OÖ. HEIMATBLÄTTER 2015 HEFT 3/4

Beiträge zur Oö. Landeskunde | 69. Jahrgang | www.land-oberoesterreich.gv.at OÖ. HEIMATBLÄTTER | 2015 HEFT 3/4 HEFT 2015 | HEIMATBLÄTTER OÖ.

69. Jahrgang 2015 Heft 3/4 Herausgegeben vom Amt der OÖ. Landesregierung, Direktion Kultur

Elisabeth Schiffkorn: Der schwarze Tod in Sage und Berichten. Erinnerungen an die „Geißel Gottes“ 103

Franz Daxecker: Burg Friedburg/Braunau – Wiederentdecktes Urbar erschließt neue Forschungsquellen 117

Thomas Schwierz: Das „Stöttnerkreuz“ in Neußerling/Gemeinde Herzogsdorf 123

Reinhold Dessl: Zwischen Großbrand, Krieg und Klostersturm. Drei Wilheringer Stiftsäbte aus Zwettl/Rodl im 18. Jahrhundert 125

Franz Josef Feichtinger: Vom Bauern- zum Fabrikantenstand. Die bewegte Unternehmergeschichte der Gmundner Familie Forstinger 137

Rudolf A. Haunschmied: Zur Landnahme der Schutzstaffel im Raum St. Georgen–Gusen–Mauthausen 151

Thekla Weissengruber: Alle Farben des Regenbogens. 100 Jahre Marlen Tostmann 199

Karl Wirobal: Von Sonnenhunger und Nebelfreiheit – Eine kleine Hallstätter „Klimatologie“ 209

BUCHBESPRECHUNGEN 217

101 Medieninhaber: Land Oberösterreich Mitarbeiter: Herausgeber: Amt der OÖ. Landesregierung, Mag. Dr. Elisabeth Schiffkorn Direktion Kultur Verein Kultur Plus Zuschriften (Manuskripte, Besprechungsexemplare) Karl-Wiser-Straße 4, 4020 Linz und Bestellungen sind zu richten an den Schriftleiter der OÖ. Heimatblätter: Univ.-Prof. Dr. Franz Daxecker Gufeltalweg 9a, 6020 Innsbruck Camillo Gamnitzer, Amt der OÖ. Landesregierung, Direktion Kultur, Promenade 37, 4021 Linz, Tel. Kons. Dr. med. Thomas Schwierz 0 73 2 / 77 20-1 54 77 Lichtenberger Straße 96, 4201 Eidenberg Abt Dr. Reinhold Dessl Jahresabonnement (2 Doppelnummern) e 12,– Linzer Straße 4, 4073 Wilhering (inkl. 10 % MwSt.) Mag. Franz Josef Feichtinger Hersteller: TRAUNER DRUCK GmbH & Co KG, Roitherstraße 50, 4802 Köglstraße 14, 4020 Linz Kons. Ing. Rudolf A. Haunschmied Grafische Gestaltung: Mag. art. Herwig Berger, Markartstraße 33, 4050 St. Martin bei Traun Steingasse 23 a, 4020 Linz Mag. Dr. Thekla Weissengruber OÖ. Landesmuseum, Für den Inhalt der einzelnen Beiträge zeichnet der Sammlung Volkskunde – Textil jeweilige Verfasser verantwortlich Schlossmuseum Linz Schlossberg 2, 4020 Linz Alle Rechte vorbehalten Prof. i. R. Ing. DI Dr. mont. Karl Wirobal Für unverlangt eingesandte Manuskripte über- Lahn 109, 4830 nimmt die Schriftleitung keine Haftung

ISBN 3-85393-021-2

Titelbild: Blatt aus dem wiederaufgefundenen, in gotischen Minuskeln abgefassten Urbar der Innviertler Feste Friedburg (Beitrag Daxecker)

102 Der schwarze Tod in Sage und Berichten: Erinnerungen an die „Geißel Gottes“ Von Elisabeth Schiffkorn

Contra pestem! Über Jahrhunderte der Krems. Die Leute setzten eine Kreuzsäule in kämpften die Menschen in Europa mit der guten Meinung, der liebe Gott möchte dem durchwegs unzureichenden Mitteln ge- Sterben ein Ende machen. Und wirklich hörte gen die Pest. Im 14. Jahrhundert einge- die Pest bald auf. schleppt, suchte der „schwarze Tod“ die Das alltägliche Sterben wird im OÖ. Bevölkerung in rollenden Epidemien Sagenbuch höchstens am Rand berührt. heim. Bis ins 18. Jahrhundert wütete Dominierend sind besondere, große er auf unserem Kontinent, dann war, Schrecknisse. abgesehen vom Wiederaufflackern an Wahrleiten bei Henhart starb durch die einigen Orten, das Schlimmste ausge- Pest fast aus, der einst große Ort wurde wäh- standen und die größte Gefahr vorüber. rend der folgenden Hungersnot um eine Pfanne 1713 errichteten die Linzer aus Dank- voll Koch verkauft. Eine Pestkapelle erinnert barkeit für das Abebben der Seuche die an diese furchtbare Zeit. Oder: In Munden- Pestsäule auf dem Hauptplatz. Von den ham bei [ebenfalls ] blie- meisten Steinsetzungen – auf dem Land ben zur Pestzeit nur fünf Leute am Leben. Die Säulen, Marterl oder Kapellen – ist die Pestgegend war von Wachen umstellt, und aller Widmung bekannt, bei manchen nur die Verkehr verboten. Das Wissen um die An- Sage oder Geschichte zu ihrer Entste- steckungsgefahr war vorhanden, Stra- hung. So wie die steinernen Zeugnisse in ßensperren und Schnellgalgen sollten der Landschaft an die Pestzeit erinnern, die Einschleppung und Ausbreitung der so gehören diese Berichte immateriell Seuche (Inkubationszeit drei bis 10 Tage) zur Gedächtniskultur der Menschen. möglichst verhindern. Die Pest galt weithin als Strafe Got- Ein realhistorischer Ansatz ist u. a. tes, Gebete, Pilgerfahrten, Bußgänge für diese Sage aus dem 18. Jahrhundert oder Gelöbnisse fruchteten nur verein- wahrscheinlich: zelt, von „wunderbarer Rettung“, Ge- 1714 wütete in Bayern in Pest. Ein Knabe lübden und deren Erfüllung lesen wir im floh vor der Krankheit und steckte die Orte an, OÖ. Sagenbuch – Linz, 1932, Herausge- durch die er kam, besonders Thalgau, St. Lo- ber Dr. Adalbert Depiny – entsprechend renz, Mondsee. Im Bauernhaus Wistauder selten: starb er auf der Tenne und wurde am Waldes- Am Spadenberg [Bereich Nationalpark rand begraben. An der Stelle liegt ein grauer, Kalkalpen] steht hoch droben im Fichtenwald unförmiger Stein, der Peststein. In Mondsee eine Kapelle zu ‚Maria von der immer wäh- hob aber nun das große Sterben an. Vor etwa renden Hilfe‘. Wer in Zeiten der Not, der Pest 40 Jahren hat man beim Peststein menschliche oder Kriegswirren zu dieser Kapelle flüchtet und Gebeine gefunden und tiefer gebettet. Interes- Maria um Hilfe bittet, dem kann nichts gesche- sant, ist, dass extra festgehalten wird, die hen. --- Die Pest kam auch nach Neuhofen an Gebeine seien – sicherheitshalber – nur

103 Pestsäule auf dem Linzer Hauptplatz.

104 tiefer gebettet und nicht auf einem Friedhof „Da endlich auch die Exkremente der bestattet worden. Tiere ihre besonderen Kräfte haben, Für das Innviertel überliefert uns ist es nicht übel, wenn der Apotheker Amand Baumgarten aus demselben auch davon in seinem Laden hat, ins- Zeitraum: besondere Ziegen-, Hunde-, Storchen-, Zu Mundenham wütete 1714 eine Seuche Pfauen,- Tauben-, Moschustier- und Zi- in so heftigem Grad, dass von den ungefähr bethkatzenmiste, samt Haaren und Fe- 100 Einwohnern des Dorfes nur fünf am Leben dern von diesen Tieren.“ Die angeblich blieben. Noch immer gemahnt eine Kreuzsäule „wundersame Wirkung von Exkremen- daran, dass dazumal der Gottesdienst im Freien ten“ wird im OÖ. Sagenbuch mehrfach unter einer Eiche gehalten wurde. angesprochen: Holzleiten bei Naarn starb durch die Pest Helf Gott! Aber wem!? aus. Nur die Leute, die sich im Schafstall ver- stecken, blieben verschont, sie ließen die Schafe Als das erste unter den grippeartigen in den Hof, gaben ihnen für zwei Tage Futter, Symptomen der Pest soll das Niesen ge- ebenso den Rindern und Pferden im Stall, dann golten haben. So hätte sich, heißt es, die verstopften sie alle Risse mit Stroh, krochen in Gewohnheit herausgebildet, „Gesund- den Stall und hatten Nahrung für zwei Tage heit!“ oder „Helf Gott!“ zu wünschen. mit. Die Pest strich um den Stall, drang aber Noch im 21. Jahrhundert wird dieses nicht hinein. Sie waren gerettet. Ein zweites Thema, auch auf Internetplattformen, Beispiel: In der Ortschaft Rodl bei Walding diskutiert. Die Homepage der Zeitschrift starben alle Leute an der Pest, nur zwei Bauern, „Die Welt“ listet neue Benimmregeln auf; ‚der Holinder‘ und der ‚Bauer in Steg‘, krochen heute habe sich, erläutert Carolin Lüde- in einen Schweinestall und retteten sich dadurch mann, Etikette-Expertin und Mitglied vor dem schwarzen Tod. im Deutschen Knigge-Rat, der Niesende Die Zuflucht zur Heilkraft tierischen nach einem ‚Hatschi‘ zu entschuldigen Kots war nicht aufs Mühlviertel be- und das Gegenüber nur freundlich zu ni- schränkt: cken. Der Wunsch ‚Gesundheit‘ stamme Die Schwand starb zur Pestzeit ganz aus. aus Zeiten, da in Deutschland die Pest In Neukirchen an der Enknach blieb ein Hof grassierte; nieste damals jemand, so Lü- verschont, weil sich die Leute in den Schafstall demann, sagte der andere „Gesundheit“, legten, ringsum starben die Häuser aus. Eine wobei er aber nicht den Niesenden, son- Pestsäule in der Nähe der Hofmühle kündet dern sich selbst meinte! die Stelle des Pestfriedhofes. Auf einem Karren führte [sic] der Totengräber die Toten hinaus und Volksmedizinische Praktiken sperrte die ausgestorbenen Häuser zu. Ein ver- meintlich Toter fiel ihm einmal hinab und kam Nach Hovorka/Kronfeld (Verglei- wieder zum Leben. Weitere Schilderungen chende Volksmedizin, 1908) wurde dem aus dem Innviertel: … in Auflegen von Kot seit alters her bei ver- fiel ein als tot angesehener Schwerkranker unbe- schiedensten Krankheiten und ebenso merkt vom Wagen, schleppte sich in einen Schaf- bei Pest heilender Einfluss zugemessen. stall und verkroch sich unter den Mist, der die Ein Pariser Autor meinte bereits 1608: Pest ganz auszog. Auch in lag eine

105 Apotheke, 16./17. Jahrhundert

106 alte Frau schon auf dem Pestwagen, konnte aber die den Gebrauch spezieller Kräuter und doch noch herabkommen und verkroch sich im Heilpflanzen empfehlen: rettenden Schafmist. Als die Pest unser Land verheerte, kam auf Eine Rolle für sich in der Volksmedi- die uralte Linde neben der Kirche in Weichstet- zin spielten die Ziegen. „Die Ziege galt ten ein kleiner Vogel und sang ‚Iss Bitterklee und als Beseitiger allen Übels. In bestimm- Enzian, So kimmst davan, so kimmst davan!‘ ten Gegenden halten die Leute Ziegen, Linden waren Plätze der Zusammen- weil sie glauben, dass diese Krankheiten kunft, der Rechtsprechung und Zent- an sich ziehen und ‚gut fürs Vieh‘ seien. ren der dörflichen Information, daher Ziegenmilch gilt noch heute allgemein sangen auch die sagenhaften Vögel von als besonders heilkräftig; in Tirol gilt sie einer solchen herab. Sie galten als ‚See- als Mittel gegen Schwindsucht“ (Verglei- lenvögel‘, die als Botschafter einer dem chende Volksmedizin). Dazu zwei Kurz- Menschen verschlossenen Welt in der berichte aus dem Mühl- und Traunvier- Lage sind, normalerweise nicht verfüg- tel: bares Wissen weiterzugeben. Wer auf Ein Geißbock nimmt alle Krankheitskeime ihr Geheiß hört, tut gut daran: Als in an sich. In Tragwein soll ein Mann während Holzleiten bei Naarn die Pest ausbrach, flog der der Pest ständig einen Geißbock mit sich gezogen Pestvogel umher, mit der Kunde ‚Brock Enzian haben und gesund geblieben sein. In Neuhofen und Bibernell, stirbst nöt so schnell.‘ Ein alter an der Krems wurde zur Pestzeit ständig ein Mann tat es und blieb allein am Leben. Ziegenbock in den Wohnungen herumgeführt. Mitgespielt haben dürfte hier der von den Tieren ausgehende penetrante Ge- In seinem etymologischen Wörter- stank, der davon abhielt, dem Bock und buch aus dem Jahr 1815 schreibt Mat- seinem Besitzer zu nahe zu kommen. thias Höfer zum Thema „Pestvogel“: „Der Seidenschwanz, ampelis garrulus (…); man hat von diesem Vogel den Wahn verbreitet, … dass selber alle sie- ben Jahre anzukommen pflegt, zugleich Vögel als Botschafter aber Pest oder anderes Unheil anzeigen soll. Er kommt größtenteils aus den böh- Kleine Kinder, weiße Frauen, Vögel mischen Wäldern an, oft nach drei oder oder „elbische“ (= heidnische) Wesen vier Jahren. Daher ist selber auch jenseits erteilen in europäischen Pest-Sagen me- der Donau häufiger als hier. In der Ge- dizinische Ratschläge: gend unseres Gebirges, wo er im späten Zu Ostermiething gab es gerade in einem Herbst auf kurze Zeit sich sehen lässt, Haus beim Heimgarten lustigen Tanz. Da haben ihn die Leute im Jahr 1800 den schaute der Tod zum Fenster herein, und alle lie- Franzosenvogel genennet, weil gleich fen entsetzt davon. Auf dem Weg hörten sie Vö- darnach die Franzosen in unser Land gel singen: ‚Esst Enzian und Pimpernell, Dann eingefallen sind. Im Jahr 1806 war sel- sterbt ihr nicht so schnell.‘ Bald darauf brach die ber gleichfalls wieder hier. Sonst ist sein Pest aus. gewöhnlicher Namen in Österreich To- In oberösterreichischen Sagen sind tenvogel, Pestvogel und, wegen seiner es fast ausnahmslos gefiederte Flieger, zwitzernden Stimme, Zuserl.“

107 Von elbischen Rettern wird im OÖ. von ‚Trucken umb den Magen‘ Kauen Sagenbuch ein einziges Mal erzählt: von Alantwurzeln, Pomeranzschöllern; Der Pestmann brachte von Osten her die Pest bei geöffneten Geschwer Aufstreichen nach Braunau, und viele Menschen starben. Da von Honig, Ayerbotter oder Backofen- gaben die Wassermandl den Leuten Kranebitten Laimb; Ausräucherung der Zimmer mit zum Essen und Ausräuchern. Wer den Rat be- Kronabethscheitern“ (Adalbert Depiny: folgte, starb nicht. Die Wassermandl, sonst Die Pest in Kremsmünster). Herren über Tod oder Leben im nassen Diese Infektionsordnungen wurden Element, eilen dieser Überlieferung nach gewiss auch deshalb öffentlich kund- aus ihrer Welt, dem Übergang zum To- gemacht, weil viele Leute ja nicht lesen tenreich, den Menschen zu Hilfe. Elbi- konnten. Die europaweit verbreiteten sche Wesen sollen jenen beistehen, die Sagen von Tieren oder elbischen We- den christlichen Gott erzürnten, und so sen, die in Reimform Hausmittel anprie- dessen Zorn abwenden. sen und von den Menschen verstanden wurden, waren vermutlich als „magische Lebenshilfe“ gedacht und sollten der Pestbüchlein Bevölkerung Mut und Hoffnung in aus- sichtslos erscheinender Lage geben. Während der Seuchenjahre 1649, In seiner bekannten Erzählung „Gra- 1679 und anderen druckte man in Linz nit“ beschreibt Adalbert Stifter eine solch Pestbüchlein mit Tipps, Verhaltens- und verzweifelte Situation: Vorsorgemaßregeln. Das medizinische Kuratorium des Landes war seinerseits Eines Sonntages, da der Pfarrer von Ober- nicht untätig und veröffentlichte z. B. plan die Kanzel bestieg, um die Predigt zu halten, „Eine kurze Infectionis Ordnung für die waren mit ihm sieben Personen in der Kirche, Arme Nothleydendte Gemaindt auff die andern waren gestorben, oder waren krank dem Land“, die Gesunden u. a. folgende oder bei der Krankenpflege, oder aus Wirrnis Hausmittel empfahl: „Peinliche Reinhal- und Starrsinn nicht gekommen. Als sie dieses tung der Wohnungen, Hausgeräte, Klei- sahen, brachen sie in ein lautes Weinen aus, der der und Brunnen; Speise und Trank soll Pfarrer konnte keine Predigt halten, sondern las mäßig, stets gekocht und mit Bibernelle eine stille Messe, und man ging auseinander. und Kronawitt gewürzt genossen wer- Als die Krankheit ihren Gipfel erreicht hatte, als den; vor jedem Gang auf die Straße soll die Menschen nicht mehr wussten, sollten sie Präservativ-Latwerg [sic] zu sich genom- in dem Himmel oder auf der Erde Hilfe suchen, men werden“. Mancherorts trug man geschah es, dass ein Bauer aus dem Amisch- auch eine seit dem 15. Jahrhundert ge- hause von Melm nach Oberplan ging. Auf der bräuchliche Pesttracht; die Verwendung Drillingsföhre saß ein Vöglein und sang: ‚Esst von Handschuhen und Riechmitteln soll Enzian und Pimpinell, steht auf, sterbt nicht so damals ebenfalls eingeführt worden sein. schnell.‘ Erkrankten angeratene Kurativmittel: Der Bauer entfloh, er lief zu dem Pfarrer „Schmieren der Pulsadern und Schläfen nach Oberplan und sagte ihm die Worte, und mit Agsteinöl; Scorpionöl täglich unter der Pfarrer sagte sie den Leuten. Diese taten, die Achseln, in den Schoß und hinter wie die Vöglein gesungen hatte, und die Krank- die Ohren streichen; beim Auftreten heit minderte sich immer mehr und mehr, und

108 noch ehe der Haber in die Stoppeln gegangen sich dann.‘ Als sie erstaunt aufblickten, sahen war, und ehe die braunen Haselnüsse an den sie am Stamm ein kleines Wölkchen hinauf und Büschen der Zäune reiften, war sie nicht mehr herunter hüpfen. Sie erkannten sofort, dass es vorhanden. Die Menschen getrauten sich wieder das Pestwölkchen war. ‚Geh schnell um einen hervor, in den Dörfern ging der Rauch empor, Bohrer und einen hölzernen Nagel!‘, rief der wie man die Betten und die andern Dinge der Hirte seinem Schwiegersohne zu. Eilends lief Krankheiten verbrannte, weil die Krankheit sehr dieser um das Verlangte und kam bald darauf ansteckend gewesen war; viele Häuser wurden damit zurück. Der Alte bohrte rasch ein Loch neu getüncht und gescheuert, und die Kirchen- in den Baum, und als das Wölkchen hinein- glocken tönten wieder friedfertige Töne, wenn sie schlüpfte, schlug er schnell den Nagel darauf. entweder zum Gebete riefen oder zu den heiligen Die Pest war eingepflockt. Festen der Kirche. Auch in Hörleinsödt hatte die Pest gewü- tet und Leiche auf Leiche gehäuft. Nur ein altes Weib war am Leben geblieben. Es hörte die Pest, Pestmann und Pestfrau – die an der Stadtsäule auf und ab sprang, als „Tod“ und „Tödin“ Wölkchen reden: ‚I g`schpühr jeamd affi, aber neamd alei‘. Das Weib schlug einen Nagel in Bei Margret Horny sind Sagen aus die Stadtsäule, und das Pestwölkchen war ge- dem Mühlviertel nachzulesen, die gleich fangen. mehrere Elemente des Volksglaubens Die Pestfrau begegnet uns in ein- vereinen. Mitunter wird die Seuche da- schlägigen Zeugnissen vieler Regionen, rin als Regenwölkchen personifiziert: in Oberösterreich jedoch gar nicht, und Der reizend gelegene, von alten Ringmau- auch der Pestmann macht sich hierorts ern umgebene Markt Haslach, den Kriegs- und rar. Eine der Ausnahmen: Feuersnot zu wiederholten Malen heimgesucht Zur Pestzeit stiegen drei weiße Jungfrauen hat, wurde einstens auch von der Pest fast entvöl- aus einem Brunnen in der Nähe des Schlosses kert. Ein alter Mann, ein sogenannter Prophe- Frauenstein bei Mining, pflegten die Kranken zeier, erwachte einmal gerade um Mitternacht gesund und vertrieben den Pestmann. Dann und sah schaudernd durch das Stubenfenster am verschwanden sie wieder durch den Brunnen. Marktplatz den ‚Toid‘ und die ‚Toidin‘. Hurtig In einem der bereits zu vorchristli- schwangen sie ihre Sensen. Noch in derselben cher Zeit besiedelten Gebiete des Mühl- Nacht starben die ersten an der Beulenpest. Der viertels, dem Sternwald, ist die Toidin Gemeindehirt von Haslach war mit Tochter und oder Tödin als Sagengestalt erhalten Schwiegersohn bei der Herde im ‚Welserbirrat geblieben; demnach habe sie einem alten an der Mühel‘. Wenn er auf die Anhöhe stieg, Mann in Eberhardszell den Tod seiner Enkelin so sah er über Haslach eine schwere, schwarze durch Klopfen an die Tür vorher angezeigt. Wolke lagern. Da wusste er, dass die Pest noch immer wütete. So lebten denn die drei wochen- lang von Milch und Käse bei der Herde. Sonn- Bannen von Krankheiten tags gingen sie immer zum großen Kreuz, wo ein Kapellchen stand, und beteten. Während sie Zum Vernageln von Krankheiten wieder einmal die Andacht verrichteten, sang in (s. o.) liest man bei Hovorka/Kronfeld: der großen Linde bei der Kapelle ein Vöglein: „An einer Scheunenwand bei Kirch- ‚Esst Bibernell und Enzian, Der Tod versteckt dorf waren hunderte von Hufnägeln in

109 fast regelmäßiger Anordnung zu sehen. Die Praxis, Pesthäuser mit Stroh- Das Gut wurde … von einem Bauern kreuzen auf Pflöcken zu markieren, ist bewirtschaftet, der als Heilkünstler weit für OÖ mehrfach belegt: und breit bekannt war … Insbesondere In einem Bauernhaus zu Lichtenberg gelang wusste er Zahnschmerzen sicher zu hei- es, die Pest in einem Tram einzusperren. Als ihn len. Dies geschah in folgender Weise: aber einer mutwilliger Weise ausriss, begann Der Kranke musste in der nahe gelege- sie wieder zu wüten. Nachstehend findet nen Schmiede einen Hufnagel holen, der Glaube ans Pest-Bannen sogar eine ohne um denselben zu bitten oder nach genaue Datierung; 1624 und 1625 wütete Empfang desselben zu danken. Der die Pest in Liebenstein und Umgebung so heftig, Bauer führte dann den Kranken mit dem dass die meisten Einwohner hinwegstarben. Sie Nagel zu einem Kreuzwege, machte wurden in einem besonderen Teil des Friedhofes dort, dessen Hand führend, mit dem in Liebenau beigesetzt. Jahrhunderte wurde hier Nagel verschiedene Zeichen auf den Bo- nicht nachgegraben, um andere Tote zu beerdi- den, worauf der Heilungssuchende den gen. Denn tut man es, so bricht die Pest wieder Nagel in die genannte Scheunenwand los. mit drei Schlägen einschlagen musste; Die Überzeugung der meisten Men- die Genesung trat sicher ein. – Wir ha- schen, Teil des Universums zu sein, ben es hier mit dem … früher geübten schlug sich besonders in rituellen Hand- Gebrauche zu tun, durch Befestigung lungen und Gepflogenheiten nieder: Ge- eines Nagels eine Krankheit oder einen ben und Nehmen sollten sich die Waage dämonischen Einfluss abzuwenden oder halten, deshalb wurde z. B. Wasser nur unschädlich zu machen …“. dann einer Quelle entnommen, wenn Ums Einpflocken geht es, indi- man zuvor durch Bitten die Erlaubnis rekt, auch in einer von Amand Baum- dazu eingeholt hatte; nach der Entnahme garten aufgezeichneten Sage aus dem war ein Dankeschön selbstverständlich. Traunkreis: War die göttliche Weltordnung aus den In der Neuhofner Pfarre ist eine Kreuz- Fugen geraten, konnten Gebete, Buß- säule, die zur Pestzeit gesetzt wurde, in der guten gänge oder Opfergaben die Dinge viel- Meinung, der liebe Herrgott möchte dem Ster- leicht wieder ins Lot bringen. In der Not ben ein Ende machen. Wirklich hörte die Pest angerufene Fürsprecher sollten Anliegen bald auf. Im Lauf der Jahre nun ist die Säule tief „droben“ mit Nachdruck vorbringen. So und tiefer in den Boden versunken, so dass nur bildeten sich im Lauf der Zeit „Spezialis- mehr die Spitze hervorragt. Würde die Säule, es ten“ heraus, nach der Christianisierung ist dies allgemeiner Volksglaube, … wieder aus etwa die Heiligen Rochus und Sebastian dem Erdboden ans Tageslicht gebracht, bräche als Pestheilige oder die hl. Barbara u. a. die Pest von neuem aus. für ein leichtes Sterben. Eine Variante aus Kremsmünster: Auf der Pestleiten wurden die Pesttoten rings um die Pestsäule begraben. Noch heute Schutzamulette steigen giftige Dämpfe von den Gräbern auf und ziehen hinab zum Bach. Wer nun barfuß den Grundsätzlich suchte man in allen Bach durchwatet, den greifen die Dämpfe an, die Lebenslagen göttlichen Schutz, nicht zu- Pest wird wieder frei und bricht von neuem aus. letzt mithilfe von Amuletten. Gegen die

110 Zwei prominente „Pestheilige“: Sebastian und Rochus.

Pest sollten sogenannte „Breverl“ wapp- mit wissenschaftlich fassbare Ursachen nen. A. Depiny hält fest, dass zu diesem zurückzuführen, ist nicht hoch genug Zweck in Steinhaus bei Wels bis ins 20. einzuschätzen. Über den Vormarsch der Jahrhundert rotsamtene in Gebrauch wa- Pest 1713 im Raum Kremsmünster be- ren, denen besondere Kraft zugeschrie- richtet Depiny: „Bloß Sipbachzell und ben wurde, wenn sie, „in roten Taffet ein- Neuhofen blieben verschont. Die Hef- gemacht, … yber das Herzgriebel oder tigkeit der Krankheit war so groß, daß regionem cordis“ reichten. viele Häuser völlig ausstarben. Neu- „Breverl konnten am Hals getragen, hofen verdankt dem umsichtigen Wal- in die Kleider eingenäht oder an den ten seines gelehrten Chirurgen Laudes Rosenkranz gehängt werden. Sie feiten seine Rettung.“ vor bösem Einfluss, Dämonen und Be- sessenheit, Pest, Feuer oder Ungewit- Priester im Einsatz ter. Außerdem sollten sie Soldaten vor In Sagen oder Aufzeichnungen feindlichen Kugeln schützen, weshalb zum Stichwort „Pest“ sind Ärzte selten sie auch ‚Kugelfänger‘ genannt wurden. präsent [weite Kreise der Bevölkerung Von der katholischen Kirche wurde das hatten keine medizinische Betreuung], Breverl-Brauchtum nur halb geduldet Geistliche aber sehr wohl. Mehrmals und als heidnisches Relikt zeitweise hef- erfahren wir aus dem OÖ. Sagenbuch, tig bekämpft“. (Aus: Wikipedia; sinnge- dass Priester in Zeiten der Bedräng- mäß zitiert). nis keineswegs als mahnende Prediger Die Leistung der Forschenden, auftraten, sondern ihren Mitmenschen Krankheit und Leid weniger auf mensch- selbstlos beistanden: liche Verfehlung und „Strafe Gottes“ als Als die Pest in das Land brach, kamen in vielmehr auf Lebensumstände und da- Kremsmünster die Pestkranken ins Lazarett

111 „Breverl“ in der ‚Kühweide‘. Sie verlangten vom Kloster Anzeichen der tückischen Krankheit in sich. Zu einen Seelsorger. P. Sebastian wurde entsandt. einem Sterbenden in Zicking gerufen, machte Beim Abschied vom Kloster sagte er, wenn er er sich aber doch mit der hl. Wegzehrung auf. sterben sollte, werde im Lazarett mit einer Glo- Mühsam ging es vorwärts, auf der Höhe aber cke geläutet werden, um einen neuen Priester zu verließ ihn die Kraft, er verschied, das Allerhei- rufen. Wirklich holte ihn der schwarze Tod, und ligste krampfhaft in der Hand. Vorübergehende man begrub ihn auf der Pestleiten. Ein anderer begruben ihn an Ort und Stelle und pflanzten Priester kam und blieb bis zum Schwinden der eine Linde. Der Sturm riss sie vor Jahren um, es Krankheit im Lazarett. wurde eine neue gepflanzt. Schwenk ins Mühlviertel: Als die Pest die Umgebung von Ried in der Gelübde und Gründungssagen Riedmark heimsuchte, tat sich besonders ein jun- ger Priester in der Tröstung der Kranken und Wie viele Erzählungen aus dem OÖ. Sterbenden hervor und fühlte selbst schon die Sagenbuch hat diese einen harten Kern:

112 Pestarzt in typischer Berufskleidung. Rom, Mitte 17. Jahrhundert.

113 Pestsäulchen Landshaag

„In Landshaag erinnert die Pestsäule in wurde als einziges Haus nie von der Pest nächster Nähe des Pulvermacherhauses heimgesucht. an die furchtbare Seuche. Nur drei Leute Die Christianisierung fand im Mühl- blieben am Leben. Sie machten ein Ge- viertel eher spät statt, und so könnte lübde, jedes Jahr zu Ehren der drei Hei- auch die Kirchengründungssage von ligen Rochus, Sebastian und Rosalia in Allerheiligen auf einem tatsächlichen Er- Feldkirchen eine Messe lesen zu lassen. eignis beruhen: Die Säule wurde vor Kurzem renoviert, Zu Ende des 15. Jahrhunderts wütete im das Gelübde wird noch immer eingehal- unteren Mühlviertel die furchtbare Pest. Auch ten“. Siehe dazu den Eintrag auf www. ein frommer Bauersmann am (heutigen) Hirt- handwerksstrasse.at: „Die Pestsäule in nergut wurde von ihr befallen. Weil er als Pest- Landshaag trägt die Jahreszahl 1712. kranker nicht auf dem Friedhof beerdigt werden Noch heute wird am ersten Donners- konnte, bat er, seinen Leichnam auf einen Kar- tag in der Fastenzeit in der Pfarrkirche ren zu legen und ihn von zwei Rindern führen eine Messe zu Ehren der Pestheiligen zu lassen, wohin sie wollten. Dort solle man ihn Rosalia, Rochus und Sebastian gefei- beerdigen und Gott und allen Heiligen zu Ehren ert, dieser Tag gilt für die Landwirte von ein Hütterl aufrichten. Sein Wille wurde erfüllt, Landshaag als Feiertag.“ Das Pulverma- die Ochsen brachten den Leichnam auf den Berg cherhäusl dürfte laut örtlicher Überlie- im ‚wilden Wald‘. Über die Stätte wurde aus ei- ferung ein sehr alter Bauernhof sein. Es ner Föhre eine Kapelle errichtet und darin Achse

114 und Räderspeichen des Wagens aufbewahrt. baut wurde. Allen Heiligen geweiht, wurde sie Die Kapelle zu Allerheiligen wurde bald weit das Bergkirchlein von Allerheiligen. umher von Andächtigen aufgesucht, Opferga- ben ermöglichten es, an der Stelle des Hüttels Schandtaten eine Kirche zu errichten. Um sie entstand der Ort Allerheiligen. In zahlreichen Schriften wird von Der Sage nach hatten sich diejeni- Gräueltaten berichtet, von Leichenfled- gen, die noch dem alten Glauben an- derei oder von der Plünderung leerste- gehangen waren, der Errichtung einer hender Häuser durch Banden, was die Kapelle aus dem Holz der Föhre nicht weitere Ausbreitung der Seuche jeweils widersetzt; man sah in dem Umstand, begünstigt habe. Umso bemerkenswer- dass die Ochsen just bei einem (heidni- ter, dass im OÖ. Sagenbuch nur ein schen) Baumheiligtum haltgemacht hat- einziges Mal von einer strafbaren Hand- ten, vielleicht ein Zeichen für das Wirken lung in direktem Zusammenhang mit und die überlegene Macht des christli- der Pest die Rede ist: chen Gottes. Um ein Bauernhaus bei Ostermiething war Auf www.allerheiligen.ooe.gv.at fin- die ganze Nachbarschaft ausgestorben. Die Bäu- det sich eine in christlichem Sinn ausge- erin riss die Grenzpflöcke, die Moarstempen der schmückte Fassung, die gleichzeitig den verlassenen Felder und Wiesen aus und vergrö- Namen Allerheiligen erklärt. Das Ende ßerte so den eigenen Besitz. Der Hintergrund dieser Sagenversion: dürfte authentisch sein; die Erzählung verzichtet auf jede Ausschmückung. Der Knecht kommt nach, schaut sich den Welches Los auf „Moarsünder“ bzw. Platz genau an, nimmt die Schaufel und hebt ein Grenzfrevler in der Volksmeinung war- Grab aus. Neben die Grube legt er den Leich- tete, das schildert eine Sage aus Steiner- nam hin und bringt das Gefährt wieder heim. kirchen im : Später kehrt er mit der Bäuerin und den Kin- ‚Umgehen‘ [= ruhelos „geistern“] müs- dern an die Stelle zurück. Bald weinen und be- sen besonders die ‚Grunddiebe‘, die sich bei Leb- ten, bald jammern sie, dass kein geistlicher Herr zeiten durch Verrückung des Marches fremden mehr das Grab segnen kann, denn seitdem auch Grund angeeignet haben. Man erkennt solche der Pfarrer von Zell ein Opfer der Pest gewor- leicht daran, dass sie beim ‚Umgehen‘ einen den ist, gibt es weitum keinen Seelsorger mehr. Ranzen voll Wasen über der Schulter oder ei- Der Knecht schlägt eine Föhre um und zimmert nen Korb voll Erde auf dem Kopfe tragen. Sie ein großes grobes Kreuz, das er über dem Grab müssen so lange umgehen, bis das March, mag des Bauern aufstellt, damit die Leute vom Hof die Verrückung absichtlich oder unabsichtlich ge- aus die Stelle sehen können, wo die letzte Ru- schehen sein, wieder an den rechten Platz kommt. hestatt des Bauern ist. Das Kreuz schaut viel Selbstmörder, reuelos Hingerichtete und weiter ins Land, und es lockt bald Menschen ganz besonders Moarsünder gehör(t)en aus der ganzen Umgebung, die hier um Rettung nach altem Volksglauben dem Teufel. aus der Not beten. Da die meisten der Beter mit Wenn er ihre Seelen holt, entsteht ein dem Leben davonkommen, heißt es bald, da oben dreitägiger Sturm. helfen einem alle Heiligen. Später errichteten die Hirtnerkinder über dem Grab des Vaters eine Nachsatz: Die Seuche ist in ihren Kapelle, die dann zu einer kleinen Kirche ausge- Hauptformen, der Beulen- und der Lun-

115 genpest, trotz aller Fortschritte auf dem desstaaten gelegentlich auf; mittlerweile Hygiene- und medizinischen Vorsorge- sind die Zahlen dort aber stark rückläu- sektor nach wie vor nicht gänzlich be- fig. siegt. Es stehen heute Antibiotika und Übertragen wird die Pest entweder Schutzimpfungen zur Verfügung, die durch den Biss von erregerverseuch- eine Immunität für drei bis sechs Mo- ten Insekten, vorwiegend Flöhen oder nate gewährleisten – dies allerdings le- durch Tröpfcheninfektion, d. h. über die diglich bei der Beulenpest. Bekannt ist Atemluft. Inzwischen steht fest, dass die außerdem die schlechte Verträglichkeit Pest mehr als 200 Säugetierarten befal- der Schutzimpfung, weshalb die Welt- len kann, die Gefahr einer Übertragung gesundheitsbehörde/WHO deren An- durch Tiere also nicht wie früher ange- wendung nur bei Risikogruppen wie nommen von Ratten allein ausgeht. Bauern, Landarbeitern oder Jägern in Gebieten mit infizierten Nagetierpopu- lationen empfiehlt. Seit den asiatischen Epidemien von 1910 und 1921 (v. a. in Quellen Sibirien und der Mandschurei) werden Baumgarten, Amand: Das Jahr und seine Tage in Meinung und Brauch der Heimat, herausgegeben immer wieder Ansteckungs- und To- von Dr. A. Depiny. Heimatgaue Jg. 7 (1926), S. 1–23, desfälle registriert, wenngleich in meist 96–118 geringerem Umfang. Dazu jüngeres und Depiny, Adalbert: Die Pest in Kremsmünster. Hei- jüngstes Datenmaterial: Eine größere matgaue 4. Jg. (1923), S. 364–384 Epidemie hatte sich 1994 im indischen Höfer, Matthias: Etymologisches Wörterbuch der Surat ereignet, 2003 kam es in Alge- in Oberdeutschland, vorzüglich aber in Österreich rien – nach 50 Jahren – erneut zu einem üblichen Mundarten, Linz 1815 Pestausbruch. 2005 breitete sich die Lun- Hovorka, D. v. und Kronfeld, A: Vergleichende genpest im Norden der Demokratischen Volksmedizin. Eine Darstellung volksmedizinischer Sitten und Gebräuche, Anschauungen und Heilfak- Republik Kongo aus; 2006 wurden im toren des Aberglaubens und der Zaubermedizin, Kongo 100 Pest-Tote gemeldet. Nach Stuttgart 1908 dem Ausbruch der Pest auf Madagas- Schiffkorn, Elisabeth: Linzer Sagen und Geschich- kar (2008) mit unterdessen mindestens ten, Das OÖ. Sagenbuch, 1. Band, Linz ebenso vielen Opfern befürchtet die Schiffkorn, Elisabeth: Zur These von der Wander- WHO hier eine weitere Ausdehnung sage in der Kleindenkmal-Forschung, OÖ. Heimat- der Seuche. Pestfälle treten auch in den blätter, 67. Jahrgang, Heft 1/2 2013 südwestlichen US-amerikanischen Bun- www.landessagen.at.

