Nummer 1/2013 BadKreuznacher Beilage Heimatblätter

Die Kreuznacher Soleleitung Eine technische Meisterleistung vor über 140 Jahren

VON ROLF SCHALLER, BAD KREUZNACH

Bereits im Jahre 1848 plante die junge Witwe beth Dörmer“. 1829 betrug die jährliche Johanna Pitthan geb. Schellhaas den Bau ei- Pachtsumme „85 Preußische Thaler“, bei der ner Soleleitung von dem von ihr gepachteten Verlängerung des Pachtvertrags im Jahr 1835 Karlshaller Brunnen zu den Kreuznacher Ba- bereits „148 Gulden“. Die Wirtin Elisabeth dehäusern. Zur Ausführung kam der Plan Dörmer ihrerseits verlangte von den Bade- zwar erst 1869 durch die Stadt Kreuznach, hausbesitzern je Ohm [ca. 134 Liter] zuletzt 6 aber auch das war immerhin noch zwei Jahr- Pfennig. Die Abgabe der Sole zur Trinkkur an zehnte vor der Verlegung einer öffentlichen die Gäste geschah kostenfrei. Als die Erneu- Trinkwasserleitung (1888-1890). Von der erung des Pachtvertrags auf weitere 5 Jahre ehemals durch Alt- und Neustadt führenden herannahte, bewarben sich im Juni 1846 die Soleleitung ist der Abschnitt vom Salinental „im Vereine zusammengetretenen Bade- bis zum Badewörth auch nach über 140 Jahren hausbesitzer zum Ausschluße der Concurrenz noch in Betrieb. sowohl durch den Pitthan’schen als auch der sonstigen inländischen Brunnen“ selbst. Doch Vorgeschichte den Zuschlag bei der am 10. November 1847 Beim Wiener Kongress wurden die Salinen anberaumten Versteigerung erhielt die Wit- Karls- und Theodorshalle, obwohl sie auf we Johanna Philippina Catharina Pitthan geb. Hotels werben mit dem Anschluss an die Röhren- preußischem Gebiet lagen, 1816 dem be- Schellhaas, „Gutsbesitzerin und Gastwirthin leitung. nachbarten Großherzogtum Hessen zuge- auf dem Oranienhofe“. Johanna Philippina Fundstelle: Paul Foltynski, Bad Kreuznach, Mitteilungen für Ärzte schlagen. Ein Jahr später kam der junge Catharina Schellhaas war die Tochter von Jo- und Kurgäste, Berlin 1884, Anhang Seite 7 Wiesbadener Arzt Dr. Johann Erhard Peter hann Henrich Schellhaas aus Kaiserslautern, Prieger nach Kreuznach und erkannte die der den Oranienhof bei der Veräußerung der heilende Wirkung der hiesigen Mineralquel- Staatsgüter unter Napoleon erworben hatte. len. Seinem großen Ziel, der Errichtung eines 1828 heiratete Johanna Schellhaas den Rot- leitung heißt es weiter: „Die Ausführung er- Heilbades „wie keines der Art in ganz gerber Carl Friedrich Pitthan. Die Pitthans er- folgt durch Frau Pitthan, seitens der Herren Deutschland ist“, standen die neuen Eigen- bauten im heutigen Oranienpark ein Wohn- Contrahenten [Vertragspartner] durch eine tumsverhältnisse entgegen: Kreuznach besaß haus (1834), ein Badehaus (1835-36) und das Actien-Societät, wobei bestimmt wird, daß keine eigenen Mineralquellen. Priegers Be- Hotel „Curhaus Oranienhof“ (1834-42), das keine Actie unter 10 Thalern abgegeben wird. mühungen um einen Rückkauf der Salinen – größte und vornehmste Hotel der Stadt. Mit Vom Zeitpunkt der Vollendung des Lei- 1823 und 1829 reiste er dazu eigens nach Ber- der hoteleigenen, seit ca. 1838 erschlossenen tungsbaus verpflichten sich die Badehausbe- lin – blieben in der Residenz ungehört. Die „Oranienquelle“ wurden die Bäder – ver- sitzer auf 5 Jahre zur Abnahme ihres gesam- Kreuznacher Hotels mussten ihren Bedarf an mutlich schon über den Wasserturm – mit Sole ten Bedarfs an Soole aus der Leitung. Die Zahl Sole und Mutterlauge am Karlshaller Brunnen versorgt. Außerdem verkauften die Pitthans der in einem jeden der Badehäuser bei Ab- mit Fasswagen abholen lassen. Verbunden die Sole der Oranienquelle auch fassweise an schluß dieses Vertrages sich vorfindenden mit einem „entsetzlichen Lärm, der den Kur- die Badehäuser der Stadt. Carl Friedrich Pitt- Badewannen werden als ausreichend zur Er- gästen die Nachtruhe raubte“, schafften han verstarb 1845 im Alter von 40 Jahren. mittelung des verbrauchten Badewassers an- Fuhrleute die Sole in den Nachtstunden zu genommen“. den Badehäusern, dort wurde das Salzwasser Johanna Pitthans Pläne Doch schon am 18. September 1848 bean- in deren Zisternen gepumpt. Auch die später Johanna Pitthan hatte mit ihrem Gebot von tragte die Witwe Johanna Pitthan „wegen des auf dem Kreuznacher Stadtgebiet erschlos- 420 Reichstalern pro Jahr die Badehausbesit- durch die Unruhen und Besorgnisse verur- senen Quellen bzw. Brunnen 1) konnten den zer überraschend ausgebootet. Am 31. März sachten Rückgangs der Zahl der Fremden auf Karlshaller Brunnen nicht ersetzen. Mit der 1848 legte die Witwe diesen einen Vertrag kaum den dritten Theil der Vorjahre“ (tat- Abhängigkeit vom Großherzogtum Hessen vor, in dem erstmals vom Bau einer Solelei- sächlich brachen die Gästezahlen durch die und dem umständlichen Transport musste das tung die Rede ist. Dort heißt es: „Die Pächterin 1848er Freiheitsbewegung von 2.800 in den aufstrebende Heilbad über Jahrzehnte zu- [Frau Pitthan] überläßt den Badehausbesit- Vorjahren auf 1.200 ein) bei der Salinenver- rechtkommen. zern den gesamten Bedarf an Solewasser zum waltung die Halbierung des Pachtzinses. Dem Nach dem Tod des Salinen-Inspektors Betrag von 7 Pfg. je Ohm [1 Pfg. mehr als bis- Antrag wurde erst 1850 stattgegeben, was Hendrich im Januar 1828 verpachtete die her], und zwar so lange, bis die projectierte Johanna Pitthan nicht davon abhielt, sich am Großherzoglich Hessische Salinenverwal- Leitung zur Abnahme des Wassers bereit sein 19. April 1851 – ein Jahr vor Ablauf des Pacht- tung „das Carlshaller Badehaus und die aus wird. Die Abgabe erfolgt gegen von Frau vertrages – um eine Vertragsverlängerung zu dem Soolbrunnen der Carlshalle geförderte Pitthan ausgestellte Karten, die gelben Fässer bewerben. Im Dezember 1851 legte der und zur dortigen Gradirung und Badeanstalt müssen mit städtischer Aich versehen [d.h. „Ausschuß der Badehausbesitzer“ ein Gebot nicht erforderliche Soole an die Wittib Elisa- amtlich geeicht] sein“. Zur geplanten Sole- über 500 Reichstaler vor. Obwohl die Witwe 2 (Seite 2 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 1/2013

Johanna Pitthan ihr Angebot auf 520 Taler ßen und dem Großherzogtum Hessen vom 3. erhöhte, gab die Großherzoglich Hessische September 1866 befasste sich der Artikel 18 Salinenverwaltung im März 1852 den Bade- speziell mit Kreuznach und den Salinen. hausbesitzern den Vorzug. Die Pachtsumme Festgelegt war darin, dass den „hießigen Ba- war auf die von der Witwe Pitthan gebotenen dehausbesitzern die nöthige Soole & Mutter- 520 Reichstaler, die Vertragslaufzeit auf 20 lauge stets unter möglichst billigsten Bedin- Jahre festgelegt. Johanna Pitthan schrieb an gungen gewährt“ werden solle. 6) Eine be- die Salinenverwaltung: „Ich habe mich ent- reits am 20. September einberufene Ver- schlossen, die Carlshaller Quelle nicht mehr sammlung von Gastwirten und Hoteliers ver- zu pachten. Inzwischen wurde mit dem Bau fasste – etwas voreilig – ein Dankschreiben an einer Sooleleitung vom Oranienhof zum Hotel Bürgermeister Küppers: „Die heute im Berli- Rheinstein begonnen und ich biete dies auch ner Hof stattfindende Versammlung fühlt sich anderen Badehausbesitzern an“. 2) gedrungen – und ist überzeugt, hiermit die Bereits im Oktober 1849 hatte Johanna Gesinnung der Bürgerschaft auszusprechen – Pitthan in einem Schreiben an die Königliche dem Herrn Bürgermeister Küppers, dem Regierung in Koblenz festgestellt, dass sich Herrn Beigeordneten Polstorf und der Stadt- die geteilt und eine Insel gebildet habe, verordneten-Versammlung ihren Dank für wodurch sie schon 5 Morgen Ackerland ein- die erfolgreichen Verhandlungen auszuspre- gebüßt habe [Diese Auslegung der Eigen- chen“. Doch die Verhandlungen über die tumsrechte an Naheufer und Oranieninsel Einzelheiten zu Artikel 18 zogen sich hin. Ein sollte noch zu einem jahrzehntelangen ganzes Jahr später, im September 1867, Rechtstreit der Erben Pitthan mit der Stadt schrieb Landrat Agricola an Bürgermeister führen]. Außerdem schrieb sie: „Ich beab- Küppers: „Es war einer meiner ersten Gänge sichtige am rechten Arm der Nahe, welcher Der Solewasserturm im Oranienpark. hier, mich nach unserer Theodorshaller An- durch meine Felder fließt, einen Wassergra- Foto: Rolf Schaller, Bad Kreuznach gelegenheit zu erkundigen. Ich erfuhr dann ben ausheben zu lassen. Ich ersuche eine Kö- nach einigem Hin- und Her-Fragen, daß in nigliche Hochlöbliche Regierung ganz erge- Brunnens von Johanna Pitthan im Jahre 1852 dieser Sache seit Mai dieses Jahres [1867] bens um Genehmigung einschließlich der er- schrieben die Badehausbesitzer, die sich zur Nichts geschehen war, da man Hessischer forderlichen Conzession für ein Triebwerk“. „Carlshaller-Brunnen-Pacht-Gesellschaft“ Seits die Sache immer von Neuem verzögert Nach einem Einspruch der Hessischen Sali- zusammen geschlossen hatten, an Bürger- hatte. Ich habe mich auf’s Neue überzeugt, nenverwaltung reichte die Witwe Pitthan im meister Küppers: „Wir haben in Gemeinschaft daß bei der Lage der jetzigen politischen Ver- März 1852 eine detaillierte Zeichnung des mit fast sämtlichen Badehausbesitzern hier- hältnisse [Preußen war auf einen Ausgleich geplanten Wehres und des Kanals am rechten selbst mit der Großherzoglich Hessischen Sa- mit Hessen bedacht] ein Mehr nicht zu errei- Naheufer nach. Mit dem „projectierten Rä- linenverwaltung einen Vertrag abgeschlos- chen war und glaube ebenso fest, daß Kreuz- der- und Triebwerk“ an der Oranienquelle sen, wonach uns die Benutzung des Salz- nach noch immer sehr wesentlichen Gewinn sollte deren Sole über eine Leitung zum Re- brunnens auf der Karlshalle für die Herstel- daraus ziehen wird. Deshalb würde ich schon servoir am Hotel Oranienhof (und ggf. zum lung von Soolbädern auf zwanzig Jahre über- jetzt die Planung zu einer Röhrenleitung aus- Hotel Rheinstein) gepumpt werden. 3) Zwar lassen worden ist. Die Beschaffung des Mine- arbeiten lassen und mit den seitherigen Con- erhielt die Witwe im November die Konzessi- ralwassers zu unseren Badeanstalten, welche trahenten in Verhandlungen treten“. on zum Betrieb des Triebwerks, die sie im Juli bisher durch Fuhrwerke geschah, wünschen Endlich, am 13. bzw. 20. Dezember 1867, 1854 sogar noch einmal verlängern ließ, aber wir mittelst einer Röhrenleitung zu bewerk- wurden die Ausführungsbestimmungen zu die Ausführung blieb ihrer Schwiegertochter stelligen“. Pläne und Kostenanschläge waren Artikel 18 in Berlin und Darmstadt unter- vorbehalten. Johanna Philippina Catharina bereits ausgearbeitet. Aber vorläufig tat sich zeichnet. Diese rechtfertigten den Pessimis- Pitthan geb. Schellhaas starb am 2. April 1857 nichts. mus Agricolas. Zwar hieß es einleitend: „Zur im Alter von 47 Jahren. Im Jahre 1861 sorgte die Entdeckung einer Ausführung des Artikels 18 des Friedensver- neuen Solequelle auf dem Badewörth kurz- trages vom 3. September 1866 und der Nr. 13 Schwiegertochter Amalie Pitthan zeitig für Aufsehen. Eduard Schneegans des Schlußprotokolls von demselben Tage übernimmt den Oranienhof schrieb dazu: „Ganz in neuester Zeit hat auf verpflichtet sich die Großherzoglich Hessi- Johannas Sohn Heinrich Carl Theodor der Badeinsel der Besitzer des Hotels de sche Regierung an die Stadt Creuznach den Pitthan, der das Hotel übernahm, starb bereits [Kurhaustraße 15], Peter Kisky, in sei- gesammten Bedarf der dortigen Badeanstal- 1866 und wurde nur 32 Jahre alt. Nach der nem Hofraume eine neue Quelle aufgefun- ten an Soole und Mutterlauge zu liefern“. Die Überbohrung der Oranienquelle im Jahre den, die eben einer chemischen Analyse Vertragsdauer betrug jedoch nur 25 Jahre 1865 wurde vermutlich auch das heute noch durch den Medizinalrath Mohr in Koblenz und endete mit Ablauf des Jahres 1892. In erhaltene, „burgartige Quellenhaus“ (das unterliegt und ein sehr günstiges Resultat Absatz 1 wurde die oben angeführte Sicher- später sog. „Milchhäuschen“) errichtet. Carl verspricht“. 5) Doch das Ergebnis der Analyse stellung „des gesammten Bedarfs“ auf die Theodors Witwe, Amalie Louise Augusta hat die Erwartungen wohl nicht erfüllt, denn Zeit vom 15. Juni bis 15. September jeden Pitthan geb. Doetsch, stellte am 18. Mai 1870 die Quelle wird später nie mehr erwähnt. Jahres eingeschränkt. In der übrigen Zeit ein Gesuch zur Aufstellung eines Dampfkes- sollte die Lieferung nur in dem Umfang erfol- sels im Qranien-Quellhäuschen. Auf der Na- Ein Krieg und die Folgen gen, „als die Soole nicht zur Gradirung ge- heseite wurde ein hoher Schornstein ange- 1866 schien sich endlich eine „politische“ braucht wird“. Absatz 2 erlaubte der Stadt die baut. 4) Eine 4 PS-Dampfmaschine trieb nun Lösung der Salinenfragen anzubahnen. Die Aufstellung einer Dampfmaschine an der die schon 1849 von ihrer Schwiegermutter preußisch-österreichische Auseinanderset- Karlshalle zum Betrieb der erforderlichen geplante Pumpe an, die „die Sole über guss- zung um die Führungsrolle im „Deutschen Pumpe – auf ihre Kosten. In Absatz 3 wurde eiserne Röhren zu dem Reservoir“ im zweiten Bund“ führte zum sog. Deutschen Krieg. Der der Stadt Kreuznach zugestanden, natürlich Geschoss des Solewasserturms im Oranien- österreichischen Seite schloss sich u. a. auch ebenfalls auf eigene Rechnung, eine Röhren- park drückte. Über den Wasserturm, der samt das Großherzogtum Hessen an. Die preußi- leitung von der Karlshalle zu den Badehäu- dem eisernen Wassertank bis heute im Ora- schen Truppen marschierten am 9. Juni 1866 sern zu verlegen. Der Preis der Mutterlauge nienpark steht, konnten nicht nur die Bade- in Holstein ein und besiegten am 3. Juli die wurde in Absatz 4 auf 9 Pfg. pro Quart [preuß. zimmer sondern auch ein in der Hotelanlage Österreicher in der Schlacht bei Königgrätz. Quart: ca. 1,2 Liter] vereinbart und in Absatz 7 gelegener Springbrunnen durchgängig mit Preußen hatte sein Ziel erreicht: Am 18. Au- schließlich wurde für die Badesole „in dem Salzwasser versorgt werden. gust 1866 wurde der von Preußen beherrschte stipulirten [lat. stipulatio = förmliche Abma- Im Oktober 1871 heiratete die 28-jährige „Norddeutsche Bund“ gegründet – ohne Ös- chung] Umfange jährlich in vierteljährlichen Witwe Amalie Pitthan den „Premier Lieute- terreich. Raten der Betrag von 800 Thalern“ festge- nant a. D.“ Carl Joseph von Lehenner aus Mit Beginn des Krieges waren die Salinen setzt. Mit Vertragsabschluss fielen alle aus , mit dem sie bis 1883 den Oranienhof Karls- und Theodorshalle vom Königreich dem letzten Pachtvertrag vom 25. März 1852 führte. 1877 ließen die Lehenners neben dem Preußen beschlagnahmt worden. Die Hoff- den Badehausbesitzern zustehenden Rechte Oranienquellhaus „ein niedliches Häus- nungen Kreuznachs auf eine Rückgabe waren an die Stadt Kreuznach, d. h. diese hatte auch chen“, die Trinkhalle für die Badegäste des jedoch schnell zerschlagen. Um den Zusam- alle daraus herzuleitenden Ansprüche bzw. Oranienhofes, erbauen. Im Januar 1884 ver- menhalt des Norddeutschen Bundes nicht zu Entschädigungen zu vertreten. kaufte die Familie das Hotel an Heinrich D. gefährden, gab Preußen die Salinen am 7. In Kreuznach war man enttäuscht. Am 29. Alten und zog nach Wiesbaden. Dezember 1866 an Hessen zurück. Im Frie- Januar 1868 bekannte die Königliche Regie- Nach der Übernahme des Karlshaller densvertrag zwischen dem Königreich Preu- rung in Berlin in einem Schreiben an die Be- Bad Kreuznacher Heimatblätter - 1/2013 (Seite 3 des Jahrgangs) 3

leitung erfolgte mit glasierten Steinzeugröh- ren, abgedichtet mit „Cementmörtel“ – in den Mühlenteich beziehungsweise die Nahe. Außerdem bestellte die Stadt am 6. März 1869 bei der Firma Siemens & Halske 110 „Was- sermesser“ zum Gesamtpreis von 4.790 Mark zum Einbau an den Entnahmestellen. Am 26. April 1869 wurde die Kreuznacher Solewas- serleitung in Betrieb genommen. Die ganze Stadtverordnetenversammlung war eingela- den, sich „nachmittags 2 Uhr am Karlshaller Brunnen einzufinden, um der Ingangsetzung der Soolewasserleitung durch Herrn Ober- baurath Moore beizuwohnen“. Nach einer Aufstellung vom April 1869 waren bereits bei der Inbetriebnahme 31 Ho- tels und Badehäuser an die Soleleitung ange- schlossen. Es waren dies die Etablissements: Ahles, Kreuzstraße; Philipp Baum, Englischer Hof [Kurhausstraße 24]; Philipp Baum, Sali- nenstraße; Philipp Baum, Weg zur Haltestelle [Bahnhof „Bad Kreuznach“, spätere Rhein- Oranienquelle und Trinkhalle. Fundstelle: Foltynski, Seite 86 grafenstraße]; Colner, Weg zur Haltestelle; Dr. Foquet, Schloßstraße; Karl Glock, Loui- senstraße [19]; Golling, Salinenstraße; Johann Henke, Louisenstraße [26]; August Henke, zirksregierung: „Als Aequivalent für das Zu- ler. Die Tilgung sollte in jährlichen Raten bis Louisenstraße [24]; Georg Henke, Schloß- geständnis zum Bau der Sooleleitung ist Sei- zum Jahr 1900 abgeschlossen sein. 7) straße [3]; Heinrich Herter, Augustastraße [6]; tens der Großherzoglichen Regierung eine In der Stadtverordneten-Versammlung Franz Hessel, Hotel Adler [Hochstraße 9]; nicht unbedeutende Erhöhung des Preises für vom 9. September wurde der Bau der „Röh- Heinrich Hessel, Pfälzer Hof [Poststraße 14]; die Soole und Mutterlauge in Anspruch ge- renleitung zur Abführung der Badesoole von Keller, Salinenstraße; Köbig, Königstraße; nommen worden. Zur formellen Ratification den Carls- und Theodorshaller Salinen nach Wilhelm Kisky, [Viehmarkt 3]; Johann Mau- ist mir die Erklärung der Stadt [Kreuznach] der Stadt Kreuznach und einer damit verbun- rer, Kurhausstraße [22]; Lorenz Pfeiffer, Eli- sobald als möglich einzureichen“. Notge- denen Röhrenleitung zur Abführung des ver- sabethstraße [3]; Poirez, Königstraße; Emil drungen stimmte die Stadtverordneten-Ver- brauchten Badewassers aus den einzelnen Post, Salinenstraße [57]; Philipp Rees, Sali- sammlung in der Sitzung vom 28. Februar Bade-Etablissements“ nach den Plänen des nenstraße [123]; Leonhard Reiniger, [Schloß- 1868 dem Vertrag zu. Der Rat beschloss au- Oberbaurats Moore zu Berlin beschlossen. straße 5]; Schäfer, Prinz Carl [Mannheimer ßerdem die Bildung einer „Commission für Die Inbetriebnahme wurde für den 1. April Straße 95]; Valentin Scheiber, Salinenstraße Salinenangelegenheiten“. Mitglieder waren 1869 vereinbart, die Kosten waren mit 27.571 [117]; Ferdinand Schraut, Salinenstraße [35]; der Beigeordnete Polstorf und die Stadtver- Mark veranschlagt. Am 26. September 1868 Seibert, Petersplatz [?]; Dr. Strahl, Louisen- ordneten Dr. Prieger, Henke, Sahler und beschloss die Stadtverordnetenversammlung straße; Peter Trautwein, Elisabethstraße; Winckler. Im April 1868 ließ Bürgermeister ein weiteres wichtiges Detail: Bei der Saline Westenberger, [?] und Wiegel, Kreuzstraße. In Küppers erstmals eine Liste von interessierten Karlshalle sollte das bereits im preußisch- den Folgejahren wurde die Soleleitung weiter Badehausbetreibern erstellen. Die Liste um- hessischen Friedensvertrag erwähnte Pump- ausgebaut und viele weitere Badehäuser, das fasste 40 Namen von Hotel- und Badehaus- werk, angetrieben von einem „Locomobil“ Viktoriastift, Franziskastift und die Kranken- besitzern aus beiden Stadtteilen vom Kur- (fahrbare Dampfmaschine), die Soleleitung häuser St. Marienwörth und Diakonie ange- viertel bis zur Mannheimer Straße und von der bis hinauf zu dem geplanten Hochbehälter schlossen. Salinenstraße bis zur Hochstraße. mit dem nötigen Druck versorgen. „Das In den Wintermonaten wurde die Solewas- Neben dem Oranienhof fehlte auch das Druckrohr [der Zweigleitung] passiert den serleitung außer Betrieb genommen. Bei Be- Kurhaus in der Liste. Denn das 1841/42 er- Eisenbahnviadukt und führt an der Gärtnerei darf musste die Sole dann – ebenso wie die baute Kurhaus war exklusiv an die 1826 von Franz Herter vorbei auf direktem Weg nach Mutterlauge nach wie vor – wieder mit dem Carl August Zeller entdeckte und nun der dem Salzwasserreservoir, welches ca. 33 Me- Fuhrwerk angeliefert werden. Im Sommer Solbäder AG gehörende „Nahequelle“ (spä- ter über dem Flußbette der Nahe auf der 1871 kam es zu erheblichen Störungen bei der ter an die 1893 erbohrte „Kurparkbäderquel- nächsten Höhe, dem sogenannten Hasen- Belieferung der Badehäuser mit Sole. Durch le“) angeschlossen. Zur Versorgung der Ba- rech, angelegt ist. Das Reservoir ist von Außen die anhaltende Trockenheit in den Monaten dezimmer mit Sole beschaffte die Solbäder mit einer ca. 1 Meter starken Erdschicht von Juli und August konnten die Großherzoglich AG 1846 eine Dampfmaschine nebst Pumpe, allen Seiten umlagert, um eine gleichmäßige Hessischen Salinen Carls- und Theodorshalle mit der die Sole „in eiserne Reservoirs im Temperatur im Innern zu erzielen. Der Platz den erforderlichen Bedarf nicht immer be- oberen Stockwerk“ gepumpt wurde. rings um das Reservoir ist mit Baumanpflan- reitstellen. Die verärgerten Badehausbesitzer Am 16. April 1868 beschwerten sich die in zungen umgeben“. Der Hochbehälter am forderten die Stadt zur Kündigung des Ver- der „Brunnen-Pacht-Gesellschaft“ zusam- Tannenwäldchen hat ein Fassungsvermögen trages auf. Im Jahre 1894 kam ein neues men geschlossenen Badehausbesitzer in ei- von circa 600 Kubikmetern bei einer Grund- Problem auf die Stadt zu: Die „Siemens-Was- nem Schreiben an die o. g. Salinenkommissi- fläche von 14 x 14 m. Das Reservoir besteht sermesser“ waren durch das Solewasser un- on über den schleppenden Fortgang der Sa- aus fünf nebeneinander liegenden Tonnen- che: „Die Saison steht vor der Thüre; jeder gewölben mit 12 Stützpfeilern. 8) Badehausbesitzer pflegt im April seine Re- Im Februar 1869 legte die Stadt den Bade- servoirs mit Soole und Mutterlauge zu füllen, hausbesitzern eine vertragliche Regelung zu da mit jedem Tag die Bereitung von Bädern den Details des Soleleitungsprojekts vor. Da- gefordert werden kann. Schließlich haben die nach erklärte sich die Behörde dazu bereit, die Badewirthe ihre Rechte in der sicheren Er- Soleleitung bis an den Wasserzähler des je- wartung an die Stadt abgetreten, daß noch in weiligen Gebäudes zu verlegen, die Kosten diesem Jahr [1868] die Arbeiten zur Röhren- für die Verlegung von der Grundstücksgrenze leitung begonnen werden. Wir ersuchen, daß bis zum Zähler hatten allerdings die Bade- dieser Erwartung, deren Folgen ebenso be- hausbesitzer zu übernehmen. Die Abführung deutend für die Interessen der Stadt wie der des verbrauchten Solewassers wurde durch Bade-Industrie sind, entsprochen werde“. eine gesonderte Leitung ebenfalls von der Stadt sichergestellt. Eine „Versickerung des Planung und Bau der Soleleitung Badewassers“ war ausdrücklich untersagt. Am 24. August 1868 beantragte die Stadt Für die Solewasserleitung verwendete die zur Bewältigung der Baukosten für die Sole- Stadt gusseiserne Rohre, die mit „Hanf und Das mittlere der fünf Tonnengewölbe des Solehoch- leitung bei der „Rheinischen Provinzial Hülf- Blei“ abgedichtet wurden. Die Leitung war behälters am Tannenwäldchen. Foto: Rolf Schaller, skasse in Köln“ eine Anleihe über 50.000 Ta- für einen Druck von 10 atü ausgelegt. Die Ab- Bad Kreuznach 4 (Seite 4 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 1/2013

Plan der Soleleitung von 1872. Fundstelle: Dr. Eduard Stabel, Memoranda der Brunnen- und Badekur für Brunnengäste im Bade Kreuznach. Kreuznach 1872, Anhang

brauchbar geworden. Auf Beschluss der dampfer- und Kristallisationsanlage umge- schichte der Kreuznacher Mineralbrunnen. Stadtverordnetenversammlung vom 25. April hend demontiert. In dem Gebäude befinden In: Bad Kreuznacher Heimatblätter 2012, 1894 hatten die Badehausbesitzer ab sofort sich heute unter anderem eine Solewasser- Hefte 5 bis 7. ein „Controllbuch über verabreichte Soole- Aufbereitungsanlage und vier Reinsole-Zis- 2) Verpachtung der Carlshaller Quelle, wasserbäder“ zu führen, nach dem die Be- ternen mit einem Fassungsvermögen von je- StAKH Nr. 2682. hörde die verbrauchte Menge an Sole ermit- weils 40 Kubikmetern. Noch heute verläuft 3) Conzessionen zu Mühlen, Gerbereien telte. Die Badehausbesitzer waren von dieser die Bad Kreuznacher Soleleitung – gespeist und Wasserkanälen, StAKH Nr.674 und die Anordnung natürlich wenig begeistert. Eini- vom Theodorshaller Tiefbrunnen – von der Mühlenanlage der Witwe Pitthan zu Orani- ge von ihnen – Wortführer war Ludwig Kauff- Aufbereitungsanlage zum 1928 errichteten enhof, LHA Best. 441 Nr. 14502. mann – verweigerten den bürokratischen Zerstäuber und den beiden Gradierwerken 4) Dampfkessel, StAKH Nr. 1463 und 2481. Aufwand zur Führung der Listen, bis die Stadt im Kurpark, zum Thermalbad, zum Bäder- 5) Eduard Schneegans: Kreuznach, seine damit drohte, ihnen die Soleleitung zu sper- haus und zur Augusta-Klinik in der Kurhaus- Heilquellen und Umgebungen, Mainz 1862, ren. Nach fast dreißig Jahren war 1897 im straße 18. In diesem letzten verbliebenen S. 17. Rahmen von Kanalarbeiten in der Louisen- „Badehotel“ mit direktem Soleleitungsan- 6) Die Städtische Soolewasserleitung und straße die erste Ausbesserung der Soleleitung schluss führt die Soleleitung über einen nor- Friedensverhandlungen des Königreiches und daneben die Instandsetzung des Sole- malen Wasserzähler im Keller zur Badeabtei- Preußen mit dem Großherzogthum Hessen, hochbehälters am Tannenwäldchen fällig. 9) lung der Klinik. Auch die Abzweigleitung StAKH, Nr. 1117. Um 1910 kam es bei der Eisenbahnunterfüh- zum Tannenwäldchen und der dortige Sole- 7) Anleihe bei der Rheinischen Provinzial rung mehrfach zu Brüchen der Soleleitung. Hochbehälter sind nach wie vor in Betrieb. Hülfskasse in Köln, StAKH Nr. 1387. In der Nähe der Oranienquelle wurde 1913 8) Projektierung der Sooleleitung, StAKH „zur Erzielung einer gleichmäßigen Bean- Quellen Nr. 2528. spruchung der Quellen auf der Roseninsel ein Stadtarchiv Bad Kreuznach (StAKH). 9) Projektierung 1889-1895 und 1895-1898, ca. 75 Kubikmeter fassender Soletiefbehälter Landeshauptarchiv Koblenz (LHA). StAKH Nr. 1067 und 1068. zur direkten Speisung des Bäderhauses ge- Oeffentlicher Anzeiger. baut. Ecke Friedrich- und Luisenstraße wurde Paul Foltynski: Bad Kreuznach, Mitteilun- zwischen der neuen Leitung vom Soletiefbe- gen für Ärzte und Kurgäste, Berlin 1884, hälter zum Bäderhaus und der alten allge- Staatsbibliothek Berlin. meinen Soleleitung eine Verbindung herge- Dr. Eduard Stabel: Memoranda der Brun- Die Bad Kreuznacher Heimatblätter stellt“. nen- und Badekur für Brunnengäste im Bade erscheinen monatlich in Zusammenarbeit Kreuznach, R. Voigtländer, Kreuznach 1872. mit dem Verein für Heimatkunde für Stadt Schluss Die Salzproduktion in dem am 3. Juni 1975 Anmerkungen und Kreis Bad Kreuznach eingeweihten neuen Sudhaus an der Theo- 1) Vgl. dazu ausführlich Rolf Schaller: Von e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, dorshalle wurde 1999 eingestellt, die Ver- Salzquellen und Gradierwerken. Zur Ge- Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 2/2013 BadKreuznacher Beilage Bad Kreuznach Heimatblätter

Eine „Reise nach dem Donnersberg“ (1852) Aus den Lebenserinnerungen von Emil Rudolf Köhler

VORGESTELLT VON JÖRG JULIUS REISEK, BAD KREUZNACH

Der frühere Herrsteiner Bürgermeister karte besaßen, nach der wir uns hätten rich- Emil Rudolf Köhler (1832-1924) hinterließ ten können. Er riet uns über Marienthal hi- umfangreiche Lebenserinnerungen, die er nauf zu steigen und den Abstieg durch das nach der Pensionierung aufzeichnete. Im Falkensteinertal nach Winnweiler zu neh- 2001 erschienenen ersten „Kreuznacher Le- men und dann den Rückweg über Schweiß- sebuch“ wurden seine Kreuznacher Schul- weiler und Rockenhausen durch das Al- erinnerungen (1846-1853) publiziert, die senztal. Gleichzeitig besorgte er uns einen nachfolgende Passage dabei jedoch aus Führer, auf dessen Zuverlässigkeit im Füh- Platzgründen weggelassen. 1852 unternahm ren vertrauend wir das üppige Tal des Al- der Gymnasiast mit Freunden eine zweitä- senzbaches verließen und bergan nach einer gige Wanderung zum nahen Donnersberg, öderen trocknen Gegend schritten. Bis zum dessen Geschichte und Naturschönheit Leiningerhof konnte uns der Führer die rings lockten. Die drei Jugendlichen fanden eine sichtbaren hoch gelegenen Ortschaften ursprüngliche, nur durch Land- und Forst- nennen. Als er aber vom Hengstenbacherhof Der Adlerbogen ziert das Titelblatt des Donners- wirtschaft berührte Landschaft vor, in die [heute: Hengstbacherhof] aus eine andere bergführers von 1878. Der Illustrator entwarf nach noch kein Verschönerungsverein eingegrif- Richtung einschlug, die uns in paralleler dieser Vorlage ein Denkmal, das 1880 eingeweiht fen hatte. Erst Jahre später nahm mit der In- Richtung mit dem hinten aufragenden Don- wurde. betriebnahme der Zellertal- und Donners- nersberg führte, begannen wir an seiner bergbahn (1872-74) die Besucherfrequenz Wegekunde zu zweifeln und veranlaßten zu. Seit 1864/65 bekrönte der Ludwigsturm ihn, sich bei den Bauern nach dem nächsten das Gipfelplateau und durch zahlreiche an- Wege zu erkundigen; zumal sich ergab, daß se, die Frau auf dem Felde, das Feuer im gelegte „Kunstwege“ war die Zugänglich- er noch nie in Marienthal gewesen, wohin er Herde war ausgebrannt. Er konnte uns nichts keit verbessert worden. Bequeme Wege uns doch führen sollte und auch die Chaus- bieten als Brot, Butter und Käse und sehr führten zum Hirtenfels, zur Wacht am Rhein, see nach Kirchheimbolanden nicht kannte. fragwürdiges Bier. Da man solche Touren dem Spitzfels und zum Moltkefelsen mit dem Nach eingezogener Erkundigung ging es auf des Naturgenusses wegen macht, nicht um spektakulären Adlerbogen (1880). Ein 1878 verschlungenen Fußpfaden über den Ober- ein gutes Essen zu erhalten, so nahmen wir erschienener Führer aus dem Kreuznacher hof nach der Dannenfelserchaussee hinauf. das gebotene dankbar an und witzelten wei- Verlag von Robert Voigtländer belegt die Als wir diese erreichten, entließen wir unse- ter, unserer augenblicklichen Stimmung fortgeschrittene Umgestaltung durch den ren unsicheren Führer, da wir nun Marien- entsprechend. So über die Bilder, die, Heilige Pfälzischen Verschönerungsverein. thal allein erreichen konnten. Macco, der an darstellend, mit zerbrochenen Gläsern un- diesem Tage die Kasse führte, überreichte mittelbar unter der Decke hingen, damit die Emil Rudolf Köhler schilderte seine Wan- ihm acht Silbergroschen für seinen Dienst, Kinder nicht daran kommen konnten, und derung zum Donnersberg in seinen Erinne- womit er wohl zufrieden war und uns Glück über die blumige Tapete. Der Spaßmacher rungen wie folgt: zur Weiterreise wünschte. Macco leitete das Gespräch dem Wirt ge- „Am 4. Juni 1852 wurde morgens in aller Unterwegs hatten wir uns mit Anekdoten genüber so ein, als seien wir Handwerks- Frühe die Reise nach dem Donnersberg an- und durch Erzählungen von Reiseabenteu- burschen, wollten heute noch bis Kaisers- getreten. Zu derselben fanden wir uns drei ern unterhalten und dabei über die köstli- lautern und morgen bis Mannheim, um dort Mann hoch: [Ad.] Macco, [Adolf] Rettig und chen Witze Maccos herzlich gelacht. Hinter Arbeit zu erhalten, erklärte auch, daß es mit ich, […] auf der Badebrücke zusammen. Der der Rußmühle begegnete uns ein sauberes unserer Kasse schlecht bestellt sei und wir Weg führte uns zwischen Rheingrafenstein Mägdelein, das uns auf Befragen erklärte, uns morgen ans fechten [betteln] begeben und Ebernburg durch Münster. An der alten wir würden in einer viertel Stunde in Mari- müssten. Der Wirt schien das zu glauben, Baumburg vorüber kamen wir nach dem enthal sein. Es dauerte indes, da wir uns in wurde später aber wieder stutzig, als ein Ju- stattlichen Dorfe Hochstetten [heute: Hoch- der inzwischen hervorgetretenen brennen- de hereinkam und wir uns lateinisch unter- stätten]. Da wir bei etwas bedecktem Him- den Junisonne langsam dahinschleppten, hielten. Denn er nahm uns für die schlechte mel rasch ausschritten, so erreichten wir eine volle halbe Stunde, bis wir das im Stich Bewirtung nicht weniger als zehn Silbergro- schon um einhalb zehn Uhr das Städtchen [stark ansteigender Abhang] liegende Dorf schen ab. Nach einer Rast von zwei Stunden Alsenz mit seinem hübschen Dom [gemeint erreichten. Nachdem wir Umschau unter den brachen wir mit einem neuen Führer auf, ei- ist die auf das späte Mittelalter zurückge- Wirtshäusern gehalten, gingen wir in das je- nem alten Mann, der zwar wegekundig war, hende evangelische Pfarrkirche], nahmen nige, welches uns am einladensten aussah. aber uns doch die Orte nicht alle nennen dort im Posthause ein Frühstück ein und hol- Hatten wir doch nach einem sechsstündigen konnte, die wir oben sahen. Unmittelbar ten uns beim Posthalter Rat über den einzu- Marsche um ein Uhr nachmittags ein gutes hinter Marienthal fing die steile Bergtour schlagenden Weg, der uns gänzlich unbe- Mittagessen verdient, doch es kam anders. über den Römerweg an. Da auch die Sonne kannt war; da wir nicht einmal eine Hand- Der Wirt, ein alter Bauer, war allein zu Hau- mit ihren grellen Strahlen nicht so sparsam 2 (Seite 6 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 2/2013

wegt, setzten sofort ihre Hüte auf, um zu zei- gen, daß sie Städter und keine Tagelöhner sind. Einige Schritte weiter treffen wir eine Partie junger Leute, die zu den Tönen eines Musikinstrumentes auf dem Rasen ein Tänzchen machen und ein Fässchen Bier daliegen haben. Auch hier sind wir als Gäste angesehen. Ein Glas Bier mundet herrlich und ein Tänzchen mit der kredenzenden Hebe [ausschenkenden Göttin] auf dem Ra- sen wird auch nicht verschmäht. So haben wir doch etwas Schönes hier erblickt und er- lebt und munter geht es in der beginnenden Dämmerung abwärts weiter. Plötzlich greift mich Rettig an der Schulter und veranlaßt mich rückwärts zu gehen. Da sehe ich dann eine prächtige Felspartie, die mich an die Der Donnersberg mit dem Ort Dannenfels von Marnheim aus gesehen (Lithographie 1878). gefallenen Felsen bei Oberstein erinnert und an [den Ort] Thal im Thüringer Wald. Turm- und festungsartig aufragende Wände von weißem Sandstein! Man sieht hübsche Pro- war und uns am Rücken ordentlich wärmte, und die Vogesenkette bis nach Frankreich menadenwege, die auf eisernen Stegen und so begann bald ein allgemeines Schwitzbad, hinein. Einzelne Berge konnte uns der Füh- Brücken über den Bach führen zu Tanzplät- dem aber der Führer dadurch ein Ende rer nicht nennen, da seine geografischen zen; hübsche Küchen [Nischen?] und launige machte, daß er gleich hinter dem ‚Basten- Kenntnisse soweit nicht reichten. Plätzchen schmiegen sich an die Felsen. Lei- haus’ [Meierhof bei Dannenfels] einen Fuß- Wohl befriedigt und über Erwarten für der hindert uns die fortschreitende Dämme- pfad durch den kühlen Wald einschlug. Um unsere Mühe belohnt verließen wir die Aus- rung in diese Irrgänge einzudringen und einhalb drei Uhr erschienen wir oben auf der sichtspunkte, um nach Winnweiler zu eilen, mahnen uns auch die müden Beine zum Fläche des 700 m [genau: 687 m] hohen wo wir übernachten wollten. Nun zeigte sich Aufsuchen der Nachtherberge. Wir waren, Bergkolosses und trat die Aussicht nach wieder die Brauchbarkeit unseres Führers. wie uns später der Wirt im Hotel ‚Zur Pfalz’ Norden schon sofort hervor. Wir genossen Durch nähere Pfade führte er uns über den mitteilt, der auch bei der lustigen Gesell- dieselbe zunächst aus den Fenstern des dort Rücken des Berges durch einen herrlichen schaft gewesen, mitten in den ‚elysäischen befindlichen Mennonitenhofes [an der Stelle Buchenwald hinab, wie ich noch keinen ge- Gefilden’ von Winnweiler in dem berühmten des ehemaligen St. Jakobsklosters], in des- sehen. Hier erkannten wir die Berechtigung ‚Falkensteinertal’ gewesen, ohne daß uns sen zweites Stockwerk wir uns begaben, um der germanischen Sitte, die Gottesverehrung unser Führer irgendwie darauf aufmerksam dort eine Tasse Kaffee zu bekommen. Wir im hochgewölbten Haine abzuhalten und gemacht hätte. Er hatte eben als Bauer für so erkannten sogleich den Rotenfels bei Müns- Macco rezitierte die hübsche Stelle aus ei- etwas keinen Sinn. Wir trafen denn auch bei ter am Stein und den Scharlachberg bei Bin- nem Malmannschen Gedichte: ‚Du hast dei- völliger Dunkelheit in dem Städtchen Winn- gen recht deutlich und begaben uns darauf ne Säulen dir aufgebaut und deine Tempel weiler und in unserem Hotel, das gleichzeitig nach dem „Römer“, dem früheren römischen gegründet und so weiter’ [Siegfried August Winnweilers Casino war, ein. Ließen dort Lager, von wo ehedem die Römer Umschau Mahlmann (1771-1816), aus dem Gedicht: unserem alten Führer ein Mahl und ein Glas über die Pfalz und die Rheinebene hielten. ‚Gebet der Kinder’]. Je tiefer wir kamen, Wein aufstellen und erfreuen uns der süßen Der Blick über dieselbe ist in der Tat sehr desto mehr verschwanden die öfter durch die Ruhe hinter einem guten Glase Bier; suchen großartig und überwältigend. Das Land Wipfel der Buchen sichtbaren blauen Berge aber schon nach einer Stunde das Bett auf. breitet sich in üppiger Fülle wie ein bunter des Schwarzwaldes am Horizonte. Immer Während Rettig, der offenbar schon früher Teppich bis zu dem weiten Bogen des Rhei- weiter ging es nach rechts hinab nach dem einmal hier gewesen war, schon eine halbe nes aus. Dahinter die blauen Berge des Tau- Mordkammertal, einem schönen friedlichen Stunde vor Winnweiler am Ausgange des nus, aus denen sich besonders der spitze Wiesentälchen, in dem man die Grillen zir- Tales sich von uns getrennt hatte und nach Feldberg bemerklich macht, über den hinaus pen hört, dem kein Wanderer einen so Hochstein zu seinem Vetter Fritz Euler, dem die römischen Kaiser sich trotz aller Macht schauerhaften Namen geben würde. Der Verwalter des von Gienanth´schen Eisen- nicht seßhaft zu machen vermochten. Unten Name ist historisch. Ein Herzog von Lothrin- werkes, ins Nachtquartier gewandert war. vor uns lag das Schlachtfeld von Göllheim, gen überfiel [während des 30-jährigen Krie- Auf unserem Zimmer besprechen Macco und wo [1298] zwei deutsche Kaiser [eigentlich: ges] hier einen in der abgelegenen Waldes- ich die Tagesereignisse noch weiter. Die Könige] gegeneinander fochten; wo der stille gelagerten feindlichen Haufen und tö- Einrichtungen im Hause fanden wir proper, Habsburger [Albrecht I.] siegte und sein dete viertausend Mann. Es marschierte sich gute Betten, besser wie im ‚Pfälzer Hof’ zu Gegner Adolf von Nassau im persönlichen hier herrlich in dem Waldesschatten, der uns Kreuznach, schliefen vorzüglich und erho- Kampfe fiel und dann seine Gruft zu Speier im weiteren Abstieg wieder aufnahm. im Dome fand. Eine große Menge an Ort- Nach reichlich einer Stunde erblickten wir schaften, Türmen und Häusern erblickt hier die Schlossruine ‚Falkenstein’. Der Anblick das Auge überall zerstreut. Es blitzten die der Schlossruine, die nur von einer Seite zu- Dächer und Gewässer im Sonnenschein auf. gänglich war, entzückte uns und veranlasste Besonders großartig nimmt sich am äußers- uns stehen zu bleiben. Den anderen voran ten Rande der Rhein bei Germersheim aus, erkletterte ich den Gipfel des hohen Felsens wo er in seiner ganzen Breite sichtbar ist und trotz des langen Marsches. Nachdem wir uns man Dampfschiffe erkennen kann. Worms, oben umgeschaut, wanderten wir auf Guntersblum und die Türme von Mainz er- schlechtem Pfade durch das armselige, noch glänzen und sieht man selbst jenseits des an Leibeigenschaft erinnernde Dorf Falken- Rheinbogens mit bloßem Auge noch blit- stein, das nur aus kleinen Felsennestern be- zende Punkte, die uns der Führer als das fer- stand, hinab ins Falkensteinertal, dem ein ne Darmstadt bezeichnete. Rechts erhebt romantischer Ruf vorausgeht. Wir fanden ein sich im Hintergrunde der Odenwald mit der Waldtälchen, hörten die Grillen zirpen und charakteristischen Spitze des Melibokus. Im die Vögel singen; aber von Felsen keine Westen erscheint die Glangegend mit dem Spur. Doch trafen wir zwischen den Hecken Sonnenhof bei Grumbach. eine muntere Schar von Männern, Frauen Der Führer teilte uns mit, daß 1849 die und Mädchen, teils Wein, teils Kaffee trin- Freischärler auf dem von uns besetzten Plat- kend. Auf unsere neugierige Frage, was ze ihre Freiheitsreden hielten und führt uns denn hier los sei, erfuhren wir, daß ein Loh- nun zum Königsstuhl, dem höchsten Punkt schlag abgeholzt und man heute mit dem des Donnersbergs, dessen Name hergeleitet Ablohen fertig geworden sei und daher zum wird von der Tatsache, daß hier fränkische Schlusse ein ländliches Fest feiere. Man Könige zu Gericht saßen. Von hier aus sahen reichte uns Wein zum Willkommen. Die Der Königsstuhl, der höchste Punkt des Donners- wir die höchsten Spitzen des Schwarzwaldes Mädchen, die sich vorher bloßköpfig be- bergs (Lithographie 1878). Bad Kreuznacher Heimatblätter - 2/2013 (Seite 7 des Jahrgangs) 3

