Hans J. Wulff Textsemantische Grundlagen der Analyse von Musikszenen und musikalischen Inserts

Der Artikel erschien zuerst in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung, 9, 2013, S. 224-292. URL dieser Online-Ausgabe: http://www.derwulff.de/2-187.

Inhalt: und mehr oder weniger deutlich in den Vordergrund Strukturfunktionale Analyse treten können. So treten in der soziologischen Be- Die textuelle Analyse der Filmmusik schreibung zum Subsystem Das musikalische Insert – die musikalische Szene – des Individuums und seiner Glaubenssysteme, Mo- Wissensbasiertheit, Ironisierung, Anspielung tivationen, Vorlieben, Identitätsentwürfe etc. Charakterisierung der Environments – jenes des Einheiten des sozialen Systems (auf mi- Kommunikationen und ihre Modalitäten Die Körperlichkeit des Vollzugs kro- wie auf makrosoziologischer Ebene), Die Attraktionalität des Geschehens – jenes der Interaktion und der sozialen Nahbezie- Summa hungen sowie – das bei Parsons sogenannte kulturelle System, in dem die kulturellen Werte und Normen versammelt Strukturfunktionale Analyse sind, die von allen Mitgliedern einer Gesellschaft oder einer Subkultur geteilt werden bzw. geteilt wer- Wenn die Geistes- und Humanwissenschaften in der den sollten. ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein ganzes Füll- Alle Kommunikation ist nach dieser Auffassung ein- horn von Überlegungen zum Zusammenhang der gebunden in diese genannten vier Funktionskreise. symbolischen Formen mit sozialer, kommunikativer und ästhetischer Praxis angestellt haben, dann wurde Nun ist Kommunikation angewiesen auf Symbolisie- in allen beteiligten Fachdisziplinen die Perspektive rungen, nutzt symbolische Systeme und bringt Sym- einer „funktionalen Beschreibung“ zentral. Es waren bolwelten hervor. Zwar tendieren Symboliken zur ganz verschiedene Strömungen insbesondere der se- Verfestigung (als Zeichensysteme, Liturgien, Rituale miotischen Theorie, in denen die Frage nach den etc.) und lösen sich von den Akten des Symbolge- Leistungen der verschiedenen semiotischen Mittel, brauchs, doch sind sie letztlich immer zurückverwie- die sie in den Prozessen der Kommunikation und in sen auf ihre Aktualisierung in den Akten der Kom- der Konstitution von Texten erbringen, vorrangig munikation. Der Aktcharakter bleibt auch den Tex- und zum Gegenstand eingehender Reflexion wurde. ten (oder: „Werken“) erhalten, die eine Sonderform Nicht nur in der Ethnologie (wie in den Schriften der kommunikativen Mittel darstellen. Texte sind in Bronislaw Malinowskis), sondern auch in der Sozio- sich hochorganisierte symbolische Formen, deren logie (wie etwa bei Talcott Parsons) und der Sprach- Elemente einen gegenüber der umgebenden Alltags- theorie resp. Semiotik (vor allem Roman Jakobsons welt relativ autonomen Verweisungszusammenhang Theorie der Sprachfunktionen ist bis heute lebendig bilden. Sie können sogar modellhaft eigene Sozial- geblieben) gab es eine ganze Reihe von Entwürfen, und Kommunikationswelten ausbilden, die die die sich vom Vorrang der Morphologie semiotischer Funktionskreise der sozialen Kommunikation in ih- Gebilde abwendeten und statt dessen nach ihrem ren „Diegesen“ wiederholen. Ungeachtet der Tatsa- Funktionieren und nach den Bedeutungen fragten, che, dass sie zum allgemeinen Kommunikationszu- die sie in der Kommunikation und in der Hervor- sammenhang gehören, wird sich die folgende Unter- bringung und Stabilisierung sozialer Aggregate und suchung primär auf die Untersuchung der innertex- Beziehungen erbringen. Von Beginn an war dabei tuellen Funktionskreise konzentrieren, in denen Tex- deutlich, dass es nötig ist, zur Modellierung dieser te eigene Sinnsysteme ausbilden (auf dem Hinter- Leistungen sich von der Vorstellung eines eindimen- grund des symbolischen Bedeutungszusammenhan- sionalen Funktionszusammenhangs zu verabschie- ges der allgemeinen gesellschaftlichen Kommunika- den, sondern immer von einem Zugleich verschiede- tion). ner Funktionen auszugehen, die einander überlagern Karl Bühler unterschied in seiner Sprachtheorie die sammenhang nachzuspüren. Die Werksstruktur „Sprechhandlung“ vom „Sprachwerk“, eine Diffe- schafft einen zusammenhängenden Funktionsrah- renzierung, die auch für die Filmanalyse bedeutsam men, in dem sich alle Teile wie Teile eines Ganzen ist. Er schreibt: „Es gibt für uns alle Situationen, in verhalten, eine Tatsache, die wiederum als Rezepti- denen das Problem des Augenblicks, die Aufgabe onsdevise gilt, so dass der Zuschauer von einem tex- aus der Lebenslage redend gelöst wird: Sprechhand- tuellen Gesamtverweisungszusammenhang ausgehen lungen. Und es gibt andere Gelegenheiten, wo wir muss, der sich zu den Elementen übersummativ ver- schaffend an der adäquaten sprachlichen Fassung ei- hält. Allen Szenen kommt z.B. eine Überschussbe- nes gegebenen STOFFES arbeiten und ein Sprachwerk deutung zu, sie sind nicht selbstgenügsam und in hervorbringen“ (1965, 53; Hervorhebungen im Ori- sich geschlossen, sondern selbst bei hoher Eigen- ginal) [1]. Das Werk (resp. der Text) will, fährt Büh- ständigkeit immer noch Teile der umfassenden ler fort, entbunden sein aus dem Standort im indivi- Werksstruktur. duellen Leben und Erleben des Erzeugers, es gehört nicht in den „Weinberg des praktischen Lebens“ Natürlich kann gerade dieses „Postulat der formalen (Bühler 1965, 53f), sondern ist dazu gedacht, in vie- Dichte“ moduliert werden – in individuellen Rezep- len verschiedenen Situationen verstanden werden zu tionen, die unkonzentriert sind und nur bei individu- können, ja, es kann sogar übersetzt werden und in ell gesuchten Szenen ganz bei der Sache sind, aber andere Kulturen wandern, selbst die Zeit kann seiner auch in manchen Gattungen wie dem Schlagerfilm, Verstehbarkeit kaum etwas anhaben. Das Werk hat in denen die narrative Dichte und die Konsistenz der die Kraft, eine eigene „semiotische Situation“ zu Charakterisierung der Figuren bewusst vermindert fundieren, in die ganz unterschiedliche Subjekte ein- sind und deren Zentrum dann meist die Musiknum- treten können, um sich in das Ausgesagte zu vertie- mern sind. Derartige Filme legen schon auf Grund fen. ihrer formalen Gestaltung eine „zerstreute Rezepti- on“ nahe und erinnern darum eher an Programmfor- Funktionale Analyse sucht die Ordnungsmuster, die mate als an die Werksstrukturen, die im erzählenden in den Beispielen nachgewiesen sind, als Bedingun- Film gemeinhin dominant sind. Die folgenden Über- gen für semantische Prozesse und Effekte auszule- legungen werden derartige Gattungen nur streifen – sen, die sich letztlich in der Rezeption von Filmen ihr Zentrum ist die mehr oder minder geschlossene erfüllen müssen. „Künstlerische Form ist mit Kom- Erzählung. munikation verbunden und realisiert sich erst in ihrer Aneignung“, schreibt Peter Wuss (1993, 9), derge- stalt eine rezeptionsästhetische Position markierend, Die textuelle Analyse der Filmmusik die die Formenwelt des Films in Beziehung setzt zu den Aktivitäten des Filmverstehens. Gestaltungspro- Das Zentrum aller Überlegungen ist das Doppel von bleme und ihre Lösungen sind im kommunikativen Szene und Sequenz. Eine der Techniken, ihre Eigen- Verkehr lokalisiert, auch wenn sie nicht völlig aufge- ständigkeit zu unterstreichen, besteht in ihrer Musi- löst werden können in alltagspraktisches kommuni- kalisierung. Durch die Musik werden Szenen aus katives Handeln. Es bleibt eine Differenz, die das dem Kontext herausgehoben, gegen ihn abgegrenzt. Werk und seine Strukturen vom alltäglichen Mitein- Dann ist im Extremfall nicht mehr die Einheit von anderreden unterscheidet. Insbesondere die semanti- Raum, Zeit, Figuren und Handlung konstitutiv für sche und formale Dichte, die für die Entbindbarkeit die Einheit der Szene, sondern das musikalische des Textes aus dem Fluss des Alltagslebens über alle Stück schweisst die visuellen Elemente zusammen. situativen Bedingungen hinaus verantwortlich ist, In diesem Sinne schreibt Amy Herzog in der einzi- korrespondiert der so besonderen epistemischen Hal- gen bis heute vorliegenden Studie zum Sonderstatus tung, die der Rezipient gegenüber einem „Werk“ der musikalischen Szene: einnimmt. Das – formale – Wissen um die Funktio- nalität aller Teile im Zusammenhang des Textes be- The images during these musical interludes are con- dingt die Bereitschaft des Zuschauers, die jeweiligen structed entirely according to the demands of the song. The rhythm of the music prescribes the cinematogra- semantischen Potentiale auszuloten, im Verlauf der phy and the pacing and timing of edits. The temporal Rezeption Kohärenz und Kontiguität herzustellen, logic of the film shifts, lingering in a suspended pre- dabei auch den allusiven Beziehungen der Elemente sent rather than advancing the action directly. Move- zu anderen Texten und zum kulturellen Wissenszu- ments within the frame are not oriented toward action but toward visualizing the trajectory of the song; wal- stellt worden. Wenn man also einer Filmsequenz die king becomes dancing, and objects and people become Musik entzieht, so zerstört man eine Ganzheit. one in a complex compositional choreography. Space, too, is completely reconfigured into a fantastical realm that abandons linear rationality (2010, 6f). Die Analyse filmischer Strukturen hat zwei Bezugs- punkte: denjenigen der textuellen Strukturen und So wichtig diese Annahmen zum modalen Sonder- denjenigen der Rezeption. Beide hängen miteinander status der musikalischen Szenen und Inserts auch ist, zusammen. Es sind morphologische Verhältnisse und so sehr sie aus dem Fluss der (narrativ dominierten) Beziehungsnetze, die das Material für den Rezepti- Handlungswahrnehmung ausbrechen, so sehr sind onsprozess bilden. Sie stellen alle Bedeutungspoten- sie mit diesem Hintergrund aber weiterhin verbun- tiale zur Verfügung, die in der Rezeption genutzt und den. Szenen sind immer von unterschiedlichem aktualisiert werden können. Im Rezeptionsprozess Rang. Ihre Bedeutung für das Verständnis von Ge- treten die Elemente in Funktion, entfalten ihre inte- schichten ist manchmal hoch, manchmal niedrig. So grale Kraft. Der intentionale Fluchtpunkt jeder Re- sehr damit die binnenszenischen Strukturen in den zeptionsbewegung ist der Text als eine semiotische Mittelpunkt des Interesses treten, so sehr stellt sich Ganzheit. Es gehört zum kommunikativen Charakter die Frage nach den Leistungen, die derartige Szenen des Films, zum kommunikativen Kontrakt, der ihm im Gesamt eines Films spielen. Neben den drama- zugrunde liegt, dass der Rezipient unterstellen kann, turgisch-morphologischen Funktionskreisen (Expo- dass die Elemente bewusst und nicht zufällig arran- sition, Klimax, finale Implikation u.