116 Burg Friedburg/Braunau: Wiederentdecktes Urbar erschließt neue Forschungsquellen Von Franz Daxecker

Für die Erforschung lokaler oder eigentum, teils im Besitz der Gemeinde regionaler Wirtschaftsgeschichte stel- stehende Burgstall. Um den len grundherrschaftliche Besitzrechts-, Schlossplatz ist ein Weingarten ange- Vermögens-, Einkunfts- und Abgaben- legt, den Zugang erschließen mehrere verzeichnisse (Urbare, Salbücher) eine beschriftete Wanderwege. unverzichtbare Informationsquelle dar, Die wiederaufgefundene Perga- ebenso für die Namensforschung, da ment-Handschrift datiert höchstwahr- Ortsbezeichnungen vielfach in Familien- scheinlich aus dem Jahr 1335, denn bzw. Herkunftsnamen fortleben. damals hatte der Bamberger Bischof Mit der Wiederentdeckung des äl- Leupold II. seinen Notar Hugo mit der testen Urbars gelangte nunmehr im Fall Erfassung des stiftseigenen Gesamtbe- der Burg Friedburg/Bezirk Braunau eine stands beauftragt.3 Als frühestes Fried- derartige „Auskunftei“ zu wissenschaft- burger Urbar ergänzt die Handschrift lich neuer Verfügbarkeit. nicht nur das Salbuch von 1363 bzw. Das wertvolle, von der aufbewahren- 1439/41 [Oberösterreichisches Landesar- den Staatsbibliothek Bamberg/bayeri- chiv, Musealarchiv Hs. 78], sondern auch scher Regierungsbezirk Oberfranken als das – ebenfalls mikroverfilmt erhaltene Folge einer irrtümlichen Fehleinordnung – Urbar von 1532 [Oberösterreichisches lang für verschollen gehaltene Dokument Landesarchiv, Musealarchiv Hs. 79]. – eine 24seitige, in gotischen Minuskeln abgefasste Handschrift aus dem 14. Jahr- 1 hundert – liegt inzwischen gedruckt vor 1 Klaus van Eickels, Holger Kunde, Die Herrschaft und ist seit der Onlinestellung im Mai Friedburg in Oberösterreich als Bamberger Au- 2013 breitesten Interessenten­kreisen zu- ßenbesitz: Ein neuentdecktes Urbar aus dem 14. gänglich. Das 1007 gegründete Bistum Jahrhundert, in: 133. Bericht des Historischen Ver- eins Bamberg 1997, S. 199–260. Das in der Pub- Bamberg erhielt von Kaiser Friedrich II. likation angeführte Ortsnamenverzeichnis wurde zahlreiche Schenkungen, darunter auch (s. u.) ergänzt. Besitztümer in Kärnten und Güter auf 2 Heinrich II. übertrug am 1. November 1007 den dem Reiseweg der Bischöfe dorthin.2 locum Matughof dictum in pago Mattuggowe, am 21. Eine der Stationen auf Braunauer Boden Juni 1014 weitere bona in pago Mattigowe situm. Erich Guttenberg, Die Regesten der Bischofe und des war Friedburg, wo die geistlichen Her- Domkapitels von Bamberg, Wurzburg, 1963, Nr. ren an strategisch geeigneter Stelle wohl 47, S. 29, Nr. 116, S. 57. K. van Eickels/Kunde (s. im 12. Jahrhundert die Burg errichteten. Anm. 1), S. 202 f. 2007 unter Denkmalschutz gestellt, gilt 3 Klaus van Eickels, Die Besitzstandsaufnahme des Notars Hugo von 1335 – Ein verlorenes Ge- sie als eine der bedeutendsten Anlagen samturbar des Bambergischen Fernbesitzes?, in: dieser Art im südlichen Innviertel. Die 134. Bericht des Historischen Vereins Bamberg Zeiten überdauert hat der teils in Privat- 1998, S. 87–94.

117 Seite aus dem lang verschollen geglaubten Urbar der Burg Friedburg, Auszug. Chrentzenoed, Raittelperig, Honharta’ w, Ritzsteig, Swant, Strazz, Michelpach, Permanslag, Waltenleytten, Pereintz Topel, Nider Oed, Dachsekk, Prantzstat, Inner Topel, Strazze, Smideck. Foto: Staatsbibliothek Bamberg

118 Aufbau Anhang, ev. Anhangekk, G. : f. 23v Anzenberg, Atzenperg, G. Helpfau-Uttendorf: f. 2v, Mit wenigen Ausnahmen, betref- 4v Äpfelberg, Ophelperig, G. : f. 16r fend Orte im Bundesland Salzburg bei Arnstetten, Arensteten, G. : f. 6v Strasswalchen bzw. Mattsee, versam- Aschankch, nicht auffindbar, ev. G. Lengau: f. 1v melt das gemäß der damaligen Verwal- Aschau, Aschaw, G. Feldkirchen, oder Flurname, G. tungsstruktur in vier größere und einige St. Johann a. W.: f. 19r kleinere Einkünftegruppen gegliederte Aschersdorf, Ascherdorff, G. : f. 23r Asbach, Aspach, G. Aspach: f. 23v Urbar von 1335 für diverse Forschungs- Außerleiten (Ober-, Nieder-, Unter-), Auzzerleitten, zweige wichtige Kerndaten aus den Be- G. Höhnhart: f. 8r, 23v, 24r zirken Braunau, Ried sowie – teilweise – Auzzer Ekk, s. Hocheck Vöcklabruck. Angeführt sind Orts- und vereinzelt Hausname, Hofgröße sowie B Babenham, Padenheym, G. Lochen: f. 7v jeweilige Abgabenlast, bemessen meist Baierberg, Payerperig, G. Lengau: f. 25r in Hafer, seltener in Geld. Im Raum Baumgarten, Paumgarten, ev. G. Aspach: f. 22r, 23v, -Friedburg hatten die Bau- 24r ern für den Bischof und dessen Gefolge Bergham, Percheym, G. Lochen: f. 7v auch Schweine, Käse, Wachs sowie „Un- Bermanschlag, Permanslag, G. : f. 8v Biburg, Pyburch, G. Burgkirchen: f. 4v schlitt“ (= tierisches Fett) bereitzustellen. Bruck, Prukk, G. Palting: f. 7v Die Ortsbezeichnungen sind nach Reise- Brunberger, Prunnperg, ev. HN, G. Helpfau-Utten- wegen angeordnet, was bei unbekann- dorf: f. 4r ten Namen eine ungefähre geographi- Buch, Puech, G. oder G. Roßbach: f. 1r, sche Bestimmung erleichtert. 24r Buchberg, Puechperig, G. Höhnhart: f. 19v, 23r

Ortsnamenverzeichnis 4 Zusätzlich zu den Ortsangaben bei van Eickels/ Nachstehend die Liste sämtlicher Kunde wurden folgende Publikationen durch- gesehen: Lisl Lindlbauer, St. Johann am Walde, im wiederentdeckten Urbar genannten Vergangenheit und Gegenwart, Ried i. I., 2001; Besitzungen. Verschiedene Orte und Franziszeischer Kataster (http://doris.ooe.gv.at/ Hausnamen lassen sich nicht eindeutig geoinformation/urmappe/); Die Bamberger Besit- zuordnen; wo möglich, wurden sie vom zungen bei Mattighofen: das Friedburger Urbar 4 [Salbuch] von 1363 (OOeLa Linz; Musealarchiv Verf. jedoch identifiziert. Vornamen Hs. 78), in: Richard Loibl, Der Herrschaftsraum sind nicht aufgenommen. der Grafen von Vornbach und ihrer Nachfolger. Studien zur Herrschaftsgeschichte Ostbayerns im A hohen Mittelalter, München 1997, S. 333–353 [mit Achenlohe, Aychenloch, G. Munderfing: f. 2r einer teilweisen Transkription des Friedburger Adelsberger, Adelsperig, HN, G. Mettmach: f. 22r Salbuches]; Elisabeth Bertol-Raffin, Peter Wie- Aigertsheim, Aygoltzheym, G. Höhnhart: f. 22v singer, Die Ortsnamen des politischen Bezirkes Aham, Aheymer, ev. HN, G. St. Peter am Hart: f. 23r , Bd. 1, Wien 1989; Das Fried- Aichberg (Ober-, Unter-), Aychperig, G. Höhnhart: burger Urbar; Philipp Apian, Topographie von f. 19r Bayern, Oberbayerisches Archiv für vaterländi- Aichberger, Aychperger, ev. HN, G. Burgkirchen: sche Geschichte, 39. Bd., S. 306, München 1880. f. 11v Weiters wurden von den Gemeindeämtern Hoch- Aichbichl, Aychpuechel, G. Höhnhart: f. 19v burg, , St. Johann a. W. dankenswerter Ainoed, nicht auffindbar: f. 1r Weise Auskünfte zu Ortschaften und Hausnamen Albingerwiesen, ev. Albering, G. Schalchen: f. 13v gegeben.

119 C Großenaich, Grozzenaych, HN, G. Maria Schmolln: Chappell, s. Kappeln f. 19v Chinzthal, s. Kindstal Grub, Grueb, ev. G. Höhnhart: f. 19v, 24r Chlephingen, s. Klöpfing Gstaig, Steyg, G. Feldkirchen: f. 1r, 6v Chnebelsperig, s. Knebelsberg Guggenberg, Guckenberg, G. St. Peter am Hart oder Conparnn, s. Kampern G. : f. 24r Chrentzenoed, nicht auffindbar, ev. G. Höhnhart: f. 8v Gumperding, Gumpatingen, G. Perwang: f. 7r Chuemelstarf, Chuemelstorf, s. Kimmelsdorf Gumpling, Gumpoltingen, G. Pramet, 23v Gyetzingen, s. Gietzing D Danzenreith, Tantzenrawt, G. Frankenmarkt: f. 1r H Daxecker, Dachsekk, HN, G. St. Johann a. W.: f. 8v Haberpoint, Haberpeunt, G. Pöndorf: f. 1r Daxeck, Dachsekk Ekk (Hohes Daxeck), G. St. Johann Habersdorf, Haberstorf, G. : f. 6r a. W.: f. 21r Haarlacken, Harilackchen, G. Straßwalchen: f. 1v Diepoltsham, Dyetmarheym, G. Höhnhart: f. 19v, 23r Haging , Haginng (G. Höhnhart): f. 22v Dietersham, Dieterzheym, G. Palting: f. 7v Haiderthal, Hayterthal (Nider-, Ober-), G. Feldkirchen: Dietraching, Dyetreihing, ev. G. Moosbach: f. 20r f. 6v Dobl, Toppel, Topel, G. St. Johann a. W.: f. 8v, 20r Harlochen, Hartlohen (Ober-, Unter-), G. Schalchen: Dorf, Dorff, G. Aspach: f. 22r f. 8r Haselroid, Haslachrawt, G. Straßwalchen: f. 1v Haslach, Hazlach, G. Moosdorf oder G. Franken- E burg: f. 1v, 6v Ebertsau, Ewertzaw, G. : f. 19r Haslau, Haselaw, G. Maria Schmolln: f. 3r Ecking, Ekchinn, G. Aspach: f. 22r Helleithner, Helleiten, HN, G. Helpfau-Helpfau- Eidenham, Eytenheym, G. Palting: f. 7v Uttendorf: f. 4v , Eytzing, G. Höhnhart: f. 23r Herbstheim, Herezheym, G. Höhnhart: f. 19v, 23r Elichrab, nicht auffindbar, ev. G. Lengau: f. 14v Herezheym, s. Herbstheim Elichsenloher Ekk, ev. G. Palting: f. 3r Hertaler, Hertal, HN, G. St. Johann a. W.: f. 23v, 24r Elling, Elingen, G. Moosdorf: f. 6r Hindenek, s. G. St. Johann a. W. oder G. Maria Endsein nicht Ekk, unauffindbar, ev. G. St. Johann Schmolln: f. 20r a. W.: f. 21r Hinterhauser, Hintterhausen, HN, G. Gilgenberg: Englham, Engelhalbing, G. Aspach: f. 19v f. 7r, 17r Epelhausen, Öppelhausen, G. Feldkirchen: f. 6v Hinterperinger, Hintterperig, HN, G. St. Johann a. Erb, Erib (Mitter, Ober-, Unter-), G. Lengau: f. 8r, 17v W.: f. 9r Etzleinsperig, nicht auffindbar, verm. Mattigtal, f. 4r Hirsteig, s. Gasteig Hochecker, Hocheck, Hocheckkein, HN, G. St. Johann F a. W.: f. 19r, 24r Feichta, Fauchtach, G. Höhnhart: f. 23v, 24r Hochkuchl, Hohenchuchl, G. Lohnsburg: f. 23v Fißltal, Vizzeltal, G. Straßwalchen: f. 1v Höhnhart, Hoenhartzchirichen, G. Höhnhart: f. 21v, 24r Forstern, Vorstarnn, G. Pöndorf: f. 1r Höhenwart, Hohenwart, G. Frankenmarkt: f. 1r Friedburg, Friburch, G. Lengau: f. 1r, 17v Hollingen, ev. G. Mattighofen: f. 10v Furkern, Furgaren, G. Moosdorf: f. 6r Honhartra’w, nicht auffindbar, ev. G. Höhnhart: f. 8v Furt, Furtt, G. Schalchen: f. 4r, 12r Huligen, ev. G. Aspach oder G. Höhnhart: f. 22r

G I Gasteig (ev. G. Pöndorf, s. Hirsteig): f. 1r Igelsberg, Igelsperig, G. Lengau: f. 1v Geretseck, Gerholtsek, G. Pöndorf: f. 1r Inner Hochekk, s. Hocheck Gerholtsek, s. Geretseck Dobl, Inner Topel, G. St. Johann a. W.: f. 8v, 20r Gernthaler, Gernntal, HN, G. Moosdorf: f. 6r Gezleinsleiten, nicht auffindbar: f. 8r K Gietzing, Gyetzingen, G. Feldkirchen: f. 7r Kampern, Conparnn, G. Feldkirchen: f. 7r Gledt, Gled, G. Mettmach: f. 21v Kappeln, Chappell, G. Aspach: f. 22r Gozzenaych, s. Großenaich Keutal, nicht auffindbar, ev. G. St. Johann a. W.: f. 3r

120 Kimmelsdorf, Chuemelstarf, Chuemelstorf, G. Moos- Niederhaytertag, s. Haiderthal dorf: f. 6v, 10r Nieder Oed, nicht auffindbar, ev. G. St. Johann a. Kindstal, Chintztal, Chindstal, G. Maria Schmolln: W.: f. 8v f. 3v Nimmperig, nicht auffindbar, ev. G. Aspach: f. 22v Klöpfing, Chlephingen, G. Feldkirchen: f. 7r, 14r Knebelsberg, Chnebelsberg, HN, bei Hochkuchl, G. Lohnsburg: f. 24r O Kubitzer Ekk (die slawische Form von Jakob), s. verm. Ober Chindstal, s. Kindstal das Jockengut, Johann a. W. : f. 21r Oberdorf, Oberdorff, HN, ev. G. Mettmach: f. 21v [Das Kubitzer Ekk bzw. das Jockengut liegt im Reise- Oberhayterthal, s. Haiderthal verlauf zwischen Hinterberg, Scherfeck, Schwand, Oberholzleiten, Oberholtzleitten, G. Schalchen: f. 13r Hocheck, Jockengut, Daxeck]. Oberlohen, nicht auffindbar, ev. G. Schalchen: f. 12r Ober Munchen, Obermunichen, Ober Munichen, s. Mi- nathal L Oberschwand, Oberswant, G. Pöndorf: f. 1v Leithen, Waltenleytten, Wahrleiten, G. St. Johann a. Offenschwand, Ovenswant, HN, G. Aspach: f. 19r W.: f. 8v, 20r Oichten, Oytten, G. Feldkirchen: f. 7r Lengau, Lengaw: f. 2r, 3v, 4r, 8r, 16r, 18r Ophelperig, s. Äpfelberg Leitenbauer, Leytten, ev. HN, G. Höhnhart: f. 21v, 24r Öppelhausen, s. Epelhausen Lindlau, Lintlach, G. Treubach: f. 23r Ostermanns Ekk, ev. Ostermann, HN, G. : Lintlach, s. Lindlau f. 3r Ovenswant, s. Offenschwand M Oytten, s. Oichten Marterhofen, nicht auffindbar: f. 3v Mattighofen (G.), Matichofen: f. 11r Mattsee (G.), Mattsewer guet: f. 22r P (G.), Mauerchirichen: f. 4v Padenheym, s. Babenham Mettmach (G.), Metmach: f. 21v Paumgarten, s. Baumgarten Michelbach, Michelpach, G. Maria Schmolln: f. 8v Paumgartenekk, nicht auffindbar: f. 19v e Miesenberg, Miesenperig, G. Höhnhart: f. 3v, 8r, 13r, Parz, Po rtz, Portz, s. G. Munderfing und/oder G. As- 20r pach: f. 2r, 22r, 23v Migelsbach, Muecleinspach, G. Aspach: f. 22v Payrberig, s. Baierberg Minathal (Ober-, Unter-), Ober Munchen, G. Maria Percheym, s. Bergham Schmolln: f. 3r, 13v, 20r Peindorf, s. Pöndorf Mittelholzleiten, Mitters Holtzleitten, G. Schalchen: Peretsdobel, Pereintz Topel, G. Höhnhart: f. 8v f. 13r Peretsecker, Perichtoltz Ekk, Perichtolzekk ze Toppel, HN, Mitterberg, Mitterperig, G. Aspach: f. 24r G. St. Johann a. W.: f. 3r, 20r Mitterdorf, Mitterdorf, HN, G. Mettmach: f. 21v Perleithen, Perigleiten, HN, G. Mattighofen: f. 10v Mitterecker, Mitterekk, HN in Schöfeck, G. St. Jo- Permanslag, s. Bermanschlag hann a. W.: f. 9r Perwart, s. Perwart, G. Höhnhart: f. 19v Mitters Holtzleitten, s. Mittelholzleiten Pfendhub, Phennthueb, G. Treubach: f. 19v Moos, Mos, G. Mattighofen: f. 12r Phaffelheym, nicht auffindbar: f. 23r Moosbach (G.), Mospach: f. 3r Pointeck, Peunt Ekk, G. Maria Schmolln: f. 19r Mühlbach, Muelpach, G. Moosdorf: f. 6r Pöndorf (G.), Peindorf: f. 4r Munderfing (G.), Mundolfing: f. 2r, 3v, 4r Prantzstat (bei Dachsekk), G. St. Johann a. W.: f. 8v Preinröth, Praytenrawt, G. Pöndorf: f. 1v Primsing, Pruemsingen, G. Feldkirchen: f. 6v N Prukk, s. Bruck Naderling, Naterling, G. Aspach: f. 22r Prunnberg, s. Brunberger Nider Auzzerleitten, s. Außerleiten Niderlohen, s. Unterlochen Nidern Chintztal, s. Kindstal R Niderswant, s. Unterschwand Raittelperig, nicht auffindbar: f. 8v Niederham, Niederheym, Niederham, G. Aspach: f. 1r Raucheneck, Reychersek, G. St. Johann a. W.: f. 3r

121 Renzlhausen, Rentzenhausen, G. Feldkirchen: f. 7r Tantzenrawt, s. Danzenreith Riederschlag, Ruetherslag, G. Höhnhart: f. 9r Teichstätt, Teysteten, G. Lengau: f. 4r Riedsteig, Ritzsteig, HN, G. Höhnhart: f. 8v Thal, Thal (ev. Thal, G. Aspach): f. 19v Roith, Rawt, G. St. Johann a. W.: f. 23v, 24r Thalheim, Thalheym, G. Höhnhart: f. 19r, 23r Romanlos, nicht auffindbar, ev. G. Aspach: f. 23v Thannstraß, Tanstrazz, Auzzer, Inners, G. Maria Rotenswant, nicht auffindbar: f. 19v Schmolln: f. 8v, 19v Rottersham, Rotolzheym, G. Aspach: f. 22r Toppel, Topel, s. Dobl Trattmannberg, Trawtmansperig, G. Mattighofen: S f. 10v Sagmeister, Sagmeyster, HN, G. Höhnhart: f. 23r Sollach, Salach, Salihach, G. Maria Schmolln: f. 3r, 19v U Sattlern, Satlern, G. Feldkirchen: f. 7r Ulr. Ekk, nicht auffindbar: f. 3r Schachen, Schachen, G. Pöndorf: f. 1r Unterlochen, Niderlohen, ev. Unterlochen, G. Schal- Schalchen (G.), Schalichen: f. 2r, 4r, 13v chen: f. 12r Schöfeck, Schefekk, G. St. Johann a. W.: f. 9r Unterschwand, Niderswant, G. Pöndorf: f. 22r Scherfeck, Schefekk, G. St. Johann a. W.: f. 21r Utzweih, Utzweil, G. Lengau: f. 1v Scheiblberg, Schevbelperg, Schawbelperg, G. Helpfau- Uttendorf: f. 2v, 4r V Scherschham, Schonerzheim, G. Lochen: f. 8r Vager, nicht auffindbar: f. 23r Schönberg, Schonnperig, G. Lohnsburg: f. 23v Fißltal, Vizzeltal, s. G. Straßwalchen: f. 1v Schotinger Oed, nicht auffindbar, ev. Mattigtal: f. 4r Vormoos, Vormos, G. Feldkirchen: f. 10r Schuster Ekk, nicht auffindbar, ev. G. St. Johann a. Vorstarnn, s. Forstern W.: f. 3r Vorsteig, Versteig, nicht auffindbar: f. 2v, 4r Schlag, Slag, G. Maria Schmolln: f. 19r Schmierecker, Smidekk, ev. HN, G. St. Johann a. W.: W f. 8v Waldfurt, nicht auffindbar: f. 25r Schmiding, Smiding, G. Pramet: f. 23v Waltenleytten, s. Leiten Schmitzberg, Smitzberg, G. Schildorn: f. 23v Wasseracker, Wazzerakcher, G. Mattighofen: f. 3v, Schneibenschlag, Sneybenslag, G. St. Johann a. W.: 10v f. 9r Wasserdobl, Wazzertopel, G. Aspach: f. 23v, 24r Schwandt, Swant, G. St. Johann a. W.: f. 8v, 21r, 23r Watzlberg, Watzenperig, G. Straßwalchen: f. 1v Schweigertsreith, Sweykersrawt, G. Maria Schmolln: Weinberg (Ober-, Unter-), Weinperg, G. Schalchen: f. 3r f. 3v, 15v Stadel, Stadl, G. Moosdorf: f. 10r Weiffendorf (Groß-, Klein-), Weyffendorf, G. Mett- Stallhofen, Stalhofen, G. Schalchen: f. 3v, 8r, 15v mach: f. 19r Stempfergut, Stempher Ekk, ev. HN, G. St. Johann Weikertsham, Weykchertzheym, G. Palting: f. 7r a. W.: f. 21r Wekchemvirt, nicht auffindbar, f. 14v Steyg, s. Gstaig Weytenhul, nicht auffindbar: f. 3r Stocker, Stokcher, G. Munderfing: f. 23r Wichenham, Wikchenheym, G. Lochen: f. 7v Sommerau, Sumeraw, G. Schildorn, ev. Altsom- Wienern, Wienner, G. Helpfau-Uttendorf: f. 2v merau, G. Pramet: f. 23v Wiesleiten, Wizleytten, nicht auffindbar: f. 22r Straß, Strazz, Strazze, G. St. Johann a. W. und G. Wimpassing, Winpezzing, G. Lengau: f. 2r Helpfau-Uttendorf: f. 4v, 8v, 20r Winkelpoint, Winkchelpeunt, G. Maria Schmolln: Swaygperig, nicht auffindbar, ev. Mattigtal: f. 12r f. 20r Wintpolting, verm. Winkelpoint, s. G. Maria T Schmolln: f. 22v Tannberg, Tanperch, G. Lochen: f. 8r, 14r Tanperloch, nicht auffindbar, ev.Tannberg, G. Lochen: Z f. 3r Zauner, ev. HN, s. G. Aspach: f. 22r.

122 Das „Stöttnerkreuz“ in Neußerling/ Gemeinde Herzogsdorf Von Thomas Schwierz

Zu den gewiss ältesten Kleindenk- mälern der Gegend zählt das sogenannte „Stöttnerkreuz“ in Neußerling – eine auf- wendig gearbeitete, schlanke Nischen- blocksäule beim Güterweg Lassersdorf etwa auf halber Strecke zwischen Neu- ßerling und Lassersdorf. Die verwitterte, kaum noch wahrnehmbare Inschrift an der Sockelvorderseite hatte lang auf ihre Entzifferung gewartet, bis man sie durch Bestreichen mit Kreide inzwischen frisch hervortreten ließ:

ZVER EHRE GO TTES VND GED ECHTNVS DES BITTEREN LEITE N VND STERBEN IESV CHRISTI IST DIES CHREVZ D VRCH SEBASTIA N STETTNER BVREGER DES AV SSERN RATHS V ND HANDELSMA N ZV WIENN HIE HERGESTELT W ORTTEN . A . 1666 Zur Ehre Gottes und Gedächtnis des bitteren Leidens und Sterbens Jesu Christi ist dieses Kreuz durch Se- bastian Stettner, Bürger des Äußeren Rats und Han- delsmann zu Wien, hier hergestellt worden. Anno 1666.

Wie bei nahezu jedem religiösen stehung eine eigene Geschichte: Sebas- Kleindenkmal rankt sich auch um dieses tian Stettner stammte, aller Wahrschein- Mühlviertler Wegkreuz bzw. seine Ent- lichkeit nach, vom Bauernhof Stettner

123 (Stöttner). Seine Geburt fiele somit in stellte Abhandlung „Österreichs Handel die Jahre vor 1626, in denen die zustän- in älteren Zeiten“, erschienen 1822 bei dige Pfarre Gramastetten noch keine Cajetan Haslinger/Linz. Auf den Seiten Taufbücher geführt hatte. Unter nicht 240 bis 243 liest man dazu: „Unter den näher bekannten Umständen gelangte Rathsherren gab es einen zweyfachen der wohl sehr tüchtige Bauernbursch Rang. Die vornehmeren derselben, un- in die Metropole der Habsburgermon- ter welchen sich gewöhnlich Adelige und archie, wo er es bis zum Handelsmann Wohlhabende befanden, machten den (= Kaufmann) und Bürger des Äußeren sogenannten inneren Rath aus, der die Rats bringen sollte. wichtigen Geschäfte der Stadt besorgte. Zum äußeren Rath wurden ärmere, Die Säule, situiert an der Abzwei- minder angesehene Bürger erwählet, gung des Zufahrtsweges zu seinem El- denen man verschiedene kleinere Ge- ternhaus, hatte Sebastian offenbar aus schäfte anvertraute. Bey Ereignissen von Dank für ein erfolgreiches Leben auf- der größten Wichtigkeit, welche einen gerichtet. Mit im Spiel war hier mögli- allgemeinen Beschluß der ganzen Bür- cherweise ein wenig ‚Selbstdarstellung‘, gergemeinde nöthig machten, berief der kamen doch am Stöckel samt Inschrift innere Rath den äußeren zur gemeinsa- täglich viele Dorfbewohner vorbei. men Berathschlagung, wobey letzterer Das Kapitell trägt ein „Passauer Kreuz“, die Gesammtheit der Bürger vorstellte so die regional eingebürgerte1 Bezeich- und vertrat. Die Genannten gehörten nung dieser Kruzifix-Form mit zwei zu dieser Classe des Stadtrathes, oder Querbalken.2 In den drei flachen Ni- aus ihnen bestand eigentlich der äußere schen des Aufsatzes erkennt man an Rath. Der Gegenstand ihrer Amtspflicht der Vorderseite, nur noch in schwachen war vorzüglich: Für Treue und Glauben Umrissen, die Krönung Mariens, rechts zwischen Käufern und Verkäufern Sorge den hl. Hubertus, zur Linken den hl. zu tragen, allen Betrug zu beseitigen, in Georg. Die Rückseite ziert ein schönes zweifelhaften Fällen als Zeugen aufzutre- Christus-Monogramm mit, wie zu jener ten, und beym täglichen Handelsverkehr Zeit üblich, dem Herz Jesu und den drei die gesetzliche Ordnung aufrecht zu er- Kreuzesnägeln. [Da die Hinterglasbilder halten. Ohne Zweifel hießen sie daher mehr und mehr abblättern, sollten sie die ‚Genannten‘, weil ihre Nahmen ver- ehest restauriert oder erneuert werden!] zeichnet und allen Bewohnern der Stadt Genauen Aufschluss über Position bekannt gemacht wurden, damit man und Funktion eines ‚Bürgers des Äu- sich in Handelangelegenheiten ohne ßeren Rats‘ gibt die von Franz Kurz, vieles Nachfragen an dieselben wenden Chorherr und Pfarrer zu St. Florian, er- und sie zu Zeugen nehmen konnte“.

1 Auch der Raum Herzogsdorf gehörte, bis 1785, zum „Pfarrgebiet“ des Bistums Passau. 2 Eigentlich „Lothringer Kreuz“.

124 Zwischen Großbrand, Krieg und Klostersturm: Drei Wilheringer Stiftsäbte aus Zwettl/Rodl im 18. Jahrhundert1 Von Reinhold Dessl

Das 750-Jahr-Jubiläum des Kir- reszahl 1666 und den marktrichterlichen chenbaus und der ersten urkundlichen Initialen ‚M.S‘. Erwähnung des Ortsnamens waren für Des späteren Abtes vielgerühmte die Marktgemeinde Zwettl an der Rodl Frömmigkeit hatte ihre Wurzeln offen- 2014 triftige Anlässe zum Feiern, aber sichtlich im Elternhaus. Der Vater († 11. auch zum Rückblick.2 So birgt die lange März 1710) wurde direkt in der Pfarrkir- Pfarrgeschichte eine bemerkenswerte che Zwettl beigesetzt,7 die Grabinschrift Liste aus der Gemeinde stammender für Mutter Elisabeth im Sakristeigang Priester, Ordensbrüder und geistlicher verweist auf Matthias Sigmunds Gottes- Schwestern,3 darunter nicht weniger als furcht und die Messstiftungen des Ehe- fünf Wilheringer Äbte.4 Drei von ihnen paares.8 haben im 18. Jahrhundert die Geschicke Bevor Hilarius [Deutsch: „Der Fröh- des Linz-nahen Zisterzienserstiftes z. T. liche“] am 16. Juli 1709 zum 56. Stiftsabt maßgeblich mitbestimmt, in ihren Amts- gewählt wurde, war er Subprior und Cel- perioden spiegeln sich die Wechselfälle lerar, dann Pfarrer in Oberneukirchen und speziellen Prägungen der Zeit. und Leonfelden. Schon bei der Abtwahl wird seine Bescheidenheit unterstrichen; er musste mehr oder weniger „gezwun- gen“ werden, „für einige Jahre solche Hilarius Sigmund (1709–1730) – „Wie eine Perle in der Muschel“ 1 Redaktionell adaptierte Druckversion des vom Autor 2014 in dessen Heimatpfarre Zwettl zur Im Jahr vor seiner Wahl zum Markt- 750-Jahr-Feier gehaltenen Vortrags. richter, am 24. Juli 1665, war dem Zwett- 2 Rainer Lenzenweger, Zwettl an der Rodl – Das Buch. Blättern in der Heimat, Linz 2015. ler Bürger Matthias Sigmund und 3 A.a.O., 55–58. dessen Gattin Elisabeth Sohn Franz 4 Die weiteren aus Zwettl stammenden Äbte sind geschenkt worden, der dann ab 1709 Dr. Dominik Nimmervoll (1977–1991) und Dr. als Hilarius Sigmund5 das Wilheringer Reinhold Dessl (ab 2013). 5 Kloster in eine wandlungsreiche Epoche Als Quellen für Abt Hilarius dienen: STÜLZ, a.a.O., 352–354, die Leichenrede von P. Athana- führte. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhun- sius Champaigne, Prior von Baumgartenberg dert hatte dem Ort einen wirtschaftlichen (1734) sowie ein anderer Nachruf aus dem Stiftsar- Aufschwung durch den Salz- und Fisch- chiv Wilhering. handel gebracht, u. a. stieg die Anzahl 6 Marktplatz 5–6, heute Konditorei Schwarz. 7 Sterbebuch Zwettl 1686–1719. der Brauereien auf zehn. An das dama- 8 Im Archiv Wilhering finden sich der Stiftbrief von lige Zwettl erinnert auch die geschnitzte Elisabeth Sigmund vom 12. Juni 1717 und der Stift- Decke der Ratsherrenstube6 mit der Jah- brief des Matthias Sigmund vom 8. März 1710.

125 Der Markt Zwetttl um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Gemälde im Stift Wilhering. Foto: Mag. Franz Haudum

Abt Hilarius Sigmund. Foto: Mag. Franz Haudum

126 Würde zu tragen“.9 Die wirtschaftlichen Auf dem Abtgemälde hält Hilarius Rahmenbedingungen während sei- den Schlüssel für eine Uhr in Händen. ner Regentschaft waren glückliche, es Ein Hinweis auf seinen Umgang mit der herrschte Wohlstand im Lande. Beein- Zeit? Vielleicht sollte darin zum Aus- trächtigt sah sich allerdings die Bauern- druck kommen, dass Hilarius wusste, schaft; in „Jagdaufständen“ opponierte wann es soweit war, sein Amt zur Ver- sie gegen obrigkeitliche Willkür … und fügung zu stellen. 1730 tat er dies – ge- wurde dafür bestraft. gen den Willen der Mitbrüder, des Lan- Eine hervorstechende äußere Verän- desfürsten und des Ordensgenerals. derung in Hilarius Sigmunds Amtszeit Schlussendlich aber mussten alle nach- war der 1712 abgeschlossene Bau der geben und den für die Zeit unüblichen Straße zwischen Ottensheim und Ur- Schritt zur Kenntnis nehmen.14 In stiller fahr. Jetzt musste man nicht mehr auf Zurückgezogenheit seine Tage zubrin- die Wilheringer Donauseite wechseln, gend, erlebte Hilarius noch den großen um nach Linz zu gelangen. (Für die Fre- Klosterbrand vom 6. März 1733, ehe er quenzeinbußen, welche der klostereige- am 8. August 1734 verstarb. Sein Nach- nen Donaufähre und der Klostertaverne folger Bonus Pömerl regierte nur wenige daraus erwuchsen, wurde das Stift staat- Jahre; er starb am 24. April 1734. lich entschädigt.). In den Annalen immer wieder er- Johann Baptist IV. Hinterhölzl wähnt finden sich Hilarius‘ froher, uner- (1734–1750) – Großer „Bauherr der schütterlicher Glaube, seine Demut und Stiftskirche“ Mildtätigkeit. Das Bibelwort, wonach Gott einen „fröhlichen Geber“ (hilarem Seine Verdienste reihen den unmit- datorem) liebt (2 Kor. 9,7), passte auf ihn telbar darauf gewählten Johann Baptist 10 wie maßgeschneidert. Dass er auch ein IV. Hinterhölzl, Taufname Nikolaus, großer Marienverehrer gewesen sein wohl unter die bedeutendsten Äbte des muss, bekundet schon das Abtgemälde, Donaustifts. Neben dem Professbuch das ihn als einzigen gemeinsam mit der und der Klostergeschichte von Jodok Muttergottes darstellt.11 Ein Zeugnis für sich bewahrt das Wilheringer Pro- fessbuch: die Namen der in seiner Ära 9 Leichenrede, a.a.O., 19. 10 Leichenrede, a.a.O. eingetretenen Brüder wählte der Abt 11 Hannes Etzlstorfer, Die Kunstsammlungen des so aus, dass deren Anfangsbuchstaben Stiftes Wilhering. Studien zur Kulturgeschichte aneinandergereiht „Hilarius Cliens Ma- von Oberösterreich, Folge 6 (hg. vom OÖ. Lan- riae Deip(arae)“ (= „Hilarius, Klient der desmuseum), Linz 1997, 34 f. 12 Gottesmutter Maria“)12 ergaben. Sein Der erste, den er einkleidete, war ein aus Zwettl stammender Verwandter, der den Namen des kontemplatives Wesen wird in einem Abtes erhielt: P. Hilarius Weillenböck, geb. 29. 10. der Nachrufe mit sprachlichem Feinge- 1691 als Sohn von Nikolaus und Katharina Weil- fühl gepriesen: „Er lebte zurückgezogen lenböck (Grabinschrift im Sakristeigang Zwettl), in der Prälatur wie eine Perle in ihrer Profess 1712, Primiz 1716, Kooperator in Grama­ stetten, Pfarrer in Oberneukirchen und Grama­ Muschel; das allgemeine Wohl aber stetten, gest. 20. 4. 1745. ließ seine glänzende Anwesenheit allen 13 Stiftsarchiv Wilhering. spürbar werden.“13 14 Leichenrede, a.a.O., 21 f.

127 Abt Johann Baptist IV. Hinterhölzl. Foto: Mag. Franz Haudum

Stülz15 geben vor allem ein Nachruf16 Johann Baptist IV. wurde am 31. Prior P. Dominik Pachners sowie die August 1698 als Bürgerssohn in Kur- „Ehren- und Trauerrede“, gehalten vom 15 Engelszeller P. Benedikt Thier bei der Jodok Stülz, Geschichte des Cistercienserklosters 17 Wilhering. Ein Beitrag zur Landes- und Kirchen- Bestattung am 3. März 1750, Auskunft geschichte Oberösterreichs, Linz 1840, 356–364. über sein Leben und Wirken. An Port- 16 Die Übersetzung des lateinischen Nachrufs ist ab- räts existieren ein großfiguriges Reprä- gedruckt in: Jahresbericht des Stiftsgymnasiums sentationsbild in der Äbtegalerie, das Wilhering 90 (1999/2000), 2–16. 17 P. Robert Riepl hat das im Zwettler Bauernhaus Hinterhölzl als Bauherrn mit Stiftsplan, „Ranner“ aufgefundene Original 1854 abgeschrie- Zirkel und Gebetbuch zeigt, sowie an- ben und das Duplikat im Stiftsarchiv Wilhering dere, realistischer gemalte. hinterlegt.