Das Waldhaus (Holzstich 1878) dient nach mehrfacher Umgestaltung bis heute als Gaststätte.

ben uns am anderen Morgen um vier Uhr frühe war. Um elf Uhr kamen wir durch Al- Bedeutung. Kreuznach: R. Voigtländer 1878. völlig ausgeruht. Auch die Blase, die Macco senz. Der Durst veranlaßte uns, in Alten- (Ein Exemplar befindet sich in der Heimatwis- abends am Fuße bemerkt und mit Talg ge- baumberg süße Milch zu trinken. Erst um senschaftlichen Bibliothek des Landkreises schmiert hatte, war geheilt. zwei Uhr nachmittags gelang es uns Kreuz- Bad Kreuznach). Illustrator dieses Donners- Nach dem Frühstück im Wirtszimmer tra- nach zu erreichen. Ein schon in Münster am bergführers war der Eisenbahningenieur Au- ten wir um fünf Uhr den Rückweg nach Stein aufsteigendes Gewitter brach erst los, gust Freiherr Schilling von Cannstadt. Kreuznach über Hochstein an, wo wir in der als wir unser Heim in Kreuznach eben er- - Blum-Gabelmann, Franziska: Johann Ja- Wohnung des Hüttenverwalters Euler vor- reicht hatten.“ cob Beinbrech (1799-1833). Bürger – Kaufmann sprachen und Rettig beim Kaffee antrafen. Dass Wanderungen zum Donnersberg im – Spalziergänger. Bad Kreuznach: Ess 2006, vor Herr Friedrich Euler, der mich noch von frü- 19. Jahrhundert zum Ausflugsprogramm des allem S. 70-75. her her kannte, begrüßte uns freundlich, bot 1819 gegründeten Kreuznacher Gymnasi- - Blum-Gabelmann, Franziska: Johann Ja- uns noch einen Imbiss und zeigte uns seine ums und seiner Vorgängerschule (1807 bis cob Beinbrech. Ein Romantiker unterwegs – Erzgruben. Das Anerbieten, das Eisenwerk 1819) gehörten, bezeugt auch der Kreuzna- auch in der Nordpfalz. In: Nordpfälzer Ge- einzusehen, müssen wir mit Dank ablehnen, cher Kaufmann Johann Jacob Beinbrech, der schichtsblätter 2008; Heft 1, S. 16-22; Heft 2, S. da wir noch einen achtstündigen Marsch vor im Juni 1811 als Schüler an einer „Lustreise“ 8-19. uns haben, um Kreuznach noch vor der zum Donnersberg teilnahm und dieser Un- größten Mittagshitze zu erreichen. Herr Eu- ternehmung eine längere Passage in seinem Bildnachweis ler geht noch mit bis Schweisweiler, von wo Tagebuch widmete. Alle Abbildungen stammen vom Illustrator wir weiter stiefeln bis Mannweiler, wo wir des oben genannten Donnersbergführers. um zehn Uhr eintrafen. Im Städtchen Ro- Literaturhinweise Bildgeber ist die Heimatwissenschaftliche ckenhausen hatten wir uns nicht aufhalten - Gross, C.E.: Der Donnersberg. Wegweiser Zentralbibliothek des Landkreises Bad Kreuz- mögen, weil es zum Ausruhen dort noch zu nebst Beiträgen zur Feststellung dessen hist. nach.

Streiflichter zum Naheweinbau in den Jahren 1939 bis 1949 Vorwiegend aus Akten des Archivs der Verbandsgemeinde Rüdesheim

VON RAINER SEIL, RÜDESHEIM

Die nachfolgenden Ausführungen bieten Agrarpolitik des Reichsnährstandes“ auf Ergänzungen zu einem kleinen Beitrag des gerade einmal gut vier Seiten (S. 76 – 80) ab. Verfassers, der in Heft 10 der Bad Kreuzna- Neuerdings liegt folgende Veröffentli- Weinberge in der Verbandsgemeinde Rüdesheim, cher Heimatblätter des Jahres 2003 erschie- chung vor: Hartmut Keil und Felix Zillien: links oben die Schloßböckelheimer Kupfergrube. nen ist und folgenden Titel trägt: „Als Frauen Der deutsche Wein 1930 bis 1945. Eine his- die Hauptlast trugen. Zum Weinbau in der torische Betrachtung. Dienheim am Rhein VG Rüdesheim im Zweiten Weltkrieg – Wei- 2010. Das Buch enthält zwar auch zum Na- tere Untersuchungen erforderlich“. hegebiet etliche Aussagen, doch sind weite- förderten die nationalsozialistischen Macht- Schon damals wurde darauf verwiesen, re Forschungen nötig, um ein möglichst ge- haber von 1933 bis 1945 auch den heimi- dass die Quellenlage zur Geschichte des schlossenes Bild des Naheweinbaus in der schen Weinbau. Der Reichsnährstand sah Naheweinbaus in der NS-Zeit und in der un- NS-Zeit und in den ersten Nachkriegsjahren darin eine wichtige Aufgabe von hoher geo- mittelbaren Nachkriegszeit vergleichsweise zu gewinnen. politischer Bedeutung. Die damals große schlecht ist und daher für die Jahre 1933 bis Weiterhelfen kann hier die themenbezo- materielle Not bei den Kleinwinzern und 1949 kaum einschlägige Publikationen vor- gene Auswertung kommunaler Archive. So Bauern im Naheraum sollte unter anderem liegen. So handelt beispielsweise Edgar E. wurden beispielsweise die folgenden Infor- durch die Erschließung neuer Märkte abge- Wagner in seiner 1982 als Band 12 der Hei- mationen vorwiegend den Aktenbeständen mildert werden. matkundlichen Schriftenreihe des Land- des Archivs der Verbandsgemeinde Rüdes- In diesem Zusammenhang sei verwiesen kreises Bad Kreuznach erschienenen vor- heim entnommen. auf die in den 1930er Jahren ins Leben geru- züglichen Dissertation „Der Weinbau an der Aus ihren ideologisch und militärpolitisch fenen Weinpatenschaften. Diese hatten zum Nahe“ den „Naheweinbau im Rahmen der bedingten Autarkiebestrebungen heraus Ziel, in den bislang nicht oder kaum Wein 4 (Seite 8 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 2/2013

trinkenden Regionen des Deutschen Rei- ches, d.h. in Nord- und Ostdeutschland auch den Nahewein stärker zu vermarkten. Als Beispiel hierfür kann die Weinpatenschaft zwischen der Stadt Chemnitz und dem Rüdesheim dienen, die im September 1935 eingerichtet wurde. Bis weit in die 1930er Jahre herrschte auch an der Nahe eine hohe, aus der Weltwirt- schaftskrise herrührende Arbeitslosigkeit. Die NS-Machthaber versuchten dieser noch aus der Weimarer Republik stammenden Erwerbslosigkeit mit zum Teil rigorosen Maßnahmen entgegenzuwirken. So wurden Arbeitslose, teilweise in der paramilitäri- schen Form des Arbeitsdienstes, im Rahmen der sogenannten „Binnenkolonisation“ ein- gesetzt. Auf Kosten von Eichenniederwald und sonnenexponiertem Öd- bzw. Driesch- land wurde dabei die Rebfläche in manchen Weinbaugemeinden erheblich ausgeweitet. Auch wurden in den Weinbergen zwecks besserer Bewirtschaftung gezielt neue Weinbergswege angelegt. Nicht zuletzt , , Boos und Ar- genschwang waren von diesen Maßnahmen betroffen. Weinetikett des von 1929 bis 1948 bestehenden Winzervereins Schloßböckelheim. Im Jahre 1939 hatte der Landkreis Bad Fundstelle: Rainer Seil, Chronik der Ortsgemeinde Schloßböckelheim. Schloßböckelheim 2000, S. 177 Kreuznach eine Gesamtrebfläche von 3602, 05 ha, von denen 2855,48 ha im Ertrag stan- den. Wichtigste Rebsorten beim Weißwein waren Österreicher bzw. Silvaner (1198,84 knapper „halber Herbst“ verzeichnet. Der Bis zur rheinland-pfälzischen Kommunal- ha/42%), Gemischter Satz (782,5 ha/27,4%), dortige Winzerverein kelterte 1944 letztmals reform von 1969/70 gehörten zum Amt Rü- und Riesling (773,88 ha/27,1%). Danach Trauben und wurde 1948 ganz aufgelöst. desheim die bedeutenden Weindörfer Nie- folgten in weitem Abstand: Müller-Thurgau Auch im Jahre 1949 traten in den wein- derhausen, und Traisen. Norheim (30,12 ha/1,05%), Traminer (22,79 ha/0,8%), bautreibenden Gemeinden an der Nahe gilt als das älteste Weindorf an der Nahe. Kleinberger bzw. Elbling (13 ha/0,46%), große Frostschäden auf. Im April war der Weinbau ist hier seit dem Jahr 766 bezeugt. Gutedel (3 ha/0,11%) und Malinger (0,6 Austrieb der Reben rasch und gut verlaufen, besaß Anteile an der früheren ha/0,02%). Beim damals unbedeutenden doch in den Vormittagsstunden des 11. Mai Weinbaudomäne Niederhausen-Schloßbö- Rotwein entfielen 30,76 ha (1,08%) auf den trat ein Witterungswechsel ein, der eine Ab- ckelheim. Ein Teil der Gemarkung Traisens Portugieser sowie 0,5 ha (0,02%) auf den kühlung unter den Gefrierpunkt brachte. schließt die hervorragenden Weinlagen am Frühburgunder. Besonders junge Triebe wurden schwerst Fuße des sonnenexponierten Rotenfelsmas- Im Jahre 1941 nahm die Waldböckel- geschädigt. Dennoch waren die Folgen des sivs mit ein. heimer Rebfläche 70 ha ein, wovon 66,4 ha im Frostes lokal sehr unterschiedlich. Während Im Jahre 1947 ging die ehemals preußi- Ertrag standen. Der Ernteertrag betrug je die Weinberge an der unteren Nahe fast ohne sche Weinbaudomäne Niederhausen- Hektar bei gemischtem Satz 26 Hektoliter, Schäden blieben, wurden die Lagen an der Schloßböckelheim als staatlicher Wirt- bei Müller-Thurgau im reinen Satz 60 hl. Von oberen und mittleren Nahe sowie in deren schaftsbetrieb in den Besitz des neugegrün- den 66,4 ha genutzter Rebfläche entfielen Seitentälern empfindlich getroffen. deten Bundeslandes Rheinland-Pfalz über. 64,9 ha auf den gemischten Satz, 1,5 ha auf Besonders gravierend waren die Schäden Das Landwirtschaftsministerium in Mainz den Müller-Thurgau. nach Meinung der Landes-Lehr- und Ver- berief 1948 Hermann Goedecke als ersten Das Statische Reichsamt Abt. IV Bevölke- suchsanstalt für Weinbau, Obstbau und Leiter. Heute befindet sich die vormalige rungs-, Betriebs-, Landwirtschafts- und Kul- Landwirtschaft Bad Kreuznach in Bad Domäne als „Gut Hermannsberg“ in Privat- turstatistik nahm für das gesamte Deutsche Münster am Stein und am Rotenfels, wo besitz. Reich im August 1939 eine Bewertung der kaum ein Trieb unversehrt blieb. Es folgten Weinbaugebiete vor. Dabei wurden für die unteren Weinbergslagen in Norheim, Quellen und Literatur sämtliche Weinbaugebiete sogenannte Niederhausen und Schloßböckelheim. Man (sofern nicht bereits im Text genannt) „Durchschnittsnoten“ ermittelt, die von 2,0 sprach von einem Schaden von mehr als 60 bis 3,3 reichten. Das Anbaugebiet an der Prozent. Für das gesamte Kreisgebiet wurde -Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand Nahe erhielt zusammen mit Mittelranken der entstandene Schaden auf 2182000 DM 441, Nrn. 44014 und 46707-11 und Schwaben die Note 2,0, während für beziffert. -Archiv der Verbandsgemeinde Rüdes- Freiburg 3,0 und die Ostmark 3,3 errechnet Die bereits vor dem Krieg begonnenen heim, Bestand Rüdesheim Fach 56 Nr.18 und wurden. Maßnahmen zur Schädlingsbekämpfung Bestand Waldböckelheim Fach 34 Nr.1 Der vom 21. bis zum 30. August 1939 in wurden in den Nachkriegsjahren wieder -Seil, Rainer: Chronik der Verbandsge- Bad Kreuznach stattfindende Internationale aufgenommen. So wurde die Spritzbrühan- meinde Rüdesheim. Idar-Oberstein 1998 Weinbaukongress stand unter keinem guten lage in Waldböckelheim erst 1951 fertigge- -Seil, Rainer: Chronik der Ortsgemeinde Stern. Ein großer Aufwand ging diesem stellt. Reblausverseuchung und weiterhin Waldböckelheim. Waldböckelheim 1999 Großereignis voraus. Es wurden eigens ungünstige Klimaeinflüsse bestimmten auch -Seil, Rainer: Chronik der Ortsgemeinde Werbeprospekte gedruckt, Ehrenpforten in den ersten Jahren nach dem Krieg den Schloßböckelheim. Schloßböckelheim 2000 aufgebaut und die Straßen der Stadt mit Weinbau an der Nahe. Nach einer Erhebung -Uhlig, Harald: Landkreis Kreuznach. Lampions geschmückt. Eine Eröffnung fand des Jahres 1946/47 galten damals innerhalb Speyer am Rhein 1954 zwar noch statt, doch mit dem Ausbruch des der heutigen Verbandsgemeinde Rüdes- -Vogt, Werner: Bodenverbesserung durch Zweiten Weltkriegs wurden sämtliche Ver- heim als schwach reblausverseucht: Bocke- Beschäftigungslose. In: Bad Kreuznacher anstaltungen abgebrochen. Für zahlreiche nau, , Dalberg, , Heimatblätter 2001, Heft 1 Ortsgemeinden war dies ein schwerer , St. Katharinen, Schloßböckelheim, Schlag, hatten sie sich doch rege an den Vor- und Waldböckelheim. Die in der bereitungen beteiligt und unter anderem Vorkriegszeit in Angriff genommene Um- Festwagen und Dekorationen vorbereitet stellung der Weinberge auf Pfropfreben mit und finanziert. Unterlagen aus reblausresistenten Ameri- Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen Während des Krieges führten strenge kanerreben war längst noch nicht abge- monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein Winter immer wieder zu großen Ernteaus- schlossen. Alleine 1949 wurden im Kreisge- für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach fällen. Selbst im sonst klimatisch begünstig- biet fast 1 Million, im Jahre 1950 etwa 1,5 e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, ten Schloßböckelheim wurde 1943 nur ein Millionen Pfropfreben hergestellt. Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 3/2013 BadKreuznacher Beilage Bad Kreuznach Heimatblätter

Die „Schwarze Brücke“ Historie der Kreuznacher Salinenbrücke

VON ROLF SCHALLER, BAD KREUZNACH

Die Salinenbrücke wurde im Verlauf von über 260 Jahren mehrfach umgebaut be- ziehungsweise gänzlich neu errichtet. Die erste Brücke aus dem Jahre 1744/45 – ge- baut von der “Herrmannischen Salinenso- zietät“ – war eine Fachwerkbrücke aus Holz mit steinernen Pfeilern. Die stattliche Holz- brücke hatte drei Öffnungen über dem Na- hebett und eine vierte über den Trieb- werkskanal der Karlshalle. Ihren Namen er- hielt die “Schwarze Brücke“ vom dunkel verwitterten hölzernen Tragwerk. Die Sali- nensozietät erbaute auch das bis heute er- haltene Brückenzollhaus als Unterkunft für die Zöllner, die den Verkehr überwachten und das Brückengeld kassierten.

Zwischen Kreuznach und Ebernburg bzw. Münster gab es im 17. Jahrhundert – wie u.a. der Stich von Merian 1) aus dem Jahre 1645 belegt – zwei Wege parallel zur Nahe: Der erste führte von der Neustadt durch Klappergasse und Klappertorturm entlang Salinen bey Kreuznach. Kupferstich von Jacob Rieger 1789 (Ausschnitt). des Beltz [südlicher Hang des Kauzenbergs] Fundstelle: Wolfgang Reiniger, Stadt- und Ortsansichten des Kreises Bad Kreuznach, Bad Kreuznach 1990, S. 168 und dem linken Naheufer unterhalb der Haardt bis Münster. In Münster gab es eine Fährverbindung über die Nahe nach Ebern- burg. Der Weg war besonders am Beltz den für unnütz, solange nicht auch in Ebernburg kundlich erstmals erwähnt wird die Brücke Hochwassern der Nahe ausgesetzt und im eine solche errichtet werde (dort befand lt. Karl Geib in einem „Renovatur-Proto- Winterhalbjahr öfter unpassierbar. sich damals nur eine Fähre). Zumindest koll“ vom Jahre 1756: „Der Salin-District, Der zweite, bequemere Weg führte von aber müsse den Bürgern der Stadt der freie welchen die Obere Gewerkschaft [Theo- der Altstadt vorbei am Kloster St. Peter und Übergang über die Brücke gewährt wer- dorshalle] in Bestand hat, nimbt ohnweit der der späteren Karlshalle, bis die Felsen ein den, da die Kreuznacher den Weg rechts Nohebrück bei dem Steinbruch seinen An- Weiterkommen verwehrten. Dort – etwa bei der Nahe schon seit langer Zeit nutzten. fang ...“. 3) Einen Eindruck von der Konst- der heutigen Schwimmbadbrücke – stand Weiter heißt es im Ratsprotokoll: „Sodann ruktion der ersten Holzbrücke vermittelt von alters her eine Holzbrücke, vermutlich auch wegen denen darauf befindlichen der Kupferstich von Jacob Rieger aus dem eher ein Steg, der allerdings ebenfalls ab Wirthshäusern, durch die der Bürgerschaft Jahre 1789. 4) und an ein Opfer der Nahefluten wurde. die Nahrung genommen würde“. Salinen- Bedingt durch die topographischen Ge- Nachdem die „Herrmannische Salinen- direktor Neumann ergänzte dazu 1929, ver- gebenheiten lag der Brückenkopf auf der societät“ 1743 die Konzession für den Be- mutlich aus dem mit den Salinenakten ver- linken Naheseite hoch über der Nahe – das trieb eines zweiten Salzwerks links der Na- loren gegangenen Schreiben an das Ober- steinerne Widerlager der Holzbrücke ist in he erhielt, ergab sich die dringende Not- amt: Man habe sich zum einen gesorgt, dass der Ufermauer unmittelbar neben dem Zoll- wendigkeit zum Bau einer Fahrbrücke zwi- „die Kreuznacher Dienstboten, Handwerker haus heute noch zu erkennen – während schen den später Karls- bzw. Theodorshalle und Burschen zum Schaden der Kreuzna- das Gelände der Nahewiesen am rechten genannten Salinen. Am 13. Juni 1744 rich- cher Wirte an Sonn- und Feiertagen noch Ufer sehr viel tiefer liegt. Dadurch wurde tete die Sozietät den Antrag an den Rat der mehr als bisher nach den Salinenwirtshäu- dort eine lange Auffahrtsrampe erforder- Stadt Kreuznach, dort eine „Newe Brück“ sern gelockt würden und zum anderen, weil lich. Die Rampe dieser Brücke lag – im Ge- über die Nahe errichten zu dürfen. Am 26. schon einmal das Hochwasser eine Holz- gensatz zur heutigen – noch unterhalb des Juni wurde das Ansinnen erstmals im Rat brücke weggerissen und durch Stauung der Karlshaller Brunnenhauses. behandelt. Der Rat beschloss, die Sozietät Nahe eine schwere Überschwemmung der Die Holzkonstruktion der Brücke erfor- solle zunächst „per Decretum so viell punct Stadt verursacht hatte“. 2) derte einen hohen Unterhaltungsaufwand. 3, naemlich die Nahrung der Stadt anbe- In den Ratsprotokollen im Stadtarchiv Insbesondere die hölzerne Rampe war zu- langend, umbständlich“ gehört werden. Bei gibt es keine weiteren Hinweise mehr zum dem ständig in Gefahr, von Hochwasser der nächsten Ratssitzung am 30. Juni 1744 Bau der ersten „Salinenbrücke“, aber sie und Eisgang weggerissen zu werden. Nach- wurde eine Eingabe an das Kreuznacher wurde kurze Zeit später trotz des Wider- dem wieder einmal die Erneuerung we- Oberamt beschlossen. Man hielt die Brücke stands der Stadt Kreuznach gebaut. Ur- sentlicher Tragwerksteile anstand, ent- 2 (Seite 10 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 3/2012

schloss sich die Salinenverwaltung 1796, die hölzerne Rampe durch eine aus Stein ge- mauerte Auffahrt mit vier Viadukten zu er- setzen. Zur Erlangung des erforderlichen Stein- materials erwarb die Sozietät im März 1797 die Ruine des Ebernburger Talschlosses für den Betrag von 330 Gulden. Das von Carl Ferdinand von Sickingen in den Jahren 1746-1748 erbaute herrschaftliche Schloss zu Füßen der Ebernburg war am 8. Januar 1794 von den abrückenden Franzosen ge- Bauplan der Salinenbrücke von 1796 (Ausschnitt). Bildgeber: Stadtarchiv Bad Kreuznach plündert und in Brand gesteckt worden. Nur die Außenmauern und Kellerräume hatten den Brand überstanden. Für den Ab- bruch des Talschlosses kamen noch einmal ne Auswechselung erforderlich. Außerdem die Brückenordnung verstießen oder ein- 1.053 Gulden und für den Transport der sind in der Konstruktion grundsätzliche fach weiterfuhren. Brückenaufseher Jacob Steine zur Salinenbrücke weitere 1.868 Gul- Mängel vorhanden, die eine Beschränkung Egert beschwerte sich 1846 bei Salinendi- den hinzu. Der Bau der steinernen Rampe gewöhnlicher Lasten auf 70 Centner emp- rektor Geyger ob dieser Missachtung, zu- und die Erneuerung des Holztragwerks wa- fehlen. Die Brücke befindet sich in hessi- mal „die Sünder in Kreuznach ohnehin ren nach vier Jahren im November des Jah- schem Eigenthum, die Unterhaltung obliegt meist freigesprochen“ würden. res 1800 fertiggestellt. Insgesamt kostete der Salinenverwaltung“. Die Salinenver- Im September 1843 wurde zum ersten die neue Brücke 27.000 Gulden. 5) waltung bemerkte in einem Schreiben vom Mal der Ersatz der Holzbrücke durch eine Inzwischen hatte die Französische Revo- 7. Mai 1837 dazu: „Bekanntlich wurde die Steinbogenbrücke angedacht. Doch erst lution stattgefunden und nach dem Sieg hiesige Brücke 1744 zu einer Zeit angelegt, nachdem die Straße von Kreuznach nach über Napoleon folgte die Neuordnung Eu- in der längs des Stadtberges [Kauzenberg] Ebernburg 1849 zur „Staatsstraße“ erhoben ropas durch den Wiener Kongress. Eigen- nach der Klappergasse in Kreuznach noch wurde, nahmen die Neubaupläne Gestalt tümer der Salinen und damit auch der ein Weg bestand. Die Brücke war zum aus- an. In einem Schreiben vom 24. April 1849 „Theodorshaller Brücke“ war nunmehr das schließlichen Gebrauch durch die Saline be- beauftragte das Ministerium für Öffentliche Großherzogtum Hessen. Zuletzt 1828 waren stimmt“. Am 14. August 1837 erließ Ober- Arbeiten in Berlin die Königliche Regierung der Hessischen Salinenverwaltung wieder bürgermeister Buß die folgende Anord- in Koblenz, eine „Erklärung der erhebliche Kosten durch die erforderliche nung: Großherzoglich Hessischen Salinen-Ver- Renovierung des hölzernen Brückentrag- „1. Die Höchstlast für Fuhrwerke wird auf waltung anzufordern, zu welchem Beitrage werks entstanden. In diesem Zusammen- 20 Centner pro Pferd, bei mehr als zwei Pfer- sich dieselbe für den hauptsächlich in ihrem hang kam es auch wieder zu Diskussionen den auf höchstens 60 Centner je Fuhrwerk Interesse liegenden Straßenbau bereit fin- mit der Stadt Kreuznach über den von der festgelegt. den läßt. Falls dieselbe als Bedingung die Salinenverwaltung erhobenen Brückenzoll. 2. Über die Brücke darf nur im Schritt ge- Befreiung von der ihr obliegenden Unter- In einem Schreiben vom 13. Juni 1830 be- fahren werden und nur in der Mitte der Fahr- haltung der Nahebrücke bei Carlshall stellt, richtet der Salinendirektor an die Groß- bahn. so wird es sich fragen, ob die Gemeinde herzoglich Hessische Ober-Bau-Direktion: 3. Wenn mehrere Fuhrwerke gleichzeitig Kreuznach, nachdem sie sich bereits gegen „Für die Unterhaltung der Brücke für die an der Brücke eintreffen, dürfen sich nie die Erhebung des Wegegeldes zur Unter- nach Münster und Alsenz führende Pariser zwei zu gleicher Zeit auf dem nämlichen haltung der Straßenstrecke bereit erklärt Chaussee kann die Erlaubnis zur Erhebung Brückenbogen befinden. hat, nicht auch die Unterhaltung der Nahe- des Brückengeldes mit um so größerem 4. Jede Verletzung der vorstehenden Be- brücke übernehmen wird.“ 7) Nachdruck reclamiert werden, weil auf den stimmungen wird polizeylich bestraft“. 6) Die Stadt Kreuznach erklärte sich tat- vom Staate unterhaltenen Straßen nunmehr Von den „vereideten Brückenaufsehern“ sächlich bereit, künftig die Unterhaltung ein Chausseegeld erhoben wird und der Ver- war neben der Einnahme des Brückengel- der Salinenbrücke zu übernehmen. 1867 kehr auf der Passage durch die Salinen äu- des auch die Einhaltung dieser Verordnung schlug die Stadt aus Kostengründen vor, ßerst lebhaft geworden ist“. zu überwachen. Doch die Fuhrleute schei- nur das hölzerne Tragwerk der Brücke Schon 1836 musste aufgrund von Be- nen die Vorschriften nicht immer ernst ge- durch einen „eisernen Oberbau“ auf den al- schwerden über den schlechten Zustand nommen zu haben. Laut einem Bericht der ten Steinpfeilern zu ersetzen. Bauinspektor der Brücke der „Wagenbaumeister“ Haupt- Brückenaufseher Jacob Egert und Johann Conradi hatte die Kosten mit 40 000 – 50000 mann Jacoby mit einer erneuten Untersu- Michels hatten sie in der Zeit vom 7. April Reichstalern veranschlagt. Die Bezirksre- chung beauftragt werden. Dieser legte am bis 21. September 1844 insgesamt 14 Fuhr- gierung in Koblenz lehnte die Pläne jedoch 15. Oktober 1836 seinen Bericht vor, in dem leute namentlich der Ortspolizeibehörde ab, weil „sich die ganze Brücke in desola- es heißt: „Die Langhölzer der oberen Bahn gemeldet. 1845 waren es 17, 1846 immerhin tem Zustande befindet und außerdem die sind von Fäulnis angegriffen und machen ei- 13 und 1847 noch 8 Fuhrleute, die gegen späteren Unerhaltungskosten bedacht wer- den müssen. Bei der Wahl des Materials zum Bau der Brücke ist mehr auf Solidität und Dauer als auf äußere Eleganz Rücksicht zu nehmen“. Deshalb sei ein Neubau als massive Steinbrücke vorzuziehen. Im Feb- ruar 1868 bittet die Stadt Kreuznach die Be- zirksregierung, baldmöglichst einen Bau- meister zu benennen, damit die nötigen Bauvorbereitungen, namentlich die recht- zeitige Beschaffung der „Hausteine“ in die Wege geleitet werden, da es „wegen der schlechten Beschaffenheit der alten Brücke durchaus räthlich erscheint, den Neubau im Laufe dieses Jahres [1868] vollständig aus- zuführen“. Der Abbruch der „Schwarzen Brücke“ hätte eine Unterbrechung der Staatsstraße nach Ebernburg für viele Monate bedeutet. Deshalb musste sie vorläufig stehen blei- ben, bis die neue Brücke fertiggestellt war. Unmittelbar oberhalb der Holzbrücke lagen die technischen Anlagen der Saline Karls- halle: Quellen- beziehungsweise Pumpen- Ebernburger Talschloss. Ölgemälde von Friedrich Müller („MalerMüller“). haus, Wasserrad, Triebwerksgraben und Fundstelle: Willy Mathern, Maler Müller 1749-1825, Bad Kreuznach 1974, S. 62 das zugehörige Gestänge. So plante man Bad Kreuznacher Heimatblätter - 3/2012 (Seite 11 des Jahrgangs) 3

zuerst, die neue Brücke unterhalb der alten zu errichten. Die Grundbesitzer an der spä- teren Salinenstraße weigerten sich jedoch, ihre Grundstücke zu verkaufen und legten Widerspruch ein. Am 30. Dezember 1868 verfügte die Bezirksregierung Koblenz, die geplante Steinbogenbrücke sei circa 20 Me- ter flussaufwärts anzulegen. Damit führte sie mitten durch das Gelände der Karlshal- ler Saline. Die eigentliche Salzproduktion war allerdings schon 1812 zur Theodors- halle verlagert worden. Aber so sind seit da- mals sowohl das Karlshaller Quellenhaus als auch das Turbinengebäude – das Was- serrad wurde 1915 durch eine Turbine er- setzt – durch die Salinenbrücke vom zuge- hörigen Karlshaller Gradierwerk und den Salinengebäuden getrennt. Das Jahr 1868 war vorbei und der Bau der neuen Brücke noch nicht einmal be- gonnen. Die Arbeiten standen unter keinem Salinenbrücke bei Kreuznach (1846), Stahlstich von Emil Cauer. Fundstelle: Reiniger 1990, S. 220 guten Stern und die Fertigstellung sollte sich wegen einer Folge unglücklicher Er- eignisse und Katastrophen sechs lange Jah- re bis 1874 hinziehen. Die Holzbrücke hatte Kies zugeschwemmt worden. Am 10. Juni nicht widerstehen. Der noch nicht ausge- eine Breite von 14 Fuß, die neue war auf ei- konnte endlich mit dem Betonieren des härtete Beton wurde ausgespült, sogar ne Breite von 24 Fuß (circa sieben Meter) Landpfeilers und der Aufmauerung der Steinquader stürzten herab. Nach dem ausgelegt. Im Frühjahr 1869 wurden die ein- Rampe begonnen werden. Doch schon im Rückgang der Flut musste der Pfeiler kom- zelnen Gewerke ausgeschrieben. „Nach Juli kam es zu einer neuen Katastrophe, plett wieder abgetragen werden. Am 5. No- Heranziehung der nothwendigsten Arbeits- dem Krieg mit Frankreich. „Die meisten vember beschloss man unter Anwesenheit kräfte“ erfolgte am 24. September 1869 der Zimmerleute und Maurer mussten dem Ru- von Regierungsbaurat Junker aus Koblenz, Erste Spatenstich. Da die Jahreszeit schon fe der Fahne folgen. Zudem wurde der pri- den Bau für das Jahr 1870 einzustellen. Der weit fortgeschritten war, wurde zunächst vate Güterverkehr auf der Eisenbahn ein- Winter 1870/71 war so streng, dass auch die nur der linksseitige Landpfeiler in Angriff gestellt und sämtliche tauglichen Pferde Arbeiten im Staudernheimer Steinbruch, genommen. Dazu musste eine oberhalb der und Fuhrwerke requiriert“. Wieder musste wo die erforderlichen Steine gebrochen Holzbrücke liegende, aus einer Beton- die Baustelle geschlossen werden. wurden, früh zum Stillstand kamen. schüttung und schweren Blendsteinen be- Anfang September 1870 konnte der Brü- Am 26. Februar 1871 begann man mit der stehende Ufermauer abgebrochen werden. ckenbau mit Erlaubnis der Königlichen Re- Bergung der von der Oktoberflut mitgeris- Versuche, die Mauer zu sprengen, schei- gierung endlich – wenn auch mit kleinerer senen Steinquader aus der Nahe. Im April terten und die Mauer musste Stein für Stein Mannschaft – fortgesetzt werden. Bis zum waren die Rampenmauern so weit fertigge- abgetragen werden. Weil sich diese Arbei- 26. September wurde der Beton in den rech- stellt, dass das Lehrgerüst für das Viadukt ten unerwartet lange hinzogen, wollte man ten Flusspfeiler eingebracht und man hoff- errichtet werden konnte. Der Baufortgang wenigstens noch mit den Ausschachtungs- te, dass er bis zum Wintereinbruch aushär- wurde jedoch durch den kriegsbedingten arbeiten für den rechten Landpfeiler be- ten könnte. Doch die Hoffnung wurde zu- Mangel an Arbeitskräften stark behindert, ginnen. Bereits am 10. November mussten schanden: „Am 18. Oktober setzte unge- auch war der Güterverkehr auf der Bahn die Bauarbeiten wegen des hereinbrechen- wöhnlich starkes Regenwetter ein, sodaß noch bis Mai 1871 weitgehend eingestellt. den Winters eingestellt werden. die Nahe innerhalb von 12 Stunden um 8 ½ Die Witterung tat ein übriges. Vom Frühjahr Am 14. Februar 1870 wurden die Arbei- Fuß stieg und den Pfeiler überflutete“. Da bis zum Spätsommer beeinträchtigte au- ten wieder aufgenommen. Die Spundwän- das Flussbett unglücklicherweise durch die ßerordentlich hoher Niederschlag die Bau- de für den rechten Landpfeiler waren vom alten und neuen Pfeiler gleichzeitig einge- arbeiten. Und im Mai 1871 erklärte der Bau- Winterhochwasser weggerissen und die engt wurde, konnte die Spundwand des unternehmer plötzlich, dass er die Arbeiten Grube wieder vollständig mit Sand und neuen Pfeilers der Gewalt des Hochwassers nicht mehr zum Preis von 20 Silbergroschen pro Tag und Arbeiter ausführen könne. Er verlangte einen Aufschlag von 2 ½ Silber- groschen. Bauinspektor Conradi lehnte dies rund- weg ab und versuchte über die Ortsvorste- her der umliegenden Orte und Inserate in den Kreuznacher Lokalblättern neue Ar- beitskräfte anzuwerben – jedoch ohne Er- folg. Conradi musste nachgeben. Die Ta- gelöhner erhielten fortan 22 ½ Silbergro- schen, Maurer und Zimmerleute 25 Silber- groschen pro Tag. Doch darüber war das Jahr 1871 zu Ende gegangen. Bis die Pfeiler hochgezogen, die Bögen errichtet und der Oberbau hergestellt war, vergingen weitere zwei Jahre. Im Jahre 1874 endlich konnte die neue Brücke nach dem Anbringen des Brückengeländers – es bestand aus Rund- hölzern und steinernen Pfosten – ihrer Nut- zung übergeben werden. 8) Nachdem sie 130 Jahre lang Witterung, Hochwasser und Eisgang getrotzt hatte, wurde im Laufe des Jahres 1874 die „Schwarze Brücke“ mit ihrem hölzernen Tragwerk, den steinernen Pfeilern und der alten Rampe abgebrochen. Neben dem Wi- derlager in der Ufermauer sind bei Nied- rigwasser auch die Fundamente der alten Pfeiler heute noch im Flussbett zu sehen. Das Salinental bei Kreuznach, anonymer Holzstich um 1887. Fundstelle: Reiniger 1990, S. 309 Im November 1913 fasste der Kreuznacher 4 (Seite 12 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 3/2012

Stadtrat den Beschluss, wegen des stark ge- stiegenen Verkehrsaufkommens die Sali- nenbrücke und insbesondere die Auf- fahrtsrampe auf der rechten Naheseite ver- breitern zu lassen. Die Baumaßnahme wur- de im Frühjahr 1914 ausgeführt. Bei der Brü- cke selbst erreichte man die Verbreiterung durch die Auskragung der Bürgersteige, bei der Brückenauffahrt durch den Bau einer neuen Stützmauer an der flussabwärts ge- legenen Seite. Kurz vor dem Ende des Zweiten Welt- kriegs, am 16. März 1945, sollte die Sali- nenbrücke ebenso wie die Alte Nahebrü- cke, die Wilhelmsbrücke und die Eisen- bahn- und Landfuhrbrücke von deutschen Soldaten gesprengt werden. Beim Bau der steinernen Salinenbrücke hatte man damals noch keine sog. Sprengkammern in den Pfeilern vorgesehen. So musste der Spreng- trupp – wie bei der Alten Nahebrücke – ein Loch in die Fahrbahn graben, um dort den Sprengsatz anzubringen. Vermutlich aus Zeitnot, denn die amerikanischen Panzer standen schon in und Ebern- burg, hat man nur den mittleren der drei Brückenbögen zerstört. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der fehlende Bo- gen provisorisch überbrückt. Erst vier Jahre Wiederaufbau der Salinenbrücke (1949) durch die Firma Bauförster. später, im Jahr 1949, konnte auch die Sali- Bildgeber: Landesbetrieb Mobilität (LBM), Bad Kreuznach nenbrücke instandgesetzt werden, bauaus- führend war die Kreuznacher Firma Bau- förster. Am 30. September 1953 beriet der Stadt- geführt wurde. Die selbe Firma nahm in ckenzollhaus, das schon seit vielen Jahr- rat den „Zustandsbericht der Kreuznacher den Jahren 1969-1971 den erneuten Aus- zehnten als Wohnhaus genutzt wird, an die Nahebrücken“. Die Eisenbahnbrücke und bau der Rampe in ihrer heutigen Form vor. ehemalige „Schwarze Brücke“. die Wilhelmsbrücke waren bereits wieder 1981 mussten die auskragenden Gehwege aufgebaut, die Landfuhrbrücke war noch der Salinenbrücke von der Firma Isolier- Anmerkungen: zerstört und die Alte Nahebrücke noch ein technik Merschweiler saniert werden. 1) Wolfgang Reiniger: Stadt- und Orts- Provisorium. Zur Wilhelms- und Salinen- 1991 wurde das Stahlgeländer der Brü- ansichten des Kreises Bad Kreuznach, brücke war in dem Bericht vermerkt, dass cke ausgetauscht. Die vorerst letzte Reno- Bad Kreuznach 1990, S. 143: Matthaeus die engen und steilen Auffahrten den Ver- vierungsmaßnahme wurde 2008 durchge- Merian, Creutzenach 1645. kehr behinderten und deshalb dringend de- führt. Dabei wurden die Gehwege instand- 2) Ernst Neumann: Zur Geschichte der ren Ausbau erforderlich sei. So wurde die gesetzt, eine Gussasphaltschicht auf der Kreuznacher Salinen „Karlshalle und Theo- Auffahrt zur Salinenbrücke im Frühjahr Fahrbahn aufgebracht und auf der Brü- dorshalle“, Kreuznacher Zeitung vom 1954 zum zweiten Mal verbreitert. ckenunterseite Spritzbeton zur Erhöhung 7.12.1929. In den Jahren 1963/64 stand eine Sanie- der Beton-Überdeckung aufgebracht. Zur 3) Karl Geib: Historische Topographie rung der gesamten Salinenbrücke an, die Maßnahme, die insgesamt 150.000 € koste- von Kreuznach, II. Teil, Kreuznach 1937, S. von dem hier ansässigen Bauunternehmen te, zählte auch das Anbringen von Fleder- 153. Ernst Gerharz, das in Bad Kreuznach eine mauskästen unter den Brückenbögen. 4) Wie 1), S. 168: Jacob Rieger, Salinen ganze Reihe von Brücken gebaut hat, durch- Heute erinnert nur noch das alte Brü- bey Kreuznach, 1789. 5) Theodorshaller Brückenbau-Rechnung vom 20.04.1801, StAKH, Nr. 2688. 6) Hessischer Straßen- und Brückenbau, Saline Theodorshalle, StAKH, Nr. 2731. 7) Bau der Staatsstraße von Kreuznach nach Ebernburg, LHAK, Best. 441, Nr. 33866. 8) Neubau einer Brücke über die Nahe bei der Saline Theodorshalle im Zuge der Kreuznach-Ebernburger Staatsstraße 1867- 1874, LHAK, Best. 441, Nr. 34206.