ä.) sind es eine giert sind. Er kann ihm also kommunikative Intentio- ganze Reihe textsemantischer Funktionen, die an ih- nalität zuschreiben [2]. nen aufgezeigt werden können. Die Frageperspekti- ve der Untersuchung richtet sich sowohl nach innen Dass der Film in der Rezeption als integrale Ganz- (und fragt dann nach den inneren Strukturen von heit konstituiert wird, ist so nicht allein eine Tatsa- Szenen und Sequenzen) wie aber auch nach außen, che, die sich erst am Ende des Rezeptionsprozesses sich auf die textuellen Leistungen konzentrierend, herausstellt, sondern die von Beginn an das Ziel der die sie erbringen. Aneignung ist. Rezeption selbst ist Integrationstä- tigkeit, darauf gerichtet, textuell relevante Zusam- Die Analyse ist darum auf drei Ebenen funktionaler menhänge auszubilden etc. Es gibt eine ganze Reihe Organisisiertheit ausgerichtet: von textuellen Makrostrukturen, die sich im beson- – auf die Binnenstruktur der jeweiligen Szene oder deren Fall als dominante Integrationsstrukturen her- Sequenz, ausstellen. Es mag also – auf die Rolle, die ihr im Gesamtsystem des Textes – das Drama sein (und damit verbunden die Einheit zukommt, sowie auf der Figuren, die Entwicklung der Figurenkonstella- – die umgebenden Funktionskreise der gesellschaft- tionen, die Konflikte etc.), lichen Kommunikation. – die Narration (die Intentionalität der Figuren, das kausale Nacheinander der Ereignisse und Handlun- Alle diese Überlegungen gelten auch für die Analyse gen, das teleologische und oft auch intentionale Ziel der Rolle von Filmmusik im Zusammenhang von der Geschehenskette), Filmen. Man könnte zwar meinen, das Verhältnis – die Argumentation (der Wert des Beispiels in ei- von Film und Musik sei summativ, das eine trete nem politischen Konflikt, in einer historischen Ab- dem anderen zur Seite und ergänze es um seine eige- folge, eine einzelne Aussage in einem Diskurs), nen Qualitäten. Man würde aber – den Vorüberle- – eine formale ästhetische Struktur (wie der Reprä- gungen einer strukturfunktionalen Analyse folgend – sentations- oder Referenzmodus des gesamten dagegen setzen, dass Film und Musik zwei Elemente Films) sind, die eine neue Ganzheit bilden, die Qualitäten und anderes mehr sein, das den leitenden Gesichts- umfasst, die keines der Elemente allein enthalte. punkt der Integrationsleistungen konstituiert. Immer Dass die Beziehung zwischen Film und Musik tat- aber sind es solche umfassenden makrostrukturellen sächlich übersummativ ist, dass sie eine integrale Fluchtpunkte, die in der Rezeption ausentwickelt Beziehung bilden und zu einer neuen Ganzheit syn- werden (müssen). Integration als Rezeptionsleistung thetisiert werden, ist durch zahlreiche Beobachtun- umfasst so nicht allein die Synthese der dargebote- gen und sogar experimentelle Überprüfungen klarge- nen Elemente, sondern auch ihre Analyse und das Auslesen der Bedeutungspotentiale, die sie für die umfassenden Strukturen eröffnen. Verstehen ist eine Kollusion von Hinweisreizen, die als signifikative Übersetzungs- und Auslegungstätigkeit, nimmt die Komplex-Einheit ausgearbeitet werden muss. Die Informationen und Elemente des Textes als Materia- gleiche Leistung wird dem Rezipienten manchmal lien, die erst in einem Prozess der Bedeutungsgene- auch im Umgang mit der Filmmusik abverlangt: rierung vollends zu jener Klarheit fortentwickelt Wird ein Walzer, der gemeinhin „Festlichkeit“, „Be- werden müssen, dass sich der Sinnhorizont des Tex- wegungslust“, ja sogar „Liebe“ konnotiert, unmittel- tes – er bildet fast immer das intentionale Zentrum bar vor einem Freitod eingesetzt und signifiziert der Aneignung – nicht erst am Ende, sondern in je- dann einen letzten Moment der Freiheit (wie im letz- dem einzelnen Schritt erschließt. ten Flug des Protagonisten am Ende von BERLINGER, BRD 1975, Alf Brustellin, Bernhard Sinkel), entsteht Segmentale Strukturen sind darum ausgerichtet auf ein offener Bruch zwischen der Bedeutungssphäre den jeweiligen textuellen Rahmen. Weder im Film des Walzers und dem kontextuellen Wert der Szene, noch in der Musik gibt es Wirklexika, die Elemente der nach Erklärung verlangt. Wird wiederum ein umfassen, die immer wieder die gleichen signifikati- Walzer als subjektiv belegter Indikator für Freude ven Leistungen resp. Leistungspotentiale erfüllen. gesetzt, dann aber von der fatalen Unglücklichkeit Immer sind sie ausgerichtet auf den jeweiligen Kon- des Geschehens konterkariert (wie am Ende von LE text, auf den Gesamtrahmen der Integration. Der ein- SALAIR DE LA PEUR, LOHN DER ANGST, Frankreich/Itali- zelne Text vermittelt zwischen dem konventionellen en 1953, Henri-Georges Clouzot, als der einzige Wert der Elemente und den textuellen oder segmen- Überlebende des Nitroglyzerin-Transports in Erwar- talen Leistungen, die sie am gegebenen Ort erbrin- tung seiner Rückkehr nach Frankreich einen Walzer gen. Darum ist Textanalyse strukturelle Funktions- im Radio hört, mit dem Lastwagen den Walzertakt analyse, die nicht nur den einzelnen Elementen nachzuahmen sucht und dabei tödlich verunglückt), nachspürt, sondern auch der je besonderen Strategie, ist genau dieser Kontrast der Deutungssphären der in der sie im einzelnen Text verwendet werden. Ausgangspunkt zur Formierung der Schluss-Emoti- on des ganzen Films. Die meisten Theorien der Filmmusik sind in der An- nahme, dass Musik im Film Funktionalisierungs- Wie schon gesagt: Nicht jede Rezeption nützt im Rahmen unterliegt, konform. Insbesondere Sofia einzelnen alle Bedeutungsmöglichkeiten. Das hängt Lissas Übersicht über die Funktionen der Filmmusik nicht nur damit zusammen, dass die Intensität der (1965) deutet darauf hin, dass man eine ganze Reihe Rezeption schwanken kann, sondern auch damit, von Einzelfunktionen unterscheiden kann, die mehr dass manche der semiotischen, insbesondere seman- oder weniger wahrnehmungsauffällig sind [3]. tischen Potentiale des Films wissensbasiert sind und spezielle Wissenshorizonte voraussetzen. Wenn also Die Regel der Funktionalität gilt für alle Arten von Zuschauer das Dies Irae des Titels von Stanley Ku- Elementen. Werden sie konventionalitätskonform bricks THE SHINING (SHINING, USA 1980) [4] nicht verwendet, ist die besondere Leistung, die sie im mehr in der katholischen Liturgie der Totenmesse Text erbringen, nicht auffällig. Werden sie aber in verankern können, so fehlt ihnen ein ganz wesentli- Differenz verwendet, wird deutlich, dass sie signifi- ches Interpretament der Szene; trotzdem bleibt die kative Potentiale enthalten. Ein Beispiel aus der vi- Integration von Musik und Bild hier möglich, die suellen Organisation filmischer Szenen: Nicht-Stimmigkeit der beiden Elemente spürbar; der – Eine erste Regel besagt, dass die Kamerahöhe epiphane Charakter des Anfangs, den man potentiel- mit dem Höhenverhältnis der Figuren koordiniert ist; lerweise ableiten könnte – die Ankündigung des in einer Interaktion zwischen einem Erwachsenen Zorns des HErrn –, aber geht verloren. Ähnliches und einem Kind wird darum das Kind in Auf-, der ließe sich auch mit den nur anspielend erschlossenen Erwachsene in Untersicht gezeigt. Horizonten von Rock- oder Pop-Songs illustrieren, – Es gibt eine zweite Konvention, derzufolge die oft wohl nur von Zeitgenossen angemessen aus- Macht als höherstehend inszeniert wird; der Thron gearbeitet werden können, die bis ins Biographische ist darum meist auf einem Podest gegenüber den Un- hinein allusive Höfe öffnen. Auch hier aber sind Be- tergebenen erhöht. deutungsbeziehungen im Spiel. Wenn also in WALTZ Wird beides kombiniert (und wird dann noch eine WITH BASHIR (Israel [...] 2008, Ari Folman) der Vor- Opferfigur aus Untersicht präsentiert, also in Diffe- marsch israelischer Truppen auf Beirut mit einer renz zu den beiden Deutungs-Regeln), entsteht eine Musik unterlegt ist, die auf die amerikanischen Pro- testlieder des Vietnam-Krieges anspielt, so öffnet ches Alltagsleben (in einer durchaus konventionellen das Lied die Szene (resp. den ganzen Film) sogar in Spannungsmontage); auch die Soldaten, die im die Dimension politischer Argumentation [5]. Trommelfeuer ihre Surf-Übungen machen, brechen die Einheitlichkeit der Mordlust, die den ersten Teil Einen scharfen Kontrast zwischen Inhalt der Szene der mehr als 17minütigen Sequenz dominiert. Die und musikalischer Begleitung inszeniert auch Stan- Ironiesignale in der langen Hubschrauber-Sequenz ley Kubrick in der sogenannten Surfin‘ Bird Scene sind aber nur äußerst rar und zudem spät gesetzt – seines Films FULL METAL JACKET (Großbritannien auch für den Zuschauer steht der heroische Affekt- 1987): Sie besteht aus Aufnahmen des Kampfge- horizont, der durch die Musik in den brutalen An- schehens (Hubschraubereinsätze, Panzerangriffe, griff auf ein vietnamesisches Dorf importiert wird, Soldaten im Häuserkampf etc.), die ganz im Stil der zunächst ganz im Vordergrund. Er kann sich in ein Aufnahmen von Kriegsberichterstattern gehalten imaginäres Hochgefühl versetzen, das in klarem sind (gelegentlich sieht man sogar ein Kamerateam, Kontrast zu seinem Wissen um die Sinnlosigkeit und das nur mühsam Deckung haltend Aufnahmen der Unmenschlichkeit dessen steht, was die Akteure tun. Soldaten macht). Die Szene setzt mit einer Maschi- Es ist eine perfide Position, in die der Zuschauer ge- nengewehrsalve ein, der sich kurz danach das Lied zogen wird, eine perverse Form reflexiver Selbster- Surfin' Bird der amerikanischen Surfrock-Band The fahrung, in der man genießt, was man verachtet, be- Trashmen aus dem Jahre 1963 überlagert – sie wird fürchtet oder moralisch ablehnt. Darum ist auch die die ganze, fast zweieinhalbminütige Szene bestim- Behauptung, es seien „irony and sarcasm“ (Nasta men. Es handelt sich um einen rasend schnell ge- 1991, 75), die die intendierten Effekte bildeten, in spielten Rock‘n‘Roll-Titel, der mittendrin innehält, Zweifel zu ziehen [6]. und – als wolle der Sänger das Publikum verhöhnen – stößt er a capella recht unartikulierte, jedenfalls Das ist in FULL METAL JACKET anders – hier ist die aber anzügliche und unanständige Laute aus; erst Musik offensichtlich von einer eigenen Instanz ein- dann setzt wieder der jagende Rhythmus der Band gesetzt, der es darum ging, den Authentizitätscharak- ein. Musik und Gezeigtes brechen auseinander, die ter der Kriegsbilder zu unterminieren, ihnen eine ei- provozierende Fröhlichkeit des Liedes und die bruta- gene Stimme entgegenzusetzen. Der Zynismus die- len Kriegsereignisse, die ausschließlich aus der Sicht ses Verfahrens erinnert stark an die Eröffnungsszene der amerikanischen Truppen gezeigt werden, treten von Robert Altmans Kriegssatire M.A.S.H. (USA in scharfen Kontrast. Szene und Musik enden abrupt 1970), in der man hektische Szenen aus einem mit einem top shot auf zwei tote Soldaten. Kriegshospital im Korea-Krieg sieht – dazu hört man das von Johnny Mandel komponierte Lied Sui- In einigen Kritiken wurde die Szene in Analogie zu cide Is Painless, das von Text und mood her so gar der berühmten Hubschrauberangriffs-Szene aus nicht mit den Bildern harmonieren mag. In der Kol- Francis Ford Coppolas APOCALYPSE NOW (USA 1979) lision von Bildern und Musik wird aber der Aber- gebracht – zu Unrecht. Hier ist es der Wagnersche witz dessen, was später geschehen wird, schon klar Walkürenritt, der von den Offizieren der angreifen- vorbestimmt, der rüde Zynismus, mit dem Altman den US-amerikanischen Truppen als suggestive und das US-Engagement in Vietnam (der historische zugleich fiktionalisierende musikalische Folie eines Krieg in Korea ist nur eine Maske für den 1970 ak- Angriffs eingesetzt wird; der affirmative Charakter tuellen Vietnamkrieg) attackiert, findet seinen ersten der Musik steht ganz im Vordergrund, gerade weil Ausdruck. Auch hier wird der Zuschauer nicht in der diegetische Ton des Krieges – das Geräusch der eine (zumindest partielle) Identifikation mit den Sol- Rotoren, die Explosionen der Raketen, Dialogfetzen daten einer Kriegshandlung verlockt, sondern bleibt der Soldaten, die Schreie der Verwundeten usw. – dem Geschehen gegenüber positioniert [7]. immer der Wagnerschen Musik beigesellt bleibt. Zwar wird der Angriff durch ein Trompetensignal ei- Auch diese Szene macht deutlich, wie stark durch nes Hornisten eingeleitet (den Kavallerie-Einsätzen den Einsatz von Musiken Wissensrepertoire in die im Western verpflichtet; auch der Hut, den der be- Bedeutungsproduktion von Filmen integriert wer- fehligende Offizier trägt, verweist auf diese Genre- den. Sie zeigt aber auch, dass Musik und Szene hier Tradition); und der Anflug der Hubschrauber wird „gegeneinander“ inszeniert werden, in Kontrast oder durch kurze Aufnahmen der Stille unterbrochen, die sogar in Widerspruch zueinander treten. Gerade da- einen Platz im Ziel-Dorf zeigen, Schulkinder, friedli- durch wird die Integration der diversen Informatio- nen erschwert, sie ziehen eigene Aufmerksamkeit Das musikalische Insert – die musikalische Szene auf sich, werden zum eigenen Thema der Interpreta- tion. Meist geht es um die Unvereinbarkeit oder das Musik gehört zum normalen sozialen und kulturellen überraschende Zusammentreten verschiedener Re- Environment der Handlung von Filmen, sie ist fester gister der Aussage – da steht die Postkartenmotivik und integraler Teil der diegetischen Realität. Sakrale der Bilder gegen die Düsternis des Dies Irae oder da und weltliche Feste sind eng mit musikalischen For- steht die bedrückende Ernsthaftigkeit der Kriegsbe- men verbunden. Und dass der gemeinsame Vollzug richterstattung gegen die zu fast akrobatischem Tanz von Musiken ein mächtiges soziales Bindemittel ist, einladenden Surf-Rock-Klänge. In Arthur Penns den Agierenden zudem die Möglichkeit einer spiele- Gangster-Ballade BONNIE AND CLYDE (USA 1967) rischen Interaktion eröffnet, die weit über die norma- wird auf Musik fast ganz verzichtet; einzig die len sozialen Interaktionen hinausgeht, sollte evident Flucht-Episoden, wenn das Paar oder die Bande sein. Die musikalische Nummer ist wie eine Insel in nach einem Überfall entkommen, sind regelmäßig den Ablauf der alltäglichen Routinen eingelassen, von einer sehr schnell gespielten, äußerst fröhlichen darin dem Spiel verwandt. Es sind Feste und religi- bluegrass music (gespielt von Flatt & Scruggs & the öse Veranstaltungen, zu denen sie gehört. Man singt Foggy Mountain Boys) begleitet. Zu Beginn der Ge- Kinder in den Schlaf, manchmal wird zur Arbeit ge- schichte, als die Überfälle noch den Eindruck der sungen, Straßenmusikanten werben um Spenden. Streiche von Jugendlichen machen, macht die Kom- Selbst die dargestellte Konsumsphäre ist mit Musik bination von Verbrechen (in der Geschichte) und („Muzak“) durchsetzt, Kaufhäuser und Bahnhöfe Fröhlichkeit (in der Musik) noch Sinn, unterstreicht sind öffentliche Räume, denen künstliche soundsca- den pubertären und selbstverliebten Modus jener pes aufgelegt werden. Szenen [8]; je weiter sich die Akteure aber in die kri- menelle Karriere verstricken, je mehr Morde sie be- So ubiquitär und unverbindlich musikalische Envi- gangen haben und je mordlustiger die Verfolger auf- ronments heute erscheinen, so sehr können Musiken treten, treten Anlass und Modus der Musik immer und musikalische Vollzüge in der dargestellten Rea- weiter auseinander. Der Eindruck der Burleske, der lität von Filmen zu einem Ausdrucksfeld tiefer ge- sich am Beginn der Geschichte einstellen mochte, sellschaftlicher Konflikte werden ebenso wie zu ei- wird immer mehr mit Untertönen der Bitterkeit nem Mittel, intimste Innerlichkeit zu Gehör zu brin- durchsetzt, die Aktionen verlieren ihren Schwung, gen. Sie kann zu einem eigenen Medium der Vis-à- und je mehr die Figuren verstehen, dass ihnen eine vis-Kommunikation, die die Besonderheit der sozia- Umkehr nicht mehr möglich ist, desto deutlicher zei- len Beziehungen schon in der Tatsache, dass sie mu- gen sie ihren Charakter als Mitglieder des Kleinbür- sikalisch kommuniziert wird, markiert. Usw. Wie gertums. Das Überfallen von Banken war ihnen nur oben schon angedeutet, ist die Frage, von welcher ein spielerisch gemeinter Ausbruchsversuch aus der Art die Musiken sind, die im Film verwendet oder Armut und Perspektivlosigkeit der Depressionszeit. gespielt werden, gegenüber der Frage, in welchen Dass der Film, der den historisch-sozialgeschichtli- Funktionen sie jeweils stehen, nachgeordnet. In ei- chen Hintergrund mehrfach explizit anspricht, aus- ner ersten Durchmusterung könnte man die Unter- gerechnet Tanz- und Unterhaltungsmusiken des Mi- scheidung zwischen lieus benutzt, aus dem die Helden stammen, um den – environmentalen, Charakter der Taten auch affektiv zu unterstreichen, – kommunikativen und qualifiziert die Musiken nicht nur als subjektiv moti- – textuellen Funktionen von Musiken viert (die Figuren tragen diese Stilistik mit), sondern machen. Verlässt man den Rahmen der Textanalyse auch als Hinweis auf die moralische Unbedarftheit und nimmt auch extratextuelle Funktionskreise von der Helden. Gerade darum gehört die Musik zu den Musik und Klang in den Blick, treten ihnen tragenden textsemantischen Bezügen, die den Film – extratextuelle Funktionen (ökonomischer, politi- am Ende in einer völlig unkontrolliert erscheinenden scher und anderer Art) zur Seite. Hinrichtung der beiden Titel-Figuren kulminieren lässt. Der Film endet konsequenterweise mit dem Die Annahme, dass sich die Rezeption ausschließ- Geräusch der Maschinenpistolen und der folgenden lich auf die Konstitution und Ausgestaltung einer Stille; erst mit dem Abspanntitel setzt wieder eine – „möglichen Welt“ richtet, in der die Figuren der getragene und melancholische – Musik ein. Handlung sich bewegen, in der sie wahrnehmen, in der ihre Motivationen angesiedelt sind, wäre eine arge Verkürzung der Integrationsleistungen, die der [10]. Auch die Frage, ob kommentative, kontrapunk- Zuschauer in der Rezeption erbringt. Tatsächlich ist tische oder ironische Beziehungen zwischen Hand- das Diegetisieren ein Kernbereich des Verstehens, lung/Figur/Bild und Musik intradiegetisch aufgebaut der Aufbau der dargestellten Raum- und Zeitverhält- werden können, bleibt zu diskutieren, wenngleich nisse, die Prüfung der Kausalitätsverhältnisse etc. man sich ohne Schwierigkeiten Beispiele vorstellen Zum Diegetisieren gehört auch das Verständnis von kann, die zeigen, dass dieses sehr wohl der Fall sein Enklaven in die Diegese, oft subjektive motivierte kann [11]. Einsprengsel wie Erinnerungen, Visionen, Träume, Phantasien. Aber der Zuschauer steht nicht nur einer Es gibt ein starkes Argument dafür, dass die Diffe- dargestellten Welt gegenüber, sondern einem Text, renz zwischen intra- und extradiegetischer Musik re- einem kommunikativen Geschehen, das nicht nur zeptionsästhetisch von einigem Belang ist – sie ist einen Sachaspekt hat. Klassische Filmmusik ist dem unter Umständen nämlich wahrnehmungsauffällig. Diegetischen meist nicht zuordenbar; kein Zuschau- Wechselt eine Musik den diegetischen Ort, antwortet er glaubt, dass die Musik, die ertönt, wenn ein Cow- der Zuschauer mit einem Lacher (den man wiederum boy durch die Prärie reitet, von einem Orchester im als Hinweis auf ein momentanes reflexives Aha-Er- Handlungsraum gespielt würde. Offenbar kann der lebnis verstehen darf; die Beispiele entstammen dar- Rezipient analytisch mit dem Text umgehen, das um auch fast alle der Komödie). Robert Bentons eine Element dem intentionalen Horizont des „Dar- KRAMER VERSUS KRAMER (KRAMER GEGEN KRAMER, USA stellens“ zuordnen, das andere einem ganz anderen 1979) – Vivaldische Lautenmusik, sie wirkt wie Register des Mitteilens. fröhliche Begleitmusik; als der Held aber die Straße weiter hinuntergeht, erweist sie sich als diegetische Neben die Musik, die in der dargestellten Welt er- Musik, die von zwei Straßenmusikern veranstaltet klingt, tritt also diejenige, die dem Textuellen zuge- wird. In Mel Brooks‘ SILENT MOVIE (USA 1976) fährt hört, die von den Zuschauern, aber nicht von den Fi- ein ganzer Bus, vollbesetzt mit einem mexikani- guren der Handlung wahrgenommen werden kann. schen Orchester, durchs Bild, wiederum die Musik Sie steht ausschließlich in höheren – textuellen und diegetisierend, die man bis dahin als reine Hinter- extratextuellen – Funktionen, reichert das signifika- grundmusik wahrgenommen hatte. Eine Kollusion tive Feld der Texte an. Sie lagert sich die Figuren an, von Überraschungen findet man in Mel Brooks‘ arbeitet sie z.B. in psychologische Tiefe aus; sie BLAZING SADDLES (DER WILDE WILDE WESTEN, USA kommentiert die Handlung; sie gibt Vorverweise; sie 1974) – hier reitet ein schwarzer (!) Cowboy durch bindet das Geschehen an die Sphären der symboli- die Prärie, dazu spielt Jazz-Musik (!), bis man sieht, schen Ordnungen und Institutionen an; usw. In der dass das gesamte Count-Basie-Ensemble in der Prä- Literatur zur Filmmusik gilt die Unterscheidung rie Platz genommen hat (vgl. dazu auch Gorbman zwischen diegetischer und extradiegetischer Musik 2001, 19). Mehrere Schichten von Gags überlagern (der Musik der erzählten Welt und der der Erzäh- einander: lung) [9] als fundamental unterschiedlich – es sei (1) ein Schwarzer in der Prärie (Inkompatibilität mit aber schon hier festgehalten, dass die detaillierte Un- der Standard-Diegese des Westerns); tersuchung zeigt, dass die Differenzen sehr viel klei- (2) Jazz-Musik im Western (Inkompatibilität mit der ner sind, als man zunächst annehmen könnte. Unter üblichen Genremusik); einer funktionalen Perspektive überlagern sich Funk- (3) Diegetisierung einer als nicht-diegetisch vermu- tionen, lassen sich in den verschiedenen Ebenen und teten Musik. Modalitäten des Diegetischen realisieren. Die Frage, Drei Brüche, drei Spannungen, drei Lacher, zu ei- ob eine Musik, die eine spezifische signifikative nem verschmolzen. Leistung erbringen soll, in der erzählten Welt oder als Filmmusik, die dieser Welt parallelisiert oder me- Emons/de la Motte-Haber gehen noch weiter und taisiert ist, erklingt, ist fast immer eine Entschei- sprechen sogar von einer „tendenziellen Austausch- dung, die in der Inszenierung getroffen wird. Es gibt barkeit von aktueller und begleitender Musik“ im einige Beispiele, die die Annahme nahelegen, dass Film allgemeinen (1980, 161). Das lässt sich an vie- es wenige Fälle gibt, die effektiv nur extradiegetisch len Beispielen illustrieren, die eine „schleichende auftreten können – man hat es dann immer mit Öff- Ent-Diegetisierung der Musik“ zu Zwecken der nungen der Erzählung in die Sphäre des Morali- Kontinuisierung der Erzählung oder der Folge von schen, des Politischen oder des Religiösen zu tun Szenen vornehmen. Wenn also ein Cowboy am La- gerfeuer ein Lied zur Gitarre anstimmt, und wenn die bis dahin nur als Statisten auftretenden Perkus- das Lied in die nächste Szene fortgeführt, dabei von sionisten die Hauptfiguren werden – vorbereitet – in einem Orchester begleitet wird, ist der Zuschauer einer Folge von Szenen, die darum irritieren, weil auf der einen Seite irritiert; aber er ist auch nicht irri- sie sich nicht einer dominanten Narration unterord- tiert, weil der Szenenübergang wie eine strukturelle nen, sondern offenbar eine zweite Ebene textueller Pause gesetzt ist – so dass eine Stelle wie die be- Ordnung bedienen, die erst am Ende die Narration schriebene kontinuierliche („Überlappung“) und dis- endgültig zurückgedrängt haben wird. kontinuierliche Elemente („Szenenwechsel“, „Wech- sel der Instrumentierung“) gleichermaßen enthält. Die Differenz des Diegetischen und des Extradiege- Alles gleichzeitig: tischen bedarf weiterer Diskussion, so viel sei hier – Kontinuität, das Lied wird fortgesetzt, festgehalten. Für die folgenden Untersuchungen – Implikation: es ist von allgemeinerer Bedeutung; gehe ich aber davon aus, dass sie nur von sekun- die Instrumentierung wandelt sich, es wechselt der därem Belang ist (ich werde aber den jeweiligen Sta- diegetische Status, tus benennen). Ansonsten gehe ich davon aus, dass – Markierung der Sequenzgrenze. es zum Reichtum, aber auch zur Schwierigkeit funk- Weil derartige Übergänge ein Potential zur Wahrneh- tionaler Analyse gehört, dass Funktionen selten in mungsauffälligkeit haben, können sie auch aus rein Reinform auftreten, sondern meist mit anderen formalen Hintergrundfunktionen „angehoben“ wer- Funktionen durchmischt sind, dass sie einander den; im gegebenen Beispiel wäre das Zusammen überlagern, einander befördern, manchmal aber auch von Szenenübergang und diegetischem Status-Wech- behindern. Mit der Polyfunktionalität der Beispiele sel der Musik eine Bedingung dafür, dass das Lied ist zu rechnen. eine allgemeinere Bedeutung entfalten kann.