128 zenzwettl geboren. Im Elternhaus (Hof tie meisterte der Abt die Situation; zu „Ranner“) betrieb man eine Gerberei, den feindlichen Truppen und Kurfürst der Handel mit dem hergestellten Leder Karl Albert von Bayern knüpfte er ein ergab offenbar rege Beziehungen zum entspanntes Verhältnis, mit dem nachrü- benachbarten Böhmen – vermutlich der ckenden österreichischen Feldmarschall Grund, weshalb Nikolaus höhere Schu- Ludwig Andreas von Khevenhüller len in Neuhaus (jetzt Jindrichuv Hradec) schloss er Freundschaft.19 Am 28. Jänner und Krumau besuchte. Von dem mit 1742 kam sogar Franz Stephan von Loth- ihm verwandten Abt Hilarius ins Stift ringen (nachmals Kaiser Franz I.) ins Stift Wilhering aufgenommen, legte er am und nahm ein Frühstück mit dem Abt 1. November 1711 die Ewige Profess ab. ein. Nach dem Krieg – die Truppenein- Nach einem weiteren Studium in Linz quartierungen hatten Wilhering erheb- feierte Hinterhölzl im Juni 1723 seine liche Kosten verursacht – holte Johann erste heilige Messe, die ersten Seelsor- Baptist IV. Maler, Bildhauer und Stucka- geposten waren Zwettl, Oberneukir- teure des bayrischen Kirchenrokoko ins chen und Waxenberg. In der Folge mit Kloster und entfaltete im Zusammen- dem – damals sehr wichtigen – Amt des hang mit der künstlerisch prachtvollen Küchenmeisters betraut, wurde er am Endausstattung der Kirche echtes Mäze- 10. Juni 1734 zum 58. Stiftsabt berufen. natentum. Mit seinem Vorvorgänger teilte Johann Zur finanziellen Belastung durch die- Baptist IV. u. a. die Marienverehrung; ses Großprojekt kam noch diejenige aus so unternahm er gleich nach Amtsantritt dem Erwerb der Herrschaften Mühldorf, eine Wallfahrt zur Kirche Maria Schar- Mühllacken, Pesenbach, einiger Donau- ten, wo er der Statue der Gottesmutter, Auen sowie des Kürnbergerwaldes; die wie überliefert, „einen Ring an den Fin- Ankäufe bildeten aber zugleich das Fun- ger steckte“. dament eines späteren wirtschaftlichen Wohlstandes. Parallel zur Ausgestaltung der Stifts- Die größte Leistung des neuen Ab- kirche setzte man in den Pfarren we- tes war die Sanierung und Ausgestal- sentliche Baumaßnahmen; besonders tung der durch die Brandkatastrophe von 1733 zerstörten, unter Bonus Pö- merl (s. o.) weitgehend wiederaufgebau- 18 Der spätere Abt Alan Aichinger hielt diese Er- ten Stiftskirche. Wegen der begrenzten eignisse in den „Notitia fundationis monasterii Geldmittel ging es anfangs eher zöger- B.M.V. de Hilaria vulgo Wilhering“ fest. Siehe lich voran, dann aber widmete sich Hin- Reinhold Dessl, Der Zisterzienser mit dem Tin- terhölzl dem Projekt mit geradezu lei- tenfass – das denkwürdige Wirken des Wilherin- ger Abtes Alan Aichinger (1705–1780), 35 f. in: denschaftlichem Eifer. Man verpflichtete OÖ. Heimatblätter 68. Jg. (2014), Heft 1/2, 33–48. berühmte Künstler der Zeit wie Martino 19 Stülz, a.a.O., spricht von einem nachfolgenden und Bartolomeo Altomonte. Eine Unter- Briefwechsel zwischen Abt und Khevenhüller. brechung der Arbeiten wurde 1741 durch Diese Briefe sind aber nicht (mehr) erhalten. Auch von Briefen des Pandurenobristen Trenck an den den Österreichischen Erbfolgekrieg und Abt als Dank für die liebevolle Aufnahme ist bei 18 die einfallenden Bayern erzwungen. Stülz die Rede. Diese fehlen ebenso wie die erste- Mit Geschick, Klugheit und Diploma- ren.

129

Schutzengelprozession. Foto: Dr. R. Dessl.

hervor sticht die Neuerrichtung der selben Tag leben Initiativen von Johann Kirche und des – als eine Art „Sommer- Baptist IV. bis heute in Wilhering wei- frische“ für den Wilheringer Konvent ter. Die Aufzählung der Verdienste des gedachten – Meierhofs in Eidenberg; Abtes wäre beliebig fortsetzbar; er war an den Planungsarbeiten hatte sich der ein aktiver Förderer der Musik und ließ nachmalige Abt Alan Aichinger jeweils ein eigenes Notenarchiv anlegen, ihm intensiv beteiligt.20 Für Eidenberg wurde verdankt sich unter anderem auch das das damals ganz aktuelle Patrozinium Abteigebäude neben der Stiftskirche. des Geißelheilands von der Wieskirche Bei allen diesen großartigen Taten aus Bayern übernommen, für Wilhering blieb Hinterhölzl menschlich stets ein- das Schutzengelpatrozinium als Dank fach und bescheiden. Eigens wird festge- für Hinterhölzls Errettung nach einem halten, dass er die Mahlzeiten meist im Schussattentat21 errichtet. (Ins Buch der Kreis der Mitbrüder einnahm, was für neugegründeten Schutzengelbruder- Klosterherren ehedem nicht selbstver- schaft sollen sich Kaiser Franz I. und des- sen Gattin Maria Theresia eigenhändig 20 Reinhold Dessl, Der Zisterzienser mit dem Tin- eingetragen haben.) Mit dem Schutzen- tenfass, a.a.O., 40–42. gelfest am ersten Sonntag im Septem- 21 Quellenmaterial dazu hat sich in den Archiven ber und der Schutzengelprozession am nicht erhalten.

130 Einer der repräsentativsten Bauten des Rokoko im deutschen Sprachraum: die Zisterzienserabtei Wilhering, gegründet 1146. Foto: Dr. R. Dessl

131 Klosterkirche Wilhering, Innenansicht. Die prächtige, farben- und formenfreudige Ausgestaltung geht vermut- lich auf einen Gesamtplan von Martino Altomonte (1657–1745) zurück. Foto: Dr. R. Dessl ständlich war. Mit hochgestellten Per- aus Zwettl gebürtigen Johann Baptist V. sönlichkeiten konnte er sich ebenso un- Hinterhölzl, Taufname Franz, als Beispiel terhalten wie mit den Handwerkern am für die Zeit der Josephinischen Kirchen- Bau. Im Nekrolog heißt es dazu: „Man reform und die Einflüsse der Aufklärung hätte ihn, wenn ihn nicht das Kreuz an genommen werden. der Brust unterschieden, von einem ge- Auch zu diesem Abt gibt die post- meinen Geistlichen nicht unterscheiden hum verfasste Klosterrotel exakte Aus- können“.22 künfte.23 Genau wie von seinem Onkel Johann Baptist IV. besitzen wir von ihm unterschiedliche Gemälde, ein repräsen- Johann Baptist V. Hinterhölzl tatives, wahrscheinlich erst im Nachhin- (1781–1801) – „In der Bedrängnis durch ein entstandenes, und eines, das Kunst- den Josephinismus“

So wie Hilarius Sigmund und Jo- 22 Ehren- und Trauerrede, a.a.O., hann Baptist IV. für die Barockzeit ste- 23 Gedruckt zur Mitteilung des Todes an andere hen, kann die Amtsperiode des ebenfalls Klöster, Stiftsarchiv.

132 historiker Hannes Etzlstorfer im Katalog Vom Josephinismus – im Sog des zur Wilheringer Bildersammlung so ‚Klostersturms‘ drohte dem Stift insge- charakterisiert: „Eine nüchterne Privat- samt fünfmal die Schließung! – ging aber heit, wie diese dann erst in der Malerei auch manch positive Reformbestrebung des Biedermeier24 zu einer bürgerlichen aus. Frömmlerischer „Missbrauch“ und Maxime werden sollte, kennzeichnet die „barocke Übertreibung“ der Gebetspra- Bildauffassung.“ xis sollten abgeschafft werden, zusätzli- che Seelsorgestellen den Weg der Gläu- Das Licht der Welt erblickte Johann bigen zur Kirche verkürzen. Schon 1784 Baptist V. am 17. November 1732 in dem wurde die Stiftskirche zur Lokalpfarrkir- kleinen Marktflecken Kurzzwettl. Vom che erklärt, und 1786 erhielt der Abt den äbtlichen Onkel stark gefördert, feierte Auftrag zur Installierung neuer Pfarren er am 25. Jänner 1758 die Primiz, wirkte in Traberg, Mühlviertel, sowie in Wein- zunächst als Kaplan in Weißenbach und zierl und Obermixnitz, beide Niederös- war anschließend Verwalter des Wein- terreich. kellers. Beschrieben wird Johann Baptist Die Aufgabe, Wilhering durch eine V. als „fleißig und betriebsam“ sowie als schwierige Zeit zu steuern, sollte das „allgemeiner Nothelfer“25 aller Brüder. Amt von Johann Baptist V. bis zuletzt bestimmen, wobei sich die auch ihm ei- Nur einen Monat nach seiner Wahl gene „gerade und bescheidene Art“ als zum 61. Abt am 22. Februar 1781 wurde sehr hilfreich erwies. Selbst der ‚berüch- auch Wilhering vom Josephinischen tigte‘ Valentin Eybl (s. o.) nannte ihn „Staatskirchentum“ voll erfasst. Man un- einen „ehrlichen, wahrhaft demütigen“ tersagte dem Stift jede Verbindung zum Mann, „den man unter allen Geistlichen Ordensgeneral der Zisterzienser in Ci- am wenigsten für einen Prälaten hielte, teaux, Frankreich/Region Burgund, und wenn man nicht um den Hals die Kette wie Hunderte andere Klöster war es nun des versteckten Prälatenkreuzes wahr- desgleichen akut von der Aufhebung nähme.“27 Ähnlich äußert sich sein spä- bedroht. Von Linz wurde 1785 wurde terer Nachfolger Prior P. Bruno Detterle ein Maurermeister in Begleitung zweier in der Klosterrotel: „Hätten wir nicht an Gesellen nach Wilhering geschickt, mit seiner Brust und seinem Finger die meist dem Auftrag, zu untersuchen, ob sich verborgen gehaltenen Unterscheidungs- das Stiftsgebäude nicht zu einer Zucker- zeichen seiner Würde entdeckt, würden fabrik eigne. 1786 erschien der gefürch- wir geschworen haben, er wäre, wenn tete Klosteraufhebungs-Kommissär Va- nicht von den minderen, doch gewiss lentin Eybl mit sieben Buchhalteristen einer … von den Brüdern.“28 und erklärte nach vollzogener Amts- Das Reformanliegen einer ‚beschei- handlung den Abt zum Administrator, deneren‘ Kirche gleichsam in Persona die Offizialen des Klosters und den Hof- richter zu kaiserlichen Angestellten.26 1788 wurde diese Verfügung wieder 24 Etzlstorfer, a.a.O., 38. 25 Ebd. zurückgenommen, als „Gegenleistung“ 26 Stülz, a.a.O., 370. jedoch ein ganzes Bündel von Abgaben 27 Zit. nach Etzlstorfer, a.a.O., 38. gefordert. 28 Klosterrotel, a.a.O., 7.

133 Abt Johann Baptist V. Hinterhölzl. Foto: Mag. Franz Haudum

134 verkörpernd, hatte Johann Baptist V. nissen musste er ganz zum Schluss noch neben einschneidenden Auswirkungen mit den Folgen des Einfalls der Franzo- des Zeitgeists bis ans Lebensende vieler- sen im Land, vorübergehenden Einquar- lei andere Widrigkeiten, „Kümmernisse, tierungen und Plünderungen fertigwer- Unfälle und Leiden“ zu erdulden.29 Mit- den. Aber auch diese Prüfung bestand bedingt durch die staatliche Reglemen- der Abt, bevor er am 30. Mai 1801 ver- tierung der Aufnahmen, begann die starb. Anzahl der Klosterbrüder nach seinem Auf dem Grabstein im Konvent- Amtsantritt bald dramatisch zu sinken, friedhof – das Josephinische Generalver- sodass weder alle Pfarrstellen besetzt bot unterband ja eine Beisetzung in der werden konnten noch ein wirklich gere- Äbtegruft – findet er sich als „alter Job“ gelter Klosterbetrieb aufrechtzuerhalten verewigt, der fast den Untergang des war. Gern hätte Hinterhölzl den Chorge- Klosters erlebt, es zuletzt aber wieder neu sang und die Klosterzucht im früheren aufgerichtet gesehen habe. Sinne gepflegt, doch die Zeitumstände (Für die Unterstützung dankt der und Personalmangel verhinderten dies. Autor Stiftsarchivar Mag. P. Rainer Außer ständigen physischen Beschwer- Schraml).

29 Ebd., 10.

135

Vom Bauern- zum Fabrikantenstand: Die bewegte Unternehmergeschichte der Gmundner Familie Forstinger* Von Franz Josef Feichtinger

Als privilegierter Unternehmer- gergewerbe. Ein besonders signifikantes und Händlerstand im Salzkammergut Beispiel für den wirtschaftlichen und ge- waren die „Fertiger“ ein unverzichtbares sellschaftlichen Werdegang bäuerlicher Glied des landesfürstlichen Salzwesens Zuwanderer liefert die mehrere Genera- und hatten an dessen Blüte bis ins frühe tionen durchlaufende Unternehmerge- 19. Jahrhundert entscheidenden Anteil. schichte des ersten Stamms der Familie Dynastien wie in Hallstatt oder Ischl, die Forstinger aus , ab ca. 1600 dieses Gewerbe – die transportgerechte nachweisbar im Weiler Forstern (Vorstern Aufbereitung und den Vertrieb des „wei- zu Lokhürchen). ßen Goldes“ – vom 16. Jahrhundert an ununterbrochen ausübten, finden sich Andreas Forstinger – der herrschaftliche in nicht. Während jedoch im Gärtner inneren Salzkammergut der Salzhandel Als Abkömmling dieses Stammes1 die einzige Möglichkeit zum Erwerb re- war zu Beginn des 18. Jahrhunderts lativen Reichtums eröffnete, bot Gmun- Andreas Forstinger (1709–1777) in die den als Zentrum der Salzamt-Administ- Traunseestadt übersiedelt. 1738 durch ration, des Großkufenhandels sowie als Eheschließung die herrschaftliche Gärt- Umschlagplatz für Getreide, Wein bzw. nerstelle auf dem Freisitz Mühlwang am Waren aller Art ökonomisch bessere rechten Traunufer erlangend,2 häufte er und vielfältigere Chancen, verbunden mit Prestige und der Aussicht auf das * Stadtbürgerrecht. Auszug, redaktionell adaptiert. Zum Berufsbild der Salzfertiger siehe auch: Franz Josef Feichtin- Einfachheit, wenn nicht Kargheit, ger: „Die ‚Fertiger‘ – Manager des Salzwesens in Lande ob der Enns vom 14. bis zum 19. Jahrhun- prägte mehrheitlich den Lebensstan- dert“ in Heft 1/2-2010 der OÖ. Heimatblätter. dard der bäuerlichen Bevölkerung. Zur 1 Die Familie umfasste insgesamt neun Stämme, in Existenzsicherung war man meist auf Gmunden ist der Name Forstinger noch heute ei- den zusätzlichen Betrieb einer Getrei- ner der häufigsten. 2 demühle oder sonst einen Nebenerwerb OÖ LA, Pfarrmatrik Altmünster, Trauungsbuch, 1701–1746, Tom XIII, S. 448. Unter Gartner oder angewiesen, ob als Schmied, Wirt, Ba- Gärtler verstand man einen herrschaftlichen Gärt- der, Schuster, Bäcker, Fassbinder oder ner, der meist noch einen Nebenerwerb als Klein- Lohnarbeiter. Nach Gmunden zog es bauer, sogenannter Hofstätter, hatte. Verehelicht daher immer wieder auch Menschen aus war Andreas Forstinger zunächst mit Barbara, Witwe des Johann Donäty, Gärtner am Landsitz dem ländlichen Umraum; nicht wenige Mühlwang, dann mit Theresia Feichtinger aus fassten hier erfolgreich Fuß in z. T. neuen Altmünster, zuletzt mit Katharina Mittendorfer/ Berufen und Branchen bis hin zum Ferti- Altmünster.

137 offenbar ein kleines Vermögen an. Je- chung mit der Mühlenbesitzertochter denfalls konnte sein jüngster Sohn Jo- Anna Maria Neudecker aus Altmünster hann Evangelist Gottlieb einen eigenen 1790 von Aloys Anton Schwarzäugl er- Freisitz erstehen und dessen 1793 ge- warb. Der Name Weinberg verweist auf borener Spross zwei Jahrzehnte später das mittelalterliche Weinanbaugebiet am mit ausreichendem Startkapital in die Ostufer des Traunsees. (Im 13. Jahrhun- Selbstständigkeit als Salzfertiger wech- dert war das mitteleuropäische Klima seln. bedeutend wärmer, weshalb damals

Das 1305 urkundlich erstmals erwähnte Landgut Mühlwang am rechten Seeufer nahe dem Traun-Ausfluss in seinem heutigen Erscheinungsbild. Früher u. a. im Besitz der Grafen von Seeau, war es zur Zeit Andreas Forstingers Eigentum von Karl Josef Octavianus.3 Foto: Feichtinger

3 Ferdinand Krackowizer, Geschichte der Stadt Gmunden in Oberösterreich, Bd. I, Gmunden Johann Evangelist Gottlieb Forstinger – 1898, S. 120 bis 130. der Freisitzeigner F. Krackowizers Häuser-Chronik der Stadt Gmunden in OÖ, 1901, entnimmt man auf S. 304, Wie der Vater wurde Johann E. Gott- dass das Wohnquartier der Familie A. Forstinger oberhalb der kaiserlich-königlichen Schießstätte lieb (* 1767) herrschaftlicher Gärtner, al- in Mühlwang 15 (später Waisenhäusl oder Gar- lerdings auf dem Freisitz in Weinberg, tenhaus genannt) 1811 an Franz Sebastian und Traundorf 66, den er nach Vereheli- Franziska Frey um 550 Gulden veräußert wurde.

138 Der Freisitz in Weinberg beherbergt heute das Seniorenheim „Weinberghof“ des Sozialhilfeverbandes Gmun- den. Foto: Feichtinger

auch in Oberösterreich Wein gedieh.) das Gmundner Bürgerhaus „Am unteren 1806 verkaufte J. E. Gottlieb Forstinger Platz“, Stadtplatz 23, samt Salzfertigung den Weinberger Freisitz an Graf Franz v. und „Leutgebschaft“ (Gaststätte)4 von Seeau, um das Gut sechs Jahre danach dem Bürger und k. k. Salzfertiger Johann von diesem wieder zurückzukaufen. Die Georg Gruber. Seit dem 18. Jahrhundert Hintergründe jenes ‚Zickzack‘ sind nicht zierte das Schild „Zum goldenen Anker“ bekannt. Wir wissen nur, dass Johann die Fassade der Wirtsstätte, die auch das E. Gottlieb 1822 an „Lungenbrand“ ver- Privileg des Weinausschanks besaß und starb. ab 1820 zur Herberge der Schiffleute wurde.5 Johann Evangelist Forstinger – der Salzfertiger 4 OÖ LA, Altes Grundbuch, Stadt Gmunden, Handschrift Nr. 38, f. 395 bis 397, Einlagezahl Zunächst Gärtner am väterlichen Nr. 23. Freisitz in Weinberg, erstand Sohn Jo- 5 Ferdinand Krackowizer, Häuser-Chronik der hann E. Forstinger 1813, zwanzigjährig, Stadt Gmunden in Oberösterreich, 1901, S. 14, 15.

139 Das ehemalige Salzfertigerhaus Forstinger in Gmunden, Stadtplatz 23. Foto: Feichtinger

Die Übernahme der Fertigung durch Aufstellung von Salzfertigerkompag- Johann E. Forstinger fiel in die Auslauf- nien. Diese Kollektivierung vereinfachte phase der Kleinküfelsalz-Produktion, den Arbeitsprozess insofern, als das einleitend gekennzeichnet durch die Salzamt ab nun nicht mehr mit jedem

140 Fertiger separat verhandeln musste; es rigen Sprössling ein Vormund bestellt teilte die jährlich zu erzeugende und wurde.8 abzuwickelnde Küfelmenge auf die Wie aus verbrieften und nicht ver- vier Hauptorte (Hallstatt, Ischl, Lauffen, brieften Forderungen ersichtlich, hatte Gmunden) auf und überließ die Zuwei- sich J. E. Forstinger nebenbei als Geld- sung an die einzelnen Fertiger den Ge- verleiher zu den üblichen Konditionen schäftsführern. Der Zusammenschluss betätigt. Das Bankwesen steckte damals rationalisierte Betriebsabläufe, entzog noch in den Kinderschuhen (die erste den Fertigern aber zunehmend die an- reguläre Gmundner Bank, die „Städti- gestammte Geschäftsgrundlage. Noch- sche Sparcassa“, wurde 1859 eröffnet, mals verschärfte sich die Lage 1824, als die Sparkassa für das innere Salzkam- auf kaiserliche Entschließung „für Öster- mergut in 1863), und so traten reich ob und unter der Enns“ der freie die wohlbestallten Salzfertiger in den Salzhandel verfügt wurde; jedermann Märkten des Salzkammergutes immer konnte jetzt Salz aus dem k. k. Hauptver- wieder auch als Kreditgeber bzw. „Bank­ schleißamt beziehen und weiterverkau- ersatz“ auf, was ein weiteres geschäftli- fen. Resultat: Gab es in der Traunsee- ches Standbein garantierte. Anderer- stadt 1813 noch sechs Salzfertiger mit 59 Bediensteten, wurde die „Fertigung“ des „Kleinküfelsalzes“ in Hallstatt und Ischl 1829, in Lauffen 1830 und in Gmunden 6 Franz Feichtinger, „Ferttinger soll einer dem an- Ende 1843 gänzlich eingestellt.6 dern die Leuth nicht abwendig machen“. Salzfer- tiger – Unternehmer des Salzes und Salzadel im Land ob der Enns vom 15. bis ins 19. Jahrhundert, unveröffentlichte phil. Diplomarbeit, Universität Tüchtig wie er war, erzielte J. E. Fors- Salzburg 2009, S. 75–78. tinger trotz der wachsenden Schwie- 7 OÖ LA, Pfarrmatrik Gmunden, Totenbuch 1813– rigkeiten Gewinne, sodass er 1829 ein 1857, Tom. VI, S. 45. 8 Die Verlassenschaftsabhandlung vermittelt de- zweites Stadthaus ankaufen konnte, das tailliertere Einblicke in die Berufswelt der Salz- einstige Bürgerspital St. Jakob neben der fertiger. In Stadl bei Lambach, wo jeder seine gleichnamigen Kirche. Zusammen mit Salzhütten samt Personal hatte, lud man die Küfel dem Gmundner Berufskollegen Hans (Transportbehälter) auf andere Zillen um, d. h., Joseph Holzinger auch Besitzer von man reduzierte die Lademenge, weil die äußere Traun nur eine geringere Tauchtiefe zuließ. Traun- sieben Schiffhäusern/Salzumschlagplät- und donauabwärts wurde das „weiße Gold“ bis zen in Stadl bei Lambach, starb Fors- nach Wien verfrachtet. Vermutlich war kurz vor tinger dann 1838, mit nur 45 Lenzen, J. E. Forstingers Tod gerade eine Großlieferung an „Lungenlähmung“.7 Die gerichtliche abgegangen, denn die Lager standen leer. Daraus Abhandlung der Verlassenschaft ergab erklärt sich vielleicht auch die bei der Inventur festgestellte hohe Bargeldsumme. Im Keller Fors- mit über 44.000 Gulden eine stolze Ver- tingers fanden sich riesige Vorräte guten Weines mögenssumme, die Forstingers Witwe (mehr als 41.000 Liter) – ein Hinweis auf die Be- Elisabeth – Tochter des ehemaligen Sen- deutung des Weinhandels, der sehr einträglich senschmiedemeisters in , und risikoärmer als das Salzgeschäft war: immer wieder kam es vor, dass Fertigerzillen auf der Do- Adam Pieslinger – und der einzige Sohn nau, wie es hieß, „absoffen“ und dadurch Ladun- Johann Evangelist jun. (* 1819) anteilig gen verlorengingen. Passierte dies öfter, war der erbten, wobei für den noch nicht volljäh- Konkurs meist nicht mehr abzuwenden.

141 Das ehem. zweite Bürgerhaus der Familie Forstinger, Gmunden Nr. 117. Foto: Feichtinger seits hatte diese Form der Kapital- und Gmunden zurückgekehrt, dürfte er noch Investitionsmittelzufuhr regional hohe eine Zeitlang in der mütterlichen Ferti- Bedeutung, weil das Kammergut als gung9 mitgearbeitet haben, um sich bald wirtschaftlich geschlossene Einheit für einem völlig neuen Geschäftsfeld zuzu- „Finanzimpulse von außen“ kaum er- wenden. reichbar war. Während Witwe Elisabeth die Salz- fertigung bis zur Löschung des gewerb- lichen Dienstverbandes und zur Ab- 9 Die „Gastgebgerechtigkeit“ samt den zugehöri- lösung durch den Ärar/Fiskus in den gen Lokalitäten im Haus Stadtplatz 23 hatte Eli- sabeth Forstinger 1848, zehn Jahre nach dem Tod Jahren 1849/50 allein weiterführte, sollte ihres Mannes, zunächst verpachtet, das völlig Johann Evangelist jun. das beeindru- überschuldete Objekt kurz darauf Pächter Mi- ckende, letzte Kapitel in der Familienge- chael Lidauer zur Abdeckung aller Außenstände schichte schreiben. Im an die verkauft. In ihrem zweiten Gmundner Haus, Nr. 117, erlag Elisabeth 1851 den Folgen eines Schlag- Trivialschule hatten ihn die Eltern 1832 anfalls. Dieses Bürgerhaus – Schätzwert 3.000 nach Kremsmünster geschickt, wo er ein Gulden – wurde dann vom Sohn im Erbschafts- mehrjähriges Studium absolvierte. Nach weg mitübernommen.

142 Johann Evangelist Forstinger jun. – Johann E. Forstinger stand also vor der Industrielle einer enormen Herausforderung, die ein verheerender Firmengroßbrand im Jahr Vom ansehnlichen väterlichen Erb- 1846 noch steigerte. Mit massivem Ka- teil erwarb der 21-jährige 1840 eine Ge- pitaleinsatz schaffte es der Jungfabrikant treidemühle und Holzsäge in Ohlsdorf, jedoch binnen eines einzigen Jahres, die die im Diensturbar der Herrschaft Ort Getreidemühle in eine für die Zeit ‚mo- erstmals 1699 urkundlich aufscheinende derne‘ Anlage mit Holzschleiferei um- „Kainzmühle“. Der von den Vorbesit- zurüsten. [Als Erfinder des Holzschlif- zern, dem Welser Fabrikantenehepaar fes/1843 gilt Friedrich Gottlob Keller aus Joseph und Josepha Karolina Ziegler, Hainichen in Mittelsachsen. Holzprügel 1834 zu einer Papierfabrik mit dem werden unter Beigabe von Wasser auf Namenszusatz „im Karolinenthal“ um- rotierende Schleifsteine gepresst und so funktionierte Betrieb an der Traun hatte in Faserquerrichtung zerkleinert]. Der zuletzt rote Zahlen geschrieben; Papier Holzschleifer, ab ca. 1850 auch in etlichen wurde in jenen Jahren noch aus Hadern anderen Mühlen an der Traun einge- oder Lumpen erzeugt, zu deren Zer- setzt, erlaubte die Herstellung qualitativ kleinerung ein „Holländer“ genanntes guten Papiers aus preiswertem Rohstoff. Mahlwerk diente. Dieses Verfahren war Diese Innovation verhalf vielen ehema- aber sehr aufwendig und neben dem ligen Salz- und Fertigerarbeitern, Kü- ständigen Mangel an Rohmaterial Ursa- felmachern, Schiffleuten, Rossbauern, che für das Scheitern vieler der damali- städtischen und ärarischen Salzknechten gen Papiermühlen. sowie manchem Landarbeiter und des-

Kainz-Mühle, Papierfabrik Karolinenthal in Ohlsdorf. Aus: Albert Pesendorfer, Hg., Die Traun und ihre Mühlen, in: Traunjournal, Zeitschrift der Freunde der Gmundner Traun, o. J., S. 5

143 KG-Nr: 42147 KG: Ohlsdorf Parz.-Nr. 574 GDB-Nr: 42147 EZ 88 GDB-Fläche: 162 m² Ettinger Franz,Unterthalham Straße 81 4694 Ohlsdorf 1/1

Unterthalham Standplatz der ehemaligen Kainzmühle. Gemeinde Ohlsdorf, Lageplan, KG- Nr. 42147, Parz.-N. 547 58 Lageplan Unterthalham Gemeinde Ohlsdorf 40 Maßstab 1:1.500 Datum 15.6.2012

Unterthalham Unterthalham 54 42 Unterthalham sen Angehörigen im Raum Ohlsdorf- Conversationslexikons“ gestellt; erteilt 38 Unterthalham Laakirchen-Steyrermühl-Stadl wieder wurde die Bewilligung erst nach einge- Unterthalham 52 Unterthalham 36 10 44 zu Einkommen und Brot. hender Prüfung der „staatsbürgerlichen, Unterthalham moralischen und wissenschaftlichen Ei- 46 Was der Betrieb im Einzelnen genau

Unterthalham genschaften“ des Antragswerbers durch 32 erzeugte und wie gearbeitet wurde, lässt Unterthalham Unterthalham Unterthalham Unterthalham den Distriktskommissär von Gmun- Unterthalham 28 8584 Unterthalham 35 sich aus den spärlichen Archivarien nicht 62 30 Unterthalham 11 26 Unterthalham mehr erheben. Zur Firmengeschichte den. Die unverändert herrschende Unterthalham 60 Unterthalham 64 Unterthalham 24 Staatszensur für Bücher und Druck- 37 findet sich in der „Chronik der Stadt Unterthalham Unterthalham 20 66 Unterthalham Unterthalham Unterthalham 39 werke jeder Art war allem Anschein Unterthalham 45 33 Unterthalham Straße Gmunden“, von J. E. Forstinger später in Unterthalham 47 22 87 Unterthalham Unterthalham nach der Hauptgrund für den folgenden Unterthalham vier Bänden verfasst, unter ‚1846‘ ledig- 49 41 31 Absturz: angesichts drohender Total- Unterthalham lich ein Kurzeintrag: Am 7. Juli wurde die 51 Unterthalham Straße Unterthalham Unterthalham 85 53 29 verschuldung verkaufte Forstinger das Unterthalham Johann Forstinger’sche k.k. landesprivilegierte 55 Unterthalham Unternehmen im Mai 1852 an den Lin- Unterthalham 25 Papierfabrik … bei Gmunden ein Raub der 43 Unterthalham Straße 12 83 zer Hauseigentümer Max Doblinger, Unterthalham Flammen. Sie wurde von demselben Besitzer bis 14

Unterthalham zum Jahre 1847 wieder ganz neu u. vergrößert 23 Unterthalham aufgebaut. 21 10 SPÖ-Stadtparteiorganisation Gmunden, Hg., Im Unterthalham 19 Unterthalham Unterthalham Um den Absatz anzukurbeln, hatte Sturm der Zeit. Sozialdemokratie in Gmunden, 17 15 Forstinger, ebenfalls 1846, gemeinsam Gmunden, o. J., Teil A, S. 8. Unterthalham 11 Ferdinand Krackowizer, Geschichte der Stadt 5 mit dem Stadtschullehrer Alois Beistor- Gmunden in Oberösterreich, Bd. III, Gmunden fer beim k. k. Kreisamt Steyr den Antrag 1900, S. 230. Unterthalham Straße zur Lieferung des Papierkontingents für 12 81 Bezirksgericht Gmunden, Grundbuchsurkunden,

Unterthalham 4 die 9. Auflage des „Brockhaus’schen Tom III 1852, Zl. 3322/2, o. S.

Unterthalham 3 Unterthalham Straße 77 Unterthalham Straße 75 144 zog sich aus dem Wirtschaftsleben zu- lich noch heute verwendete Konvolut rück und bestritt sein Dasein künftig als besteht aus zwei Bänden mit chronolo- Privatier vom teils geerbten, teils erwor- gischen Notizen und einem Nachtrag. benen Vermögen. Daneben gibt es ein fünfbändiges Du- [1887 erwarb der Fabrikant Alfred plikat gleichen Inhalts. Schon 1850, als Schuppler, Gründer der späteren Pa- das Gmundner Stadtarchiv im Rathaus pierfabrik SCA Laakirchen AG, das geräumt wurde, hatte der überaus Ge- Unternehmen an der Traun. 1930 kam schichtsbewusste die beabsichtigte voll- es im Tauschweg zur Papierfabrik Stey- ständige Skartierung alter Urkunden rermühle.13 Die Papiererzeugung wurde bzw. Akten verhindert und damit we- jedoch eingestellt. 1985 tauschte die Fa. nigstens Teilbestände vor der Einstamp- Asamer &. Hufnagl, Kies und Beton- fung gerettet.17 1879 stiftete J. E. Fors- werk, das Areal von der Fabrik Steyrer- tinger ein Legat von 800 Gulden zum mühle ein und tauschte dieses wiederum Ankauf von Lehrmitteln für die Volks- gegen ein Grundstück des Franz Ettin- und Bürgerschule, in einer letztwilligen ger,14 dem die Parzelle nach wie vor ge- Stiftung finanzierte er die Anschaffung hört. Von der Mühle selbst stehen nur zweier Glocken für die umgestaltete Spi- noch Mauerreste, überwuchert von Gras talskirche mit 500 Gulden. und Gestrüpp].15 Eine weitere, bleibende Initiative setzte Forstinger zum Gedenken an die 1626 bei von den kaiserlichen J. E. Forstinger jun. – der Privatier, Truppen und den Bayern unter Graf Historiker und Wohltäter Pappenheim vernichtend geschlagenen aufständischen Bauern; für die Opfer 1860 nach Linz übersiedelt, ehelichte des Gemetzels ließ er an der als „Bau- Johann Evangelist Forstinger fünf Jahre ernhügel“ bekannten Massengrabstätte später Aloisia Katherina Keim, Tochter vom Altmünsterer Steinmetz Moser ei- des Gmundner Gastwirts Franz Keim. nen 2,5 Meter hohen Obelisk aus Granit Das Glück währte nur kurz; 1866 starb aufrichten. Im Testament heißt es dazu: die junge Frau an Typhus.16 Der Witwer Zur Errichtung einer einfachen steinernen Denk- heiratete nicht wieder, die Verbindung zu Gmunden blieb aber aufrecht, was sich nicht zuletzt in seinen humanitär-karita- 13 Bezirksgericht Gmunden, Handgeschriebenes tiven Projekten und sonstigen Initiativen Grundbuch, Einlagezahl Nr. 91, B-Blatt, S. 535 für die Heimatstadt aufs Schönste wider- Postzahl Nr. 5. spiegelt. 14 Bezirksgericht Gmunden, Handgeschriebenes Nach dem Umzug in die Donaume- Grundbuch, Einlagezahl Nr. 91, C-Blatt, S. 535, Postzahl Nr. 9. tropole hatte Forstinger die private Ar- 15 Information aus einem Gespräch mit Franz Ettin- beit als Historiker aufgenommen und ger, Bauer in Untertalheim Nr. 8, Gemeinde Ohls- erstellte seine bereits erwähnte „Chronik dorf, geführt am 19. März 2013. der Stadt Gmunden und ihrer nächsten 16 OÖ LA, Pfarrmatrik Gmunden 1819 bis 1910, Du- plikate, Totenbuch 1866, o. S. Umgebung“, nach Urkunden aus den städ- 17 Ferdinand Krackowizer, Geschichte der Stadt tischen Archiven und den besten Quellen ver- Gmunden in Oberösterreich, Bd. I, Gmunden faßt. Das von Fachleuten verschiedent- 1898, S. 42.

145 Bauerndenkmal in Pinsdorf. Foto: Feichtinger säule auf dem Bauernhügel bei Pinsdorf, worauf des Stifters Namen erscheinen soll, widme (ich) ein Kapital von 500 fl. und bitte den löblichen Gemeindevorstand, dies zu veranlassen.18

Die Johann Evangelist Forstingersche Stipendienstiftung Dieses karitative Werk war des Pri- vatiers zweifellos größte soziale Tat: mit testamentarischen Verfügungen aus den Jahren 1879 und 1881 widmete Forstin- Die mittlerweile teils verwitterte Inschrift an der Vor- ger sein stattliches Vermögen der Finan- derseite des Mahnmals lautet: „Zum Gedächtnis der zierung von Stipendien für begabte, ma- Bauern, welche am 15. November 1626 von Pappen- teriell schlechter gestellte Bürgers- und heim hier geschlagen und unter diesem Hügel begra- Beamtensöhne deutscher Sprache oder ben worden sind, ist dieser Denkstein von Johann entsprechender Abkunft sowie jeglicher E. Forstinger, Privat und Verfasser einer Chronik von Gmunden gestiftet und im Jahr 1883 errichtet wor- Religionszugehörigkeit. Die mit je 100 19 Gulden dotierten Stipendien erstreck- den“. Foto: Feichtinger ten sich auf zwei Empfängergruppen: Studenten am Stiftsgymnasium Krems- 18 Ferdinand Krackowizer, Geschichte der Stadt münster (hierfür war die Gmundner Gmunden in Oberösterreich, Bd. III, Gmunden 1900, S. 181, 182. Gemeindevorstehung zuständig; sie 19 Ferdinand Krackowizer, Geschichte der Stadt veranlagte die Gelder und überwies die Gmunden in Oberösterreich, Bd. III, Gmunden Stipendien) sowie Besucher der Staats- 1900, S. 181, 182.