Quellen: Stadtarchiv Bad Kreuznach (StAKH). Landeshauptarchiv Koblenz (LHAK). Oeffentlicher Anzeiger. Kreuznacher Zeitung. Ratsprotokolle 1744, StAKH, Gr. 101, Nr. 39. Jahresberichte der Stadt 1913, 1953. Landesbetrieb Mobilität (LBM) Bad Kreuznach.

Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Verbreiterung der Salinenbrücke 1914. Foto: Privatsammlung Rolf Schaller, Bad Kreuznach Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 4/2013 BadKreuznacher Beilage Bad Kreuznach Heimatblätter

Drahtwerke Waldböckelheim – Eine endliche Geschichte (1911-1981) Ein Beitrag zur naheländischen Wirtschaftsgeschichte mit kriegs- und migrationshistorischen Aspekten

VON RAINER SEIL, RÜDESHEIM AN DER NAHE Die Wasserkraft der Nahe er- – unmittelbar in die Nahe gelei- möglichte eine preiswerte tet. 6) Stromgewinnung und die um- In den ersten Monaten ihres Vorbemerkung liegenden Dörfer stellten den Bestehens boten die Drahtwerke Großteil der erforderlichen Ar- 40 bis 60 Arbeitsplätze. 7) Bereits Als am 26. April 1997 der Schornstein der beitskräfte. 1912 war deren Zahl auf 120 ge- ehemaligen Drahtwerke Waldböckelheim Auf dem neuen Firmengelän- stiegen. Meist wurde im Akkord im Rahmen einer gezielten Sprengung pub- de hatte zuvor die Getreide- gearbeitet. Der Verdienst der likumswirksam in sich zusammensank, ver- mühle des Valentin Königsfeld Arbeiter lag pro Tag bei 3 bis 6 schwand der weithin sichtbare Hinweis auf bestanden, deren Gebäude auf Mark. Tagelöhner verdienten einen vormals bedeutenden regionalen Be- einem Firmenplan des Jahres etwa 3 bis 3,50 Mark. Am 15. trieb und Arbeitgeber, der im Jahre 1911 1911 noch eingezeichnet sind. Dezember 1913 trat eine „Ar- seinen Anfang genommen hatte. Sieben Bis 1910 gehörte die Mühle einer beits-Ordnung“ im Kraft, die je- Jahrzehnte waren die Drahtwerke in Wald- Frau Kupfrian, die sie am 2. No- dem Arbeiter bei der Arbeits- böckelheim für die mittlere Nahe und die vember dieses Jahres für 56000 aufnahme auszuhändigen war. umliegenden Dörfer ein wichtiger Wirt- Mark an die Fabrikanten Ber- Bereits im Kaiserreich gab es schaftszweig. kenhoff, Drebes und Co. von der – was heute nicht mehr so geläu- Die Archivzusammenführung in der Ver- Aßlarer Hütte im Kreis Wetzlar fig ist – einen Zuzug von auslän- bandsgemeinde Rüdesheim und die Er- verkaufte.2) Die beiden Unter- dischen Arbeitskräften, vor al- schließung der Akten der ehemaligen Bür- nehmerfamilien stammten aus lem in den Industriegebieten. germeisterei Waldböckelheim 1) ermögli- Altena in Westfalen, wo sie seit Bekannt sind vor allem diese chen es, ein genaues Bild dieser Zeit zu dem Mittelalter ansässig waren „ausländischen Wanderarbei- zeichnen, zumal sie in diesem Umfang bisher und ursprünglich aus dem Ket- ter“ aus Osteuropa und Polen (z. noch nicht heimatkundlich ausgewertet tenpanzerschmiedegewerbe B. im Ruhrgebiet). Seit dem wurden. hervorgingen. 3) Die neuen Be- Bahnbau 1860 waren auch in der Im Rückblick betrachtet lassen sich von sitzer ließen zwei Turbinen zur Nahe-Region Bahnarbeiter aus 1911 bis 1981 alle wichtigen wirtschaftsge- Stromgewinnung in die Mühle verschiedenen europäischen schichtlichen Epochen des 20. Jahrhunderts einbauen und nahmen in neu Ländern beschäftigt, deren an der Lokalgeschichte dieses einstmals errichteten Werksgebäuden die Nachkommen später auch in den wichtigen Arbeitgebers nachvollziehen. Bei Herstellung von Eisendrähten, Drahtwerken Beschäftigung den Arbeitskräften wurde zunächst auf Ein- Drahtstiften, Drahtseilen und fanden. Aktenkundig wurden heimische, später während zweier Weltkrie- Drahtgeweben auf. Wichtige insbesondere Italiener in Wald- ge auf Kriegsgefangene und seit den 1950er Abnehmer wurden nicht zuletzt böckelheim, und an- Jahren auf „Gastarbeiter“ zurückgegriffen. Japan und andere asiatische grenzenden Dörfern. 8) Länder. Die Sprengung des Die Anfänge Aus einem im Verbandsge- Werksschornsteins Die Zeit des Ersten Die Gründung der ehemaligen Drahtwer- meindearchiv Rüdesheim ver- am 26. April 1997. Weltkrieges (1914 - 1918) ke Waldböckelheim war begünstigt durch wahrten Aktenbündel sind der Foto: Kreismedienzentrum Bad Die Waldböckelheimer eine Reihe vorteilhafter wirtschaftsgeogra- Gebäudebestand und das In- Kreuznach Drahtwerke bestanden gerade phischer Standortfaktoren. Besonders be- ventar der Drahtwerke ersicht- einmal drei Jahre, als die „Ur- deutsam – nicht nur für die Anfangsjahre - lich. Demnach gehörten zum katastrophe des 20. Jahrhun- war der Umstand, dass seit 1860 die Nahe- Gebäudekomplex von Anfang derts“ über das Deutsche Reich Eisenbahn von Bingerbrück nach Saarbrü- an: Glüherei, Zinkerei, Drahtzuganlage 4), hereinbrach. Die Eisen verarbeitende Fab- cken zur Verfügung stand. Der Waldböckel- Feindrahtanlage, Turbinen und Kläranlage. rikanlage war aufgrund ihrer umfangreichen heimer Bahnhof befand sich in unmittelbarer Die Verzinkungsanlage wurde behördli- Produktionspalette auch militärwirtschaft- Nähe der späteren Fabrikanlage; die Brief- cherseits am 15. September 1911 genehmigt. lich von besonderer Bedeutung, befand sich köpfe der Firma wiesen anfänglich auf diese 5) Im Jahre 1911 wurden die schmutzigen allerdings ganz im Westen des Deutschen Gegebenheit ausdrücklich hin. Von Beginn Fabrikabwässer in ein Bassin geleitet, worin Reichs und damit in unmittelbarer Grenznä- an waren die Drahtwerke durch einen sich die Schmutzpartikel absetzten. Die sau- he. Schmalgleis-Anschluss mit einem Schie- ren Abwässer flossen gleichfalls in ein Bas- Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurden nenprofil von 70 mm mit der Reichsbahn sin, liefen von dort über eine mit Kalkstein relativ zeitnah sämtliche waffenfähigen verbunden. Über die „Frachtbasis Neunkir- gepflasterte Rinne, wo auf chemischem We- Männer der umliegenden Dörfer zu den chen“ konnten auf diesem Weg die benötig- ge eine „Vorneutralisierung“ stattfand. Da- Fahnen gerufen, was sich in den Beschäftig- ten Rohmaterialien (Kohle und Walzdraht) nach wurden die Abwässer des Produkti- tenzahlen der Drahtwerke sogleich nieder- günstig aus dem Saarland bezogen werden. onsprozesses – wie damals gemeinhin üblich schlug 9) :Hatte die Zahl der Beschäftigten 2 (Seite 14 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 4/2013

wa 10 Prozent statt, bei den unverheirateten Vollarbeitern um etwa 15 Prozent, während die Herabsetzung bei den Jugendlichen noch etwas mehr betrug. Die jetzt bewilligten Löhne entsprechen denen, die die Industrie in Kreuznach zahlt.“ Damit waren die Schwierigkeiten in dem ohnehin turbulenten Jahr 1921 aber noch nicht zu Ende. Im Mai kam es zu einem Streik, von dem die Drahtwerke betroffen waren. Er war kommunistisch organisiert worden. Die Waldböckelheimer Schulchro- nik berichtet darüber: „ Nicht organisierte Arbeiter legten die Arbeit überhaupt nicht nieder. So dauerte der Streik etwa 14 Tage, und einer nach dem anderen nahm die Arbeit wieder auf und war froh, daß die Firma ihn wieder beschäftigte. Die Streikmacher wur- Die Lage der Drahtwerke Waldböckelheim im Gelände von Osten. Foto: Kreismedienzentrum Bad Kreuznach den aber nicht mehr aufgenommen, viele, besonders die jungen Burschen, sind nach dem Ruhrgebiet abgewandert.“ Im Juni 1921 kam es wiederum zu einem Streik in den Anfang August 1914 noch 190 betragen, so gen bedachten Firma Berkenhoff, Drebes & Drahtwerken. 17) sank sie kriegsbedingt bis Ende August 1914 Cie Drahtwerke bei der sonst eher knappen Die Zeitläufte blieben vor allem im links- auf 15, um sich schrittweise wieder auf 40 Lebensmittelversorgung stets bevorzugt rheinischen Raum unruhig. Erinnert sei an (September 1914), 80 (November 1914), 110 behandelt. Auch erhielten die Rüstungsar- das Jahr 1923, das von Inflation und Separa- (Dezember 1914) und 120 (Januar 1915) zu beiter besondere Seifenlieferungen. 15) Ge- tismus geprägt war, wenngleich es im Jahr erhöhen. gen Kriegsende waren 375 Arbeitskräfte in 1923 zu keinen weiteren Ausständen in den Seit Oktober 1914 lieferten die Drahtwer- den Drahtwerken beschäftigt, darunter wei- Drahtwerken kam. Darauf weist ein Verwal- ke Draht an die Militärbehörde. 10) Ein in der terhin zahlreiche Kriegsgefangene. tungsbericht hin, den das Amt Waldböckel- Nähe des Schloßböckelheimer Friedhofs er- heim vorschriftsgemäß an übergeordnete richtetes Arbeiterwohnhaus war 1914 bereits Die Zeit der Weimarer Republik Behörden weiterleiten musste. fertiggestellt. Nach 1915 kamen die ersten (1918 – 1933) Im März 1923 betrug die Zahl der Arbeits- russischen Kriegsgefangenen in die Bürger- Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs be- losen in Waldböckelheim 37 (Zum Vergleich: meisterei Waldböckelheim. Im Kriegsjahr fanden sich die linksrheinisch gelegenen Gesamteinwohnerzahl 1925: 1572), in 1916 genehmigte die Bezirksregierung im Drahtwerke Waldböckelheim in der franzö- Schloßböckelheim 21 (Gesamteinwohner- Koblenz die Erweiterung der Verzinkerei. In sischen Besatzungszone. zahl 1925: 418). Dieser vergleichsweise hohe dem Neubau sollte ein weiterer Dampfkessel Das Jahr 1919 verlief äußerst schwierig. In Anteil an Arbeitslosen hing mit der ungüns- installiert werden. 11) Im September 1917 den Drahtwerken herrschte Mangel an Koh- tigen wirtschaftlichen Entwicklung der wurden in der Fabrikküche der Drahtwerke len und Walzdraht, der aus dem Saarland Drahtwerke zusammen. 18) Im Januar 1924 täglich etwa 50 Personen beköstigt, darunter (Völklingen, Neunkirchen) bezogen wurde. konnten die Drahtwerke bei einer Beschäf- 37 Kriegsgefangene. Hinzu kamen hohe Lohnforderungen der tigtenzahl von 85 bis 90 Arbeitern zumindest Im Kriegsjahr 1917 warf ein feindliches Arbeiterschaft, die eine 40 bis 50-prozentige stundenweise wieder arbeiten. 19) Anfang Flugzeug Bomben bei Schloßböckelheim ab. Einkommenssteigerung verlangte. Die Un- Februar jenes Jahres beschäftigten sie 153 Hierbei gingen eine Granate und ein Blind- ternehmungsleitung bewilligte lediglich den Personen. gänger in einem Weinberg nieder. 12) Das Akkordarbeitern eine Lohnerhöhung von Auch Naturkatastrophen forderten weiter verheerende, noch heute bekannte Hoch- durchschnittlich 15 bis 20 Prozent. Seit dem ihren Tribut. Eine betriebsinterne Quelle wasser am 16. Januar 1918 13) hatte auch 30. Mai 1919 arbeiteten die Drahtwerke berichtet: schwerwiegende Auswirkungen auf die im wieder, hatten aber keine ausreichenden „Nachdem bereits bei den Hochwassern in Nahetal gelegenen Drahtwerke. Darüber Anthrazitkohlen zur Verfügung, die zum den Jahren 1918 und 1920 unsere an der berichtet die Schloßböckelheimer Ortsge- Antrieb des Gasmotors notwendig waren. In Fabrik liegenden Wiesengrundstücke er- schichte: der werkseigenen Schmiede fehlten heblichen Schaden gelitten hatten, große „Der Schaden ist ungeheuer. Das Hoch- Schmiedekohlen, die aus dem Ruhrgebiet Geländestrecken weggeschwemmt wurden wasser hat das neue Seilerei – Gebäude der bezogen wurden. und außerdem ein größerer Durchbruch un- Drahtwerke zum Einsturz gebracht. In den Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich mittelbar neben den Fabrikgebäuden von ganzen Fabrikräumen stand das Wasser 2,00 das Produktionsprogramm. Die Herstellung dem Werkgraben nach dem Nahebett erfolgt Meter hoch. Es bedurfte mehrerer Wochen, von Drahtstiften und Drahtseilen wurde auf- war, hat das um die Jahreswende 1925 auf bis der Betrieb wieder aufgenommen werden gegeben, stattdessen aber Sechseck-Ge- 1926 herrschende, längere Tage andauernde konnte.“ 14) flechte gefertigt. Hochwasser unterhalb des Wehres uns neu- Die großen Schäden, die das Hochwasser Im Februar 1920 ergab eine Aufstellung, en großen Schaden verursacht. Während des hinterließ, mussten dringend beseitigt wer- dass die Drahtwerke in den Geschäftsjahren Höchststandes des Hochwassers begann sich den. Besonders gravierend war die weitge- 1915 bis 1918 ein Geschäftseinkommen von die aus ganz feinem Sand bestehende Bo- hende Zerstörung der Seilerei, weshalb die 86 855,05 Mark erwirtschaftet hatten. 16) denschicht, unmittelbar an das Betonmauer- Firmenleitung noch im Kriegsjahr 1918 beim Daraus errechnete sich die von dem Betrieb werk des Wehrkopfes anschließend, zu lösen Landratsamt Kreuznach einen Antrag auf abzuführende Gemeindeeinkommensteuer. und es entstand so eine Verbindung zwi- zeitnahe Genehmigung der Wiederherstel- Die wirtschaftlich äußerst schwierigen schen Werkgraben und Unterwasser des lung des zerstörten Seilereigebäudes stellte. 1920er Jahre sorgten für zahlreiche Entlas- Wehres, durch welches das Wasser aus dem Bereits am 31. Mai 1918 erteilte die Kreis- sungen. Werkgraben in starker Strömung nach dem verwaltung eine vorläufige Genehmigung, Im April 1921 hatte sich aufgrund der un- Nahebett flutete. Die Folge davon war natur- was die kriegswichtige Bedeutung der Pro- günstigen politischen Verhältnisse die Lage gemäß, daß diese starke in dem Durchbruch duktion nachdrücklich unterstreicht. Ein der Drahtwerke verschlimmert. Vom 15. entstehende Strömung die losen Bodenmas- betriebsinternes Gutachten schlug im Zu- April jenes Jahres an sollten jene Arbeiter sen mitriß und sich so, da der Hochwasser- sammenhang mit der Beseitigung der er- entlassen werden, die noch nicht ein halbes stand mehrere Tage anhielt, ein allmählich heblichen Schäden vor: „Die Erweiterung, Jahr eingestellt waren. Es folgten schließlich immer breiter werdender Durchbruch bilde- welche sich zwischen der Seilerei bezw. Ma- äußerst zähe Verhandlungen zwischen den te.“ 20) schinenhaus und Nahe gebildet hat, wird Arbeitern und der Firma. Es wurde eigens ein Die Auftragslage hatte sich im März 1924 nicht vollständig verfüllt werden dürfen, Schlichtungsausschuss ins Leben gerufen. nicht wesentlich gebessert. 21) Im Winter sondern es muss zwischen den Gebäuden Doch sah sich die Firmenleitung außerstan- war es häufig zu Betriebsstilllegungen und und der Nahe niedriges, nur wenig über Mit- de, von den zuletzt festgesetzten Löhnen ab- zum Einlegen von Feierschichten gekom- telwasser liegendes Vorland verbleiben.“ zuweichen: „Gegenüber den bisherigen men. Im Geschäftsjahr 1926 konnten die Im Juni 1918 wurden die Schwer- und Löhnen fand bei den verheirateten Vollar- Drahtwerke keinen Gewinn erzielen. Sie Schwerstarbeiter bei der mit Heeresaufträ- beitern eine Herabsetzung der Löhne um et- hatten finanzielle Verluste erlitten und baten Bad Kreuznacher Heimatblätter - 4/2013 (Seite 15 des Jahrgangs) 3

um Stundung der Gewerbesteuer. Gegen Jahresende 1927 hatten die Drahtwerke 224 Arbeitskräfte aus 21 umliegenden Orten 22):

Ort Arbeiter

Waldböckelheim 48 Odernheim 37 Schloßböckelheim 32 Sobernheim 24 21 Boos 17 13 6 Norheim 4 Bockenau 3 Sponheim 2 Mandel 2 2 2 Hüffelsheim 2 2 Oberhausen 2 2 Traisen 1 Steinhardt 1 1

Die obige Aufstellung zeigt zweierlei: Zum einen kamen die meisten Beschäftigten aus einem Umkreis von fünf bis zehn Kilometern; zum anderen befanden sich diese Orte mit starker Pendlerbewegung an der überregio- Lageskizze der Drahtwerke aus dem Jahre 1911. Kopiervorlage: Archiv der Verbandsgemeinde Rüdesheim nal bedeutenden Eisenbahnlinie Binger- brück-Saarbrücken. Mit zunehmender Bahnentfernung nahmen folglich die Pend- lerzahlen sprunghaft ab. Es gab in jener Zeit Ferner bezogen die Drahtwerke zahlreiche hütte), die Seitz-Werke (Bad Kreuznach), die noch keine ständigen Busverbindungen. Rohstoffe, z. B. Walzdrähte, aus dem saar- Stanz- und Emaillierfarik der Gebr. Wan- Die vergleichsweise hohe Beschäftigten- ländischen Völklingen. Doch blieb es zu- desleben (), die Laubsägenfabrik zahl darf jedoch nicht darüber hinwegtäu- nächst bei diesen reinen Planungen. Wäh- Pulger (), die Metallwa- schen, dass die Existenz der Drahtwerke in rend des gesamten Oktobers 1931 waren die renfabrik Gebr. Schmitt (Monzingen) und der krisengeschüttelten Zeit der Weimarer Drahtwerke stillgelegt, erst zu Beginn des die Eisengießerei Ebertshagen & Co (Sim- Republik mehrmals unmittelbar vor dem Aus Monats November nahmen sie wieder lang- mertal). stand. Dazu trug nicht zuletzt die Tatsache sam ihren Betrieb auf. 23) Vereinzelt waren Schon um 1935 sah der Koblenzer Regie- bei, dass die schlechte Anbindung der auch schon Drahtwerkarbeiter im Saarland rungspräsident Harald Turner (Amtszeit Drahtwerke an den Durchgangsstraßenver- beschäftigt, beispielsweise in den Saar- 1933-1936) in einer zeitgenössischen Studie kehr sich bei dem wachsenden An- und Ab- drahtwerken Friedrichsthal GmbH. im linksrheinischen, grenznahen Gebiet die transport per Lastkraftwagen zunehmend als Waldböckelheimer Drahtwerke neben vie- unvorteilhaft erwies. Auch stand eine Die Zeit des Nationalsozialismus und des len anderen Betrieben im Nahe-Hunsrück- Werksverlagerung nach Luisenthal im Saar- Zweiten Weltkriegs (1933 bis 1945) Raum unter militärstrategischem Blickwin- land bereits zur Diskussion. Zu Beginn der 1930er Jahre bestanden kel. Turner betrachtete die Waldböckel- Eine Studie um das Jahr 1931 rechnete bei neben den Drahtwerken Waldböckelheim heimer Drahtwerke als „sehr geeignet für einer Standortverlagerung mit eingesparten im Hunsrück-Nahe-Raum folgende Metall den Heeresbedarf“. Innerhalb kurzer Zeit Betriebskosten von RM 73 000. In jener Zeit und Eisen verarbeitende Betriebe: der Ge- steigerte sich die Zahl der Arbeitskräfte in lag die Beschäftigtenzahl bei 320 Personen. brüder Puricelli'sche Betrieb (Rheinböller- den Drahtwerken von 273 Arbeitskräften im Jahre 1938 geringfügig auf 282 im Folgejahr 1939. Der schon vor dem Zweiten Weltkrieg ho- he Beschäftigungsstand wirkte sich nach- haltig auf die Berufsstruktur der umliegen- den Dörfer aus. Von den insgesamt 177 Be- rufstätigen des Dorfes Waldböckelheim hat- ten 43 Einwohner ein Auskommen in der „Eisen- und Metallerzeugung“, worunter die Drahtwerke zu verstehen sind. 24) Ein Teil der Arbeiter fand in Wald- und Schloßböckelheim entsprechenden Wohn- raum. In Schloßböckelheim wurden 1938 ei- gens Arbeiterwohnhäuser errichtet, deren Bau mit nationalen Fördergeldern unter- stützt wurde. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde der Betrieb mit neuen Maschinen ausgestattet, die von der hauseigenen Ma- schinenfabrik in Herborn geliefert wurden. Aus einem umfangreichen Aktenbündel er- gibt sich, dass diese Maßnahme im Zusam- menhang stand mit dem im August 1939 er- folgten Umbau der Schlosserei. Im Septem- ber des selben Jahres wurde eine neue Schalt- und Transformatoranlage installiert. Briefkopf der Drahtwerke in den ersten Betriebsjahren. Kopiervorlage: Archiv der Verbandsgemeinde Rüdesheim In den letzten Kriegsmonaten kam die 4 (Seite 16 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 4/2013

auf Transportschiffe verladen, der Rest mit der Bahn transportiert. Die Drahtwerke besaßen drei leistungs- starke Turbinen, die 800 PS produzierten, wobei jedoch sämtliche an der Nahe gelege- nen Mühlen und Fabriken vom häufig schwankenden Wasserspiegel der Nahe ab- hängig waren. Im Jahre 1952 wurden auf Veranlassung der Kreisverwaltung die Abwässer in unmit- telbarer Nähe der Drahtwerke einer ökolo- gischen Wasseruntersuchung unterzogen, sie jedoch letztlich für die Nahe und deren Fauna und Flora nach damaligem Bemessen für unschädlich befunden. 29) Die beiden Proben wurden jeweils 100 Meter ober- bzw. unterhalb der Drahtwerke entnommen. Es darf daran erinnert werden, dass es damals noch Berufsfischer im Nahetal gab, die be- sonderes Augenmerk auf die Wasserqualität hatten. Auch in späteren Jahren wurden die Abwässer des Betriebs regelmäßig wasser- wirtschaftlich und wasserpolizeilich über- prüft. Die Drahtwerke bauten ihre Kapazität verzinkter dünner Drähte weiterhin aus. 30) In den 1960er Jahren war die Waldböckel- heimer Firma der größte Hersteller verzink- Plan der Abwasseranlage der Drahtwerke aus dem Jahre 1911. Kopiervorlage: Archiv der Verbandsgemeinde Rüdesheim ter Eisendrähte in den Abmessungen 0,15 bis 0,40 Millimeter in Deutschland. Die Drahtwerke waren in jener Zeit für ein weites Umfeld an der mittleren Nahe wei- Kriegsfront Ende 1944 immer näher, was ei- den waren. Besonders nachteilig wirkten terhin ein maßgeblicher Arbeitgeber. Doch ne erhöhte alliierte Luftangriffstätigkeit auch sich nach Kriegsende die im Auftrag der Be- hatte sich die Zusammensetzung der Beleg- im Nahe-Hunsrück-Raum mit sich brachte. satzungsmächte zusätzlich vorgenommenen schaft seit den 1950er Jahren stark gewan- In der Endphase des Zweiten Weltkriegs Demontagen aus. Durch diese Beschlag- delt. Rekrutierte sich die Arbeiterschaft vor rückten die Drahtwerke Waldböckelheim als nahmungen büßten die Drahtwerke ein dem Krieg – von Kriegsgefangenen einmal kriegswichtiger Betrieb in das Interesse Drittel ihrer Produktionsmöglichkeiten ein. abgesehen – hauptsächlich aus Einheimi- angloamerikanischer Strategen. Neben der Hinzu kam die Tatsache, dass aufgrund der schen der näheren Umgebung, so griff man Bahnlinie wurden auch Industriebetriebe völlig veränderten politischen Situation nach in den 1960er Jahren zunehmend auf „Gast- Ziel von verstärkten Luftangriffen, nicht nur 1945 das Saargebiet als Walzdrahtlieferant arbeiter“ aus Süd- und Südosteuropa zurück. diejenigen in der Kreisstadt. zunächst fast vollständig ausfiel. Die Draht- Die Bundesregierung hatte mit bestimm- Während des Zweiten Weltkriegs hatte werke Waldböckelheim mussten sich auf ei- ten Staaten Anwerbevereinbarungen abge- sich die Fabrik auf dünne verzinkte Drähte ne Frachtbasis im Ruhrgebiet umstellen, ein schlossen. Den Anfang dieser Entwicklung bis zu 0,15 mm spezialisiert. Ihre kriegs- schwerer Schlag, zumal die erwähnten in- machte 1955 Italien. Es folgten 1960 Spanien wichtige Bedeutung wurde den Drahtwer- tensiven Wirtschaftsverflechtungen mit dem und Griechenland, später die Türkei, 1968 ken im Herbst 1944 zum Verhängnis. Bereits Saarland seit Ende der 1920er Jahre bestan- das frühere Jugoslawien. Zwar gab es 1960 frühere Luftangriffe am 27./28. August 1941 den hatten. als Folge des Wirtschaftswunders mit einer und am 2./3. Dezember 1942 hatten nach Zwangsläufig musste die allgemein Arbeitslosigkeit von weniger als einem Pro- zeitgenössischer Deutung wohl den Draht- schwierige Wirtschaftslage auch auf die zent in der Bundesrepublik Vollbeschäfti- werken gegolten, doch waren die dabei ab- steuerlichen Zahlungsverpflichtungen der gung, doch kann von 1955 bis 1973 von einer geworfenen Bomben in der benachbarten Drahtwerke nachteiligen Einfluss nehmen. „Gastarbeiterperiode“ im Nachkriegs- Schloßböckelheimer Gemarkung niederge- Im Jahre 1948 baten die Drahtwerke um Er- deutschland gesprochen werden. 31) Einer- gangen. Am 26. Oktober 1944 wurde mäßigung der Grundsteuer. Gefordert war seits ebbte mit dem Mauerbau 1961 der Zu- schließlich der Betrieb um 13.30 Uhr von ei- für das Rechnungsjahr 1947 eine Grund- strom möglicher Arbeitskräfte aus der ehe- nem schweren Luftangriff heimgesucht, bei steuerschuld von 3434,27 RM. Die Gemein- maligen DDR ab, andererseits wollten viele dem es neben mehreren Toten, darunter ein devertretung in Waldböckelheim erklärte Einheimische nicht mehr in der verarbeiten- französischer Kriegsgefangener, erhebliche sich jedoch bereit, diese Steuer um 50 Pro- den Industrie zu den schon damals eher als Sachschäden gab. Neben französischen zent auf 1764,45 RM zu ermäßigen. 26) niedrig empfundenen Löhnen arbeiten. Kriegsgefangenen waren damals auch uk- Um 1950 gaben die Drahtwerke etwa 250 Indirekt lässt sich diese Entwicklung in rainische Kriegsgefangene in den Draht- Arbeitnehmern Arbeit und Brot. Der Frau- den einschlägigen Akten der Einwohner- werken beschäftigt. Für sie hatte die Fabrik enanteil lag zwischenzeitlich bei etwa zehn meldeämter in der angrenzenden Ver- eigens an der Straße nach Boos Baracken er- Prozent. Bedingt durch die Nähe zu den bandsgemeinde Rüdesheim und im damals richtet. 25) Drahtwerken hatte die Bevölkerung von noch bestehenden Amt Waldböckelheim Waldböckelheim und Schloßböckelheim ei- nachvollziehen. Nach den teilweise schon Von 1945 bis zur Aufgabe der Produktion nen vergleichsweise hohen gewerblichen vor dem Ersten Weltkrieg dort beschäftigten Das Jahr 1945 bedeutete auch für die Einschlag, während in den entfernter lie- Italienern kamen weitere Arbeitskräfte vor- Drahtwerke den absoluten Tiefpunkt in ihrer genden Gemeinden der landwirtschaftlich nehmlich aus der Türkei und dem ehemali- bisherigen Geschichte. Bis zu dem erwähn- orientierte Bevölkerungsanteil bei weitem gen Jugoslawien. Im Jahr 1966 betrug die ten schweren Luftangriff hatten dort im überwog. 27) In jener schweren Zeit hatte Zahl der Beschäftigten 230 Arbeiter und An- Kriegsjahr 1944 bis zuletzt noch 274 Men- sich hinsichtlich der Rekrutierung des Per- gestellte. 32) schen gearbeitet, was ungefähr dem Perso- sonals ein gewisser Wandel vollzogen. Wäh- (Schluss, Literaturverzeichnis und An- nalstand vor Ausbruch des Zweiten Welt- rend vor dem Krieg die Arbeiter eine Lehrzeit merkungen folgen in der Mai-Ausgabe) kriegs entsprach. Freilich darf nicht überse- von zwei Jahren absolvierten, wurden in der hen werden, dass ein Großteil der Beschäf- stürmischen Zeit des sich abzeichnenden tigten Kriegsgefangene waren, die nach Wiederaufbaues vornehmlich ungelernte Kriegsende wieder allmählich in ihre Heimat Arbeiter beschäftigt. 28) zurückkehrten. 50 Prozent der Produktion wurden ins Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen Erst im Jahre 1946 nahmen 38 Beschäftigte Ausland exportiert, die Hauptabnehmer sa- monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein in den stark zerstörten Anlagen den Betrieb ßen in Mittelamerika, Südafrika, Indonesien, für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach zaghaft wieder auf. Es dauerte einige Zeit, Pakistan, in der Türkei usw. Ein Teil des e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, bis die Folgen der Verheerungen überwun- Waldböckelheimer Drahtes wurde in Bingen Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 5/2013 BadKreuznacher Beilage Bad Kreuznach Heimatblätter

Es gibt nicht bloß das Mühlentor Alte Fotos vom alten Kreuznach

VON DR. MARTIN SENNER, BAD KREUZNACH

Ältestes Foto aus der Stadt? Als „die älteste Aufnahme aus der Stadt“ Kreuznach gilt das bekannte Foto des Müh- lentores, doch ist dessen genaue Entste- hungszeit bislang nicht zu ermitteln. Ein An- haltspunkt für seine Datierung ist aber doch wenigstens darin gegeben, dass das klassi- zistische Bauwerk 1877 aus dem Stadtbild verschwand. „Mit dem Abbruch des Müh- lenthores wurde heute früh begonnen“, teilt das »Kreuznacher Tageblatt« unter dem 25. Juni des Jahres mit.

Das „Volksblatthaus“ Auf die Fotoplatte gebannt wurde in den 1870er Jahren aber auch der Sitz der ältes- ten Kreuznacher Tageszeitung. Gemeint ist das kurzlebige, seiner „derben Späße“ we- gen berüchtigte »Volksblatt für Rhein und Nahe«. Gegründet hatte es Dr. Heinrich Prieger, Arzt und Antisemit; „Redaction, Schnellpressendruck und Verlag“ besorgte Johann Wilhelm Bing. Der kam als End- Das Mühlentor (Blick stadteinwärts). Repro: Kreismedienzentrum Bad Kreuznach zwanziger nach Kreuznach und ist seit 1854 als „Schriftsetzer“ bzw. „Buchdrucker“ in den Akten des Kreuznacher Standesamtes nachweisbar. 1867 erscheint er als „Ge- lon in Höhe der Englischen (heute: Paulus-) dann kann das Bild mit dem ‚Volksblatt- schäftsmann“. Zwei Jahre später zieht Bing Kapelle ist. Bei der scheinbar fragilen Konst- haus‘ und dem älteren Bauzustand des Brü- um: aus dem Haus No 478 (nach moderner ruktion handelt es sich um – ein Treibhaus. ckenhauses keinesfalls später aufgenom- Zählung: Schulgasse 1) in das Haus No 650 Sein Baujahr ist recht genau zu bestimmen. men worden sein als im ersten Quartal (heute: Roßstraße 4), das fortan als „Volks- „Für die städtischen Anlagen ist ein Gärtner 1877. Sollte das Mühlentor-Foto aus Anlass blatthaus“ bezeichnet wurde. Doch 1876 ist angestellt und ein Treibhaus an der Pau- des bevorstehenden Abbruchs entstanden dort nur mehr der Spengler Jacob Hoff- luskirche errichtet, beides erschien no- sein, dann läge die Aufnahme mit dem mann daheim. Das älteste Kreuznacher Ad- thwendig, um die Anlagen berechtigten An- ‚Volksblatthaus‘ möglicherweise um einige ressbuch, für 1878 „ausgegeben im De- forderungen entsprechend unterhalten zu Monate früher. cember 1877“, verzeichnet weder das können“, heißt es im städtischen Verwal- »Volksblatt« noch Bing. Was für die Datie- tungsbericht für das Haushaltsjahr 1876. Fotos der Stadt als Souvenirs rung des Fotos wenig besagt – schließlich Das Rechnungsjahr begann am 1. Januar Rückseitig trägt das Bild mit dem Treib- kann die Aufschrift »Volksblatt« die Fassa- 1876 und endete am 31. März 1877: spätes- haus ein Etikett: „Nro. 179. Alte Brücke in de noch Jahre später geziert haben. Als hilf- tens dann muss der Pavillon gestanden ha- Kreuznach klein.“ (Dasselbe Motiv in grö- reich zur zeitlichen Einordnung erweist sich ben! 1881 wird das Gegenstück „in den An- ßerem Format ist im Fotobestand des Kreuz- hingegen der Bauzustand des Brückenhau- lagen an der Roßgasse“, so berichtet am 1. nacher Stadtarchivs vorhanden.) Seitdem ses Mannheimer Straße 92. Es ist hier be- April das »Kreuznacher Tageblatt«, „auf die als Souvenirs beliebten Steindrucke reits durch einen rückwärtigen Anbau er- Abbruch zu 105 Mk. versteigert“. Aber erst oder Stahlstiche statt nach gezeichneten zu- weitert und auf den Boden der Nahe-Insel im Oktober 1883 verschwand endlich das nehmend nach fotografischen Vorlagen ent- aufgesetzt. Diesen Umbau datierte man bis- „eiserne Gerippe“. standen, war es naheliegend, der Kund- her ohne weitere Unterscheidung mal auf Der Uhrmacher Joseph Moritz, dessen schaft doch lieber gleich fotografische 1867, mal auf „etwa“ 1886. Tatsächlich gab Firmenschild vom Brückenhaus Mannhei- Stadtansichten anzubieten. es zwei Bauabschnitte, deren ersten unser mer Str. 96 grüßt, hat sein Geschäft Anfang Vor Weihnachten 1881 empfiehlt sich et- Bild zeigt. Erst im zweiten wurde der Anbau März 1882 nach No 34 „vis-à-vis der Lö- wa „die Buchhandlung von G. Barth in so weit aufgestockt, dass er mit dem Dach- wen-Apotheke“ verlegt, so dass die Auf- Kreuznach“ (Dessauer Str. 2) nicht allein geschoss des Brückenhauses abschloss. nahme mit einiger Sicherheit vor diesem mit Lesestoff „für jedes Alter und von jeder Zeitpunkt entstanden ist. Wenn das Foto Richtung“, mit „Musikalien“ (Noten) sowie Das Treibhaus an der Pauluskirche mit dem Treibhaus, das zugleich den jün- mit „Papier- u. Schreibmaterialien“, son- Diesen späteren Bauzustand zeigt ein Fo- geren Bauzustand des Brückenhauses ab- dern eben auch mit „Photographieen“ (mit to, dessen Blickfang ein eigenartiger Pavil- bildet, aus den Jahren 1876-82 stammt, zwei ‚e‘!). Barth zog die Lichtbilder auf 2 (Seite 18 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 5/2013

über die Verwaltung und den Stand der Ge- meinde-Angelegenheiten der Stadt Kreuz- nach für die Zeit vom 1. Januar 1876 bis 31. März 1877; Adressbuch von Kreis und Stadt Kreuznach [...] 1878. Kreuznach 1877. – »Kreuznacher Tageblatt« 1877, 1881 (Re- daktionsarchiv der »AZ«, KH). – Eduard Gampper/Rudolf Hornberger: Bad Kreuz- nach und Umgebung in frühen Photogra- phien (1877-1930) von Nelli Schmithals. Bad Kreuznach 1985; Wolfgang Reiniger: Stadt- und Ortsansichten des Kreises Bad Kreuznach 1523-1899. Katalog der Holz- schnitte, Kupfer-, Stahl- und Holzstiche so- wie der Steinzeichnungen. Bad Kreuznach 1990; Carl Velten: Die Alte Nahebrücke in Kreuznach. Eine historische Darstellung ih- rer Entstehung, ihrer Bedeutung für die Stadt Bad Kreuznach und ihrer ganzen Bau- geschichte. [...] Bad Kreuznach 1965; Das Das 1850 erbaute „Volksblatthaus“ (im Bild hinten rechts) am Ostende des Roßstraßen-Parks bzw. der so- Mühlenthor und die Altstadt, in: »Kreuzna- genannten „Neuen Anlage“. Repro: Dr. Martin Senner, Bad Kreuznach cher Tageblatt« 22.7.1877.

schwarze Pappen auf, die am Rand mit Goldschnitt versehen waren und in Gold- druck die Aufschrift trugen: „Verlag von Georg Barth Buch- & Kunsthandlung in Kreuznach.“ Zur Nachbestellung hatte je- des Foto eine Nummer (z.B. „A 710. Kreuz- nach Totalansicht I.“). Der nächste Schritt war, in den 1890er Jahren, die Vervielfältigung von Fotos als Ansichtskarte. Anders als die Schöpfer ge- zeichneter und gestochener Stadtansichten bleiben die Fotografen meist anonym. So auch im Falle der Aufnahme vom Mühlen- tor, die gewiss nicht von Kreuznachs Foto- pionierin Nelli Schmithals stammt. Diese kam nämlich erst 1880 zur Welt!

