtfertigten. Dies hatte zur Angriffskrieg. Das ius ad bellum stand ihm nicht zur Folge, dass insgesamt 44 Straftatbestände zusätzlich in Seite. Er ist deshalb einer der größten Kriegsverbrecher das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Un- aller Zeiten. Aber auch in einem ungerechten Krieg müs- rechtsurteile aufgenommen wurden. Ausdrücklich nicht sen Rechtsregeln gelten, kann nicht das Verbrechen des aufgenommen wurden Straftatbestände, bei denen die Verrates generell als gerechtfertigte Tat abgesegnet wer- Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung nach wie den. vor nicht verantwortbar erschien. Von zentraler Bedeu- tung ist dabei der Kriegsverrat – §§ 57, 59, 60 MStGB –, (B) Das heißt nicht, dass eine solche Tat im Einzelfall da in Fällen des Kriegsverrats möglicherweise doch ein (D) nicht als eine Widerstandstat anzusehen ist. Dazu aber Unrechtsgehalt gegeben ist. Ich möchte hierbei vor al- bedarf es einer Einzelfallprüfung. Sonst würde man pau- lem die nicht ausschließbare Lebensgefährdung für eine schal Widerstandskämpfer mit simplen verbrecherischen Vielzahl von Soldaten hervorheben, die auch durch den Verrätern auf eine Stufe stellen. Deshalb lehnen wir die Umstand, dass sie während eines völkerrechtswidrigen pauschale Aufhebung von Urteilen, die auf Kriegsverrat Angriffskrieges begangen wurde, keinen Anlass zur pau- gestützt sind, ab. schalen Rehabilitierung geben konnte. An dieser Einschätzung wird festgehalten, wie die Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Zu Beginn mei- Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage ner Rede möchte ich eine grundsätzliche Feststellung der PDS vom 19. Juni 2006 belegt. Auf die Fragestel- treffen: Ein Diskurs um Rechtsprechung im Dritten lung „Ist aus Sicht der Bundesregierung der Verrat des Reich ist erst vor wenigen Wochen wieder aufgeflammt. nationalsozialistischen Vernichtungskriegs verurteilens- Ich bin der festen Überzeugung, dass uns dieser Ab- wert, und, wenn ja, warum?“ stellt die Bundesregierung schnitt unserer Rechtsgeschichte eines ganz besonders fest: lehrt: Aus Wissen allein entstehen weder persönliche Moral noch ethische Überzeugungen. Gesetzestexte und Die Frage lässt sich nur im konkreten Einzelfall be- Kommentare aus der Zeit des Nationalsozialismus ma- antworten. Dabei kommt es darauf an, ob infolge chen dies ebenso deutlich wie die Tatsache, dass auch des Verrats zusätzliche Opfer unter der Zivilbevöl- viele Richter und andere Praktiker davon überzeugt wa- kerung und/oder deutsche Soldaten zu beklagen ren, dass der Nationalsozialismus auf der Höhe der Zeit waren oder ob infolge des Verrats derartige Opfer sei. Darauf basierende Entscheidungen waren in Wahr- gerade vermieden wurden. Der Gesetzgeber hat heit Akte der Menschenverachtung und der Vernichtung sich deshalb nach Auffassung der Bundesregierung in der Form des Urteils. zu Recht dafür entschieden, bei der Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Un- Wir beraten heute in erster Lesung den PDS-Entwurf rechtsurteile in der Strafrechtspflege für diese Fälle eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur eine pauschale Aufhebung abzulehnen und es bei Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der der Einzelfallprüfung zu belassen … Strafrechtspflege. Diese Thematik ist – wir alle wissen dies – nicht zum ersten Mal Gegenstand der parlamenta- Da es bei den Verurteilungen wegen Kriegsverrats ge- rischen Beratungen in unserem Hause. Angesichts des rade auf die Motive ankommt, ist eine Einzelfallprüfung Ausmaßes des Unrechts, das uns der Nationalsozialis- dringend geboten. 9974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Dieser Sachverhalt macht deutlich, dass es für die hier Zunächst eine grundsätzliche Anmerkung: Der An- (C) im Fokus stehende Problematik keine pauschale Lösung trag verkennt die Systematik von § 2, der Regelbeispiele geben kann, sondern dass es der Einzelbetrachtung eines für Unrechtsentscheidungen bildet, und dabei in der Tat jeden Falles bedarf. Insofern ist die in dem Gesetzent- in Nr. 3 auf Entscheidungen Bezug nimmt, die auf den in wurf der PDS vorgesehene Lösung, die Anlage zu § 2 einer Anlage genannten gesetzlichen Vorschriften beru- Nr. 3 des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer hen. Der Katalog dieser gesetzlichen Vorschriften erhob Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August schon nach der Gesetzesbegründung keinen Anspruch 1998 in Nr. 26 a durch die §§ 51, 59, 60 des in der Zeit auf Vollständigkeit und sollte auch keine Ausschluss- der nationalsozialistischen Herrschaft geltenden Militär- funktion haben. strafbuches zu ergänzen, abzulehnen. Dadurch, dass wir – nach dem ersten Änderungsge- Wenn wir uns an die Zeit des Nationalsozialismus er- setz – nun schon zum zweiten Mal Änderungen dieses innern, dann gedenken wir vor allem anderen der Millio- Kataloges diskutieren, erhöhen wir ihn in seiner Bedeu- nen Opfer, die dieses verbrecherische Regime verschul- tung und entwerten gleichzeitig die Klarheit und Unmiss- det hat. Das geschehene Unrecht kann niemals verständlichkeit der Generalklausel in § 1. Ich würde mir ungeschehen gemacht werden. Kein Gesetz und keine wünschen – übrigens nicht nur hier –, wenn wir als Ge- Entschädigungsleistung könnten dieses Ziel Wirklich- setzgeber mehr Vertrauen in unsere Gerichte und die Be- keit werden lassen, könnten dieses millionenfache Leid deutung von Generalklauseln hätten. auch nur ansatzweise aus der Welt schaffen. Ich bin mir Erlauben Sie mir, dass ich Herrn Korte als einen der aber sicher, dass wir mit den Regelungen, die das Gesetz Verfasser des Antrages direkt anspreche. Ehrlich gesagt, bisher vorsieht, das Maximum der pauschalen Aufhe- finde ich insbesondere die Tonalität Ihres Antrages und bung von Unrechtsurteilen erreicht haben. Alles, was die Begleitmusik sehr befremdlich und der Sache nicht darüber hinausreichen soll, muss im Einzelfall geprüft dienlich. Der Antrag versucht Zwietracht dort zu säen, werden. wo große Einigkeit in diesem Haus – auch mit Blick auf den Eindruck im Ausland – angebracht wäre und in mei- Jörg van Essen (FDP): Ich finde es fast schon ge- nen Augen bei der Bewertung von NS-Unrecht auch im- spenstisch, dass wir uns heute mit diesem Antrag be- mer gegeben war. schäftigen. Es hat den Eindruck, man hätte es hier mit In den vergangenen Jahren haben wir uns wiederholt Untoten zu tun. Wie oft – das müssen sich die Antrag- mit der Frage der Aufhebung der NS-Unrechtsurteile be- steller von der Linksfraktion fragen lassen – wollen wir fasst. Dieses Haus hat bewiesen, dass der Bundestag sehr uns denn noch mit den Schandurteilen aus der NS-Zeit wohl in der Lage ist, seiner besonderen Verantwortung (B) beschäftigen? Man kann doch juristisch ein Urteil nur für die Opfer des Naziregimes gerecht zu werden. Wir (D) einmal aufheben! Weder das Dritte Reich