146 Bekanntgabe der Stipendienstiftung in der Amtlichen Linzer Zeitung 1892. oberrealschule in Linz (die Zuständig- abgefasst und am 31. Oktober 1884 in keit für diese Gruppe lag beim Magis- der Statthalterei zu Linz hinterlegt wor- trat). An Stiftungskapital standen sage den.20 Ausschreibungen – der Vorzug und schreibe 25.250 Gulden bereit, von deren Zinsertrag zehn Stipendiaten für die Dauer ihrer gesamten Studienzeit 20 OÖ LA, Staatliche Verwaltung, Statthalterei, All- bedacht werden konnten. Für beide gemeine Reihe, Schachtel Nr.1270, 1882, Nr. 35, Städte waren nahezu idente Stiftbriefe Forstingrische Stipendien.

147 „Chronik der Stadt Gmunden in Oberösterreich“: Handschriftlicher Eintrag J. E. Forstingers zum Wiederauf- bau der Fabrik nach dem Brand von 1846. blieb jeweils gebürtigen Gmundnern typischen, traditionsreichen Fertigerdy- eingeräumt – sind in den Annalen bis nastien des Salzkammergutes und vom zum Jahr 1903 verfolgbar. Was dann mit Niedergang dieser Berufsgruppe direkt den Geldern geschah, ist nicht mehr zu betroffen. Mit Beginn des 19. Jahrhun- eruieren. derts verdichteten sich über dem Stand Mit dieser Stiftung leistete Johann die Schatten der Auflösung, zählte das Evangelist Forstinger einen wichtigen Gewerbe bald auch in Gmunden nur Beitrag zur Verbesserung der schuli- noch einige wenige Familien.22 Johann schen Ausbildung Jugendlicher nicht Evangelist der Jüngere hatte am müt- nur im Salzkammergut. Ohne Nach- terlichen Beispiel das Gebot der Stunde kommen zu hinterlassen, starb er 1882 erkannt und sich mit Flexibilität und Ri- in Linz. Seine letzte Ruhestätte fand der sikobereitschaft eine neue Existenz als 63-jährige auf dem Stadtfriedhof Gmun- Industrieller geschaffen. Die Kainzmühle den.21 in Ohlsdorf wurde durch ihn 1846/47 in großem Stil modernisiert, die Ungunst Conclusio 21 OÖ LA, Pfarrmatrik Linz, Hl. Familie 1819 bis Im Gegensatz etwa zu den Familien 1910, Totenbuch 1882, o. S. 22 Carl Schraml, Das oberösterreichische Salinen- Lidl, Seeauer, Sarsteiner in Ischl oder wesen von 1750 bis zur Zeit nach den Franzosen- jenen der Sollinger, Eisl und Stadler in kriegen, Studien zur Geschichte des österr. Sali- Hallstatt waren die Forstinger keine der nenwesens Bd. 2, Wien 1934, S. 318–321.

148 Stammbaum der Familie Forstinger ab 1709

149 der Verhältnisse erzwang sechs Jahre da- net mehr als 500.000 Euro klar am höchs- rauf die Betriebsveräußerung. ten dotiert. Ebenso im Gedächtnis bleibt Nachhaltig berührt auch J. E. Fors- J. E. Forstinger jun. durch die „Chronik tingers soziales Engagement. Wie sehr der Stadt Gmunden“. Auch darin lebt er ihm die Zukunft der Jugend am Herzen fort als der Letzte einer Familie, der – die lag, zeigt allem voran seine Stipendien- Signale des Umbruchs deutend – einem stiftung. Von den in Gmunden damals todgeweihten Gewerbe den Rücken vorhandenen neun Stiftungen war die kehrte, den Sprung ins Fabrikantensein „Johann Evangelist Forstingersche“ mit wagte und seine Karriere als Mäzen viel- einer Kapitalausstattung von umgerech- geachtet beschloss.

150 Zur Landnahme der Schutzstaffel im Raum St. Georgen–Gusen–Mauthausen Von Rudolf A. Haunschmied

Vorwort

Das ehemalige Konzentrationslager in den politischen Gemeinden Langen- Mauthausen wird in Öffentlichkeit, For- stein und St. Georgen/Gusen endlich schung und Politik nach wie vor oft nur zu einem Abschluss gebracht werden in seiner Reduktion auf die Überbleib- konnte.] sel des ehemaligen Schutzhaftlagers bei Anhand der Landnahme durch die Mauthausen und einen Steinbruch im Schutzstaffel (SS) im Raum St. Geor- zugehörigen „Wienergraben“ wahrge- gen-Gusen-Mauthausen soll dieser nommen. Die Reste des, das ehemalige Beitrag die regionale Ausprägung der Lager bei Mauthausen an Größe und Entwicklungsgeschichte des KZ-Dop- baulicher Dimension bei Weitem über- pellagersystems Mauthausen-Gusen ragenden, „Lagerteils“1 Gusen werden mit seinen engmaschig vernetzten Inf- gemeinhin bis heute übersehen, negiert rastrukturelementen umfassender be- oder als historisch weniger bedeutsam leuchten und einem breiteren Kreis von eingestuft. Weder die seit 2014 neu ge- staltete Ausstellung in der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Mauthausen noch 1 Der Begriff „Lagerteil“ wird hier verwendet, weil die seit 2004 im Besucherzentrum Gusen er der gemeinsamen Entwicklungsgeschichte gezeigte Ausstellung oder einschlägige und der späteren Symbiose des ehemaligen KZ- Komplexes Mauthausen-Gusen wohl am ehes- Fachpublikationen werden der Bedeu- ten gerecht wird. So benutzte die SS selbst viele tung dieses „Lagerteils“ für das einstige Jahre lang auch die Bezeichnung „Unterkunft“ KZ-Doppellagersystem Mauthausen- Gusen, um dieses zweite Häftlingslager anzuspre- Gusen in vollem Umfang gerecht. Auch chen, das ursprünglich etwa gleich groß wie das die Einreihung des früheren Lagerteils Häftlingslager bei Mauthausen konzipiert war. Vgl. dazu: Hans Marsalek. Gusen – Vorraum zur Gusen als „Nebenlager“ ist faktisch Hölle. Ein Nebenlager des Konzentrationslagers unrichtig; seit nun sieben Jahrzehnten Mauthausen [Gusen]. Österreichische Lagerge- nahezu unwidersprochen verwendet, meinschaft Mauthausen. Wien, 1987. S. 5. Wie lässt sie die enge Verzahnung des KZ der gegenständliche Aufsatz aber zeigt, wurden Mauthausen mit Einrichtungen in Gu- ursprünglich jedoch auch Begriffe wie „Neues La- ger Gusen“ oder gar „Mauthausen II“ gebraucht. sen und St. Georgen unberücksichtigt. Darüber hinaus blieb es im Falle Gusen dann [Als Lichtblick ist zu werten, dass An- auch nicht bei nur einem Häftlingslager. Der Be- fang 2015 nach jahrelanger, mühevoller, griff Gusen stand schlussendlich de facto für den vom Autor mitgetragener Arbeit die mehrere Quadratkilometer großen und meh- rere Gemeindegebiete umspannenden größten Unterschutzstellung der wenigen noch KZ-Komplex auf heute wieder österreichischem verbliebenen Relikte der ehem. Konzen- Staatsgebiet. Das alles soll der Begriff „Lagerteil“ trationslager (KL) Gusen I und Gusen II in diesem Aufsatz in einem zusammenfassen.

151 Forschern, Interessierten und politischen wieder geteilt, anders zusammengelegt Entscheidungsträgern nahebringen. und frisch nummeriert. Schon von daher Seit Anbeginn lag das Zentrum der erhebt diese Arbeit trotz des gewählten strategisch-wirtschaftlichen Interessen umfassenden Ansatzes keinen Anspruch der SS nicht in Mauthausen, sondern auf Vollständigkeit. Allem voran soll sie in Gusen. Evident wird dies v. a. daran, die erschütternde Geschichte des KZ- dass die SS in Gusen bereits zu einem Komplexes mit seinen vier Häftlingsla- Zeitpunkt Land erwarb, als das spätere gern in der erst kürzlich aus der Taufe KZ Mauthausen noch nicht einmal ge- gehobenen Bewusstseinsregion Maut- gründet war und sich das SS-eigene hausen-Gusen-St. Georgen3 um mehr- Unternehmen „Deutsche Erd- und heitlich unbeachtete, entscheidende Steinwerke GmbH (DEST)“ erst im Auf- Aspekte ergänzen, Betrachtungsweisen bau befand. Ebenso unterstreicht der sensibilisieren und so ein vertiefendes Umstand, dass die regionale Verwal- Weiterforschen ermöglichen. tungszentrale der DEST für die Lager Mauthausen und Gusen in St. Georgen angesiedelt wurde, klar den schon sehr früh auf Gusen gesetzten Schwerpunkt. 2 Zu erwähnen sind hier z. B.: der Audioweg Gu- Der Begriff „Landnahme“ wurde sen (http://www.audioweg.gusen.org), die Initi- ganz bewusst gewählt, denn das Gros ativen zur Verhinderung der totalen Verfüllung der Stollen des ehem. Stollensystems „Bergkris- der Grundbesitzer hatte unter der Knute tall“ in St. Georgen/Gusen, die Bemühungen des Totalitarismus nicht die Möglichkeit um eine öffentliche Zugänglichmachung dieser „nein“ zu sagen oder gar über die Grund- bedeutsamen unterirdischen Gedenkstätte, die stückspreise zu verhandeln. Etliche Fa- einschlägigen Denkmalschutzverfahren für die Gemeindegebiete von Langenstein und St. Geor- milien mussten ihre Häuser verlassen gen/Gusen, die künstlerische Raumintervention oder wurden einfach enteignet, um der vor der Pfarrkirche von St. Georgen/Gusen unter SS speziell in Gusen Platz zu machen. dem Titel „Denk.Statt Johann Gruber – Passage Der Autor dankt dem früheren Leiter gegen das Vergessen“ oder zahlreiche Publikati- onen, Filmprojekte und Sendungen für Hörfunk des Grundbuches Mauthausen, Ferdi- und Fernsehen im In- und Ausland. nand Roßpickhofer, für die fachkundige 3 Darunter versteht sich ein von den OÖ. Landes- Assistenz bei den bereits 2004 durch- behörden im Herbst 2015 genehmigter Verband geführten Recherchen, auf die sich ein aus den Gemeinden St. Georgen/Gusen, Langen- stein und Mauthausen, der unter Einbeziehung wesentlicher Teil dieses Beitrages stützt. der Menschen der Region den „spürbaren Gegen- (Eine Veröffentlichung der gewonnenen satz zwischen den Orten der Vergangenheit und Erkenntnisse musste wegen der Mitwir- dem Lebensbereich der Gegenwart auflösen und kung an anderen, noch vordringlicheren in positive Energie für zukunftsweisende Kon- Erinnerungsprojekten2 lange zurückste- zepte umwandeln“ will. Vgl. http://www.bewusst- seinsregion.at und LGBl. Nr, 127/2015. Diese hen.) Bewusstseinsregion entwickelte sich aus dem Dass sich die Katastermappen über Runden Tisch, der zwischen 2011 und 2013 vom die Jahrzehnte hinweg häufig verändert Bundesdenkmalamt in Wien einberufen wurde, um offene Fragen des Denkmalschutzes zu den haben, stellte bei der Bearbeitung des „materiellen Hinterlassenschaften“ des ehem. KZ- Materials eine Herausforderung für sich Komplexes Gusen in den Gemeinden St. Geor- dar. Viele Grundstücke wurden immer gen/Gusen und Langenstein zu regeln.

152 Ein wenig Vorgeschichte Grundstücken Nr. 722, 724 und 747), der Kataster 1826 für die KG Marbach im Be- Neben den allgemein bekannten reich des späteren Konzentrationslagers Granitsteinvorkommen in Mauthausen Mauthausen aber noch keinen einzigen. weist vor allem auch die Gemeinde Lan- genstein in unmittelbarer Nachbarschaft Die besondere Eignung des Gusener der Marktgemeinde Mauthausen eine Granits für Monumentalbauten machte bis in die Ur- und Frühgeschichte zu- Gusen ab 1878 zu einem wichtigen rückreichende Granitsteintradition auf.4 Stützpunkt der Granitwerke Anton Po- Die ältesten schriftlichen Zeugnisse für schacher, die – nach dem Erlöschen der den Betrieb von moderneren Steinbrü- Donaumonarchie und einigen sozialen Unruhen – den Steinbruchbetrieb bis chen in Langenstein stammen aus dem 8 Jahr 1687; demnach lieferte damals der zum Krisenjahr 1930/1931 führten. Von Langensteiner Steinmetzmeister Hans da an kam die Granitindustrie in Gusen Wolfinger zum Ausbau des Stiftes St. zum Erliegen, was vor allem auch der Florian und des zu St. Florian gehö- Gemeinde Langenstein ein Heer von renden Schlosses Marbach unweit der Arbeitslosen und Ausgesteuerten – das heutigen KZ-Gedenkstätte Mauthausen Beschäftigungsprogramm der Öster- reichischen Regierung war fehlgeschla- Türgerichte, Staffeln für die Altäre und 9 Pflastersteine an den Barockbaumeister gen – bescheren sollte. Die Menschen Carlo Antonio Carlone.5 Die herausra- und die wertlos gewordene Abbaustätte gende Qualität des v. a. in Gusen ab- harrten „besserer“ Zeiten … gebauten Granits bestätigte sich einmal Eventuell war es der „Führer“ selbst, mehr 1841 eindrucksvoll; es war eine der sich an die Steinbrüche von Gusen englische Gesellschaft um den Bankier erinnerte. Gut drei Jahrzehnte zuvor Georg Freiherr von Sina, die in einem der Steinbrüche mit etwa 130 Beschäf- tigten die Werksteine für die monumen- tale Architektur der sog. Budapester 4 Vgl. dazu die v. a. in Gusen bis in mesolithische Kettenbrücke gewann. (Errichtet wurde Zeit nachgewiesenen kultischen Steinsetzungen, das Tragwerk von 1840 bis 1848 durch die granitenen Fundamente des römischen Le- den Grafen Szechenyi und die Gebrüder gionslagers Lauriacum am gegenüberliegenden Donauufer oder die in romanischer Zeit aus Gra- Clark.) Bis heute haben sich in der Be- nitquadern errichtete Donauveste Spielberg, die völkerung die Bezeichnungen „Englän- 1997 auch territorial dem Gemeindegebiet von derbruch“ oder „Engländerweg“ beim Langenstein zugeschlagen wurde. Steinbruch Gusen erhalten.6 Dessen 5 Johann Prinz. Langensteiner Heimatbuch. Ge- damalige Bedeutung wird auch durch meinde Langenstein. Langenstein 1997, 522. 6 Prinz, 529–533. Josef Stummer gibt dazu an, dass einen Besuch von Erzherzog Johann im in Gusen ab 1840 von ca. 200 Arbeitern die Qua- 7 Jahr 1844 unterstrichen. der für die Brückenpfeiler dieser monumentalen Der Franziszeische Kataster der Ka- Brücke gebrochen und bearbeitet worden sind. tastralgemeinde Langenstein aus dem Josef Stummer. Granit – Baustein von Pulgarn bis Gloxwald. Manuskript zu einem am 17. März 2010 Jahr 1826 zeigt im Bereich des späteren in Perg gehaltenen Vortrag. Konzentrationslagers Gusen I zumin- 7 Prinz, 529–533. dest schon drei Steinbrüche (auf den 8 Prinz, 534 ff.

153 hatte er als Linzer Realschüler ein paar vertretenen Käuferin die Erklärung ab, Tage im Raum St. Georgen/Gusen zu- dass die kaufende Gesellschaft arisch gebracht, um auf eigene Faust zu erkun- ist.“ Mit diesen ‚Unbedenklichkeits- den, was in der lokalen Bevölkerung Bestätigungen‘ schließt die älteste dem an Reminiszenzen an die Tragödie der Autor zurzeit bekannte spezifische Ur- Niedermetzelung von rund dreihundert kunde zu einem Grundstückskauf der Gefolgsleuten des machländischen Bau- Schutzstaffel im Raum St. Georgen- ernführers Martin Aichinger (1636) in Gusen-Mauthausen. Es handelt sich um der Kirchenruine auf dem nahegelege- den am 25. Mai 1938 in Wien durch Ing. nen Frankenberg noch vorhanden war.10 Anton Poschacher14 und Arthur Ahrens errichteten Vertrag15 über die Veräuße- Blitzvisite Himmlers – frühe rung von etwa fünf Hektar Land16 der Weichenstellung Einlagezahlen (EZ) 50 und 77 in der Ka- tastralgemeinde (KG) Langenstein samt Wie auch immer – schon in den tur- Gebäuden17 und die Abtretung von ge- bulenten Tagen des ‚Anschlusses‘ unse- rer Heimat an das Deutsche Reich be- gab sich der Reichsführer SS Heinrich 9 Ibid. 10 Vgl. August Kubizek. Adolf Hitler, mein Jugend- Himmler in Begleitung des Chefs des freund. Leopold Stocker Verlag. Graz, 2002. S. 35. SS-Verwaltungsamtes Oswald Pohl von 11 Gerhard Botz. Wien vom Anschluß zum Krieg. Wien aus nach Mauthausen und Gusen; Jugend und Volk. Wien–München, 1978. S. 255 ff. man besichtigte die Granitsteinbrüche Oswald Pohl sollte in den folgenden Jahren im und untersuchte sie auf ihre Eignung zur Generalsrang als oberster Herr der wirtschaftli- chen SS-Aktivitäten gleichsam die rechte Hand Errichtung von Konzentrationslagern. Himmlers sein. Postwendend soll eine Entscheidung 12 Hans Marsalek. Die Geschichte des Konzentrati- über die Situierung der [beiden] Lager onslagers Mauthausen. Österreichische Lagerge- gefallen sein.11 Noch im Mai 1938 kam meinschaft Mauthausen. Wien, 1980. S. 18. 13 Arthur Ahrens zeichnete damals (obwohl sich die Pohl zusammen mit dem Inspekteur der Firma noch in Gründung befand) bereits als Ge- Konzentrationslager, SS-Gruppenfüh- schäftsführer der Deutschen Erd- und Steinwerke rer Theodor Eicke, und dem Bauingeni- GmbH und gab als Funktion „Kaufmann in Mün- eur Hubert Karl ein weiteres Mal in die chen, Karlstraße 10, vorübergehend in Wien“ an. Region, wobei [so Hans Marsalek] zwi- 14 Der Industrielle war zu jener Zeit Alleininhaber der Poschacher Granitwerke Mauthausen und schen April und August 1938 bereits ein vertrat das Unternehmen in dieser Vertragsange- Grundankauf erfolgt sei. Bei genauerer legenheit persönlich. Unternehmenssitz war da- Betrachtung trifft dies für das Areal des mals Wien, IV, Margarethenstraße 30. ehemaligen KL Mauthausen nicht zu, in 15 Kaufvertrag vom 25. Mai 1938. Grundbuch Maut- hausen, TZ 586/38. gewissem Grad aber für das Areal des 16 12 Areale 1561, 1600, 1614, 1648, 37/3, 1594/2, 1995/2, etwas später errichteten KL Gusen I. 1602, 1605, 1603, 1606, 1639/1, 1639/2, 1647 und 2104/2 der Einlagezahlen (EZ) 50 und 77 in der Keimzelle Gusen Katastralgemeinde (KG) Langenstein. Für diese Grundstücke wurde am 24. August 1938 die neue EZ 258 KG Langenstein eröffnet. „Der Verkäufer erklärt hiermit ari- 17 Neben einzelnen Häusern auf Grundstück 37/3 scher Abstammung zu sein. Herr Arthur eine Schmiede und ein sog. Schupfen auf Grund- Ahrens13 gibt hinsichtlich der von ihm stück 1639/1.

154 Auszüge aus dem Kaufvertrag vom 25. Mai 1938 zwischen der damals noch im Werden begriffenen SS- Firma DEST und Anton Poschacher. Quelle: Grundbuch Mauthausen, TZ 586/38

155 werblichen Pacht- und Verbotsrechten 18 Die Grundstücke 718/1, 718/2, 721, 722, 723, 726, auf benachbarten Liegenschaften18 beim 727 und 1595/1 waren seit 20. Dezember 1930 Steinbruch Gusen.19 durch Poschacher vom Besitzer des Dirnberger- gutes (Fam. Schöfl) gepachtet. Auffallend ist daran, dass die durch 19 Poschacher hatte diese samt dem Haus Gusen A. Ahrens vertretene „Deutsche Erd- Nr. 28 – genannt „Eselhäusl“ – 1876 erworben und und Steinwerke GmbH (DEST) in erhielt sie 1948 wieder zurück. Das „Eselhäusl“ Berlin“20 als „in Gründung befindlich“ wurde bis zum Abriss 1958 noch für Wohnzwecke angeführt wurde; die Unternehmens- benützt. Vgl. Prinz, 314. 20 Die Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH gründung stand also offensichtlich auch (DEST) wurde als SS-Unternehmen offiziell erst in unmittelbarem Zusammenhang mit durch einen Gesellschaftsvertrag vom 29. April dem Erwerb der Areale in Langenstein.21 1938 gegründet. Der Sitz der Gesellschaft, wel- Mit diesem Vertrag verzichtete Anton che „die Ausbeutung von Steinbrüchen, die Ge- Poschacher auf die seit dem 4. Mai 1933 winnung von Natursteinen, die Herstellung von Ziegel- und Klinkersteinen, die Übernahme von zu seinen Gunsten auf den Liegenschaf- Straßenbauten und den Betrieb aller sonstigen ten EZ 56 und 125 eingetragene Reallast, mit Steingewinnung und Erdverwertung zu- die Besitznachfolgern den gewerblichen sammenhängenden Geschäfte“ zum Unterneh- Steinbruchbetrieb ohne Zustimmung mensgegenstand hatte, befand sich in Berlin. Das der Firma Poschacher für immerwäh- ursprüngliche Stammkapital belief sich auf RM 20.000. Persönlich haftender Gesellschafter war rende Zeiten untersagte. Ausdrücklich damals der Kaufmann Arthur Ahrens, Magde- wurde der DEST die Nutzung der Ab- burg. Die Gesellschaft wurde am 10. Juni 1938 un- baustätte auf beliebige Dauer, d. h. für so ter Nr. 53864 in das Handelsregister beim Amts- lange gestattet, als „das [geplante] Gefange- gericht Berlin eingetragen. nenlager in Langenstein [dort] einen Steinbruch 21 Etwa zur gleichen Zeit führte die DEST auch in führt“.22 Das belegt, dass die Ausbeutung Flossenbürg und bei Mauthausen Verhandlun- gen betreffend den Erwerb bzw. die Pachtung von der Gusener Granitsteinvorkommen Grundstücken. unter Einsatz tausender SS-Häftlinge 22 Dies ist der älteste dem Autor geläufige Hinweis von der ersten Stunde an fix vorgesehen auf die bereits 1938 fix geplante Errichtung des war. späteren Konzentrationslagers Gusen in der po- litischen Gemeinde Langenstein/OÖ. Er datiert Anzunehmen ist, dass A. Poscha- klar vor dem offiziellen Gründungsdatum des KZ cher noch keine Vorstellung von den Mauthausen im August 1938. Vgl. dazu: Hans menschheitsgeschichtlichen Abgründen Marsalek, Mauthausen, S. 31 ff. hatte, die sich binnen Kürze gerade auch 23 Der Pachtvertrag hatte eine Laufzeit bis zum 31. in Gusen für Jahre auftun würden. Mit Dezember 1946. Poschacher bezahlte z. B. für je 1000 Würfel 7/7 Zoll einen Pachtschilling von 10 dem Abkommen übertrug er der DEST Goldkronen. Für andere Steinmetzprodukte (z. B. auch seine Pachtrechte „zur beliebigen Formsteine, Reihensteine, Schlagsteine, Quader- industriellen Ausbeutung“ der Granit- steine, andere Würfeldimensionen) waren jeweils steinvorkommen23 auf Grundstücken andere Beträge vereinbart. Frühere Pachtverträge der EZ 126 und EZ 187 – samt dem wurden jeweils 1912 und 1922 geschlossen. Haus Nr. 34.24 Für die Übertragung der 24 Es handelt sich dabei um das bäuerliche Anwesen der Familie Schöfl in Langenstein Nr. 34 (vulgo Liegenschaften, Gebäude, Pacht- und „Dirnberger“). Verbotsrechte wurde ein Kaufpreis von 25 Das war seinerzeit etwas mehr als das gesamte 25 20.300,75 Reichsmark (RM) festge- Stammkapital der DEST. Handelsregister Berlin, setzt. Formell genehmigt wurde der Deal TZ 586/38.

156 Die neue Einlage-Zahl „258“ für die SS-Firma DEST im Grundbuch der Katastralgemeinde Langenstein aus dem Jahr 1938. Quelle: Grundbuch Mauthausen am 4. August 1938 von der Vermögens- zur Belastung und Veräußerung von verkehrsstelle im Ministerium für Wirt- Grundstücken und Grundstücksrech- schaft und Arbeit/Wien, nachdem ein ten“ sowie „überhaupt zur Vornahme SS-Obersturmbannführer der Staatspo- aller mit Grundstücksgeschäften zusam- lizeileitstelle der Geheimen Staatspolizei menhängenden Rechtsgeschäfte bis RM Wien „keine Bedenken“ geäußert hatte.26 300.000“.28 Salpeter29 setzte daraufhin Am 24. August 1938 wurde schließlich am 2. Februar 1939 den Landerwerb in für die DEST die neue EZ 258 in der KG Langenstein grundbücherlich eröffnet.27 26 TZ 586/38. 27 Blatt A zu EZ 258 KG Langenstein. Per 7. Novem- Um bei Grundstückstransaktio- ber 1941 werden auch die Grundstücke 758, 759 nen einen „Profi“ zur Seite zu haben, der EZ 28 und das Grundstück 599 mit der EZ 122 autorisierte Arthur Ahrens als allein der EZ 258 zugeschrieben. TZ 369/41, TZ 18/42. vertretungsbefugter Geschäftsführer 28 Beglaubigte Abschrift der Generalvollmacht. Grundbuch Mauthausen, TZ 28/39. der DEST am 15. September 1938 den 29 Lt. dieser Generalvollmacht war Salpeter, geb. 31. Berliner Juristen Dr. Walter Salpeter Juli 1902 zu Berlin, damals in Berlin-Wilmersdorf, per Generalvollmacht zum „Erwerb, Hohenzollerndamm 197/II, ansässig.

157 Gusen fort und erwarb für RM 10.000 von der Schaffung eines staatlichen Kon- von den Eheleuten Johann und Juliane zentrationslagers [auch] in Mauthausen B. das westlich des örtlichen Steinbruchs unterrichtet und die Steinbrüche „Wie- gelegene Haus Gusen Nr. 40 nebst den nergraben“ sowie „Bettelberg“ als mög- zugehörigen Parzellen im Ausmaß von liche Standorte ventiliert.35 Am 5. Mai 7.687 m2.30 Im Kaufvertrag verweist die 1938 wurde zwischen Ahrens, Dr. W. DEST – mit inzwischen neuem Firmen- Salpeter und dem Wiener Bürgermeis- sitz in Berlin, W 50, Geisbergstraße Nr. ter die Pachtung des Steinbruches „Bet- 21 – u. a. darauf , dass sie „vom Reichs- telberg“, des Marbacher-Steinbruches führer SS und Chef der Deutschen Po- [im Wienergraben] und eines landwirt- lizei im Reichsministerium des Inneren schaftlichen Betriebes für die Dauer von für Zwecke des Reiches … ins Leben ge- 10 Jahren zu einem jährlichen Zins von rufen wurde und auch für dieses Rechts- RM 5.000 sowie gegen eine Umsatzbe- geschäft Gebührenfreiheit in Anspruch“ teiligung Wiens und die Lieferung von nähme, zumal sich die Geschäftsanteile Steinmaterial an die Bundeshauptstadt ausschließlich in der öffentlichen Hand vereinbart. Am 12. Mai 1938 forderten befänden.31 „drei Herren aus München“, unter ihnen Schon im Jänner 1940 wurden die vermutlich Richard Glücks als Inspek- am selben Tag unter anderem miterwor- teur der Konzentrationslager, den Leiter benen Grundstücke 1658, 1660/1 und der Steinbrüche vor Ort zur sofortigen 1660/2 gegen das Areal Nr. 1609 der EZ Aufnahme des damals noch still liegen- 237 getauscht, auf dem noch heute das den Betriebs mit insgesamt dreißig Leu- sog. Jourhaus des ehemaligen Konzent- ten auf. Angeordneter Starttermin: 16. rationslagers Gusen I steht.32 Mai. Die Stadt Wien hatte es zuvor noch Teile des gleich im Westen angren- verstanden, den Steinbruch „Bettelberg“ zenden Grundstücks Nr. 169 benutzte aus dem Pachtvertrag auszunehmen, da der SS-Totenkopf-Wachsturmbann Gu- diese Abbaustätte hochwertigeres Mate- sen Jahre hindurch als Sport- und Exer- rial lieferte als die Brüche im Wienergra- 36 zierplatz.33 ben.

Pacht und Erwerb von Steinbrüchen der 30 Kaufvertrag vom 2. Februar 1939. TZ 28/39. Es Stadt Wien handelte sich um die Grundstücke 156, 1592, 1593/1, 1593/2, 1658, 1660/1, 1660/2, 713 und 1594/1 Anders als in Gusen gelang der der EZ 188 bzw. EZ 248 in der KG Langenstein. DEST bzw. der SS im Bereich Wiener- 31 TZ 28/39. 32 graben 1938 zunächst nur die Pachtung Tauschvertrag vom 6. Januar 1940. TZ 172/40. 33 Dieser Sport- und Exerzierplatz ist z. B. auf diver- von Steinbrüchen (der Stadt Wien) sen, heute verfügbaren Luftaufnahmen deutlich und die Vereinbarung sogenannter zu erkennen. Die Grundstücksnummer bezieht Durchführungs-Übereinkommen.34 SS- sich hier auf die heutige Katastermappe, da es in Sturmbannführer Arthur Ahrens hatte diesem Bereich bereits wiederholt zu Mappenän- derungen und Neunummerierungen kam. am 7. April 1938 in Begleitung von Prof. 34 Kaufvertrag vom 2. Februar 1944. TZ 141/44. Dr. Josef Schadler (OÖ. Landesmuseum) 35 Botz, 256–257. den Wiener Magistratsdirektor Hornek 36 Ibid.

158 Im Februar 1939 verlangte die SS Weiters hatte die DEST die ihr seit dem dann dezidiert den Verkauf der gepach- Pachtvertrag vom 3. bzw. 13. Juni 1938 teten Objekte.37 Aufgrund einer Ent- zur Mitbenützung überlassenen Werk- schließung des Bürgermeisters der Stadt zeuge und Maschinen, die sich nicht im Wien (Abt. I/6-Tr.3923/41) gingen die transferierten Inventar befanden, kos- Steinbrüche am 14. Februar 1941 – rück- tenlos und in betriebsfähigem Zustand wirkend per 1. Jänner – zu Lasten und an die neu errichteten Werkstätten am Nutzen auf das Deutsche Reich über,38 Bettelberg zu übergeben.40 wobei es zu einem formell korrekten Wie eine Reihe von Dienstbarkeits- Vertragsabschluss anscheinend nicht verträgen zeigt, hatte die „Elektrizitäts- kam. (Erst drei Jahre später, am 16. Jän- und Straßenbahngesellschaft Linz“ ner 1944, wurde der mit der Angelegen- (ESG) bereits im Herbst 1938 eine neue heit betraute SS-Obergruppenführer Hochspannungsleitung von Gusen über und General der Waffen-SS Oswald die Höhen des Frankenberges in den Pohl wieder aktiv, um mit Stadtkämme- Wienergraben gelegt.41 [Für den Verkauf rer Dr. Kurt Hanke und Stadtsyndikus ihrer Parzellen der Einlagezahlen (EZ) Dr. Franz Leppa den Verkauf der rele- 94, 104, 107, 121, 192 erhielt die Stadt vanten Liegenschaften an das Deutsche Wien am 14. Juli 1942 einen Betrag von Reich … „zum Zwecke der Errichtung RM 475.000 sowie am 10. Juli 1943 an eines Arbeitslagers“ auch vertraglich aufgelaufenen Zinsen RM 29.291].42 und grundbücherlich im Nachhinein zu regeln.39 – Man beachte die Verwen- Grundstückskäufe für das KL dung des verharmlosenden Begriffes Mauthausen „Arbeitslager“.) Für sich behalten konnte die Stadt Wien 1941 lediglich das Areal Ein großer Teil des Mauthausener 1126/5 der EZ 177 in der KG Marbach, KZ-Areals war dem Reich bereits mit den um dort „die Waldbewirtschaftung und Pachtverträgen für den Steinbruch Wie- den Abtransport des Holzes aus diesem nergraben zugefallen. Anfang 1939 teilte Grundstück für Zwecke des städtischen SS-Gruppenführer Pohl als SS-Verwal- Betriebes ‚Bettelberg‘ [an der Donau bei tungschef dem Wiener Bürgermeister Mauthausen] zu ermöglichen“. Für die- einseitig mit, dass der wachsende Um- ses Areal ließ sich Wien die Dienstbar- fang des hier mittlerweile geschaffenen keit des Zugangs und der Zufahrt über „festen Lagers“ den Erwerb zusätzlichen das ab jenem Zeitpunkt dem Reich ge- Nachbargrunds durch die SS erforder- hörende Grundstück 1126/1 vertraglich lich mache.43 So erwarb das Deutsche sichern. Da man auch die arealeigenen Baulichkeiten mitverkaufte, verpflichtete 37 Ibid. die Stadt Wien das Deutsche Reich ver- 38 Kaufvertrag vom 2. Februar 1944. TZ 141/44. traglich, die für den Betrieb des bei Wien 39 Ibid. verbliebenen Steinbruchs „Am Bettel- 40 Ibid. berg“ erforderlichen Anlagen kostenlos 41 TZ 97/39, 98/39, 99/39, 100/39. 42 Ibid. bis zum 30. Juni 1941 neu zu errichten 43 Schreiben Pohls vom 24. Januar 1939 an Bürger- und auch die Übersiedlungskosten für meister Dr. Ing. Neubacher. Archiv Museum Maschinen und Werkzeuge zu tragen. Mauthausen (AMM), M.Abt.245_A51_5_438.

159 Der Bau des sog. Garagenhofes des KL Mauthausen im Jahr 1941. Quelle: Bundesarchiv, Bild 192-180 Fotograf: unbekannt

Reich, vertreten durch den Reichsführer Gebührenbefreiung“, da „das Deutsche SS und Chef der Deutschen Polizei im Reich die … Grundstücke zum Zweck Reichsministerium des Inneren, Ende der Errichtung eines Konzentrationsla- März 1939 von den Bauersleuten Johann gers“ erwerbe.44 Die Inbesitznahme aller und Amalia M. aus der Ortschaft Mar- für das Lager vorgesehenen Grundstü- bach bei Mauthausen eine erste Tranche cke wurde erst 1941 mit einem umfang- Land im Ausmaß von 18.288 m2 zum – reichen Teilungsplan abgeschlossen.45 im Vergleich zu Gusen günstigen – Preis Von Bedeutung für die Errichtung von RM 0,30 pro m2. Obwohl die Un- des KL Mauthausen ist u. a. die Über- terschrift des für das Reich zeichnenden nahme einer Sandgrube unweit des Vertragspartners im Kaufpapier unleser- Marktes St. Georgen/Gusen durch die lich ist, kann aus dem Zusatz „SS-Grup- penführer und Ministerialdirektor“ mit 44 Kaufvertrag vom 28. März 1939. TZ 68/41. Es hoher Wahrscheinlichkeit geschlossen handelte sich um die vorher landwirtschaftlich ge- werden, dass sich Pohl damals persön- nutzten Grundstücke 1703 (nur zum Teil), 1704, lich nach Linz begeben hatte, um mit dem 1705, 1706, 1707, 1709/2, 1720/2 der EZ 108 in der Landerwerb für das KZ Mauthausen zu KG Marbach. 45 Lageplan zu den Grundstücken 1721, 1717/8, beginnen. „Natürlich“ beanspruchte die 1727/1. TZ 182/44 und TZ 183/44. Geteilt wurden DEST abermals – wie späterhin durch- vor allem die Grundstücke 1727/2, 1574, 1718, 1717, wegs – die „persönliche und sachliche 1712/2, 1720/4, 1720/3 und 1988/2.

160 damals noch zum Verwaltungsamt der aus erfolgte 1943/44 ein Teil des Aus- SS gehörende SS-Neubauleitung KL baus der unterirdischen Flugzeugfabrik Mauthausen im Sommer 1939. Das „B8 Bergkristall“ (siehe dazu den eige- Objekt und angrenzendes Ackerland nen Abschnitt). gingen an die SS mit der vertraglichen Berechtigung, die Grube „entsprechend Grundstückskäufe für das KL Gusen den neuesten Vorschriften für bergbauli- che Betriebe“ auszubeuten. Als Entschä- Der Ankauf von Liegenschaften zur digung erhielt der Besitzer pro Kubik- Errichtung des „neuen Konzentrations- meter abgefahrenen Sandes RM 1,30 lagers Gusen“ setzte schwerpunktmäßig zugesprochen, die Vertragsdauer wurde im Jänner 1940 ein. Hierzu bevollmäch- vorläufig auf drei Jahre befristet, wobei tigte der Chef des Hauptamtes „Haus- sich die SS neuerliche Vereinbarungen halt und Bauten“ (HAHB) am 11. Januar über die Erweiterung der Abraumflä- 1940 „Namens des Deutschen Reiches“ 46 che ausbedingte. Diese Urkunde ist Assessor Karl Mummenthey, damals insofern von Relevanz, als sie wohl den auch SS-Hauptsturmführer und Haupt- Beginn des eigentlichen Aufbaus der abteilungsleiter. Bemerkenswert ist, dass Granitsteinburg des KL Mauthausen sich das HAHB beim „neuen Konzentra- markiert, deren Errichtung auch größere tionslager“ Gusen – wie vermutlich beim Mengen Sand erforderte. 1940 nach wie vor im Aufbau befindli- Zugleich markiert die Urkunde den chen KL Mauthausen – auf die Experten frühesten Einsatz von KZ-Häftlingen der DEST stützte und man den Begriff in der Grube; das 16 Mann starke Au- „Nebenlager“ noch in keiner Weise stra- ßenkommando dürfte identisch mit je- pazierte. Zur Niedrighaltung der Kosten nem sein, das Erwin Gostner in seinem wurden durch den Landrat von Perg ein 1946 erschienenen Buch „1000 Tage im sogenannter Stopp-Peis von 0,67 RM 47 KZ“ beschreibt. Gostner, zuvor in den pro m2 und eine Ablösepauschale (z. B. Mauthausener Kommandos „Stein- RM 100 für je einen tragenden Obst- bruch“ und „Kanalisationsbau“ einge- baum) amtlich festgesetzt.49 setzt, berichtet ab Seite 138, dass das Als erstes erwarb das Deutsche „Sandgrubenkommando“ bei den Häft- Reich (Polizeiverwaltung-Konzentrati- lingen „sehr begehrt“ war. Sie wurden onslager), lt. Vollmacht vertreten durch von älteren SS-Männern beaufsichtigt, SS-Hauptsturmführer und Hauptabtei- die sich aus dem Kyffhäuserbund rek- rutierten. Diese Veteranen entwickelten wenig Neigung, die Häftlinge unnötig 46 Vertrag zwischen dem Reichsführer SS, Chef des anzutreiben und verließen das Kom- Hauptamtes V u. W-Berlin, SS-Neubauleitung K.L. Mauthausen, und dem Besitzer vom 4. Au- mando zwischendurch öfter in Richtung gust 1939. Im Besitz des Verfassers. Ortszentrum. Auch das per Lastwagen 47 Erwin Gostner. 1000 Tage im KZ. Ein Erlebnis- in großen Kübeln mitgenommene Es- bericht aus den Konzentrationslagern Dachau, sen war reichhaltiger als bei den übrigen Mauthausen und Gusen. Edition Löwenzahn. 48 Innsbruck, 1986. S. 138. Kommandos. Nach Angabe Gostners 48 Ibid. befand sich in der Grube bereits damals 49 Kaufvertrag vom 6. Jänner 1940. Grundbuch ein kleiner Sandstollen; genau von hier Mauthausen, TZ 169/40.