Quellen und Literatur: Stadtarchiv Bad Kreuznach (StA KH), Ge- burtenregister pro 1854; Sterberegister pro Das nur wenige Jahre existierende Treibhaus an der Pauluskirche hatte ein Gegenstück in den Anlagen an 1869; Akte 405; 779; 2645; 3327; Bericht der Roßstraße. Repro: Dr. Martin Senner, Bad Kreuznach

Drahtwerke Waldböckelheim – Eine endliche Geschichte (1911 - 1981) Ein Beitrag zur naheländischen Wirtschaftsgeschichte mit kriegs- und migrationshistorischen Aspekten

VON RAINER SEIL, RÜDESHEIM AN DER NAHE

(Schluss) Draht auf Sechseckgeflechtsmaschinen her- kung vorgenommen werden kann.Die Ge- In den 1960er Jahren entwickelte sich gestellten Drahtrollen werden in einem Ver- flechtsrollen werden dann auf den Ablauf- das klassische Produktionsprogramm der zinkungsraum gestapelt. Hier werden die block aufgelegt und mittels des Wickelwer- Waldböckelheimer Drahtwerke rückläufig. einzelnen Rollen an eine elektrisch gesteu- kes, welches hinter dem Zinkofen steht, Wichtigste Abnehmer waren neben den eu- erte Laufkatze (Demagzug) 34) angehängt durch das Zinkbad des Zinkofens gezogen ropäischen Ländern auch Staaten in Afrika, und in das Säurebad (Badzusammenset- und gleichzeitig aufgewickelt.“ Süd- und Mittelamerika. Im Jahre 1961 wur- zung: 1 Teil Säure, 3 Teile Wasser) in den Der Verzinkungsofen wurde nach dem de den Drahtwerken behördlicherseits ge- Beizbehälter eingetaucht. Nach einer Umwälzprinzip beheizt. Der Brennstoff war nehmigt, eine neue Verzinkungshalle zu er- Tauchzeit von 10 Minuten werden die Rol- Heizöl. Die Temperatur des Zinkbades be- richten. 33) Begründet wurde dieser Schritt len in dem folgenden Wasserbehälter ge- trug 450 Grad Celsius. Diese Innovation er- u.a. damit, „daß bei der neuen Anlage eine spült und sofort anschließend in den Löt- schloss in den 1960er Jahren den Draht- Trockenverzinkung zur Anwendung kommt, wasserbehälter eingetaucht. Die nun fertig werken neue Erzeugnisse wie Drahtgitter- während früher nur eine Naßverzinkung vorbehandelten Drahtrollen werden etwa 5 netze zur Einlage in Drahtglas und Draht- möglich war“. Minuten im Trockenofen, der durch die Ab- transportbänder. Die Umweltauflagen wa- Dem an die Kreisverwaltung gerichteten wärme des Zinkofens beheizt wird, voll- ren vergleichsweise hoch, wie folgende Bericht ist Näheres über das Verzinkungs- kommen getrocknet, sodaß in der nachfol- Ausführungen zeigen: „Es ist eine den Ver- verfahren zu entnehmen:„... Die aus rohem genden Verzinkung eine Trockenverzin- hältnissen entsprechende Kläranlage zu Bad Kreuznacher Heimatblätter - 5/2013 (Seite 19 des Jahrgangs) 3

Arbeitskräfte die Zuweisung von Kriegsge- fangenen; andererseits brachte diese Tat- sache ein erhöhtes Risiko für die Beleg- schaft und den Firmenbestand mit sich. Dies zeigte sich besonders auffällig bei meh- reren Luftangriffen, besonders in der End- phase des Zweiten Weltkriegs, sowie bei der Demontage unmittelbar nach 1945. Die direkte Lage im Nahetal brachte durch den damit gegebenen Bahnanschluss einen großen Standortvorteil, der im Zeital- ter vor dem Lastwagenverkehr nicht zu un- terschätzen war. Gleichzeitig waren jedoch das Fabrikgelände und die Werksanlagen selbst einer erhöhten Hochwassergefahr ausgesetzt. Stellenweise ist die Nahe bei den Drahtwerken 2,50 bis drei Meter tief, was bei entsprechendem Hochwasser große Verheerungen verursachen kann. Bekannt ist bis auf den heutigen Tag vor allem das Rekordhochwasser im Januar 1918. Aber auch 1920 und – heute eher weniger in Er- innerung – 1925/26 hinterließen starke Hochwässer große Spuren der Verwüstung, deren kostspielige Beseitigungen jeweils mehrere Jahre in Anspruch nahmen. Aufschlussreich ist ein zusammenfassen- der Rückblick auf die Entwicklung der Be- schäftigtenzahlen der Drahtwerke Waldbö- ckelheim während ihres Bestehens (vgl. das Gebäudegruppe auf dem Werksgelände im Januar 2013. Foto: Rainer Seil, Rüdesheim beigegebene Säulendiagramm): Die Zahlen in den jeweiligen Kriegszei- ten sprechen für sich, zeigen nach der Ein- berufung der Einheimischen zu den Fahnen schaffen. Die Klärbecken müssen so zahl- doch waren diese im Guldenbach- und Grä- einen vergleichsweise hohen Anteil an reich vorhanden sein und zudem so arbei- fenbachtal angesiedelt und somit abseits Kriegsgefangenen, ohne den die Produkti- ten, dass keine verunreinigten Kühlwässer der Nahe. Die Standortwahl bei Waldbö- on nicht im zuvor bestehenden Rahmen hät- oder säurehaltigen Abwässer … in die Nahe ckelheim brachte – von den Werken in Bad te aufrecht erhalten werden können. gelangen können. Für alle Schäden, die Kreuznach und in Simmertal abgesehen - Waren in der Anfangszeit des Betriebs- durch Abwassereinleitung in die Nahe ent- weitere Metall verarbeitende Industrie an bestehens die Arbeitskräfte hauptsächlich stehen, sind die Drahtwerke Waldböckel- diesen Fluss. den unmittelbaren ländlichen, rein agra- heim verantwortlich und haftbar.“ Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die risch strukturierten Dörfern zuzuordnen, Im selben Jahrzehnt bauten die Draht- Drahtwerke vom Beginn ihres Bestehens an änderte sich dies in den Kriegszeiten. In bei- werke im benachbarten Boos eine neue in die militärischen Überlegungen der Stra- den Weltkriegen wurden Kriegsgefangene Fabrikationshalle. 35) Aus dem Jahr 1963 tegen der beiden Weltkriege des 20. Jahr- zugewiesen. Im Ersten Weltkrieg waren liegt eine wasserpolizeiliche Genehmigung hunderts einbezogen waren und von den je- dies Russen, im Zweiten Weltkrieg vor al- vor, auf dem Gelände der Drahtwerke weiligen Heeresabteilungen entsprechende lem Franzosen und Ukrainer. Grundwasservorkommen zu erschließen. Produktionsaufträge erhielten. Einerseits Nach dem Zweiten Weltkrieg standen bis Das gewonnene Wasser sollte betriebsin- bedeutete dies in beiden kriegerischen Aus- in die 1950er Jahre zunächst wieder aus- tern „als Trink- und Waschwasser ge- und einandersetzungen mangels einheimischer schließlich einheimische Arbeitskräfte zur verbraucht werden“. In den 1980er Jahren begann die Bedeu- tung der Waldböckelheimer Drahtwerke zu sinken. Zeitgenössische Untersuchungen machten für diese ungünstige Entwicklung starke Konkurrenz aus Belgien, Luxemburg und Frankreich verantwortlich. Um 1980 waren noch 128 Personen tätig. Am 31. März 1981 wurde das Waldböckelheimer Werk stillgelegt. Ein Teil der Produktion wurde von der Firma Mönus mit dem Pro- duktionsschwerpunkt Schuhtäckse (Stifte) in Lahr weitergeführt. Wenngleich noch Teile der früheren Ge- bäude und die Turbinen auf dem weitflä- chigen Areal vorhanden sind, werden letz- tere schon seit einigen Jahren lediglich zur Energiegewinnung durch Wasserkraft an der Nahe genutzt, haben jedoch mit der frü- heren Produktion der Drahtwerke nichts mehr zu tun.

Schlussbetrachtung Wie viele andere linksrheinische Betriebe spiegeln auch die Drahtwerke in Waldbö- ckelheim das ständige Auf und Ab der na- tionalen und regionalen Geschichte deut- lich wider. Sie waren in einem weithin länd- lichen Umfeld ein bedeutender Arbeitgeber in der Metallverarbeitung. Zwar gab es schon im 18. Jahrhundert im Hunsrück-Na- he-Raum Metall verarbeitende Betriebe, Gebäudegruppe auf dem Werksgelände im Januar 2013. Foto: Rainer Seil, Rüdesheim 4 (Seite 20 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 5/2013

Verfügung. Danach spielten zunehmend Arbeiter aus den „Gastarbeiter“ gebenden Nationen eine immer größere Rolle. Bemerkenswert sind die letzten drei er- hobenen Zahlen nach 1945. Sie zeigen ein- deutig, dass nach 1945 zu keiner Zeit mehr der Personalstand vor dem Krieg erreicht wurde. Daran konnte auch der zuletzt ver- gleichsweise hohe Anteil an Gastarbeitern wenig ändern. Am Ende der Produktion um 1980/81 hatte sich im Vergleich zu 1966 der Anteil der Beschäftigten fast halbiert. Im Januar 2013 liegen die teilweise leer stehenden Gebäude und ehemaligen Fab- rikationshallen der früheren Produktions- stätten geradezu verlassen und peripher im mittleren Nahetal. Ein Teil der mittlerweile wieder naturnahen Auenlandschaft ist als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Der Bahn- hof Waldböckelheim im Nahetal, noch auf zeitgenössischen Briefköpfen vor dem Ers- ten Weltkrieg angepriesen, ist mit dem da- zugehörigen Bahnhofsgebäude seit 1980 Geschichte. Die umliegenden Straßen besitzen heute nur noch den Charakter von Kreisstraßen, Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in den Drahtwerken Waldböckelheim von 1912 bis 1980. (Quellen: H. die einzig Verbindungen nach Boos und Uhlig 1954, K. Becker 1966, R. Seil 1999, R. Seil 2000, R. Seil 2012). Schloßböckelheim herstellen, wohl auch ein Säulendiagramm: Dr. Philipp Christophel, Raleigh NC, USA Grund schon vor über drei Jahrzehnten, die Bedeutung der Drahtwerke stetig zu schmä- lern, da die Zulieferung und der Transport der Produkte mit Lastkraftwagen stark ein- 14) R. SEIL, 2000, S. 96 weitere Umstrukturierungen der DEMAG- geschränkt war. 15) Archiv VG Rüd. Best. Waldb. 1 1500- Töchter (Hierzu genauer: Zur Technik der Die noch vorhandenen Gebäude lassen 380 (=Fach 43 Nr.22e Bd. 1) Laufkatze: Meyers-Lexikon, 7. Bd. Leipzig kaum mehr etwas von der früheren Rolle ei- 16) Archiv VG Rüd. Best. Waldb. 1 Fach 1927; zur DEMAG: wikipedia.org/wiki/De- nes Betriebes erahnen, der in den beiden 87 Nr. 6 (=1500-772) mag Eintrag vom 08. 01. 2013 Weltkriegen des 20. Jahrhunderts einst gro- 17) R. SEIL, 1999, S. 145. Nicht nur die 35) K. BECKER, 1966, S. 413 ße kriegswichtige Bedeutung besaß. Drahtwerke litten in diesem schwierigen Jahr 1921 besonders. Im August 1921 ent- Literatur (Auswahl) Anmerkungen ließ die nahe Weinbergsdomäne, ein wei- BADE, Klaus J.: Deutsche im Ausland – 1) In Betracht kommen folgende Bestän- terer bedeutender örtlicher Arbeitgeber, in Fremde in Deutschland. Migration in Ge- de im Archiv der Verbandsgemeinde Rü- Niederhausen/Schloßböckelheim etwa 40 schichte und Gegenwart. München 1992 desheim: Best. Waldb. 1 (Nr. 1500-209 ( = Arbeiter, hauptsächlich Frauen und Ju- BECKER, Kurt (Herausgeber): Heimat- Fach 29 Nr. 6 ) , 1500-210 (= Fach 29 Nr. 6 gendliche. Im Februar 1922, um einen wei- chronik des Kreises Kreuznach. Köln 1966 Section VIII), 1500-211 (= Fach 29 Nr. 6 Bd. teren wichtigen naheländischen Fabrikan- Rheinland-Pfalz Landesregierung (He- 3), 1500-347 (= Fach 43 Nr. 10 Bd. 1), 1500- ten zu nennen, plante der Kirner Stein- rausgeber): Rheinland-Pfalz. Kultur und 772 (= Fach 87 Nr. 6), 1500-1306 (keine alte bruchbesitzer Albert Pfeiffer, den Stein- Wirtschaft. Darmstadt Signatur = Altbestand Waldböckelheim 1, bruchbetrieb in Bockenau einzustellen, wo- 1954 geführt in der Zeit von ca. 1816 bis Mitte von etwa 20 Arbeiterfamilien betroffen wa- SCHWINDT, Helmut: Arbeiterbewegung des Zweiten Weltkrieges. Best. Waldb. 2 ren. und Industrialisierung in Stadt und Land- wurde in der Mitte des 1930er Jahre ange- 18) R. SEIL, 2000, S. 101 kreis Bad Kreuznach von 1848 bis 1918 (= legt und war bis zur Amtsauflösung 1969/70 19) R. SEIL, 2000, S. 102 Heimatkundliche Schriftenreihe des Land- in Gebrauch. Hieraus wurden insbesondere 20) Archiv VG Rüd. Best Wald. 1 Fach 29 kreises Bad Kreuznach Band 30; zugleich ausgewertet: Nr. 144-0, 144-10; Nr. 943/02. Nr. 6 Bd. 2 (neu: 1500-210) Band 3 Schriftenreihe der Stadt Bad Kreuz- 2) G. SPENGEL, 1998, S. 49 21) R. SEIL, 2000, S. 106 nach) Bad Kreuznach 1999. 3) H. UHLIG, 1954, S. 214 22) R. SEIL, 1999, S. 303 SEIL, Rainer: Chronik der Verbandsge- 4) Bei dem alten Verfahren wurde der 23) R. SEIL, 2000, S. 107. Bereits im Jahr meinde Rüdesheim. Idar-Oberstein 1998 Draht durch die konischen Löcher der Zieh- 1924 pendelten neun Arbeitnehmer („Saar- SEIL, Rainer: Chronik der Ortsgemeinde eisen auf Einzelscheiben gezogen. Später grenzgänger“) aus der Bürgermeisterei Waldböckelheim. Waldböckelheim 1999 waren die Drahtziehmaschinen mit Hart- Waldböckelheim ins „Saargebiet“. (Hierzu SEIL, Rainer: Chronik der Ortsgemeinde metall-Ziehsteinen konstruiert, die fünf bis genauer: R. SEIL: Saargrenzgänger. In: Lan- Schloßböckelheim. Schloßböckelheim 2000 neun Ziehvorgänge in einem einzigen Ar- deskundliche Vierteljahrsblätter Heft 3/2002 SEIL, Rainer: Zur Wirtschaftslage des Na- beitsgang zusammenfassten (Hierzu ge- S. 151-157 hegebiets um 1935. Aus einer Bestandsauf- nauer: K. BECKER, 1966, S. 413). 24) R. SEIL, 2000, S. 211 nahme des Koblenzer Regierungspräsiden- 5) Archiv VG Rüd. Best. Waldb. 2 Nr. 25) R. SEIL, 2000, S. 119 ten. In: Bad Kreuznacher Heimatblätter. 144-10 26) Archiv VG Rüd. Best. Wald. 2 Fach Nummer 3/2012 6) Archiv VG Rüd. Best. Waldb. Fach 29 943/02 SPENGEL, Gerd: Mühlen im Gebiet der Nr. 6 Bd. VIII (1500-210) 27) H. UHLIG, 1954, S. 115 mittleren und unteren Nahe. (= Band 29/1 7) R. SEIL, 1998, S. 302 28) H. UHLIG, 1954, S. 214 und 2 der Heimatkundlichen Schriftenreihe 8) Archiv VG Rüd. Best Waldb. 1 1500-13 29) Archiv VG Rüd. Best. Waldb. 2 Nr. des Landkreises Bad Kreuznach. Bad Kreuz- (=Fach 2 Nr. 4), 16 (=Fach 2 Nr. 3) und 20 144/0 nach 1997 und 1998 (= Fach 2 Nr. 9 Bd. 1) 30) K. BECKER, 1966, S. 412 f. UHLIG, Harald: Landkreis Kreuznach. 9) R. SEIL, 2000, S. 95 31) K. J. BADE, S. 393 Speyer 1954 10) Ebenda 32) K. BECKER, 1966, S. 413 11) R. SEIL, 1998, S. 303 33) Archiv VG Rüd. Best. Wald. 2 Nr 144- 12) Wenngleich nicht aus der zeitgenös- 10 sischen Überlieferung belegbar, könnte die 34) Unter einer „Laufkatze“ versteht man Attacke durchaus den Drahtwerken bzw. in der Technik einen Werkstattlaufkran zur Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen dem Waldböckelheimer Bahnhof gegolten Lastenbeförderung. Solche Hebekräne fer- monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein haben. tigte u.a. der DEMAG-Konzern, gegründet für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach 13) Archiv VG Rüd. Best Waldb. 1 Fach 1910 in Duisburg. Er wurde 1973 von Man- e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, 29 Nr. 6 Bd. 2 (=1500-210) nesmann übernommen. Um 2000 erfolgten Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 6/2013 BadKreuznacher Beilage Bad Kreuznach Heimatblätter

Die jüdische Gemeinde Monzingen Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg

VON GUDRUN SERKE, MONZINGEN

Die ersten Juden in Monzingen In welcher Zeit und aus welchem Grund die ersten Juden nach Monzingen kamen, ist nicht mehr nachvollziehbar. Den ältesten Hinweis auf einen jüdischen Bewohner fand ich auf einer Einwohnerliste von Monzingen aus dem Jahre 16761. Sie enthält die Namen von 48 Monzingern, darunter auch „Nathan, der Jude“. Während die übrigen Personen mit Vor- und Zunamen aufgeführt sind, hat Nathan noch keinen Familiennamen, was zu dieser Zeit bei Juden allgemein auch noch nicht üblich war. Vermutlich hat Na- than nicht allein, sondern mit Familie in Monzingen gelebt. Im 18. Jahrhundert lebte dann ein Jude namens Veis mit Familie in der Stadt. Sein Sohn Isaak bar Veis (bedeutet: Isaak, Sohn des Veis) wurde 1749 in Monzingen gebo- ren und starb 1827 in Becherbach bei , wo er in zweiter Ehe die 17-jährige Sophie David Moses, Tochter von David bar Moses und Rachel geheiratet hatte. Die beiden sind die Vorfahren der Familien Moritz. Auch Isaaks Sohn aus erster Ehe wurde in Mon- zingen geboren.2 Vom Alter her könnte Va- ter Veis einer der beiden Juden gewesen sein, die als Feis Jacques bzw. als Feis Joel in den Sterbeeinträgen von Jonas Emanuel Sterbeeintrag Nr. 55 der Mairie Monzingen vom 22. April 1807. und Jacob Ullmann als Väter genannt sind, Kopiervorlage: Archiv des Standesamtes der Verbandsgemeinde eine eindeutige Zuordnung war aber bisher nicht möglich. Durch den Sterbeeintrag Nummer 55/1807 der Mairie Monzingen ist jedoch urkundlich bewiesen, dass die Mon- des Verstorbenen, wurde der gegenwärtige sches ohne Gewerbe, beide verstorben zu zinger Joel Feis (* 1741), Moses Feis (* 1744) Akt von uns, dem Zivilstaat, aufgesetzt, un- Monzingen, am achten des Monats August und Jacob Feis (* 1750) Brüder waren, und terschrieben von den Deklaranten, nach der laufenden Jahres um acht Uhr abends zu da in Jacobs Sterbeakt 1823 die Eltern ge- Verlesung und Übersetzung in die deutsche Monzingen in seiner Wohnung verstorben nannt sind, müssen alle drei auch Söhne von Sprache. Unterschriften: E. Groos, Bürger- seye; und haben die Erklärenden nach ge- Joel Feis und Beßel Ansches gewesen sein. meister, Jacob Feiß, Jacob Baer“ schehener Verlesung gegenwärtige Urkun- Sie sind die Vorfahren der Monzinger Fa- Der Sterbeeintrag Nr. 59 von 1823 hat fol- de mit mir unterzeichnet. Unterschriften: milien Ullmann. genden Text: „Im Jahr eintausend acht- Anschel Fried, Marx Bär Der Sterbeeintrag Nr. 55 von 1807 – über- hundert drey und zwanzig den neunten des Der Bürgermeister Wülfing“ setzt aus dem Französischen – lautet: „22. Monats August um 9 Uhr vormittags er- In einer Aufzeichnung über die Einnah- Tag des Monats April 1807, Sterbeakt von schien vor mir, Karl Wülfing Bürgermeister men der Stadt Monzingen vom 30. Dezem- Moses Feis, Viehhändler, nicht verheiratet, Beamter des Civilstandes der Gemeinde ber 1794 ist vermerkt, dass die beiden Juden geboren am 16. Januar 1744 in Monzingen, Monzingen Kreis Creuznach Regierungs- Joel und Jacob Veis je 3 Gulden jährlich zu wohnhaft zu Monzingen, gestorben am 21. bezirk Koblenz, Anschel Fried alt fünf und zahlen haben und von Juden keine Begräb- April 1807, um 6 Uhr abends. Der Verstor- vierzig Fuhr Handelsmann wohnhaft zu niskosten eingegangen sind, da keiner ver- bene hinterlässt weder Vater noch Mutter, Monzingen nicht verwandt mit dem Ver- storben war.3 Auf einer weiteren Liste von nur die beiden Brüder Joel und Jacob storbenen und Marx Bär alt drei und zwan- 1788 sind die Güter von 23 Bürgern des Or- Feihs, wohnhaft zu Monzingen. Auf die Er- zig Jahr, Fleischer wohnhaft zu Monzingen tes nebst den zu zahlenden Beträgen auf- klärung hin, die uns gemacht wurde von Ja- nicht verwandt mit dem Verstorbenen und gelistet. Unter ihnen sind auch „Schutzjude cob Feihs, Viehhändler, 57 Jahre alt, wohn- erklärten mir daß Jacob Ulmann alt neun Veis Michel“ und „Schutzjude Veis Jakob“ haft in Monzingen und von Jacob Baer, und siebzig Jahr, ohne Gewerbe, geboren zu finden.4 „Schutzjude“ bedeutete, dass Händler, 43 Jahre alt, wohnhaft in Monzin- und wohnhaft zu Monzingen, Sohn von Feis diese Personen gegen Leistung besonderer gen, der erste Bruder und der zweite Freund Joel lebend Handelsmann und Beßel An- Abgaben dem Schutz der damals städti- 2 (Seite 22 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 6/2013

schen Obrigkeit unterstellt waren. Mit Ge- Die alten und neuen Namen wurden noch nehmigung des Stadtrates durften sie sich etliche Jahre parallel verwendet. So findet niederlassen und Handel treiben. Ihnen man bei den einzelnen Geburtseinträgen wurde ein Geleitbrief erstellt, und dafür der Kinder häufig unterschiedliche Anga- zahlten sie das entsprechende Schutzgeld. ben. Nachträgliche Ratifizierungen des Na- In Frankreich war nach der Revolution die mens der Mutter waren keine Seltenheit. Gleichberechtigung der Juden bereits Erst in der preußischen Zeit, nach 1815, wur- schrittweise verwirklicht worden, und durch den überwiegend die neuen amtlichen Na- Beschluss der Französischen Nationalver- men verwendet mit Ausnahme bei den Ge- sammlung von 1791 waren sie ihren an- burten der Kinder von Ferdinand Ullmann dersgläubigen Mitbürgern gleichgestellt. und Eva Roos. Bei den Geburtseinträgen ih- Sie hatten ihre Selbstverwaltung aufgege- rer Söhne Bernhard (1816) und Michael ben und auch alle Pflichten der anderen (1820) wurde als Mutter Caroline Löser ein- Franzosen auf sich genommen. Da das links- getragen. Bei ihrer Hochzeit 1813 nannte rheinische Gebiet durch den Frieden von diese sich aber schon Eva Roos. Da sie die Lunéville 1801 für fast anderthalb Jahr- Tochter von „Louis Roos, bisher Bendict zehnte an Frankreich abgetreten wurde, Loeser“ war6, ist bewiesen, dass es sich um wurde nun auch das gesamte Nahegebiet dieselbe Person handelte. Im Allgemeinen und somit Monzingen französisch. Der Code nahmen es die Monzinger, sowohl Juden Civil (auch Code Napoléon genannt) wurde wie auch Christen, nicht so genau mit ihren Einnahmeliste der Stadt Monzingen vom 30. De- eingeführt. Alle bisherigen Privilegien wur- offiziellen Vornamen. Nicht nur die übli- zember 1794. Kopiervorlage: Landeshauptarchiv Koblenz den aufgehoben und die staatsbürgerliche chen Kurzformen wie Fritz statt Friedrich Gleichheit hergestellt. Das brachte ein- oder Lina statt Caroline waren gang und gä- schneidende Veränderungen für die ge- be, sondern häufig findet man völlig ver- samte Bevölkerung in diesem Gebiet. Mon- schiedene Namen wie Caroline genannt Ba- stellten die Kaution für einen israelischen zingen verlor zum Beispiel die Stadtrechte. bette, Philipp genannt Heinrich, Christian Lehrer, wohnhaft in Monzingen, der einen Die kirchlichen Güter wurden verstaatlicht, genannt Carl, Rosina genannt Amalie. Ist Passierschein benötigte und diesen am weltliche Gutsherren enteignet, Knechte dann nur einer der Namen eingetragen und 11.02.1811 vom damaligen Monzinger Bür- und Mägde wurden freie Bürger, alle Bür- auch nicht immer der gleiche, wird eine Fa- germeister Wilhelm Karsch ausgestellt be- ger waren nun gleichgestellt. milienforschung nicht gerade erleichtert. kam, was gleichzeitig auch ein Beweis dafür Für die Juden brachten die Gesetze der ist, dass die jüdische Gemeinde in Monzin- neuen Herrschaft auf der einen Seite mehr Jüdische Familien im 19. Jahrhundert gen bereits im Jahr 1810 schon einen Lehrer Freiheit: Sie durften nun alle Berufe aus- Kurz nach 1800 ließen sich dann auch die eingestellt hatte. Der Passierschein wurde üben, sofern sie denn wollten, brauchten jüdischen Händler Bär und Fried in Mon- auf Israël Lion Würtzbourger, israelischer kein Schutzgeld mehr zu zahlen und konn- zingen nieder. Jacob Bär war in Lehrer, geboren in Anspach im Königreich ten sich beliebig niederlassen – auf der an- geboren, seine Frau Veilchen genannt Pau- Bayern wohnhaft in Monzingen seit einem deren Seite aber auch neue Vorschriften: line in Kreuznach. Bevor sie nach Monzin- Jahr, ausgestellt und von Bürgermeister W. Sie mussten sich einen ständigen Familien- gen kamen, hatten sie in Merxheim gelebt. Karsch Monzingen unterschrieben. Israël namen zulegen. Auch bestimmte Vornamen Ihr Sohn Marx ist am 17. Dezember 1800 Lion Würtzbourger unterschrieb mit „Lion wie Veilchen, Knetel, Beßel und ähnliche noch in Merxheim geboren, die Tochter Ol- Wurzburger“.9 waren von amtlicher Seite aus nicht mehr ke am 31. Juli 1803 bereits in Monzingen. Während die Ullmanns sich rasch ver- zugelassen. Bisher hatten sie nur Stammes- Auch Anschel Daniel (späterer Name: An- zweigten und sich in fünf Generationen zu namen oder zugeschriebene Namen ver- gelius Fried) kam aus Merxheim. Er war der mehreren Familienstämmen entwickelten, wendet, sie fügten einfach an den Vorna- Sohn von Daniel Moises. Sein ältester Sohn blieben die Familien Bär auf einen und Fa- men des Kindes den Namen des Vaters an Moyses Anschel (späterer Name: Jacob milie Fried auf zwei Stämme begrenzt. Fa- oder stellten ihn voran, zum Beispiel Isaak Fried) kam 1807 in Monzingen zur Welt. milie Mayer verzweigte sich erst gegen En- bar Veis, Feiß Joel oder Mariane Joelin 1826 heiratete David Meier (Meyer/ Mayer) de des 19. Jahrhunderts, die Nachkommen (weiblicher Anhang an Joel). Mit Verfügung aus Weitersbach bei Rhaunen in die Familie blieben aber dann nur noch wenige Jahre in Napoleons (20. Juli 1808) mussten alle Ju- Ullmann ein (seine jüngere Schwester Ester Monzingen. Fast alle Familienväter waren den im französischen Staatsgebiet sich re- heiratete 1842 Salomon Fried). Bemerkens- auch Hausbesitzer, so dass man nachträg- gistrieren lassen und innerhalb von drei Mo- wert ist, dass Jacob Bär bereits einige Jahre lich mit Hilfe der alten Katasterunterlagen naten einen Familiennamen annehmen. Die vor Napoleons Dekret von 1808 einen offi- überwiegend feststellen kann, in welchem Monzinger Nachkommen des Feis legten ziellen Familiennamen hatte, wie der Ge- Haus und in welcher Zeit die einzelnen Fa- sich den Nachnamen Ulmann/Ullmann zu, burtseintrag von Olke Bär beweist.7 milien gewohnt haben. Zwischen 1825 und bei den standesamtlichen Einträgen ist die- Laut Statistik lebten im Jahr 1808 in Mon- 1840 wurden bei den Geburtseinträgen in ser Name zu finden. – Beim Sterbeeintrag zingen insgesamt 22 Juden.8 Gewürzhänd- den standesamtlichen Unterlagen auch 1823 wird Jacob/Jacques Feis als „Jacob ler Jacques Baer und Viehhändler Angeli- häufig die Hausnummern eingetragen, so Ullmann, Sohn von Feihs Joel“ genannt.5 que Fried (Jacob Bär und Angelius Fried) dass für diesen Zeitraum oft noch eine zu- sätzliche Zuordnung möglich ist. Mitte des 19. Jahrhunderts zog der Händ- ler Nathan Stern nach Monzingen. Er war gebürtig in Simmern unter Dhaun, heiratete 1848 Regina Ullmann aus Fürth/Bayern und gründete in Monzingen eine Familie. Sie- ben Kinder sind bekannt, wovon ein Sohn eine Woche nach der Geburt verstarb. Na- than Stern war es auch, der 1859 den Ele- mentarlehrer und Vorbeter Salomon Tie- fenbronner aus Königsbach in Bayern nach Monzingen holte und somit den Vertrag mit diesem ermöglichte. Bei seiner Hochzeit war er bereits wohnhaft in Monzingen. Sei- ne Eltern lebten inzwischen in Weiler. 1854 erwarb er einen Acker außerhalb des Ortes am Gaulsbach und ließ dort eine Leimsie- derei mit Wohnraum bauen. Bei der Geburt seines Sohnes Siegmund 1857 wurde sein Beruf dann mit „Leimfabrikant“ angege- ben.10 Obwohl die Juden seit 1801 alle Berufe Sterbeeintrag Nr. 59 der Gemeinde Monzingen vom 9. August 1823. ausüben durften, was auch unter der preu- Kopiervorlage: Archiv des Standesamtes der Verbandsgemeinde Bad Sobernheim ßischen Herrschaft nach 1815 bis auf weni- Bad Kreuznacher Heimatblätter - 6/2013 (Seite 23 des Jahrgangs) 3

turalien nur für den Eigenbedarf angebaut wurden Wohnhaus, Äcker und Wiesen in haben. Der größte Teil des Grundbesitzes Kirn versteigert.13 Danach verliert sich seine war sicher verpachtet. Spur. Auch David Ullmann II, ein Sohn von Die Monzinger Krämer, sowohl die jüdi- Ferdinand Ullmann und Eva Roos, veräu- schen wie auch die christlichen, besaßen ßerte 1862 seine Liegenschaften in Monzin- keine großen Kaufhäuser, sie verkauften ih- gen und zog mit seiner Familie nach Kirn, re Waren in einem kleinen Verkaufsraum wo er ein Geschäft eröffnete. Allerdings innerhalb ihrer Wohnhäuser. Einzelne „grö- muss auch er Kirn nach einigen Jahren dann ßere“ Läden entstanden erst um 1900, wa- wieder verlassen haben, denn nach 1866 ist ren aber alle in christlichem Besitz. Die kein Hinweis mehr auf ihn zu finden, es gibt Einnahmeliste der Stadt Monzingen von 1788. Händler zogen über Land und versorgten in Kirn auch keinen einzigen Sterbeeintrag Kopiervorlage: Landeshauptarchiv Koblenz mit ihren Waren die Bewohner der umlie- von der zwölfköpfigen Familie. Das ehema- genden Dörfer. Als Händler besaßen sie lige Wohnhaus in der Monzinger Bachstraße auch Bargeld und so waren sie daher oft übernahm Davids jüngerer Bruder Ludwig noch als Geldverleiher tätig. Übermäßig (Eintrag im Kataster 1867), dessen Schwie- ge Ausnahmen (Offizierslaufbahn oder reich waren die Monzinger Juden nicht, sie gertochter noch bis 1938 darin wohnte. Es Staatsbeamte) erlaubt war, sind die Mon- hatten aber sicherlich ein gutes Auskom- war das letzte Haus in jüdischem Besitz und zinger Juden überwiegend der alten Tradi- men, was auch schon von ihrem Grundbe- ging erst 1941 in christliche Hände. Aaron tion treu geblieben. Die Berufe der Männer sitz sowie der Größe und Qualität ihrer Ullmann zog um 1892 ins Saarland, wo er in wurden mit Händler, Handelsmann, Krä- Wohnhäuser abgeleitet werden kann. In Saarbrücken-Malstatt die Firma „Aaron Ul- mer, Gewürzhändler, Viehhändler, All- den Katasterunterlagen von 1830 wurden mann Lederwaren, Eisen- und Metalle Roh- viehhändler, Lumpensammler, Schäch- alle 179 Monzinger Wohnhäuser abge- produkte“ gründete. Sein Sohn Julius wur- ter/Fleischer/Metzger angegeben. In der schätzt und in elf Klassen eingeteilt. Die de Mitinhaber dieser Firma. 1909 lebt Aaron zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen Häuser in jüdischem Besitz lagen überwie- noch als Rentner in Saarbrücken. Auch die Bezeichnungen Makler, Zigarrenma- gend im mittleren Bereich zwischen Klasse Marx Bär ist vermutlich ins Saarland abge- cher, Zigarrenfabrikant und Leimfabrikant vier und sechs. Das spätere Stammhaus der wandert, da er dorthin verwandtschaftliche hinzu. Familie Mayer, das bis 1866 im Besitz von Beziehungen hatte. Es wurden aber bisher Die Frauen waren, wie auch die christli- David Ullmann und seinen Erben war, war keine Belege dafür gefunden. chen Frauen im Ort, ohne Gewerbe. Die in Klasse neun eingestuft. Auch das Haus Die Gründe für die Abwanderungen kön- Mädchen halfen zu Hause im Haushalt oder der Familie Bär, das anfangs in einer nied- nen nur vermutet werden. In erster Linie waren bis zu ihrer Verheiratung als Haus- rigen Klasse war, wurde später – offenbar war wohl die allgemeine wirtschaftliche La- gehilfinnen in auswärtigen Haushalten tä- nach einer Renovierung – in Klasse acht ge ausschlaggebend. Die Handelsmöglich- tig, was auch bei den christlichen Dorfbe- übertragen. (Zum Vergleich: Insgesamt gab keiten in den ländlichen Gebieten waren wohnerinnen üblich war. – Die ledige Mut- es in Monzingen nur drei Häuser der Klasse immerhin sehr begrenzt, und es gab inzwi- ter Magdalena Fried ist zum Beispiel 1844 elf und acht Häuser der Klasse zehn. Die ge- schen zu viele Händler in der Umgebung. beim Tod ihrer Tochter „Dienstmagd in Hei- meindeeigenen Häuser waren mit Ausnah- Der Handel war auch nicht mehr allein in jü- delberg“, ihre Tochter hatte in Monzingen me des Rathauses alle in Klasse eins.) discher Hand. Die christlichen Mitbewohner beim Großvater gelebt, der auch für sie das Im Jahre 1891 wurde bei den Gewerbe- hatten auch erkannt, dass mit dem Handel Schulgeld gezahlt hatte. Auch Emilie Ull- treibenden zum ersten Mal eine Frau er- oft leichter Geld zu verdienen war als mit mann, geborene Haas, war, bevor sie 1881 wähnt. Mit „Ullmann Ludwig Wwe., Hand- der körperlich harten Feldarbeit. – Es gab nach Monzingen heiratete, erst in Paris und lung“ ist Barbara Ullmann geborene Roth- zum Beispiel im Jahr 1891 allein in Monzin- dann in Frankfurt wohnhaft, wo sie vermut- schild gemeint, die offenbar von ihrem ver- gen neben den sieben jüdischen Händlern lich als Hausgehilfin tätig gewesen war, storbenen Ehemann die Handlung über- auch noch zwölf christliche Krämer und denn ihr Vater hatte seinen Wohnsitz von nommen hatte und bis zur Volljährigkeit ih- Kaufleute. – In den Städten oder in der Nähe Hundsbach nach Kirn verlegt. Abgesehen rer beiden Söhne weiterführte. 1910 wurde einer Großstadt erhoffte man sich wohl ei- vom Schächter beziehungsweise Metzger mit „Ullmann Emilie, Krämerin“ sogar der nen besseren Umsatz, was ja auch offen- wurde nur zweimal ein Handwerkerberuf Vorname der Frau genannt.12 Ullmann Emi- sichtlich eingetreten ist. angegeben. Moyses Ullmann (1820-1859) lie hatte auch ein eigenes Liegenschafts- Die genannten jüdischen Familien waren war von Beruf Krämer und Blechschmied, blatt, 1896 wurde auf ihren Namen das Haus auch nicht die einzigen, die Monzingen ver- Jacob Ullmann (*1824) war Klempner. Da- Nr. 229 im Kataster eingetragen, während niel Fried starb 1850 im Alter von 31 Jahren ihr Ehemann Adolf gleichzeitig mehrere an- als Dienstknecht. Die Bezeichnung dere Liegenschaften hatte und zwischen „Ackerer“ oder „Küfer“ wurde nie verwen- 1900 und 1905 unter anderem drei Häuser det, obwohl alle ansässigen Juden mit Aus- erwarb. nahme der Familien Bär und Stern außer ih- Vor 1830 gab es in Monzingen nur drei rem Wohnhaus noch zahlreiche Äcker und Anwesen außerhalb der Stadtmauer, die auch einige Weinberge besaßen. Nahemühle, die Stadtmühle und das An- Den größten Grundbesitz unter den jüdi- wesen des Rotgerbers Schauß. Ab 1840 ent- schen Bewohnern zwischen 1830 und 1850 standen nun weitere Gebäude außerhalb, hatten David Mayer, David Ullmann, An- da innerhalb der Stadtmauer keine Aus- gelius Fried und Emanuel Ullmann: Auf Da- dehnungsmöglichkeiten mehr waren. Zu- vid Mayer waren im Jahr 1843 Liegen- erst baute man Scheunen oder Keller. Nach schaften von insgesamt 62 Morgen und 30 und nach wurden die Keller aufgestockt und Ruten (= etwa 16 Hektar) eingetragen. Dazu auch komplette Wohnhäuser gebaut. Man gehörten vier Häuser, eine Scheune, acht baute zunächst entlang des Weges zur Pro- Äcker und sieben Weinberge.11 David Ull- vinzialstraße (heute B 41) und späteren Ei- mann besaß im Jahr 1830 drei Wohnhäuser, senbahnlinie und entlang des Weges in eine Scheune, 40 Äcker und sieben Wein- Richtung Auen / Langenthal. Während zwi- berge von insgesamt einer Fläche von 22 schen 1870 und 1900 noch vier jüdische Fa- Morgen, 88 Ruten und 80 Fuß (= etwa 5,74 milien aussiedelten und Häuser in diesen Hektar). Angelius Fried besaß im Jahr 1833 Neubaugebieten kauften, verkauften an- ein Wohnhaus, 18 Äcker, sechs Weinberge dere Familien ihre Häuser im Ortskern und und ein Ödland, insgesamt eine Fläche von verließen Monzingen. 7 Morgen, 159 Ruten und 20 Fuß (= etwa 2 Nach dem Tod von David Ullmann I im Hektar). Emanuel Ullmann besaß 1836 ein Jahr 1858 ließ sich dessen Sohn Ferdinand Wohnhaus und Grundbesitz von insgesamt in Kreuznach nieder. Er führte dort zusam- 6 Morgen 97 Ruten und 40 Fuß (= etwa 1,7 men mit seinem Schwager Joseph Michel Hektar). Ob sie die Äcker und Weinberge ein Manufakturengeschäft in der Mannhei- bebauen ließen oder selbst mit ihren Fami- mer Straße. Sein Bruder Jacob heiratete Ro- lienangehörigen bebauten, konnte nicht er- sina Herz aus Nahbollenbach und zog nach Passierschein für den jüdischen Lehrer Israël mittelt werden. In erster Linie dürften die Kirn. Dort lebte er als Händler mit Frau und Würtzbourger vom 11. Februar 1811. Familien aber vom Handel gelebt und Na- Kindern in der Hahnenbachstraße. 1886 Kopiervorlage: Gudrun Serke, Bad Sobernheim 4 (Seite 24 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 6/2013

ließen. Eine generelle Landflucht und Aus- Frauen Töchter von Händlern, Krämern, wanderungswelle hatte auch bei den Chris- Geschäftsleuten und Fabrikanten. ten begonnen. Mehrere junge Monzinger Innerhalb der Gemeinde Monzingen hat- verdingten sich zum Beispiel in London und ten die jüdischen Bewohner die gleichen Umgebung, überwiegend als Bäcker. An- Pflichten wie alle anderen Bewohner des dere emigrierten ganz und bauten sich in Ortes. Sie mussten Steuern zahlen und Mi- England, Amerika, Australien oder Neu- litärdienst leisten. Es gab keine Unterschie- seeland eine neue Existenz auf. Obwohl die de. Als im Frühjahr 1883 sieben junge Mon- Familien in der Regel sehr kinderreich wa- zinger eingezogen wurden, war auch David ren, hatte Monzingen 1895 sogar neun Ein- Mayer unter ihnen. Er wurde zum Ersatz 1 wohner weniger als im Jahre 1858, was eingeteilt, was jährlich sieben Wochen durch diese Abwanderungen bedingt war. Dienst bedeutete.15 Die beigegebene tabellarische Übersicht14 Die abgebildete Ehrentafel wurde am 21. zeigt, wie sich gleichzeitig der Bevölke- März 1897 anlässlich des 100. Geburtstages rungsanteil der einzelnen Religionsgruppen von Kaiser Wilhelm I. in der Monzinger Kir- veränderte. che unter großer Beteiligung der Bevölke- rung feierlich eingeweiht und hing dort bis Zusammenleben der verschiedenen zur Renovierung der Kirche im Jahre Religionsgemeinschaften 1956/57. Sie enthält die Namen der Teil- Die jüdischen Familien lebten nicht iso- nehmer an den Feldzügen 1848/49, 1864, liert, sondern waren offensichtlich in das 1866 und 1870/71. Unter den 59 Monzin- Gemeindeleben ebenso integriert wie auch gern ist auch ein M. Ullmann aufgeführt. Es die zahlenmäßig etwa gleich stark vertrete- ist nicht ersichtlich, wer jeweils an welchem nen Katholiken. Sie hielten Kontakt zu den Feldzug teilgenommen hat, so dass durch Nachbarn, ein Beweis dafür ist auch, dass die Abkürzung der Vornamen Michael, bei den Geburts- und Sterbeeinträgen sehr Marx oder Moses in Frage kommen können, oft ein christlicher Nachbar, Freund oder Be- aber immerhin findet sich ein jüdischer Na- kannter mit aufs Standesamt kam und als me in der evangelischen Kirche. Die Tafel Zeuge unterschrieb. Doch während die Ka- wurde erst 1956 abgenommen und nach der tholiken sich größtenteils in einer Mischehe Renovierung der Kirche und der Verlegung mit einem evangelischen Partner befanden des Eingangs nicht wieder aufgehängt. Seit- und ihre Kinder evangelisch getauft wur- dem liegt sie im Keller des Evangelischen Ehrentafel für die Monzinger Teilnehmer an den den, war keine Ehe zwischen Juden und Gemeindehauses in Monzingen.16 Kriegen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Christen zu finden. Oft kamen die jüdischen Auch am Ersten Weltkrieg nahm ein in Foto: P. Herrmann, Monzingen Ehepartner von weit her. Hin und wieder Monzingen geborener Jude teil. Ferdinand sind auch verwandtschaftliche Beziehungen Ullmann (*1889) war zwar schon in Frank- zu erkennen. So war zum Beispiel Klara Ull- furt als wohnhaft gemeldet, als er in den mann (*1814 in Monzingen) in Homburg Krieg zog, seine Mutter und einige Ge- 5 St. Amt Monzingen; Sterbeakte 55/1807 verheiratet, ihre Tochter Amalia heiratete schwister lebten aber noch in Monzingen in und 59/1823 Jacob Mayer, den Sohn von Eva Ullmann, den Häusern Nr. 209 und 229. Er fiel 1915 im 6 Standesamt Monzingen, Heirat 1813 und lebte dann in Monzingen. Alter von 26 Jahren in Galizien.17 Auf den 7 Standesamt Monzingen, Geburt 24/1803 Obwohl die Juden durch ihren Handel Listen der im Ersten Weltkrieg Gefallenen 8 Erhebung über die Zahl der Juden im viel unterwegs waren und so etliche Ver- des Kreises Kreuznach ist er nicht zu finden, Saardépartement, LHA, Best. 276, Nr. 624 bindungen knüpfen konnten, haben sicher da er ja nicht mehr in Monzingen gemeldet 9 Original im Museum Berlin, Linden- auch spezielle jüdische Heiratsvermittler ei- war. Auf der Ehrentafel der höheren Schule straße 14 ne Rolle gespielt. In früheren Zeiten waren in Sobernheim, die er zwei Jahre lang be- 10 LHA, Außenstelle Kobern-Gondorf, Heiratsvermittler im Naheraum und Huns- sucht hatte, ist er jedoch unter Nr. 56 mit auf- Monzingen, Liegenschaftsbücher und Ge- rück auch bei den Christen allgemein üb- geführt.18 burtseintrag 140/1857 Standesamt Monzin- lich. In israelischen Zeitungen gab es zwar gen auch schon Heiratsgesuche speziell für Ju- Quellennachweis 11 LHA, Außenstelle Kobern-Gondorf, den, besonders in der zweiten Hälfte des 19. LHA = Landeshauptarchiv Koblenz Monzingen, Liegenschaftsbücher (auch für Jahrhunderts, doch kamen diese wohl eher 1 Dr. Hein, Monzingen (1574 – 1701), S. die folgenden Angaben) für die Stadtbewohner und höheren Gesell- 359 – im Archiv der Kirchengemeinde Mon- 12 Einwohnerlisten des Kreises Kreuz- schaftsschichten in Frage. Auf dem Land zingen nach, 1891, Seite 24 und 1910, S. 40 wurden eh kaum Zeitungen gelesen. Die 2 Alfred Moritz, Survival 1933-1944, S. 15 13 Kirner Zeitung, Nr. 45 vom Samstag auswärtigen jüdischen Männer waren in der 3 LHA, Best. 33, Nr. 2615 dem 5. Juni 1886, Stadtarchiv Kirn Regel ebenfalls Händler, die auswärtigen 4 LHA, Best. 33, Nr.2616, A4 14 Regierungsbezirk Coblenz nach seiner Lage, Begründung, Größe, Bevölkerung und Eintheilung, 1817 und 1843 (Kreisarchiv Bad Kreuznach), Jüdische Grabstätten im Kreis Kreuznach, 1995, Anhang I und LHA Kob- lenz, Best. 276 Nr. 64 15 Brief von Margaretha Schwenk an ihre Schwester Mina in London, 29.03.1883 16 Foto: P. Herrmann Monzingen, 2008 17 Weltkriegsopfer, Gefallenenliste: Truppenteil 2.R.I.R.222, Geburts- und To- desdatum 18 Wilhelm Müller, Die Geschichte der Höheren Schule Sobernheims, 18. Oktober 1921, S. 3 und S. 35

Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Veränderung der Religionsgruppen in Monzingen von 1808 bis 1925. Tabelle: Gudrun Serke, Monzingen Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 7/2013 BadKreuznacher Beilage Bad Kreuznach Heimatblätter

Hundert Jahre neues Kurhaus Bad Kreuznach Die Eröffnung am 1. Juli 1913 im Spiegel der Presse

VON RICHARD WALTER, BAD KREUZNACH

Unter der Überschrift „Zur heutigen Ein- weihungsfeier im Kreuznacher neuen Kur- hause“ gab der „General Anzeiger“, das Amtliche Kreisblatt für den Kreis Kreuz- nach, am 1. Juli 1913 einen Vorbericht zu dem großen Ereignis. Dieser ging zunächst auf den Vorgängerbau und auf die unmit- telbare Vorgeschichte des Neubaus ein: „Erbaut wurde das a l t e K u r h a u s i m J a h re 1 8 3 8 [eigentliche Bauzeit: 1841/42, Einweihung 1843] und in späteren Jahren durch einen A n b a u vergrößert. In den Jah- ren 1860-70 war das Kurhaus der Mittel- punkt des damals glänzenden Badelebens in Kreuznach. Im Lauf der letzten Zeit zeig- te sich, dass das Kurhaus – besonders auch der darin enthaltene Hotelbau – modernen Anforderungen nicht mehr entsprach. Bei dem Aufschwung, den Kreuznach als ein- ziger Gewinnungsort des Radiums in Deutschland, sowie als führender Badeort bezüglich der Radium-Therapie in den letz- ten 5 Jahren nahm, wurde es immer not- Das alte Kurhaus von 1843. Bildgeber: Kreismedienzentrum Bad Kreuznach wendiger, dem Bade einen geeigneten Mit- telpunkt und dem Komfort beanspruchen- den Publikum ein Hotel allerersten Ranges zu schaffen. Nachdem im Jahre 1911 das ren, wurde Anfang Oktober 1912 das a l t e die Hoffnungsfahne heut am Tage der Vol- n e u e Z e n t r a l - B ä d e r h a u s für Ra- K u r h a u s abgerissen und das neue Kur- lendung von des stolzen Baues Zinnen, mö- diumtherapie erbaut, und im August des- haus auf dieselbe Stelle aufgebaut.“ ge ihr Rauschen unserm Bade eine neue selben Jahres in Gebrauch genommen war, Der „Oeffentliche Anzeiger“ für den Zeit des Aufschwungs künden, dem dieses wurde von der Solbäder-Aktien-Gesell- Kreis Kreuznach hatte bereits am 25. Juni Haus die Wege ebnen soll! Ein neues Kur- schaft der Bau eines neuen K u r h a u s e s 1912 gemeldet: „Der Stadtrat übernahm haus! Welche Fülle von Arbeit und Sorgen in Verbindung mit einem erstklassigen Ho- gestern mit 14 gegen 6 Stimmen die Ga- umschließt dieses Wort, aber wie viel froher tel beschlossen. rantie für den Neubau eines Kurhauses in ei- Wagemut und Tatenkraft spricht auch aus Die Stadt K r e u z n a c h, für welche die ner Höhe von vorläufig 1 600 000 Mark, ihm. Entwickelung des Bades eine L e b e n s- nachdem er vor zwei Jahren 400 000 Mark Mit Sorge sahen die verantwortlichen b e d i n g u n g geworden war, erklärte sich Bausumme für das inzwischen fertig ge- Männer in vergangenen Jahrzehnten unter bereit, auch für das neue Kurhaus und Ho- stellte neue Bäderhaus übernommen hatte. dem wachsenden Wettbewerb der großen tel die Verzinsung der Bausumme zu ga- Im Ganzen bürgt die Stadt also jetzt für Modebäder der wenig verlockenden Zu- rantieren. Nachdem der erste Wettbewerb zwei Millionen Mark. Das neue Kurhaus kunft entgegen, doch so schwer die Zeiten um einen geeigneten Plan, welcher im Jah- wird in drei Etappen gebaut und kostet auch schienen, die Führer, denen das Ver- re 1911 ausgeschrieben war, ergebnislos nach der definitiven Fertigstellung rund trauen der Bürger die Leitung des Bades zu- verlaufen war, wurde in einem zweiten zwei Millionen Mark. Das alte Kurhaus wird gewiesen, zagten nicht, sondern sannen Wettbewerb von den 4 eingereichten Plä- im Oktober abgerissen, der Hauptbau des pflichtgetreu auf alle Mittel, die geeignet nen derjenige des Herrn Professor neuen Kurhauses muß in den äußeren For- schienen, unserem Bade den verloren ge- E m a n u e l v o n S e i d l [renommierter men am 1. Mai 1913 fertig sein. Der innere gangenen Gleichschritt mit der neuen Zeit Münchener Architekt] einstimmig vom Ausbau hat Zeit bis 1914.“ wieder zu erringen. Da schenkte uns mitten Preisgericht gewählt. Der Bau wurde Herrn Ein Jahr später, am Tag der Einweihung, in allen Nöten Mutter Natur, die schon von von Seidl übertragen, für die örtliche Bau- schrieb der „Oeffentliche Anzeiger“: „Der Anbeginn ihr liebes Kreuznach an das Herz leitung wurde Herr Stadtbaumeister V ö l - große Tag ist da! Nur noch wenige Stunden gedrückt und es in verschwenderischer Fül- k e r aus Kreuznach bestimmt. Nachdem und die lichterfüllten Räume des neuen Kur- le mit allen Reizen der Erde geschmückt, während des Winters 1911/12 und des Som- hauses werden sich dem internationalen ein kostbares Gut, dessen Ruhm den Na- mers 1912 die Pläne soweit gefördert wa- Strom des Badelebens öffnen. Freudig weht men Kreuznachs wie im Fluge zu den ferns- 2 (Seite 26 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 7/2013

Das neue Kurhaus von 1913 auf einer Ansichtskarte (Kolorierte Zeichnung aus der Entstehungszeit). Hinten rechts ist auch der ursprünglich geplante große Saalbau zu erkennen, der aber nicht zur Ausführung kam. Bildgeber: Richard Walter, Bad Kreuznach

ten Ländern tragen sollte. Unser heimischer oder erschlagen drohe. Ein Park ist ideali- tiert sich im Aeußern durch seine vornehme Gelehrter Dr. Karl Aschoff entdeckte im sierte Natur, in die man sich lustwandelnd Einfachheit und schönen Linien. Der ovale Sinter der Kreuznacher Solquellen das ‚verlieren’ kann, ein Stilleben von Bäumen Mitteltrakt mit den freistehenden, durch Wunder des 20. Jahrhunderts, das geheim- und nicht von Steinbauten. drei Stockwerke gehenden Säulen und zwi- nisvolle Radium, dessen einziger deutscher Aber ruhig bei allen kritischen Fragen schengelegter Loggia trägt mit dem man- Fundort Kreuznach geblieben ist … wie eine Sphinx lag das Bauwerk da, lang- sardenartigen Aufbau eine m o n u- Die K u n d e v o n w u n d e r b a r e n sam sich ausdehnend und der Vollendung m e n t a l e W i r k u n g …” Heilungen mit Kreuznacher großzügig entgegenstrebend. Beim heuti- Besonders hervorgehoben wurde der R a d i u m drang in die Lande hinaus und gen Betreten der Feststätte kann manches “ovale G e s e l l s c h a f t s s a a l – das ließ den Strom der Kurgäste schnell zu Bedenken verschwinden. Und am Ende des Haupt- und Mittelstück des ganzen Bau- wachsenden Zahlen schwellen. Mit prakti- Parkes, am Ausblick auf die unmittelbare werks! Es liegt mit unmittelbarem Zugang schem Blick erkannte der allzeit tätige Kur- Wasser- und Waldromantik ist ja die Welt hinter der Terrasse und entspricht dem oval direktor Hauptmann Fernow, daß nur eine nicht mit Brettern zugenagelt.“ vorspringenden Mittelbau des Hauses. In planmäßige Reorganisation des gesamten Allgemein wurde der Neubau im „Ge- diesem Saal mit seiner großen, aller monu- Bades der Bürgerschaft die Erfolge des neu- neral Anzeiger“ wie folgt bewertet: „Pro- mentalen ‚Kälte’ baren Schönheit scheint en Aufschwungs dauernd sichern konnte … fessor Emmanuel von Seidl aus München die Symphonie neuer Architektur die ei- Der ganze Badebetrieb erfuhr durchgrei- mit seinem Mitarbeiter Architekt Theodor genartigsten und höchsten Harmonien des fende Verbesserungen und Erweiterungen, Schäffer hat seine reichen Erfahrungen und gesamten Bauwerks zu finden. Die feine, neue Quellen von einer früher nie geahnten sein ganzes künstlerisches Können in die- reizvolle und ungezwungene Einstimmung Ergiebigkeit wurden erschlossen, überall sem Bau niedergelegt… Der Bau repräsen- in die große Ovallinie im anmutigen Geist gab sich reges Leben kund … Und heute stehen wir an der Schwelle des neuen Kur- hauses, dessen prächtiger Bau das Werk der Reorganisation krönt.“ Das Bauprojekt hatte im Vorfeld seiner Fertigstellung aber auch mancherlei Be- denken hervorgerufen. Dazu hieß es in dem bereits zitierten Vorbericht des „General Anzeigers“ vom 1. Juli 1913: „Monatelang gab eine prosagraue Bretterverschalung um den Bauplatz den Vorübergehenden zu ver- stehen, daß der Zugang zur Stätte der wer- denden Sehenswürdigkeit verboten sei. Aber man blieb an der Straßenbiegung auf den Bürgersteigecken des Bäderhauses und Nachbarhotels stehen und nahm durch ei- nen wißbegierigen Blick zeitweilig Kennt- nis vom augenblicklichen Stand des äuße- ren Baues – der eine staunend, der andere auch wohl kritisierend, kopfschüttelnd; und man hätte ein voluminöses, buntes Kom- pendium von bei- und abfälligen, zu- kunftsfrohen und skeptischen Bemerkun- gen an dieser ‚Lästerecke’ spaziergängeri- scher Rede- und Gedankenfreiheit zusam- mentragen können. Tag für Tag wiederholte sich das Bild ständig wechselnder Zuschauergruppen. Welcher Einwohner sieht nicht in dem die Kräfte des ganzen Gemeinwesens anspan- nenden Unternehmen ein Stück seines e i g e n e n Schicksals werden? Manchem Beschauer schwebte auch gar die Frage auf den Lippen, ob der heranwachsende Bau- Die zur Einweihung am 1. Juli 1913 geladenen Festgäste auf der Terrasse des neuen Kurhauses. koloß nicht den Kurpark zu ‚verschlingen’ Bildgeber: Stadtarchiv Bad Kreuznach Bad Kreuznacher Heimatblätter - 7/2013 (Seite 27 des Jahrgangs) 3

der Biedermeierzeit erregt stilles Entzü- cken. Den Grundton an den kostbar und ein- fach-gediegen geschmückten Wänden gibt das Gelb des Stuckmarmors der Wände mit schwarzen Pfeilern und eingelegten Spie- geln an. Schon zieht sich – ebenfalls im ovalen Ring – die lange F e s t t a f e l für die heuti- ge Einweihungsfeier durch diesen pretiösen Raum … Als Schmuckstück für sich be- strickt noch das Parkettboden-Oval mit den strahlenförmigen schwarzen Einlagen. Die Messingumkleidung der Heizkörper paßt sich der Einrichtung an und unter der im ein- tönigen Weiß gehaltenen rundigen Plafon- darchitektur, sowie an den Wänden glitzert das Kristall des schweren Leuchterschmu- ckes. Durch die Tür rechts wandert unser Blick weiter in die herrlichen Speisesäle mit ihren farbenfroh reizenden Musterungen der Wandstoffe. In einem schönen Eckpa- villon entdecken wir ein W e i n b u f f e t – wo künftig manche Flasche der edlen Na- hegewächse den Weg zu den Restaurati- onstischen nehmen wird.“ Am Mittwoch, dem 2. Juli 1913, erschien dann im „General Anzeiger“ ein ausführli- cher Bericht über die Einweihungsfeier- lichkeiten, in welchem unter anderem zu le- sen war: “Ein solches farbentrunkenes und lichtdurchflutetes Bild von großartiger Schönheit des modernsten Badelebens, mit einem u n g e h e u r e n Festschwarm Tau- Die zum heutigen Kurhaus-Parkplatz gerichtete Fassade des Kursaalgebäudes von 1930 (hinten rechts). Gut sender unablässig durcheinander wogender zu erkennen sind die goldenen Zierkugeln auf dem Dachfirst. Bildgeber: Kreismedienzentrum Bad Kreuznach Menschen, sah Kreuznach vordem noch nicht. Wer konnte da widerstehen und sich nicht in einer feierlichen Stunde vom Stro- me froher n e u e r Hoffnungen der Kreuz- me tragen. Mögen alle die von körperlichen ger“ zusammengefasst wiedergegeben: nacher Zukunft tragen lassen!“ … Gebrechen geheilt wurden durch die Kreuz- „Wenn man einen so großen Architekten „Der Festakt der Uebergabe nacher Quellen, in diesen, von Ihrer Künst- beauftrage, hege man leicht den Verdacht, vollzog sich im Rahmen eines glanzvollen lerhand geschmückten Hallen alles verges- daß es nicht ohne U e b e r s c h r e i t u n g Gesellschaftsbildes vor und auf der Terras- sen lernen, was sie bedrückt hat, und eine d e r K o s t e n abgehen würde. Aber in die- se an der Rampe gegenüber der von Fest- frohe Erinnerung an die schönen hier ver- ser Beziehung habe man n i c h t zu klagen. teilnehmern dicht belebten Promenade kurz lebten Stunden mit nach Hause nehmen. Als entschieden gewesen sei, daß v. Seidl nach 5½ Uhr, während sich auch am Kur- Möchte ferner dieser stolze Bau ein Wahr- den Bau ausführen würde, habe man unter park-Eingang auf der Kurhausstraße große zeichen sein davon, daß das altberühmte der Hand die Erkundigung erhalten, daß Zuschauermassen aus der Kreuznacher Be- Bad Kreuznach gewillt ist, in den Wett- das ja gerade das Schätzenswerte an v. völkerung angesammelt hatten. kampf zu treten mit den großen Bädern des Seidl sei, sein Ziel mit bescheidenen Mitteln Herr Professor E. v. S e i d l – München In- und Auslandes und den alten Platz wie- zu erreichen und den Kostenanschlag nicht gebot dem festlichen Zug der blumenge- der erobern will, den es in früheren Zeiten zu überschreiten, sondern eher zu schmückten Girlanden tragenden Kinder gehabt hat. Und zum letzten! Möchte dieses u n t e r s c h r e i t e n. Tatsächlich könne Einhalt und wandte sich dann unter Hin- neue Kurhaus erbaut sein zum Segen un- man feststellen, daß er keine Ueberschrei- weis auf den ordnungsgemäßen Brauch der serer Gesellschaft und unserer lieben alten tung gemacht habe. Auch hier zeigte sich in Uebergabe Herrn Stadtbaumeister Völker Stadt Kreuznach! So ö f f n e t Euch denn, der Beschränkung der Meister“. zu, welcher sagte: Als örtlicher Bauleiter, Ihr Pforten! T r e t e t e i n und schauet, was Der neue Prachtbau enthielt zunächst die der die Entwürfe des Architekten zur Aus- Meister Seidl geschaffen hat! für den Kurbetrieb erforderlichen größeren führung gebracht und spezialtechnisch er- Das glänzende Festmahl in den neuen Re- und kleineren Gesellschaftsräume sowie gänzt hat, der den künstlerischen Formen präsentationsräumen zählte etwa 230 Teil- die Räume für den Wirtschaftsbetrieb und die konstruktive Durchbildung gab, über- nehmer und begann unter den feierlichen am 13. Mai 1914 wurde das dem Kurhaus reiche ich, nachdem meine Aufgabe erfüllt Klängen des Kurorchesters um 6 Uhr abends. eingegliederte Palasthotel mit 150 Betten in ist, zugleich im Namen Ihres Mitarbeiters Die neue Küche des Hauses unter Herrn Ho- 110 Zimmern eröffnet. Ein weiteres Jahr Herrn S c h ä f f e r, Ihnen, Herr Prof. v. telier Edgar Düringer bewerkstelligte aber später sollte ein großer Konzertsaal für 1500 Seidl, den S c h l ü s s e l des Hauses zur außerdem die Bedienung von ungefähr 220 Besucher fertiggestellt sein. Der Ausbruch Weitergabe an den B a u h e r r n. Personen, die am Festabend das Souper auf des Ersten Weltkrieges machte jedoch die- Herr Prof. v. S e i d l wünschte, daß das der Terrasse einnahmen, sodaß der Wirt- sen Plan zunichte und es sollte fünfzehn neue Haus gut aufgehoben sei, sprach von schaftsbetrieb gleich am ersten Abend, zu- Jahre dauern, bis der Saalbau – wenn auch dem angeschlossenen Zug von Fremden, mal bei der umfangreichen Speisefolge des in einer bescheideneren Version - vollendet die hier im Bade Genesung finden würden Festmahles, 450 Damen und Herren in be- und damit das ursprüngliche Gesamtkon- und wünschte, daß der Zug ein Siegeszug wundernswert glatter Weise mit menumä- zept des neuen Kurhauses weitgehend rea- werden würde. Der Redner vollzog dann ßigem Essen versorgte … Die Tafel war tip- lisiert werden konnte. die Uebergabe an den Bauherrn. top gedeckt und reich mit frischblühenden Als es im Juni 1930 dann endlich so weit Herr Kurdirektor Hauptmann F e r n o w Rosen geschmückt. Nach dem ersten Gang war, berichtete der „Oeffentliche Anzeiger“ führte aus: H e i l d e m M e i s t e r, der die- erhob sich die gesamte Festgesellschaft zu für den Kreis Bad Kreuznach in seiner Aus- ses Werk schuf! Hochverehrter Herr Pro- einer fotographischen Gruppenaufnahme gabe von Montag, dem 16. Juni 1930, aus- fessor! Mit Freude und Stolz nehme ich im auf der Terrasse und kehrte dann fröhlich führlich über „Die Einweihung des neuen Auftrage der Kreuznacher Solbäder-A.-G. plaudernd an die Plätze zurück.“ Kursaales in Bad Kreuznach“ und führte da- und namens der Kurverwaltung den Schlüs- In den Ansprachen des Abends mehrfach zu unter anderem aus: sel dieses schönen Hauses aus Ihren Hän- lobend erwähnt wurde die Einhaltung der „Die Fahne der Hoffnung weht seit Sams- den. Auch ich möchte den von Ihnen aus- vereinbarten Bauzeit und des veranschlag- tag über Bad Kreuznach. An diesem denk- gesprochenen Gedanken Ausdruck geben. ten Kostenrahmens. Die Aussagen des Bür- würdigen 14. Juni 1930 konnte nach viel- Möchte diese mit Rosen geschmückte Mäd- germeisters Dr. Schleicher zu letzterem Um- jährigem Stillstand durch Kriegsnot und Be- chenschar Freude und Glück in diese Räu- stand wurden durch den „General Anzei- satzungszeit wieder ein merkbarer Schritt 4 (Seite 28 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 7/2013

vorwärts in der Entwicklung unseres Bades nach Kreuznach zu kommen brauchte, um verzeichnet werden, die Einweihung des gemeinsam mit dem örtlichen Bauleiter Ein- neuen Kursaales. Das 1913 von Stadtbaurat zelheiten zu erwägen und festzulegen… V ö l k e r nach den Plänen des Münchner Man darf die Baukünstler beglückwün- Prof. Emanuel v. S e i d l erbaute neue Kur- schen zu diesem Meisterwerk, dessen gan- haus war infolge der Ungunst der Zeiten ein ze Schönheit sich in dem prächtig gelunge- Torso geblieben, … die organische Weiter- nen Konzertsaal offenbart, der in seiner har- entwicklung durch den Einbau des vorge- monischen Gliederung klassische Heiter- sehenen großen Saales und eines weiteren keit atmet … Hotelflügels nach der Nahe zu erwies sich Die Architektur des Saalbaues lebt in als finanziell unmöglich. Und doch bedurfte dem Stilgefühl des Klassizismus, ohne sich der Kurbetrieb dieser fehlenden Gesell- starr diesem anzupassen. Er bewegt sich schaftsräume, um mit den emporblühenden frei im Sachlichen moderner Formgebung. Bädern des unbesetzten Gebietes konkur- Hohe, lichte Fenster vermitteln schon beim rieren zu können. Bürgermeister Dr. Fischer äußeren Anblick eine Vorstellung von der erreichte in jahrelangen Verhandlungen Geräumigkeit des Innern. Der Farben- mit Reich und Staat endlich voriges Jahr die rhythmus der Renaissance – rot-weiß-gold – Zusage einer genügenden finanziellen Un- beherrscht im klassischen Akkord das Bild. terstützung, sodaß mit dem Saalbau be- Um die Simse ziehen ockergelbe Linien, gonnen werden konnte. Zierkugeln aus Gold stehen wie helle Rufe Inzwischen waren aber seit der Eröff- der Freude auf den Dachfirsten. Der große nung des neuen Kurhauses 16 Jahre ins Konzertsaal hallt in seiner wundervollen Land gegangen, in denen sich die Ansich- Akkustik wie der Nachklang einer Riesen- ten über den Stil monumentaler Bauten we- muschel, in der das Lied des Meeres einge- sentlich geändert haben. Man konnte, auch fangen ist … Die vortreffliche Akustik wird aus finanziellen Gründen, die wuchtigen unterstützt durch die in weiß gehaltene Pläne Seidls nicht beibehalten und ließ da- reich gegliederte Kassettendecke, die be- her von P r o f. R o t h in Darmstadt einen lebt wird von vereinzelten goldenen Zier- neuen Bauplan entwerfen, der uns mit be- stücken. 30 Meter lang und 16 Meter breit scheideneren Mitteln zu dem benötigten ist der Saal, der 700 Sitzplätze aufweist … Saalbau verhelfen sollte. Es war außeror- Die Aufteilung des Saales ist nach einem dentlich schwer, die Architektur des Neu- reizvollen Motiv vorgenommen, das sich vor Aus der „Bad Kreuznacher Bade Zeitung mit Frem- baues in Einklang zu bringen mit der Ei- allem in der Reihung der Säulen ausdrückt. denliste“ vom 11. Juni 1930. genart der künstlerischen Handschrift Seidls Ein rechter Tempel der schönsten Künste, Kopiervorlage: Richard Walter, Bad Kreuznach und dem modernen Stilgefühl. In restloser der Schönheit selbst! Weise ist das nicht gelungen, aber eine un- Die Unterhaltungs- und Lesesäle ver- gefähre Anpassung ist erreicht worden Ab- breiten durch das Grün ihrer Tapeten ein gesehen von der Fassade nach dem Kur- Gefühl der Behaglichkeit und Ruhe. Der Kauzenburg. Ein idyllischer Aufenthaltsort! theater hin [heute: Richtung Kurhaus-Park- kleine rote Saal ist für die Abhaltung von Bad Kreuznach ist jetzt ‚komplett’. Es steht platz] darf man von einer glücklichen Lö- Kongressen, Tagungen, Privatgesellschaf- nun in der vordersten Reihe der eleganten sung der schweren Aufgabe sprechen. Der ten usw. bestimmt und paßt sich in seiner und komfortablen Bäder Deutschlands.“ Saalbau fügt sich harmonisch dem Ge- lebhaften Ausgestaltung auf das beste sei- Bürgermeister Dr. Fischer hielt eine län- samtbild des Kurhauses ein. ner Bestimmung an. Von der Terrasse, die gere „Weiherede“, die er mit folgenden Stadtbaurat Völker übernahm die örtli- sich rund um das ganze Gebäude zieht und Worten schloss: „Diese Stunde der Einwei- che Bauleitung und gab den Plänen Roths die Balkone des Kurhauses fortsetzt genießt hung soll nicht nur ein Moment der Freude in so glücklicher Weise Gestalt, daß der ent- man einen herrlichen Ausblick auf die alten über das Erreichte sein, sondern soll unsere werfende Architekt während der ganzen Bäume des Kurparks, die Kurparksaline, die ganze Bevölkerung innerlich verknüpfen Bauzeit nur zwei- oder dreimal persönlich rauschende Nahe und die Weinberge der mit diesem neugewonnenen Mittelpunkt des Bades. In der Erkenntnis der großen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Mission dieses wichtigen Erwerbszweiges unserer Bevölkerung soll sie stärker als je zuvor die Kräfte freimachen zu seiner För- derung und Ausgangspunkt werden für ein neues Blühen unserer von den schweren Hemmungen der Vergangenheit befreiten Stadt. Erst dann werden diese Säle ihren wahren Zweck erfüllt haben“. Stadtbaurat Völker beendete sein Gruß- wort mit dem Wunsch: „Möge die Hoffnung … der Bauleute sich erfüllen, daß mit die- sem Bau, der das Werk des Kurhauses ver- vollständigt, unsere Kurwirtschaft und da- mit unsere Stadt zu neuem Blühen und Ge- deihen aufsteigen, möge die Sonne, die aus allen diesen Goldkugeln des Neubaues blinkt, das Wahrzeichen sein zu neuem wirt- schaftlichem Aufstieg unseres Volkes aus wirtschaftlicher Not und Nacht zu sonnen- vollen besseren Zukunftstagen!“ Schon wenige Jahre später sollte sich zei- gen, dass dies ein allzu frommer Wunsch war.

Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Der große Kursaal zur Zeit seiner Eröffnung am 14. Juni 1930. Bildgeber: Kreismedienzentrum Bad Kreuznach Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 8/2013 BadKreuznacher Beilage Bad Kreuznach Heimatblätter

„Bach, selbstverständlich!“ Albert Schweitzer und die Musik Johann Sebastian Bachs

VON PFARRER DR. CLAUS CLAUSEN, BAD KREUZNACH ganzen heutigen Europa. Seine Orgelkunst … stellt ihn in die erste Reihe der jetzigen Organisten. … Dieser Mann, der mit Vorträ- Vorbemerkung gen und Konzerten bis zur Unerträglichkeit Die nachfolgenden Ausführungen gehen überhäuft ist, den man in London und Stock- zurück auf einen Vortrag, den der Verfasser holm ebenso hören will wie in Paris und anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Madrid, findet noch die Zeit, um auch in Gründung des Urwaldhospitals in Lamba- Kreuznach eine Stunde musikalischer An- rene am 24. Februar 2013 in der evangeli- dacht zu bieten. Das ist mehr als künstleri- schen Pauluskirche in Bad Kreuznach ge- scher Genuss, das ist menschliche Weihe- halten hat. Der Vortrag wurde umrahmt von stunde.“ 2 der Wiederaufführung eines von Albert Albert Schweitzer, geboren 1875 im Ober- Schweitzer am 2. Mai 1929 ebenfalls in der Elsaß, gestorben 1965 in Lambarene, der be- Kreuznacher Pauluskirche gegebenen Or- rühmte Theologe, Vertreter einer heute in gelkonzerts. Beate Rux-Voss, die Kantorin ihrer Aktualität neu entdeckten Philosophie der Paulus-Kirchengemeinde, spielte auf der „Ehrfurcht vor dem Leben“, der beim der neuen Eule-Orgel der Kirche. Bau seines Urwaldhospitals eigenhändig immer wieder Ameisen und Würmer aus 1. Das Spital in Lambarene dem Weg räumte, um deren Leben zu retten, „Im Herbst 1893 stellte sich mir ein junger dieser „Großmeister der Vielseitigkeit“ und Elsässer vor und bat mich, mir auf der Orgel spätere Träger des Friedensnobelpreises, vorspielen zu dürfen. ‚Was denn?’ fragte ich. war eben auch ein ausgewiesener Organist, ‚Bach selbstverständlich!’ antwortete er.“ – Orgelsachverständiger und Musikwissen- So schrieb der große französische Organist schaftler. Charles-Marie Widor im Jahr 1907. Der jun- Die Orgel auf der er im Mai 1929 in der ge Elsässer, von dem er sprach, war kein an- Pauluskirche spielte, war die Vor-Vorgän- derer als Albert Schweitzer. Zur Zeit dieser Der Arzt, Theologe, Philosoph, Musikwissenschaft- gerin der erst im vergangenen Jahr in Be- ersten Begegnung war Schweitzer 18 Jahre ler und Organist Albert Schweitzer (1875-1965). trieb genommenen Eule-Orgel: eine 1858 alt.1 Bildquelle: Wikipedia fertiggestellte und 1922 noch einmal reno- 20 Jahre nach jener Begegnung – also vor vierte und umgebaute Stumm-Orgel. Sie 100 Jahren – gründete Albert Schweitzer das stand an derselben Stelle, wo heute noch die berühmte Spital in Lambarene, im damals alte Oberlinger-Orgel steht, allerdings war französischen Äquatorialafrika – dem heu- zahlreichen Konzerten in ganz Europa statt, damals der Kirchenraum umgekehrt ausge- tigen Gabun. Dieses Projekt wurde zum In- um an Leben und Werk Albert Schweitzers richtet, Kanzel und Altar standen unter der begriff für ein konsequentes Leben im zu erinnern. Orgel, der jetzige Seiteneingang diente als Dienst der Mitmenschen und zum Symbol Haupteingang. Ein Jahr nach Schweitzers des Lebenswerks einer beeindruckenden 2. Albert Schweitzer in Bad Kreuznach Konzert begann der langjährige Kantor Karl Persönlichkeit. Denn Albert Schweitzer In Bad Kreuznach gibt es einen besonde- Kappesser, der Vor- Vor- Vorgänger der jet- zeigte mit Wort und Tat – und immer wieder ren Grund zur Erinnerung an den bedeu- zigen Amtsinhaberin Beate Rux-Voss, seine mit viel Musik – auf bis heute vorbildliche tenden Mann; denn Albert Schweitzer war Tätigkeit an der Pauluskirche. Weise, was ein Leben in der Nachfolge selbst einmal in der Stadt an der Nahe, und Das damals von Schweitzer zusammen- Christi bedeuten kann. zwar im Jahr 1929, also 16 Jahre nach der gestellte Programm wies einige Auffällig- Heute beherbergt das Albert-Schweitzer- Gründung seines Krankenhauses. Damals keiten auf: So fehlte die Fuge zum ersten Hospital in Lambarene die Abteilungen für hat er hier in der Pauluskirche Orgel gespielt Präludium, stattdessen war eine andere Fu- Innere Medizin, Chirurgie, Pädiatrie (Kin- - um für sein humanitäres Projekt zu werben ge angefügt worden. Auch stimmten nicht der- und Jugendmedizin), eine Geburtskli- und „Fundraising“ zu betreiben, wie man alle Stücke zur nachösterlichen Zeit des Kir- nik, eine Zahnklinik und seit 1981 ein For- heute sagen würde. chenjahrs, das Stück „Sei gegrüßet, Jesu schungslabor, das sich vorwiegend auf die Während seines Aufenthaltes in Bad gütig“ gehört eigentlich in die Passionszeit, Erforschung der tropischen Malaria und de- Kreuznach wohnte Albert Schweitzer bei Li- ja zum Karfreitag. Vielleicht wirkten sich ren Behandlung konzentriert. na Hilger und Elsbeth Krukenberg in deren hier die damaligen Gepflogenheiten in der Der Name „Lambarene“ bedeutet: „Wir Haus „Orplid“ (Salinenstraße 61). Mit den Gestaltung von Konzertprogrammen aus, wollen es versuchen.“ Albert Schweitzer hat beiden Frauen war er freundschaftlich ver- die weniger Wert auf Stringenz und Ge- es versucht. Hat den christlichen Glauben in bunden und pflegte von Lambarene aus schlossenheit legten. Da Schweitzer jedoch die Tat umgesetzt. Und inspiriert damit bis auch einen Briefwechsel mit ihnen. die Musik Johann Sebastian Bachs ganz be- heute Menschen zu tätiger Nächstenliebe. Am 2. Mai 1929 stand folgende Notiz in sonders schätzte, war es kein Wunder, dass „Hundert Jahre Menschlichkeit“ – unter der Kreuznacher Lokalpresse: „Albert das Programm des Konzerts – mit Ausnahme diesem Motto findet hundert Jahre nach der Schweitzer, der heute in der Pauluskirche einer mendelssohnschen Orgelsonate am Gründungs jenes weltberühmten Urwald- ein Orgelkonzert gibt, ist einer der bekann- Schluss – ausschließlich aus Werken des krankenhauses ein Jubiläumsprogramm mit testen und höchst geachtetsten Männer im Thomaskantors bestand. 2 (Seite 30 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 8/2013

den müsse, mit demselben ungläubigen La- chen auf wie Sarah die Verkündigung der ihr beschiedenen Nachkommenschaft.“ 6 Schweitzer beschreibt seine Methode zur Beurteilung von Orgeln folgendermaßen: „Um den Klang einer Orgel zu beurteilen, zieht man zuerst alle achtfüßigen Stimmen und spielt einen polyphonen Satz. Dabei müssen sich Alt und Tenor in dem Stimmen- gewebe gut durchsetzen und der Klang darf nie unangenehm werden. Hierauf lässt man die vierfüßigen Stimmen hinzutreten und wiederholt dieselbe Probe. Zum Beschluss spielt man dem Hörer eine halbe Stunde lang Bachsche Fugen mit vollem Werke oh- ne Unterbrechung vor. Vermag er dabei die Stimmen deutlich zu verfolgen und empfin- det er diese anhaltende Fülle des Tones nicht als ermüdend, so ist die Orgel gut. Das volle Werk einer modernen Fabrikorgel in dieser Probe mit Bachschen Fugen wirkt als wirres Getöse und ist keine fünf Minuten zu ertragen.“7 Die Orgelbewegung der folgenden Jahr- zehnte hat Schweitzer durch seine Bemü- hungen und Veröffentlichungen maßgeb- lich beeinflusst. 1930 konnte er mit einer ge- In der Bad Kreuznacher Pauluskirche fand das Orgelkonzert Albert Schweitzers am 2. Mai 1929 statt. wissen Genugtuung feststellen, dass seine Bildgeber: Kreismedienzentrum Bad Kreuznach Prinzipien eines künstlerischen und gedie- genen Orgelbaus vermehrt zur Anerken- nung gelangten.