überdauerte müssen alles tun, um dem Eindruck der Fortgeltung na- 1 000 Jahre, noch leben aufgehobene NS-Urteile immer tionalsozialistischen Unrechts zu begegnen. wieder auf! Der Antrag Ihrer Fraktion lag dem Deutschen Bun- Nein, mit diesem Antrag machen Sie sich schon hand- destag schon einmal in der 14. Legislaturperiode zur Be- werklich nicht um unseren Rechtsstaat verdient. Das ratung vor. Damals hat dieses Haus mit großer Mehrheit wundert auch nicht weiter, da Sie in dieser Legislaturpe- dagegenvotiert. Die Rednerin der PDS, Frau Dr. Evelyn riode nicht sonderlich mit rechtspolitischen Anträgen Kenzler, sagte dennoch damals – ich darf aus dem Proto- aufgefallen sind. koll vom 17. Mai 2002 zitieren –: Leider ist das Thema zu ernst, als dass man Ihren Der Gesetzentwurf wird weitgehend dem gerecht, Antrag einfach unkommentiert stehen lassen könnte. was meine Fraktion mit ihrem Antrag vom März Deswegen erlauben Sie mir bitte die nachfolgenden Aus- 2001 erreichen wollte. führungen: Das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialisti- Die jetzt gewählte Tonalität passt dazu nicht. Ich habe scher Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege von 1998 mit Befremden verfolgt, wie Sie diese Gesetzesinitiative ist unmissverständlich. Nach § 1 werden verurteilende vorbereitet haben. strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß ge- gen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem Sie zitieren in einer Kleinen Anfrage mit dem Titel 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhal- „Aufhebung der NS-Militärgerichtsurteile wegen tung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus Kriegsverrates“ im Sommer letzten Jahres die Bundes- politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder justizministerin mit dem Satz, dass der „in Fällen des weltanschaulichen Gründen ergangen sind, aufgehoben. Kriegsverrates möglicherweise gegebene Unrechtsgehalt Die den Entscheidungen zugrunde liegenden Verfahren (nicht ausschliessbare Lebensgefährdung für eine Viel- werden eingestellt. zahl von Soldaten)“ äußerst hoch erschiene, „so dass auch der Umstand, dass sie während eines völkerrechts- Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke für ein widrigen Angriffskrieges begangen worden sind, keinen zweites Gesetz zur Änderung dieses Gesetzes, wie wir Anlass zur pauschalen Rehabilitierung begründen ihn heute in erster Lesung beraten, stellt Erreichtes in konnte.“ Sie kritisieren sodann diese Äußerungen und Frage, mehr noch: Er verunsichert Opfer der NS-Un- führen unter anderem aus, dass es als äußerst fragwürdig rechtsjustiz mehr, anstatt ihnen zu helfen. erscheine, warum hier eine „nicht ausschliessbare Le- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9975

(A) bensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten“ als „Un- nach dem Holocaust, 62 Jahre nach dem fürchterlichsten (C) recht“ bezeichnet werde. Krieg, den die Menschheit erlebt hat, 62 Jahre nach dem Massenmord durch deutsche Kriegsschergen an über Leben ist ein kostbares Gut. Das gilt auch für das Le- 60 Millionen Menschen. Die Bundesrepublik Deutsch- ben von Soldaten, unabhängig davon – auch wenn diese land und der Deutsche Bundestag haben 58 Jahre ver- Aussage manchmal schwerfällt –, in wessen Dienst sie streichen lassen, um Menschen zu rehabilitieren, die aus stehen. Achtung vor dem Leben ist eine der Kernaussa- politischen und moralischen Gründen gegen das Hitler- gen unseres Grundgesetzes. Ich bitte Sie, auch in dieser Regime handelten und deshalb bis heute vorbestraft sind Debatte diesen Respekt zu wahren. Unterlassen Sie Po- und gesellschaftlich stigmatisiert werden. Die Rede ist lemik! von den sogenannten Kriegsverrätern. Erinnern wir uns: Bei den Beratungen über das NS- Mit dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialisti- Aufhebungsgesetz haben wir uns bereits vor Jahren auch scher Unrechtsurteile, NS-AufhG, wurde in der Straf- mit den Urteilen der NS-Militärjustiz gegen Deserteure rechtspflege 1998 ein wichtiger Schritt in Richtung Auf- der Wehrmacht intensiv beschäftigt. Der Bundestag hat arbeitung deutscher Geschichte eingeschlagen. Im § 1 dabei festgestellt, dass die Gerichte der Militärjustiz im des NS-AufhG werden verurteilende strafgerichtliche NS-Staat keine Gerichte im rechtsstaatlichen Sinne wa- Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementare Ge- ren. danken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Wir haben in diesen Fragen so viel Konsens – ich be- Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozia- fürchte, dass Sie diesen mit der Tonalität und Wortwahl listischen Unrechtsregimes aus politischen, militäri- im Kontext mit diesem Antrag gefährden. Das wäre schen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen brandgefährlich. Es wäre insbesondere nicht im Sinne Gründen ergangen sind, aufgehoben. Die genannten Ent- der Opfer. scheidungen betreffen nach § 2 des Gesetzes unter ande- rem auch solche, die auf den in der Anlage zu § 2 Nr. 3 Ich habe schon 2002 in der Debatte um das erste Än- NS-AufhG genannten gesetzlichen Vorschriften beru- derungsgesetz klargestellt, dass es für die FDP selbstver- hen. Ausgenommen sind darin jedoch die §§ 57, 59 und ständlich ist, dass die NS-Unrechtsurteile bereits 1998 60 des Militärstrafgesetzbuches von 1934, also der aufgehoben worden sind. Hier nun wieder Einzelfälle Kriegsverrat. Betroffene müssen sich seither einer Ein- herauszugreifen, ist – so meine Befürchtung – eine er- zelfallprüfung unterziehen. Dies ist unserer Meinung neute Demütigung der Opfer. Erneut wird der Eindruck nach nicht nur unzumutbar, sondern auch undurchführ- erweckt, dass diese Menschen weitere Jahre lang nicht bar; denn außer bei Verurteilungen in Abwesenheit wur- rehabilitiert gewesen seien. Das ist etwas, was ich uner- den sie grundsätzlich zum Tode verurteilt und hingerich- (B) träglich finde. tet. (D) Ich habe den Antrag sorgfältig gelesen. Und es ist Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde der auch bekannt, dass ich Kritik von Herrn Ludwig Katalog der Straftaten, die im Anhang zu § 2 Nr. 3 Baumann, dem Vorsitzenden der Bundsvereinigung der NS-AufhG aufgeführt sind, mit Gesetz vom 23. Juli Opfer der NS-Militärjustiz sehr ernst nehme. Ich bin mir 2002 erweitert. Mit dem Änderungsgesetz wurden die aber nicht sicher, ob hier wirklich Regelungsbedarf be- §§ 175, 175 a Nr. 4 des Reichsstrafgesetzbuches sowie steht. In meiner Erinnerung haben wir uns 1998 sehr eine Vielzahl von Verurteilungen unter anderem wegen gründlich und sachlich mit all den vielen verschiedenen Desertion (§ 69 Militärstrafgesetzbuch), Feigheit (§ 85) Situationen der NS-Justiz befasst und sind ihr, so meine oder unerlaubte Entfernung (§ 64) in die Anlage zu § 2 ich, gerecht geworden. Unsere Beratungen damals waren Nr. 3 NS-AufhG (Nr. 26 a) aufgenommen. Die Begrün- sorgfältig