161 SS-Gefolgschaftsmitglieder posieren vor dem gerade im Aufbau befindlichen Jourhaus des KL Gusen; vermut- lich Sommer oder Herbst 1941. Quelle: Sammlung Rudolf A. Haunschmied lungsleiter Karl Mummenthey, Berlin- Eheleute Johann und Anna V. Bei dem Lichterfelde-West, Unter den Eichen 126, in diesem Fall vereinbarten Tausch52 am 6. Januar 1940 mit standardisiertem wurde die DEST erstmals durch beide Vertrag gleich eine Reihe von Grund- Geschäftsführer, Dr. Walter Salpeter stücken im Ausmaß von 23.130 m2 in und Assessor Karl Mummenthey, ge- der KG Langenstein.50 Der aus diesen meinsam vertreten und Salpeter im Transaktionen erzielte Erlös erlaubte Dienstrang eines SS-Standartenführers manchen Familien die Umschuldung ausgewiesen.53 Auf diesem Areal errich- bzw. Tilgung von Pfandrechten, die tete man später das sog. Jourhaus des KL während der wirtschaftlichen Krise Gusen, das sowohl als Eingangstor zum zwischen 1928 und 1938 einzelnen Re- alitäten einverleibt worden waren. (Mit Bescheid vom 20. Mai 1940 stellte der 50 Es handelte sich dabei um die Grundstücke 1556 Landrat von Perg amtlich fest, dass für und 1558 der EZ 49, 1597 und 1598 der EZ 51, 1567 dieses Rechtsgeschäft keine Genehmi- und 1617 der EZ 147. TZ 169/40, TZ 170/40, TZ gung gemäß Grundstücksverkehrs-Be- 171/40 sowie 1599 und 1613 der EZ 76. TZ 243/40 51 sowie 1610 und 1618 der EZ 53. TZ 242/40. kanntmachung nötig sei.) 51 Ibid. Die „Ankaufswelle“ erreichte am 6. 52 TZ 172/40. Jänner 1940 auch Parzelle Nr. 1609 der 53 Ibid.

162 Die neue Einlage-Zahl „261“ für das Konzentrationslager Gusen im Grundbuch der Katastralgemeinde Lan- genstein aus dem Jahr 1940. Quelle: Grundbuch Mauthausen

Konzentrationslager wie auch als Kom- nisterialdirektor Pohl bevollmächtigt. mandantur und Lagergefängnis („Bun- Ebenso ermächtigte Pohl am 11. Januar ker“) diente. 1940 Assessor Mummenthey, „die zum Die von der DEST für das „neue La- Erwerb von Grundstücken für das neue ger Gusen“ erworbenen Grundstücke Konzentrationslager in Gusen … erfor- 1561, 1614, 1605 und 1609 (Gesamtfläche derlichen rechtsgeschäftlichen Erklärun- 20.810 m2) wurden dem Deutschen Reich gen abzugeben“.54 Beide Vollmachten (Polizeiverwaltung-Konzentrationsla- unterstreichen Pohls Absicht zum Auf- ger), vertreten durch SS-Obersturmfüh- bau des KL Gusen als Parallelstruktur rer Assessor Helmut Fricke, Berlin-Lich- zum KZ Mauthausen. Zu registrieren ist terfelde, Unter den Eichen 122, am 18. auch, dass die DEST bei dieser in Berlin Januar 1940 um RM 13.942,70 verkauft abgewickelten Transaktion neben Stan- und der für das KL Gusen neu gebilde- dartenführer Dr. W. Salpeter erstmals ten EZ 261 in der KG Langenstein zu- geschrieben. Fricke wurde dafür eigens 54 Vollmachten zum Kaufvertrag vom 18. Januar durch den SS-Gruppenführer und Mi- 1940. TZ 26/41.

163 auch durch Sturmbannführer Gerhard brachte.59 Dem Landrat von Perg blieb Maurer mitvertreten wurde.55 wohl nichts anderes übrig, als die Trans- Gesondert erwähnt sei Grundstück aktion im Sinn der preisbehördlichen 1605 mit den beiden Originalgebäuden Bestimmungen zu akzeptieren. Eine der des ehem. SS-Totenkopf-Wachsturm- Tagebuchziffer beigefügte Unbedenk- bannes Gusen. Die Unterschutzstellung lichkeits-Bescheinigung der Perger Be- dieses zeitgeschichtlich bedeutsamen hörden zur Grunderwerbsteuer gipfelt Ensembles gelang dem Bundesdenk- in der Feststellung: „Der Einheitswert malamt nach längerer Mühe (wegen … ist nicht bekannt.“60 Möglicherweise fehlenden Kaufinteresses seitens des zu- ständigen Bundesministeriums hatte die 55 Kaufvertrag vom 18. Januar 1940. Grundbuch Mauthausen TZ 26/41. SS-Sturmbannführer Gemeinde Langenstein einen Abrissbe- Gerhard Maurer schied im Laufe des Jahres 1940 scheid erlassen) erst im Jahr 2013. wieder aus der DEST-Geschäftsführung aus, da er Mit Datum vom 22. Jänner 1940 in eine andere Aufgabe innerhalb der wirtschaft- erwarb Karl Mummenthey als Bevoll- lichen Unternehmungen des Reichsführers-SS berufen wurde. DEST-Geschäftsbericht 1940. mächtigter des Deutschen Reiches (Po- BArch, NS 3/1346. lizeiverwaltung-Konzentrationslager) 56 Kaufvertrag vom 2. Oktober 1940. TZ 16/41. Es bzw. des Hauptamtes „Haushalt und handelte sich dabei um die Parzellen 45, 181, Bauten“ in einem Streich noch zwei 189, 746/2, 747/2 und 1637 aus der EZ 140 im Ge- 2 beachtliche Areale im Ausmaß von samtausmaß von 1.571 m . Für die Gemeinde 2 Langenstein zeichnete Bürgermeister Johann 33.442 m beim im Aufbau stehenden Schöfl (Besitzer des Derntlgutes; vulgo „Derntl im Häftlingslager und südlich des Kasten- Derntlhof“) persönlich. hoferbruches (EZ 126). 57 Es lag lt. Mappendarstellung vom 31. Dezember Ab Oktober selbigen Jahres verla- 1938 auf Grundparzelle 45 – zwischen zwei da- mals dort bereits bestehenden kleineren Stein- gerte sich das Verwaltungszentrum der brüchen. Katastermappe Langenstein, Blatt 4. DEST schwerpunktmäßig von Maut- Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen, hausen nach St. Georgen; so kaufte die Linz und Grundbuch Mauthausen, TZ 16/41. DEST von der Gemeinde Langenstein 58 Kaufvertrag vom 9. Oktober 1940. TZ 48/41. Es handelte sich dabei um die Grundstücke 120, 1560, einige weitere Grundstücke in Gusen mit 1615, 1619, 1620, 1676 und 2033 der EZ 50 sowie 56 dem Vertragsort St. Georgen, darunter um die Grundstücke 501 und 1607/1 der EZ 77 je- das – anschließend geschleifte – Armen- weils in der KG Langenstein. Der Vertrag wurde haus57 der Gemeinde Langenstein bei in St. Georgen/Gusen errichtet und per 23. Ok- den Steinbrüchen in Gusen. tober 1940 in Berlin durch die DEST-Prokuristen Karl Mummenthey, Dipl.-Ing. Erduin Schondorff Etwa zeitgleich erstand man auch genehmigt. Pohl hatte Schondorff als Nachfolger von Anton Poschacher zusätzliche Par- von Arthur Ahrens in die DEST geholt. Als SS- zellen im Ausmaß von 21.025 m2 zusam- Hauptsturmführer stieg Schondorff später noch men mit dem Haus Gusen Nr. 5.58 Der zum DEST-Geschäftsführer auf und war auch mit Projekten wie „Hochofenschlackewerk Linz“ oder Hintergrund war hier klar spekulativ; „Ölschiefer Württemberg“ befasst. zum einen zählten diese Liegenschaften 59 Kaufvertrag vom 29. August 1941. TZ 68/44. Es nicht zu den ursprünglich für das KL Gu- handelte sich dabei um die Grundstücke 120, 1560, sen I beanspruchten. Zum anderen war 1615, 1619, 1620 und 1676 der EZ 50 sowie um das Grundstück 1607/1 der EZ 77 im Gesamtausmaß es Oswald Pohl selbst, der diese Areale von 15.586 m2. am 29. August 1941 zu einem weit über- 60 Unbedenklichkeitsbescheinigung vom 14. Sep- höhten Preis (RM 24.000) in Reichsbesitz tember 1942. TZ 68/44.

164 Eines der noch heute stehenden SS-Kasernengebäude in Gusen um 1941. Quelle: Bundesarchiv, Bild 192-170. Fotograf: unbekannt ist dieses Beispiel nur eines von vielen, Rosa S. im Juli 1941 deutet u. a. darauf was Pohls gewitzte Methoden angeht, hin. Als SS-Gruppenführer und Gene- die von ihm für die SS geführten Un- ralleutnant der Waffen-SS verpflichtete ternehmungen mit öffentlichen Geldern Pohl das Hauptamt „Haushalt und Bau- aus der Staatskasse zu finanzieren. Dass ten“, den Verkäufern anstatt Zahlung Pohl diesmal aber nicht ganz durchkam, des Kaufpreises ein „dem Kubikmeterin- zeigt eine Nachtragserklärung vom 20. halt gleiches Haus in gleicher Qualität“ Oktober 1943, worin der seinerzeitige zu Lasten des Reiches zu errichten. Ver- Kaufpreis „einverständlich“ auf RM traglich zugesichert wurde den Verkäu- 18.000 herabgesetzt wurde.61 Immerhin fern auch die Abgeltung einer allfälligen blieben der DEST bei diesem Deal dann übersiedlungsbedingten Umsatzein- noch satte RM 4.000. buße.63 Einer konkreten Nutzung für das

61 Sehr wahrscheinlich beabsichtigte Nachtragserklärung zum Kaufvertrag vom 29. August 1942. TZ 68/44. Pohl ab dem Frühjahr 1941 die Erwei- 62 Abgekommene Bezeichnung der ehem. Kom- terung des KL Gusen im Bereich süd- merzialstraße zwischen Linz und Grein linkssei- lich der damaligen Hauderer-Bezirks- tig der Donau. Eine aktuellere Bezeichnung war straße.62 Der Erwerb der Areale 1628 „Bundesstraße 3 (B3)“. Die Trasse dieser wichti- gen Verkehrsader wurde im Raum St. Georgen- und 1607/2 sowie des Geschäftshauses Gusen-Mauthausen während der 1990er-Jahre Gusen Nr. 39 (samt zugehöriger Grund- nach Süden in die Donau-Auen verlegt. stücke) von den Ehegatten Max und 63 Kaufvertrag vom 24. Juli 1941. TZ 26/43.

165 Das Konzentrationslager Gusen I um 1942. Die landwirtschaftlichen Flächen im Hintergrund sind noch nicht verbaut. Dort folgten später die Hallen für das SS-Bekleidungsmagazin, das oberirdische Messerschmitt- Zweigwerk, die Stollen „Kellerbau“ und das Konzentrationslager Gusen II. Quelle: Bundesarchiv (Berlin), Bild 192-149. Fotograf: unbekannt

KL Gusen führte das Reich die erworbe- Kastenhofer) mit Häftlingen des provi- nen Liegenschaften jedoch nicht zu. Da- sorischen Konzentrationslagers im Wie- raus ergab sich das „Kuriosum“, dass die nergraben auf Basis von Pachtverträgen im früheren Geschäftshaus einquartierte ausgebeutet haben. Spätestens im April Gemeindestube Langensteins während 1940 waren die Verträge aufgehoben, der Kriegsjahre direkt gegenüber dem denn zu diesem Zeitpunkt liefen gegen Konzentrationslager ihren Sitz behielt.64 beide Familien bereits Enteignungsver-

Enteignungen in Gusen

Zwischen Sommer 1938 und April 1940 dürfte die DEST die Liegenschaf- ten der Bauernfamilien Schöfl (vulgo 64 Interview mit Hermine S. am 7. September 2014 Dirnberger) und Schmidtberger (vulgo und mit Luzia S. am 26. Jänner 2014.

166 Das persönliche Schreiben des Reichsführers-SS und Chefs der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern, Heinrich Himmler, an das Erbhofgericht in Linz wegen des „neuen“ Konzentrationslagers Gusen. Quelle: Bundesministerium für Inneres, Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, B/12/81

167 fahren.65 Da es sich jeweils um land- Josef Schmidtberger, im KZ um Wasser wirtschaftliche Betriebe handelte, kam für das Anwesen und die Tiere bitten. es zwischen dem Erbhofgericht beim Vielleicht war es seine hohe Auszeich- Oberlandesgericht in Linz und der SS nung aus dem Ersten Weltkrieg, die ihn zu Spannungen, in die sich Anfang De- vor der Deportation in ein Konzentra- zember Heinrich Himmler persönlich tionslager schützte.68 Entschädigungslos einschaltete: „Es müsste auch dem Erb- musste die achtköpfige Familie den Hof hofgericht Linz bekannt sein, dass die im November 1942 verlassen. Die DEST Einrichtung von Konzentrationslagern, verbuchte dafür 1943 unter dem Titel die dem Schutze der nützlichen Volks- genossen dienen, eine Staatsnotwendig- keit ist. Die Planung und Durchführung ist mir unmittelbar vom Führer übertra- 65 DEST-Monatsbericht April 1940. BArch, NS gen worden. Es geht über die Zuständig- 3/1346. Zu den ersten Tätigkeiten der Häftlinge keit eines Erbhofgerichtes hinaus, meine zählte im Sommer und Herbst 1938 in Gusen Maßnahmen zur Durchführung dieser der Abtransport einer Abraumhalde im Bereich staatsnotwendigen Aufgaben nachzu- d. Kastenhofer-Oberbruches in Richtung des für prüfen und zu korrigieren …“.66 das spätere KZ vorgesehenen Areals. Dabei war von den Häftlingen ein Höhenunterschied von etwa 50 m zu überwinden. Neben den beiden ge- nannten Enteignungsverfahren wurden in Gusen Zivilcourage – mit Folgen noch mindestens drei weitere Familien umgesie- delt. Diese erhielten in der Regel aber geeignete Nach Auskunft zweier Töchter der Tauschobjekte. Interview mit Josefa L. am 10. Oktober 2008. Auch den anderen Landwirten in Familie Schmidtberger hatte Himmler Gusen-Dorf wurde in den Anfangsjahren von der bei seinem Besuch am 27. April 1941 in SS eröffnet, „einmal nach Russland umgesiedelt“ Gusen das Enteignungsverfahren für zu werden. Interview mit Luzia S. am 26. Jänner bereits erledigt gehalten. Als ihn aber 2014. Dies wurde jedoch nicht (mehr) schlagend, da die Expansionspläne der SS im Bereich südlich die resolute Bäuerin Maria Schmidt- der Hauderer-Straße Anfang 1943 kriegsbedingt berger – mit extra angelegtem Mutter- zum Erliegen kamen (vgl. dazu das Projekt Do- kreuz in Silber – zur Rede stellte, war nauhafen und die südlich des Dorfes geplante Ha- dieser überrascht: seine Offiziere und fenbahn in dem noch folgenden Abschnitt). Zur die DEST-Verantwortlichen mussten Unterdrucksetzung der Familie Schöfl im Septem- ber 1938 durch die DEST vgl. auch: Josef Lindner. eingestehen, dass die Sache noch im- Granitwerke Anton Poschacher (1839–2010) – Ein 67 mer nicht „durch“ sei. Dieser Vorfall Unternehmen prägt die Region. Diplomarbeit dokumentiert den – ansonsten rar ge- zur Erlangung des akademischen Grades Ma- bliebenen – Widerstandswillen und die gister im Diplomstudium Wirtschaftspädagogik Zivilcourage einer einzelnen Mühlviert- am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz. Linz, 2013, ler Bäuerin, die sich nicht scheute, dem S. 57–58. obersten Chef der SS derart unerschro- 66 Schreiben Himmlers vom 7. Dezember 1940 an cken zu begegnen. Die Schmidtbergers das Erbhofgericht beim Oberlandesgericht Linz. wurden von der SS dann auch prompt AMM, B/12/81. 67 Interview mit Hermine S. vom 7. September 2014. extrem schikaniert. Man nahm dem Sie war damals als 11-jähriges Mädchen mit der Erbhof u. a. die Zufahrt und die Was- Mutter bei diesem „Gespräch“ anwesend. serversorgung, täglich musste der Bauer, 68 Ibid.

168 Heinrich Himmler (3. v. l., fast ganz verdeckt) mit Gauleiter August Eigruber (links außen) und anderen hochrangigen NS-Chargen bei der Besichtigung des Kastenhofer-Oberbruches in Gusen am 27. April 1941. Quelle: Bundesarchiv, Bild 192-226. Fotograf: unbekannt

„Umzugskosten Schmidtberger“ ledig- für den Betrieb des KL Gusen und des lich einen Betrag von RM 604,80.69 Pa- Steinbruches „Kastenhof“ beansprucht radoxerweise schaffte es das Rechtsamt hatte, war an die Fortführung der Land- der SS nicht, das Enteignungsverfahren wirtschaft nicht mehr zu denken.71 juristisch und grundbücherlich bis zum Etwas reibungsloser dürfte das Ent- Kriegsende abzuschließen. Daher blieb eignungsverfahren gegen die Familie das – von der DEST 1943 mit stattlichem Aufwand umgebaute – Anwesen de jure Eigentum der Familie, die es bei ihrer 69 Anlagevermögen zum 31. Dezember 1943. BArch, NS 3/1231/30. Rückkehr nach Gusen total ausgeplün- 70 Interview mit Hermine S. am 7. September 2014 70 dert vorfand; da die SS einen großen und Josefa L. am 10. Oktober 2008. Teil der landwirtschaftlichen Flächen 71 Ibid.

169 Schöfl abgelaufen sein, denn SS-Haupt- stück entlang des Kesselbaches wurde sturmführer Dr. Leo Volk, Adjutant von wohl als Verbindung des zu dieser Zeit SS-Obergruppenführer Pohl, leitete aufgeschlossenen Pierbauer-Bruches noch am 5. Juni 1944 für den Stab W im mit der Infrastruktur in den Betrieben SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt Gusen und Kastenhof angekauft. Am 8. den von der DEST unterschriebenen Mai 1941 folgten noch Grundstücke im Vertrag über die Zahlung einer Besit- Bereich nordwestlich des KL Gusen.76 zeinweisungsentschädigung für das Grundstück Schöfl in Langenstein mit Im November 1942 trieb das neu ge- der Bitte um Genehmigung in mehr- schaffene SS-Wirtschaftsverwaltungs- facher Ausfertigung an das Rechtsamt hauptamt (WVHA) den Landerwerb weiter.72 südlich der ehemaligen Hauderer-Straße voran.77 Die Erweiterung des Landbesit- Zu diesem Anwesen gehörte viele zes in Gusen um die Liegenschaften des Jahrzehnte hindurch eine Gaststätte, die Hauses Nr. 3 wurde im Juli 1943 durch vor allem von Steinarbeitern und – in den mittlerweile zum SS-Obergrup- den Jahren des Deutschen Reiches – von penführer und General der Waffen-SS Gefolgschaftsmitgliedern von DEST beförderten WVHA-Chef Oswald Pohl und SS frequentiert wurde. vertraglich nachvollzogen.78 Als Ersatz hatten die früheren Besitzer die Liegen- schaften des Grubbauergutes in Forst, Zusätzliche Grundstückskäufe in Gemeinde Luftenberg an der Donau, Gusen erhalten.

Nachdem sich die DEST in Gusen durch das Enteignungsverfahren gegen die Familie Schmidtberger 1940 ein sehr 72 Schreiben Stab W (Dr. Volk) vom 5. Juni 1944 an großes Grundstück nahe des späteren Rechtsamt im Hause. BArch NS 3/1344. Steinbruchbetriebes Kastenhof angeeig- 73 Aufstellung der Kauf- und Pachtverträge. BArch, net hatte, setzte sie den Kauf von Land NS 3/1168. in dieser Gegend systematisch fort. So 74 Areale 1570, 1531/7, 1568/1, 1568/7, 1568/8, 1569/1, erwarb man bereits am 15. April 1941 1569/6 und 1569/7 aus der EZ 78 in der KG Lan- genstein. TZ 24/42. von den Bauersleuten Johann und Anna 75 Aufstellung der Kauf- und Pachtverträge. BArch, T. ergänzend die Grundstücke Nr. 758 NS 3/1168. und 759 aus der EZ 28 im Ausmaß von 76 Areale 1568/10 und 1569/4 der EZ 76. BArch, NS 8.985 m2 für eine Übernahme ab 1. Mai 3/1168. 77 1941,73 am 8. Mai 1941 weitere Grundstü- Areal 1636 aus der EZ 257, welches durch Kauf- 2 vertrag vom 3. November 1942 der EZ 261 zuge- cke (Ausmaß ca. 10.000 m ) von Johann schrieben wurde. TZ 99/43. und Theresia K.74 Inwieweit diese Fami- 78 Es handelte sich dabei um die Grundstücke 118/1, lien ihr Land freiwillig verkauft haben, 118/2, 1545, 1546, 1550, 1857/1, 1569/3, 169, 1857/2, bleibt offen. Im April 1941 erwarb die 1928/1, 1929/2, 1929/3 der EZ 48 in der KG Langen- stein, die Grundstücke 1547 und 1569/2 der EZ 176 DEST auf jeden Fall auch noch das Areal in der KG Langenstein sowie um die Grundstücke 712/2 aus der EZ 25 im Ausmaß von 2319/17, 2319/36, 2375/16 und 2375/17 in der KG 2.570 m2.75 Das langgestreckte Grund- Luftenberg. TZ 33/44.

170 Grundstückskäufe für die tungsgebäuden für die beiden KZ-Stein- DEST-Verwaltungszentrale und bruchbetriebe Mauthausen und Gusen Werksiedlung in St. Georgen etwa 50 Eigenheime mit Volkswoh- nungs-Standard und Erweiterbarkeit im Der Beschluss, die Verwaltungszent- Hinblick auf zahlreichen Kinderstand. rale der „Granitwerke Mauthausen“ und Landzulagen sollten den Familien u. a. die Domizile für die höheren Komman- „Gemüseanbau für den Eigenbedarf“ danten der Konzentrationslager sowie und die Haltung von Kleintieren ermög- die Arbeiter und Angestellten der SS- lichen. Zusätzlich sollten in diese „neue Steinbruchbetriebe („Führersiedlung“) organische Einheit“ ein Kindergarten nicht in Mauthausen selbst, sondern im und ein Kaufladen so integriert werden, Markt St. Georgen an der Gusen zu si- dass sich diese an den bestehenden Ort tuieren, war bereits am 13. Februar 1940 St. Georgen „gut anschließen“ würde.84 in einer örtlichen Beratung über die Pla- In einer von St. Georgens Bürger- nung der Siedlung „Steine und Erde“ in meister auf Ersuchen der DEST ein- St. Georgen gefallen.79 Getroffen wurde berufenen Besprechung wurden den die Entscheidung durch die „Planungsbe- Grundstücksbesitzern im April 1940 hörde des Landeshauptmanns für Ober- die Ablösepreise eröffnet.85 Noch im donau“, den damaligen DEST-Werklei- ter SS-Hauptsturmführer Spichalsky, Architekt Paul Theer aus Linz und St. 79 Schreiben Z/RO. I.H. 46/1-1940, XIa des Gene- Georgens amtierenden Bürgermeister.80 ralreferenten für Raumordnung vom 20. Februar Die Lagerleitung und P. Theer hatten 1940 an Siedlungsamt, Bürgermeister, DEST und Architekt P. Theer. Gemeindearchiv St. Georgen/ ursprünglich drei Standorte in Betracht Gusen. 81 gezogen, wobei sich die Stellungnah- 80 Kanzlei-Anmerkung vom 13. Februar 1940 zu men von Planungsbehörde und SS „pro Schreiben Z/RO. I.H. 46/1-1940, XIa. Gemeinde- St. Georgen“ deckten. Beweggründe archiv St. Georgen/Gusen. 81 für diese Entscheidung waren unter Ibid. 82 Bereits im Februar 1940 war auch der Ausbau der anderem die leichte Realisierbarkeit ei- Hauderer-Bezirksstraße in eine Fernverkehrs- 82 ner allfällig nötigen Straßenumlegung straße vorgesehen. Der betreffende Abschnitt oder einer allfälligen Reichsbahn-Ergän- zwischen St. Georgen und Gusen wurde Anfang zungsstrecke83 zwischen St. Georgen der 1940er-Jahre großzügig realisiert und wird heute noch benützt. und Mauthausen, die fehlende Gefähr- 83 Die Planungen für eine Bahnlinie zwischen St. dung durch Hochwasser sowie, last not Georgen und Mauthausen reichen bis 1908 zurück, least, die ausreichende Entfernung zum denn im selben Jahr war hierfür in Perg ein Akti- „Polenlager“. (Darunter verstand sich onskomitee gegründet worden. Infolge der damals das nach dem Polenfeldzug gerade im fehlenden militärstrategischen Bedeutung und des Untergangs der Donaumonarchie kam es zu kei- Aufbau begriffene, ursprünglich primär ner Realisierung. Vgl. dazu auch: Prinz, 413 ff. Das zur systematischen Vernichtung der na- Deutsche Reich realisierte u. a. die Schleppbahn tionalen polnischen Elite konzipierte KL zwischen St. Georgen und dem KL Gusen wohl un- Gusen I). ter Rückgriff auf dieses Linienprojekt. 84 Kanzlei-Anmerkung vom 13. Februar 1940. Im Sinn der SS-Siedlungsideale 85 Schreiben „125/SP/S.“ der DEST vom 20. April umfasste das Wohnraumbeschaffungs- 1940 an das Gemeindeamt St. Georgen. Archiv projekt St. Georgen neben den Verwal- der Marktgemeinde St. Georgen/Gusen.

171 Die sogenannte SS-Führersiedlung und die Gebäude der DEST-Werkgruppenleitung in St. Georgen/Gusen um 1942. Quelle: Heimatverein St. Georgen, Sammlung Franz Walzer

Mai 1940 bestätigte Dipl.-Ing. August „kaum Wohnkapazitäten“ vorhanden Schmöller als Planungsbehörde beim seien. Gedeckt werde der Hauptbedarf Reichsstatthalter in Oberdonau dem an Arbeitskräften, so Mummenthey, SS-Hauptamt f. Verwaltung und Wirt- durch Häftlinge des KZ Mauthausen, die schaft die Zustimmung zur Errichtung Professionistenleistungen würde man an der „Werksiedlung der Erd- und Stein- private Unternehmer vergeben.88 Am 5. werke Mauthausen in St. Georgen“.86 Bis Oktober 1940 erwarb die DEST hierfür zwei große Areale im Ausmaß von etwa 86 Schreiben der Planungsbehörde beim Reichsstatt- 28.500 m2 am südöstlichen Ortsrand.87 halter in Oberdonau „Z/RO. 46/6 - 1940, XIa“ vom Von der Notwendigkeit der raschen 23. Mai 1940 an Hauptamt Verwaltung und Wirt- Inangriffnahme eines ersten zweige- schaft. Gemeindearchiv St. Georgen. 87 Areale 71, 74, 75, 76/1, 76/3, 78, 79, 80, 81, 82, 84, 85 schossigen Wohnhauses instruierte der EZ 2, EZ 8, EZ 12, EZ 16, EZ 27, EZ 50 und EZ DEST-Geschäftsführer Mummenthey 59 sowie 95/1, 95/2, 95/3 und 95/4 der EZ 85 sowie das Arbeitsamt Linz-Donau im Sep- 68/2 und 69/2 der EZ 260 (bzw. Teile davon). Vgl. tember 1940 von Berlin aus mit dem dazu Teilungsplan vom 10. September 1940 als Beilage zum Kaufvertrag. TZ 148/41. Siehe dazu in Hinweis, dass für die Unterbringung Teilen auch BArch, NS 3/1168. des Firmenpersonals und der Wach- 88 Anzeige über das Bauvorhaben; 9. September mannschaften des Konzentrationslagers 1940. Gemeindearchiv St. Georgen.

172 Noch im April 1940 wies das offizielle Briefpapier der SS-Firma DEST die Werke Mauthausen, Wiener Graben und Gusen neben den Werken in Flossenbürg, Weimar, Oranienburg und Hamburg getrennt aus. Quelle: Gemeindearchiv St. Georgen/Gusen

173 Dezember 1940 stimmte das Arbeitsamt des Reichsführers SS seien als öffent- der Errichtung eines „Verwaltungsge- liche Bauten im Sinne der Verordnung bäudes mit zwei Wohnungen und eines vom 20.11.1938 RGBl. I, S. 1677, dann Wohngebäudes mit zwei Läden und sie- zu behandeln, wenn sie unter Leitung ben Wohnungen in St. Georgen“ formell von Beamten des höheren bautechni- zu. Unverzüglich wurde daraufhin mit schen Verwaltungsdienstes vorbereitet der ersten Projektetappe begonnen. und ausgeführt werden. In diesen Fällen habe der Reichsführer SS die Bauten un- Verwaltungs-Chaos ter Angabe der für die Planung und für die Bauausführung verantwortlichen Be- Das damalige Verwaltungschaos amten der höheren Baupolizeibehörde zwischen der DEST, den Planungsbehör- (Reichsstatthalter) anzuzeigen … und den, Lagerkommandant Franz Ziereis, alle für die Beurteilung notwendigen Un- dem Landrat des Kreises Perg und der terlagen beizufügen. Auch dürfe mit der Gemeinde St. Georgen dokumentiert Ausführung erst nach erteilter Zustim- u. a. ein Schreiben des Landrates (Dr. mung der höheren Baupolizeibehörde Brachmann) an den St. Georgener Bür- begonnen werden …“. Dr. Brachmann germeister vom 31. Dezember 1941: „Ich weiter: „Der Reichsstatthalter vermerkt stelle Ihnen frei, ob Sie noch einen förm- ausdrücklich, dass ihm bisher derartige lichen Baugenehmigungsbescheid, nach Bauanzeigen über bei Ihnen geplante der Bauordnung, erlassen wollen oder Bauten nie zugekommen sind. Wenn nicht“. Es würde sich, da die Gebäude Sie also der Ansicht sind, einer behörd- bereits fertig stehen, [ohnehin] nur noch lichen Bewilligung oder Zustimmung zu um eine „reine Förmlichkeit“ handeln.89 Ihren Bauführungen nicht zu bedürfen, Kurz zuvor hatte Brachmann in einem sondern dass Sie lediglich Ihrer Zentral- Schreiben an die DEST die Sachlage verwaltung in Berlin unterstünden, so ist noch unverblümt beim Namen genannt: dies völlig irrig … Ich bemerke übrigens, „Seit längerer Zeit bemerke ich, dass Sie dass als untere Baupolizeibehörde nach Bauten verschiedener Art im Gemein- der seit 1.10.1941 wirksamen Verord- degebiet St. Georgen a.d.G. und Maut- nung vom 29.7.1941, RGBl. I, S. 485, der hausen aufführen, ohne das ordentliche Landrat an die Stelle des Bürgermeisters Genehmigungsverfahren nach den gel- getreten ist. Ich bitte Sie also zum Vorteil tenden Bauvorschriften einzuhalten. Sie einer reibungslosen Zusammenarbeit in erklären den betreffenden Bürgermeis- Hinkunft den vorgesehenen Weg bei al- tern, Sie seien zur Vorlage irgendeines ler Art von Bauvorhaben einzuhalten.“90 Bauantrages nicht verpflichtet, sondern An der Bändigung des Verwaltungs- könnten Bauführungen jeder Art auch Chaos musste ein weiterer hochrangiger außerhalb des Lagerbereiches allein Nationalsozialist aus Oberösterreich als auf Grund der Zustimmung Ihrer Zen- tralverwaltung in Berlin ausführen. Ich habe mich zur grundsätzlichen Klarstel- 89 Gemeindearchiv St. Georgen. 90 Schreiben des Landrates Dr. Brachmann vom 18. lung dieser Frage an den Reichsstatt- November 1941 an die Verwaltung der Deutschen halter in Oberdonau gewandt, der mir Erd- und Steinwerke GmbH in St. Georgen a.d.G. folgendes eröffnete: Die Bauvorhaben Gemeindearchiv St. Georgen/Gusen.

174 Jurist und formell territorialer Komman- onsbasis und zum technischen Ausbau deur der SS-Totenkopfeinheiten mit- der Granitbetriebe zur Verfügung ge- unter ordnend mitwirken. Es war dies stellt. Das Schwergewicht … verlagerte der in Raab und Linz aufgewachsene sich zwangsläufig von Mauthausen nach Dr. Ernst Kaltenbrunner, seit 1940 Hö- St. Georgen, in dessen Nähe sich die bei- herer SS- und Polizeiführer (HSSPF) in den … Brüche Gusen und Kastenhof be- Wien, ehe er Anfang 1943 zum Chef des finden. Aus diesem Grund wurden auch Reichssicherheitshauptamtes aufstieg.91 die Wohnsiedlung für die Werksange- stellten und das Verwaltungsgebäude Schon bevor der Landrat des Kreises nach St. Georgen gelegt. Dort waren Perg (sh. das resignative Schreiben vom Ende 1940 in Bau: 1 Verwaltungsge- Dez. 1941) der SS bzw. der DEST quasi bäude mit 2 Wohnungen, 2 Wohnblöcke einen ‚Freibrief‘ für die Aufführung von mit je 4 Wohnungen, 7 Siedlungshäuser, Schwarzbauten ausgestellt hatte, wurde 1 Ledigenheim, 2 Zweifamilienhäuser, ab Jänner 1941 die Werksiedlung St. 3 Vierfamilienhäuser. Der Grundbesitz Georgen um sechs Siedlungsdoppel- wurde erheblich erweitert. Außerdem häuser und ein zweites zweigeschossi- wurde das Enteignungsverfahren für das ges Wohnhaus für „Beamte“ und Wach- Bruchgelände Gusen und Kastenhof ein- mannschaften erweitert.92 Ab Mai 1941 geleitet. Die Betriebe Gusen und Kasten- bezogen dann auch führende Mitglie- hof wurden weiter großzügig erschlos- der des Kommandanturstabes des KL sen, um dem Produktionsprogramm Mauthausen/Gusen wie Lagerführer entsprechen zu können. Bei dem großen Ziereis oder Schutzhaftlagerführer Ge- Werksteinbedarf fallen erhebliche Men- org Bachmayr mit offizieller polizeilicher gen Kleinmaterial an, die auch hier (in Meldung Quartier in St. Georgen,93 wo die Präsenz hochrangiger SS-Angehöri- ger und der Einsatz von KZ-Häftlingen 91 Vgl. Peter Black. Ernst Kaltenbrunner – Vasall seit 1939 zum Alltagsbild gehörten. Himmlers: Eine SS-Karriere. Verlag Ferdinand Schöningh. Paderborn, 1991. S. 127, 160 ff. Os- Im März 1941 meldete Karl Mum- wald Pohl bat Kaltenbrunner z. B. 1941, sich menthey dem Arbeitsamt Linz den ge- gemeinsam mit Gauleiter Eigruber beim Gene- planten Neubau der Straßen und des ralbevollmächtigten für die Regelung der Bau- Entwässerungsnetzes für die Siedlung St. wirtschaft (GBBau) in Berlin dafür einzusetzen, dass die Vorhaben in Mauthausen in die (höhe- Georgen mit dem Verweis auf die oberste ren) Baudringlichkeitsstufen 0 oder 1 eingereiht Priorität sowohl von „Werkwohnungen werden. Dokumentationsarchiv des Österreichi- für Gefolgschaft und Kommandantur schen Widerstandes (DÖW), Nr. 11.171. des KL Mauthausen“ als auch der „Bau- 92 Schreiben des Reichsstatthalters in Oberdonau stofferzeugung für wirtschaftspolitisch vom 20. Jänner 1941 an das Arbeitsamt Linz/Do- nau. Gemeindearchiv St. Georgen/Gusen. vordringliche und wehrwirtschaftliche 93 Rudolf A. Haunschmied. „Zum Gedenken 1938– Bauvorhaben“ der Reichsstelle f. Steine 1945“. In: 300 Jahre erweitertes Marktrecht St. und Erden.94 Der DEST-Geschäftsbe- Georgen a. d. Gusen. Geschichtebuch. Marktge- richt für das Jahr 1940 schlüsselt dazu meinde St. Georgen an der Gusen. St. Georgen/ Gusen, 1989. S. 82 ff. auf: „Durch den Generalbauinspektor 94 Anzeige vom 5. März 1941 an das Arbeitsamt für die Reichshauptstadt wurde 1 Mil- Linz/Oberdonau. Gemeindearchiv St. Georgen/ lion RM zur Erweiterung der Produkti- Gusen.