Auch jene oben erwähnten Beispiele, in denen sich – Wissensbasiertheit, Ironisierung, Anspielung extradiegetische – Musik an – diegetisches – Ge- räusch anschmiegt, sind auffällig, werden im Wahr- So sehr die bis hier gegebenen Beispiele illustrieren, nehmungsprozess bewusst. Wenn also in DER wie musikalische Einlagen in die semantischen VERLORENE SOHN (Deutschland 1934, Luis Trenker) Strukturen der Texte eingebunden sind, in denen sie während des Hochhausbaus – der Held ist Bergstei- lokalisiert sind, so deutlich ist auch, dass sie auf das ger und hat Arbeit bei den Schweißarbeiten am Em- (musikalische und filmische) Wissen von Zuschau- pire State Building gefunden – sich Hammerschläge ern zurückgreifen. auf Eisen immer mehr mit der Musik mischen, schließlich sogar in Musik übergehen, die den Insbesondere dann, wenn allgemein bekannte Songs Rhythmus der Schläge am Ende ganz dominiert, verwendet werden, spekuliert der Film darauf, dass dann wird dem Geschehen eine musikalische Leich- der Zuschauer den Song und die kulturellen Kontex- tigkeit eingehaucht, die eher das Erleben der Arbeit te, die ihm zugehören, kennt. Daraus kann wiederum als ihre Darstellung betrifft; die lange Sequenz der semantisches Potential geschlagen werden, weil die Einvernahme und Verhaftung der Offiziere der Mili- Bekanntheit des Songs wie eine Einladung zu einem tärdiktatur, die den Mord an einem oppositionellen semiotischen Spiel verwendet werden kann. Wenn Politiker in Auftrag gegeben hatten, ist in Costa- also die junge Frau (Barbara Streisand) den ein we- Gavras' Film Z (Frankreich 1969) fast komplett mit nig weltfremden Musikwissenschaftler (Ryan O‘Ne- einem rasend schnell getrommelten, marschartigen al) dazu anhält, in einer Wohnung auf dem Dach des Musikstück unterlegt, zu dem sich das Geklapper Hotels A Kiss Is Just a Kiss, a Sigh Is Just a Sigh auf der IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine des Protokol- einem zufällig dort herumstehenden Klavier zu spie- lanten zunehmend synchronisiert [12]; oder wenn len, sie selbst singt ein paar Zeilen des Songs – in mehrfach vier Perkussionisten im Hintergrund der Peter Bogdanovichs WHAT‘S UP, DOC? (IS WAS, DOC?, Handlung auftauchen und als Reisbauern oder als USA 1972, ca. 0:49:50-0:51:35) –, dann zitiert das Zimmerleute eine immer dominanter werdende die- Lied das berühmte As Time Goes By aus CASABLANCA getische musical performance realisieren (in (USA 1942, Michael Curtiz) [13], steht hier aller- ZATÔICHI / ZATOICHI, DER BLINDE SAMURAI, Japan 2003, dings nicht als melancholische Markierung einer Er- Takeshi Kitano), dann wird das Finale – eine Büh- innerung, sondern als erste romantische Einfärbung nenshow, in der alle Beteiligten auftreten und in der der Beziehung zwischen den beiden Figuren, nutzt dabei aber genau jene andere affektive Besetzung es bei Hans-Christian Schmidt: „[Musikalische] Zi- des Liedes. Sie nutzen die schon vorliegende Musik tate haben die Eigenschaft, den gesamten inhaltli- als Spiegel und als Modell der Beziehung, die sie chen Kontext, aus dem sie entstammen, augenblick- eingehen werden. lich mitzutransportieren“ (1988, 416). Sicherlich können aber auch rein strukturelle Ähnlichkeiten Wicke spricht einmal von „typisierten emotionalen von Filmmusiken mit älteren Musiken eine „Be- Situation“, die durch Lieder bezeichnet würden (Wi- schriftung“ vornehmen; wenn etwa der DDR-Wes- cke 2001, 78), die zur Verwaltung des Gefühlshaus- tern SEVERINO (DDR 1978, Claus Dobberke) eindeu- haltes dienten. Es hängt genau mit der Tatsache zu- tig in die Reihe der großen Italo-Western eingereiht sammen, dass musikalische Titel wie insbesondere wird, so hängt diese Genre-Selektion nicht nur stilis- Lieder als Affekt-Erinnerungen dienen, dass sie in tisch mit der Zeitdramaturgie, der Präsenz von De- Alltag, Drama und Film manchmal dramatische oder tailaufnahmen und ähnlichem zusammen, sondern sentimentalische Konstellationen aufrufen können, vor allem mit der eindeutigen Anspielung auf Instru- die wiederum zur neuen Hervorbringung einer ver- mentierung und Melodieführung der Italo-Musiken gleichbaren Konstellation dienen. Das neue Paar von Ennio Morricone (die Musik zu dem Film wur- spiegelt sich in einer Musik, die in einer anderen Ge- de von Günther Fischer komponiert). schichte über anderes Paar einmal dazu gedient hat- te, die Emotionalität dieser älteren Beziehung auszu- Insofern spielt das Zitat eine Sonderrolle, weil es als drücken. Natürlich ist das neue Paar keine Wieder- Fremdkörper meist klar identifizierbar ist. Weil nun holung des älteren Paares; aber es schlüpft in die Zitate – sofern sie erkannt werden – eine Art von Maske der Musik, um die neue Beziehung zu inten- Einschluss in den musikalischen und akustischen sivieren, die ältere Affektaufladung zur Ausgestal- Rahmen des Films bilden (so, wie manchmal Insek- tung der eigenen Beziehung zu nutzen. Man kann ten als Einschlüsse in Bernstein-Stücken deren be- symbiotische Beziehungen zum kulturellen und indi- sonderen ästhetischen Reiz ausmachen), unterbre- viduellen Gedächtnis von Musiken eingehen, soll chen sie für einen Moment den Fluss der „dichten das heißen. Die Differenz bleibt erhalten; darum ist Imagination“, ziehen eigene Aufmerksamkeit auf dieses Spiel mit Masken und Verkleidungen oft iro- sich und sind Anlass für eine doppelte rezeptive Ar- nisch (aber nicht immer). beit: Der Lust des Wiedererkennens korrespondiert ein Aufwand, das Wiedererkannte und das diegeti- Es macht einen Unterschied, ob die Figuren selbst schen Universum des gerade gesehenen Films Nicht- die Musik bestimmen oder ob die Instanz des Erzäh- Zugehörige mit der Erzählung zu verbinden, eine lers die Musik zuordnet. Wählen sie selbst die Musi- Verschmelzung herzustellen. ken aus, lässt sich die Wahl mit der Charakteristik der Figur verbinden. Die Musik bietet dann eine ih- Ich habe im Zusammenhang mit Problemen der Fi- rer Ausdrucksflächen, macht sie kenntlich als Mit- gurenanalyse an anderer Stelle mit der Metapher des glied einer Geschmackskultur, deutet auf ihre senti- Amalgamierens gearbeitet. Grundlegend war dort die mentalen Fähigkeiten hin usw. Wird die Musik dage- Annahme, dass das Wissen des Zuschauers eine gen unabhängig von der Figur eingesetzt, steht sie Agentur darstelle, in der das schon vorhandene Wis- eindeutig in textuellen Funktionen, sei es, dass sie sen mit der neu hinzutretenden Information vermit- einer Szene ein Gefühlsprofil (ein mood) unterlegen, telt werde. Eine Figur etwa, die auf die Charakteri- sei es, dass sie die Szene – ironisch, zynisch, augen- sierung anderer Figuren verweist und deren Charak- zwinkernd – aufrauhen soll. teristika wiederverwendet, nutzt jene anderen Figu- ren, um eigene Bedeutungen zu kreieren. Das glei- Während ich hier von einer Doppelverankerung der che gilt auch für den rezeptiven Umgang mit zitier- Affekt-Erinnerung im allgemeinen kulturellen und ter Musik – auch hier geht es darum, aus dem Vorge- im individuellen Gedächtnis ausgehe, nimmt die fundenen eine eigene synthetische Einheit zu erzeu- These der semantischen Beschriftung [14] die Kop- gen, die den aktuellen Kontext mit dem eher diffu- pelung von musikalischer Phrase oder musikali- sen semantischen Horizontwissen, das dem Zitierten schem Stück mit letztlich szenisch motivierter Be- zugehört, vermittelt und vereinigt. Wenn also in ei- deutung als Teil des kulturellen Wissenssystems. Die nem James-Bond-Film (THE SPY WHO LOVED ME / These ist vor allem an den Beschreibungen des Zi- DER SPION, DER MICH LIEBTE, Großbritannien 1977, Le- tats in der Filmmusik entwickelt worden. Dazu heißt wis Gilbert) in einer Wüstenszene das Kern- und Kennmotiv von LAWRENCE OF ARABIA (LAWRENCE VON Man könnte meinen, es handele sich nur um Zusatz- ARABIEN, Großbritannien 1962, David Lean) als kur- Bedeutungen, die im Verstehen von Figuren und mu- zes Einsprengesel in der normalen Filmmusik, die sikalischen Phrasen hinzutreten können (aber nicht der Szene unterlegt ist, auftaucht, entsteht für den müssen). So, wie Chiffren Zeichen einer Geheim- wissenden und also erkennenden Zuschauer eine schrift sind, sind sie nur Eingeweihten zugänglich. momentane Lücke in der Szenenimagination, ein In- Darum auch ist die Rede von „semantischer Be- nehalten, das die Szene selbst am Ende ironisiert, schriftung“ plausibel. Der Zeichencharakter weist das aber eine eigene Rezeptionslust bereiten kann, auf die Verwendungsgeschichte des jeweiligen musi- weil es den Zuschauer einer gewissen intimen kalischen Stücks zurück, macht sie so zu einem Zei- Kenntnis derartiger Szenen versichert. chen der Populärkultur, die aus dem permanenten Wiedergebrauch derartiger Zeichenkörper eine im- Für eine Beschreibung der semantischen Prozesse, in mer diffuse, auf Kontext- und Szenenerinnerung ba- die Filmmusik notwendigerweise eingebunden ist, sierende Bedeutung gewinnt. Es ist ein Horizont der ist die Tatsache, dass gewisse prägnante musikali- Verwendungskontexte von Musiken, der aktiviert sche Formeln und Stücke in einem jeweiligen Kon- werden kann, ein Wissen über die pragmasemioti- text mit „szenischer Bedeutung“ aufgeladen werden, schen Konditionen und Fälle, in denen die Phrase ausgesprochen wichtig. Hans-Christian Schmidt gemeinhin aufgetreten ist. macht auf eine Implikation aufmerksam, die für die musikalische Analyse ausgesprochen zentral ist: Wenn man allerdings die Rede von Chiffren ernst „Die Sondermeldungen über den Russlandfeldzug nimmt, eröffnet sich ein anderes Problem – es sind im sogenannten ‚Dritten Reich‘ verwendeten die he- nicht nur Zusatzbedeutungen, die sich ausschließlich roischen Schlusstakte aus Les Préludes von Franz