und von großem Respekt vor den Opfern ge- dung damals: Die Einzelfallprüfung führe zu Unzuträg- prägt. Ich bitte die Kollegen von der Linken, diesen Res- lichkeiten. pekt vor den Opfern nicht für kurze Effekte in Frage zu stellen. Der Gesetzgeber konnte sich trotz der Aufnahme ei- ner großen Zahl von Straftatbeständen des Militärstraf- Als FDP-Bundestagsfraktion darf ich Ihnen versi- gesetzbuches in die Anlage zu § 2 Nr. 3 nicht dazu ent- chern, dass wir uns bei den Beratungen des Antrages ins- schließen, dieses Gesetz im Ganzen einzufügen. In der besondere darum bemühen werden, die Opfer der NS- Begründung zum Änderungsgesetz heißt es: Justiz nicht zu verunsichern und Erreichtes von 1998 zu bewahren. Es finden sich eine ganze Reihe von Straftatbestän- den, bei denen die Aufhebung des Urteils ohne Ein- zelfallprüfung nicht verantwortbar erscheint. Bei- Jan Korte (DIE LINKE): Ich freue mich, dass der spielhaft seien hier der Kriegsverrat, die Bundestag heute erneut zu einem geschichtspolitischen Plünderung, die Fledderei sowie Misshandlungen Thema die Debatte sucht. Wichtig ist es auch deshalb, von Untergebenen genannt. weil es bei dem von der Linksfraktion vorgelegten Ge- setzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung Diese Aussage ist gleich in mehrfacher Hinsicht skan- nationalsozialistischer Unrechtsurteile um die Aufarbei- dalös: zum einen, weil sie zum Ausdruck bringt, dass tung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte Unrechtsurteile von Nazirichtern, die ohne rechtsstaatli- geht. Leider – das muss an dieser Stelle aber auch gesagt che Grundsätze und zum Schütze eines menschenver- werden – findet diese Debatte viel zu spät statt: 62 Jahre achtenden Systems gefällt wurden, nur durch Einzelfall- nach der Befreiung vom Hitler-Faschismus, 62 Jahre prüfung revidiert werden können, zum anderen aber 9976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) stellt diese Begründung den Kriegsverrat in eine Reihe nen in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht (C) mit Plünderungen und Fleddereien. Das ist nicht hin- worden ist (BT-Drs. 14/8276), wurde versucht, nehmbar. sämtliche Tatbestände des Militärstrafgesetzbuches zu erfassen, bei denen eine pauschale Aufhebung Die unter dem Straftatbestand des Kriegsverrates sub- gerechtfertigt werden konnte. Als Ergebnis wurden sumierten Handlungen sind mit den anderen genannten insgesamt 44 Straftatbestände zusätzlich in das NS- Straftatbeständen des Militärstrafgesetzbuches nicht ver- AufhG aufgenommen. Ausdrücklich nicht aufge- gleichbar; denn sie waren fast durchweg politisch oder nommen wurden Straftatbestände, bei denen die moralisch motiviert, wie auch neuere Forschungen von Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung nach zum Beispiel Professor Dr. Wolfram Wette belegen. Ein wie vor nicht vertretbar erschien. […] Der in Fällen vergleichbarer krimineller Unrechtsgehalt wie bei Delik- des Kriegsverrats möglicherweise gegebene Un- ten der Plünderung ist nicht erkennbar. rechtsgehalt (nicht ausschließbare Lebensgefähr- Um es deutlich zu sagen: Beim sogenannten Kriegs- dung für eine Vielzahl von Soldaten) erschien äu- verrat handelte es sich um den Verrat des deutschen An- ßerst hoch, so dass der Umstand, dass sie während griffs- und Vernichtungskrieges, der zu Mord, Vertrei- eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges began- bungen und Vergewaltigungen an Millionen geführt hat. gen worden sind, keinen Anlass zur pauschalen Re- Neuere Untersuchungen zeigen zudem, dass das Verhal- habilitierung begründen könnte. ten der Menschen, die wegen Kriegsverrats verfolgt und Für mich übersetzt heißt dies, dass der Widerstand ge- verurteilt wurden, fast durchweg, wie bereits angespro- gen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht an- chen, moralisch-ethisch oder politisch motiviert war. erkannt wird, auch wenn es sich dabei um einen Vernich- Diese Menschen riskierten ihr Leben, um das barbari- tungsfeldzug im Namen des Hitler-Faschismus handelte. sche Morden, um den Angriffs- und Vernichtungskrieg In Bezug auf die Äußerungen der Ministerin zur Gefähr- zu beenden. Diese Menschen verdienen Anerkennung dung einer Vielzahl von Soldaten durch den Kriegsverrat und höchsten Respekt. Deshalb müssen unserer Mei- ergeben sich für mich Fragen. Bedeutet dies übersetzt, nung nach die §§ 57, 59 und 60 Militärstrafgesetzbuch in dass das Leben von Soldaten, die einen Angriffskrieg die Anlage zu § 2 Nr. 3 NS-AufhG aufgenommen wer- führen, höher bewertet wird, als das Leben von Millio- den. nen von Zivilisten, die durch den Verrat von Kriegsvor- In seinem Urteil vom 11. September 1991 stellt das bereitungen oder -handlungen hätten gerettet werden Bundessozialgericht hinsichtlich der Todesurteile der können? Es wäre hilfreich, wenn Frau Zypries im Rah- Militärstrafjustiz während des Zweiten Weltkrieges fest, men dieser Gesetzesdebatte ihre Position noch einmal dass angesichts der Gesamtumstände die Rechtswidrig- deutlich machen würde, um Missverständnisse auszu- (B) keit der Urteile zu vermuten sei. Angesichts der durch schließen. (D) die NS-Militärjustiz gefällten 30 000 Todesurteile und Die Antwort der Frau Ministerin ist umso besorgnis- Zehntausenden Zuchthausurteilen kann man wohl kaum erregender, als der Bundestag in seiner Entschließung mehr nur von einer Vermutung sprechen, sondern muss vom 15. Mai 1997 auf Drucksache 13/7669 bereits fest- von einer belegbaren Tatsache in diesem Zusammen- stellte: hang ausgehen. Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Ver- Ihnen allen wird der Name Ludwig Baumann sicher- nichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen lich bekannt sein. Ludwig Baumann streitet seit Jahren Deutschland verschuldetes Verbrechen. gemeinsam mit seiner „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e. V.“ für die Rehabilitierung von Der Verrat eines, wie der Bundestag sagt, „Vernich- Wehrmachtsdeserteuren und Kriegsverrätern. Sein be- tungskrieges“ ist nach Meinung der Bundesjustizminis- wegtes Leben bietet ein plastisches Beispiel für die Ver- terin offenbar nicht rehabilitierungswürdig, zumindest hältnisse in Wehrmacht und NS-Regime und für die nicht ohne Einzelfallprüfung. Diese juristische Position Aufarbeitung der deutschen Geschichte durch die Bun- zeugt von wenig politischer Souveränität; denn wie be- desrepublik. Im Zuge der Gesetzesänderung unter Rot- reits dargestellt, ist eine Einzelfallprüfung kaum mög- Grün im Jahr 2002 hat er sich intensiv in die politische lich, da die meisten Betroffenen den NS-Henkern zum und parlamentarische Debatte eingebracht, hat gute Opfer gefallen sind. Für die wenigen noch lebenden ist Kontakte zur damaligen PDS-Fraktion, aber auch zu den eine solche Prüfung erniedrigend und beschädigt das Ge- Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen denken an den Widerstand gegen die