175 Gusen) in einer Groß-Schotteranlage geszuversicht kommt hier die erklärte (= Steinbrecher) verarbeitet werden sol- Zielsetzung der SS zum Ausdruck, im len. Diese Anlage erhält einen eigenen Rahmen der deutschen „Ostexpansion“ Bahnschluss durch Abzweigung von der eine Schlüsselrolle einzunehmen. Nicht eigenen Bahnlinie des nun unmittelbar unerwähnt darf bleiben, dass 1941 im vor dem Steinbruchgelände zur Anlage KL Gusen selbst ein paralleles Lehrlings- gekommenen Konzentrationslagers Schulungsprogramm angelaufen war, (Gusen) …“.95 bei dem einige hundert 12- bis 16jährige Finanziert wurden die vor allem Häftlinge unterschiedlicher Herkunft (z. in St. Georgen und Gusen getätigten B. aus Weißrussland) zu Steinmetzen Investitionen aus Mitteln des Gene- ausgebildet wurden.101 So bereitete die ralbauinspektors für die Reichshaupt- SS die St. Georgener Lehrlinge in gro- stadt Berlin (GBI), Albert Speer. Für die ßem Stil beizeiten auf die „künftige Zu- DEST-Siedlung St. Georgen verbuchte sammenarbeit mit den rangniedrigeren die Firma 1941 unter „Zugänge für be- Kollegen“ vor. baute Grundstücke“ den Betrag von RM Als Voraussetzung für den großzü- 36.214,17. Die 1942 vollendete Siedlung gigen Weiterausausbau des neuen St. wurde im Anlagevermögen der DEST Georgener Ortsteils und die Schienen- mit einem Wert von RM 584.766,42 ak- verbindung zum KL Gusen hatte man tiviert.96

„Wohnheim“ für die Lehrlinge der 95 DEST-Geschäftsbericht 1940. BArch, NS 3/1346. KZ-Betriebe 96 Anlagevermögen am 31. Dezember 1943. BArch, NS 3/1231. Mit der Errichtung eines auch „Ju- 97 Teilungsplan vom 25. August 1942. TZ 61/44. gendwohnheim“ genannten Lehrlings- Diesbezüglich wurde das Grundstück Nr. 116 der 97 EZ 312 in der KG St. Georgen zugeschrieben. heims bekamen die DEST-Liegen- 98 Anlagevermögen zum 31. Dezember 1943. 98 schaften in St. Georgen ab Sommer BArch, NS 3/1231. 1942 neuen Zuwachs. Untergebracht 99 Vgl. dazu: Rudolf A. Haunschmied, Jan-Ruth waren dort etwa 150 Jugendliche aus Mills und Siegi Witzany-Durda. St. Georgen- dem gesamten Reichsgebiet, die in den Gusen-Mauthausen – Concentration Camp Mauthausen Reconsidered. S. 91–92 und Hel- Betrieben rund um das KZ Gusen z. B. zu fried Hinterleitner. Wenn wir den Krieg verlieren. Steinmetzen, Schlossern oder Kaufleu- Vom Steinmetzlehrling in Mauthausen-Gusen ten ausgebildet wurden. Die Lehrlinge zum Beteiligten der Mühlviertler Hasenjagd. mussten täglich entlang der sog. Reichs- Verlag Denkmayr. Linz, 2009. S. 61 ff. 100 schnellstraße singend zu ihren Arbeits- Vgl. z. B. Arbeitsbuch von Johann K. und Inter- 99 view mit Johann K. vom 31. Jänner 2014. stätten beim KZ marschieren. Von der 101 Vgl. Rudolf A. Haunschmied. Zur Geschichte DEST wurden nach Lehrabschluss nur des „Lagerteiles Gusen“ im ehemaligen KZ- sehr wenige übernommen. Die meisten Doppellager Mauthausen-Gusen. In: Überleben zog man zum Kriegsdienst ein – mit der durch Kunst – Zwangsarbeit im Konzentrations- lager Gusen für das Messerschmittwerk Regens- Zusage einer Art von Beamtenposten ir- burg. Kataloge und Schriften der Staatlichen Bi- gendwo in Russland, sobald der Krieg bliothek Regensburg, Band 7. Regensburg, 2012. gewonnen sei.100 Neben absoluter Sie- S. 117.

176 Das von Häftlingen des KZ Gusen regulierte Stück des Gusen-Flusses kurz vor der Zerstörung im Februar 2015. Quelle: Rudolf A. Haunschmied den Fluss Gusen zwischen der Eisen- reich der heutigen „Steinsiedlung“ in St. bahnlinie Linz-Budweis und der soge- Georgen „auf Kriegsdauer“ ein Grund- nannten Wimminger-Brücke im Som- stück von 6.903 m2 und richtete darauf mer 1941 reguliert.102 Das von einem sogenannte „Behelfsheime“ für Beschäf- Häftlingskommando des KL Gusen tigte ein. Nach eigener Angabe hatte die geschaffene Flussbett fiel Anfang 2015 Besitzerin weder Entschädigung noch leider einem Hochwasserschutzprojekt Pachtgeld erhalten. Da das Areal von zum Opfer. der SS durch Grundfesten und halb- fertige Bauten unbrauchbar gemacht

„Behelfsheime“ und Freizeit- einrichtungen für 102 Stanislaw Dobosiewicz gibt für das Kommando „Gusen-Regulierung“ eine Stärke von 150 Häft- SS-Gefolgschaftsmitglieder lingen an. Vgl. Stanislaw Dobosiewicz. Vernich- tungslager Gusen. Mauthausen-Studien. Schrif- Eine Siedlungsgenossenschaft der tenreihe der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, SS pachtete in weiterer Folge im Be- Band 5. Wien, 2007. S. 100 und 204.

177 Angehörige des SS-Wach-Sturmbannes Gusen am 22. Oktober 1940, angetreten zum Faustballspiel auf dem Sportplatz in St. Georgen. Im Hintergrund sind auch Uniformierte sowie der Bahndamm der Bahnlinie Linz- Budweis schwach zu erkennen. Quelle: Gedenkdienstkomitee Gusen, Sammlung Rudolf A. Haunschmied

worden war,103 blieb der Dame 1947 nur stücksfläche im Bereich der ehemaligen noch das Ansuchen um Verminderung Marbachmühle (Eingang Wienergra- der Grundsteuer. ben b. Mauthausen) um RM 10.000 an An Freizeiteinrichtungen für eige- die DEST veräußert; für die Firma un- nes Personal beanspruchte die SS in terzeichnete Karl Mummenthey erst- St. Georgen außer dem sogenannten mals gemeinsam mit Dipl.-Ing. Erduin Strandbad an der Gusen auch den nicht Schondorff, der seit 18. Jänner 1940 im weit davon entfernten Sportplatz – zur Handelsregister des Amtsgerichtes Ber- körperlichen Ertüchtigung der Angehö- rigen des Wachsturmbannes.

Grundstückskäufe u. a. für die DEST-Fahrersiedlung Wienergraben 103 Es handelte sich dabei um das Grundstück Nr. 178/2. Schreiben von Johanna S. vom 19. Juni Mit Oktober 1940 hatte Anton 1947 an das Gemeindeamt St. Georgen a. d. Gu- Poschacher weitere 18.578 m2 Grund- sen. Gemeindearchiv St. Georgen/Gusen.

178 Die sogenannte „Fahrersiedlung“ der DEST am Eingang zum Wienergraben sowie die Siedlung für die Ge- folgschaftsmitglieder des KL Mauthausen am 15. Mai 1945. Am unteren Bildrand ein Stück des Gusen- Flusses. Luftbildarchiv Dr. Carls lin als Prokurist eingetragen war.104 Flan- kierend erwarb die DEST im April 1941 auf der gegenüberliegenden (Langen- 104 Kaufvertrag vom 9. Oktober 1940 und beglau- bigte Abschrift aus dem Handelsregister des steiner) Talseite ein Waldstück im Aus- Amtsgerichtes Berlin B 53864. TZ 23/41. 2 105 maß von 3.936 m dazu, und binnen 105 Areal 599 der EZ 122 KG Langenstein. BArch, NS zweier Jahre wurde dort die sog. „Wohn- 3/1168/57.

179 siedlung Wienergraben“ – später „Fah- Standardpreis von RM 0,67 pro Quad- rersiedlung“ – samt Großgarage erbaut. ratmeter.110 Im Kaufvertrag garantierte Die „Fahrerhäuser“ III, IV und V waren man den Vorbesitzern ein Überque- bis 1943 fertiggestellt.106 rungsrecht entlang des sog. „Mayr- Auf dem Berghang vis-a-vis entstand weges“, der vom Maierhof (Mayrgut eine zweite Siedlung für SS-Gefolg- in Grubhof) zu einem durch die Bau- schaftsmitglieder des KL Mauthausen; ersleute damals noch bewirtschafteten darin eingebunden war ein villenartiges Grundstück führte. Man werde, hieß es, Landhaus für den Lagerkommandan- Sorge tragen, dass dieses Passier- und ten.107 (Dieses Gebiet wurde vom Autor Fahrtrecht auch durch das Deutsche noch nicht eingehender untersucht.) Reich „als künftigen Eigentümer der Par- zelle“ gewährt wird. Als Finanzier der Schleppbahn hatte die DEST also von Erweiterung der Steinbruchkapazitäten vornherein das Reich im Auge. Die Ab- in Gusen segnung des in St. Georgen geschlosse- nen Vertrages am 25. Februar 1942 durch Zur Eröffnung eines dritten Stein- SS-Hauptsturmführer Heinz Schwarz bruchs in Gusen pachtete die DEST im und E. Schondorff/Berlin und am 12. Frühjahr 1941 Grundstücke von Johann Mai 1942 durch das Anerbengericht und Theresia H., Langenstein Nr. 32 (Pier- Mauthausen unter Vorsitz von AGR Dr. bauer im Pirchhof). Zu jener Zeit hatte Englisch, geschah wie gewohnt unter Be- die DEST-Werkgruppe St. Georgen mit Otto Walther gerade einen neuen Leiter erhalten.108 Dieser urgierte am 1. Sep- tember 1941 bei der Hauptverwaltung 106 Anlagevermögen 1943. BArch, NS 3/1239/67. in Berlin zusätzliches Wachpersonal, da 107 Bis Oktober 1942 hatte Lagerkommandant Zier- ansonsten der – für den Einsatz übriger eis mit Familie im DEST-Verwaltungsgebäude in St. Georgen gewohnt. (Rudolf A. Haunschmied. Steinmetzhäftlinge unabdingbare – Bau Zum Gedenken. S. 82 ff). Er behielt aber auch der Gleisanlage zum „Pierbauerbruch“ nach der Übersiedlung seinen mit einer Art Jagd- und somit die Erfüllung der gegenüber haus ausgestatteten Schrebergarten in St. Geor- dem Wasserstraßenamt eingegangenen gen. Interview mit Wilhelm N. am 20. Jänner 109 2013. Ein weiteres Jagdhaus, bereits auf Luften- Lieferverpflichtungen „gefährdet“ sei. berger Gemeindegrund gelegen, hatte Ziereis in den Donau-Auen bei Abwinden. Interview mit Franz S. am 2. Februar 2013. Grundstückskäufe für die Schleppbahn 108 National Archives and Records Administration St. Georgen – Gusen (NARA), Washington, D.C., Microform Publica- tion M890/13/0991. Auch: DEST-Monatsbericht März 1941. BArch, NS 3/1346/122. Für dieses Projekt (Hauptzweck: die 109 Schreiben Werkleiter Walther an die Hauptver- tägliche Versorgung der beiden KZ-La- waltung vom 1. September 1941 betreffend die ger sowie der Abtransport der Granit- Abstellung von Bewachungsmannschaften. produktion) erwarb die DEST am 15. BArch NS 3/1344/308. Es handelte sich bei der sog. Pierbauerbahn um eine Schmalspurbahn April 1941 zunächst von den Bauersleu- mit 60 cm Spurweite. Mit ihr konnte auch der ten Franz und Anna P. aus Frankenberg sog. Kastenhofer-Oberbruch erreicht werden. Land im Ausmaß von ca. 6.500 m2 zum 110 Kaufvertrag vom 15. April 1941. TZ 42/44.

180 Die neue Einlage-Zahl „268“ für die „Schleppbahn“ des Deutschen Reiches im Grundbuch der KG Langenstein aus dem Jahr 1942. Enthalten sind aufgrund der Trassenlänge auch Areale der KG St. Georgen. Quelle: Grundbuch Mauthausen tonung der „Dringlichkeit“ und Kriegs- baute man einfach darauf los und stellte wichtigkeit des Vorhabens. Der endgül- die Grundeigner vor vollendete Tatsa- tige Vermessungsplan wurde am 3. Mai chen. Interessant im Zusammenhang 1943 vom Katasteramt Linz genehmigt111 mit einem dieser Kaufverträge ist das (also zu einem Zeitpunkt, da der Bahn- erstmalige Auftauchen der Bezeichnung bau selbst schon abgeschlossen war). „Deutsches Reich – Fiskus Waffen-SS“, Mit Grundparzelle Nr. 2176 gelangte vertreten durch den Reichsführer SS und aber nur ein Teil des von der DEST er- Chef der Deutschen Polizei im Reichs- worbenen Landes zur Abtretung an das ministerium des Inneren, Amtsgruppe Reich. Das weitaus größere Stück im W im Wirtschaftsverwaltungshauptamt Norden der Schleppbahntrasse verblieb (WVHA). im Eigentum des SS-Unternehmens. Der Erwerb für die Bahn benötig- 111 Nachtrag zur Vereinbarung. TZ 42/44. Vgl. dazu ter weiterer Grundstücke zog sich bis auch Überlassungsvertrag vom 9. Juni 1943. TZ 1943/44 hin. Für den Stil der SS typisch, 108/44.

181 Am 9. Juni 1943 sicherte sich das „Großdeutsches Reich – Fiskus WVHA von der Gemeinde St. Georgen Waffen-SS“ die Anrechte für den öffentlichen Weg, der die Schienenanlage im Bereich des Um dem lokalen Kompetenz- und „Übernahmebahnhofes“ querte,112 im Verwaltungswirrwarr formell entgegen- August 1943 die Eigentumsrechte für den zuwirken, wurde Ende April 1944 durch Kreuzungspunkt zwischen der Schlepp- den Chef des Rechtsamtes im WVHA, bahn und der „Reichsschnellstraße“ SS-Oberführer Dr. Salpeter, in den Ei- beim Koglberg. Beide Male zeichnete für gentumsblättern der Einlagezahlen 261, das Reich (wohl in Stellvertretung f. SS- 268, 147, 48, 176 der KG Langenstein, in Obergruppenführer Oswald Pohl) SS- der EZ 321 der KG St. Georgen und der Gruppenführer und Generalleutnant EZ 174 der KG Marbach einheitlich die der Waffen-SS Karl Hermann Frank.113 Änderungs-Bezeichnung „Großdeut- sches Reich (Fiskus Waffen-SS)“ ein- getragen. Vor Ort ließ sich das WVHA Als ein Musterbeispiel für das juri- dabei von dem seinerzeit in Mauthau- dische und administrative Chaos auch sen tätigen Notar und Anwalt Dr. Otto rund um das Schleppbahnprojekt steht Guem vertreten.114 der Vertragsentwurf des SS-Rechtsam- tes in Berlin betreffend die „Anschluss- Der Lager- und Verladeplatz an der bahnen“ St. Georgen-Oranienburg vom Donau Juni 1944. Das erhalten gebliebene Pa- pier – zu diesem Zeitpunkt hatte der Stab Zur verkehrs- und transporttechni- W des WVHA Karl Mummenthey den schen Perfektionierung des „KZ-Wirt- Abschluss von Verträgen mit der Reichs- schaftssystems“ hatte sich die DEST bahn gestattet – bezeugt schlagend die am 3. September 1941 von Anton Po- Verworrenheit der lokalen Rechtsver- schacher ein etwa 6.000 m2 großes Stück hältnisse und die Zustände innerhalb Ödland direkt am Ufer der Donau im des WVHA, das sowohl die Interessen Bereich der Gusen-Mündung als La- des Reiches als auch diejenigen der SS- ger- und Verladeplatz für Granitsteine eigenen DEST vertrat. gesichert. Der Pachtvertrag, abgeschlos- sen für den Zeitraum zwischen 1. Jänner 1942 und 21. Dezember 1951, sah einen (Bei den Arbeiten zum Schlepp- Pachtzins von jährlich RM 481,52 vor.115 bahnbau hatte die SS 1941 östlich des Zur Verbindung dieses Umschlagplat- sogenannten Koglberges ein bronzezeit- zes mit den Granitwerken in Gusen und liches Gräberfeld angeschnitten, dessen im Wienergraben entstand im Herbst Areale selbstverständlich sofort durch das SS-Ahnenerbe in Beschlag genom- men und bis Ende 1942 archäologisch 112 Überlassungsvertrag vom 9. Juni 1943. TZ 108/44. untersucht wurden. Ähnliches Augen- 113 Überlassungsvertrag vom 10. August 1943. TZ 113/44. merk widmete die SS auch der Ruine 114 Beschluss vom 26. April 1944. TZ 142/44. Spielberg, wo sie mit KZ-Häftlingen aus 115 Aufstellung der Kauf- und Pachtverträge. NS Gusen Grabungen durchführte). 3/1168/59. Es handelte sich um die Parzelle 779/4.

182 KZ-Häftlinge beim „Einscheiben“ (Verladen) von Granitsteinen auf der sogenannten Donaulände nahe der Mündung des Flusses Gusen. Quelle: Bundesministerium für Inneres, Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen

1941116 die sogenannte Donaubahn, eine den KZ-Komplex Mauthausen-Gusen Schmalspurbahn von 90 cm Spurweite. führte. Über diese Brücke mussten Häft- Mit zwei Dampflokomotiven117 wurde linge z. B. im Winter 1942/43 für das Pro- ab Sommer 1942 zuerst der Fahrbetrieb zum Wienergraben (KL Mauthausen) 116 Vgl. Schreiben Werkleiter Walther an DEST- aufgenommen, zum weiter entfernten Hauptverwaltung in Berlin vom 1. September KL Gusen im Laufe des Jahres 1943.118 1941. BArch, NS 3/1344. Walther beklagt neu- erlich einen Mangel an SS-Wachposten für die Dort befand sich auch die sog. Lokhalle verschiedenen Bauvorhaben der DEST. (Remise) mit einer Drehscheibe und Ga- 117 DEST-Monatsbericht August 1942. BArch, NS ragenraum für neun Loks.119 3/1347. 118 Im Anlagevermögen der DEST zum 31. Dezem- Anfang 1943 wurde am Ostrand ber 1943 wurde diese Donaubahn als Zugang im von Langenstein noch ein Donaubahn- Wert von RM 277.755, 41 ausgewiesen. BArch, Abzweiggleis errichtet, das beim Haus NS 3/1231/30. „Unterfellner“ auf einer einfachen 119 Vgl. Prinz, 450 ff. Bei den Trassierungsarbeiten für diese „Donaubahn“ stieß man am östlichen Stahlbrücke über den Gusen-Fluss zur Ortsende von Langenstein im Bereich der ehem. Donau-Au an der anderen Uferseite Bäckerei Hötzenecker im Februar 1943 auf ein mit separaten Schiffsanlegestellen für prähistorisches Skelett.

183 jekt Donauhafen in der Au geschlägertes im Gemeindeamt Mauthausen anbe- Holz transportieren.120 Anders als etwa raumt. Der Rang des Projekts ist einem im Fall der Schleppbahn nach St. Geor- Satz aus Groiss‘ Einladung ablesbar: gen wurde die Donaubahn durch die „Wenn bis zur Verhandlung eine schrift- DEST selbst und nicht durch das Reich liche Stellungnahme nicht eingetroffen errichtet.121 ist und ein Vertreter an derselben nicht teilnimmt, sehe ich Ihre Zustimmung als gegeben an.“123 Nicht nur deshalb muss Von Speer gestoppt: diese Besprechung ebenfalls als rein Das SS-Hafenprojekt in Langenstein formell bewertet werden; mit einzelnen Vorbereitungen (Grabungen, Rodungen Mit einem eigenen Donauhafen süd- etc.) hatte man nämlich auch hier längst lich der Ortschaft Langenstein plante die begonnen. Zentralbauleitung der Waffen-SS und Obwohl bei der Ortsverhandlung Polizei Mauthausen/Oberdonau auf noch Unklarheiten wegen des Stra- Befehl des Reichsführers SS im Winter ßenanschlusses herrschten, wurde das 1942/43 ein regelrechtes Megaprojekt. Vorhaben durch die Planungsbehörde Der Ausbau des Mündungsbereichs der des Reichsstatthalters für Oberdonau Gusen in die Donau auf einer Becken- mit Bescheid vom 8. Februar 1943 im länge von 500 Metern sollte die Be- und Eiltempo genehmigt. Lapidar heißt es Entladung von zehn Schiffen gleichzei- darin: „Die Einzelheiten der Planung tig erlauben, die beiden Kais, jeder 100 und Ausführung werden in direkter Meter breit, sollten über eine südlich Fühlungnahme mit den zuständigen an der Ortschaft Gusen-Dorf vorbei- Stellen festgelegt.“124 Dass man sich um führende Hafenbahn mit der gerade in das Einverständnis der Grundstückseig- Fertigstellung befindlichen Schlepp- ner zu diesem Zeitpunkt erst recht nicht bahn zum Bahnhof St. Georgen/Gusen mehr bemühte, versteht sich von selbst. verbunden werden. Vorgesehen waren Inwieweit der im Situationsplan vom 20. auch die hochwassersichere Ausführung Februar 1943 eingezeichnete „Freiraum des Hafens und des Bahndamms sowie für Hellinge“ (= Werftplätze zum Schiffs- die Verlegung der Gusen-Mündung in neubau) darauf schließen lässt, dass der ein neues Flussbett auf der Höhe der Ruine Spielberg, ferner die Anbindung des Hafens an die ehemalige Hauderer- Bezirksstraße. 120 Vgl. Prinz, 451 ff, und diverse Luftaufnahmen. Angesichts der „größten Dringlich- 121 Vgl. DEST-Geschäftsbericht 1943. BArch, NS keit“ des Gesamtvorhabens122 – das Kon- 3/1231 und NS 3/1239. In diesem Jahr veran- schlagte die DEST allein für die Donaubahn RM zept berücksichtigte für den Bedarfsfall 277.775,41. Extra ausgewiesen ist auch noch ein eine Verdoppelung des Hafenbeckens in Betrag über RM 44.159,62 für die sog. Lokhalle. westlicher Richtung auf 1000 m – wurde 122 Erläuterung zum Bauvorhaben Hafen Mauthau- durch den damaligen Stellvertreter des sen. Undatiert. OÖLA. 123 Einladung „Z/RO 9/4 – 1943, X d /I.G./F.“ vom 22. Landesplaners in Oberdonau Dipl.-Ing. Jänner 1943. OÖLA. Heinz Groiss schon für 4. Februar 1943 124 Genehmigungsbescheid vom 8. Februar 1943. eine hochkarätig besetzte Besprechung OÖLA.

184 Donauhafen auch als zukünftiger SS- Produktionsschwerpunkts von der Bau- Werftplatz zur Ansiedlung einer Pro- stoff- hin zur Rüstungsindustrie war.127 duktfertigung für die Marine gedacht Im August 1944 wurde durch SS- war, werden weiterführende Forschun- Untersturmführer Leinwather namens gen abzuklären haben. Bemerkenswert der Bauleitung der Waffen-SS und Po- ist auch, dass die Reichsführung SS in lizei Mauthausen/Oberdonau das Ha- Berlin damals durch SS-Sturmbann- fenbau-Kapitel mit folgendem Schrei­ führer Schmincke125 und die Abteilung ben an die Reichsforstverwaltung Grein Hafenbau der Zentralbauleitung (ZBL) schließlich auf unbestimmte Zeit ad durch Regierungsbaurat Josef Schmut- acta gelegt: „Laut Mitteilung des SS- terer vertreten war, der damals als Ha- Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes in fenbauleiter in der „Hafenbauleitung Berlin-Lichterfelde-West wird der Ha- Mauthausen“ fungierte. fenbau Langenstein bis zum Kriegsende Wider Erwarten kam für das Projekt zurückstellt und der Ausbau nach Frie- nur einen Monat später das kategorische densschluss weitergeführt. Die szt. für „Aus“, und das von höchster Stelle: nach die Anlage in Anspruch genommenen einem Lokalaugenschein Ende März Grundstücke (Waldparzellen) werden 1943 verfügte der Reichsminister für … unter Aufrechterhaltung der mit den Rüstung und Kriegsproduktion Albert Eigentümern geschlossenen Verträge Speer den sofortigen Stopp aller Arbei- diesen über Kriegsdauer zur Nutzung ten.126 Beim Kriegsverbrecherprozess in überlassen.“128 Nürnberg nahm Speer dazu vor dem In- ternationalen Militärgerichtshof am 19. Von dem Hafenprojekt war auch Juni 1946 wie folgt Stellung: „Ich erfuhr Anton Poschacher potenziell betroffen; ihm hatte die Enteignung von mehr als bei Betriebsbesichtigungen in Linz, dass 2 129 an der Donau, in der Nähe des Lagers 40.000 m Grundes gedroht. Mauthausen, eine große Hafenanlage und umfangreiche Bahnanlagen gebaut werde, um die Pflastersteine des Stein- bruchs Mauthausen an die Donau zu bringen. Dies war eine reine Friedensauf- 125 Es handelt sich hier mit sehr hoher Wahrschein- gabe, die ich auf keinen Fall gestatten lichkeit um SS-Sturmbannführer Dipl.-Ing. Ru- konnte … Ich meldete mich kurz vorher dolf Schmincke, der damals als Mitarbeiter von an, um mich an Ort und Stelle zu über- Dipl.-Ing. Dr. Hans Kammler dem Amt C III (Technische Fachgebiete) im WVHA vorstand. zeugen, ob diese Bauten Tatsachen sind, 126 Vgl. Rudolf A. Haunschmied. NS-Geschichte. und um deren Stilllegung zu verlangen, In: 400 Jahre Markt St. Georgen an der Gusen. als Einzelbeispiel, um für Ordnung auch Marktgemeinde St. Georgen an der Gusen. St. innerhalb der Wirtschaftsverwaltung Georgen/G., 2011. S. 113–115. 127 Vgl. auch Rudolf A. Haunschmied. Lagerteil Gu- der SS auf diesem Gebiet zu sorgen.“ sen, S. 120 ff. Es ist aus Sicht des Autors sehr wahr- 128 Kurzbrief der Bauleitung der Waffen-SS und Polizei, Mauthausen/Oberdonau an das Forst- scheinlich, dass Speers Besuch in Gusen amt der Reichsforstverwaltung Grein IV/10-Ing. ein Schlüsselereignis für die nun ein- Bu/M. vom 17. August 1944. OÖLA. setzende Umorientierung des WVHA- 129 Lindner, 57.

185 Pachtung/Requirierung von Grund­ in den letzten eineinhalb Kriegsjahren stücken für kriegswichtige Fertigungen ließen an eine ordnungsgemäße Errich- in Gusen und St. Georgen tung und Abwicklung von Pachtverträ- gen, Nutzungsverträgen oder gar an Zentren der ab ca. 1943 beschleunigt Grundankäufe durch die SS oder das in Angriff genommenen Rüstungsgüter- Reich kaum noch denken. In Berlin be- produktion waren in Gusen vor allem schäftigte man sich längst nur mehr mit die oberirdisch gelegenen Zweigwerke der Abwicklung der in früheren Jahren der Steyr-Daimler-Puch AG und der begonnenen Verfahren. Alles andere Messerschmitt GmbH Regensburg so- wurde zur Regelung für die Zeit „nach wie das Stollensystem „Kellerbau“, in St. dem Endsieg“ aufgeschoben. So hatten Georgen die unterirdische Großbunker- die Planungsstäbe alle Freiheiten, und anlage „B8 Bergkristall“. man holte sich an Land, was man im Was die Übertage-Produktion von „Totalen Krieg“ eben als „kriegswichtig“ Messerschmitt betrifft, hatte man be- brauchte. reits in Flossenbürg Erfahrungen beim Daher werden für diese Phase der Häftlingseinsatz für die Flugzeugteiler- Landnahme spezifische Grundstücks- zeugung gesammelt und diesen neuen nummern nicht mehr angegeben, son- Geschäftszweig, jetzt als Partner der dern nur mehr jene Bereiche angespro- Messerschmitt GmbH Regensburg, in ei- chen, die damals von SS und Reich noch nem noch professionelleren Ansatz nach zusätzlich beansprucht worden sind. Er- Gusen ausgedehnt.130 An die Grundbe- schwerend kommt vielfach hinzu, dass sitzer war die DEST dabei schriftlich und die unterirdische Nutzung weiter Areale lapidar mit dem Wortlaut herangetreten: gängige Verfahren des Grundbuches „Für kriegswichtige Fertigungen sind wir oder des Baurechtes aushebelte. So ist es genötigt, die Ihnen gehörenden Parzel- 131 len zu pachten.“ 130 Vgl. Rudolf A. Haunschmied. Lagerteil Gusen, Aufzeichnungen zu DEST-Pacht- S. 121 ff sowie weitere Beiträge in: Überleben durch Kunst – Zwangsarbeit im Konzentrations- zinsleistungen sind für 1944/45 nicht er- lager Gusen für das Messerschmittwerk Regens- halten; auszugehen ist davon, dass Zah- burg. lungen in dieser turbulenten Zeit meist 131 Schreiben der DEST vom 9. Dezember 1943 an unterblieben. (Die Mehrheit der Grund- Anna H. in Gusen Nr. 42 betreffend die Pachtung eigner sah sich nach dem Krieg gezwun- der Grundstücke 1527/1 und 1527/6 (EZ 229). OÖLA, Vermögenskontrolle ZVM, Schachtel 9, gen, für die durch die DEST mannigfach ZVM/VK-2362/1-1946. Im Bereich südlich dieser entwerteten, vordem landwirtschaftlich Grundstücke erstreckte sich die Messerschmitt- genutzten Flächen Entschädigungsansu- Halle III, wo auf einer Art Fließband Tragflächen chen zu stellen.) gefertigt wurden. Vgl. Dusan Stefancic. KL Gu- sen I & II and the production of Messerschmitt Hatte das Anlagevermögen der aircraft Me 109 and Me 262. In: Überleben durch DEST für 1943 erstmals auch „Gebäude Kunst. S. 142 ff. auf fremden Grundstücken“ ausgewie- 132 Es waren dies: Ein Werkstättenbau im Wiener- 132 graben, die Holzsteinmetzhalle I Wienergra- sen, änderte sich die Situation spä- ben, das Jugendwohnheim St. Georgen und testens 1944 drastisch. Eigendynamik ein Bruchmeister-Wohnhaus. Anlagevermögen und Größenordnung der Bauvorhaben 1943. BArch, NS 3/1239/68.

186 auch bezeichnend, dass bei den beiden der Abschnitt „Kellerbau IV“ nur noch anschließend im Überblick behandelten „angegraben“. Welch hohen Stellenwert Stollensystemen die Eigentumsfrage man auch diesem frühen Stollensystem lange Zeit, ja bis zur Jahrtausendwende, beimaß, zeigt u. a. die Tatsache, dass sich unklar war. (Erst durch Anlage A.1.2 zu der Reichsführer SS die Entscheidung Bundesgesetzblatt I Nr. 141/2000 vom über die Auswahl der Institutionen oder 29. Dezember 2000 trat die Republik Firmen, denen Stollenfläche zugewiesen Österreich bei diesen Grubenbauten die werden durfte (darunter die Messer­ reguläre Rechtsnachfolge an.)133 schmitt GmbH Regensburg und die Steyr-Daimler-Puch AG.), persönlich vorbehielt.136

Das Stollensystem „Kellerbau“/Gusen Die Großbunkeranlage „Bergkristall“ Wenige Monate nach Einstellung in St. Georgen des Hafenprojektes Langenstein, im Möglicherweise stand man bei der Sommer 1943, wurden in Gusen Pla- Errichtung des Stollensystems „Keller- nungen für ein erstes Stollensystem in bau“ schon unter dem Konkurrenzdruck den Abhängen des Frankenberges beim dieses noch gigantischeren Bauvorha- ehemaligen Meierhaus (= Mayrgut bens, das durch ein bis heute nicht nä- im Grubhof; umgangssprachlich auch her bekanntes Produktionskonsortium „Moarhaus“) aufgenommen und ab etwa zeitgleich für die „Messerschmitt etwa Herbst 1943 realisiert.134 Dieses als Werke“ in Angriff genommen wurde. „Kellerbau“ angelegte System mit rund 1959 hielt z. B. die Berghauptmann- 12.000 m2 bombensicherer Fertigungsflä- schaft Salzburg dazu niederschriftlich che für diverse Rüstungsgüter zeichnete fest: „Im Jahre 1943 haben die ehem. sich noch durch eine gemischte bauliche Messerschmittwerke begonnen, in den Ausführung bestimmter Tunnelstrecken ziemlich standfesten [sic] Linzer-Sanden aus. Neben dem klassischen Betonaus- einen untertägigen Verlagerungsbetrieb bau finden sich Abschnitte mit Tunnel- für Flugzeugerzeugung einzurichten, gewölben aus Ziegeln oder Granitstein. und zwar in der KG St. Georgen an der Offenbar hatte die SS zunächst versucht, Gusen südlich der Linzer-Bundesstraße den Mangel an streng reglementiertem Beton durch die Mitverwendung von der DEST selbst produzierten Bauma- terialien auszugleichen.135 Dies dürfte 133 Vgl. Rudolf A. Haunschmied, u. a., Reconside- sich aber nicht bewährt haben, und so red. S. 257. 134 Rudolf A. Haunschmied, u. a., Reconsidered, wurde das Gros der letzten Tunnelserie S. 127. wieder durchgehend in Betonbauweise 135 Ibid., S. 134 ff. ausgeführt. 136 Vgl. Bertrand Perz. „Wir haben in der Nähe von Von den ursprünglich vier Planungs- Linz unter Benutzung von KZ-Männern ein Vor- haben.“ – Zur Genese des Projektes Bergkristall. segmenten wurde der Abschnitt „Keller- In: Jahrbuch der KZ-Gedenkstätte Mauthausen bau I und II“ voll realisiert, der „Keller- 2009. Bundesministerium für Inneres. Wien, bau III“ lediglich zum größeren Teil und 2010. S. 58–59.

187 Lage und Ausdehnung des Stollensystems „Kellerbau“ in den Abhängen des Frankenberges beim ehemaligen Meierhaus, Gusen. Quelle: National Archives, Washington

Nr. 123.“137 Das besagt, dass dieses ge- fach in Erscheinung getretene spätere waltige Verlagerungsprojekt parallel zur Waffen-SS-General und Chef der NS- Einrichtung des oberirdischen Messer- Geheimwaffenproduktion Dipl.-Ing. schmitt-Zweigwerks Gusen [gefertigt Dr. Hans Kammler (neugeschaffene wurden dort v. a. Bauelemente für die Amtsgruppe C im SS-Wirtschaftsver- Jagdmaschine Me 109] wohl in der zwei- waltungshauptamt) damals mit im Spiel ten Jahreshälfte 1943 angelaufen ist. war, wird durch vertiefende Forschun- Der älteste überlieferte Orientie- gen noch zu klären sein. rungsplan zum Stollenbauvorhaben mit Fakt ist laut dem Wiener Stollenbau- der Tarnbezeichnung „Bergkristall“ geht fachmann Dipl.-Ing. Karl Fiebinger, dass höchstwahrscheinlich auf ein Luftwaf- die SS die Baustelle offiziell erst Anfang fenkommando zurück, das bereits im August 1942 vor Ort aktiv gewesen war 137 Niederschrift der Berghauptmannschaft Salz- und in irgendeiner Form mit dem Ma- burg Zl. 790/59 vom 11. März 1959. Heimatverein St. Georgen. Der Autor dankt Franz Walzer für gistrat der Gauhauptstadt Linz (AB. 3) die Zurverfügungstellung dieses Dokuments. 138 kooperierte. In welchem Umfang der 138 Vgl. Rudolf A. Haunschmied, u. a., Reconside- schon beim Schleppbahnbau mehr- red. S. 127 ff.

188 Ein früher Orientierungsplan des Stollensystems „Bergkristall“ in St. Georgen/Gusen vom 23. August 1942. Die Systematik der Stollen ist bereits an diesem Vorprojekt voll ersichtlich. Man beachte die eingezeichnete Nahtstelle „Anbau für Panzer Werk“ in der rechten oberen Bildecke. Quelle: Sammlung Rudolf A. Haunschmied

April 1944 von der Luftwaffe übernom- Von einer geregelten Landnahme men hatte, etwa zu jenem Zeitpunkt, da kann zu diesem Zeitpunkt im Raum St. Kammler zum Leiter des sog. „Jägersta- Georgen-Gusen-Mauthausen wie ge- bes“ avancierte. Man konnte also jeden- sagt längst nicht mehr gesprochen wer- falls schon auf Vorarbeiten aufsetzen.139 den. Sehr gut illustriert wird die Vorge- (Angemerkt sei, dass die SS im Zu- hensweise des eigens für „Bergkristall“ sammenhang mit diesem Projekt Anfang eingerichteten SS-Führungsstabs durch 1944 nahe der Mühlviertler Ortschaft einen (hier sinngemäß wiedergegebe- Niederthal, KG Klendorf, ein kleine- nen) Chronikeintrag des Gendarme- res Stück Land in Beschlag genommen riepostenkommandos St. Georgen aus hatte, um dort auf persönliche Anord- der unmittelbaren Nachkriegszeit: „Das nung Hitlers in kleineren von Häftlin- Messerschmittwerk war … später unter gen des KL Gusen gegrabenen Stollen Sprengversuche zur Prüfung des Stabi- 139 Vgl. Rudolf A. Haunschmied, NS-Geschichte, litätsgrads der unter Kammler in Linz S. 121. und Gusen gebauten Stollensysteme zu 140 Rudolf A. Haunschmied, u. a., Reconsidered. testen.)140 S. 147 ff.