3. Albert Schweitzer als studieren. In die Hunderte gehen die Briefe, 4. Albert Schweitzer und die Musik Orgelsachverständiger die ich an Bischöfe, Dompröpste, Konsistori- Schweitzers Leidenschaft für die Musik Albert Schweitzer spielte nicht nur selbst alpräsidenten, Bürgermeister, Pfarrer, Kir- reicht zurück bis in seine Kindheit. In seinen Orgel, er wirkte auch als Orgelsachverstän- chenvorstände, Kirchenälteste, Orgelbauer Kindheitserinnerungen schreibt er: „Musik diger und setzte sich unermüdlich für den und Organisten schrieb, sei es, um sie zu ist bei mir eben … Erbschaft, gegen die ich Erhalt alter Orgeln ein. Der um die Jahr- überzeugen, dass sie ihre schönen alten Or- nichts ausrichten kann. - Als ich die ersten hundertwende üblichen modernen Orgel- geln restaurieren sollten, statt sie durch eine Male Blechmusik hörte, schwanden mir fast bauweise stand er äußerst kritisch gegen- neue zu ersetzen, sei es, um sie anzuflehen, die Sinne.“ 8 - „Ich war zehn Jahre alt, als ich über. So schrieb er über eine neue Orgel in nicht auf die Zahl, sondern auf die Qualität die Bachschen Choralvorspiele kennenlern- der Liederhalle in Stuttgart im Jahr 1896: der Stimmen zu sehen. Welche Beredsam- te. Eugen Münch, der Organist der Ste- „Als ich den Klang des viel gepriesenen keit habe ich aufwenden müssen, um To- phanskirche zu Mülhausen im Elsaß, nahm Instruments hörte und bei einer Bachschen desurteile, die über schöne alte Orgeln er- mich an den Samstagabenden mit auf die Fuge ein Chaos von Tönen vernahm, in dem gangen waren, rückgängig zu machen! Wie Orgel, wo er sich auf den sonntäglichen Got- ich die einzelnen Stimmen nicht auseinan- manche Organisten nahmen die Nachricht, tesdienst vorbereitete. Mit tiefer Ergriffen- derhalten konnte, wurde mir ein Ahnen, dass die von ihnen wegen ihres Alters und heit folgte ich den geheimnisvollen Tönen dass die moderne Orgel in klanglicher Hin- ihres baufälligen Zustandes geringge- des herrlichen alten Instruments, die sich in sicht keinen Fortschritt, sondern einen Rück- schätzte Orgel schön sei und erhalten wer- der dunklen Kirche verloren.“ 9 schritt bedeute, plötzlich zur Gewissheit.“ 3 Für Schweitzer ging die größere Zahl an Registern auf Kosten der klanglichen Qua- lität. In einem Aufsatz schrieb er zwei Jahre vor dem Kreuznacher Konzert: „Die sche- matisch gearbeiteten, zu dünnwandigen und engen Pfeifen kamen viel billiger als die bisherigen, konnten aber nicht denselben Klang hervorbringen.“ 4 Auch dass man den Winddruck erhöhen musste, um auf diesen Pfeifen Töne zu erzeugen, tat der Klang- qualität nicht gut. Schweitzer beschrieb das Ergebnis so: „So entstand, weil man die künstlerischen Traditionen verließ, die Or- gel mit den dröhnenden Bässen, der ver- wischten Mittellage und dem schrillen Dis- kant - die obertönige Orgel.“ 5 Anstelle der leistungsstarken aber klang- lich unbefriedigenden Orgeln seiner Zeit bevorzugte Schweitzer Orgeln, die Mitte des 19. Jahrhunderts nach dem Vorbild der Brü- der Gottfried und Andreas Silbermann ge- baut worden waren. Diese Orgeln besaßen weichere und zugleich differenziertere Klangfarben als viele der modernen Orgeln seiner Zeit. Dieses Klangideal verfolgte Schweitzer mit unermüdlicher Energie: „Gar manche Nächte verbrachte ich über Orgelplänen, die ich zu begutachten oder zu überarbeiten hatte. Gar manche Fahrten unternahm ich, um die Fragen zu restaurierender oder neu Albert Schweitzer spielte auf einer Stumm-Orgel, der Vorgängerorgel der hier abgebildeten Oberlinger- zu erbauender Orgeln an Ort und Stelle zu Orgel. Bildgeber: Kreismedienzentrum Bad Kreuznach Bad Kreuznacher Heimatblätter - 8/2013 (Seite 31 des Jahrgangs) 3

Zeitung aus dem Jahr 1929 noch einmal zu Nach eingehender Analyse lautet bemühen. Schweitzers unzweideutiges Fazit: „Unter Aber auch für Schweitzer selbst behielt dem Eindruck der gesetzmäßigen Wieder- die Musik zeit seines Lebens eine quasi reli- kehr bestimmt ausgeprägter musikalischer giöse Dimension: „Die Musik ist ein Abbild Formeln in Bachs Werken kann man nicht einer unsichtbaren Welt, die nur von denje- umhin, ihm eine ausgebildete Tonsprache nigen in Tönen festgehalten werden kann, zuzuerkennen.“ 19 die sie in der Vollkommenheit schauten und Doch worin lag die tiefe Faszination be- wiederzugeben wussten.“ 11 - „Jede wahr gründet, die die Musik Johann Sebastian und tief empfundene Musik, ob profan oder Bachs auf Albert Schweitzer ausübte? kirchlich, wandelt auf jenen Höhen, wo Da sind einerseits allerhand äußerliche Kunst und Religion sich jederzeit begegnen Ähnlichkeiten zwischen beiden Persönlich- können.“ 12 keiten, etwa ihre schiere Schaffenskraft. Aber auch eine gewisse Streitbarkeit ist bei- 5. Albert Schweitzer und den gemeinsam: Bachs kräftezehrenden, Johann Sebastian Bach manchmal hitzigen Auseinandersetzungen Im Rahmen seines musikwissenschaftli- mit dem Leipziger Stadtrat um kulturpoliti- chen Schaffens erstellte Schweitzer neben sche Fragen sind bekannt. Auch Schweitzer seinem fast 800-seitigen Buch über Johann wird ein aufbrausendes Naturell nachge- Sebastian Bach eine kritische Gesamtaus- sagt: Er war ein Mann, der bei aller Guther- gabe sämtlicher Orgelwerke Bachs, ver- zigkeit durchaus auch den „Starrsinn eines fasste aber auch verschiedene kleinere unzugänglichen Besserwissers“ (Robert Schriften, wie z.B. eine Abhandlung über Minder) besaß. Doch neben diesen eher äu- die Bedeutung des runden Violinbogens für ßerlichen Ähnlichkeiten gibt es auch eine Bachs Werke für Violine solo.13 innere Nähe zwischen beiden: Bei beiden Für Schweitzer war Bach ein Komponist, besteht ein eigentümliches, kreatives Ver- Albert Schweitzer an der Orgel. in dem sich das musikalische Erbe vergan- hältnis zwischen Rationalität und Frömmig- Fundstelle: Naheland-Kalender 1960, Seite 61. gener Jahrhunderte bündelte und zu einer keit, Vernunft und Glaube. neuen Synthese verschmolz: „Es ist, als hätte Was ist damit gemeint? Zunächst: Beide er nur den Drang, alles, was er vorfindet, in waren Männer von großer Rationalität. Bei einzigartiger Vollkommenheit noch einmal Bach machte sich dies bemerkbar in der mit- Aber nicht nur die Musik Bachs berührte und definitiv darzustellen. Der Geist der Zeit unter mathematisch anmutenden Systema- ihn zutiefst. Als der 16-jährige Schweitzer lebt in ihm. Alles künstlerische Suchen, Wol- tik, mit der er die Themen seiner Kompositi- zum ersten Mal Wagners Tannhäuser hörte, len, Schaffen, Sehnen, Irren vergangener onen entfaltet und variiert. Seiner Musik erlebte er dies mit ähnlicher Intensität: „Die- und gegenwärtiger Generationen ist in ihm haftet eine strenge Klarheit an. Vor allem se Musik überwältigte mich so, dass es Tage zusammengefasst und wirkt sich in ihm aus beim späten Bach findet sich eine „rational dauerte, bis ich wieder fähig war, dem Un- (…).“ 14 stark fordernde Abstraktheit“20. terricht in der Schule Aufmerksamkeit ent- Es war Schweitzers Verdienst, im Gegen- Dass ein derart durchgeformtes Werk ge- gegenzubringen.“ 10 satz zur gängigen Interpretation seiner Zeit, rade einem Albert Schweitzer zusagen Musik, das ist im Leben Schweitzers ein die Bachs Musik als reine Tonkunst zu ver- musste, wird deutlich, wenn man sich vor Dreiklang gewesen, bestehend aus seinem stehen suchte, die tragende Bedeutung des Augen hält, in wie starkem Maße Schweit- virtuosem Orgelspiel, seinen Bemühungen Zusammenhangs zwischen Wort und Ton zer selbst von der Kraft der Vernunft über- um die Erhaltung alter Orgeln und seinen bei Bach herauszuarbeiten. In der Tonspra- zeugt war. 1964 urteilte er rückblickend: musikwissenschaftlichen Forschungen. Es che Johann Sebastian Bachs korrespondie- „Schon als Student war ich im Untergrund ist bezeichnend für Schweitzers Vielseitig- ren bestimmte Lautverbindungen mit be- meines Denkens mehr mit Philosophie als keit, dass er sich auch dieser Sache nicht nur stimmten Vorstellungen und Gefühlen. Die mit Theologie beschäftigt.“21 „Mein Werk aus einer Richtung näherte, sondern aus un- Kenntnis dieser Sprache ist für Hörer und In- sehe ich darin, (...) den Weg vom Denken zur terschiedlichen Richtungen, und gerade da- terpreten der Musik von tragender Bedeu- Religion zu bahnen.“22 Mit Hilfe der richti- durch eine besondere Dichte des Verstehens tung: „Die Ergründung der musikalischen gen Ideen wollte er der Menschheit dazu erreichte. Sprache Bachs ist nicht etwa ein Zeitvertreib verhelfen, den diesen Ideen entsprechenden Zu seinem festen Repertoire gehörten die für den Ästhetiker, sondern eine Notwen- Weg des richtigen Handelns zu finden und Werke Francks, Mendelssohns und seines digkeit für den praktischen Musiker. Es ist zu beschreiten. So nimmt es nicht Wunder, Lehrers Widor, vor allem aber die Orgel- oft unmöglich, ein Stück des Meisters in dem dass sich ein Vernunftsmensch wie Schweit- werke Johann Sebastian Bachs. Auf seine richtigen Tempo, mit der richtigen Beto- Konzerte bereitete Schweitzer sich mit gro- nung, mit der richtigen Phrasierung wieder- ßer Sorgfalt vor. Der ganze Nachmittag vor zugeben, wenn die Bedeutung des Motivs einem Konzert wurde darauf verwendet, nicht erkannt ist.“ 15 dass er die Orgel kennen lernte, sich von Für diese Tonmalerei hat Bach nun sein dem Organisten vor Ort vorspielen ließ, um eigenes Repertoire an Motiven entwickelt, die Akustik des Raums und das Klang- die Schweitzer im einzelnen nachzeichnet: spektrum des Instruments zu erfassen, und „Motive, die in sicheren, festen Schritten dann gewissenhaft das gesamte am Abend einherschreiten, versinnbildlichen Stärke, zu spielende Programm zu registrieren. Herrschaft, Glaubensgewißheit; solche, die Sechs Stunden konnte das dauern, vor dem sich in auffälligen, gewagten Schritten be- Konzert schlief er dann eine halbe Stunde, wegen, Hochmut und Trotz; andere, die un- zehn Minuten vorher musste man ihn we- sicher einherwandeln, Wankelmut und To- cken. desmattigkeit.“ 16 Gewiss hat seine vielfältige Arbeitsbelas- Neben solchen Motiven sieht Schweitzer tung dazu geführt, dass er rein technisch „die synkopierten Themen der Mattigkeit; nicht dieselbe Virtuosität erreichte, wie das Thema, das den Tumult malt; die anmu- manch ein anderer Organist, der nicht wie tigen Wellenlinien, welche friedvolle Ruhe Schweitzer im Urwald Hütten bauen und darstellen; die Schlangenlinien, die sich kranke Menschen operieren musste. Doch beim Wort Satan wild emporwinden; die rei- Schweitzer kompensierte etwaige techni- zend bewegten Motive, die auftreten, wo sche Defizite durch die Innigkeit seiner In- von Engeln die Rede ist.“ 17 Besonders Be- terpretation. Im übrigen hörte man in sei- wegungsbegriffe bieten sich Bach zur ton- nem Spiel ja nicht nur den Musiker, sondern malerischen Darstellung an: „Erwachen, erlebte darin die Person Schweitzer als gan- Auffahren, Auferstehen, Steigen, Empor- ze, und gerade dieser Gesamteindruck schwingen, Eilen, Straucheln, Wanken, wirkte auf viele seiner Zeitgenossen sehr Sinken ... „, 18 – an solchen Begriffen ent- stark, eben als „menschliche Weihestunde“, zündet sich Bachs künstlerische Fantasie Programm des Albert-Schweitzer-Konzerts vom um die Formulierung der Kreuznacher besonders. 2. Mai 1929. Kopiervorlage: Stadtarchiv Bad Kreuznach 4 (Seite 32 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 8/2013

zer gerade von der Musik Bachs unwider- stehlich angezogen fühlte. 23 Doch es ist nicht die Vernunft allein, die die innere Nähe und Ähnlichkeit zwi- schen diesen beiden Männern ausmacht. Das Eigentümliche bei Bach und Schweitzer ist vielmehr dies, dass bei beiden Rationali- tät und Glaube, Vernunft und Frömmigkeit in einem kreativen Verhältnis zueinander stehen. „Soli deo gloria“ – so hat Bach bekann- terweise zahlreiche seiner Werke unter- schrieben. „Allein Gott zur Ehre“, oder, mit den Worten der Widmung für sein „Orgel- büchlein“ (1729): „Dem höchsten Gott allein zu Ehren, dem Nechsten draus sich zu be- lehren.“ Das war für Bach keine belanglose Floskel, sondern Ausdruck seiner Glau- benswirklichkeit. Die ausgeklügeltsten Ordnungsmuster seiner Kompositionen ha- ben ihren eigentlichen Sinn im Gotteslob. Auch bei Schweitzer gibt es diesen Zu- sammenhang zwischen Vernunft und Fröm- migkeit. Der Schlüsselbegriff für Schweit- zers Denken ist der Begriff der Ehrfurcht: „Ehrfurcht vor dem Leben.“ Er erkannte nicht nur das Leiden der misshandelten Kre- atur, er empfand es auch tief, empfand es als Schuld. Und gerade aus dem Empfinden Albert Schweitzer wohnte im Mai 1929 bei den Freundinnen Lina Hilger und Elsbeth Krukenberg im Haus dieser Schuld heraus und aus dem Staunen „Orplid“ (Salinenstraße 61). Fundstelle: Margot Pottlitzer-Strauß, Lina Hilger. Ein Lebensbild. Bad Kreuznach 1961, Seite 64 über die Wunder geschöpflichen Lebens kommt für ihn die Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben. Die Ehrfurcht ist für ihn eine auf dem Weg den beiden, in anderer Hinsicht einander so 6 Ebd. vernünftiger Reflexion gewonnene Haltung ähnlichen Männern, der die Musik Bachs für 7 Ders., Zur Reform des Orgelbaus, a.a.O., jenseits von Wissen und Kontrolle, eine Hal- Schweitzer in seiner eigenen kämpferischen 225. tung, die von einem Wert der Geschöpfe Glaubenshaltung unverzichtbar machte, um 8 Harald Steffahn, Hg., Das Albert ausgeht, der nicht messbar ist, der nicht auf- ihm, Schweitzer, die tröstliche Inkonse- Schweitzer Lesebuch, 1984 (5. Auflage zurechnen ist, sondern letztlich nur geglaubt quenz zu erlauben, zumindest in der Musik 2011), 24. werden kann - und zu einer erneuerten ethi- Bachs zu erleben, wie befreiend es ist, wenn 9 Albert Schweitzer, Johann Sebastian schen Grundhaltung führen muss: „Die der Erlöser gegenüber dem Gebieter das Bach (1908/1936), 11. Auflage 1990, V. Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben ist nichts letzte Wort hat. 10 Ders., Aus meinem Leben und Denken, anderes, als das große Gebot der Liebe Jesu, Die hohen Erwartungen im Blick auf 14ff. vom Weg des Denkens aus erreicht. (…) Im Schweitzers Orgelkonzert in der Pauluskir- 11 Ders., Im Banne der Musik, 1958, 52. letzten Grund ist unser Verhältnis zu Jesus che vor mittlerweile 84 Jahren wurden je- 12 Ebd., 50 mystischer Art. (…) Er sagt zu uns: Folge mir denfalls nicht enttäuscht. Am Tag nach dem 13 Ders., Der für Bachs Werke für Violine nach! Er gebietet. Und denjenigen, welche Konzert hieß es im Kreuznacher Generalan- Solo erforderliche Geigenbogen. In: Bach – ihm gehorchen, (...) wird er sich offenbaren zeiger voller Überschwang und mit einer Gedenkschrift, 1950. in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an heute etwas befremdlich anmutenden In- 14 Ders., Johann Sebastian Bach, 1. Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erle- brunst: „Voll Spannung harrte die den gro- 15 Ebd., 421. ben dürfen, und als ein unaussprechliches ßen Kirchenraum ganz füllende Menge auf 16 Ebd.. 419. Geheimnis werden sie erleben, wer er ist.“24 das Spiel des berühmten Orgelkünstlers. 17 Ebd., 421. Lebendige Nähe zu Jesus, Annäherung Und sie ward nicht nur befriedigt, sondern 18 Ebd., 416f. an das Geheimnis seiner Person im Folgen mit einer ethischen Macht erhoben, religiös 19 Ebd., 419. seines Rufs zu sittlichem Tun. Im Ruf zur bereichert, beglückt und beseligt. Eine Got- 20 Johannes Bolwin, Dem höchsten Gott Ehrfurcht vor dem Leben verdichtet sich tesgabe, diese Meisterschaft. Da wird die allein zu Ehren. Im Jubiläumsjahr. Bach und dieser Glaube in für Schweitzer typischer Orgel wirklich die Königin der Instrumente: seine Musik, Allgemeine Zeitung Rhein Weise. Im intensiven, von ihm selbst als Gedanken, Gefühle, Ahnung und Sehn- Main Presse, Journal, Ostern 2000 mystisch bezeichneten Erleben der Nähe sucht, Lust und Leid, alles, was eine Men- 21 Harald Steffahn, Du aber folge mir- Jesu Christi ähnelt Schweitzer Bach und un- schenseele erfüllen kann, kam ergreifend nach: Albert Schweitzers Werk und Wir- terscheidet sich doch zugleich wesentlich zum Ausdruck. Schwierigkeiten gibt es für kung, 2001, 85. von ihm: Denn während für Schweitzer Je- Schweitzer nicht und seine Auffassung ist so 22 Zitiert nach: Steffahn, Albert Schweit- sus zunächst und vor allem der Gebieter ist, überzeugend, dass man an eine andere Wie- zer, 99. dessen Gebot der Liebe es umzusetzen gilt, dergabe gar nicht denken kann. (…) Eine 23 Vielleicht ist auch dies der so ist Jesus für Bach der Erlöser, Grund für köstliche Weihestunde, eine herrliche Herz- Grund dafür, warum Schweitzer diejenigen Gottvertrauen und Gotteslob. erquickung hatte ihr Ende gefunden, und Orgeln bevorzugte, bei denen die verschie- Und wussten auch beide um den Vorrang voll des Gehörten, erhoben und bereichert denen Stimmen differenzierter zu hören des Lebens gegenüber dem Tod, so doch auf brach man auf.“25 waren. unterschiedliche Weise: Schweitzer als der, 24 Harald Steffahn, Albert Schweitzer mit der aus der Haltung der Ehrfurcht vor dem Anmerkungen Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 12. Leben heraus dem Tod die Stirn bietet, als 1 Charles-Marie Widor, Vorrede zu Albert Auflage 1996, 44. Arzt, als Anwalt der notleidenden Geschöp- Schweitzer, Johann Sebastian Bach 25 Kreuznacher Generalanzeiger, 3. Mai fe und im Protest gegen die Atomwaffen, – (1908/1936). 1929, am Tag nach dem Konzert. Bach hingegen als der, der den Tod herbei- 2 Öffentlicher Anzeiger, 2.5.1929 sehnen konnte, damit offenbar werde, was 3 Albert Schweitzer, Aus meinem Leben in dieser Welt nur im Glauben und in der und Denken, 1931, 8. Auflage 2011, 60ff. Musik offenbar wird, nämlich, dass in Jesus 4 Ders., Zur Reform des Orgelbaus (1927), Christus Streit, Kampf, Bitterkeit und Tod in: Albert Schweitzer, Aufsätze zur Musik, Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen durch unvergängliches Leben überwunden Hg. Stefan Hanheide, 1988, monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein wurden. 219ff, 220 für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach Vielleicht war es dann letztlich doch die- 5 Ders., Aus meinem Leben und Denken, e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, ser charakteristische Unterschied zwischen 60ff. Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 9/2013 BadKreuznacher Beilage Bad Kreuznach Heimatblätter

Die jüdische Gemeinde Monzingen

Erinnerungen an einzelne Familien delsmann, Kaufmann und Metzger. Nach- barssohn Philipp Alt erzählte seinen Töch- tern später oft von Jakobs Sohn David, dem VON GUDRUN SERKE, MONZINGEN letzten Spross der Mayers im Haus mit der damaligen Nummer 170. David war eben- falls Kaufmann, Händler und Metzger. Er Erzählungen von Monzinger Bürgern handelte mit Getreide und Saatgütern, aber Erinnerungen an einzelne jüdische Fa- auch mit Vieh und allem, was bei den Bau- milien sind bei den heutigen Bewohnern ern so anfiel. Als junger Bursche begleitete Monzingens nur noch spärlich vorhanden. Philipp ihn häufig in die umliegenden Dör- Deshalb sind im Folgenden die Erzählun- fer zu den einzelnen Bauern und lernte da- gen von Monzinger Bürgern ergänzt durch durch auch die Umgebung gut kennen. Als Recherchen in amtlichen Unterlagen und Transportmittel für das eingekaufte Vieh Katastern der Gemeinde. Die meisten Mon- benutzte David eine kleine Karre, vor die er zinger glaubten bisher, Monzingen hätte seinen Hund spannte. Eine solche Hunde- überhaupt keine jüdische Vergangenheit, karre war in der damaligen Zeit nichts Un- nur weil es hier am 9. November 1938 keine gewöhnliches. „“ gegeben hat. Stellt man Als am 20. Februar 1899 der Metzger Isa- aber gezielte Fragen, erinnern sich dann ak Metzler aus Sobernheim in der Woh- doch wieder etliche an die Trümmer der Ju- nung des Monzinger Metzgers Carl Di- denschule und den ehemaligen Juden- ckenschied einen Schlaganfall erlitt und tot friedhof und geben zu, dass da ja mal eine umfiel, wurde auch dessen Leiche „mittels jüdische Gemeinde gewesen sein muss, Fuhrwerk des Herrn David Mayer nach So- wenn auch nicht mehr zur Zeit des Hitler- bernheim zu seinen Angehörigen ge- Regimes. Auch dass Nachbarn oder Vor- bracht“1). Davids Ehefrau Delphina soll eine fahren Häuser aus jüdischem Besitz gekauft sehr vornehme, gütige Frau gewesen sein. hatten, fällt dann manchem wieder ein. Et- Sie hatte guten Kontakt zu allen Nachbarn Else Ermann mit Tochter Lilo. liche ältere Personen wissen Einzelheiten und pflegte die Beziehungen zu ihnen. An Quelle: Yad Vashem Foto-Archiv, Israel durch Erzählungen ihrer Eltern und Groß- Weihnachten kam sie den Christbaum be- eltern. sichtigen, was unter den christlichen Nach- So blieb die Familie Mayer noch lange im barn der Brauch war, obwohl sie als Juden Gedächtnis der Nachbarn. Mayers wohnten natürlich keinen aufgestellt hatten, und ver- der sie noch persönlich gekannt haben. Die 40 Jahre lang mitten im Dorf in der heuti- teilte auch immer, wenn sie Matzen geba- ältere Witwe hat 40 Jahre lang in Monzin- gen Hauptstr. 65. Jakob Mayer war Han- cken hatte, einen Teil davon in der Nach- gen gelebt. Sie wohnte im Niederviertel, im barschaft. Philipp bekam sogar von ihr zu Haus Nummer 68 (heute Bachstraße 3), dem seiner Konfirmation im Jahre 1902 das ob- Elternhaus ihres verstorbenen Ehemannes. ligatorische Gesangbuch geschenkt, das er Seit 1907 war sie bereits Witwe, ein Antrag hoch in Ehren hielt.2) auf Kleinstunterstützung wurde am 19. März Elfriede Deflize erzählte ihrer Tochter 1924 vom Gemeinderat abgelehnt „mit früher oft von der Krämerin „Emmilchen“ Rücksicht auf das Hausgrundstück und die (Emilie Ullmann, geborene Haas), die im Unterstützung durch Verwandte“.4) Wie sie Haus Nummer 229 gewohnt und dort einen ihrer Nachbarin anvertraut haben soll, war kleinen Lebensmittelladen betrieben hatte. eine ihrer größten Sorgen, an einem Sabbat Elfriede ging täglich auf ihrem Schulweg an zu sterben, weil sie nach ihrem Tod nicht un- dem Haus vorbei und bekam beim Einkauf versorgt bis zum nächsten Tag liegen blei- immer ein Bonbon geschenkt. Emilies Sohn ben wollte. Die Vorschrift, am Sabbat keine verkaufte das Haus 1924 an seinen Freund Arbeit zu verrichten, hielt sie jedoch streng Jakob Deflize, den späteren Schwiegervater ein. Samstagsmorgens ging daher Nachba- von Elfriede, und emigrierte nach England. rin Katharina Schmitt ins Ullmannsche Haus Er kam später noch mehrmals nach und zündete das Feuer im Ofen an. In den Deutschland (Schwester Berta und Schwa- dreißiger Jahren übernahm dann meist de- ger Penas Wolff wohnten in Frankfurt), be- ren Sohn Helmut diese Tätigkeit. Auch Phi- suchte dann auch Monzingen und die Fa- lipp, ein noch lebender Zeitzeuge, hat eini- milie Deflize. Seine Lieblingsspeise soll ge Male am Sabbat für die „Ullmanns-Bas“ dann Schwartenmagen gewesen sein, den das Feuer angezündet. Er bekam dann je- er als Jude ja zu Hause nicht essen durfte.3) des Mal zum Dank eine Matze. An die „Ullmanns-Bas“ (Caroline ge- Zum Passahfest backte Jettchen Ullmann nannt Henriette oder Jettchen Ullmann, sehr viele Matzen, die Irmgard Schmitt geb. Bärmann), nach 1924 die einzige Per- dann in ihrem Auftrag in der Nachbarschaft Das Wohnhaus von Jettchen Ullmann in Monzingen, son jüdischen Glaubens in Monzingen, er- austeilte. Dafür bekam die Spenderin dann Bachstraße 3. Foto: Gudrun Serke, Monzingen innern sich mehrere Zeitzeugen, die als Kin- von den Nachbarn Ostereier geschenkt. 2 (Seite 34 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 9/2013

Wenn die Verwandten der Nachbarn aus ging, Jettchen zum Synagogenbesuch in So- der heutigen Ringstraße geschlachtet hat- bernheim abholte und hinterher auch wie- ten, brachte deren Sohn Hans auch zur Wit- der zurück brachte.7) Nach zwei Jahren im we Ullmann etwas vom frisch Geschlachte- Altenheim in Mannheim wurde Jettchen ten, und sie dankte ihm mit ihrer etwas Ullmann im Rahmen der von den Gaulei- dunkleren Stimme im Monzinger Dialekt: tern Josef Bürckel und Robert Wagner an- „Waart, mei Bub, kriescht aach e Matze.“ – geordneten „Umsiedlungsaktion“ zusam- Ob dieses Geschlachtete aber koscher war, men mit den anderen Heiminsassen am 22. konnte ich nicht in Erfahrung bringen, ver- Oktober 1940 nach Südfrankreich in das La- mutlich war das nicht der Fall. Es wird sich ger Gurs deportiert.8) damit wie mit dem Schwartenmagen von Es existieren noch drei Briefe von ihr, Familie Deflize verhalten haben. Und auch die sie von Gurs aus an Frau Loeb und die von David Mayer wurde erzählt, dass er bei Familie Marum in die USA geschrieben hat den Bauern mit Vorliebe ein Stück Schin- und die nach dem Krieg dem Leo-Baeck- ken gegessen hat.5) Institut in New York übergeben wurden. Ab Mitte der dreißiger Jahre saß Jettchen Der dritte Brief datiert vom 19. August 1941. Ullmann dann meistens in ihrem Haus am Darin schrieb sie unter anderem: „Immer Fenster oben rechts und beobachtete das wenn Sie mich [in Sobernheim] besuchten, Leben auf der Straße. Kam eines der Nach- war der Tag ein Feiertag für mich, doch heu- barskinder vorbei, warf sie ein paar Mün- te wenn ich einen Brief von Ihnen, meine gu- zen eingewickelt in Zeitungspapier auf die te Frau Loeb, in Händen halte, dann fließen Straße hinunter und die Kinder liefen dann Freuden-Thränen.“ Sie bezeichnet sich als für sie zum Metzger oder Bäcker. In den Jah- „schwergeprüft“, hegt aber noch die – ren 1937 bis 1938 brachte Nachbarin Ka- leider vergebliche – Hoffnung, dass sie in tharina Glaser ihr regelmäßig Milch, die sie die „Freiheit und aus dem Lager herauskä- heimlich abends vor die Tür stellte. Offen- me, bevor es Winter wird.“ Danach verliert bar hatte man auch in Monzingen irgend- sich ihre Spur. Ob sie noch in Gurs verstor- welche Aufpasser zu befürchten, sonst hätte ben ist oder auf dem Transport in ein Kon- dies nicht „heimlich“ geschehen müssen. zentrationslager ums Leben kam, war bis- Beim Verlassen ihres Hauses 1938 soll sie her nicht zu ermitteln. Auf den Listen im erbärmlich gejammert haben. „Mein Häus- Gedenkbuch des Bundesarchivs ist sie nicht chen, mein Häuschen!“, habe sie immer zu finden. wieder gerufen. So erzählte die Nachbarin Doch drei andere ehemalige Monzinger Johanna Hennemann später ihrer Tochter.6) findet man in diesem Gedenkbuch, zwei da- Viele Monzinger glaubten, sie sei von den von unter dem Stichwort „geboren in Mon- Nazis abgeholt worden. Einer sprach von ei- zingen“: ner sogenannten „Nacht-und-Nebel-Akti- Else Ermann, geborene Mayer, geboren on“. Doch laut Informationen von der Fa- am 29. Oktober 1903 in Monzingen, die milie Marum an H. E. Berkemann wurde sie Tochter von David Mayer und Delphina Au- von Alfred Marum, dem jüdischen Fabri- gust, Ostern 1910 noch in die Evangelische kanten in Sobernheim, in ein Altersheim Volksschule in Monzingen eingeschult, war nach Mannheim gebracht. ab 14. Juli 1919 in Saarbrücken, Karchers- Aus Jettchens Briefen kann man entneh- traße 6 wohnhaft. Sie heiratete Willi Er- men, dass Frau Loeb, die Schwiegermutter mann aus Holz (heute: Heusweiler-Holz). von Alfred Marum, sie in Monzingen des Öf- Ihre Tochter Lieselotte wurde am 08. Januar teren besucht hatte. Offenbar hat die jüdi- 1926 in Saarbrücken geboren. Am 23. Juni sche Gemeinde Sobernheim sich generell 1943 wurde Else mit Transport Nummer 55 um die alleinstehende Witwe gekümmert. von Drancy nach Auschwitz deportiert; An- Grabstein von Amalie Mayer auf dem jüdischen So wird von Margot Lebach berichtet, dass kunft am 25. Juni 43, danach verschollen.9) Friedhof in Bad Kreuznach (Distrikt A, Nr. 101). sie regelmäßig zu Fuß nach Monzingen Das zweite Holocaust-Opfer ist Rosa Ja- Foto (2012): Gudrun Serke Monzingen

kob, geborene Ullmann, geboren am 04. Ap- ril 1860 in Monzingen, Tochter von Aaron Ullmann und Sara Mühlstein, verheiratet mit Joseph Jacob (1861 bis 1924). Auch sie war wohnhaft in Saarbrücken. Sie wurde am 15. Juni 1942 mit einem Transport aus Köln nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 11 Dezember 1942 im Ghetto verstarb.10) Das dritte Opfer ist zwar nicht in Mon- zingen geboren, hat aber mehrere Jahre hier gelebt. Penas Paul Wolff, geboren 1878 in Wawern, heiratete am 04. September 1908 in Monzingen Berta Ullmann. 1910 wurde auf den Liegenschaftsblättern des Katasteramtes das Ehepaar als Besitzer des Hauses Nummer 209 (heute Hauptstr. 43) mit Nebengebäuden und Garten eingetra- gen. In diesem Haus wohnten die beiden bis 1920. Dann verkauften sie ihren Besitz an Jakob Alt und zogen um nach Frankfurt. Penas Wolff wurde am 22. November 1941 nach Kowno (Kauen) Fort II deportiert, wo er drei Tage später starb.11)

Das Ende der jüdischen Gemeinde Nach der Abwanderung mehrerer Fami- lien war die jüdische Gemeinde erheblich Dessauer Straße 7 und 9 in Bad Kreuznach. Hier gründeten Albert und Gustav Mayer eine Firma für „Ge- zusammengeschrumpft. Wurden 1891 noch treide- und Kleesaaten en gros“. Foto (2012): Gudrun Serke, Monzingen sechs jüdische Händler als wohnhaft in Bad Kreuznacher Heimatblätter - 9/2013 (Seite 35 des Jahrgangs) 3

Monzingen angegeben, waren es 1902 noch Kirner Zeitung15) ist im Juni 1919 unter Mon- vier und 1910 nur noch zwei: David Mayer zingen zu lesen: „Das David Mayer’sche und Emilie Ullmann, Adolfs Ehefrau. Anwesen hierselbst ist zu einem hohen Prei- Der letzte Spross aus der Familie Fried, se von einer Saarbrücker Firma käuflich er- Angelius (II), taucht auf den Listen der Ge- worben worden, welche beabsichtigt, da- werbetreibenden nicht mehr auf, offenbar selbst ein Baumaterialiengeschäft einzu- hatte er zu dieser Zeit schon seinen Vieh- richten.“ – Im Liegenschaftsbuch des Ka- handel aufgegeben oder der Eintrag wurde tasteramtes wurde das Anwesen HN 234 vergessen. Er lebte aber noch bis zu seinem dann im Jahr 1920 auf einen neuen Besitzer Tod im Jahre 1913 in Monzingen, im Haus namens Brandes übertragen.16) In Saarbrü- Nummer 147 (heute Soonwaldstraße 26). cken, Karcherstraße 6 war auch Davids Frau Der Kaufmann Jacob Mayer hatte noch Delphina vor ihrem Tod am 14. Oktober 1893 an der Provinzialstraße, das Anwesen 1926 zuletzt wohnhaft. Sie hat offenbar bei HN 234 (heute Binger Landstraße 2) mit ihrer Tochter Lilo gelebt. Schwiegersohn Wohnhaus, Bräu und Scheune gekauft und Willi meldete ihren Tod auf dem Standes- dort seine Firma mit Lagerräumen einge- amt.17) Ein Hinweis auf Davids Tod wurde richtet. Nach seinem Tod 1896 wurde das noch nicht gefunden. gesamte Anwesen auf seinen Sohn Gustav Grabstein von Clara Vogel, geb. Mayer, der Tochter Nach dem Tod des Händlers Moses Ull- überschrieben, während der älteste Sohn von Amalie Mayer auf dem jüdischen Friedhof in mann, der 1902 ledig verstorben war und David vorerst das Haus der Mayers im Dorf Bad Kreuznach (Distrikt A, Nr. 17). keine näheren Verwandte mehr im Ort hat- übernahm, worin er mit Frau Delphina und te, wurden dessen Liegenschaften von an- Tochter Else bis 1906 wohnte. Sohn Albert deren Monzinger Bürgern erworben. Einen war bereits am 25. September 1903 nach großen Teil erwarb Adolf Ullmann, darunter Kreuznach gezogen. Bruder Gustav folgte ter dem Firmennamen des Vaters. Wann auch das Haus Nummer 209. Nachdem ihm drei Jahre später mit Frau und Sohn. Al- auch er Monzingen verlassen hat, ließ sich auch dessen Vater Michael Ullmann im bert und Gustav gründeten in der Dessau- bisher nicht genau ermitteln. Im Jahr 1910 Jahr 1905 verstorben war, wurden dessen erstraße in Kreuznach eine Firma unter dem unterschrieb er als Mitglied der Sanitäts- Liegenschaften ebenfalls auf Adolf über- gleichen Namen wie in Monzingen. kommission den Friedhofsbericht. Auch ein tragen. So besaßen Adolf und Emilie Ull- Mutter Amalie, die Witwe Jacobs, verzog Lieferschein von 1913 13) trägt noch seine mann im 1. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ebenfalls nach Kreuznach, das genaue Da- Unterschrift. Während des Krieges war in mehrere Wohnhäuser. Bereits 1892 hatte tum ließ sich nicht feststellen. Sie lebte aber den Nebengebäuden eine Reichsgetreide- Emilie das Haus Nummer 229 von der Wit- bis 1926 in der Kreisstadt, wo sie im Hause annahmestelle eingerichtet worden. Ein dort we Deflize erworben, in dem sie noch nach ihrer Tochter Clara Vogel, in der Oranien- ausgestellter Lieferschein von 1917 ist nicht dem Krieg ihren Kramladen führte. Sohn straße 13, verstarb.12) Albert Mayer zog 1921 mehr von David Mayer unterschrieben. Alfred verkaufte dieses Haus 1923/24 an Ja- mit seinen Söhnen nach Wiesbaden, wurde Davids Tochter Else ist am 4. April 1910 kob Deflize, den Sohn des Erbauers, und aber nach seinem Tod 1924 ebenfalls in in die evangelische Volksschule in Mon- emigrierte nach England, wo er 1939 die bri- Kreuznach neben seiner bereits 1919 ver- zingen eingeschult worden. Leider wurde tische Staatsangehörigkeit erwarb.18) storbenen Frau beerdigt. in der Schulstammrolle das Datum ihres Ob die inzwischen 70-jährige Emilie mit David Mayer verkaufte 1906 das gesamte Austritts nicht eingetragen. Bei den Schul- emigrierte oder zu einem ihrer Kinder nach Anwesen im Ortskern – dort wurde die entlassungen 1918 ist sie nicht mehr aufge- Frankfurt gezogen war, konnte nicht ermit- Metzgerei Christian Dickenschied einge- führt. In Saarbrücken ist sie ab dem 14. Juli telt werden. In den standesamtlichen Un- richtet - und zog um in das Haus Nummer 1919 wohnhaft in der Karcherstraße 6 terlagen von Monzingen ist kein sie betref- 234 an der Provinzialstraße, das nun auch gemeldet.14) Vermutlich hat die Familie fender Sterbeeintrag zu finden. Auch wann auf seinen Namen überschrieben wurde. Monzingen Ende des Ersten Weltkrieges in und wo Adolf Ullmann verstorben ist, konn- Von dort aus trieb er weiterhin Handel un- Richtung Saarland verlassen, denn in der te bisher nicht festgestellt werden. Er lebte

Grabstein von Clara Vogel, geb. Mayer, der Tochter von Amalie Mayer auf dem jüdischen Friedhof in Bad Kreuznach (Distrikt A, Nr. 17). Foto (2012): Gudrun Serke, Monzingen 4 (Seite 36 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 9/2013

W. Ziemer und Schulstammrolle der Grund- schule Monzingen, Teil 2 10) Vgl. Anmerkung 9 11) Standesamt Monzingen, Heirat 25/1908; Landeshauptarchiv Koblenz (LHAK), Außenstelle Kobern-Gondorf: Ka- taster Monzingen und Gedenkbuch 12) Sterbeeintrag Standesamt Bad Kreuz- nach, 12.03.1926 13) Original im Besitz von H. Bauer 14) Vgl. Anmerkung 9 15) Kirner Zeitung Nr. 145 von Freitag, dem 27. Juni 1919 (Stadtarchiv Kirn) 16) LHAK, Außenstelle Kobern-Gondorf, Liegenschaftsbuch, Blatt 1419 17) Sterbeeintrag von Delphina Mayer, geb. August, Standesamt Saarbrücken 788/1926 18) LHAK Außenstelle Kobern-Gondorf, Liegenschaftsbücher und folgender Vermerk auf dem Geburtseintrag des Standesamts Monzingen vom 24.02.1887: „hat nach Mitteilung der deutschen Botschaft in London vom 25.02.1939 durch Einbürgerungsurkunde Nr. U43QZ12881 Lieferschein vom 2. September 1913 mit der Unterschrift von David Mayer. die britische Staatsbürgerschaft erwor- Kopie des im Besitz von H. Bauer befindlichen Originals. ben“ 19) Standesamt Monzingen, Heirat 25/1908

1908 bei der Hochzeit von Berta und Penas 8) H.E. Berkemann: Sobernheims jüdi- noch in Monzingen und unterschrieb als scher Friedhof auf dem Domberg. In: Lan- Trauzeuge.19) Auf der Liste der Gewerbe- deskundliche Vierteljahrsblätter, Jg. 36, treibenden des Kreises Kreuznach von 1908 1990, Heft 1, S. 11 und mündliche wird er unter Monzingen noch als Händler Mitteilungen Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen geführt, 1910 steht dann nur noch seine Ehe- 9) Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein frau auf der Liste. Es ist kein weiterer Hin- der Juden unter der nationalsozialistischen für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach weis mehr auf ihn zu finden. Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Ferdinand Ullmann, der Sohn von Lud- 1945, ergänzt durch Informationen von H.- Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). wig und Barbara, geborene Rothschild, hat- te sein Elternhaus mitsamt der Handlung in der heutigen Bachstraße übernommen, während der jüngere Bruder Leopold Mon- zingen verlassen hatte. 1907 verstarb Fer- dinand im Alter von 36 Jahren und hinter- ließ seine Witwe Caroline genannt Henri- ette (Jettchen Ullmann), offenbar kinderlos. Bertha, die ledige Schwester Adolfs, wohnte bis zu ihrem Tod „am Bergelchen“, einer Verbindung zwischen der heutigen Franziskastraße und dem Obertor. Dort ver- starb sie am 23. März 1923. Ihre Beerdigung war die letzte auf dem jüdischen Friedhof in Monzingen. So hatten im Jahr 1924 alle jüdischen Be- wohner bis auf Jettchen Ullmann den Ort Monzingen verlassen. Es gab keine jüdische Gemeinde mehr. Sie existierte nur noch auf dem Liegenschaftsblatt des Katasteramtes als Besitzerin der Parzelle 245 in der Flur XIV, dem Judenfriedhof. Als dieser im Juni 1938 verkauft wurde, wurde sie mit dem Be- griff „unbekannter Eigentümer“ bezeichnet und ein Pfleger bestellt. Das Liegenschafts- blatt wurde im Jahr 1939 abgeschlossen.