NS-Diktatur. hergestellt. Nachdem der Straftatbestand des Kriegsver- Ich möchte zum Schluss noch einmal daran erinnern, rats von der Gesetzesänderung 2002 ausdrücklich ausge- was die NS-Justiz unter dem Straftatbestand des Kriegs- nommen wurde, unternahm er 2006 einen erneuten Ver- verrates verstand: Verraten deutscher Angriffspläne und such und machte Bundesjustizministerin -termine an die Niederlande, Frankreich, Belgien, Eng- auf das Thema aufmerksam. land, Dänemark, Norwegen, Jugoslawien; das Knüpfen In ihrem Antwortschreiben vom 25. April 2006 an konspirativer Auslandskontakte; der Versuch, Jüdinnen Ludwig Baumann nimmt Frau Zypries zum Sachverhalt und Juden das Leben zu retten; die Aufnahme von Kon- wie folgt Stellung: takten zu sowjetischen Kriegsgefangenen; das Überlau- fen zu den Partisanen und die Unterstützung des einhei- Bei der Erarbeitung des NS-AufhG, der als Entwurf mischen Widerstandes durch Weitergabe kriegswichtiger der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü- Informationen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9977

(A) Wie Sie sehen können, verbirgt sich hinter dem einfa- Die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz (C) chen Wort „Kriegsverrat“ eine ganze Reihe von Tätig- hat die Reform damals sehr begrüßt, allerdings seitdem keiten, die heute, beispielsweise im Zusammenhang mit auch moniert, dass in dieser langen Liste der Strafvor- dem 20. Juli, durch die Öffentlichkeit und den Bundes- schriften die Bestimmungen zum Kriegsverrat noch feh- tag gewürdigt werden. len. Es ist ein großes Verdienst dieser Vereinigung und insbesondere ihres Vorsitzenden Ludwig Baumann, das Ich bitte Sie also, unserem Gesetzesentwurf Ihre Zu- Schicksal der Wehrmachtsdeserteure und den Umgang stimmung zu geben. Es ist an der Zeit. Kurt Tucholsky mit ihnen nach dem Krieg ins öffentliche Bewusstsein schrieb 1921 im Hamburger Echo: „Aber wenn wir nicht getragen zu haben. Ich möchte Herrn Baumann und sei- mehr wollen: dann gibt es nie wieder Krieg!“ Und wenn ner Vereinigung hierfür nachdrücklich danken. Sie ha- wir wollen, dann werden wir endlich auch die Kriegsver- ben sich um die Demokratie in Deutschland sehr ver- räter rehabilitieren und anerkennen, dass sie Gegner des dient gemacht. Krieges waren und die Anerkennung der Bundesrepublik verdienen. Das Anliegen, auch noch die Bestimmungen gegen Kriegsverrat in das NS-Aufhebungsgesetz mit einzube- ziehen, ist berechtigt. Wir werden dem Antrag also zu- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stimmen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich der Deut- sche Bundestag immer wieder mit der Rehabilitierung Die jüngsten Forschungen des Militärhistorikers der Wehrmachtsdeserteure beschäftigt, mit den Män- Wolfram Wette haben sehr eindrucksvoll aufgezeigt, um nern, die dem verbrecherischen Krieg Hitlers den welche Tatbestände, um welche Personen und welche Rücken kehrten, die sich dem Morden verweigerten. Motivlagen es hier ging. Als Kriegsverrat zählte zum Beispiel die Übermittlung von Informationen über den Im Bundestag war die Anerkennung und Würdigung Holocaust an die Alliierten, die Aufnahme von Kontak- der Opfer der NS-Militärjustiz ein quälend langsamer ten zu russischen Kriegsgefangenen, die Unterstützung Prozess. Ich kann mich an sehr schwierige Diskussionen von Widerstandsgruppen in den besetzten Ländern. im Parlament erinnern, aber auch an Vorträge von Sach- Die Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes von 2002 verständigen bei Anhörungen, die einen wirklich schau- wollte damals ein Teil des Hauses leider nicht mittragen. dern ließen. So hatte 2002 der von der Union benannte Ich hoffe sehr, dass die Diskussion fünf Jahre später nun Sachverständige Professor Seidler im Rechtsausschuss versachlicht werden kann und dass wir zu einer Einigung gesagt, dass das Verhängen der Todesstrafe bei Deser- im Bundestag kommen. tion zur Durchsetzung der Manneszucht in der Truppe (B) notwendig gewesen sei. (D) Und fünf Jahre später? Die Fehlleistung des Baden- Anlage 11 Württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger Zu Protokoll gegebene Reden bei der Trauerfeier für Hans Filbinger und sein tagelanges Ringen um eine angemessene Reaktion auf das Entsetzen Zur Beratung des Antrags: Weg vom Öl im und den Protest zeigen: In unserem Land ist immer noch Kunststoffbereich – Chance der Novelle der vieles nicht wirklich aufgearbeitet. Verpackungsverordnung nutzen und mit Bio- kunststoffen echte Kreisläufe schließen (Tages- Das 1998, im letzten Jahr der Regierung Kohl, be- ordnungspunkt 21) schlossene Gesetz zur Aufhebung von NS-Unrechtsur- teilen hatte für Deserteure noch keine befriedigende Lö- Michael Brand (CDU/CSU): Der Antrag von Bünd- sung gebracht. Während ansonsten NS-Unrechtsurteile nis 90/Die Grünen wäre ein besserer Antrag, wenn nicht durch dieses Gesetz pauschal aufgehoben wurden, blie- die im Prinzip konservativen Ansätze zur Schonung von ben Deserteure auf den demütigenden Weg der Einzel- Ressourcen und natürlichen Lebensgrundlagen am fallprüfung verwiesen. Beispiel der Förderung von biologisch abbaubaren Werkstoffen, BAW, mit klassischen ideologischen Vor- Der wirkliche Durchbruch erfolgte dann 2002. Mit ei- behalten gegen die haushaltsnahe und getrennte Wert- ner Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes haben wir stofferfassung vermischt würden. Als Abgeordneter aus für Gerechtigkeit für Deserteure gesorgt. Die Deserteure dem wunderschönen Wahlkreis Fulda kenne ich die Pro- der Wehrmacht haben sich dem Angriffskrieg Hitlers duktion und den Einsatz von nachwachsenden und biolo- verweigert. Dennoch mussten sie in der Bundesrepublik gisch abbaubaren Rohstoffen aus eigener Anschauung. den Makel des verurteilten Straftäters tragen. Mit der Ich kann aus eigener örtlicher Kenntnis sowohl die Ergänzung von 2002 wurde ihnen die Ehre wiedergege- Chancen und Schwierigkeiten bei biologisch abbaubaren ben. Das Gleiche gilt für die Verurteilungen von Homo- Werkstoffen, BAW, in der Produktion als auch beim Ein- sexuellen nach § 175 in der NS-Zeit. satz und in der Akzeptanz bei Verbraucherinnen und Verbrauchern in einiger Tiefe beurteilen. Die Gesetzesergänzung von 2002 führte hinsichtlich der Militärjustizurteile eine lange Liste von Tatbestän- Wenn in der Begründung dieses Antrages dann die den des Militärstrafgesetzesbuches auf. Urteile, die nach altbekannte Skepsis mancher Grünen zur aktuellen Ver- diesen Vorschriften ergangen waren, wurden pauschal fassung der Verpackungsverordnung dokumentiert wird, aufgehoben. dann erinnert das stark an traditionelle, ideologische 9978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Bedenken der Grünen gegen die dualen Systeme und den wäre glaubwürdiger, wenn die offenen oder indirekten (C) immer wieder unternommenen Versuch, der Sammlung Attacken auf die getrennte Sammlung und die werkstoff- in