189 Ein Schlossereibetrieb im streng geheimen Stollensystem „Bergkristall“ in St. Georgen, fotografiert von den amerikanischen Befreiern am 7. Juli 1945. Quelle: Dennis Mills, Airforce Historical Research Agency dem [weiteren] Decknamen ‚Deutsche Die verschiedenen Baufirmen unter Wohn- und Siedlungsbauten für Bom- Leitung des SS-Führungsstabes gin- bengeschädigte‘ gekennzeichnet. Hier- gen soweit, dass sie den Besitzern den bei wurde eine große Tafel vor dem Werk Grund verbauten, ohne diese überhaupt aufgestellt (bei den sog. Gries äckern) … zu befragen. Entschädigt wurde nur teil- Nach einem halben Jahr Bauarbeit wur- weise. Der eine Besitzer bekam nur ei- den bereits die ersten Flugzeug rümpfe nen Flurschaden abgegolten, der andere erzeugt. Die Bewohner hatten durch eine Pachtmiete und der Dritte, der sich diese Bautätigkeit … enormen Scha- nicht weiter kümmerte, gar nichts … den an Grund und Boden erlitten. Viele Natürlich wusste die Bewohnerschaft Bauern mussten ihren Viehstand infolge des sonst so friedlichen Ortes, was sie an Futtermangels erheblich reduzieren. Da- Fliegerangriffen zu erwarten hatte, und durch und durch die hohe Anzahl zu- diese blieben leider nicht aus. gezogener ausländischer Arbeitskräfte Das Werk selbst war ja unterirdisch geriet die Ernährungslage der einhei- und daher schwer zu treffen, dafür wur- mischen Bevölkerung in große Gefahr. den aber Wohnhäuser zerstört und be-

190 sonders großer Flurschaden angerich- KG Luftenberg mehrere Parzellen für tet.“141 die sogenannte „Kippe“, einen riesi- Bei Kriegsende zählte „Bergkristall“ gen Berg aus jenem Sandmaterial, das mit seinen fast 50.000 m2 projektierter beim Stollenvortrieb ständig abfiel. Die Produktionsfläche zu einer der größten Kippe hatte eine Grundfläche von etwa und modernsten unterirdischen Flug- 35.000 m2, war bis zu 15 m hoch und zeugfabriken Hitlerdeutschlands. Ab über eine eigene Feldbahn mit der Bau- März 1945 wurden dort pro Monat 450 stelle in St. Georgen verbunden, wobei voll ausgestattete Rümpfe für das Dü- die Loren von den KZ-Häftlingen im senjagdflugzeug Messerschmitt Me 262 Mannschaftszug mit Muskelkraft (ohne bombensicher auf einer Art Fließband in Lokomotive!) bewegt werden mussten. 30 Fertigungstakten erzeugt – unter al- Unmittelbar an der Donau wur- lerstrengster Geheimhaltung und furcht- den bei Abwinden, „natürlich“ eben- baren, für viele KZ-Häftlinge tödlichen falls ohne Befragen der Besitzer, Ufer- Arbeitsbedingungen.142 grundstücke im Ausmaß von mehr als 20.000 m2 in Beschlag genommen, um dort unvorstellbare Mengen an Schotter Konzentrationslager KL Gusen II zu deponieren, die man in St. Georgen zur Herstellung von zehntausenden Ku- Ähnlich rigid ging man in Gusen bikmetern Beton benötigte. Der Schot- Anfang 1944 schon beim Bau eines wei- ter wurde mit Baggerschiffen an Ort und teren Konzentrationslagers zur Unter- Stelle direkt aus dem Strom geholt oder bringung der zusätzlich für „Bergkristall“ auf dem Wasserweg zu einer ca. 500 m benötigten Häftlinge vor. Dieses als KL langen und 40 m breiten Halde gebracht. Gusen II in die Geschichte eingegangene Für den Transport zu den Betonmischern primitive KZ für etwa 16.000 Insassen in St. Georgen schuf man 1944 noch eine wurde von der SS offiziell als „Arbeitsla- zweite Schmalspurbahn. ger der Waffen-SS“ bezeichnet, obwohl Ein im Auwald auf Höhe des heu- es zu den schrecklichsten „Nebenlagern“ tigen Kraftwerkes Abwinden-Asten des ursprünglichen KZ-Doppellagersys- erhalten gebliebener kleinerer Luft- tems Mauthausen/Gusen gehörte. schutzunterstand erinnert an die Zweck- Da die Zeit drängte, hatte man für widmung dieses Geländes durch die SS Gusen II kurzerhand ein 1943 mit vier Baracken eingerichtetes SS-Truppenbe- kleidungsdepot ca. 150 m westlich des ursprünglichen KL Gusen I sehr primitiv 141 Bericht des Gendarmeriepostenkommandos St. adaptiert und dann erweitert.143 Georgen a. d. Gusen vom 23. April 1946 an die Sicherheitsdirektion in Linz-Urfahr. In: Unveröf- fentlichte Manuskripte für das von der Bundesre- Ergänzende Infrastruktur um gierung herausgegebene Rot/weiß/rot Buch 1946. „Bergkristall“ Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW), Nr. 8359. 142 Rudolf A. Haunschmied, u. a., Reconsidered. Das von der SS für das Großpro- S. 173. jekt „Bergkristall“ im Umkreis mit- 143 Vgl. Rudolf A. Haunschmied. Lagerteil Gusen, beanspruchte Areal umfasste in der S. 125.

191 Das Konzentrationslager Gusen II am 16. April 1945. In der Bildmitte einer der Schleppbahn-Züge, die täg- lich Häftlinge aus diesem primitiven Lagerprovisorium zur Schwerstarbeit nach St. Georgen brachten. Luftbildarchiv Dr. Carls bzw. das Großdeutsche Reich während standen Wohnbaracken samt Großkü- des 2. Weltkriegs. che und einer Art Lazarett, in Nähe des (Anmerkung: In den letzten Kriegs- Ortszentrums St. Georgen ein Badehaus monaten lagen an der Anlegestelle bei der SS für Dienstverpflichtete sowie das Abwinden Donauschiffe vor Anker, mit Büro der als Generalunternehmer für die Einrichtungen, die möglicherweise der Koordination der Großbaustelle „Berg- Massentötung jüdischer KZ-Häftlinge kristall“ verantwortlichen Wiener Firma durch Giftgas dienten.)144 Karl Fiebinger. Zur Einquartierung für die Stollen- bauten in St. Georgen dienstverpflich- Ziegelwerk Lungitz, Häftlingsbäckerei teter Facharbeiter wurden 1944 beim und das KL Gusen III Selnerbach, teils bereits KG Luftenberg, Nicht vergessen werden darf, dass sowie im vorderen Bereich des soge- die SS das Ziegelwerk der Familie Ham- nannten Weingrabens, KG St. Georgen, unter dem Titel „Werksiedlung Esche“ 144 Vgl. Karl Littner. Life Hanging on a Spider ca. 100 kleine 4-Mann-Unterkunftsba- Web. From Auschwitz-Zasole to Gusen II. Nor- derstedt, 2011. S. 320 f. racken gut getarnt an den Waldrändern 145 Vgl. Rudolf A. Haunschmied. NS-Geschichte. 145 errichtet. Im Bahnhofsbereich St. S. 125. Georgen/Gusen, KG Luftenberg,146 ent- 146 Ibid.

192 mer in Lungitz schon ab 1941 fast ex- Franz Ziereis, als passionierter Jäger das klusiv beansprucht hatte, um dort mit wohl prominenteste Mitglied war. KZ-Häftlingen, die täglich aus dem KL Das knapp 7.000 m2 große Anlagen­ Gusen anmarschieren mussten, auf ein- areal, am 4. November 1941 durch den gezäuntem, bewachtem Areal Ziegel- Linzer Zivilingenieur Ernst Adam aus- steine für den Eigenbedarf und andere gemessen und am 26. März 1942 vom Großbaustellen des Reiches in Linz zu Katasteramt Linz bestätigt, war im Mai erzeugen. Mit Einstellung der Produk- tion Anfang 1943 wurden die Werk- hallen als Materiallager für den damals 147 Leo Reichl. Die Geschichte des Ziegelwerkes aufgebauten SS-Industriepark in Gusen Hammer in Lungitz. In: Katsdorfer Heimatblät- benutzt. ter, Folge 8. Heimatverein Katsdorf und Umge- bung. Lungitz, 1998. S. 12 ff. Gleichfalls 1943 ging man in Lungitz 148 Die 1941 gegründete Deutsche Lebensmittel auf Grundstücken südlich des Bahnho- GmbH (DLG) war, ähnlich wie die DEST, ein fes an den Bau einer sog. Häftlingsbä- Unternehmen der SS, das durch das Amt W III ckerei147 unter Führung der Deutschen (Oberführer Karl Möckel) im SS-Wirtschafts- Lebensmittel GmbH (DLG).148 Die In- verwaltungs-Hauptamt geführt wurde. Die DLG unterhielt bereits Bäckereibetriebe in Da- betriebnahme erfolgte aber erst gegen chau, Oranienburg und Auschwitz. Vor dem Ende 1944. Direkt daneben wurde ein Einstieg in das Projekt Häftlingsbäckerei „beim eher kleines Häftlingslager für bis zu 274 KZ Mauthausen“ hatte sie 1944 auch eine Mühle Insassen errichtet, das heute als KL Gu- bei Seltschan/Böhmen im Bereich des SS-Trup- 149 penübungsplatzes Beneschau übernommen. sen III bekannt ist. Vgl. Hermann Kaienburg. Die Wirtschaft der SS. Metropol Verlag. Berlin, 2003. S. 978 ff. Der Betrieb in Seltschan, in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Pachtsteinbrüche des DEST-Werkes Sonderfall Schießanlage Beneschau gelegen, wurde seit 1943 durch die DEST-Werkgruppenleitung St. Georgen mit- verwaltet. Ein Zusammenhang zwischen dieser Die Schießanlage in St. Georgen Mühle und der Häftlingsbäckerei in Lungitz wird stellt in der Landnahme der Schutzstaffel durch künftige Forschungsbemühungen noch zu einen Sonderfall dar. Für Trainingszwe- klären sein. cke der Gefolgschaftsmitglieder durch 149 Vgl. Bertrand Perz. Gusen III. In: Wolfgang Benz, KZ-Häftlinge installiert, war sie am 19. Barbara Distel (Hg.). Der Ort des Terrors. Ge- schichte der nationalsozialistischen Konzentra- Juli 1942 durch den damaligen Höheren tionslager, Band 4. C.H. Beck. München, 2006. SS- und Polizeiführer in Wien Dr. Ernst S. 380 ff. [Kaum bekannt ist, dass die Konzentra- Kaltenbrunner150 festlich eröffnet wor- tionslager Gusen I, II und III zusammen eine hö- den. Dennoch tritt uns in den Urkun- here Opferzahl hatten als das KZ Mauthausen.] 150 den zur Bestandsgeschichte einzig der Vgl. Haunschmied u. a., Reconsidered. S. 86. 151 Z.B. Einreichplan für die „Erbauung einer Schieß- „Schützenverein St. Georgen a. d. Gu- halle des Schützenvereines St. Georgen a. d. sen“ entgegen.151 Das Verhältnis dieses Gusen auf Parcelle Nr. 587“ vom 1. Juli 1940. Der Vereins zu den SS-Totenkopfsturmban- Autor dankt Elke Larndorfer für die Zurverfü- nen in Mauthausen und Gusen mögen gungstellung dieses Planes. Der damalige Bür- germeister von St. Georgen, Wiesmayr, wird tiefergehende Forschungen abzuklären darauf als Bauherr und Schützenmeister ausge- haben. Fest steht bis jetzt u. a., dass der wiesen. Kommandant des KL Mauthausen, 152 Kaufvertrag vom 5. Mai 1942. TZ 73/46.

193 Kompanien des SS-Wach-Sturmbannes Gusen mit drei Hauptsturmführern auf dem Rückmarsch von der Schießanlage St. Georgen in die Kaserne beim KZ Gusen. Ca. 1942. Quelle: Gedenkdienstkomitee Gusen, Sammlung Rudolf A. Haunschmied

1942 von vier verschiedenen Besitzern keit untersagt ist. Es wurde die Auflö- erworben und der neuen Einlagezahl sung aller Organisationen, Formationen 323 in der KG St. Georgen nebst einem und Vereinigungen von der Alliierten Fahrtrecht einverleibt worden.152 Bald Kommission gefordert, die geeignet wä- nach Kriegsende wurde der Verein mit ren, die militärische Ausbildung zu för- Bescheid der Zivilverwaltung Mühl- dern und zu entwickeln. Dies trifft bei viertel (ZVM) für aufgelöst erklärt, sein dem hiermit aufgelösten Verein zu.“154 Vermögen (darunter die Schießanlage Die Schießanlage wurde dann von selbst) der Republik Österreich über- Polizei bzw. Gendarmerie für eigene tragen.153 Den Bescheid begründete der Zwecke benutzt, bis die Finanzprokura- Sicherheitsdirektor für das Mühlviertel tur am 24. August 1954 den Dingen eine damals wie folgt: „Die Alliierte Kommis- neue Wendung gab: die Behörde stellte sion für Österreich hat angeordnet, dass fest, dass der Auflösungsbescheid der sämtliche Organisationen militärischer Natur oder diesen ähnliche Organisatio- 153 Bescheid Zahl 3956 vom 15. Juli 1946 betreffend nen sofort aufzulösen seien und jede Art „Auflösung des Vereins“. TZ 15/48. der Propaganda und militärischen Tätig- 154 Ibid.

194 Sicherheitsdirektion für das Mühlvier- Reste des ehem. Lagerteiles Gusen ein. tel „mangels Gewährung eines Partei- Nicht einmal die massiven Wachtürme engehörs vor Bescheid-Erstellung und aus Granit, mit jenen des Lagers bei ordnungsgemäßer Zustellung des Auf- Mauthausen vergleichbar, hielten dem lösungsbescheides“ niemals in Rechts- damaligen Zeitgeist stand. kraft erwachsen, die Einverleibung … Im Sinne der sowjetischen Gedenk- in das Eigentum der Republik Öster- stättenpolitik für den ehem. Lagerteil reich zu Unrecht erfolgt und die Liegen- Mauthausen wurde aber schließlich auf schaft nach wie vor Eigentum des Ver- Basis eines Grundbeschlusses der Fi- eins (‚Schützenverein St. Georgen‘) sei. nanzprokuratur vom September 1957 Durch einen Erlass des Finanzministeri- für die Liegenschaften der EZ 94, 104 ums ermächtigt, erklärte sich die Finanz- und 107 in der KG Marbach, der EZ prokuratur in der Folge namens der Re- 121 und 192 in der KG Langenstein und publik einverstanden, dem unterdessen der EZ 208 in der KG Mauthausen das auf „Schützengesellschaft St. Georgen Eigentumsrecht für die Republik Öster- a. d. Gusen“ umbenannten Verein die reich bewilligt.158 [Als erster Schritt zu Eigentumsrechte an den betreffenden einer mittlerweile kontinuierlich und in Grundstücken und Bauflächen wieder steigendem Maß ganzheitlich gepflegten einzuverleiben.155 Gedenk- bzw. Erinnerungskultur stützte sich der Beschluss auf Artikel 22, Zif- fer 11 des Staatsvertrages vom 15. Mai ‚Übernahme‘ von Liegenschaften durch 1955, BGBl. Nr. 152/1955 in Verbindung die Republik Österreich mit § 11 des 1. Staatsvertragsdurchfüh- rungsgesetzes, BGBl. Nr. 165/56.] Während der Mauthausener Ab- schnitt der Region St. Georgen-Gusen- Mauthausen von den Sowjets bereits im Juni 1947 zu einer Gedenkzone erklärt 156 worden war, wurden die Objekte und 155 Aufsandungserklärung der Finanzprokuratur Liegenschaften in St. Georgen und Gu- vom 24. August 1954 und Bestätigung der Si- sen als vormaliges deutsches Reichsei- cherheitsdirektion für das Mühlviertel vom 25. gentum (Fiskus Waffen-SS) durch die Juli 1955. TZ 0804/55. 156 Bertrand Perz. Die KZ-Gedenkstätte Mauthau- sowjetstaatliche USIA bis 1955 weiterbe- sen – 1945 bis zur Gegenwart. Studienverlag. wirtschaftet, bis sie gem. Artikel 22 des Innsbruck, 2006. S. 70 ff. Staatsvertrages betreffend die Wider- 157 So erwarb z.B. die Gemeinde Langenstein noch herstellung eines unabhängigen und de- am 15. Februar 1965 von der Republik die Par- mokratischen Österreich im selben Jahr zellen 1628, 1607/2 und 1609 der EZ 261 KG Lan- genstein (ehem. Konzentrationslager Gusen) im ebenfalls an die Republik übergingen. Ausmaß von 13.628 m2 zum Preis von 109.024 Diese Objekte und Areale wurden dann Schilling für die Errichtung eines Kindergartens staatlicherseits z. T. abverkauft157 bzw. mit öffentlichem Spielplatz. Für das ehem. Wach- an Ing. Anton Poschacher im Vergleichs- haus (Jourhaus) auf Parzelle 1609 wurde ein Pau- schalbetrag von 191.000 Schilling festgesetzt. weg rückgestellt. Niemand in Österreich 158 Grundbeschluss der Finanzprokuratur Zl. 58.097- setzte sich Mitte der 1950er-Jahre für 2/57 (ohne Datum, jedoch am 26. September 1957 die geschützte Erhaltung der baulichen beim Bezirksgericht Mauthausen eingelangt).

195 Nachwort rende Personen und Organisations- einheiten von Reich oder SS möglichst Obwohl diese Abhandlung wie ein- genau zu erfassen, um anhand der un- gangs betont keinen Anspruch auf Voll- zähligen Primärquellen Fakten zur Ent- ständigkeit erhebt, möge sie v. a. in der wicklungsgeschichte dieser Objekte, Lage sein, einen allgemeinen Überblick Personen und Institutionen für ausste- zur seinerzeitigen Landnahme der SS in hende Forschungsprojekte nutzbar zu der heutigen Bewusstseinsregion Maut- machen. hausen-Gusen-St. Georgen zu vermit- Die Quellen zum Thema zeigen auf, teln. Sie soll den regionalen Ansatz zum bis zu welcher Detailebene sich höchste Verstehen des ehem. KZ-Komplexes St. Beamte und Offiziere aus Berlin damals Georgen-Gusen-Mauthausen fördern in lokale Vorgänge und Entscheidun- und eine dem aktuellen Forschungs- gen eingemengt haben und wie sehr stand entsprechende, über die Grenzen sich der Handlungsspielraum regiona- des Wienergrabens hinaus reichen- ler Lagerkommandanten oder lokaler dende gesamtheitliche Sicht auf die KZ- Schutzhaftlagerführer in baulichen oder Gedenkstätte Mauthausen und die nun betrieblichen Angelegenheiten gegen seit 2015 öffentlich zugängliche unterir- Null reduzierte. Daher ist es höchst an dische KZ-Gedenkstätte „Bergkristall“ in der Zeit, das Gesamtthema nicht nur aus St. Georgen unterstützen. der Perspektive der ehemaligen Amts- Insbesondere galt es klarzustellen, gruppe D im WVHA aufzuarbeiten, dass der von der Geschichtswissenschaft sondern zugleich unter entsprechender bis heute weitgehend verfolgte Ansatz, Berücksichtigung der ehem. Amtsgrup- bei der Erforschung der Geschichte des pen A, B, C und vor allem W. ehem. KZ-Komplexes Mauthausen- Die Quellen zum ehemaligen Lager- Gusen allein vom ehem. „Hauptlager“ teil Gusen verdeutlichen nicht zuletzt bei Mauthausen auszugehen, falsch ist, das kaufmännische Raffinement und die denn es ist nicht korrekt, nur von einem Janusköpfigkeit des langjährigen Chefs sogenannten „Hauptlager“ zu sprechen des WVHA, wenn es darum ging, den und den essenziellen Lagerteil Gusen Aufbau des SS-Wirtschaftsimperiums sowie die Infrastrukturelemente in St. neben der gnadenlosen Ausbeutung Georgen einfach unter „Nebenlagern“ hunderttausender Häftlinge aus Mit- abzuhandeln. Wie diese Arbeit darlegt, teln der öffentlichen Hand sowie durch erfolgte der Aufbau des Komplexes ja Enteignung, Umsiedlung, nicht erfüllte nicht vom sog. „Hauptlager“ bei Maut- Pachtverträge oder durch die gewalt- hausen aus, sondern nach übergeordne- same Inanspruchnahme fremden Ei- ten Planungsprämissen der SS-Generäle gentums in Regionen wie St. Georgen-­ und Repräsentanten der DEST in Berlin, Gusen-Mauthausen als Master-Mind zu denen Jahre hindurch auch Beamte in finanzieren. So kann die oft verschwom- Linz und Wien mehr oder weniger willig mene Vermögensgrenze zwischen dem zugearbeitet haben. ehemaligen Reich und der NSDAP- Ganz bewusst hat der Autor u. a. Unterorganisation Schutzstaffel kaum versucht, betroffene Grundstücke, agie- anderswo besser studiert werden als am

196 Die zeitliche Abfolge der Landnahme von wesentlichen Arealen durch die Schutzstaffel im ehem. Konzentrati- onslagerkomplex St. Georgen-Gusen-Mauthausen durch Kauf, Pacht oder Requirierung. Nicht im Planaus- schnitt enthalten sind: Die Werksiedlung Esche, das ehem. KL Gusen III, die Versuchsstollen in Niederthal und einzelne Grundstücke im Umfeld des Schlosses Marbach. Die dünnen roten Linien zeigen die umfangrei- chen Bahnanlagen besonders im Lagerteil Gusen. Quelle: Rudolf A. Haunschmied

Exempel des ehemaligen Konzentrati- in St. Georgen für die beiden Konzentra- onslagerkomplexes Gusen. tionslager geschaffenen regionalen Ver- Unmissverständlich bestätigt das waltungsstrukturen der DEST verschob. Studium der Primärquellen, dass die In beklemmender Weise wird an- Landnahme der SS in der Region St. schaulich, dass die Vision Oswald Pohls Georgen-Gusen-Mauthausen von An- wohl auch eine weitere Ausdehnung des beginn unter dem Blickwinkel eines Konzentrationslagerkomplexes Gusen KZ-Doppellagers mit zwei etwa gleich in den Bereich südlich der ehemaligen großen Lagern in Gusen und bei Maut- Hauderer-Bezirksstraße umspannte, hausen erfolgte und sich das wirtschaft- wobei als südlicher Rand des potenziel- liche Schwergewicht schon 1940 klar in len Konzentrationslagerbereichs der be- Richtung des Lagerteiles Gusen mit den reits in Angriff genommene Donauha-

197 fen und die parallel geplante Hafenbahn fessionellere Erforschung dieser auch mit ihrem Hochwasserschutzdamm zu überregional bedeutenden Aspekte der sehen ist. Geschichte des ehem. KZ-Komplexes Die höheren Orts erzwungene Rück- Gusen in der einst durch die Schutzstaf- stellung aller dieser Expansionspläne auf fel so gut wie völlig beherrschten Region die Zeit nach dem gewonnenen Krieg St. Georgen-Gusen-Mauthausen. dürfte erklären, warum Pohl die für die betrachtete Region vorgesehenen Bau- Diese, aus platztechnischen Gründen in potenziale nach einigem Zögern schließ- Einzelpassagen teils gekürzte, Arbeit bildet den lich auch in Form beachtlicher bomben- Auftakt zu einer geplanten Serie weiterer ein- sicherer Fertigungsstätten zur Führung schlägiger Schwerpunktbeiträge des Autors – des „Totalen Krieges“ bereitstellte. Umso unter anderem Gründungs- und Vorstandsmit- wichtiger ist aus Sicht des Autors daher glied des Gedenkdienstkomitees Gusen159 – zur eine weitere, vertiefende und noch pro- jüngeren OÖ. Zeitgeschichte. (Die Redaktion.)

159 www.gusen.org

198 Alle Farben des Regenbogens – 100 Jahre Marlen Tostmann Von Thekla Weissengruber

Das gern als Wirtschaftswunder Wien am Stubenring. Ihr war ein außer- bezeichnete Phänomen des neuen wirt- ordentliches Farben- und Formengefühl schaftlichen Aufschwungs nach dem in die Wiege gelegt, das sich auf dem Zweiten Weltkrieg basierte auf dem weiteren Lebensweg als besonders hilf- technischen Fortschritt, den sinkenden reich erweisen sollte. In der Modeklasse Energiepreisen, amerikanischen Hilfs- von Eduard Wimmer-Wisgrill (1882– programmen und einem Gründerboom 1961), dem langjährigen Leiter der Wie- von Wagemutigen.1 Zu diesen Wage- ner Werkstätte, erlernte sie das nötige mutigen gehörte Marlen Tostmann, die Handwerk, um sich in den frühen Jahren 1949 in Seewalchen/Attersee ihre Trach- zunächst mit Theaterkostümentwürfen tenstube gründete und daraus innerhalb ein erstes Geld zu verdienen. Einflüsse weniger Jahre zusammen mit ihrem ihrer Lehrer Josef Hoffmann (1870–1956) Mann ein mittelständisches Unterneh- und Alfred Roller (1864–1935) begüns- men von internationalem Spitzenruf auf- tigten die Ausbildung. bauen konnte. Den Mut, die Ausdauer, Lassen wir Marlen Tostmann selbst die Kreativität und das richtige „G’spür“ erzählen, wie sie jene Jahre der Ideenfin- in der Verfolgung der Lebensziele von dung empfunden hat, die in der Folge- Marlen Tostmann wollen wir anlässlich zeit auch zu ihrem Erfolgsmodell wer- ihres 100. Geburtstages würdigen. den sollten. „Da ich selbst seit meiner Kindheit eifrige Dirndlträgerin war und alle Mitglieder unse- Lehrjahre in Linz und Wien rer Familie seit eh und je die Tracht der Heimat liebten und … zur österreichischen Volkskunst Marlen(e) Tostmann, geb. Fischer, starke Verbundenheit empfanden, interessierte wurde als jüngstes Kind von Carl Fi- mich das ganze [Volkskunde]Museum außeror- scher und Maria Fischer, geb. Christ, dentlich, und ich verbrachte viele Stunden dort. am 13. Oktober 1915 in Linz geboren. Heute ein Muster an Gepflegtheit, Übersicht Sie entstammt einer alteingesessenen und geschmackvoller Traditionsgebundenheit, angesehenen Linzer Bürgerfamilie und war es in der damaligen Zeit 1935 bis 1938 verbrachte die Sommermonate jeweils eine gigantische Ansammlung von volkskund- in Seewalchen, wo nach adeliger Tradi- lichen Schätzen, die kunterbunt und größtenteils tion die Vorliebe zum ländlichen Kleid verstaubt durcheinander lagen – eine Fundgrube gepflegt wurde. Marlen besuchte in Linz nach der Pflichtschule die Kunstschule 1 Forum OÖ. Geschichte. Das Wirtschaftswunder bei Prof. Franz Ikrath in der Goethe- in Oberösterreich www.ooegeschichte.at. AN- schule und auf Anraten und Vermittlung DERSEN 1997 – SANDGRUBER 2003 – JAG- ihres Lehrers die Kunstgewerbeschule in SCHITZ / KARNER 1995.

199 für den Kenner und Liebhaber. Hier vor den Intermezzo im Rheinland Vitrinen voll von Originaltrachten der öster- reichischen Monarchie und in der Bibliothek Bevor sie sich aber an die Umset- wurden mir die Bestrebungen zur Erhaltung zung ihrer Ideen machen konnte, wurde und Erneuerung der österreichischen Trachten sie durch einen längeren Auslandsauf- klar. Das Problem der Trachtenpflege fesselte enthalt bzw. die Heirat mit dem Ham- mich. Von meinem Taschengeld kaufte ich mir burger Jochen Tostmann (1908–1980) schon damals die einschlägige Fachliteratur und familiär „aufgehalten“. Verantwortlich unterhielt mich damit, mehr aus persönlichem für den Aufbau einer Werksiedlung der Interesse, hundert bis zweihundert Jahre alten Lenzinger Textilwerke in Oberdonau, Trachten eine zeitgemäße Form zu geben. Über hatte Jochen Tostmann seine Marlen am die Modeklasse bekam ich manchmal Aufträge Attersee kennengelernt und sie zu Be- für Bühnenkostüme und hier konnte ich schon ginn des Jahres 1942 geehelicht. Der Ver- mein privates Hobby beruflich verwerten. (…) bindung entsprangen die beiden Töch- In meiner Volkskundemuseumzeit hatte ich nicht ter Gesine Maria, genannt Gexi (* 1942), nur österreichische Trachtenhauben gesammelt, und Katharina (* 1943). Die junge Mutter sondern auch Gelegenheit gehabt, einige hundert musste sich zunächst alleine durchkämp- bis einhundertfünfzig Jahre alte Dirndl- und fen, da der Mann ins Konzentrationsla- Festtrachtenleibchen zu ergattern. Diese un- ger Mauthausen eingewiesen wurde tersuchte ich genau auf Passform, Schnitt und und anschließend in eine Strafkompa- Ausschnitt und ließ mich dadurch inspirieren.“2 nie und in russische Gefangenschaft gelangte. Erst 1946 konnte sich Jochen Hier entstand der Wunsch nach ei- Tostmann, schwer mitgenommen, zu ner eigenen Trachtenwerkstätte. In jenen seiner norddeutschen Verwandtschaft Jahren aber, da Marlen Tostmann sich durchschlagen. Im Rheinland konnten für die Mieder der Volkstrachten zu in- die beiden eine Puppenfabrik aufbauen, teressieren begann, war ein schnitttech- die aber nicht sehr erfolgreich war. Von nisches Manko zu beobachten, an deren Heimweh geplagt und auch durch die Lösung sie die nächsten Jahre und Jahr- anstehende Einschulung der beiden zehnte arbeiten sollte. Die Mieder der Töchter gedrängt, entschloss sich das frühen 1930er-Jahre waren im Schnitt Paar 1948/49 wieder zurück an den At- noch viel zu sehr an der vorangegange- tersee zu ziehen. nen Mode der 1920er-Jahre und Reform- kleidung orientiert und verhinderten Von der Trachtenstube Marlen das, wozu ein Mieder eigentlich da ist: Tostmann zu Tostmann Trachten die Figur und damit die Taille der Frau so vorteilhaft und schlank wie möglich er- Eine Stube in der Christvilla und scheinen zu lassen und gleichzeitig den im Schreinerhaus an der Promenade Busen zu betonen. Außerdem war die in Seewalchen, eine Nähmaschine, Ausschnittführung oft sehr unvorteilhaft ein Webstuhl und ein Schaf waren das für das Dekolleté. Die Mieder dieser Grundkapital der soeben gegründeten Jahre waren schlichtweg nicht weiblich genug. „Es hatte keinen Schwung und Schick. 2 MARLEN TOSTMANN 1969/70. S. 136–138. Die Alten waren uns überlegen.“3 3 MARLEN TOSTMANN 1969/70. S. 138.

200 Trachtenstube Marlen Tostmann 1949. konnten. 1951 schon konnte das junge Zunächst waren handgewebte Bordü- Unternehmen an den neuen Standort renröcke, eingetauscht gegen Lebens- im „Reiterhaus“ in Litzlberg übersiedeln mittel, die ersten Verkaufsschlager, die und hier als „Trachtenstube Tostmann“ aber schon bald durch Dirndl ersetzt mit 10 Mitarbeiter/innen Produktion wurden. und Verkauf einrichten. Schon zur Studienzeit hatte Marlen Hilfreich war damals sicherlich, dass Mieder gesammelt, ihren Schnitt stu- bereits 1951 die erste Mappe zu erneu- diert, sie aufgetrennt und daraus gelernt, erten oberösterreichischen Trachten von zeitgemäße Miederformen zu entwi- Franz Lipp mit Schnittmustern erschien. ckeln. Sie erfand dabei ihr eigenes Sys- „Die Entwürfe von Doz. Dr. Lipp, den ich sehr tem, indem sie „jedes Dirndlleibchen hochge- bewundere und der mir ein leuchtendes Vorbild schlossen zuschnitt und bei der ersten Probe an ist, ließen farblich und geschmacklich keine Wün- der Figur den Ausschnitt dem Wunsch der Kun- sche offen. Ich stürzte mich mit geradezu rasender din und dem Schönheitsempfinden entsprechend Begeisterung in das Studium der Mappen. (…) zeichnete und ausschnitt. Dieses System hat sich Immer mehr Trachtenmappen und Bücher er- so gut bewährt, dass wir es bis 1970 beibehalten schienen auch aus anderen Bundesländern, und haben“, berichtet Marlen Tostmann. „Da immer mehr tragbare, schöne Dirndl und Trach- bei den österreichischen Sommerdirndln zu 95 ten, dem Geschmack der Gegenwart angepaßt, Prozent eine Bluse unter dem Mieder getragen konnten erzeugt werden.“5 Mit zeitgemäßem wird, kann der Miederausschnitt sehr breit und Feingefühl hatte die frühe Trachtenstube tief gehalten werden, ohne ‚öffentliches Ärger- Tostmann hier neben den modischen nis‘ zu erregen. Ich habe in der Zeit des Mo- Dirndln ihr Geschäftsmodell gefunden, dezeichnens gelernt, dass ein ganz tiefer oder das bis heute weitergeführt wird. Ein ein ganz hoher Ausschnitt die weibliche Figur weiterer Erfolgsfaktor neben der Schnitt- besser unterstreicht als ein Zwischending, das führung war die Farbigkeit der Modelle. immer unschick und spießig wirkt. Wenn man „In der damaligen Zeit waren 70 Prozent aller die alten Muster sieht, kann man dieselbe Ten- Dirndl hellblau mit rosa Schürze, 10 Prozent denz feststellen.“4 Befragt nach ihren ers- rosa mit hellblauer Schürze, alle übrigen Farben ten Dirndln entsinnt sie sich, dass es des Regenbogens musste sich mit den restlichen eigentlich deren drei gegeben hat, die 20 Prozent begnügen. Auf diese letzteren hatte aus Stoffresten zusammengestückelt, ich es abgesehen, und der Erfolg gab mir Recht. aus einem vorhandenen Kleid umge- Anscheinend war jede Frau froh, nicht mehr nur näht und aus Leinenstoffen eines Linzer Dirndln in Babyfarben tragen zu müssen. Und Stoffgeschäftes geschneidert wurden. diese ungewöhnlichen Zusammenstellungen, „Sie waren zumindest zu zwei Dritteln z.B. oliv-rost-lila oder braun-altrosa-grün oder gelungen“, erinnert sich Marlen. Nun messing-schwarz-tomatenrot usw., wirkten tat- begann eine wahre Erfolgsgeschichte. sächlich sehr dekorativ.“6 Aus den Erfahrungen entstanden die Schon 1955 beschäftigte Tostmann- zunächst in Maßarbeit gefertigten be- Trachten 80 Mitarbeiter/innen in den gehrten ersten Tostmann-Dirndln, die nur wenige Jahre später mit dem Wie- 4 MARLEN TOSTMANN 1969/70. S. 138. dererstarken der Textilindustrie bereits 5 MARLEN TOSTMANN 1969/70. S. 138. durch Konfektionsware ergänzt werden 6 MARLEN TOSTMANN 1969/1970. S. 137.

201 Plakat zur Trachtenschau in Schloss Kammer 1958.

202 Marlen und Jochen Tostmann bei der Kollektionsbesprechung im Wiener Geschäft 1957. beiden Geschäften in Litzlberg und tengasse übersiedelte, brachte Tostmann Vöcklabruck. Eine große Trachtenschau auch in die Großstadt, wobei wegen des in Schloss Kammer 1958, erste Kata- hohen Kundenandranges das Verkaufs- loge, Vertreter und ein erstes Vertriebs- geschäft zeitweilig sogar geschlossen netz, aber auch die Kooperation mit der werden musste. In einer Presseaussen- Lenzing AG für die Faser Lenzesa 1959 dung konnte man u. a. stolz von einem machten das Unternehmen österreich- sich jährlich verdoppelnden Umsatz be- weit und auch bald in Übersee bekannt richten.7 Aus Platzgründen lud man seit und berühmt. Eine Niederlassung in Wien (seit 1957), die zehn Jahre später 7 Archiv Tostmann. Vgl. WEISSENGRUBER auf ihren jetzigen Standort in der Schot- 2004. S. 55.

203 den 1960er-Jahren zur Trachtenschau in Schon 1960 arbeitete Tochter Ka- illustre Räumlichkeiten wie das Palais thrin als jüngste Schneiderin Wiens Ferstel, das Palais Pallavicini, Schwar- bis zu ihrer Verheiratung im elterlichen zenberg, Auersperg oder das Palais Fes- Betrieb mit. Die Schwester Gexi folgte tetics. Festlichere Trachten und Dirndl ihr nach Abschluss des Volkskundestu- wurden mit historischen Ensembles diums 1967. Im gleichen Jahr wurde das kombiniert und schon in den 1960er- Unternehmen in zwei Firmen getrennt. Jahren die Originaltracht der Linzer Ur- Tostmann Trachten in Seewalchen spe- großmutter gezeigt. zialisierte sich auf Großhandel, Konfek- tion und Export, bei Trachten Tostmann in Wien verblieb das Detailgeschäft für Tracht, Trachtenmode und Volkskunst. Austrian Look Nach Jochen Tostmanns Tod 1980 über- nahm Kathrin den Betrieb in Seewal- In jenen Jahren der wirtschaftlichen chen, den sie aber schon drei Jahre später Konsolidierung versuchte auch die an Gexi übergab. 1989 wurden die bei- Firma Tostmann einen Auslandsmarkt den Betriebe wieder zusammengelegt. aufzubauen und Absatzmärkte in den Marlen Tostmann hat sich mit der Vereinigten Staaten zu finden. Neue Trachtenstube tatsächlich ihren Le- synthetische Materialien verhalfen die- benstraum erfüllt. (Als Absolventin der sen bereits in Konfektion hergestellten Wiener Kunstgewerbeschule musste sie österreichspezifischen Modeprodukten 1970, nach einer anonymen[!] Anzeige, zu ihrem internationalen Siegeszug. Die die fehlende gewerbliche Schneider- Kollektion wurde dabei für die interes- Meisterprüfung ablegen, obwohl sie alle sierte Kundschaft sanft adaptiert. Auf die Dirndl selbst entworfen und alle Schnitte Frage eines amerikanischen Einkäufers, selbst verfertigt hatte). Gexi Tostmann wie er diese Art der Kollektion bezeich- arbeitete in jenen Jahren in Wien be- nen sollte, antwortete Jochen Tostmann reits an der Kollektionserstellung und 1959 mit „something like an Austrian Kundenbetreuung mit und wurde hier Look“.8 Ein findiges Journalistenpaar schon intensiv auf die spätere Betriebs- trug den damit geprägten Begriff des übernahme vorbereitet. 1969 erweiterte „Austrian Look“ in die Welt hinaus, und man die Angebotspalette um eine eigene für viele Jahrzehnte sollte er bezeichnend Kinderabteilung, um Hochzeitsdirndl werden für Mode mit österreichischem und Werktagtrachten. Internationale Touch, für die neu erworbene Moderni- Anerkennung erlangte u. a. der Entwurf tät, Prosperität, Internationalität, für ein für die Ausstattung der AUA-Hostessen österreichisches Symbol, ein ganz spezi- 1968, mit dem Marlen Tostmann den elles „Heimatbild“ und auch für unsere zweiten Preis gewann. Identität.9 Tostmann-Trachten gehörten Nach mehrjähriger Einschulung seitdem neben den Etiketten „Lanz“ und überließ sie 1977 Tochter Gexi die Ge- „Resi Hammerer“ zu den textilen „Bot- schaftern Österreichs“, der Austrian 8 FUCHS 1959 – FUCHS 1960. Look wurde zu einem Highlight auf in- 9 JOHLER 1998. S. 53–60. WEISSENGRUBER ternationalen Modeschauen. 2005. S. 13. – REITH 2013.