Anmerkungen 1) Kirner Zeitung Nr. 22 von Dienstag, dem 21. Februar 1899 (Stadtarchiv Kirn) 2) Mündliche Erzählungen von Philipps Tochter H. Gerlach , E. Alt u.a. 3) Mündliche Erzählungen von I. Kohl- mann, Elfriedes Tochter 4) Beschlussbuch des Gemeinderats Monzingen, 1923 – 1955, S. 28, 19.03.1924, Punkt 5 5) Mündliche Erzählungen von E. Treßel, H. Gerlach, E. Hahn, I. Hein, M. Sobinger, Ph. Saam, H. Kempenich und T. Martin 6) Vgl. Anmerkung 5 7) Mündliche Mitteilung von H.E. Berke- Todesanzeige des im März 1902 verstorbenen Händlers Moses Ullmann aus Monzingen. mann Bildvorlage: Gudrun Serke, Monzingen Nummer 10/2013

Beilage

Bad Kreuznach

Die jüdische Gemeinde Monzingen Religiöse Einrichtungen

VON GUDRUN SERKE, MONZINGEN

Der jüdische Friedhof Außerhalb der alten Stadt, im Südwesten, direkt hinter der Stadtmauer, lag der Mon- zinger Judenfriedhof. Wann er angelegt wurde, ist nicht mehr feststellbar, vermut- lich spätestens zwischen 1800 und 1810. Im ältesten Katasterplan der Gemeinde von 1830 ist er bereits eingezeichnet: Flur 14 Parzelle 245, Eigentum der jüdischen Ge- meinde, Fläche: 36 R 80 F (das entspricht 521,94 m²).1) In den Revisionsberichten der Begräbnisplätze2), die gemäß der Verfü- gung des Regierungspräsidenten vom 04. Juni 1903 zu erstellen waren, wurde bestä- tigt, dass der Friedhof in einem ordnungs- gemäßen Zustand war, „eingefriedet mit ei- Ansichtskarte von Monzingen (um 1910), vorne links der Judenfriedhof. Privatsammlung Gudrun Serke, Monzingen nem Lattenzaun, einer gepflegten Weiß- dornhecke und versehen mit einem gut ver- schließbaren Tor“. Die Begräbnislisten wur- den vom Bürgermeister geführt, sind aber polizeiliche Verfügung vorlag, ist auch frag- taster von Monzingen erfolgte 1939.7) Die zurzeit nicht mehr auffindbar. Am 27. Juli lich, denn am 6. Mai 1938 forderte der Land- Grabsteine wurden im Herbst 1938 von Ar- 1910 bestand die jüdische Gemeinde noch rat des Kreises Bad Kreuznach von den Bür- beitern der Firma Marum auf den Sobern- aus 9 Mitgliedern. David Mayer gehörte als germeistern der Städte und den Amtsbür- heimer Judenfriedhof transportiert, wo sie ihr Vertreter zur Sanitätskommission und germeistern des Kreises bis zum 15. des Mo- in den fünfziger Jahren wiederentdeckt unterschrieb den Revisionsbericht. Am nats einen Bericht über die jüdischen Fried- wurden.8) 31.10.1922 hatte die Gemeinde nur noch 4 höfe an, der Regierungspräsident in Kob- Nach dem Zweiten Weltkrieg beließ die Mitglieder, in der Kommission war kein Ju- lenz griff die Sache auf und wies am 23. Ju- klagende Jüdische Kultusgemeinde Bad de mehr vertreten. ni 1938 auf die Möglichkeit der Schließung Kreuznach das Grundstück im Besitz des Er- Ab 1924 war Jettchen Ullmann3) die ein- jüdischer Friedhöfe hin: „Die nicht mehr be- werbers, dieser verpflichtete sich, 300 DM, zige Person jüdischen Glaubens in Mon- nutzten jüdischen Friedhöfe können durch die Gerichtskosten und den Nutzungsge- zingen. Und sie verließ den Ort 1938 im Al- mich geschlossen werden. Ich bitte die Ei- winn zu zahlen.9) Das Gelände wurde 1941 ter von 82 Jahren. Zwar hatte sie sich schon gentümer einen entsprechenden Antrag zu in vier kleinere Parzellen unterteilt (warum einen Platz auf dem Friedhof neben ihrem stellen. Das Friedhofsgelände kann vor Ab- auch immer?), im gesamten verblieb es je- verstorbenen Mann reservieren lassen, doch lauf von 40 Jahren nur mit meiner Geneh- doch im Besitz des Erwerbers Otto L. und ge- wurde der Friedhof verkauft und abge- migung anderweitig verwendet werden. Ich hört heute dessen Erbe. In den fünfziger räumt. Wie stark der Druck durch die Be- bin bereit, die Genehmigung sofort zu er- Jahren wurde es als Holzlager- und Säge- hörden dabei eine Rolle gespielt hat, lässt teilen, wenn in den letzten 15 Jahren keine platz genutzt. Heute stehen an der Stelle sich nicht mehr eindeutig klären. Der ein- Beerdigung mehr stattgefunden hat.“5) Of- ein abrissreif gewordener Schuppen und zige Hinweis zu diesem Thema im Be- fenbar hat man in Monzingen diese „Lega- vier Garagen. schlussbuch des Gemeinderats von Mon- lisierung von oben“ abgewartet. Bei der Frage, ob 1938 noch Umbettun- zingen ist am 17. März 1938 zu finden: „ An- Die letzte Beerdigung (Bertha Ullmann, gen stattgefunden haben, differieren die kauf des jüdischen Friedhofes – der durch gestorben am 20 März 1923) lag genau 15 heutigen Aussagen. Laut Informationen Verfügung des Herrn Regierungspräsiden- Jahre zurück, und bereits sechs Tage nach durch den Sohn des Erwerbers sollen wel- ten polizeilich geschlossene Friedhof der dem schriftlichen Hinweis des Regierungs- che stattgefunden haben.10) Der gleiche Synagogengemeinde, Flur 14 Parzelle präsidenten wurde der Friedhof verkauft, Funktionär aber, der Henriette Ullmann an- Nummer 245, wird zum (Hälfte) Preise von allerdings nicht an die Gemeinde Monzin- geblich mit dem Bau eines HJ-Erholungs- (500) RM käuflich erworben. Zur Verschö- gen. Deren Angebotspreis war offenbar heimes gedroht und ihre Zustimmung zum nerung des Ortsbildes soll der ehemalige überboten worden. Wie Edgar Mais ermit- Verkauf des Friedhofs „erzwungen“ haben Friedhof in eine öffentliche Parkanlage um- telte, handelte der Sobernheimer Fabrikant soll, soll noch in den fünfziger Jahren bei gewandelt werden.“ (Das Wort „Hälfte“ Alfred Marum als Pfleger der unbekannten Diskussionen in einer Gaststätte geprahlt und die Zahl „500“ wurden nachträglich Eigentümer und verkaufte am 29. Juni 1938 haben: „Nicht einen einzigen Knochen von Bürgermeister Thöne beim Unter- den Begräbnisplatz zum Preis von 600 RM durften sie mitnehmen.“ Die noch lebenden schreiben des Protokolls eingefügt.)4) an einen Monzinger Privatmann. Was mit Zeitzeugen können sich auch an keine der- Zu diesem Ankauf ist es aber nicht ge- dem Kaufpreis geschah, ist nicht bekannt.6) artige Aktion erinnern, die sicherlich nicht kommen. Ob wirklich bereits im März eine Die Änderung der Besitzverhältnisse im Ka- unbemerkt von den Dorfbewohnern hätte 2 (Seite 38 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 10/2013

dere behaupten, an der Stelle hätte eine Schule für jüdische Kinder gestanden, doch gab es im Ort keine Synagoge oder jüdische Schule als eigenständiges Gebäude, son- dern offenbar einen Betsaal in einem jüdi- schen Privathaus. In diesem Raum wurden auch die jüdischen Kinder in Religion un- terwiesen beziehungsweise hatten sie meh- rere Jahre den gesamten Schulunterricht unter einem jüdischen Lehrer. Wo ein solcher Raum vor 1833 war, lässt sich nicht mehr feststellen. Es muss aber schon vor den Eintragun- gen im Urkataster eine „jüdische Schule“ gegeben haben, denn im Landeshauptar- Monzinger Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Bad Sobernheim. Foto: Gudrun Serke, Monzingen chiv in Koblenz befindet sich eine Akte über den Schulbesuch israelischer Kinder der Bürgermeisterei Monzingen, worin auch eine Meldung des Vorstehers der jüdischen durchgeführt werden können.11) In der Kür- bis 1858, ab 1826 in Monzingen), Jacob Ma- Gemeinde enthalten ist. Erste Hinweise auf ze der Zeit zwischen Schließung und Ver- yer (1832 bis 1896), Moses Ullmann (1833 einen jüdischen Lehrer in Monzingen gibt kauf und so viele Jahre nach der Bestattung bis 1902), David Mayer II (geb.1861) und ein Passierschein von 1811.15) Am 22. No- der Toten war eine Umbettung auch wohl Ferdinand Ullmann (1871 bis 1907) auch die vember 1823 meldete Anschel Fried, der da- kaum möglich, ganz davon abgesehen, dass Bezeichnung „Fleischer“, „Schlachter“, malige Vorsitzende der jüdischen Gemein- dies für die Juden einen großen Frevel be- „Metzger“ oder „Schächter“ zu finden. Ein de, Namen, Alter und Schulbesuch von acht deutet hätte und ich mir die angebliche Zu- Friedhof war ebenfalls vorhanden. Gab es schulpflichtigen jüdischen Kindern aus stimmung der Witwe Ullmann nicht vor- nun auch eine Synagoge? Monzingen und vermerkte, dass fünf davon stellen kann. Mit Sicherheit sind nicht alle Eine Synagoge im ursprünglichen Sinne „die jüdische Schule und drei die hiesige auf dem Friedhof Bestatteten umgebettet war ja nicht nur ein Bethaus und Gottes- christliche Schule“ besuchten.16) worden, denn mindestens zweimal stieß haus wie es bei den christlichen Kirchen der 1826 werden dann 11 jüdische Kinder als man bei Bauarbeiten in der Nähe des Ge- Fall war, sondern man traf sich dort zum Ler- schulpflichtig gemeldet, wobei alle durch ländes auf Knochenfunde, einmal 1992 und nen, studierte die Thora und den Talmud, christliche Lehrer unterrichtet werden. Auch erneut beim Ausbau der Franziskastraße diskutierte die Angelegenheiten der Ge- die im Dezember 1827 gemeldeten 12 jüdi- 2002, was auf Bitte des damaligen Bürger- meinde, feierte religiöse Feste und führte schen Monzinger Schüler erhielten ihren meisters geheim gehalten werden sollte, ob- Beschneidungen durch. Zum Ausheben der Unterricht bei christlichen Lehrern. Eine wohl der Fund bereits in Windeseile im Dorf Thora benötigte man die Mindestzahl von weitere Statistik von 1827 bis 1841 zeigt, bekannt geworden war. Man wollte aber zehn religionsmündigen Männern. War die- dass in dieser Zeit alle jüdischen Kinder aus den Straßenbau nicht verzögern, und so se Zahl erreicht, konnte man auch jederzeit dem Amt Monzingen, das die Orte Mon- wurden die Knochen kurzerhand wieder in einer Privatwohnung den Gottesdienst zingen, , Simmern u. Dh. und Wei- mit Erde zugeschüttet und der Ausbau der abhalten. In den Dörfern im Naheraum wie ler umfasste, die jeweiligen örtlichen christ- Straße fortgesetzt.12) auch im Hunsrück wurde die Synagoge üb- lichen Schulen besuchten und dass der Re- Die 20 Grabsteine in Bad Sobernheim, licherweise „Juddeschul“ genannt, völlig ligionsunterricht von den Eltern erteilt wur- die eindeutig dem Monzinger Friedhof zu- gleich, ob es sich um ein gesondertes Ge- de. Einzige Ausnahme: Im Jahr 1838 erteilte zuordnen sind, stammen aus den Jahren bäude oder einen Raum in einem Privat- in Monzingen ein concessionierter jüdischer 1853 bis 1923. Da alle jüdischen Bewohner, haus handelte.14) In einer Statistik über den Lehrer den Religionsunterricht. Wo dieser die zwischen 1800 und 1923 in Monzingen Schulbesuch jüdischer Kinder 1847 wird der erteilt wurde, ist nicht vermerkt. Es ist aber verstorben sind, auf dem Friedhof beerdigt Religionslehrer als „Vorsteher der Synago- anzunehmen, dass dieser Unterricht nicht worden sein dürften, müssten es eigentlich ge“ bezeichnet. Auch sprechen noch heute im Klassenraum der evangelischen Volks- viel mehr Steine gewesen sein als diese 20. die unmittelbaren Nachbarn der ehemali- schule, sondern im jüdischen Betsaal statt- Ob die restlichen Steine bereits in Monzin- gen „Juddeschul“ von Monzingen von ei- fand. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war gen oder erst in Sobernheim zweckent- ner Synagoge, die da gewesen sein soll, an- nach 1833 ein solcher Raum im Haus mit fremdet wurden, ist nicht mehr festzustel- der damaligen Nummer 6. Das Gebäude len. Der älteste noch vorhandene Stein ist stand zwischen den beiden Häusern mit der der Grabstein von Eva Ullmann, geb. Roos. heutigen Adresse Franziskastraße 1 und Sie starb am 29. März 1853 im Alter von 60 Hauptstraße 56. (Parzelle 107, Größe 80 m²). Jahren. Die letzte Beerdigung auf dem jü- Diese Stelle heißt in Monzingen auch heute dischen Friedhof in Monzingen fand 1923 noch „die Juddeschul“. statt. Barbara (genannt Bertha) Ullmann, le- Im Urkataster von 1830 ist als Besitzer dig, starb am 20. März 1923. Ihr Tod wurde noch der christliche Bürger Anton Fuhr ein- von der christlichen Krankenschwester getragen, aber bereits 1833 war das Ge- Magdalena Dick auf dem Standesamt an- bäude dann in jüdischem Besitz. Es wurde gezeigt. Besonders erwähnenswert ist eine eingetragen auf „Michael Ullmann und Levitenkanne auf dem Grabstein von Salo- Consorten“ und später auf Michaels Sohn mon Fried (1808 bis 1889). Sie ist das Zei- Aaron überschrieben.17) Nach Aarons Weg- chen der Nachkommen des Stammes Levi zug erwarb der Monzinger Händler Bern- und ist trotz der zahlreichen Schändungen hard Scheuer das Gebäude (Übertrag im Ka- bereits 123 Jahre erhalten geblieben. taster: 1892). Scheuer war kein Jude, son- dern katholisch und mit einer evangeli- Synagoge – Judenschule – Betsaal schen Frau aus Monzingen verheiratet. Zu den wichtigsten religiösen Einrich- Nach dessen Tod veräußerten die Erben das tungen einer jüdischen Gemeinde gehören Gebäude bereits 1901 an den Monzinger eine Synagoge, ein Friedhof, eine Mikwe Anstreicher Wilhelm Küstner, der es zu- (das rituelle Tauchbad) und eine Schäch- sammen mit dem Nachbarhaus in der Fran- terei (koschere Metzgerei). Alle vier Ein- ziskastraße erwarb. Küstner ließ das Ge- richtungen waren im 19. Jahrhundert auch bäude verwahrlosen, und nachdem er etwa in Monzingen vorhanden. Mindestens eine 1918 bis 1920 tragende Balken durchgesägt Schächterei war im Hause der Familie Ma- und als Brennmaterial verwendet hatte, fiel yer (spätere Metzgereien Dickenschied und es zusammen und wurde zur Ruine.18) Die Kaufmann, heute Hauptstr. 65)13). Zusätzlich Grabstein von Barbara (genannt Bertha) Ullmann, restlichen Steine der Ruine wurden erst zu den Berufsbezeichnungen Handelsmann der letzten in Monzingen gestorbenen jüdischen nach 1960 beseitigt. oder Krämer ist jeweils bei Emanuel Ull- Einwohnerin (Grabstein Nr. 81 in Bad Sobernheim). Die sogenannte Judenschule war also nie mann (1805 bis 1862), David Mayer I (1800 Foto: Gudrun Serke, Monzingen im Besitz der jüdischen Gemeinde – diese Bad Kreuznacher Heimatblätter - 10/2013 (Seite 39 des Jahrgangs) 3

ßig Ihre Obliegenheiten erfüllen und durch Führung eines sittlich guten Lebenswandels sich das Vertrauen der dortigen Gemeinde würdig erhalten.“ Weiter wurde der Vor- schlag gemacht, die Schule als Privatschule laufen zu lassen, und da das Schulgeld der Eltern nicht ausreiche, die örtliche Ge- meinde zu den restlichen Kosten heranzu- ziehen. Offenbar hat diese sich gewehrt, denn am 15. Januar 1843 schrieb die Kö- nigliche Regierung: „Die Gemeinde ist ver- pflichtet, die Kosten der Elementarschule zu decken, die Kultuskosten für die Juden sind dagegen den Gemeinden nicht unterlegt.“ Am 28. Juni 1843 meldete dann Landrat Hout nach Koblenz: „daß die jüdische Schu- le in Monzingen in geeignetem Zustand sich befindet, hinreichend geräumig und hat die nöthigen Lehrmittel jedoch fehlen noch Subsellien [Sitzmöbel für die Schüler], die aber bald beschafft werden sollen. Die Wohnung des Lehrers ist gut und derselbe bereit, so wie mit der Erfüllung der übrigen vertragsmäßig ihm zustehenden Leistung zufrieden. Die jüngste in dieser Schule durch den Herrn Schulinspector abgehal- tende Prüfung soll befriedigend ausgefallen sein.“ In einem Brief vom 3. November 1843 an den Schulvorstand der jüdischen Ge- meinde bestätigte dann der regionale Schulinspektor Oertel aus Sobernheim dem Vermutliche Lage der um 1830 existierenden Monzinger „Juddeschul“. Lehrer Isaak Fränkel eine gute Arbeit und Quelle: Landeshauptarchiv Koblenz, Außenstelle Kobern-Gondorf einen vertrauenswürdigen Eindruck. Obwohl die jüdische Schule bereits ein ganzes Jahr eingerichtet war, gab es hin- sichtlich der offiziellen Genehmigung durch besaß lediglich den Friedhof – und wurde nicht eingehalten, was bei der Entfernung die „Königliche Regierung in Coblenz“ im auf den Liegenschaftsblättern weder als Sy- der Dörfer und dem weiten Schulweg nur Herbst 1843 aber offenbar immer noch Irri- nagoge noch als Schule geführt, sondern allzu verständlich war. tationen. Denn am 31. Oktober 1843 wurde mit dem Begriff „Hofraum“ bezeichnet, der In einem Brief vom 25. August 1842 bat diese von der preußischen Regierung in Ber- in dieser Zeit für „Wohnhaus mit Hof“ ver- Amtsbürgermeister von Cocy um Entschei- lin aufgefordert, „die Erwilligung einer jü- wendet wurde. So ist anzunehmen, dass in dung durch die Schulbehörde der Königli- dischen Elementarschule in Monzingen be- diesem Haus von 1833 bis 1892 ein Raum chen Regierung in Koblenz. Am 28. Sep- treffend binnen 4 Wochen zu genügen oder als Betsaal genutzt wurde, während die rest- tember 1842 antwortete diese, man müsse in gleicher Frist die Hinderungsgründe an- lichen Räume als Wohnung dienten, ver- „Abstand tragen, die Juden von Weiler und zuzeigen“. mutlich erst für Michael Ullmann (Jonas Mi- Seesbach zu zwingen, an der in Monzingen Wie die Statistiken zeigen, war das Ende chel) und dann für Aaron und Familie, even- zu errichtenden jüdischen Schule theilzu- dieser eigenständigen jüdischen Schule tuell auch noch für den Vorbeter. Auch der nehmen“. Am 21. Oktober 1842 wurde ein schon 1847 gekommen. Die Judenkinder zeitweilige Schulraum, der mit einer Größe Vertrag zwischen Marcus Baer, dem Vor- besuchten wieder die christliche Schule, er- von 24,15 m² angegeben wird, kann in die- steher der jüdischen Gemeinde Monzingen, hielten aber Religionsunterricht vom „con- sem Haus gewesen sein. den Schulvorstehern Emanuel Ullmann und cessionierten Vorsteher der Synagoge“. In der nordöstlichen Ecke des Geländes Ferdinand Ullmann und dem Vorbeter Isaac Im Jahre 1859 begann ein erneuter Brief- befand sich auch eine Mikwe, deren Zu- Fränkel wegen dessen Einstellung als Ele- wechsel. Diesmal schaltete sich der örtliche gang noch bis etwa 1965 zu sehen war.19) mentar- und Religionslehrer und als Vor- Schulinspektor ein. Da die jüdischen Schu- Leider wurde die Stelle von den Bewohnern beter unterschrieben. Fränkel verpflichtete len mit Lehrern und Kindern der Aufsicht ei- des angrenzenden Hauses nach dieser Zeit sich, alle israelischen Kinder zu Monzingen nes christlichen Schulinspektors unterstan- zugeschüttet und ist zurzeit immer noch un- vom fünften Lebensjahr an in israelischer zugänglich. Noch vorhanden ist eine Trep- Religion, biblischer Geschichte, hebräischer pe, über die das Gelände zu erreichen war. Sprache, deutscher Schrift, deutschem Le- Das Auf-und-Ab einer eigenständigen jü- sen, deutschem und hebräischem Schreiben dischen Schule in Monzingen lässt sich aus sowie im Kopf- und Tafelrechnen gründlich den einschlägigen Akten im Landeshaupt- zu unterrichten. Der Vertrag enthielt wei- archiv Koblenz in etwa rekonstruieren.20) So tere Regelungen über Lehrmittel, Gehalt gab es Im Jahr 1842 einen regen Brief- (jährlich 25 Taler als Lehrer und 25 Taler als wechsel zwischen der jüdischen Gemeinde Vorbeter), Zahlungsmodus, Unterkunft, Monzingen, dem Landrat in Kreuznach, der Heizung, Beköstigung etc. Königlichen Regierung in Koblenz und in Am 24.11.1842 genehmigte die „Königli- Berlin, da die jüdischen Gemeindeglieder che Regierung, Abteilung des Innern zu Co- wieder eine eigene Schule begehrten. Es blenz“ die jüdische Schule in Monzingen, gab Verhandlungen mit dem Amtsbürger- wobei man erwartete, „daß der Kreis wegen meister Friedrich von Cocy, an denen auch Beschaffung der notwendigen und zweck- die Vertreter der Seesbacher und Weilerer mäßigen Lokale mit dem Schul-Inspector in Juden teilnahmen, weil man deren Kinder Communication treten werde und sehen un- zum Besuch der gewünschten jüdischen ter dieser Voraussetzung Ihrem Berichte Schule in Monzingen gewinnen wollte. über den weiteren Verlauf dieser Angele- Man einigte sich darauf, dass die jüngeren genheit binnen 6 Monaten entgegen.“ Kinder aus Weiler und Seesbach zunächst Gleichzeitig schrieb diese Abteilung an den die örtlichen christlichen Schulen besuchen Schulinspektor Oertel zu Sobernheim und könnten, während die Kinder ab 10 Jahren an den israelischen Lehrer und Vorbeter dann in die jüdische Schule nach Monzin- Isaac Fränkel und teilte diesen mit, dass die gen kommen sollten. Wie die spätere Sta- Genehmigung auf ein Jahr erteilt wird „un- Verschütteter Eingang zur Mikwe der jüdischen tistik zeigt, wurde diese Absprache aber ter der Voraussetzung, daß Sie treu und flei- Gemeinde Monzingen. Foto: Gudrun Serke, Monzingen 4 (Seite 40 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 10/2013

emplar der Gesamtdokumentation befindet sich in der Heimatwissenschaftlichen Zent- ralbibliothek des Landkreises Bad Kreuz- nach (Hospitalgasse 6, 55543 Bad Kreuz- nach).

Anmerkungen 1) Landeshauptarchiv Koblenz (LHAK) Außenstelle Kobern-Gondorf, Monzinger Liegenschaftsbuch von 1830, Band 1 2) LHAK, Best. Nr. 441, Nr. 24748, Fried- höfe im Amt Monzingen 3) Zu Jettchen Ullmann vgl. ausführlich die Nr. 9 der Bad Kreuznacher Heimatblät- Stundenplan für die jüdische Elementarschule zu Monzingen (1860). Quelle: Landeshautarchiv Koblenz ter 2013. 4) Beschlussbuch des Gemeinderats Monzingen von 1923 – 1955, Seite 286, Nr. 3 vom 17.03.1938 den, war dies der evangelische Pfarrer von ter anderem begründeten sie ihre Bitte da- 5) Die Verfolgung der Juden in den Land- Monzingen. Er schrieb am 9. Februar 1859 mit, dass sie ja auch zu allen Abgaben an kreisen Bad Kreuznach und , an die Abteilung des Innern der „ Königli- die Gemeinde ihren Beitrag leisten würden. 1933 – 1945, Seite 94-96 chen Regierung in Coblenz“: „Die jüdische Der Antrag wurde jedoch abgelehnt. 6) Edgar Mais, Wiedergutmachung? Ge- Gemeinde in Monzingen wünschen für ihre Wie lange diese dritte Epoche einer jüdi- walt und Terror des NS-Staates begangen gegenwärtig 10 zahlenden schulpflichtigen schen Schule in Monzingen dauerte, ist an den ehemaligen jüdischen Bürgern der Kinder, welche die evangelische Schule des nicht dokumentiert. Vermutlich spätestens Landkreise Bad Kreuznach und Birkenfeld Ortes besucht haben, eine eigene Schule zu 1874 gab es keine eigenständige jüdische im Spiegel der Akten des Landgerichts Bad errichten. Ich bin diesem Vorhaben nicht Schule mehr. Aktenkundig belegt ist, dass Kreuznach, Birkenfeld 1992, Seite 49 entgegen, da ohnehin unsere Schule schon im Jahr 1877 schulpflichtige jüdische Kin- 7) LHAK Außenstelle Kobern-Gondorf, überfüllt ist, und hat sich das jüdische Schul- der wieder die christliche Schule besuchten Monzinger Liegenschaftsbücher von 1867 -Landesamt Salomon Tiefenbronner und an allen Fächern außer dem Religions- 1970 aus Königsbach im Großherzogtum Baden unterricht teilnahmen.21) Ab dem 1.Dezem- 8) Landeskundliche Vierteljahresblätter, zur Anbezugnahme dieser Schule bereit er- ber 1874 waren aus den bisher zwei Klassen Jg. 36, 1990, Heft 1, Seite 10 und 11, Anm. klärt. Müller, Pfarrer und Schulvorstand“. der evangelischen Volksschule drei Klassen 18 [Hermann Georg Müller war von 1851 bis gebildet worden (mit Schichtunterricht, zwei 9) Vgl. Anmerkung 6. 1871 evangelischer Pfarrer in Monzingen, Räume, zwei Lehrer, drei Klassen), da die 10) Vgl. Anmerkung 8. danach Superintendent von 1871 bis 1878.] beiden Schulsäle die angewachsene Schü- 11) Mündliche Berichte von G. Lauer, E. Pfarrer Müller schickte auch Tiefen- lerzahl nicht mehr fassen konnten.22) Durch Alt, Ph. Saam u.a. bronners Lebenslauf mit. Dieser war am 13. die Aufteilung war nun etwas mehr Raum 12) Eigene Erinnerung, damalige Be- Dezember 1834 in Königsbach geboren, pro Schulkind und die wenigen jüdischen richte mehrerer Schulkinder, nochmalige Sohn von Jonas Tiefenbronner und Jutta, Schüler konnten somit auch wieder aufge- Bestätigung 2012 durch den Besitzer des geborene Ries. Er war von dem Monzinger nommen werden. Geländes und einen Anlieger Leimfabrikanten Nathan Stern eingeladen Außer Albert Mayer sind alle jüdischen 13) Mündlicher Bericht von A. Gehl (Er- worden. Stern hatte seine beiden ältesten Kinder, die nach 1871 geboren sind, auf den zählungen ihrer Mutter E. Dick) Söhne offenbar bisher in die jüdische Schu- Entlassungslisten zu finden, die ab 1874 ge- 14) Christof Pies (Hrsg.), Jüdisches Leben le in Sobernheim geschickt und drängte auf führt wurden. Vermutlich hat Albert ab dem im Rhein-Hunsrück-Kreis, 2003, V. Die Sy- eine jüdische Schule in Monzingen, da nun fünften Schuljahr eine höhere Schule be- nagogen, Seite 89 seine jüngeren Kinder schulpflichtig ge- sucht, während seine Zwillingsschwester 15) Am 11. Februar 1811 war vom dama- worden waren. Da Lehrer aus andern Ge- Clara in der Volksschule blieb. Auch Ferdi- ligen Monzinger Bürgermeister Wilhelm bieten nicht als preußische Untertanen an- nand Ullmann (geboren 1871) besuchte Karsch ein Passierschein für den „israeli- erkannt wurden, konnten diese nicht ohne zwei Jahre lang die Realschule in Sobern- schen Lehrer“ Israël Lion Würtzbourger weiteres angestellt werden. Tiefenbronner heim23), kam dann aber wieder in die örtli- ausgestellt worden. Vgl. dazu die Nr. 6 der galt als Ausländer und so bedurfte es nicht che Volksschule zurück und machte dort Bad Kreuznacher Heimatblätter 2013, S. 2f. nur einer Genehmigung zur Errichtung der seinen Abschluss. Wenn es die finanzielle 16) LHAK, Bestand 655,203 Nr. 454, Jü- Schule, sondern auch zur Einstellung dieses Lage erlaubte, war es in den Städten zu die- dische Schule – Übersichten über schul- Lehrers. ser Zeit auch bei den Juden schon längst üb- pflichtige Kinder 1823-1861 Wie 1842 zog sich diese Genehmigung lich, den Söhnen eine bessere Ausbildung 17) LHAK Außenstelle Kobern-Gondorf, wieder monatelang hin. Der evangelische zu ermöglichen, da diese für die kaufmän- Monzinger Liegenschaftsbücher von 1867 Pfarrer Müller fragte am 16. Januar 1860 nischen Berufe von Vorteil war. In Monzin- 1970 noch einmal beim Landrat an und erklärte, gen war dies vor 1918 aber auch bei den 18) Mündliche Berichte von M. Alt und dass Tiefenbronner inzwischen von ihm be- Christen noch die Ausnahme, so sind nur Ph. Saam, frühere Erzählungen von H. Alt traut worden sei, was sofort eine Erleichte- die Söhne des Pfarrers, des Nahemüllers und ehemaligen Nachbarn des Gebäudes rung für die evangelische Schule gewesen und des Försters sowie ein Kaufmannssohn 19) Eigene Erinnerung, mündliche Be- sei. Tiefenbronner habe die Kinder im Laufe auf den Listen der Realschule in Sobern- richte von W. Meinert, H. Wissemann, M. des vergangenen Jahres unterrichtet und heim zu finden. Alle andern Jungen und Alt, E. Weyrauch, Ph. Saam sei auch bereits überprüft. Aber bisher sei auch die Mädchen besuchten acht Jahre 20) LHAK, Bestand 441, Sachakte 9808 immer noch kein Bescheid da. Am 20. Ja- lang die örtliche Volksschule. 21) Entlassungszeugnisse der Evangeli- nuar 1860 schrieb der Landrat dann noch Namentlich erwähnte Judenlehrer, schen Volksschule zu Monzingen, 1874 ff einmal nach Berlin und befürwortete eine wohnhaft in Monzingen, waren Lion Würtz- und Schulstammrolle, Band 255 jüdische Schule in Monzingen. Der Stun- bourger, Nathan Mayer, Herz Levi, David 22) Schulchronik der Ev. Volksschule denplan, der ebenfalls mit eingereicht wur- Kahn, Isaac Fränkel und Salomon Tiefen- Monzingen, Band 1 de, zeigt, dass die jüdischen Schulkinder bronner. 23) Schülerverzeichnis der höheren Schu- ein umfangreicheres Pensum zu erledigen le Sobernheim im Archiv des Emanuel-Fel- hatten als die christlichen Schüler der da- Hinweis: ke- Gymnasiums Bad Sobernheim maligen Zeit. Die offizielle Genehmigung Die in den Nummern 6, 9 und 10 der Bad erfolgte dann am 01. Februar 1860. Kreuznacher Heimatblätter veröffentlichten Am 3. August 1860 schrieben die Ge- Beiträge sind – leicht bearbeitet – einer von meindemitglieder Nathan Stern, Aron Ull- Gudrun Serke verfassten 42-seitigen Do- mann, Salomon Fried, Jacob Meyer, Marx kumentation über die jüdische Gemeinde Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen Ullmann und David Ullmann einen Brief an Monzingen entnommen. Darin sind auch monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein Bürgermeister Beck wegen Mietsentschä- die Wohnhäuser der jüdischen Einwohner für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach digung für das Heizen des Schulsaals und Monzingens behandelt und Stammbäume e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, baten um Holz aus dem Gemeindewald. Un- zu den jüdischen Familien erstellt. Ein Ex- Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 11/2013 BadKreuznacher Beilage Bad Kreuznach Heimatblätter

Kinderweihnacht im Naheland Erinnerungen aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts

VON DR. PETER FUCHSS, BAD KREUZNACH

Dezember ist ins Land gezogen, Anfang der fünfziger Jahre des vergangenen Jahr- hunderts. Es ist früh kalt geworden. Mutter kleidet mich an. Ich bin ein Kindergarten- junge und werde in einem Jahr die Volks- schule besuchen, wie das damals hieß. Heu- te fahren wir nach Odernheim zur Groß- mutter Senna in die Mühle.

Mit dem Dampfross in die Nordpfalz

Dieses Prozedere behagt mir überhaupt nicht, obwohl es hier im warmen Bad so viel angenehmer ist als im kalten Flur. Für die Reise muss ich warm angezogen sein, das heißt, dass ich das dumme Leibchen tragen muss, an das lange wollene Strümpfe ge- knöpft werden. Diese Knöpfe drücken und Solche „Dampfrösser“ fuhren in den 1950er Jahren auch auf der Glantalstrecke. die Wolle kratzt. Dazu kommen noch die di- Fundstelle: Ulrich Hauth, Von der Nahe in die Ferne, Bad Kreuznach 2011, S. 146 cke Jacke mit den Querschnüren und die dunkelgrüne Pudelmütze, die Mutter mir über die Ohren gezogen hat. Das macht mich unbeweglich, zumal ich die schweren Weg ,die damals zum gewohnten Stadtbild erster Linie aus strategischen Gründen für Winterstiefel anhabe. „Sei froh, dass du so zählen, genauso wie die Männer mit den die Feldzüge gegen den französischen Erz- was hast. Viele Kinder frieren in diesen Ta- Krücken, denen ein Bein fehlt oder die mit feind von früher. Heute beleben von fröhli- gen“ meint sie, als ich zu quengeln anfange. diesem absonderlich leeren Ärmel herum- chen Menschen bewegte Draisinen die still- Von der Güterbahnhofstrasse an den Bad laufen, Folgen des Krieges, den ich Gott sei gelegte Strecke. Kreuznacher Bahnhof zu gelangen ist im Dank nicht erleben musste. Fauchend fuhr die Dampflok in den Tun- Jahr 1952 gar nicht so einfach, wenn man Über dem Bahnhof, der noch eine Menge nel kurz vor unserem Zielort Odernheim ein. keine großen Umwege machen will. Wir Schrammen vom Bombardement aufweist, Dort angekommen stiegen wir am Bahnhof überqueren den Bahnübergang am Eingang stehen die Rauchsäulen der wartenden Lo- gegenüber dem alten Gasthaus aus. Wir lie- zur Pfingstwiese, den es heute noch gibt, komotiven in der kalten Winterluft. Hier ßen das Kriegerdenkmal links liegen, auf und grüßen den Wärter, der dort in einem verzweigt sich die Bahn in Richtung der Al- dem neben so vielen anderen der Name von trostlosen Wellblechhäuschen seinen mo- senz- und der beiden Nahestrecken, nach Onkel Max Lellbach zu lesen war ,der als notonen Dienst tut. Dann geht es vorbei am Bingerbrück und ins Rheinhessische. Die junger Flieger im Ersten Weltkrieg gefallen Bäckerlädchen und der Autowerkstadt Züge nehmen die Ein- und Umsteiger auf. ist. Nun liefen wir die Straße entlang in Rich- Kemmer zur Nahe, wo die Landfuhrbrücke Alte „Donnerbüchsen“ sind an die Dampf- tung Glanbrücke, wo gleich drunten am ge- nur für den Eisenbahnverkehr wieder her- rösser angekoppelt, mit freier Plattform und stauten Fluss die alte Bannmühle lag. Dort gerichtet ist und Fußgängern keine Que- durchgehendem Gang im Gegensatz zu den wohnte Großmutter. Vorbei ging es am Weg, rungsmöglichkeit bietet. So besteigen wir dunkelgrünen Abteilwagen, wo man sich der zu Tante Bettchens Wohnung führte, der das Fährboot, das die Fischerfamilie Engel- auf langen Holzbänken vis-a-vis gegenüber klein gewachsenen Näherin, hinter deren mann dort betreibt und das vor allem, wenn saß. Sie hatten an beiden Seiten Türen zum runder Brille listige Augen hervorblickten, die Eintracht auf der Heidenmauer spielt, Ein- und Aussteigen, wo braune Bänder he- wenn sie sich einmal vom Tagwerk ab- stark in Anspruch genommen wird. Jetzt rabhingen, die zur Arretierung der Fenster wandte. Droben an der Hauptstraße lag das hält sich der Bedarf in Grenzen. Auf der an- dienten Haus von Tante Minna, der Mutter des prak- deren Seite laufen wir an den Lederwerken In solch ein Abteil stiegen wir ein. Es war tischen Arztes im Dorf, die mit uns verwandt &Emmerich vorbei, aus deren schwach besetzt. Jetzt am Samstag um 11 war. Sie war eine ehrwürdige Dame mit ih- Fenstern der strenge, ölig-muffige Geruch Uhr fuhren mehr Leute in die Kreisstadt als ren gepflegten Umgangsformen und großen strömt und wo man das Rattern der Trans- hinaus aufs Land. Rumpelnd und ratternd Freundlichkeit. Mutter besuchte sie häufig. missionsriemen vernimmt. Nun noch schnell mit Rauchfetzen vor den Fenstern durch- Aber das alles ließen wir beiseite und gingen das Gefängnis zurücklassen .Esist mir un- fuhren wir die Nahelandschaft auf der bay- nun schon auf dem alten Pflaster zwischen heimlich, weil ich mir einbilde, dass hinter erischen Seite. Gegenüber lagen die Gleise den Mauern am gepflegten Garten mit sei- den Gitterstäben der Fenster ein Schwer- der ehemals preußischen Konkurrenz. Am nen schmiedeeisernen Zäunen vorbei zur verbrecher drohend in meine Richtung Fuß des Disibodenberges verband eine Brü- Mühle. Onkel Ernst, Großmutters Schwager, schaut. Viele Häuserruinen liegen auf dem cke über die Nahe beide Systeme, gebaut in kam uns entgegen. Er stieg die breiten Stu- 2 (Seite 42 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter -11/2013

der Inbegriff der weihnachtlichen Kaffeeta- fel, nur in dieser Jahreszeit verfügbar, aber er hielt sich bis weit in den Januar hinein. „Marzipan im Stollen mögen wir in unserer Gegend nicht“ hörte ich einmal die Mutter sagen. „Das nimmt den feinen Geschmack der Mandeln im Gebäck und ist einfach zu dominant“. Es gab also sogar so etwas wie eine regionale Stollenphilosophie ,die unter den Erwachsenen diskutiert wurde. So resolut Großmutter Senna ihrer Haus- wirtschaft vorstand, so sehr zog sie uns Kin- der mit ihrer Wärme und Zuwendung in Bann. Sie war ein ganz wichtiger Eckpunkt in unserer Familie, auch wenn ihr die Le- bensumstände Sorgen machten. Nun war- Auch nach dem Zweiten Weltkrieg verkehrten noch die „Donnerbüchsen“, Personenwagen aus den 1920er tete trotz des schwierigen Stollenbackens, Jahren. Fundstelle: Ulrich Hauth, Von der Nahe in die Ferne, Bad Kreuznach 2011, S. 282 das viel Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, bereits die warme Kartoffelsuppe auf uns, in der passierten Form, die wir besonders mochten, und die mit frischen Fleischwurst- fen vom Büro herab und winkte uns schon kühlen Steinböden ausgelegt und mit Flie- stückchen angereichert wurde. Freundlich von Weitem freundlich zu. „Ah, die Kreuz- sen und filigranen Kacheln an den Wänden erkundigte sie sich nach dem und jenem und nacher kommen aufs Land“. Und schon hat- versehen ermöglichte sie gepflegte Koch- entließ mich dann in die Stube gegenüber te er einen Scherz auf den Lippen und kultur. In der Mitte befand sich ein großer der Küche auf der anderen Flurseite. Ich hat- sprach mich an. Er wusste, dass ich bald Ge- kohlebefeuerter Herd mit einem gewaltigen te mein Holzspielzeug dabei und beschäf- burtstag hatte und zwar drei Tage vor dem Abzug. Spülsteine und Arbeitsplatten, tigte mich später mit den bunten Kinderbü- Heiligen Abend. Ich könnte den doch mit Schränke und Regale vervollkommneten die chern, während die Erwachsenen am Tisch Weihnachten zusammenlegen, zwinkerte er Einrichtung. Es gab praktisch alles, was saßen und Dinge besprachen, die mich nicht mir zu. Damit aber war ich überhaupt nicht auch zum Bereiten aufwendiger Menüs ge- besonders interessierten. Dort wies ein Tan- einverstanden. braucht wurde. Man konnte sich durchaus nengesteck mit einer großen Kerze auf die vorstellen, dass hier einmal hundert Eier für Jahreszeit hin und warf ein freundliches ein Rezept aufgeschlagen wurden, wie das Licht, während die Dunkelheit hereinbrach. Die Großmutter in der Mühle in den alten Kochbüchern des 19.Jahrhun- In Großmutters vorweihnachtlicher Stube derts in manchen Fällen vorgesehen war. schmückten kleine Handarbeiten Tisch und Großmutter Senna war eine stattliche Die Küche war der größte Raum der ganzen Sideboard. Sie war eine Meisterin in hand- Frau mit breitrahmiger Figur und freundli- Wohnung, jedenfalls wirkte das so. Haus- werklichen Näharbeiten und legte zu jeder chem runde Gesicht. Den Menschen ge- haltshilfen aus dem Dorf waren damals An- Jahreszeit die passenden Motive auf. Wir genüber war sie zugewandt, häufig fröhlich fang der fünfziger Jahre keineswegs unge- übernachteten droben in einer Dachkammer aufgeschlossen, eine gebildete Frau mit be- wöhnlich und obwohl Großmutter alleine des Mühlenhauses in kantigen hölzernen sonderer Freude an der Musik .Sie stammte lebte, ging ihr an diesem Tag die Lene zur Betten mit gewaltigen Daunendecken, die von einem Westpfälzer Hof in der Zweibrü- Hand, die uns freundlich grüßte und schon schwer auf mir lasteten. Aber sie waren nö- cker Gegend und hatte vor dem Ersten Welt- an der Arbeit war. Es wurde Christstollen tig um zu wärmen, während die kalte De- krieg gar ein Mädchenpensionat in Lau- gebacken für Familie und Freunde. Die Zu- zembernacht Eisblumen auf dem einfachen sanne besucht. Der Vater hatte damals die taten waren aufgehäuft und warteten auf ih- Dachfenster zauberte. Hofflächen der Firma Lanz als Teststrecke re Verwertung: Zitronat und Orangeat in für deren Traktoren verkauft und mit dem kleinen Stücken, Mandelkerne, Rosinen, Erlös ein gut florierendes Fuhrunternehmen Korinthen und Butterstückchen standen be- Das Julhähnchen von Tante Lotte in Darmstadt begründet. Die Familie pflegte reit und der Teig wurde in großen irdenen einen großbürgerlichen Lebensstil und das Schüsseln gerührt. Später würde sich im Am Sonntag Morgen besuchten wir die sollte sich auch bei Großmutter nach ihrer ganzen Haus der Duft dieses weihnachtli- Tante Lotte Lellbach. Sie, die Unterneh- Heirat in Odernheim fortsetzen. Damals chen Backwerks verbreiten, das wir Kinder merwitwe, wohnte in dem stolzen Jugend- warfen Landwirtschaft und Mühlenbetrieb - aber gar nicht so mochten wegen des merk- stilhaus, markant am Hang über der Mühle in der Bannmühle musste früher das Getrei- würdigen Inhalts vor allem dieser fremdar- und dem Weinberg gelegen ,den mein Va- de der Gegend vermahlen werden -guten tigen Geschmackseindrücke der verfestig- ter nach dem Krieg dort angelegt hatte. Die- Ertrag ab und ernährten mehrere Familien ten Orangen- und Zitronenbeimischungen. se Villa war beredtes Zeugnis des nun ver- Lellbach. Jetzt in der Zeit des Mühlenster- Der Stollen war aber für die Erwachsenen flossenen Reichtums der Mühlenbesitzer bens und des Niedergangs in den fünfziger Jahren war Großmutter nicht auf Rosen ge- bettet und musste mit jedem Pfennig rech- nen. Sie hatte Wohnrecht im Mühlenhaus, später in der Lellbach`schen Villa oberhalb. Man wusste natürlich im Dorf, wie es um sie stand, und dennoch war sie sehr beliebt und anerkannt. Viele Frauen und Mädchen hatte sie ausgebildet und in früheren Zeiten be- schäftigt. Großmutter strahlte eine Atmo- sphäre der Offenheit und Zuwendung aus. Sie zelebrierte die Gastfreundschaft und lebte eine intensive Familienkultur, zu der sich diese Generation noch vorbehaltlos be- kannte. Großmutter bat uns in die Küche. Sie be- wohnte das Parterre des Mühlenhauses di- rekt vor den riesigen Backsteinhallen, in de- nen die Mahlwerke standen, deren rhyth- mischen Betrieb man überall hörte. In die- sem Haus war meine Mutter geboren. Es wohnten damals dort noch Vetter Hans Lell- bach und dessen Familie. Die Küche war der Traum aller, die Freude an gutem Essen und Trinken und dessen Entstehen haben. Mit Bannmühle Lellbach in Odernheim am . Foto: Privatsammlung Dr. Peter Fuchß, Bad Kreuznach Bad Kreuznacher Heimatblätter -11/2013 (Seite 43 des Jahrgangs) 3