der Gelben Tonne die Basis abzugraben. Dass diese liche Verwertung unterblieben. unter Umweltminister Klaus Töpfer entworfene und von der Umweltministerin Angela Merkel weiterentwickelte Dass wir bei der aktuellen Novelle der Verpackungs- Verpackungsverordnung der in der Produktverantwor- verordnung noch andere Baustellen als die BAW zu re- tung zugrunde gelegten Einbeziehung der Kosten bereits geln haben, ist weithin bekannt. Dass dabei auch weiter- in die Produktion von Produkten und damit dem obers- gehende Innovationen von Teilen der Bundesregierung ten Prinzip der Vermeidung von Abfällen dient, wird all- ins Gespräch gebracht werden, ist auch kein Geheimnis. gemein anerkannt. Dass nach der Produktion und nach Wir müssen allerdings bei dieser jetzigen fünften No- der Verwendung eine werkstoffliche Verwertung vorge- velle vor allem das Hauptziel der Sicherung der haus- geben wird, dient der Entwicklung von Märkten, die ge- haltsnahen Sammlung erreichen und diejenigen Inver- schlossene Kreisläufe schaffen und ausbauen. Von der kehrbringer erfassen, die sich bislang gegen die Kreislaufwirtschaft wird es in Zukunft in die Stoffstrom- rechtlichen Vorgaben weder an der haushaltsnahen noch wirtschaft gehen, und manche Kämpfe heute haben in an einer anderen Sammlung von Verpackungsabfällen der angestrebten Kontrolle von Stoffströmen ihre eigent- beteiligen. Dass wir nach der aktuellen dann bei der si- liche Ursache. cher anstehenden sechsten Novelle auch grundsätzli- chere Fragen angehen müssen, ist in der Koalition sowie Dass der alte, schon in Nordrhein-Westfalen unter zwischen Bund und Ländern schon heute Diskussionsge- Frau Höhn gescheiterte Versuch, die erfolgreiche und genstand. Dabei werden wir uns allerdings davor hüten breit akzeptierte getrennte Sammlung von Verpackungs- uns von Bündnis 90 einen „grünen Trojaner“ in ein er- müll zu ersetzen durch eine großtechnische Sammlung folgreiches System schleusen zu lassen. gemeinsam mit Restmüll, bei dem hier vorgelegten An- trag ausgespart wurde, ist bezeichnend. Dass diese in Aus der anfangs erwähnten eigenen Anschauung von NRW gescheiterte grüne Ideologie von Frau Kollegin Produktion über Einsatz beim Kunden bis hin zur Ent- Höhn nach der Abwahl in NRW nun in den Bundestag sorgung weiß ich auch um die vielen kleinen roten Teu- transportiert wurde, macht das Unterfangen nicht Erfolg fel, die im Detail stecken. versprechender. Ich streite ja hier und da schon bei der jetzigen No- Ausgerechnet die Novellen von Umweltminister velle mit Teilen der Bürokratie um eine klare Datenbasis Trittin als Erfolg abzufeiern, zeugt dabei schon von sehr und um ein realistisches Abbild beim Thema Verpa- eingeengtem Blickwinkel und Nostalgie. Wer erinnert ckung. Nur auf solider Basis können wir Prognosen ab- geben und unsere politischen Entscheidungen verant- (B) sich nicht mehr an das „Dosenpfand-Chaos“ und die un- (D) glückliche Rolle des grünen Umweltministers? Und dass wortlich treffen. wir heute beim Thema Mehrweg teils drastische Einbrü- Was den Ansatz zu biologisch abbaubaren Werkstof- che zu verzeichnen haben, ist klarer Beleg dafür, dass fen und den erwähnten „grünen Trojaner“ angeht, so grüne Ideologie und kurzfristige Ansätze nur zu mise- werden wir in den Ausschüssen erheblich ernster und er- rablen Ergebnissen und weiteren Reparaturnotwendig- gebnisoffener diskutieren, wenn Bündnis 90/Die Grünen keiten führen. die Ideologie, auch gegen die dualen Systeme, abrüstet Für die CDU/CSU und auch für die gesamte Koali- und sich um ein ganzheitliches Konzept mitbemüht, das tion kann und will ich ein glasklares Bekenntnis zur den BAW die großen Chancen wirklich eröffnet. Sammlung von Verpackungen über duale Systeme abge- Wir von der CDU/CSU hoffen auf diese ideologisch ben. Dass wir immer wieder an der einen oder anderen unbelastete Erörterung in den Ausschüssen zu dieser Zu- Stellschraube nachjustieren müssen, ist dabei auch klar. kunftsfrage. Wir sind bereit, ernsthaft über ernst ge- Aber wir werden als CDU/CSU weder aus Ideologie meinte Konzepte zu sprechen. Der vorliegende Antrag noch aus einseitigen Interessen heraus das Kind mit dem wird dabei dann nicht der schlussendliche Antrag sein Bade ausschütten. Und wir wissen uns mit dieser Posi- können. Wir sehen das ganze Bild, und dazu gehört die tion auch einig mit der ganz übergroßen Mehrheit bei ganze Kette, um biologisch abbaubare Werkstoffe zu Kommunen, Recyclingwirtschaft und – das müsste Ih- dem Erfolg zu verhelfen, den wir zum Schutz unserer nen doch zu denken geben – mit Umwelt- und Verbrau- natürlichen Lebensgrundlagen und zum Schutz des Kli- cherverbänden. mas anstreben. Getrennte Erfassung und werkstoffliche Kreisläufe stellen eine entscheidende Voraussetzung für marktfä- Gerd Bollmann (SPD): Grundsätzlich haben Verpa- hige Recycling-Produkte aus LVP dar. Dass Bündnis 90/ ckungen aus Biokunststoffen viele Vorteile und sind Die Grünen diese teils sehr innovativen mittelständi- ökologisch besser als andere Kunststoffverpackungen. schen Unternehmen hier pauschal des „Downcyling“ be- Sie werden nicht auf Erdölbasis, sondern auf Pflanzen- schuldigt, ist ideologisch und in einer Reihe von Studien basis hergestellt. Aus diesem Grund sind sie nicht nur und Praxisbeispielen mehr als widerlegt. Wer Ressour- kompostierbar und ressourcenschonend. Sie können censchonung propagiert, der muss dies nachhaltig und auch klimaneutral energetisch verwertet werden. glaubwürdig tun. Um es klar zu sagen: die Propagierung von biologisch abbaubaren Werkstoffen, BAW, und die Inzwischen werden zahlreiche Produkte aus Bio- Öffnung der Verpackungsverordnung in diesem Punkt kunststoffen hergestellt. Neben Einkaufs- und Abfalltü- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9979

(A) ten und Folien sind dies auch Trinkbecher oder Plastik- Ich setze mich daher insbesondere für die energeti- (C) teile von Automobilen. sche Nutzung von Bioabfall ein. Dabei sollte die Nut- zung in der Regel in Form von Kraft-Wärme-Kopplung Aus eigener Anschauung weiß ich, dass sich die ver- erfolgen. Die Koalition plant deshalb auch, die thermi- schiedenartigen Produkte auf den ersten Blick nicht sche Verwertung von Bioabfall zum Beispiel in Biogas- mehr von normalem Plastik unterscheiden. Sie sind qua- anlagen zu fördern. litativ gleichwertig und in manchen Fällen sogar besser. Trotzdem haben Produkte aus Biokunststoff nur einen Ein vermehrter Einsatz von Biokunststoffabfall ist bei geringen Marktanteil. Sie sind nämlich trotz hoher Öl- der Energieerzeugung meiner Meinung nach begrüßens- preise immer noch teurer als normaler Kunststoff. wert. Ich halte Biokunststoffe insgesamt für eine sinnvolle Wie ich dargelegt habe, stehe ich einem vermehrten Alternative und eine zukunftsweisende Technologie. Einsatz, einer Förderung von Biokunststoffen grundsätz- Aus diesem Grund hat sich die SPD bei der 3. Novelle lich