204 Plakat „Lenzesa“ – Werbung 1959.

205 schäfte und zog sich nach Litzlberg zu- die immer wieder stattfindenden Trach- rück, um sich fortan vermehrt den Enkel- tenschauen mit historischen Stücken. kindern und der Schafzucht zu widmen. Hat doch jedes Kleidungsstück eine Ge- Der Betrieb in Wien war auf 50, der in schichte, die es verdient, vernommen Seewalchen auf rund 120 Mitarbeiter/ zu werden.10 Noch viele Jahre assistierte innen angewachsen. Aus bescheidens- Marlen Tostmann Tochter Gexi in ge- ten Anfängen mit „einem Schaf, einer schmacklichen und stilistischen Fragen, Nähmaschine und einem Webstuhl“ hat- wenngleich diese das Unternehmen auf ten zwei visionäre Persönlichkeiten ein ihre Art fortführte und ihm auch eine ei- erstaunliches Unternehmen entwickelt, gene Firmenphilosophie geben konnte, das seinen Stand unverändert hält. 1989 die das aktuelle Fundament bildet. Aber wurde Gexi alleinige Geschäftsführerin diese Geschichte ist es wert, an anderer von Tostmann Trachten. Ihre Tochter Stelle erzählt zu werden. Anna trat nach dem Jus-Studium 1992 ins Unternehmen ein, wurde 1998 Ge- Vorbild und Qualitätsmaßstab sellschafterin und 2004 Geschäftsführe- rin. Nun führt sie, gemeinsam mit ihrem Marlen Tostmann – zum 50jährigen Mann und unterstützt durch die Mutter, Firmenjubiläum wurden sie und Gexi die Tradition des Hauses weiter. 1999 gemeinsam mit dem Goldenen Verdienstzeichen des Landes Oberöster- reich geehrt – kann auf ein arbeitsreiches Flickwerke neben den Trachten und erfolgreiches Leben zurückblicken. Sie hat es geschafft, das gesteckte Le- Nicht zu vergessen sind neben den bensziel 1:1 umzusetzen, und ihr Bei- Trachten und Dirndln die wunderschö- spiel möge manch andere Wagemutige nen Flickwerke, die Marlen Tostmann ermuntern, es ihr gleichzutun. Marlen bereits in Wien produziert hatte, war es Tostmanns klassisch traditionelle Krea- ihr doch stets „zuwider“ gewesen, diese tionen haben zum Erfolg der Trachtener- Stoffreste ungenutzt zu sehen. Auch neuerung „in allen Farben des Regenbo- hier konnte sie ihrer Kreativität freien gens mit perfekter Passform“ wesentlich Lauf lassen. Die Ergebnisse dieser 25jäh- beigetragen und den Grundstein dafür rigen Arbeit an Patchwork-Decken, gelegt, dass die Marke „Tostmann“ in 1995 in Wien in einer Ausstellung ge- der Branche bis heute über Heimatgren- zeigt, führten zur Gründung der Wiener zen hinaus als Qualitätsmaßstab und Patchworkgruppe mit Sitz in der Schot- „Vorbild für andere“11 gilt. tengasse. Die von Marlen Tostmann begonnene Sammlung an Original- Fotos: Archiv Tostmann Trachten. Trachtenstücken und Accessoires sind nach wie vor Basis und Ausgangspunkt so mancher neuer Kollektion. Die ge- sammelten Objekte dienen dabei aber 10 TOSTMANN 2009. S. 123. nicht nur als Anregung oder der eigenen 11 Zitat v. Komm.-Rat Wilhelm Ehrlich, Präsident Belustigung, sie bereichern ebenso Aus- des Fachverbandes der Bekleidungsindustrie; stellungen und Veranstaltungen sowie 26. 9. 1999. Vgl. WEISSENGRUBER 2004. S. 175.

206

Marlen und Gexi Tostmann mit Landeshauptmann Dr. Josef Pühringer bei der Verleihung des Goldenen Verdienstzeichens des Landes OÖ. 1999.

Literatur

ANDERSEN 1997 Andersen, Arne: Der Traum vom guten Leben. All- 1959: Stapelhomer Heimatbote. 2. 1. 1960: Franken- tags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswun- post; 3. 1. 1960 Lübecker Nachrichten) der bis heute. Frankfurt/New York 1997. Fuchs, Thea: Ein Hamburger erfand den „Austrian Look“. Das Dirndl als salonfähiges Kleidungsstück. FUCHS 1959 – FUCHS 1960 In: Wiener Wochen-Magazin vom 7. 1. 1960 und in Fuchs, Thea: Ein Hamburger erfand den „Austrian „Montag“ vom 11. 1. 1960. Look“. (Artikelserie Nordpress Verlag 4. 12. 1959; JAGSCHITZ / KARNER 10. 12. 1959: Wilstersche Zeitung, 11. 12. 1959: Ble- Jagschitz, Gerhard; Karner, Stefan (Hrsg.): Men- ckeder Zeitung, Heiligenhavener Post, Ahrensbö- schen nach dem Krieg – Schicksale 1945–1955. ker Heimatanzeiger, Ost-Holsteinisches Tageblatt; Ausstellung Schloss Schallaburg 1995. Wien 1995. 12. 12. 1959: Dithmarscher Kurier, Pinneberger Tageblatt, Brunsbüttelkooger Zeitung, Kreiszei- JOHLER 1998 tung f.d. Grafschaft Hoya, Syke, Elmshorner Johler, Reinhard: Volkskundliche Notizen zu Tou- Nachrichten, Glücksstädter Fortuna, Kreiszeitung rismus, Volkskultur und unsicher gewordenen Hohenwestedt, Uetersener Nachrichten, Bramsted- „Heimatbildern“. Zwei Szenarien. In: Salzburger ter Nachrichten, Wedel Schulauer Zeitung, Alster Volkskultur. 22. Jg. (1998). S. 53–60. Nord Kurier, Marner Zeitung, Eckenförder Zeitung, MARLEN TOSTMANN 1969/70 Barmstedter Zeitung, Stör Bote, Buersche Zeitung, Tostmann, Marlen; Marlen Tostmann, geb. Fischer. Hellweger Anzeiger, Stedinger Bote, Fehmarnsches Heimische Trachten. In: Jahrgangsbuch der Körner- Tageblatt, sowie Vorarlberger Nachrichten; 19. 12. schule. Linz 1969/70. S. 136–139.

207 REITH 2013 Kopftücher, Hauben & Hüte. Herausgegeben von Reith, Sonja Yvonne: Was kann denn das Dirndl Gexi Tostmann mit Texten von Marlen Tostmann, dafür?! Die Instrumentalisierungsgeschichte eines Thekla Weissengruber, Franz C. Lipp, Gexi Tost- Kleidungsstiles. Univ., Dipl.-Arb. Graz 2013. mann. Wien 2009. S. 121–123. SANDGRUBER 2003 Sandgruber, Roman: Das 20. Jahrhundert. Wien WEISSENGRUBER 2004 2003. Weissengruber, Thekla: Zwischen Pflege und Kom- merz. Studien zum Umgang mit Trachten in Öster- TOSTMANN TRACHTEN 1989 reich nach 1945. (= Diss. Phil. Wien 2001) Wien 2004. Tostmann Trachten. Seewalchen – Wien. Hrsg. Tostmann Trachten GmbH & Co KG. Eigenverlag WEISSENGRUBER 2005 Seewalchen und Wien 1989. Weissengruber, Thekla: Was ist Austrian Look? In: TOSTMANN GEXI 2009 Weissengruber, Thekla (Hrsg.): Tracht & Austrian Tostmann, Gexi: Zwischen Pflicht und Neigung. In: Look. (Schriftenreihe der Akademie der Volkskultur Alte Hüte. Kopfbedeckungen von anno dazumal. 4). Linz 2005.

208 Von Sonnenhunger und Nebelfreiheit Eine kleine Hallstätter ‚Klimatologie‘ Von Karl Wirobal

Wann (er)scheint sie wieder?! Ein gemeinsames Gesprächsthema An einzelnen Tagen bringt die Sonne bewegt die Hallstätter, besonders die- den Hallstättern bis zu viermal wenigs- jenigen im Ortsteil „Lahn“, jedes Jahr tens kurz Wärme und Licht, doch ab aufs Neue. Es sind die stehenden Fra- Ende November ist sogar der hellste Teil gen: Wann zuckt die Sonne ab, wann kommt der „Lahn“, die Waldbachmündung, we- sie wieder? oder Wie viele Tage scheint heuer gen der Bergkulisse für Monate dunkel. bereits überhaupt wieder keine!? Öfter als ein- mal schon mussten die Marktbewohner Verschiedentlich ventilierte Vor- wegen dieser notorischen „Lichtschwä- schläge zur Verbesserung der Situation, che“ spöttische Bemerkungen aus Nach- etwa durch Spiegelanlagen auf Berghän- bargemeinden über sich ergehen lassen. gen, wurden bisher nicht aufgegriffen. Auf die Sonnenarmut Hallstatts – als einzige Kommune Österreichs Namens- Vergleichsweise begünstigt sind die geber einer eigenen Geschichtsepoche, Menschen im Ortszentrum („Markt“), der Hallstattzeit – wird sogar in der Li- nördlich der Linie Seestraße Nr. 138 teratur gelegentlich hingewiesen, z. B. und Hallberg Nr. 10. Sie können etwas bei Friedrich Morton, Museumskustos, reichlicher, manchmal auch zur Win- 1934. Auch der Rundfunk widmete die- tersonnenwende, Sonne tanken. Aber sem Thema, am 19. Jänner 1998, eine selbst im Zentrum beträgt die Verkür- spezielle Sendung, und das wohl nicht zung der täglichen Sonnenscheindauer zuletzt deshalb, weil Hallstatt im Jahr zu- winters durchschnittlich 4,75 Stunden, vor durch den Welterbe-Bonus ein zwei- sommers fehlen täglich sechs Stunden tes Mal international bekannt geworden (Morton, 1934). Im Jahr 1999 gestattete war, zumindest ungleich bekannter als das traumhaft schöne Wetter am Tag der viele andere Orte in Österreichs schat- Wintersonnenwende eine recht genaue tigen Tälern. Erfassung für insgesamt 80 Wohnhäuser vom Hallstättersee aus. Von der Sonnen- Ursache der eher kargen Sonnenein- grenze beim Kriegerdenkmal bis zum strahlung: Die fjordartige, enge Lage mit nördlichen Ortsende ergab die Messung den steil aufragenden, relativ hohen Ber- Einstrahlungszeiten von wenigen Minu- gen im Süden. Vor allem das Echerntal, ten bis maximal 1,5 Stunden. am Abhang des übermächtigen Hirlatz’, ist im Winter benachteiligt; es gibt dort Ermittelt wird die tägliche – theore- Häuser, die rund ein Drittel des gesam- tische – Sonnenscheindauer in Hallstatt ten Jahres hindurch im Schatten bleiben. an drei Standorten.

209 Der Welterbe-Markt vom Hirlatz aus gesehen.

210 Ortsplan mit Mess-Standorten.

Sonnenstunden 1999 Gesamt Tagesmaximum Koordinaten (WGS 84) 1. Aufsatzplatz Nr. 157: 2.512 11 Std. 52 Min. 47°33,24’ N, 13°38,93’ O 2. Seelände Nr. 109: 2.605 11 Std. 32 Min. 47°33,37’ N, 13°38,93’ O 3. Gosaumühlstr. Nr. 97: 2.358 9 Std. 10 Min. 47°33,82’ N, 13°38,96’ O

Zeitbestimmungspunkt Turmkogl/ Bergrestaurant, ist als Hallstätter Wahr- Rudolfsturm zeichen berühmt. In unmittelbarer Nähe des weltbekannten Gräberfeldes bietet Der direkt oberhalb des Ortszent- er exzellente Sicht sowohl auf den Hall- rums am Eingang zum Salzberghochtal stättersee als auch auf die Salzlagerstätte. in 855 Metern Seehö he auf dem Turm- Herzog Albrecht I. ließ ihn 1284 zum kogl thronende Rudolfsturm, heute ein Schutz des Salzbergbaues als Fort er-

211 Der Kartenausschnitt zeigt den Bereich des Ortsgebietes, der zeitweise ganz ohne Sonne auskommen muss. Die eingefügten Zahlen stehen für die sonnenlosen Tage, sind aber lediglich annähernd präzis, weil die stark gegliederten Bergformationen und die unterschiedliche Seehöhe der Häuser eine nicht exakt messbare Schwan- kungsbreite bedingen. richten, die Namensgebung erfolgte zu dienten Bergspitzen in vielen alpinen Ehren von Albrechts Vater, König Ru- Gegenden als Stundenanzeiger. Beson- dolf I. v. Habsburg (1218–1291). Schon dere Bekanntheit erlangte die „Sextner wenige Jahre nach der Fertigstellung, im Bergspitzensonnenuhr“, Südtirol, bei „Salzkrieg“ zwischen dem Salzburger der vom Neuner bis zum Einser alle Erzbischof Konrad IV. und dem Landes- Stundenberg namen in geschlossener herrn Albrecht I., hatte der Ru dolfsturm Reihe vertreten sind (Innerebner, 1953). seine erste Bewährungsprobe abzule- Am Tag der Wintersonnenwende be- gen. Grabungsergebnisse deuten darauf strahlt die Sonne den Turmkogl knapp hin, dass der Standort bereits für die mehr als zwei Stunden lang, allerdings „Ur-Hallstätter“ (wahrscheinlich illyri- nicht durchgehend, da der Zwölferkogl scher Abstammung) strategische Wich- die Bahn unterbricht. Erst am 4. Jänner tigkeit besaß. steigt die Sonne wieder über den „Zwöl- Der Turmkogl mit Ausblick auf die fer“ und scheint am 5. Jänner – vor der „Hallstätter Stundenberge“ Sechser- letzten Raunacht – wieder voll auf den kogl (Morgen), Elferkogl, Zwölferkogl Turmkogl. Die Beschattung zur Mittags- (Mittag) und Plassen (Abend) ist auch zeit ist dann vorbei. J. R. Gottwald (1990) ein Punkt der natürlichen Zeitbestim- vermutet, dass diese Wiederkehr von mung. Bevor Uhren üblich wurden, Wärme und Licht von den prähistorischen

212 Rudolfsturm am Hallstätter Salzberg.

Mittagsonne über dem Zwölferkogl am 5. Jänner (letzte ‚Raunacht‘). Aufnahmestandort: Terrasse Ru- dolfsturm.

213 Bergleuten stets mit einem Freudenfest schichten krümmt die Sonnenstrahlen, begangen wurde. Einschlägige Litera­tur wodurch es aus Sicht des Beobachters zu führte Gottwald sogar zur ungesicherten einer – scheinbaren – Hebung der Strah- Annahme, der Ursprung des jeweils am lenquelle kommen kann. Der Rand der 5. Jänner veranstalteten Glöcklerlaufes Sonne ist dann am Horizont bereits vor könnte in der „Hallstattzeit zu suchen deren geometrisch realem Auftauchen sein“. als „Phantom“ sichtbar.

Einfluss der Schneehöhe auf die Kaum Nebeltage Sonnentätigkeit? Wie zum Ausgleich für die Sonnen- Verschiedentlich wird die Meinung armut ist Hallstatt von der Unbill des vertreten, Schnee über das Normalmaß Nebels weitestgehend verschont. Vor hinaus könne den Tag des ersten Son- allem der leidige Bodennebel, in vielen nenscheins verschieben. Der Verfasser See- bzw. Flussniederungen des Alpen- hat hierzu 2001 eine Reihe von Messun- vorlandes zur Herbst- und Winterszeit gen durchgeführt, theoretische Über- Dauergast, tritt hier allenfalls sporadisch legungen angestellt und praktische Be- auf. Das erstaunt zunächst, da der See obachtungen ausgewertet. Resultat: Die und die Traun Nebelbildung physika- Schneelage vermag das Erscheinen der lisch grundsätzlich unterstützen. Die Sonne im Einzelfall zwar theoretisch zu Luftströmungsverhältnisse im Kessel verzögern, übt in aller Regel jedoch kei- von Hallstatt bewirken aber offensicht- nen entsprechenden Einfluss aus. lich ein Abgleiten der grauen Schich- ten über den See nach Norden, sodass der Ortsbereich wenig betroffen ist. Bei Phantom-Effekte Autofahrten in typischen Nebelzeiten begegnet man den Schwaden meist erst Aus der Wellenlehre kennt man das ab dem Nordende des Sees in Au/Bad Prinzip der Beugung, wenn Lichtwellen Goisern. Herrscht Schönwetter, hat man in den geometrischen Schattenraum in Hallstatt für gewöhnlich einen kla- eintreten. Auch am Gebirgshorizont ren Ausblick auf die besonnten Berge vermeint man bei diffusen Lichtverhält- der Umgebung, während im Alpenvor- nissen gelegentlich Sonnenstrahlen zu land bzw. im Trauntal dichter Nebel die sehen, obwohl der Sonnenrand die Ho- Sonne oft ganztägig versteckt. rizontkante noch gar nicht erreicht hat. Hochnebel wird im herbstlichen Dies kann zu einer Fehlinterpretation Hallstatt an Inversionstagen zuwei- das Auftauchen der Sonne betreffend len durch Hausbrand begünstigt. Das führen. Thema Smog verliert mittlerweile aber Möglich ist eine Beeinflussung des auch im Welterbe-Markt mehr und Strahlenverlaufs auch durch die soge- mehr an Bedeutung; moderne Heizan- nannte Lichtbrechung (Brechungsgesetz lagen verdrängen zunehmend die um- der Optik). Der Eintritt in dichtere Luft- weltfeindlichen Festbrennstoffe.

214 Smog durch Hausbrand im Ortsteil „Lahn“, 1991.

„Wärmeofen“ Hallstättersee Als die südlichsten Gemeinden im mer aufheizt, die gespeicherte Wärme oberösterreichischen Salzkammergut gleichmäßig abgibt und ein moderates liegen Hallstatt und unmit- Winterklima erzeugt. telbar am Nordabfall des fast 3000 Me- Zu den lokalen Temperaturver- ter aufragenden Dachsteinstockes. Der hältnissen gibt es weit zurückreichende Hall stättersee hat eine Seehöhe von Aufzeichnungen. Daraus geht hervor, 508, der Traunsee eine solche von 422 dass die Werte den Bundesdurchschnitt Metern, woraus sich für die rund 30 km im Winter um bis zu zwei Grad Celsius Entfernung ein Gefälle von 86 Metern übersteigen und im Sommer um rund er gibt. Von den Orten im Trauntal ha- ein Grad unterschreiten. Zur „Wär- ben einzig Hallstatt und Obertraun Kes- meinsel Hallstättersee“ ein Kommen- sellage, die südliche Begrenzung durch tar des bereits erwähnten, langjährigen relativ steile Berggipfel birgt Nachteile Museumskustos F. Morton: Der Winter hinsichtlich der Sonneneinstrahlung, die in Hallstatt ist außerordentlich milde und an- windgeschützte Situierung aber klimati- genehm. Da völlige Windstille herrscht, wird sche Vorteile. Der 125 Meter tiefe, kaum von den Einheimischen nicht einmal ein Mantel zufrierende Hallstättersee funktioniert getragen. Das ist zwar leicht übertrieben, wie ein riesiger Ofen, der sich im Som- wirklich „kalte Tage“ sind aber de facto

215 die Ausnahme. Angemerkt sei in diesem Literatur Zusammenhang, dass die klimatische GOTTWALD J. R.: Zur Herkunft des Glöcklerlau- Auswirkung einer um zwei Grad erhöh- fens im Salzkammergut aus der Hallstattzeit? Ge- ten Lufttemperatur im Salzkammergut rasdorf bei Wien, 1990; Archiv Museum Hallstatt, einer Seehöhenreduktion um rund 400 nicht im Handel. Meter gleichkommt. Zwischen 1971 und INNEREBNER G.: Die Bergsonnenuhr von Hall- 1980 lag der Jahresmittelwert der Luft- statt. Jahrbuch des OÖ. Musealvereines, Linz, 1953. temperatur in Hallstatt bei 7,6 Grad (Go- MORTON F.: Wirtschaftsraum Hallstatt. Österrei- sau 5,8; Bad Goisern 7,1 Grad). chischer Wirtschaftsverlag, Wien, 1934. WIROBAL K.: Das Klima von Hallstatt. Museal- Resümee verein Hallstatt, 1994. WIROBAL K.: Sonnenlose Tage in Hallstatt/Lahn. Hallstatt wird in den Wintermonaten Nachrichten d. Marktgemeinde Hallstatt (Gemein- von der Sonne stiefmütterlich behan- dezeitung), 1997. delt. Grund ist die unmittelbare Nähe zu WIROBAL K.: Sonnenscheindauer in Hallstatt. den mehr als 2000 Meter hohen Bergen Nachrichten d. Marktgemeinde Hallstatt (Gemein- am Nordabfall des Dachsteingebirges. dezeitung), 1998. Der südliche Ortsteil „Lahn“ ist im Jah- WIROBAL K.: Sonnenscheindauer am Tag der resmittel gar bis zu drei Monate lang Wintersonnenwende. „Der Hallstätter“ – Mittei- sonnenlos. Entschädigt werden die Hall- lungsblatt der SPÖ-Hallstatt, April 2000. stätter durch ein mildes Winterklima, WIROBAL K.: Schneehöhe und Sonnenschein – das sich der Wärmequelle des Sees vor Verzögert viel Schnee das Erscheinen der Sonne in ihrer Haustür verdankt. Positiv ist außer- Hallstatt? „Der Hallstätter“ – Mitteilungsblatt der dem die geringe Anzahl der Nebeltage, SPÖ-Hallstatt, Dez. 2001. sodass die prächtige Bergkulisse bei WIROBAL K.: Wann kommt die Sonne wieder? Schönwetter meist ungetrübt bewun- „Der Hallstätter“ – Mitteilungsblatt der SPÖ-Hall- dert und genossen werden kann. statt, 2001. WIROBAL K.: Stundenberge und (prä-)historischer Abbildungen 1–4, 6–7: Museum Hallstatt und Bergbau. Res montanarum, Zeitschrift des Montan- Karl Wirobal. historischen Vereins f. Österreich, 30/2003, Leoben.

216 Buchbesprechungen

Siegfried Kristöfl, Alexander Jalkotzy, Elisabeth Gasse 8, D-93183 Kallmünz, druckerei@oberpfalz- Mayr-Kern, Paul Stepanek: Volkskultur im Porträt. verlag-lassleben.de. Mit Hofname und Quellenan- Druck: Friedrich VDV, Vereinigte Druckereien- und Verlags- gabe wird jedes einzelne Objekt zusätzlich von der GmbH & Co KG Linz. Herausgeber: Land OÖ, Direktion Abteilung Geoinformation im Digitalen Oberös- Kultur und OÖ. Forum Volkskultur. 201 Seiten, EUR terreichischen Kulturatlas online zur Verfügung ge- 10,00. stellt, die historischen Infos sind auf www.doris.at allgemein zugänglich. Das Publikationsprojekt zur Würdigung nam- hafter Exponenten oberösterreichischer Volkskultur startet mit vier profilierten Persönlichkeiten, deren Lebensleistung jeweils für sich steht: Prof. Hans Samhaber, Ehrenpräsident des OÖ. Forum Volks- kultur, Josef Hirz, prägender Faktor der Trachtenbe- Christian Schacherreiter: Wo die Fahrt zu Ende wegung, Berta Höller, „Harfenmutter“ des Landes, geht. Roman. 271 Seiten, geb., EUR 21,00. E-Book: EUR und die Kleindenkmalforscherin Angela Mohr ha- 16,99. ISBN 978-3-7013-1231-3. ben auf ihren Gebieten herausragend gewirkt und Leopold Federmair: Ins Licht. Erzählungen. 200 Seiten, wegweisende Impulse gesetzt. geb., EUR 20,00. E-Book: EUR 16,99. ISBN 978-3-7013-1233-7. Dem Anliegen, Volkskultur abseits billiger Kli- schees und Plattitüden sichtbarer, präsenter, nach- Beide: Otto Müller Verlag, Salzburg, 2015. vollziehbarer zu machen, wird der Pilotband in allen Die zusammengefasste Besprechung hat ihren vier Beiträgen überzeugend gerecht. Als individuel- Grund einerseits darin, dass beide Bücher heuer im ler Leistungsspiegel und Plädoyer für die Bedeutung selben Verlag fast zeitgleich erschienen sind, zum an- aktiver, gelebter Volkskultur in der modernen Ge- deren in der Autorschaft eines jeweils prominenten sellschaft unbedingt empfehlenswert. Vertreters oberösterreichischer Gegenwartsliteratur. Erhältlich im Büro des OÖ. Forum Volkskul- Der eine, Dr. Christian Schacherreiter, * 1954, tur, Haus der Volkskultur, Promenade 33, 4020 Linz, ist seit Längerem Direktor eines Linzer Gymnasiums ­E-Mail: [email protected], Telefon: (0732) und Literaturkritiker der „OÖ. Nachrichten“. Auf- 7720-154 58 wochentags von 8 bis 12 Uhr. gewachsen ist er nach Prameter Kindheitsjahren in Ried i. I., wo er das Gymnasium besuchte und ma- turierte. Die Bezirkshauptstadt als Topos urpersön- licher Erinnerungen hat Schacherreiter in seinem au- tobiographischen Essay „Diese ernsten Spiele. Eine Gerhard Schwentner: Das Landgericht Schärding. Kindheit im Innviertel“ (Otto Müller Verlag, 2011) Historischer Atlas von Bayern, Teil Innviertel. Mün- bei aller mitverpackten Sozial- und Zeitkritik sehr chen 2014, Bayerische Akademie der Wissenschaften, 537 anhänglich und anrührend beschrieben. Siehe dazu Seiten, Format 247 mm x 175 mm, EUR 48,00. auch: „OÖ. Heimatblätter“, Heft 1/2–2011, S. 143 f ISBN 978-3-7696-6559-8. und S. 141, sowie Heft 3/4–2013, S. 199 ff. Nun Der „Historische Atlas von Bayern, Teil Inn­ schiebt der Verfasser einen Roman nach, der zu- viertel“ ist das Ergebnis gutnachbarschaftlicher nächst in seiner – schon im „Essay“ kurz gestreiften länderübergreifender Zusammenarbeit zur Erfor- – Salzburger Studentenzeit spielt. Über dieses Fol- schung gemeinsamer Vergangenheit in verschie- geprodukt hat die Tagespresse bereits anlässlich der densten Epochen und Zeitabschnitten. Das Werk Erstpräsentation im Literatursalon des Linzer Post- umfasst die Geschichte der Herrschaftsstrukturen hofs (Oktober) ausführlich berichtet. Das macht die des Landgerichtes Schärding und bietet eine voll- Empfehlung, diese „eindrucksvolle Geschichte des ständige Übersicht zu den in der zweiten Hälfte des Erwachsenwerdens im Zeitgeist der 70er-Jahre zwi- 18. Jahrhunderts existierenden Höfen und Häusern schen Hoffnung, Illusion und Ernüchterung“ mit wa- mit einer Gesamtsumme von 18.250 Anwesen. Be- cher Aufmerksamkeit zu lesen, jedoch keineswegs ziehbar ist der Atlas im Buchhandel und beim Verlag überflüssig. Zum Titel des Romans: Es handelt sich Michael Laßleben, Inhaber Erich Laßleben, Lange dabei um die letzte Zeile des Eichendorff-Gedichts

217 „Frische Fahrt“. (Sympathisch, dass der Autor den Udo di Fabio, Schwankender Westen – Wie sich ein großen Poeten und Lyriker offenbar schätzt. Früher Gesellschaftsmodell neu erfinden muss. Verlag C.H. hatte Schacherreiter von sich bekannt, er sei „weder Beck, München 2015. 272 Seiten, geb., EUR 20,50. Poet noch Epiker der breiteren Art“). ISBN 978-3-406-68391-6. Vor zehn Jahren hatte der als führender deut- Der zweite Autor, Dr. Leopold Federmair, scher Staatsrechtler ausgewiesene Verfasser des hier * 1957, durchlief in Kremsmünster bzw. in seiner Ge- anzuzeigenden Titels das Buch „Die Kultur der Frei- burtsstadt Wels das Gymnasium, studierte – gleich heit“ vorgelegt, ein Werk, „das keine rechtswissen- Schacherreiter – in Salzburg Germanistik und Ge- schaftliche Studie …, sondern ein sehr persönliches, schichte und ist wie der Kollege ein gelehrter Mann. ein gewissermaßen weltanschauliches Buch ist“. So Träger des Österreichischen Staatspreises für litera- urteilte der aus Ried i. I. stammende Wiener Staats- rische Übersetzungen, lebt er in Japan, genauer, in rechtler Theo Öhlinger in seiner Besprechung in der Hiroshima, wo er an der Universität Deutsch un- Zeitschrift für Verwaltung, Heft 3/2007, S. 634. Auf terrichtet. Unter anderem veröffentlichte Federmair diese Besprechung wird auch deshalb hingewiesen, 2005, ebenfalls bei Otto Müller, seine tieflotende weil man das nun vorgelegte Buch als eine Aktua- Analyse „Adalbert Stifter und die Freuden der Bi- lisierung der seinerzeitigen Arbeit verstehen kann. gotterie“, kürzlich erst trat er in Heft 3/14 der OÖ. Li- Damals gab es ja noch nicht die Weltfinanzkrise von teraturzeitschrift „Die Rampe“ als Herausgeber des 2008 und die Griechenland-Krise, noch nicht die Porträts „Erwin Einzinger“ in Erscheinung. Ausdehnung der Geldmenge und die von schier all- mächtigen Notenbanken forcierte Nullzinspolitik, Die insgesamt acht Erzählungen aus dem Zy- welche u. a. die Altersvorsorge für die bürgerliche klus „Ins Licht“ – eine davon spielt im amerikani- Mitte beeinträchtigt, ja die Institution des Privatei- schen Universitätsmilieu – lassen sich auf dem zur gentums erschüttert (Vorwort S. 6); die Gewalt war Verfügung stehenden engen Raum nicht vorstellen. noch nicht auf ihre heutige Höhe angewachsen, der Sie alle umkreisen das Thema humaner Existenz Irak und Syrien waren noch nicht zerfallen, der Is- und Wirklichkeit in ihren Brüchen, Abgründen, lamismus hatte noch nicht seine heutige Stärke er- Grauzonen und Widersprüchen. Gewissermaßen reicht. Das neue Buch ist vor der Flüchtlingslawine als „Motto“ enthält die verlagseigene Presseinfor- des Spätsommers 2015 geschrieben worden und mation einige Zeilen aus dem Sonett „Menschliches konnte daher auf sie nicht entsprechend eingehen, Elende“, verfasst 1639 von Andreas Gryphius unter auch wenn die Migration immer wieder angespro- dem Eindruck der Schrecknisse des Dreißigjährigen chen wird. Krieges: Was sind wir Menschen doch! Ein Wohn- haus grimmer Schmerzen, ein Ball des falschen Wie im Buch aus 2005 betont di Fabio – deut- Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit, ein Schauplatz her- scher Verfassungsrichter von 1991 bis 2011 – neu- ber Angst, besetzt mit scharfem Leid … (In: „Deut- erlich die Unverzichtbarkeit des Nationalstaates sche Gedichte, ausgewählt und eingeleitet von Karl (dazu schon Öhlinger in seiner Besprechung). Krolow“, Bd 1, S. 80/81). Angelpunkt des Erzählban- „Schwankender Westen“: Geht uns das in unserer des – Bezüge bis hin zum Flüchtlingselend unserer Heimat, sei sie Stadt oder Landgemeinde, denn et- Tage sind unschwer herstellbar – mag die im Zweiten was an? Wir gehören zum „Westen“. Wenn dieser Weltkrieg angesiedelte, knapp 30seitige Geschichte schwankt – so wie etwa nach dem Niedergang des „Zimmer“ sein: In einem während der deutschen „real existierenden Sozialismus“ im Osten –, hat das Besetzung zwischendurch als „Kulturhauptquartier“ spürbare Auswirkungen auf das Leben in unserer verwendeten noblen Pariser Café, „wo der berühmte Heimat(gemeinde)? Durchaus! Ältere Landsleute Ernst Jünger, Soldat und Schriftsteller, eine Zeitlang kennen das vom gestörten Klima her, das zur Sys- die Fäden zog“, schildert ein alter Schauspieler, Sohn temzeit (1934–1938) selbst in kleineren Gemeinden des enteigneten Lokalinhabers, seine Kriegserleb- herrschte. Um wieviel mehr galt und gilt dies für die nisse. folgende Zeit, nämlich für „Oberösterreich – als es ‚Oberdonau‘ hieß“ (Harry Slapnicka). Die vielen Alles in allem eine ernste, aber lohnende Lek- Tafeln der Kriegstoten allein zeigen es! Zahlreiche türe, die – siehe auch den auf die Überschrift der weitere Beispiele ließen sich anfügen. Noch einige Schlusserzählung zurückgreifenden Titel! – nicht in „technische“ Anmerkungen: Das Buch ist nach dem Hoffnungslosigkeit endet. Vorwort in sechs Teile mit insgesamt 16 Kapiteln ge- gliedert, schließt mit dem Epilog „Aufstand gegen Josef Demmelbauer den Westen und Neuerfindung eines Gesellschafts-

218 modells“ und wird durch 311 Anmerkungen auf 25 einen wahren Prachtband als Folge 39 der Reihe Seiten ergänzt. „Studien zur Kulturgeschichte von Oberösterreich“. Fazit: Ob man nun mit allen Thesen des Verfas- Das wissenschaftlich redliche wie eingängig sers einverstanden ist oder nicht: Zumindest zur Re- lesbare Werk leuchtet auf 244 Seiten in neun fun- flexion des eigenen Standortes wird man angeregt. dierten Beiträgen renommierter Autorinnen und Und das wäre in unserer wechselhaften Zeit jeden- Autoren von B wie Bockhorn bis W wie Weissengru- falls notwendig! Josef Demmelbauer ber das ebenso vielfältige wie tiefgreifende Wirken des Wissenschaftlers, Praktikers, Pädagogen und Museumsdirektors aus. Rund 70 Jahre seines Le- bens investierte Franz C. Lipp in Pflege, Erhaltung Putschögl/Neuhofer, Oö. Gemeindeordnung 1990. und Erneuerung von Volkskultur und Volkskunde 5. Auflage 2015. Trauner Verlag, Linz 2015. XLIII, 908 auf wissenschaftlicher Basis. Sein Arbeitsgebiet war Seiten, Hardcover, EUR 129,90. reich facettiert und bezog Denkmalpflege und Mu- Viele Leser der „OÖ. Heimatblätter“ interessie- seologie mit ein; lebendig vermittelte Volkskultur ren, ja engagieren sich für und in Angelegenheiten war ihm überzeugend gelebte Passion. ihrer Heimatgemeinde. Wieder pünktlich zur Wahl der Gemeinderäte und der Bürgermeister haben die Nicht zufällig übertitelt Olaf Bockhorn seinen bewährten Verfasser der Vorauflagen – zur Wahl zusammenfassenden Blick auf das Schaffen des 2003 war Nr. 4 erschienen – die 5. Auflage ihres Stan- Wissenschaftlers Lipp mit der Charakterisierung dardwerkes zum Gemeinderecht im Linzer Trauner „… Eindrucksvolles, in Wahrheit gewaltiges Le- Verlag herausgebracht. Damit liegt ein für die Arbeit benswerk“. In der Trachtenforschung und -Erneu- auf Gemeindeebene in den nächsten Jahren unver- erung, im Aufbau der OÖ. Freilichtmuseen, in der zichtbarer Wegweiser vor. Ihn in Zweifelsfragen – Expertise des volkskulturellen Lebensraums („Haus, gerade nach den einschneidenden Änderungen der Stube und Möbel“), in zeitnahen musealen Präsen- letzten Jahre (sh. „Einführung“, S. XXXIII ff.) – nicht tationen hat Lipp – um nur Beispiele seines riesigen zu Rate zu ziehen, wäre wohl beinahe ‚fahrlässig‘. Arbeitsspektrums zu nennen – bis heute wirkende J. D. Maßstäbe gesetzt, denen das nun vorliegende, von Andrea Euler und Bernhard Prokisch redigierte Werk ausführlich gerecht wird. Das Curriculum Vitae sowie ein imposantes, Franz Carl Lipp: Ein Leben für die Volkskultur. OÖ. über 450 Titel reichendes Verzeichnis der Publika- Landesmuseum, Linz, 2015. ISBN 978-3-85474-299-9 tionen Franz Carl Lipps runden das aussagekräftige Zum 102. Geburtstag des 2002 verstorbenen Kompendium ab, das allen engagierten Freundin- Univ. Prof. Dr. Franz C. Lipp widmet das OÖ. Lan- nen und Freunden der Volkskultur ans Herz gelegt desmuseum dem legendären Volkskunde-Experten sei. Paul Stepanek

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OÖ. HEIMATBLÄTTER 2015 HEFT 3/4

Beiträge zur Oö. Landeskunde | 69. Jahrgang | www.land-oberoesterreich.gv.at OÖ. HEIMATBLÄTTER | 2015 HEFT 3/4 HEFT 2015 | HEIMATBLÄTTER OÖ.