trophäen und -gegenstände, die Gewehre alles fand nun langsam sein Ende. Zudem aber auch die ausgeblasenen Kiebitzeier, war das Schwein geschlachtet worden, die die es in ihrer faszinierenden Sammlung, die Fülle des Gartens verwertet ,der Speiseplan in einem eigenen Zimmer zusammengetra- für das Winterhalbjahr wies damit klare gen war, zu bestaunen gab. Konturen auf. Der Rhythmus des Jahres im Nein, heute war aber keine Zeit für die Gutshaus wandte sich nun dem besonderen von uns Kindern so geliebte Märchenstun- Ereignis zu, dem Weihnachtsfest. de. Sie fand üblicherweise im oft sonnen- Mutter fertigte den Adventskranz immer durchfluteten Erker über der Eingangstrep- selbst, so wie sie es in der Landfrauenschule pe statt, mit der Eckbank und dem einge- gelernt hatte. Er hatte einen großen Durch- passten Tisch. Tante Lotte besaß ein dickes, messer und bestach durch die Frische der großformatiges Märchenbuch und legte, grünen Tannen und das darum gewundene während sie mit ihrer warmen und gütigen breite rote Band sowie die mächtigen Ker- Stimme vorlas, mit einer fast zärtlich anmu- zen in der aufgesteckten Halterung. Der tenden Art die großen Seiten um. Es schien, Kranz wurde unter den großen schmiedeei- als liebkoste sie die Märchen. Ich habe sol- sernen Leuchter im Esszimmer gehängt, das che Handbewegungen später bei dem mir Mutter mit in die Ehe gebracht hatte: ein gut bekannten Maler Karl Graf in Speyer Bauernzimmer mit butzenscheibenen „Großmutter Senna“ (Susanne Lellbach, geborene wiedergefunden und bei meinem Vater, Schränken, bunt bemalten Stühlen und ei- Brengel) mit Enkel Peter im Odernheimer Mühlen- wenn er einen besonderen Weinstock ord- nem rustikalen Tisch. An den Adventsonn- garten (Ende der 1940er Jahre). nete. Heute also nicht und zu drängeln hätte tagen wurden die Kerzen angezündet, eine Foto: Privatsammlung Dr. Peter Fuchß, Bad Kreuznach ich auch nicht gewagt, dazu strahlte sie zu nach der anderen. Wir versammelten uns viel gute Autorität aus. Aber sie hatte etwas hier ,sprachen von Weihnachten und den für mich: einen kleinen Vogel aus gebrann- Wünschen, die jeder hatte, bastelten gele- tem Ton, gelbbraun, ein Julhähnchen, wo gentlich, lasen oder summten gemeinsam und Landwirte um die Jahrhundertwende. man hineinblasen und mit dem Finger auf ein zur Adventszeit passendes Lied. Später, Sie fuhren das erste Auto im Dorf und besa- einem Löchlein so etwas wie einen Flötenton wenn wir Kinder schon im Bett waren, ßen mit ihren Vettern ,den beiden Ärzten erzeugen konnte. Das schenkte sie mir und schrieb Mutter dort ihre Briefe an die Ver- Nagel ,die Jagdrechte im Bauwald ,die von dazu eine kleine irdene Kuchenform für die wandten und Freunde. Die Päckchen und der Gemeinde gepachtet waren. Längst aber Puppenküche zuhause und eine rote Kerze Pakete wurden vorbereitet, die in die Ferne hatte das Imperium zu bröckeln begonnen, mit einem kleinen Ständer. „Jul bedeutet gingen. Die Eltern sprachen leise miteinan- Teile der Familie waren nach Amerika aus- Weihnachten auf Schwedisch und Weih- der. Man plante die nächsten Wochen und gewandert, schon nach dem Ersten Welt- nachten ist nahe -dufreust dich doch schon legte den Ablauf der Feiertage fest. Diese krieg. Die in Odernheim Verbliebenen wa- darauf?“ Das stimmte und zufrieden ging ich Zeit war eine des Erwartens und der Vor- ren Anfang der fünfziger Jahre dabei zu ret- an der Hand der Mutter wieder die Treppe freude, fern von der Hektik und dem Kon- ten, was noch zu retten war. Leider gelang hinunter zum Mühlenhaus, wo Großmutter sumrausch späterer Jahre. Das Materielle es nicht rechtzeitig, die Energieerzeugung auf uns wartete und uns in ihre vertraute At- war noch nicht so vorrangig ,zumal das die der Mühle aus der Wasserkraft des gestau- mosphäre aufnahm nach dem so beeindru- finanziellen Mittel überhaupt nicht zuließen. ten Wehres von Gleichstrom auf Wechsel- ckenden Besuch bei der Tante Lotte. Vielmehr sprach aus der fast rituellen Be- strom umzustellen. So kam wenig später die handlung des Themas Weihnachten eine Mühle in andere Hände. große Dankbarkeit dafür, überhaupt wieder Während Senna die vertraute, geliebte Auf dem Weg zum Fest Weihnachten in Frieden feiern zu dürfen. Großmutter war, war uns Tante Lotte ferner. Die Generation der Eltern lebte mit uns Kin- Sie gehörte uns nicht alleine und doch fühl- Mit den Lichtern am Sankt-Martinstag dern im Jahr Fünf oder Sechs nach dem ten wir uns zu ihr hingezogen, weil sie sich und dem Laternenumzug hatte es angefan- fürchterlichen Krieg. Sie hatte die Not und gerade kleinen Kindern in der Familie und gen mit den Ahnungen und der Vorfreude die Knappheit gerade erst hinter sich gelas- darüber hinaus mit großer Intensität zu- auf Weihnachten. Zuvor war die Helligkeit sen und nahm vieles zweimal in die Hände, wenden konnte, so wie ich das nur selten bei des Herbstes noch greifbar und das Ernten was jetzt verfügbar war. Das Gutshaus, der Menschen erlebt habe. Sie trug fast immer und Konservieren stand im Mittelpunkt. Es Hof, das waren Bereiche der Geborgenheit, eine strenge Kleidung mit einer Brosche und war ja oft noch die Weinlese im Gange und der Sicherheit, des Versorgt-Seins. An den wirkte für uns Kinder mit ihrem straff zu- beschäftigte den Vater. Im großen Gut dau- Kindern und ihrer Entwicklung orientierten sammengefassten Haar auf den ersten Blick erte sie meistens bis Mitte November. Das sich Hoffnungen auf bessere Tage, auf konservativ und achtungsgebietend, eben der älteren Generation angehörig. Aber der Ausdruck ihrer Augen und das warme Lä- cheln auf ihrem Gesicht überwand die Dis- tanz schnell. Ihre leise aber beeindruckende Stimme, die Festigkeit und Willen aus- drückte, unterstrich das Besondere an die- sem Menschen. Es verstummte alles, wenn sie sprach. Sie zog uns durch ihre Persön- lichkeit in ihren Bann. Tante Lotte führte uns in das Eckzimmer am Ende des dunklen Flu- res mit den hohen, dunkelgrünen, mit Intar- sien versehenen Wänden im ersten Stock der Villa. Dort fiel das Licht durch zwei Fenster in ihre Stube hinein, die für mich der Inbegriff von Heimeligkeit war, wo es un- endlich viel zu sehen gab und wo man sich andächtig hinsetzte, auch als kleines Kind. Tante Lotte hatte jetzt Zeit, obwohl sie ei- gentlich keine Zeit hatte, denn sie gehörte der ganzen Familie, dem ganzen Dorf. Sie, die Naturgelehrte und Heimatforscherin, die belesene, gebildete Frau, war stark an Odernheim und die Nordpfalz gebunden und trotzdem weltoffen. Sie hatte mehrfach ihre ausgewanderten Söhne besucht und von den Reisen nach Amerika Sammlungs- stücke mitgebracht. Mich beeindruckten natürlich besonders die Pfeile, Speere und Lotte Lellbach geb. Nagel („Tante Lotte“) im Museumsstübchen der ehemaligen Villa Lellbach in Odern- der Federschmuck von Indianern ,die Jagd- heim. Foto: Privatsammlung Dr. Peter Fuchß, Bad Kreuznach 4 (Seite 44 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter -11/2013

Rückkehr zur Harmonie und ein Familien- Porsche und erlebte gar noch die Mondlan- leben ohne Bedrohung durch Elend und dung. Dreiundneunzigjährig sollte sie in ih- Not. Das stand im Zentrum ihres Denkens rem Bett einschlafen, ohne Aufhebens zu und Handelns und beeinflusste die Gestal- machen. Das entsprach ihrem Lebensstil. tung des Weihnachtsfestes in dieser Zeit. Oma beherrschte die Küche und stellte so Besondere Stimmung kam auf, wenn die manche Anforderung an die Geduld der Großmutter aus Odernheim den Weg in die Mutter. Wir Kinder hatten gegenüber eini- Kreisstadt fand, wo wir lebten. Sie gliederte gen ihrer Rezepte im Stil Hunsrücker Über- sich gleich in das Geschehen im Gutshaus lebensstrategie eine gewisse Distanz, waren ein, wo es Wäsche zu sortieren oder etwas zu den meisten ihrer Koch- und Backkünste nähen und zu flicken gab, oder sie hatte aber durchaus zugetan. Sie war „die Köni- Handarbeiten mitgebracht und widmete gin des Hefekuchens“. Samstags frühmor- sich ihnen im Schein der Stehlampe. Die Ge- gens mischte sie die Zutaten für den Streu- spräche um sie herum wurden immer lebhaft selkuchen in der Küche. Dort „ging“ dann und lustig. Besonders aufregend fanden wir, der Teig in der abgedeckten irdenen Schüs- wenn Mutter und Großmutter in dieser Zeit sel „auf“ und verbreitete einen markanten französisch sprachen. Dann wussten wir, Geruch, ein wenig nach Champignons .Ihre dass es sich um etwas Weihnachtliches han- Hand war das Maß. Und das misslang nie, so delte und wir nicht verstehen sollten, was dass zur nachmittäglichen Kaffeezeit alles die Erwachsenen beredeten. fertig auf dem Teller war. Im Herbst hatte „Oma Fuchß“ (Elisabeth Fuchß senior) und Georg ein deftiger Pflaumen- oder Mirabellenku- („Schorsch“) Wohlleben im Gutshof Anheuser in chen schon des Mittags die Kartoffelsuppe Bad Kreuznach (1962). Das Reich der Oma Fuchß herzhaft begleitet. Auch ihr Hefezopf er- freute sich bei den Erwachsenen großer Be- Der Ort, um den sich in diesen Tagen alles liebtheit, er wurde sehr zum Missfallen der drehte, war die Küche unseres Hauses. Da- wohl erzogenen Großmutter Senna, die so der silbernen Plätzchenschale. Ich habe si- mals Anfang der fünfziger Jahre wohnten etwas in Odernheim nicht duldete, in den cher einige Sorten vergessen aus dem Füll- wir im ersten und zweiten Stock der Guts- Milchkaffee „getunkt“. horn der weihnachtlichen Spezialitäten. Und verwaltung, später im ganzen Haus. Die Kü- es wurde natürlich auch hier im Gutshaus in che zog dann ins Parterre. An diesen De- Kreuznach der Christstollen gebacken und zemberabenden saßen wir Kinder am Kü- Die Plätzchendosen füllen sich bis zum Fest gelagert. Für uns Kinder hatte chentisch auf den roh gezimmerten Hockern das Plätzchenbacken auch deshalb einen und schauten den Erwachsenen zu. Es war Die Palette der Plätzchenrezepte war be- großen Reiz, weil immer wieder eine Menge die Zeit des Plätzchenbackens. Die Küche achtlich. Die fertigen Genüsse kamen in für uns abfiel. Das Auslecken der großen Ke- war das Reich von Oma Fuchß. Die Mutter große Blechdosen oder auf hölzerne Schüt- ramikschüssel gehörte dazu genauso wie des Vaters war eine Patriarchin. Sie lebte ten und wurden in einer kleinen Dachman- das Vertilgen zu stark gebackener ausge- seit Kriegsende bei uns, hatte aber in ihrem sarde kühl gelagert Diese Mansarde durften sonderter Teile und der Abschnitte der nahen Heimatort ein einfaches Haus mit wir nur in Begleitung der Mutter betreten. Zimtwaffeln, die der Ästhetik geopfert wur- großem Garten, das sie in der Sommerzeit Sie war solide verschlossen und es war ab- den oder die aus dem Waffeleisen heraus- regelmäßig mehrere Wochen aufsuchte. solut verpönt vor Weihnachten schon zuzu- gedrückt worden waren. Es war für uns fas- Diese Frau war von einer unglaublichen Vi- greifen .Den Vater haben wir allerdings ge- zinierend anzusehen, wie aus den braunen talität und Genügsamkeit, obwohl das legentlich mit gefüllten Backen und mah- Kleksen des Waffelteiges durch festes Zu- Schicksal sie gezeichnet hatte. Der Unfalltod lenden Zähnen die Treppe herabsteigen se- sammendrücken der schweren schmiedeei- ihres Mannes als Eisenbahner auf dem Ge- hen. Es war überhaupt nicht erwünscht, dass sernen Gerätschaft mit ihrem langen Griff lände des Bingerbrücker Bahnhofs im Krieg dieses am Tisch erwähnt wurde. Es gab But- solche dünnen und doch nicht übermäßig hatte bei Oma Fuchß eine Rückenverkrüm- terplätzchen, Vanillekipferl, Hildabrötchen, zerbrechlichen Quadrate entstanden. In den mung provoziert. Der respektlose Onkel Ge- Zimtsterne, Cocosgebäck, Nussplätzchen, Fünfzigern vollzog sich diese Prozedur unter org „Schorsch“ Wohlleben nannte sie gele- Wolfszähne, halb in Schokolade getaucht, der Mithilfe des Vaters auf dem großen Kü- gentlich „die bucklige Verwandtschaft“, Pfeffernüsse, Mandelbrot, Anisplätzchen, chenherd, später konnte man dann ein run- was sie aber klaglos überhörte. Elisabeth Zimtwaffeln, Spritzgebackenes, Dattelge- des Waffeleisen in die Herdplatte einhängen Fuchß hatte als Kind und junge Frau die Kai- bäck, Printen, Lebkuchen und ein so ge- und noch später hielt der technische Fort- serzeit erlebt, dann die Weimarer Republik nanntes Holzgebackenes, das mittels alter schritt Einzug und die elektrischen Eisen und das Dritte Reich hinter sich gelassen. Sie Modeln verziert wurde mit handgeschnitz- verdrängten das rein Handwerkliche. In begleitete das Zeitalter der Technisierung ten Motiven. Das war entsetzlich hart, eben diesen Wochen duftete es im ganzen Haus. und Motorisierung von Otto Lilienthal bis wie Holz, und wir sortierten es immer aus in Wenn wir die Holztreppe mit ihren breiten Stufen hinauf liefen, wussten wir schon, dass es heute Anisplätzchen gab, diese kleinen weißen Kleckse auf dem Blech, die dann zu exotisch schmeckender Rundung fanden, oder das Spritzgebackene, herausgedreht aus dem gusseisernen Fleischwolf mit vielen verschiedenen Vorsätzen, die ihm die Form gaben. Wir liebten es besonders, weil es so kross, so süß, so fett schmeckte und lange frisch hielt. Etwas Besonderes war es mit den Printen, diesen an Lebkuchen erinnernden rechteckigen Schnitten, die eine Mandel oder ein Zitrusstückchen zierte. Sie brauch- ten unendlich lange um weich zu werden. So waren sie gleichrangig mit dem gefürchte- ten Holzgebackenen. Wir griffen an ihnen vorbei, wenn wir die Wahl hatten. (Schluss folgt).

Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach Die im Jugendstil erbaute ehemalige Villa Lellbach in . e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, Foto: Privatsammlung Dr. Peter Fuchß, Bad Kreuznach Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach). Nummer 12/2013 BadKreuznacher Beilage Bad Kreuznach Heimatblätter

Kinderweihnacht im Naheland Erinnerungen aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts

VON DR. PETER FUCHSS, BAD KREUZNACH

Von Hexenhaus und Nikolaus

Unbemerkt von uns vollzog sich eine Heimlichkeit in diesen Wochen. Spät- abends gestalteten die Eltern das Hexen- haus. Das war eine Laubsägearbeit aus schwarzem Holz, etwa wie ein alter Schwarzwaldhof mit tiefem, breitgezoge- nem Dach und somit großen Flächen, die man gestalten konnte. Dort wurden nämlich Pfeffernüsse, Schokoringe, Lebkuchenteile und Schokoladenfiguren mit essbarem „Mörtel“ aus Zucker angebracht. Darüber kam Puderzucker als Schneeimitation und die Kanten des Hausdaches waren aus fes- tem Zuckerguss modelliert. Vor dem Haus platzierten die Eltern Hänsel und Gretel und die bucklige Hexe mit der großen War- ze auf der Nase. Es machte den Eltern große Freude dieses Haus gemeinsam zu gestal- ten , ohne dass wir etwas davon mitbeka- men. Es stand dann mit einer Innenbe- leuchtung versehen auf einem tannenbe- deckten Hocker neben dem Weihnachts- baum. Aufregend war der Nikolaustag. Das lag in der Natur der Sache. Er begann schon Krippenspiel an Weihnachten 1952 im privaten Kindergarten Breitwieser in Bad Kreuznach (Schöne Aus- angenehm mit einem Schokoladen-„Pelze- sicht) mit dem Erzähler als Josef. Foto: Privatsammlung Dr. Peter Fuchß, Bad Kreuznach nickel“ im Schuh vor der Abschlusstür zum Treppenhaus. Bis zum Heiligen Abend wür- den wir jetzt einen Schuh hinausstellen und immer eine Kleinigkeit darin finden. Die der Schönen Aussicht wurde in diesen sammenhalt in der Familie, dem Erleben Türchen des Adventskalenders gaben näm- Wochen das Krippenspiel vorbereitet, für des Lichtes der Kerzen in der Winterzeit, lich nichts Süßes frei wie später, sondern das vielfältige Vorbereitungen notwendig des Weihnachtsbaums und hatte natür- erfreuten uns durch die kleinen bunten Bild- waren. Im Vorjahr war ich gemeinsam mit lich die Erzählungen vom Christkind zum chen mit ihrem Bezug auf das Fest. Abends meinem Freund Wolfgang aus der Seifen- Inhalt. am 6. Dezember gab es dann einige Jahre handlung Ost in der Mannheimer Straße ei- lang die bekannte Nikolausinszenierung in ner der Drei Könige und für dieses Mal wur- unterschiedlicher Ausgestaltung. Im Kin- de ich zum Josef bestimmt. Die Kostüme Der dunkelgrüne Weihnachtsbaum dergarten am Vormittag wurde zumeist mussten aufpoliert und ergänzt werden, Angst und Schrecken verbreitet, weil die denn sie litten unter dem jährlichen Ritual, Auch der Vater hatte wichtige Vorberei- Pädagoginnen auf diese Weise dem einen das dann in einer einmaligen Inszenierung tungen für das Fest zu treffen. An einem hel- oder anderen der Zöglinge einen „Denk- seinen Höhepunkt fand, der von einem len Dezembertag fuhr der dröhnende Lanz- zettel“ erteilen wollten und Knecht Rup- Fotographen festgehalten wurde und noch Bulldog mit dem großen Anhänger in den recht häufig die Rute schwingen ließen. heute im Erinnerungsalbum aus dieser Zeit Sponheimer Wald. Die Weihnachtsbäume Mich beeindruckte der moralische Event zu bewundern ist. Die Eltern tolerierten das wurden geschlagen, sorgsam ausgewählt bei uns zuhause eher nicht, weil ich zu Geschehen, obwohl es in einer protestanti- nach dem vorgesehenen Standort. An- schnell erkannte, dass die Stiefel zum Fah- schen Familie auch kritische Stimmen dazu schließend versammelten sich nach getaner rer Franz oder die Stimme zum Ingenieur gab. So besaßen wir auch keine Krippe und Arbeit einige Männer im Lodendress, an- Renette von der Weinbauschule gehörten. unter dem Weihnachtsbaum dominierten dere noch in schäbigen Lederjacken, die Aber die jedes Jahr wechselnde Verklei- Nussknacker, Puppen und Spielzeug. Weih- aus dem Fundus der ehemaligen deutschen dung und die weißen Rauschebärte der nachten war bei uns in diesen Jahren mehr Wehrmacht stammten, zu einem kräftigen Nikoläuse unserer Kindheit zogen uns doch auf die greifbaren Dinge bezogen als rituell Glühweintrunk. Schon das war in diesen in ihren Bann, zumal nach den Appellen an ausgerichtet. Mutter vermittelte uns ihre noch recht kargen Zeiten Anfang der Fünf- das gute Betragen dann etwas Brauchbares Sicht des christlichen Glaubens an den lan- ziger etwas Besonderes und hob den Tag aus dem Sack gefischt wurde. Im privaten gen Winterabenden des Advents. Das war heraus. Jetzt stand ein tiefgrüner pracht- Kindergarten der Frau Breitwieser auf verbunden mit dem Bekenntnis zum Zu- voller Baum hinter der in den Hof führen- 2 (Seite 46 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 12/2013

dauert das alles noch?“ fragt die Schwester. mal wieder so freuen können, wie früher Die Erwachsenen halten hin:“ Noch einmal auf Weihnachten“. Aus ihr sprach die Sehn- schlafen, und dann, wenn es dunkel ist, sucht nach dem Kind-Sein vor dem Heiligen dann kommt es.“ Wir ertragen die abendli- Abend. che Prozedur des Waschens nur mühsam, ein bisschen wie in Trance. Irgendwie habe ich so ein komisches Gefühl im Bauch, so Kinderweihnacht auf dem Hof prickelnd als hätte ich Brause getrunken. Später liest die Mutter am Bett die Abend- Der große Tag ist gekommen, der erwar- geschichte vom Stern, der über den Men- tete, der erträumte. Früh sind wir wach, als schen leuchtet. „Mutti, glaubst du, ich be- das Haus sich belebt und Oma Fuchß aus ih- komme ein Postamt für Kinder?“ Es stand rem Dachzimmer herabsteigt. Auch Groß- ganz oben auf dem Wunschzettel, den ich mutter Senna ist schon da und deckt den vor Tagen schon in meinen Schuh gesteckt Tisch. Jetzt beginnt das große Projekt. Es hatte. “Wir werden sehen, wenn du brav gilt die Ungeduld zu bekämpfen. Großmut- warst.“ Diese Hinhaltetaktik. Dieses Ver- ter kümmert sich ganz besonders um uns trösten auf morgen! „Ich war brav!“ werfe und wir machen einen Spaziergang über ich fest ein. Mutter löscht das Licht. Ich lie- die froststarre Pfingstwiese. Dann gibt es ge bleischwer in meinem Bett und es lastet ein einfaches Mittagessen. Die Eltern sind die Daunendecke wie immer auf mir, aber im Weihnachtszimmer beschäftigt. Wir wis- heute ist dieses Bett noch kuscheliger, noch sen, dass sie jetzt mit dem Christkind kom- vertrauter und geborgener. Ich drücke mei- munizieren, dort drinnen den Baum schmü- nen braunen Bär aus Amerika, der mich be- cken mit all den faszinierenden Dingen, mit gleitet, seitdem ich denken kann. „Morgen den Figürchen und Sternen, den roten Äp- ist Weihnachten ,Bär!“ Ich habe den Vater feln, mit Naschzeug, mit den Kugeln, ein gesehen, wie er den schweren Tannen- wenig Lametta und den Bienenwachsker- baum hinauftrug um ihn ins Esszimmer zu zen. Viel alter Christbaumschmuck ist da- stellen, danach schnell die Tür hinter sich bei, aus den Zeiten der Urgroßmutter und Der Bär aus Amerika. zuziehend. Alle sind so geschäftig, trepp- dem Winterhilfswerk der dreißiger Jahre. Foto (2013): Birgit Zimmermann, Bad Kreuznach auf, treppab, selbst der Schäferhund rennt Vater und Mutter bereiten sich auf den Hei- unruhiger umher als sonst. Der Schwester ligen Abend vor. Die Garderobe wird fest- geht es wie mir. Wir versuchen einzuschla- lich sein. Der dunkle Anzug und das beste fen hinter der Tapetentür zum Wohnzimmer Kleid werden aus dem Schrank genommen. den Haustür, den die Eltern dann am Tag und hören die Erwachsenen leise mitei- Großmutter beschäftigt uns in der Küche vor dem Heiligen Abend schmückten. Das nander reden. Ein Lichtstrahl fällt durch am Tisch mit den groben Küchenhockern. war aber vor neugierigen Kinderblicken den Spalt der Tür, die angelehnt ist, weil Ihre Energie erlahmt langsam. Vater hat hinter einem aufgespannten Betttuch ver- wir sonst Angst haben vor den Reflexen, sein samstägliches Bad genommen und borgen. In diesen Tagen kam auch der welche die Straße ins Zimmer wirft trotz der Oma Fuchß ihr dunkelgeblümtes Kleid an- Deputatswein in den Keller. Den Inhalt ei- geschlossenen Holzläden. An diesem Abend gelegt. Sie trägt die alte schwarze Handta- niger Holzsteigen voller, in Flaschenseiden steigern sich Erwartung und Vorfreude in sche am Arm. Die Erwachsenen versam- eingewickelter Weinflaschen verstaute Va- ein unglaubliches Glücksgefühl. Es gibt in meln sich schon im Wohnzimmer. Die Tür ter sorgsam in der großen eisenbeschlage- einem Kinderleben nichts Vergleichbares. ist fest geschlossen. Wir werden immer zap- nen Exportkiste, die seine Schätze barg. Die Nacht vor dem Heiligen Abend ist eine peliger. Wir wissen nicht, dass jetzt die Ker- Später bekamen wir dann auch mit, dass er außergewöhnliche. Dieser Tage sagte mei- zen am Baum angezündet werden und sich in diesen vorweihnachtlichen Tagen im ne erwachsene Tochter:“ Ich möchte mich die Eltern einen Moment der Zweisamkeit „Comptoir“, wie das Büro des Gutes damals hieß, vorstellig wurde, um vom Prokuristen eine Geldzuwendung in Empfang zu neh- men. Dieses Weihnachtsgeld war fest ver- plant für die eine oder andere dringend not- wendige Anschaffung im karg möblierten Gutshaus. So waren auch solche materiel- len Veränderungen augenscheinlich mit dem Jahresrhythmus und dem Weihnachts- fest verbunden.

Die Nacht vor dem Heiligen Abend

Morgen ist Heiliger Abend. Ich war die letzten Tage oft auf dem verschneiten Hof und bin mit dem Schlitten immer wieder den kleinen Abhang hinunter gefahren, hinter der Mauer des Hühnerstalles. Die Steigung war dort nicht sehr stark, aber es reichte meist bis vor den großen Holzhaufen im offenen Schober. Meine Ohren sind mit der Fellmütze bedeckt und ich trage einen dick gefütterten Anorak und gestrickte Fin- gerhandschuhe. Jetzt wird es dunkel und der Schweizer [Milchknecht] hat das Stall- licht angemacht. Er sitzt unter den Kühen und treibt mit fester Hand die Milch aus dem Euter in den schweren Eimer zu seinen Füßen. Der Hofhandwerker schiebt sein Fahrrad zum grünen Eisentor. Es ist Feier- abend. Orest, mein großer Schäferhunde- freund, wirft mir immer wieder ein Stück Holz vor die Füße. Ich habe keine Lust mehr mit ihm zu spielen. Es ist der Abend vor Emmi Lellbach, die Mutter des Erzählers, spielt an Weihnachten 1930 im Odernheimer Elternhaus mit ihrer Weihnachten. Es zieht mich ins Haus. „Wann Puppenküche und ihrer Käte-Kruse-Puppe (sitzend in der Bildmitte vorn). kommt morgen das Christkind, wie lange Foto: Privatsammlung Dr. Peter Fuchß, Bad Kreuznach Bad Kreuznacher Heimatblätter - 12/2013 (Seite 47 des Jahrgangs) 3

ja kaum erwarten, die neuen atemberau- benden Dinge wieder in die Hand zu neh- men. Es roch dann so faszinierend nach dem kalten Rauch der abgebrannten Ker- zen und dem frischen Tannengrün. Zu er- wähnen wären die Besuche bei unseren Verwandten in der Stadt am ersten Weih- nachtstag im Haus an der Nahebrücke, wo meistens ein recht bizarrer Weihnachts- baum mit extremen Ästen und Windungen zu sehen war, der so völlig die wohlgestal- tete Harmonie des geschmückten Baumes zuhause vermissen ließ. Aber es gab dort ein Wildwest-Fort mit Holzpalisaden und berittenen Cowboys und Indianern, die schnell unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Ich habe diese Kinderweihnacht verin- nerlicht und weiter in mir getragen. Ein be- sonderes Erlebnis war das Fest nach der Ge- burt der zweiten Schwester, die, Ende No- vember auf die Welt gekommen, fast wie das Christkind in seiner Wiege neben dem Weihnachtsbaum lag. Später bekam ich ei- ne elektrische Eisenbahn mit Tunnel und fein gestalteter Landschaft und es begann die Zeit der Bücher, des stundenlangen Le- sens an den Feiertagen. Die Weihnachtsta- ge übten eine ungebrochene Anziehungs- kraft auf uns aus und wir feierten sie, so lan- ge das gegeben war, mit unseren Eltern und Großmüttern zusammen. Dann sollten wir selbst Kinder haben und mit ihnen wie- der die Kinderweihnacht erleben dürfen. Ich möchte aber meine geneigten Leserin- Der Erzähler und seine Schwester spielen Mitte der 1950er Jahre im Bad Kreuznacher Gutshaus mit der nen und Leser nicht überstrapazieren. Puppenküche ihrer Mutter. Foto: Privatsammlung Dr. Peter Fuchß, Bad Kreuznach Sie alle haben ihr eigenes Weihnachten. Später lernte ich auch andere Formen ken- nen bis hin zum monotonen Trommeln ei- ner karibischen Weihnachtsfeier und der herausnehmen, einige Minuten der Besin- Familie, das in die Zukunft weisende Licht Exotik eines Heiligen Abends in der chine- nung. Das ist Teil ihres Weihnachten – Mut- von der Zuversicht in diesen Jahren nach sischen Hauptstadt Peking. Weihnachten zu ter erzählt es uns später. Jetzt öffnet sich dem entsetzlichen Kriegsgeschehen, dass Hause ist etwas ganz Besonderes für mich die Tür einen Spalt breit und es erklingt das es friedlich und gut wird. Die Betriebsam- geblieben und es hält mich auch heute im ersehnte helle Schellen. Christkind war da. keit der Eisenbahn vor dem Haus hatte Bann. Dankbar bin ich meinen Eltern, dass Gerade ist es gegangen. Es will nicht gese- nachgelassen, es gab jetzt keine Personen- sie uns das so vorgelebt haben. Es lag eine hen werden und ist schon auf dem Weg zu züge mehr und nur gelegentlich rumpelte große Kraft in ihrem Handeln. So zünde ich den anderen Familien in der Stadt: Kinder- ein zur Ernährungssicherung und Energie- jedes Jahr am Heiligen Abend die Lichter weihnacht. erzeugung notwendiger Güterzug vorbei. an, die mich an sie und unsere Kinder- Ein wenig beklommen betreten wir das Auch drüben in der Villa des Gutsbesitzers weihnacht erinnern. Weihnachtszimmer, wo der strahlende Baum und seiner Familie waren jetzt die Lichter uns empfängt, an dem für kurze Zeit auch des Weihnachtsbaumes zu sehen. die Wunderkerzen brennen. Das Räucher- Es gäbe noch manches zu erzählen von männchen verbreitet fremdartigen Duft. diesem Weihnachtsabend im Gutshaus im Dort stehen die geliebte Puppenküche aus Kreise derer, die damals lebten. Wie die Mutters Kindheit und der Kaufladen. Es Oma ihre alte Tasche öffnete um die sorg- zwinkert uns der alte Nussknacker unter sam gesparten Scheinchen für jeden her- dem Tannenbaum zu, der schon so lange vorzuholen, die sie fürs Sparschwein oder unser Freund ist und anderer Kinder Freund Sparbuch übergab. Wie die erste Nudel- war. Und die gelbe Postkutsche mit den suppe in der Puppenküche auf dem kleinen Holzpferden erwartet uns. Mutters Käthe- Elektroherd gekocht wurde und die Weih- Kruse-Puppe ist neu gekleidet. Da sind die nachtswürstchen, eigens vom Metzger in aufregenden Pakete, die die Verwandt- den letzten Tagen für uns Kinder herge- schaft geschickt hat und es sind Päckchen stellt, im kleinen Topf landeten. Es gab ja so- zu sehen in buntem Weihnachtspapier. Al- gar ein eigenes goldumrandetes Kinderge- les das wartet darauf geöffnet zu werden schirr im kleinen Holzschrank neben der und seine Schätze auszubreiten. Wir neh- Puppenküche. Oder vom Abendtisch wäre men uns an den Händen, alle, die Großen zu berichten, an dem kein großes Menü Tra- und die Kleinen. Das mit dem Weihnachts- dition hatte, aber doch feine Leckereien auf- liedersingen klappt nicht so gut, aufgeregt getragen wurden, in den fünfziger Jahren wie wir sind. Frohe Weihnachten! Groß- aus Küche und Keller selbst bereitet, später mutter verdrückt das traditionelle Tränchen angereichert durch den Inhalt einer großen und die Gesichter der Eltern strahlen. Sie Tüte des Metzgers, die dieser selbst ange- hatten vorher noch die Tiere auf dem Hof liefert hatte. Es wäre das Glücksgefühl beim besucht und eine Sonderration Hafer und Entdecken und Ausprobieren der neuen Sa- Karotten verteilt. Sie haben dem Hund den chen zu schildern, die das Christkind ge- Kopf gestreichelt und gesehen, dass die Kat- bracht hatte, und vom späten erschöpften ze im Körbchen in der Küche friedlich Einschlafen an diesem besonderen Abend schnurrte. Die Tür nach draußen wurde zu erzählen. Und davon, wie wir am nächs- jetzt geschlossen und sie konzentrierten ten Morgen schnell aus dem Bett schlüpften Es gibt sie immer noch: die Käte-Kruse-Puppe aus sich ausschließlich auf das Innere. Das Licht um in die Weihnachtstube zu eilen, noch im den 1930er Jahren. in der Christnacht war bei ihnen und ihrer Nachthemd und Schlafanzug. Wir konnten Foto (2013): Birgit Zimmermann, Bad Kreuznach 4 (Seite 48 des Jahrgangs) Bad Kreuznacher Heimatblätter - 12/2013

Die Inschriften des Landkreises Bad Kreuznach im Internet

Wie Dr. Eberhard J. Nikitsch, der Verfas- setzungen, gelegentlich auch um Umda- ser des 1993 erschienenen umfangreichen tierungen. Verschreibungen und offensicht- Handbuchs zu den Inschriften des Land- liche kleine Fehler der Druckausgabe wur- kreises Bad Kreuznach, mitteilt, ist das Werk den stillschweigend verbessert. Der Abbil- unter folgender Adresse nunmehr auch in dungsteil wurde um zahlreiche Detail- und einer Online-Edition im Internet verfügbar: Farbfotos ergänzt. Das Buch umfasst 626 Katalognummern Inschrift am Chor der ehemaligen Franziskaner- http://www.inschriften.net/landkreis-bad- mit Inschriften im heutigen Landkreis Bad Klosterkirche St. Wolfgang in Bad Kreuznach um kreuznach/einleitung.html Kreuznach aus der nachrömischen Zeit bis 1484. „Hic est locus consecratus“ (Dies ist ein ge- zur Verwüstung der Gegend während des weihter Ort). Mit erheblicher Unterstützung der Main- Pfälzischen Erbfolgekrieges im Jahre 1689. Fundstelle: Eberhard J. Nikitsch, Die Inschriften des Landkreises zer Akademie der Wissenschaften konnte Im Katalogteil sind die einzelnen Denkmäler Bad Kreuznach, Wiesbaden 1993, Abb. 75 erstmals ein gedruckter Inschriftenband in beschrieben, die darauf zu findenden In- eine Online-Version umgewandelt und so schriften textkritisch ediert und wo nötig eine neue Zugriffsmöglichkeit auf das fast übersetzt; vorkommende Wappen werden vergriffene Werk eröffnet werden. Gleich- identifiziert. Der jeweilige Kommentar ver- schließen den Band der Benutzung und wei- zeitig wurden Inschriften-Neufunde einge- bindet Ausführungen zu Schrift- und Kunst- terer Forschung. Es wäre sehr zu begrüßen, arbeitet und Korrekturen vorgenommen. geschichte mit Erklärungen zu Standort, wenn die neue Online-Version des Jahres Dabei handelt sich hauptsächlich um ver- Personen und Sachen. Eine ausführliche 2013 ebenso großen Zuspruch fände wie der besserte Angaben zu Wappen und Perso- Einleitung, zahlreiche Einzelregister, ein gedruckte Band des Jahres 1993. (Dr. Horst nen, aber auch um Neubewertungen von umfangreiches Schrifttumsverzeichnis so- Silbermann unter Verwendung einer Text- Textstellen, verbesserte Lesarten und Über- wie ein reichhaltiger Abbildungsteil er- vorlage von Dr. Eberhard J. Nikitsch)

Neu auf dem Büchermarkt der Heimat lagert wurde. Der Autor lässt uns – nicht sel- Naheweinbau in den Jahren 1939 ten mit einem Augenzwinkern – teilnehmen bis 1949. Vorwiegend aus Akten Martin Senner: 52 Geschichten aus Kreuz- am mehr oder minder patriotischen Treiben des Archivs der Verbandsgemeinde nachs Geschichte. Band 8. Bad Kreuznach des „Kreuznacher Turn-Vereins“, des „Ar- Rüdesheim. 2 2013. 112 Seiten. Preis: 9,80 €. ISBN: 978-3- tillerie-Vereins“ und der „Krieger-Kame- Rolf Schaller: Die „Schwarze Brücke“. 935516-84-6. Erhältlich im Buchhandel und radschaft“. Wir erfahren, wie die Kreuzna- Historie der Kreuznacher Salinenbrücke. 3 beim Verlag Matthias Ess. cher 1897 den hundertsten Geburtstag des Rainer Seil: Drahtwerke Waldböckel- In der achten Ausgabe seiner „52 Ge- 1888 verstorbenen Kaisers Wilhelm I. feier- heim – Eine endliche Geschichte schichten aus Kreuznachs Geschichte“ hält ten, aber auch wie sie sich mit Zöllnern oder (1911-1981). Ein Beitrag zur der Bad Kreuznacher Historiker Dr. Martin einer übereifrigen „Nachtschutzmann- naheländischen Wirtschaftsgeschichte Senner „Rückschau […] auf die Kreuzna- schaft“ der preußischen Polizei als den un- mit kriegs- und migrationshistorischen cher Spielart des preußisch-deutschen Pat- geliebten Vertretern der Obrigkeit anleg- Aspekten. 4,5 riotismus“, wobei sich bald herausstellt, ten. „Kriegsfestspiele“ mit lebenden Bil- Dr. Martin Senner: Es gibt nicht bloß dass der vaterländische Patriotismus in der dern im Jahre 1901 sind ebenso Gegen- das Mühlentor. Alte Fotos vom alten Nahestadt immer wieder durch die lokal- stand des kleinen Bändchens wie die „Ei- Kreuznach. 5 patriotische Einstellung ihrer Bürger über- serne Zeit“ des Ersten Weltkriegs, dessen Gudrun Serke: Die jüdische Beginn sich 2014 zum hundersten Male Gemeinde Monzingen. Von den jährt. Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg. 6 Auch kuriose Fragen wie die folgenden Richard Walter: Hundert Jahre neues werden beantwortet: Warum forderte ein Kurhaus Bad Kreuznach. Die Eröffnung 1848 gegründeter Bürgerverein die Ab- am 1. Juli1913 im Spiegel der Presse. 7 schaffung des Königlichen Gymnasiums? Dr. Claus Clausen: „Bach, selbst- Warum konnte die neue Rechtschreibung verständlich!“ Albert Schweitzer von 1880 lebensgefährlich werden? Was und die Musik Johann Sebastian Bachs. 8 war der „Kornblumentag“? Was sind Denk- Gudrun Serke: Die jüdische Gemeinde mäler „hinter Gittern“? Wo konnte man in Monzingen. Erinnerungen an Kreuznach „Karawanen-Federweißen“ einzelne Familien. 9 trinken und wo konnte man etwas erfahren Gudrun Serke: Die jüdische Gemeinde über das „Leben und Treiben unserer Monzingen. Religiöse Einrichtungen. 10 schwarzen deutschen Brüder“ in Deutsch- Dr. Peter Fuchß: Kinderweihnacht im Ostafrika? Naheland. Erinnerungen aus den In Dr. Senners neuesten „52 Geschich- fünfziger Jahren des vergangenen ten“ auf Entdeckungsreise zu gehen, ist – Jahrhunderts. 11,12 wie schon in den sieben vorausgegangenen Ausgaben – lehrreich, spannend und un- Buchbesprechungen terhaltsam zugleich. (Dr. Horst Silbermann) Die Inschriften des Landkreises Bad Kreuznach im Internet (Dr. Silbermann) 12 Martin Senner: 52 Geschichten aus Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 2013 Kreuznachs Geschichte. Band 8. Bad Kreuznach 2013. (Dr. Silbermann) 12 Aufsätze Heft Rolf Schaller: Die Kreuznacher Soleleitung. Eine technische Meisterleistung vor über 140 Jahren. 1 Kaiser Wilhelm II. mit den Generälen Hindenburg Jörg Julius Reisek: Eine „Reise nach Die Bad Kreuznacher Heimatblätter erscheinen und Ludendorff auf dem 50-Pfennig-Notgeldschein dem Donnersberg“ (1852). Aus monatlich in Zusammenarbeit mit dem Verein von 1917. Umschlagbild von Dr. Martin Senners „52 den Lebenserinnerungen von Emil für Heimatkunde für Stadt und Kreis Bad Kreuznach Geschichten aus Kreuznachs Geschichte“ Bd. 8 Rudolf Köhler 2 e.V. (i. A. Dr. Horst Silbermann, (Ausschnitt). Rainer Seil: Streiflichter zum Dienheimer Berg 11, 55545 Bad Kreuznach).