dem Connaisseur erschließen, sondern sie bilden Liszt. Sofern eben diese Takte in einem Film von einen Kern der Bedeutungs-Konstitution überhaupt. heute zitiert werden, entsteht eine doppelte Assozia- Gemeinhin werden Wörter und Phrasen als Chiffren tion: Assoziiert wird zum einen der Liszt’sche Hel- bezeichnet, die als verrätselnde Symbole in einem denmythos, assoziiert wird zum anderen eine kriege- Text verwendet werden, ihn so in einen Zusammen- rische Nazi-Attitüde“ (1988, 416) – und es ist durch- hang mit meist komplexen Bedeutungen bringend. aus zweifelhaft, ob die Schlusstakte diese historische Dann ist der allusive Charakter der Zeichenverwen- Kontextualisierung jemals wieder loswerden. Derar- dung nicht nur ein Spiel mit fakultativen Bedeu- tige Bedeutungen sind assoziativ; sie basieren nicht tungshorizonten, sondern zielt auf den semantischen auf einem symbolischen Zeichenverhältnis wie die Kern des Was und Wie des Ausgesagten [15]. Zeichen einer Sprache, sondern sind indikativisch miteinander korreliert. Sie sind insofern wissensba- Wenn man also in DAS WIRTSHAUS IM SPESSART (BRD siert, funktionieren als musikalische Formeln oder 1958, Kurt Hoffmann) zwei Banditen sieht, die in ei- Stücke auch dann, wenn der assoziierte Horizont ner slapstickartig übertreibenden Aktion in einen nicht aktiviert werden kann. Schuppen hineinstürmen, und dazu das „Auf in den Kampf“-Motiv aus der Bizet-Oper Carmen hört, Figuren ebenso wie Musiken, die sich dieser signifi- dann gilt es, auch in der Handlungs-Musik-Koordi- kativen Technik bedienen, sind nicht allein aus dem nation die groteske Differenz zwischen Anlass und Text zu konturieren, in dem sie auftreten. Kann der musikalisch ausgedrücktem (emotionalem) Aufwand Zuschauer zu identifizieren. Man darf davon ausgehen, dass dem zeitgenössischen Publikum das Opern-Stück die Rückverweisungen nicht auflösen, kann er das Ge- ausreichend bekannt gewesen sein dürfte (auch flecht der Bedeutungen nicht hervorbringen, das die wenn man die Oper selbst nicht kannte), dass man – Figur anbietet, usw. Das ‚Wissen‘ ist [so] zuerst eine den stürmischen Charakter der Musik einberechnend funktionale Größe, das die indexikalischen Züge der Figur lesbar und auflösbar macht. M.a.W.: Indexikali- – die inneren Widersprüche der Szene also ent- tät als vorrangiger Bedeutungsmodus populärer Kul- schlüsseln konnte. Der Charakter der Slapstickiade, tur steht in einem nicht endenden Zirkel wechselseiti- die man der kleinen Szene zuschreiben möchte, re- ger Erklärung. Man kann die semiotischen Leistungen sultiert so nicht nur aus dem mode of acting der [einer solchen Figur] nicht verstehen, wenn man sie Handelnden, sondern auch aus dem übertreibenden nicht in einem Prozess [...] untersucht (Wulff 1997/2010). Gestus der Musik – so könnte man zumindest auf ei- ner ersten Ebene sagen; tritt allerdings das Wissen um den (zumindest latent) heroischen Modus der Für den Zuschauer ist die Strategie durchsichtig, mit Quelle (Carmen) dazu, vertieft sich der Eindruck des der Reiner hier das Verhältnis der beiden Männer zu Ironischen – es entfaltet sich die sonst kaum zugäng- ihrem Projekt darstellt – weil er vom Charakter des liche Ebene einer Kritik der Darstellungsmodi: Dies Songs als Party-Mitsing-Musik weiß und weil er ist Komödie und auf jeden Fall abzusetzen gegen die verstehen kann, dass die beiden Helden emotional Ernsthaftigkeit der Oper! und epistemologisch bei sich, aber nicht in Afrika sind. Ein ganz anderes Beispiel für eine hoch-ironische Verwendung entstammt der Alten-Screwball-Come- Schon einige der oben beschriebenen Beispiele deu- dy THE BUCKET LIST (DAS BESTE KOMMT ZUM SCHLUSS; ten darauf hin, dass die Musikszenen auffallend oft USA 2007, Rob Reiner): Zwei betagte Männer, bei- reflexiv gesetzt sind. Nur bei oberflächlicher Be- de krebskrank, im Krankenhaus. Der eine ist reich, trachtung ergeben sie sich organisch aus der Hand- der andere arm. An eine Heilung ist nicht zu denken. lung. Genauere Betrachtung zeigt, dass sie dramatur- Sie stellen eine Liste der Dinge zusammen, die sie gisch angesteuert werden, Bereiche und Register des vor ihrem Tode noch tun wollen, die sie nie realisiert Wissens in die Geschichten integrierend, die sie für haben oder nie realisieren konnten. Dazu rechnet eine kurze Phase „fragilisieren“, durchlässig ma- auch die Großwildjagd. Die beiden beginnen, die chen, mit einem umfassenderen Horizont von Ver- Liste abzuarbeiten, gelangen dabei auch in die Se- stehen, Genießen und Wertschätzen kurzschließen. rengeti. Der eine will einen Löwen schießen, der an- Ein Beispiel, das sich sofort aufdrängt, stammt aus dere hindert ihn daran. Sie fahren in der Steppe her- dem Film PRETTY WOMAN (USA 1990, Garry Mars- um und brüllen laut The Lion Sleeps Tonight in die hall): Der Held entführt die Frau, die er auf der Stra- Landschaft hinaus. Das Lied wird als Song-Score ße als Prostituierte als Tagesbegleitung engagiert fortgeführt und unterliegt dann einer kleinen Folge hatte, in eine Aufführung der Verdischen Traviata – von Postkartenbildern, die die afrikanische Land- und als sie zu weinen beginnt, zeigt sie ihre wahre schaft zeigen. Zwar ist der Song, der 1939 zuerst als Klassenhaltung, eine Empfindsamkeit, die unter der Mbube (der Zulu-Ausdruck für "Löwe") von seinem Schnoddrigkeit und abweisenden Unverbindlichkeit Komponisten und Texter Solomon Linda mit seiner der Huren-Verhaltensweisen nur geschlummert hat- Gruppe The Evening Birds eingespielt wurde und te. Wir sehen in einer summary sequence die Auffüh- seitdem eine nicht enden wollende Kette von Neu- rung von Beginn an, dazu erklingt ein (mehr oder einspielungen gehabt hat [16], ursprünglich mit den weniger flüssiger) Medley einiger Kernszenen der Wissenshorizonten von „Afrika“ verbunden. Aber er Oper; wir sehen vor allem, wie sich die Heldin im- ist heute keine Musik, die als afrika-typische Musik mer mehr auf das Stück und die Musik einlässt, und den Handlungsort anzeigen könnte. Vielmehr han- ihre Tränen am Ende beweisen, dass sie den „Her- delt es sich um ein Evergreen, das zum Allgemein- zenstest“ bestanden hat (vgl. Mikos 1993, 77, 79). bestand von Tanz-Musiken gerechnet werden muss. Der Film instantiiert auch das Motiv der „selbstlosen Der Afrika-Bezug kann höchstens künstlich herge- Kurtisane“, wie es in Alexandre Dumas‘ Kamelien- stellt werden, in einer parodistischen Manier. Genau dame (1848), die wiederum die Grundlage für La hieraus bezieht die kleine Sequenz in THE BUCKET Traviata (1853) bildete, nahezu prototypisch ausge- LIST ihre semantische Energie. Die beiden Männer führt war; die Oper dramatisiert zudem eine Figuren- sind nie in Afrika angekommen, sondern bewegen konstellation, die der in PRETTY WOMAN entspricht, sich durch ein touristisch-imaginäres Terrain, ein sie allerdings zu einem tragisch-rührseligen Ende Wissens-Afrika statt durch ein Real-Afrika. Sie blei- führt. Für den Zuschauer treten hier mehrere Ebenen ben Fremde, was durchaus der Geschichte des Films nebeneinander: entspricht – denn auch hier geht es um eine „Reise – die narrative Funktion der „Empfindsamkeitspro- nach innen“, um eine Rückbesinnung auf Werte, die be“, der die Heldin unterworfen wird; in der letzten Phase des Lebens zentral werden kön- – die Parallelität der Figurenbeziehungen in der nen. Der Afrika-Ausflug erweist sich so als Männer- Opern- und der Filmhandlung; Urlaub, der die Gemeinschaft der Männer feiert und – der scharfe Kontrast zwischen beiden. an den Orten, die sie besuchen, eigentlich uninteres- Nun ist die Handlung der Oper im Film nicht ausge- siert ist. führt, lässt sich nur aus der Abfolge der Musikfrag- mente des Medleys ableiten. Der Charakter der Pro- be ist aus dem Gang der Handlung ableitbar. Die Szenenauflösung unterstützt ihn dabei: Immer mehr begegnet sind, am Festival-Geschehen teil, sondern rückt die Heldin in den Mittelpunkt des Bildes, ist der eine als dreifacher Doktor und die andere als am Ende in einer Großaufnahme zu sehen; ein Um- junge Adelige. Die fremden Filmeinlagen wirken in schnitt zeigt den Mann neben ihr, der aber nicht dem Spiel der Wirrungen und Verwechslungen wie mehr das Bühnengeschehen, sondern die Tränen der Orte, an denen die Maskeraden aufgehoben erschei- Frau neben sich beobachtet. Worum es hier geht, ist nen. Auch wenn die Umschnitte auf die Zuschauer in darum auf der szenischen Ebene immer klar. Der Zu- diesem Zusammenhang die mit den Festspielen so schauer allerdings, der die intertextuellen Beziehun- eng verbundene Kunstbeflissenheit ausstellen, ma- gen zwischen La Traviata und PRETTY WOMAN qua chen sie darüber hinaus deutlich, dass sowohl Georg Wissen weiter entfalten kann, erobert sich ein Feld wie Konstanze hier „zu Hause“ sind, sich authen- von Zusatzgratifikationen und erweitert sich das Be- tisch benehmen können, ihre Rolle im bürgerlichen deutungsfeld des Films weit über die reine Ge- Ritual der Konzertveranstaltung beherrschen. Dabei schichte hinaus. ist die Hermetik der Aufführungen filmisch durch- brochen: Denn man sieht im einen wie im anderen In der romantischen Komödie SALZBURGER GESCHICH- Falle, dass die Zuhörenden in eine Art von Tagtraum TEN (BRD 1957, Kurt Hoffmann) nach dem Roman hineingeraten, in denen sie – in an den Rändern un- Der kleine Grenzverkehr oder Georg und die Zwi- scharfen, überbelichteten Großaufnahmen – den je- schenfälle von Erich Kästner [17] gehen die beiden weils anderen imaginieren; die Musiken werden Partner, die einander nur unter falschem Namen und über diese Bildstrecken abgeblendet und für die falscher Identität kennen, unabhängig voneinander Dauer der Vision durch eine seichte und süßliche in Musikveranstaltungen der Festspiele. Georg, der Spieluhrmelodie abgelöst. Nach dem Erwachen aus männliche Part des finalen Paars, ist von seinem dem Halbtraum ist ein extremer Zeitsprung markiert. Freund, einem Maler, begleitet, als sie Don Giovan- So leistet die Doppelszene ein Mehrfaches: sie zeigt ni betrachten (0:48:00); Konstanze, sein weibliches den eigentlichen sozialen Ort und Habitus der Betei- Pendant, hatte von ihrem Vater zwei Karten zu einer ligten; und sie zeigt gleichzeitig, wie sehr das Ver- Aufführung des New York City Ballets „George Ba- liebtsein Löcher in die dichte soziale Atmosphäre lanchine“ geschenkt bekommen, die zur Entste- des Festivals gezogen hat, so dass die Figuren deren hungszeit des Films tatsächlich ein Mozart-Diverti- formaler Kontrolliertheit eine subjektiv getragene mento chroreographiert hatten; sie wird von ihrem Phantasie entgegensetzen. Spätest an dieser Stelle ist Bruder begleitet (0:51:00). Sowohl bei der Auffüh- klar, dass sich das Paar am Ende finden wird. rung des Konzerts wie bei dem des Balletts handelt es sich um Fremdaufnahmen [18], Importe in den Film. Zwar gelingt die Illusion, dass die beiden Charakterisierung der Environments Männer resp. die Geschwister tatsächlich Zuschauer gewesen sind, doch basiert dieses auf der radikalen Doch sei zu den elementaren Funktionskreisen von Positionierung der Zuschauerrolle im Gegenüber des Filmmusik zurückgekehrt. Das Environmentale Bühnengeschehens; der Ort der Kamera adaptiert bleibt fast immer hintergründig. Allerdings gibt den Ort des Life-Zuschauers – also kann man auch manche Musik Aufschluss über die Lokalität der in einer täuschenden Montage einen Umschnitt auf Handlung (in einer arabischen Welt erklingen auch Figuren der Handlung machen, die genau jene Posi- andere Klänge und Harmonien als in einer Geschich- tion einnehmen, die sonst der Betrachter des Mit- te, die in Russland oder auf Tahiti spielt), manchmal schnitts resp. der Bühnenverfilmung eingenommen auch über die historische Zeit der Handlung (das hätte. Frankreich der Revolutionszeit hört sich anders an als das der Zwanziger Jahre). Natürlich wird auch Beide Aufführungen bilden so also nicht nur „In- das Subkulturelle oder die soziale Klasse musika- seln“ im Fortgang der Geschichte, als sie explizit mit lisch manifestiert (die Welt der Hippies ist auch mu- den Salzburger Festspielen zu tun haben und an öf- sikalisch anders als die des Großbürgertums). Es fentlichen Orten der Hochkultur handeln, sondern handelt sich immer um die Indikation der sozialen, weil sie auch musikalisch, stilistisch und narrativ aus regionalen und historischen Welten, in denen eine dem Kontext herausfallen. Sowohl Georg wie Kon- Geschichte spielt. Natürlich ist der Umgang mit die- stanze nehmen nicht in der Maske als armer Wande- ser Funktion wissensbasiert und greift zurück auf rer oder als Stubenmädchen, in denen sie einander den erworbenen Wissenszusammenhang, variiert darum auch in Abhängigkeit von der jeweils indivi- in denen Singen und Musizieren die Folie für Inter- duellen Lerngeschichte. Die verschiedenen Dimen- aktionen abgeben. Und weil die Rollen- und Macht- sionen sind miteinander kombiniert, so dass höchst verhältnisse der Alltagswelt im Spiel aufgehoben differenzierte Mischungen entstehen können. In An- werden können (nicht müssen!), können auch „musi- lehnung an die Arbeiten Murray Schaefers kann man kalische Nummern“ als Gegenentwürfe gegen for- von soundscapes sprechen – von „akustischen Land- malisierte soziale Beziehungen erscheinen. Wenn schaften“, die ihre jeweils besondere innere Kontur also in HOUSE CALLS (HAUSBESUCHE, USA 1978, Ho- haben und die in der Rezeption mehr oder weniger ward Zieff) während eines Restaurantbesuchs des perfekt entschlüsselt-erschlossen werden müssen. Helden (gespielt on Walter Matthau) eine italieni- Die Gestaltung der environmentalen Qualitäten von sche Combo zu spielen und ein italienischer Restau- Musik und Geräusch ist Aufgabe des Sound-Designs rant-Besitzer zu singen beginnt, und wenn die Ka- und dient zur akustischen Grundierung von Ge- mera ihm folgt, bis er an Matthaus Tisch kommt, der schichten. seinerseits einstimmt und zusammen mit dem Italie- ner die Arie beendet (ca. 1:05), dann leistet die klei- Natürlich ist all dieses nicht zu lösen von der „inne- ne, nur wenige Sekunden einnehmende Szene gleich ren Soziologie“ der Filme. Und natürlich kommen mehreres: Musiken im Film auch nicht umhin, Funktionen der – Sie zeigt ein Restaurant an, in dem der Besitzer Repräsentation wie in der äußeren Welt der Zu- italianità als Musikkultur inszeniert und zelebriert; schauer zu übernehmen: Keine große soziale Institu- – sie deutet auf einen Helden hin, der sich in der tion in der Realität verzichtet darauf, auch musika- Welt der italienischen Volkslieder und populären lisch in Erscheinung zu treten und sich in musika- Opernarien bestens auskennt, dass er darüber hinaus lisch unterstützten Ritualen und Liturgien öffentlich ein Gourmet und ein genussorientierter Mann ist; darzustellen. Die Staatsmacht feiert sich in Paraden – sie deutet auch darauf hin, dass der Held Stamm- und Aufmärschen, in Staatsempfängen und Feier- kunde ist und sich auf eine kumpelhafte Art bestens Veranstaltungen, findet sich noch in den verschie- mit dem Italiener versteht. densten Anlässen, zu denen die Nationalhymne ge- Es sind eher beiläufige Informationen, die man aus sungen wird. Die Gewerkschaften haben ebenso ihre der kleinen Szene ableiten kann – betreffend das Mi- eigenen Lieder und Musiken wie die Kirchen ihre lieu, den Aktionsmodus, in dem die Figuren (resp. Veranstaltungsformen (wie Messen und Gottesdiens- die Hauptfigur) handeln, und damit ein Hinweis auf te) und musikalische Gattungen (wie Kirchenlieder die atmosphärische Tönung des Alltagslebens, eine und Choräle), die eindeutig auf den gesellschaftli- minimale alltagsweltliche Vorgeschichte des Restau- chen Anspruch der Institution verweisen, dabei dem rantbesuchs selbst. moralischen und ideologischen Zusammenhalt des Kollektivs Ausdruck verleihend. Das Repräsentative und Stellvertretende kann ganze Veranstaltungen de- Relative Eigenständigkeiten finieren (wie die Zelebrierung einer Messe für die Opfer eines Amoklaufs), es kann aber auch nur de- Manchmal ermöglicht die Musik eine Konzentrie- ren Teil sein (wie das Singen der Nationalhymne bei rung des narrativ wichtigen Inhalts. Manchmal aber Fußballspielen). Filme adaptieren diese Ausdrucks- fokussiert sie aber den allgemeineren Hintergrund formen des Institutionellen, nutzen sie, um die inne- der Geschichte. Das Atmosphärische wird dann do- re Verfasstheit ihrer diegetischen Gesellschaftsfor- minant, ein affektiver Modus tritt in den Vorder- men zu zeigen. Und oft sind gerade diese Aus- grund, der sich aus dem Zusammen einer minimalis- drucksformen ein Mittel, Bezüge zur historischen tischen Inszenierung, der Reduktion des Narrativen und politischen Realität herzustellen, weil sie reale und der affektlenkenden oder zumindest die Affek- Ausdrucksformen dazu nutzen, um fiktionale Welten trichtung anzeigenden Musik errechnet werden zu inszenieren [19]. kann. Ein einfaches, sehr dichtes Beispiel entstammt Alan J. Pakulas Paranoia-Thriller A PARALLAX VIEW Das Musikalische ist aber auch ein Kommunikati- (USA 1974): Nachdem er ersten Hinweisen auf den onsmittel, das die Figuren von Filmen, die ja ihrer- inneren Zusammenhang der Tode einer ganzen Rei- seits „soziale Wesen“ der filmischen Welt sind, auf he von Zeugen eines Attentats, mit dem der Film be- einem mikrosoziologischen Niveau einsetzen kön- gann, äußerst misstrauisch begegnet war, geht der nen. Im Film sind es manchmal „Beziehungsspiele“, Journalist Fraly etwa nach der Hälfte des Films auf die Suche nach Überlebenden. Es kommt zu einem Modus der Erzählung selbst, ist es in der schon er- Zusammentreffen mit Tucker, einem der Zeugen, auf wähnten Hubschrauberszene in Francis Ford Coppo- den schon mehrfach Mordanschläge verübt wurden las APOCALYPSE NOW (1979) ein Hinweis auf eine tiefe und der abgetaucht war. Zum Gespräch fahren Tu- Subjektivisierung, die die Erfahrung des Vietnam- cker und Fraly auf einem Segelboot aufs Meer hin- kriegs irrealisiert hat. Wenn die Hubschrauber im aus, begleitet vom Leibwächter Tuckers. Mit der ohrenbetäubenden Lautsprecherlärm des Wagner- Ausfahrt des Bootes (0:42:00) setzt eine ruhige Mu- schen Walkürenritts ihren Angriff auf ein friedliches sik ein, wie sie Szenen unterlegt ist, in denen nichts vietnamesisches Dorf fliegen, wird etwas spürbar geschieht, in denen man wartet (oder in denen man von dem aberwitzigen Aktionismus der amerikani- gewiss ist, dass es eine latente Bedrohung gibt, die schen Soldaten, von einer rauschartigen Durchset- in die Szene einbrechen wird). Man sieht das Boot zung der kriegerischen Aktion und einer zwischen bei der Ausfahrt aus dem Hafen, es ist strahlend- Hass, Zynismus und Verzweiflung schwankenden schönes Wetter. Der Leibwächter steht an der Pinne, Selbstmodulation der Stimmung. Aber die Verbin- Tucker gießt sich Whisky ein und trinkt. Er macht dung von Wagner-Musik mit dem Hubschrauberan- Fraly auf das Photo eines Beteiligten an dem damali- griff korrespondiert einer tiefer liegenden Behaup- gen Attentat aufmerksam. Offenbar vergeht der gan- tung über den Zusammenhang des Einsatzes mit ei- ze Nachmittag, als das Boot am Ende wieder Kurs nem selbstinszenierten rauschhaften Erleben dessel- auf die Hafeneinfahrt nimmt – und explodiert ben; andere strukturell-semantische Effekte treten (0:44:30). Fraly kann nur überleben, weil er sich – dazu – vor allem folgt die Musik einer umgreifenden zufällig – am Bug des Schiffes befand. Mit der Ex- Subjektivisierung der Geschehensdarstellung: Der plosion verstummt die Musik. Vietnam-Krieg erscheint als ein militärisch-musika- lisch-rauschhaftes Syndrom – davon handelte schon So sehr die Szene den Eindruck großer atmosphäri- der Titel, die lange Sequenz zu Beginn, der der scher Dichte macht, sind ihre narrativen Funktionen Doors-Song The End unterliegt, davon handeln viele minimal – sie rekapituliert den Stand (Tucker mur- weitere Szenen des Films. Der Hubschrauber-An- melt noch einmal die Namen der bislang Ermordeten griff ist ohne Zweifel eine „musikalische Szene“ – vor sich hin), und sie öffnet die Suche Fralys durch ein eigenständiges „Insert“ ist er aber nicht. das Bild, das Tucker ihm zeigte. Dominant wird das Atmosphärische und mit ihm die Musik. Ihr minima- Von großer atmosphärischer Bedeutung ist auch das listischer Gestus, wenige Grundakkorde, auf die eine Lied I‘s Rather Have the Blues, der gleich zweimal kaum erkennbare Melodiestimme aufgesetzt ist, de- in Robert Aldrichs Film KISS ME DEADLY (RATTEN- ren Töne so unregelmäßig sind wie der Aufschlag NEST, USA 1955) ertönt – zu Beginn des Films, wäh- von Regentropfen auf eine Wasserfläche, sowie ihr rend die Titel erscheinen, ist es eine Interpretation konventioneller Einsatz als Verzögerungs- oder War- von Nat King Cole, die im Radio erklingt; die zweite tenmusik vor einem anstehenden Ereignis geben Fassung ertönt erst kurz vor Ende des Films dem minimalistischen Geschehen dennoch eine klare (1:07:00), quasi als Übergang in die Phase des Affektorientierung, die die endliche Explosion eben- Show-Downs, und wird nun von einer schwarzen so erwartbar wie plausibel macht. Die formale Ei- Sängerin im Nachtclub dargeboten (gespielt von genständigkeit der Szene (als Fahrt aus dem und in Mady Comfort; die Stimme gab die Sängerin Kitty den Hafen zudem noch zeitlich und direktional ge- White dazu [21]). Nicht nur der Text des Liedes rahmt) ist auffällig. Aber sie bleibt dem Narrativen [22], der von Frank DeVol geschrieben wurde, son- verhaftet, bedient eine narrativ wichtige Information dern auch der schleppende, zwischen Laszivität und – und sie ist bei aller Geschlossenheit kein Insert, Klage schwebende Vortrag schwingt sich in die apo- das eine Ruhephase der Erzählung darstellte [20]. kalyptisch wirkende Adaption von Mickey Spillanes düsterem Klassiker ein, ihn zu einer fast nihilisti- So, wie sich in der beschriebenen Szene der paranoi- schen Vision der frühen 1950er machend. Das Lied de Modus der Erzählung manifestiert und die Unaus- und seine Interpretation ist hier am Ende als präg- weichlichkeit des Geschehens ebenso unterstrichen nanter Ausdruck der Stimmung der Erzählung und wird wie die Handlungsohnmacht der Figuren, kön- der unterschwelligen Resignation der Figuren ganz nen auch in anderen Fällen die Musiken die Modali- zentral. Es schafft Raum, die Verzweiflung der tät des Erlebens, denen die Figuren unterworfen Hauptfigur Mike Hammer nach dem Tod des besten sind, kondensieren. Ist es in THE PARALLAX VIEW der Freundes spürbar zu machen, scheint ein emotionale Grundierung leistendes