positiv gegenüber. Bevor wir jedoch konkrete ge- der Verpackungsverordnung für eine Förderung von bio- setzliche Schritte unternehmen, müssen wir grundle- logisch abbaubaren Werkstoffen eingesetzt. Kunststoffver- gende Fragen klären. packungen aus diesem Material sind bis zum 31. Dezem- Der Antrag entwirft ein Szenarium, in dem Kunst- ber 2012 von der Teilnahme an Rücknahmesystemen stoffe aus Erdöl durch Biokunststoffe ersetzt werden. befreit. Andere „Visionäre“ fordern den Ersatz von Benzin Die SPD befürwortet grundsätzlich den Einsatz von und Diesel durch Biosprit. Energiepflanzen wie Weizen Biokunststoffen. Für erdölbasierte Produkte sind Verpa- sollen zur Energieerzeugung eingesetzt werden. Beim ckungen und andere Produkte aus nachwachsenden Roh- ökologischen Bauen sollen pflanzliche Rohstoffe ver- stoffen eine sinnvolle Alternative. Eine weitergehende stärkt Verwendung finden. Ebenso sollen nachwach- Förderung, wie sie in dem vorgelegten Antrag gefordert sende Rohstoffe vermehrt fossile Rohstoffe ersetzen. wird, muss jedoch genau geprüft werden. Biosprit, Energiepflanzen, neue Verwendung als Ersatz Zahlreiche Fragen sind bisher ungeklärt. Eine Ökobi- fossiler Rohstoffe, traditioneller Einsatz in Möbel- und lanz, die internationalen Standards genügt und belegt, Textilindustrie. Die Einsatzmöglichkeiten von Bio- dass Biokunststoffe umweltfreundlicher sind, liegt bis- masse, oder einfacher ausgedrückt von Pflanzen, sind her noch nicht vor. riesig und laufend kommen neue hinzu. Aus diesem Grund steht das Umweltbundesamt der Dabei dürfen wir eines nicht vergessen: die Nah- rungsmittelproduktion. (B) Sache skeptisch gegenüber. So ein Vertreter des Um- (D) weltbundesamtes in der Zeitung „Die Zeit“ vom 23. No- Die Erzeugung von Biosprit, Biokunststoff und Ener- vember letzten Jahres. giepflanzen steht in Konkurrenz zur Nahrungsmittelpro- Ein weiteres Problem entsteht bei der Kompostierung duktion. Wollen wir die Anbauflächen von Nahrungs- von Biokunststoffen. Nach der jetzigen Gesetzeslage er- mitteln verringern? Wollen wir den Einsatz gentechnisch laubt die Bioabfall- und Düngemittelverordnung den veränderter Pflanzen? Einsatz als Düngemittel nur, wenn sie zu 100 Prozent Meiner Meinung nach müssen wir die grundsätzli- aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt wurden. Die chen Fragen der Nutzung von Biomasse erst einmal klä- meisten Produkte aus Biokunststoffen enthalten aber ren, bevor wir immer neue Verwendungsformen fördern. noch einen Anteil von Kunststoff auf Erdölbasis. Dem- entsprechend dürfen sie nicht als Düngemittel eingesetzt Die Anbauflächen in Deutschland und Europa sind werden. begrenzt. Aus diesem Grund stehen die verschiedenen Nutzungsformen der Pflanzen in Konkurrenz. Wir kön- Zusätzlich gibt es Absatzprobleme für Kompost aus nen nicht einfach so tun, als ließen sich die Pflanzenwelt Bioabfall. Wie sich jeder vorstellen kann, ist gesammel- und ihre Produkte unendlich nutzen. ter Bioabfall selten rein. Insbesondere im Abfall aus Biotonnen finden sich häufig Verschmutzungen. Wir müssen uns grundsätzlich überlegen, welche Nut- zung der Pflanzenwelt bzw. Biomasse in welchem Um- Allein die Möglichkeit der Verunreinigung führt dazu, fang und welcher Form wir wollen. Wir müssen auch die dass Kompost aus Abfall kaum Abnehmer findet. An- wirtschaftlichen Konsequenzen genau feststellen. All ders ausgedrückt: Derzeit gibt es kaum Verwendung für diese Fragen und viele Einzelaspekte sind zu klären. Kompost aus Bioabfall. Ich verweise zum Beispiel auf den Arten- und Natur- Diese Problematik ist inzwischen bekannt. In dem schutz. Natürlich können wir die Produktion von Ener- Antrag wird die Förderung von Biokunststoffen daher giepflanzen und Biokunststoffen durch großflächigen durch deren klimaneutrale Nutzung bei der energeti- Monoanbau steigern. Nach derzeitigem Stand ist der schen Verwertung begründet. großflächige Anbau in Monokulturen notwendig. Wir müssen die Nutzung fossiler Rohstoffe bei der Ein solcher Anbau schädigt aber die pflanzliche und Energieerzeugung senken. Zukünftig muss Energie aus tierische Artenvielfalt. Wollen wir also einen verminder- erneuerbaren, klimaneutralen Energien produziert wer- ten Arten- und Naturschutz, weil der verstärkte Einsatz den. Hierbei muss die Biomasse ihren Anteil haben. nachwachsender Rohstoffe dem Klimaschutz dient? 9980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) Kurz erwähnen möchte ich in diesem Zusammen- Darüber erreicht das Grüne-Punkt-System für einen (C) hang, dass wir uns für eine nachhaltige biologische Milliardenaufwand gerade einmal 0,3 Prozent der Ge- Landwirtschaft in der Nahrungsmittelproduktion einset- samtabfallmasse in Deutschland. Während wir unsere zen. Also das Gegenteil dessen, was beim Anbau indus- Joghurtbecher im Idealfall brav in den gelben Sack wer- triell genutzter Pflanzen ökonomisch sinnvoll ist. fen, wandern stoffgleiche Nichtverpackungen nach wie vor in den Restmüll. Ungeklärt ist auch der Einsatz der Gentechnik in die- sem Bereich. Manche Vertreter aus der Wirtschaft befür- Kurzum: Auch die FDP ist der Meinung, dass die Ver- worten den Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen. packungsverordnung anstelle von weiteren „Reförm- Sie argumentieren damit, dass Energiepflanzen und chen“ grundlegend überarbeitet werden muss. Nur die nachwachsende Rohstoffe nicht in den Nahrungskreis- haushaltsnahe Entsorgung der Verkaufsverpackungen si- lauf gelangen. Auf den ersten Blick stimmt dies. Auf den cherzustellen reicht nicht aus. Und alle wie wir hier sit- ersten Blick erscheint der Einsatz grüner Gentechnik zen wissen eigentlich schon jetzt, dass die 5. Novelle auch wirtschaftlich sinnvoll. nicht die letzte sein wird. Anstatt der geplanten Novelle ist es deshalb Zeit für den großen Wurf. Die Abfallwirt- Schnelleres Wachstum im Allgemeinen, höheres schaft in Deutschland muss vom Kopf auf die Füße ge- Energiepotenzial bei Energiepflanzen, mehr Stärke für stellt werden. die Produktion von Biokunststoffen, gentechnisch ist das machbar. Aber – spätestens hier ist es vorbei mit der trauten Zweisamkeit, Frau Kotting-Uhl – auch Ihr Antrag ist Aber stimmt es wirklich, dass es keine Auswirkungen nicht mehr als ein – wenn auch begrüßenswertes – „Re- auf den Nahrungsmittelkreislauf gibt? Ich bin skeptisch. förmchen“. Mehr Anreize für den Einsatz sogenannter Vor allem aber bin ich der Meinung, dass hier genauer Biokunststoffe zu schaffen, löst die derzeitigen Pro- untersucht werden muss. bleme rund um die Verpackungsverordnung nicht grund- legend. Natürlich ist der Einsatz von Biokunststoffen, Meiner Meinung nach entspricht die derzeitige Förde- soweit möglich, gut: Biokunststoffe sind bei ihrer ener- rung von Biokunststoffen in der 3. Novelle der Verpa- getischen Verwertung klimaneutral, darüber hinaus bio- ckungsverordnung den Notwendigkeiten. logisch abbaubar und sie führen uns weg von der sehr Bevor wir jedoch konkrete Schritte für eine zusätzli- endlichen Ressource Öl. Ein höherer Marktanteil wäre che Förderung einleiten, müssen wir die grundsätzlichen deshalb sicherlich wünschenswert. Fragen klären. Trotz alledem: Der Einsatz von Biokunststoffen bietet nur geringe Möglichkeiten, sich von der endlichen Res- Im Rahmen der jetzigen 5. Novelle der Verpackungs- (B) source Öl unabhängiger zu machen und Treibhausgase (D) verordnung lehne ich aus zeitlichen Gründen und den er- einzusparen. In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass rund wähnten grundsätzlichen Fragen eine weitere Förderung 10 Prozent des gesamten Erdölimportes in den Bereich von Biokunststoffen ab. der Chemie und Kunststoffproduktion gehen. Lässt man Ich plädiere dafür, zeitnah die aufgeworfenen Fragen die Chemie weg, so sind es gerade einmal 4 Prozent des zu klären und erst dann weitere Fördermaßnahmen für Erdöls, die Ausgangsmaterial für Kunststoffe sind. Ein Biokunststoffe aufzulegen. Tropfen auf den heißen Stein, vor allem wenn man be- denkt, dass nicht alle Kunststoffe durch Biokunststoffe ersetzt werden können. Horst Meierhofer (FDP): Wieder einmal steht uns eine Novelle der Verpackungsverordnung bevor – die Hinzu kommt, dass es bislang keine einheitliche Linie fünfte mittlerweile. Für die Grünen ist dies der Anlass zu gibt, was die Förderung bzw. Nichtförderung nachwach- fordern: „Weg vom Öl im Kunststoffbereich – Chancen sender Rohstoffe angeht: bei den erneuerbaren Energien der Verpackungsverordnung nutzen und mit Biokunst- haben wir das EEG, bei erneuerbarer Wärme gibt es stoffen echte Kreisläufe schließen“. nichts. Bei den Biokraftstoffen haben wir wiederum die Beimischungspflicht. Und jetzt auch noch die Biokunst- Wenn ich mir den Feststellungsteil des Antrags an- stoffe, die übrigens auch jetzt schon bis Ende 2012 privi- schaue, kann ich in vielen Punkten nur zustimmen: legiert sind, wenn Sie einmal in die Übergangsvorschrif- ten der Verpackungsverordnung schauen! Alles nicht Auch die FDP ist der Meinung, dass nach mittlerweile gerade systematisch! gut 15 Jahren Verpackungsverordnung eine kritische Überprüfung mehr als überfällig ist. Keine Frage, die Im Übrigen sind wir der Meinung, dass die energeti- Einführung der gelben Säcke Anfang der 1990er-Jahre sche Verwertung generell und nicht nur bei den Bio- war gut und richtig, um den damaligen Verpackungsber- kunststoffen ökologisch und ökonomisch sinnvoll sein gen Herr zu werden. Wir sagen aber auch: Die Zeiten ha- kann. Schließlich ersetzt sie fossile Energieträger wie ben sich geändert. Moderne Techniken sind teilweise in Kohle, Gas und Öl. Und schließlich sind es nicht die der Lage, Hausmüll und Wertstoffe maschinell zu tren- stofflichen Verwertungsquoten, sondern erst die Verrin- nen. Wenn man bedenkt, dass vor allem in Ballungsräu- gerung von Emissionen, die zu einer Entlastung der Um- men der Inhalt von Restmülltonne und gelbem Sack na- welt führen. Die Rolle des Staates sollte sich deshalb hezu identisch ist, muss man sich meiner Meinung nach darauf beschränken, die Höhe der Emissionen festzule- schon fragen, ob die Trennung von Hand wirklich noch gen. Wie diese Restriktionen kosteneffizient erfüllt wer- überall sinnvoll ist. den können, muss dem Markt überlassen bleiben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007 9981

(A) Fazit: Das System insgesamt muss sich öffnen. An In den Niederlanden, Großbritannien, Italien und der (C) einzelnen Stellen herumzudoktern, bringt auf lange Sicht Schweiz gibt es diese Einschränkung nicht. Die Anwen- nichts. Was wir – über den Einsatz von Biokunststoffen dung solcher Verpackungen hat davon profitiert. hinaus – brauchen, ist ein flexibles System, in dem duale Biologisch abbaubare Verpackungen müssen also aus Systeme, maschinelle Sortierung und thermische Ver- unserer Sicht nicht in jedem Fall vollständig aus nach- wertung miteinander konkurrieren können. wachsenden Rohstoffen gemacht sein, obwohl das viel- leicht ökologisch der konsequenteste Weg wäre. Aber Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ich kann vo- man muss ja die Sache technisch-ökonomisch nicht rausschicken, dass wir den Antrag der Fraktion Bünd- schwieriger gestalten, als sie ohnehin ist. Davon hat nis 90/Die Grünen unterstützen. Verpackungen aus bio- dann die Umwelt auch nichts. logisch abbaubaren Werkstoffen machen in mehrerer Die Linke unterstützt das Anliegen der Grünen, recht- Hinsicht Sinn. lich den Weg für die Verbrennung von Bioverpackungen Erstens. Sie können auf der Basis nachwachsender freizugeben. Die energetische Nutzung wäre hier weitge- Rohstoffe wie Stärke, Zucker, Zellulose, Pflanzenöle hend CO2-neutral und es würde für bestimmte mögliche oder Proteine hergestellt werden. Der Vorteil liegt auf Anwendungen den letzten Kick für eine positive Bilanz der Hand: Wir sparen wertvolle fossile Rohstoffe und geben. Damit kann die Anwendung solch innovativer vermindern den Ausstoß von Kohlendioxid. Materialien nach vorn gebracht werden. Die rot-grüne Bundesregierung hat von April 2001 Zweitens. Sie fördern den Gedanken der Kreislauf- bis März 2002 einen Demonstrationsversuch in Kassel wirtschaft. Hier wird am Produkt angesetzt und nicht zur verstärkten Verwendung kompostierbarer Verpa- nachher aufwendig getrennt und recycelt. Dadurch wird ckungen in der kommunalen Bioabfallsammlung gestar- übrigens wiederum Energie eingespart. tet. Es gab bereits hoffnungsvolle Ergebnisse. Auch in Drittens. Sie verringern weitere Abfallprobleme wie anderen Forschungsprojekten wurden öffentliche Mittel investiert. das Vermüllen, und zwar dadurch, dass weggeworfene Verpackungen schnell in der Umwelt schadlos zersetzt Nun käme es darauf an, die Entwicklung dieser Werk- werden. stoffe von der Bundesregierung weiterhin nach vorn zu bringen. Neben den rechtlichen Schritten wären das Und viertens schaffen sie Einkommensalternativen Maßnahmen im Bereich der Materialentwicklung und für die deutsche Landwirtschaft. Produktanwendung sowie der Forschungsförderung. (B) Unserer Ansicht nach sollten nicht nur Verpackungs- Nicht zuletzt muss die Produktkennzeichnung verbes- (D) materialien aus biologisch abbaubaren Werkstoffen her- sert und die Bevölkerung besser aufgeklärt werden. gestellt werden, sondern auch Einweggeschirr oder Denn es wäre schade, wenn die Bioverpackungen am Folien für den Garten und den Landschaftsbau. Anwen- Ende in der falschen Tonne landen. dungsbereiche sind auch Produkte wie Bindegarne oder Pflanztöpfe. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Um die Anwendung im Landschaftsbau oder in der Die ökologische, ökonomische und friedenspolitische Notwendigkeit zur Abkehr vom Erdöl als Rohstoff und Landwirtschaft voranzubringen sollte schnellstmöglich Energieträger ist unbestritten. Es ist die zentrale Zu- eine DIN-Norm entwickelt werden, die die Abbaubar- kunftsherausforderung unserer Gesellschaft, unser Wirt- keit im Freilandbereich regelt. Denn wie wir von der schaftssystem auf eine Basis erneuerbarer Ressourcen Forschungsgemeinschaft Biologisch Abbaubare Werk- umzustellen. Im Bereich der Bioenergien haben wir be- stoffe, FBAW, in Hannover wissen, bestehen einige Pro- reits einiges erreicht, bei der Produktion von Waren und dukte aus diesem Bereich aus einem Verbund von nach- Gütern stehen wir dagegen noch ganz am Anfang der wachsenden und nicht nachwachsenden Rohstoffen. Es notwendigen Umstellung auf eine erneuerbare Ressour- muss aber gewährleistet sein, dass das Produkt in jedem cenbasis. Vor allem in der Chemie- und Kunststoffindus- Fall vollständig biologisch abbaubar ist. Das kann eine trie sind wir noch immer zu über 90 Prozent vom impor- DIN-Norm leisten. tierten Rohstoff Erdöl abhängig, was neben den Eine solche DIN-Zertifizierung wurde bereits auf Ini- ökologischen Problemen vor allem immense wirtschaft- tiative von European Bioplastics und FBAW für den Be- lichen Risken birgt. reich Biokompostierung entwickelt. Allerdings fehlt es Obwohl derzeit nur etwa 10 Prozent des gesamten hier noch an einer entsprechenden Regelung in der Bio- Erdölimportes in den Bereich der Chemie- und Kunst- abfall-Verordnung. Nach der muss nämlich momentan stoffproduktion gehen, sind die in diesem Bereich un- Bioabfall zu 100 Prozent aus nachwachsenden Rohstof- mittelbar angesiedelten Beschäftigungsverhältnisse von fen bestehen. Es ist jedoch nicht einsichtig, dass Verpa- großer Bedeutung. Nach Angaben des Statistischen Bun- ckungen, die lediglich zu einem geringen Teil aus nicht desamtes von 2005 sind im Bereich der Chemie- und nachwachsenden Rohstoffen hergestellt wurden, aber Kunststoffindustrie über 800 000 Menschen unmittelbar entsprechend der DIN EN 13432 nachweislich vollstän- beschäftigt. Gehen fossile Rohstoffe wie Erdöl und Erd- dig kompostierbar sind, der Weg in die Biotonne verbaut gas zur Neige, gibt es in der Chemie- und Kunststoffin- wird. dustrie keine andere Alternative als die Nutzung von Bio- 9982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 97. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. Mai 2007

(A) masse. Es kommt deshalb darauf an, jetzt die es klar und unmissverständlich heißt, „dass eine ökologi- (C) notwendigen Weichenstellungen vorzunehmen. Produk- sche Industriepolitik mehrere Dinge gleichzeitig leisten te auf regenerativer Rohstoffbasis müssen gefördert und muss, unter anderem die stoffliche Basis der Industrie in vor allem aber bestehende Hemmnisse wie die im Ab- wichtigen Bereichen zunehmend auf nachwachsende fallrecht abgebaut werden. Rohstoffe umzustellen.“ Die Umstellung der Rohstoffbasis in der Chemie ist Ihre tatsächliche Politik, Herr Minister, ist aber wie so jedoch nicht nur eine wirtschaftspolitische Notwendig- oft eine andere. Sie lassen Ihren Ankündigungen keine keit, sondern vor allem auch eine ökologische. Kunst- Taten folgen. Sie machen sogar das Gegenteil, indem sie stoffe sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken, im vorliegenden Referentenentwurf zur fünften Novelle sie haben unbestritten viele Vorteile in der Nutzung; hin- die bisher geltende Freistellung von der Verpflichtung sichtlich ihrer Recyclingeigenschaften sind sie jedoch zur Teilnahme an einem Dualen System für alle Bio- problematisch. Echte Kreislaufprodukte sind es nicht. kunststoffe bis 2012 wieder einschränken und die pfand- Statt dessen steht am Ende des Recyclingprozesses meist freien Getränke aus der Befreiung ausnehmen wollen. ein minderwertigeres Produkt, das früher oder später Sie tun dies, obwohl Biokunststoffe am Verpackungs- doch in der Verbrennungsanlage landet. markt gerade erst am Start stehen. Ein Ausstieg aus dem Downcycling von Kunststoffen Sie verstehen unter Produktverantwortung lediglich gelingt jedoch mit Biokunststoffen. Durch den Einsatz die Existenzsicherung der Dualen Systeme, aber nicht lang- und kurzlebiger Biokunststoffe auf der Basis nach- die Chance ökologischer Innovationen, die sie selber wachsender Rohstoffe eröffnet sich für Kreislaufwirt- doch immer so vehement an anderer Stelle einfordern. schaft- und Abfallpolitik eine neue Perspektive. Wäh- Die Verpackungsverordnung bietet tatsächlich die rend die bisherige Abfallgesetzgebung – insbesondere Chance, den Umstieg wichtiger Wirtschaftsbereiche auf die Verpackungsverordnung – aus Gründen des Ressour- nachwachsende Rohstoffe zu forcieren. Der Verpa- censchutzes ein möglichst hochwertiges werkstoffliches ckungsmarkt ist derzeit einer der wenigen, in denen Recycling zum Ziel hat, können Produkte auf regenerati- Kunststoffe auf der Basis nachwachsender Rohstoffe ver Basis entweder recycelt werden oder durch eine überhaupt eine Rolle spielen und marktreife Produkte energetische Verwertung in einen echten Kreislauf ge- angeboten und vertrieben werden. führt werden. Durch den Anteil an biogenem Kohlen- stoff kann zum Beispiel klimaneutral Strom und Wärme Wenn es gelingt, Biokunststoffe im Verpackungs- erzeugt werden. Es gibt keinen Treibhausgaseffekt, denn markt zu etablieren, bringt das die notwendige Dynamik, nachwachsende Rohstoffe werden durch Sonnenlicht aus um auch in den anderen Wirtschaftsbereichen den not- wendigen Wechsel hin zu erneuerbaren Ressourcen zu (B) Wasser und CO2 ständig neu gebildet, und nur diese (D) Komponenten werden bei der Verwertung wieder freige- vollziehen. Kunststoffe auf der Basis nachwachsender setzt. Biokunststoffe sind auch keine Konkurrenz zu den Rohstoffe sind eine Chance für Umwelt und Wirtschaft. Bioenergien, sondern ganz im Gegenteil eine sinnvolle Ergänzung. So wird Biomasse zuerst stofflich genutzt Herr Minister, lassen Sie ihren Ankündigungen end- und erst anschließend energetisch. Solche Nutzungskas- lich mal Taten folgen und sorgen Sie dafür, dass anstelle kaden erhöhen die Unabhängigkeit vom Erdöl, ohne den eines weiteren Reförmchens des bestehenden Systems, Bedarf an Anbaufläche zu vergrößern. die Verpackungsverordnung grundlegend mit dem Ziel überarbeitet wird, Anreize für die Umstellung von erdöl- Diese Chancen durch Biokunststoffe werden aber basierten Kunststoffen auf Biokunststoffe aus nach- noch immer viel zu wenig erkannt und genutzt, die Bun- wachsenden Rohstoffen zu setzen. Sorgen Sie dafür, desregierung ist in dieser Hinsicht untätig. Herr Minister dass die Verpackungsverordnung konsequent in Rich- Gabriel, ich möchte Sie an dieser Stelle gerne an das von tung Ressourcenschutz weiterentwickelt wird und die Ihnen in Oktober 2006 vorgelegte Memorandum für ei- Verwendung der nachwachsenden Rohstoffbasis zusam- nen „New Deal“ von Wirtschaft, Umwelt und Beschäfti- men mit der biologischen Abbaubarkeit als Produktver- gung zur ökologischen Industriepolitik erinnern, in dem antwortung anerkannt wird.

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