Einsprengsel in die Ge- 1:18:00 bis 1:20:00): Der undercover ermittelnde schichte zu sein – aber sie wird am Ende, wenn der Kommissar ist mit einer drogenabhängigen Frau in Barkeeper den Helden verständigt, dass man die Se- einer Bar angekommen, in der „Haschisch geraucht“ kretärin und Freundin Hammers entführt habe, wie- wird; in dem Club sind fast nur Schwarze; zwar der vollständig in den Fortgang der Geschichte ein- spielt ein unsichtbarer Gitarrenspieler, doch wird bezogen: eine Atempause und eine dramaturgisch weder getanzt noch miteinander gesprochen; die wichtige Retardation der Handlung, zudem ein mar- Frau verlässt den Kommissar, drängt sich an einen kanter Hinweis auf die Affektlage der Erzählung, schwarzen Tänzer heran, der mit nacktem Oberkör- werden wieder mit der Narration verbunden. per in der Mitte der anderen tanzt. Die Szene ist scharf gegen den Kontext abgesetzt: Dass einzelne Szenen aus dem Fluss der Erzählung – durch die Akteure – der ethnische Kontrast könnte auch musikalisch herausgehoben werden, weil sie kaum deutlicher sein; einen eigenen modalen Status haben, ist vermutlich – durch die Kommunikationslosigkeit der Anwesen- eine der grundlegendsten Funktionen, in denen vor den – nur in dieser Szene tritt der Film in die Reali- allem in sich geschlossene Songs – die dem Publi- tät der Drogenabhängigen ein; kum zudem ganz unabhängig von dem jeweiligen – durch den Modus der Sexualität – nur hier ist das Film bekannt sind – eingesetzt werden. Ein beliebi- Körperliche ganz zentriert (die Kamera unterstützt ges Beispiel ist eine Szene aus Tom Tykwers LOLA die Verlagerung des situativen Themas durch Auf- RENNT (BRD 1998): Lola und Manni, die beiden Hel- nahmen auf die Hüften des schwarzen Tänzers, so den, flüchten am Ende der ersten Variation der Ge- dass man die latente Sexualisierung der Szene in sei- schichte, nachdem sie einen Supermarkt überfallen nen anzüglichen Hüftbewegungen auch visuell klar haben, mit der Beute und immer noch bewaffnet auf zentriert hat); die Straße. Dort wartet jedoch bereits die Polizei auf – und durch den Modus der Musik. sie – Lola wird erschossen. Die Szene fällt aus dem Zwar ist in zahlreichen Szenen des Films ein mode- Kontext des Films vollständig heraus, der fast immer rater Bar-Jazz zu vernehmen (als oft sogar visuell von Techno oder elektronischer Musik begleitet ausgewiesene diegetische Musik); doch hier wird wird, die das Tempo des Films unterstreicht. Die das Melodiöse zugunsten einer endlos-ostinaten Gi- Fluchtszene ist in Zeitlupe gefilmt, was sie bereits ir- tarrenlinie aufgegeben, zu der sich am Ende der Sze- realisiert und emphatisiert; dazu ertönt Dinah Wa- ne noch eine unsichtbare Perkussionsgruppe mischt, shingtons Soul-Hit What a Difference a Day Makes die die Gitarre durch ein dunkles rhythmisches So- (eingespielt 1972, als Album aber erst 2006 veröf- undscape überlagert und den Eindruck der endlos fentlicht; das Lied selbst basiert auf dem populären geschlagenen afrikanischen Trancemusik-Trommeln mexikanischen Bolero Cuando Vuelva a Tu Lado aus macht. Auch im Musikalischen schlägt der Film in dem Jahre 1934). In dieser Kombination „Zeitlupe dieser Szene klar rassistische Züge an (komponiert plus Soul-Musik“ wird die Szene in eine Art traum- von Marc Lanjean). hafter Schwerelosigkeit moduliert, die um so bruta- ler mit dem Geräusch des tödlichen Schusses been- det wird. Ein anderes, ebenso beliebig gewähltes Kommunikationen und ihre Modalitäten Beispiel ist IQ (USA 1994, Fred Schepisi, 0:17 bis 0:19), in dem eine Szene, in der der jugendliche Dass Musik unabhängig vom Film eine kommunika- Held mit dem alten Albert Einstein eine Motorrad- tive Qualität hat, dass sie Teil der sozialen Welt ist, fahrt macht, zunächst mit einem Rock‘n‘Roll-Titel ist evident. Allerdings sind die kommunikativen unterlegt ist, dann aber, als das Motorrad von der Rahmen vielfältig, in denen sie auftritt. Es wechseln Straße abhebt, in einen romantischen Modus über- die sozialen Konstellationen, die musikalischen Aus- geht; auch hier wird die Szene aus dem Kontext her- drucksmittel, die Bedeutungen, auf die ausgegriffen ausgehoben und als modal eigenständig markiert. wird. Musikvermittelte Interaktion dient fast immer dazu, über Bedeutungen zu kommunizieren, die sich Die genannte modale Absetzung einer Szene vom gegen den sprachlichen Ausdruck sperren. Der Be- Kontext hat im übrigen lange Traditionen. Ein Bei- ziehungsapekt der Kommunikation tritt dann ganz in spiel ist eine kleine Szene aus dem französischen den Vordergrund. Es entspricht der Vielfalt der Be- Gangster- und Drogenfilm RAZZIA SUR LA CHNOUF ziehungen, von denen in filmischen Erzählungen die (RAZZIA IN PARIS, Frankreich 1955, Henri Decoin, Rede ist, dass es kaum eine Regel gibt, die Musikali- sierung der Interaktion zu vereindeutigen oder auf den Sänger aufmerksam geworden, als er nachts in nur wenige Muster zu reduzieren. den kaum belebten Straßen Dublins eigene Lieder spielt, die von einer verlorenen Liebe handeln, die Ein besonderer Film, eine besondere Konstellation, der Sänger höchst ausdrucksvoll beklagt. Die beiden eine besondere Interaktion also: Eine junge Frau, im werden sich näher kennenlernen, sie werden gemein- Badezimmer, vor dem Spiegel, sie kämmt sich die sam musizieren, sogar ein gemeinsames Album auf- nassen Haare; im Zimmer nebenan spielt der Mann nehmen. Noch in der Phase des Kennenlernens fragt wie probierend die Anfangstakte eines Liedes. Die die Frau den Mann während einer nächtlichen Bus- Frau merkt auf, beginnt zuzuhören – und als sie ins fahrt nach seiner früheren Beziehung, für die er die Wohnzimmer wechselt, bemerkt auch der Mann die Liebeslieder schreibt und nachts auf der Straße singt. Zuhörerin, der Modus der Musik wechselt: Aus der Der Mann zaudert, mag nicht erzählen – bis er zur so selbstverloren vor sich hin gespielten Musik wird Gitarre greift und in einem kurzen improvisierten ein adressierter Akt. Eine fast eine Minute langen Lied die Vorgeschichte preisgibt. Es ist eine Ge- Nah-Einstellung auf die junge Frau zeigt, dass sie schichte, die er erzählt, aber es ist auch eine tiefe versteht, dass sie die Übertreibungen hört, dass sie emotionale Berührung, von der der musikalische weiß: Sie ist die Adressatin des Liedes. Die fast Vortrag handelt. Das Lied handelt eigentlich von den fünfminütige Szene entstammt Rudolf Thomes Lie- Bedeutungen, die diese Geschichte für den Sänger besfilm BERLIN CHAMISSOPLATZ (BRD 1980), die bei- hatte, und es handelt auch vom Versuch, diese Be- den Rollen spielen Hanns Zischler und Sabine Bach. deutungen zu maskieren, sie zu ironisieren und da- Sie zeigt einen intimen Dialog, eine persönliche An- mit auf Distanz zu bringen; gleichwohl bleibt es aber sprache ohne Du (der Text des Liedes ist englisch eine Geschichte. Es ist für den Zuschauer unver- und spricht einen unspezifischen Anderen an). zichtbar, auf den Text des Liedes zu achten, damit Adressierung und affektive Bedeutung dessen, was ihm nichts von der Vergangenheit des Protagonisten der Mann spielt, sind in eine Ausdrucksgeste trans- und seiner Motivation, Musik zu machen, entgeht formiert, auf ein musikalisch-symbolisches Niveau (darum auch ist der Song in der synchronisierten verschoben. Der Film scheint die Intimität des Ge- Fassung mit Untertiteln versehen). schehens zu respektieren, wenn sie sich am Ende schwankend (es wirkt wie improvisiert) zurückzieht, Der vorerwähnte Song Broken Hearted Hoover Fi- die beiden Protagonisten zurücklassend. Ein privater xer Sucker Guy wurde von Glen Hansard, dem Sän- Moment geht zu Ende, der so ganz den beiden Figu- ger der irischen Rock-Band The Frames, der die ren zu gehören schien und in den sich der Zuschauer männliche Hauptrolle in ONCE (Irland 2006, John fast heimlich eingeschlichen hat. Carney) spielt, geschrieben und vorgetragen. Er fasst die Liebesgeschichte zu seiner Ex-Freundin in 53 Das Zurücktreten der Sprache als Mittel der Bezie- Sekunden und zwei Strophen zusammen: hungskommunikation geht manchmal noch weiter. Gerade in den Musikfilmgenres finden sich immer Ten years ago I fell in love with an Irish girl / She took wieder Hinweise auf eine fundamentale Sprach- und my heart / But she went and screw with some guy that she knew / and now I'm in Dublin with a broken Diskurs-Skepsis. Der musikalische Ausdruck er- heart // [Refrain:] Oh, broken hearted hoover fixer su- scheint dann resistent gegen Befangenheiten und cker guy / Oh, broken hearted hoover fixer sucker / Unfähigkeiten, sich sprachlich zu artikulieren. Das Sucker guy // One day I'll go there and win her once Musikalische dagegen öffnet ein Medium des unmit- again / But until then I'm just a sucker of a guy. telbaren Gefühlsausdrucks über alle Klassen- und Sprachengrenzen hinweg. Wenn die Liebesszenen Nachdem der Sänger seine Performance mit dem im Musical also nicht als Dialog, sondern als Tanz- Zusatz „fuck her, she's gone / she's gone forever“ szenen ausgeführt sind, so signalisiert dieses auch, beendet hat, ist auch die kleine Szene beendet. Das dass die emotionale Bewegung der Liebe sich gegen Lied ist nicht nur als backstory wichtig, sondern es Sprache wehrt, in musikalischer Äußerung aber au- weist auch auf Tiefenmotivationen des Helden hin – thentisch ausgedrückt werden kann. und es bleibt wirksam bis zum Schluss des Films, das nur oberflächlich offen bleibt; denn der Zu- Ein namenloser Straßenmusikant trifft auf eine eben- schauer darf vermuten und hoffen, dass der Protago- so namenlose Zeitschriftenverkäuferin und verliebt nist versuchen wird, seine verlorene Liebe zurückzu- sich in sie. Die junge Frau – selbst Pianistin – ist auf gewinnen, wie er es in der letzten Strophe angekün- Beispiel, dass die Bedeutungsleistung des Liedes digt hatte. hier viel weiter geht: – Die Frau thematisiert das Lied, spricht über die Der Bus ist fast menschenleer. Doch ein Rückschnitt Wirkung, die es auf sie hat; offensichtlich ist dies ein auf eine alte Frau und den Busfahrer zeigen, dass Versuch, gleichzeitig über die Bindung an den Mann auch sie zugehört haben. Lieder sind adressiert, sind zu sprechen, die anstehende Trennung zu akzeptie- kommunikative Tatsachen, kein unmittelbarer Aus- ren und in der Ironie des Sprechens Haltung zu be- druck des Inneren des Sängers. Darum auch ist die wahren; Ironisierung so wichtig – der Mann kann der Frau – für den Zuschauer ist das Ende einer Liebesge- mitteilen, dass er einer vergangenen Liebe nach- schichte, in der die Liebenden nicht zueinander fin- hängt, und er kann sich gleichzeitig auf lachende Di- den und sich am Ende trennen müssen, einer der stanz bringen. Er immunisiert und öffnet sich gleich- wirksichersten Rührungsanlässe (ein sad ending, zeitig. (Das ist ganz anders in einem späteren Lied, wenn man so will); darum auch ist ein solches Lied das die Frau am Klavier spielt und das ebenfalls von nicht nur eine Vertiefung der subjektiven Bedeutung einer vergangenen Liebe handelt; hier schottet sie einer solchen Szene für die Figuren, sondern vor al- sich gegen jeden Kontakt mit dem Mann ab, ihr geht lem ein genrespezifischer Hinweis, dass sich die An- es nur um den Ausdruck eines immer noch dauern- rührung ausbreiten kann, dass also ein emotionaler den Schmerzes – aber sie kann ihn immerhin musi- Höhepunkt des Films erreicht ist; kalisch zum Ausdruck bringen.) Die Szene im Bus – und die Frau gibt dem Zuschauer sogar noch endet im Lachen. Doch das Lachen antwortet auf das einen klaren Hinweis auf das Lied (das nach dem Verbergen einer biographischen Verletzung, nicht Dialog ganz beherrschend wird), fast lesbar als De- auf ihre wirkliche Bewältigung, und es öffnet darum vise: „Hör auf den Text, wenn du mehr verstehen die Geschichte des Films und der Liebe zwischen willst, wie es um mich gestellt ist!“ den Protagonisten, die nur ein Durchgang ist zum Wiedererlangen älterer Lieben. Singen Geht es schon in diesem Beispiel um „eigentliche Bedeutung“, so finden sich schnell weitere Beispie- Wie oben schon bemerkt: Dass in der Handlungs- le, in denen die Musik sozusagen „gegen die Narrati- welt vieler Filme gesungen wird, darf nicht verwun- on“ arbeitet. Wenn in THE BODYGUARD (USA 1992, dern. Und wenn die Handlung in Milieus spielt, zu Mick Jackson) die Arbeit für den Leibwächter zu denen das Musizieren gehört, oder wenn die Prot- Ende gegangen ist und er die Frau, für deren Leben agonisten (oder auch Figuren der zweiten Linie) von er verantwortlich war, verlassen muss, um einen Beruf Musiker sind – dann ist die Tatsache, dass mu- neuen Auftrag zu erfüllen, so endet damit auch die sikalische Einlagen auftreten, eigentlich nicht weiter Liebe zwischen den beiden. Sie treffen sich in einem verwunderlich. Lokal, vom Ende ihrer Beziehung wissend, es iro- nisch besprechend – und als das Lied I Will Always In einer beliebigen Auswahl aus einer unüberblick- Love You (ursprünglich von Dolly Parton, hier ge- baren Vielfalt von Beispielen: sungen von John Doe [23]) zu spielen beginnt, erhe- – Wenn die entflohenen Sträflinge in O BROTHER, ben sie sich, sie werden tanzen. Auf der Tanzfläche WHERE ART THOU? (USA 2000, Joel Coen, Ethan kommt die Frau (gespielt von der Sängerin Whitney Coen) als Schlagersänger entdeckt werden und unter Houston) auf das Lied zu sprechen, fragt, ob es „so dem Namen „Soggy Bottom Boys“ schnell bekannt eine Art von Cowboysong“ sei, findet es „deprimie- werden, überrascht es nicht, wenn wir sie während rend“ und fordert den Mann (Kevin Costner) auf, er der ganzen Aufnahme des Liedes I‘m a Man of Con- solle sich doch einmal den Text anhören. Natürlich stant Sorrow sehen, ihrerseits überrascht davon, dass geht es darum, dass der Song die eigentlichen es einen Verrückten gibt, der einem 10 Dollar be- Wunschenergien der Liebenden thematisiert. Lieder zahlt, wenn man in eine Dose singt. Das Beispiel haben Texte und können parallel zum Dialog gehört mag auch dafür stehen, dass die Bedeutung mancher und verstanden werden, schreibt Gorbman (2007, diegetisch, narrativ und atmosphärisch durchaus mo- 67), lassen sich darum auch als Hinweise auf verbor- tivierten Szenen über ihre indikativischen Funktio- gene Motive der Figuren entziffern. Doch zeigt das nen deutlich hinausgeht. Dann bekommt die Szene thematisches Eigengewicht, tritt mit anderen Ele- menten der textsemantischen Struktur oder gar mit einen ironischen Schatten auf die Geschichte – im- textumgreifenden Bedeutungen in Konjunktion. Der merhin war es der Ehemann, der den Helden hypno- erwähnte Song lässt sich als eine durchaus treffende tisierte, um die ehebrecherische Frau und deren Ge- Beschreibung des Zustands der Protagonisten bis liebten zu töten. Der Perspektivwechsel, der nötig zum märchenartig anmutenden Ende ansehen. ist, um das Lied aus dem Blickwinkel des Opfers auf – Daneben stehen Beispiele ohne jede Tiefe. In ei- die Geschichte selbst zu wenden, ist ungewöhnlich – nem Märchenfilm wie KÖNIG DROSSELBART (DDR aber dass das Lied gleich zweimal gesungen wird, 1965, Walter Beck) etwa muss der als Spielmann noch dazu zu Beginn und am Ende der fatalen Ge- verkleidete König ein Lied singen, um Geld für schichte, mag als Hinweis darauf gewertet werden, einen Apfel zu verdienen und nicht in seiner Verklei- dass ihm die Rolle einer Klammerung der Erzählung dung entdeckt zu werden. zugedacht war. – Wieder andere setzen die Interaktion der Hauptfi- guren mit anderen Mitteln fort: In THE BIG SLEEP (USA 1946, Howard Hawks, hier: ca. 1:03) hat die Die Körperlichkeit des Vollzugs ältere Schwester im Club des Verbrechers einen Auf- tritt als Sängerin und nimmt dabei Blickkontakt mit Es finden sich aber auch Szenen, die völlig von der Marlowe auf, sie ironisiert die eigene Rolle, koket- diegetischen und narrativen Umgebung isoliert sind. tiert offen mit dem Detektiv (nutzt also die paraso- Der Tänzer und Schauspieler Russ Tamblyn spielt in ziale Beziehung zwischen Sänger und Publikum wie THE FASTEST GUN ALIVE (DIE ERSTE KUGEL TRIFFT, USA eine Maske, um das Spielerische einer eigentlich 1956, Russell Rouse) eine Nebenfigur, die als ganz privaten Beziehung auszudrücken). freundlicher Jugendlicher und als guter Tänzer be- kannt ist. In der Eingangsphase des Films (ca. Schon diese Beispiele deuten darauf hin, dass musi- 0:15:00) feiert man in dem Westernstädtchen ein kalische Auftritte im Film ungewöhnlich oft Spiel Fest, in einem großen Stallgebäude; einer der Älte- mit doppeltem Boden sind, dass sie sich in die Ge- ren fordert Tamblyn auf, für die anderen zu tanzen; schichte eingliedern und Möglichkeiten der Interak- nach kurzem Zögern willigt er ein – und es hebt ein tion eröffnen, die ohne sie unerreichbar wären. Dass Burlesk-Tanz an, der Comedy mit Akrobatik verbin- sie mit Rollenambivalenzen, falschen Identitäten det. Da werden Schaufeln als Schuhe verwendet, mit und dergleichen mehr verbunden sind. Dass sie einer Wippe wirft Tamblyn seine Partnerin in die manchmal Schmuggelware darstellen und Bezie- Luft und sich in die Arme, er schwingt sich auf die hungskommunikationen ermöglichen, die ansonsten Empore, greift ein Lasso wie Tarzan, schwingt sich – aus Gründen der Scham, des Anstandes, der Unge- mit mehreren Fechterflanken über die Brüstungen hörigkeit – nicht vollzogen werden könnten. der Ställe und ähnliches mehr. Für den Film wird die Darstellung der Burlesk-Nummer ganz zentral, alles Manchmal haben die Lieder, die dann zu Gehör und andere versinkt in Nebensächlichkeit, die Narration Gesicht gebracht werden, aber eine noch darüber wird ausgesetzt. Die Körperlichkeit der Aktion greift hinausgehende Überschussbedeutung – über die rei- schon vor auf die Tänze der Rock‘n‘Roll-Filme ne Anzeige des Milieus und die lockere Anbindung (Tamblyn hat die Choreographien für JAILHOUSE ROCK an die Narration hinaus. Allerdings sind diese Mu- / JAILHOUSE ROCK – RHYTHMUS HINTER GITTERN, USA sikeinlagen meist sehr kurz, die Handlung überlagert 1957, Richard Thorpe, gemacht), auf die Lockerung die musikalische performance wieder, der Dialog der narrativen Bindung aller Szenen, die sich in den wird wieder aufgenommen, der Fokus der Szene frühen Rock- und Schlagerfilmen breitmachte, und verlässt die Musik, bindet sie nicht ein. Sie bleibt auf die Variierung der Schauwerte und Gratifikatio- Dreingabe. Der amerikanische Hypnose-Thriller nen, die ein Film für den Zuschauer bereithält. Das NIGHTMARE (IM DUNKEL DER NACHT, 1956, Maxwell Besondere an THE FASTEST GUN ALIVE ist die Tatsa- Shane) etwa spielt in New Orleans, in einem weißen che, dass der Film nur diese eine Einlage kennt, an- bürgerlichen Nachtclub-Milieu. Der Protagonist sonsten ein gerade heraus erzählter Western ist. spielt in einer Jazz-Combo, er ist mit der Sängerin Gina befreundet [24]. Sie hat drei Auftritte, zwei da- So banal das Beispiel erscheinen mag, so sehr mag von mit dem Lied The Last I Ever Saw of My Man es doch ein verdecktes Thema derartiger Szenen in- (ca. 0:07:30, Schluss). Abgesehen davon, dass man korporieren: Der Modus der Körperlichkeit in den den Helden bei der Arbeit sieht, wirft das Lied auch verschiedenen Tänzen ist ein wichtiges Mittel, das Selbstbild der Figuren und seine gesellschaftlichen men ihn nach, signalisieren gleichzeitig, dass es Bindungen in der Bewegung selbst auszudrücken. Ist nicht „ihr“ Stil ist. Ihre eigenen Tanzbewegungen der Wiener Walzer als die vielleicht ausgeprägteste sind voller Signale der Rollendistanz, zeigend, dass Bewegungskonvention einer bourgeoisen Lebens- sie tanzen, sich und anderen aber auch zeigend, dass welt anzusehen, stehen andere, freiere und indivi- sie den Tanz nicht beherrschen, dass sie sich amüsie- dualisierte Ausdrucksformen dem scharf entgegen. ren, dass sie aber eine klar abgegrenzte in-group un- Der Wiener Walzer versinnbildlicht z.B. wie kein an- ter den anderen Besuchern des Clubs bilden. Wahl derer Tanz „das gesellschaftlich normierte Körper- und Beherrschung von Tanzstilen signalisiert die Zu- bild des Bürgertums [...]. Zwischen Sinneslust und gehörigkeit zu Gruppen, soll das besagen; es sagt einer Aristokratisches mimenden Körperhaltung, aber auch etwas aus über den Modus der eigenen zwischen Taumel und Zucht, Beherrschung und Ent- Körperwahrnehmung, in diesem besonderen Fall grenzung verwandelte er sich in eine kulturelle über die Bereitschaft zu Ekstase, die Fähigkeit, sich Form, in der das System körperbezogener Selbst- auf eine so fremde Musik wie den Blues einzulassen. zwänge des Bürgertums seinen reinsten Ausdruck Während die Jugendlichen authentische Performer fand“ (Wicke 2001, 67). Was nimmt es wunder, dass der Musik sind, bleiben die bürgerlichen Besucher Walzerszenen in manchen Filmen fast rauschhaft das dem Milieu und der Musik fremd [25]. Eintauchen in bürgerliche Festwelten signalisieren. Ein Beispiel ist Max Ophüls' MADAME DE... (Frank- reich 1953) eine mit Walzermusik unterlegte Ball- Die Attraktionalität des Geschehens szene, die die ganze Ballsaison resümiert und die Protagonistin und ihren Partner in verschiedenenen Es würde zu weit führen, das gesamte Spektrum der Kostümen auf verschiedenen Bällen zeigt, in einer textuellen Funktionen und Motivationen von Film- gleichbleibenden, mittels Überblendungen miteinan- musik oder Musik im Film hier vorzustellen. Hier der verbundenen Tanzbewegung. Noch mehr als die sei auf den besonderen Aspekt des Spektakulären zusammenhängend anmutenden Dialogfetzen sind es hingewiesen, der sozusagen quer zu einem textse- der durchgängige Walzerrhythmus und die so unun- mantischen Zugang liegen. terbrochen wirkende Bewegung der beiden Tänzer, die den Eindruck einer fast unirdisch anmutenden In der Geschichte des Films haben sich eine ganze Intimität und Eigenrealität des Tanzes auslösen. Die Reihe von Formen herausgebildet, die das narrative Szene endet mit einem langen Abschwenk auf einen Moment um ein attraktionelles Moment anreichern, Diener, der die Kerzen löscht, das Paar ist inzwi- es möglicherweise sogar aussetzen. Stand das At- schen allein, nur noch ein Pianist spielt dazu. traktionelle nach heutiger Forschungslage im Anfang der Filmgeschichte noch ganz im Zentrum der Manchmal wird der Kontrast der Körpermodi zum Schauwerte des Kinos und bildete den Kern der Gra- Thema von Szenen. Im letzten Drittel des englischen tifikationen, die Zuschauer bei der Besichtigung von Kurzfilms MOMMA DON'T ALLOW (1955, Karel Reisz, Kinovorführungen erlangen konnten, hat sich das Tony Richardson) besuchen zwei Paare, die offen- Narrative immer mehr zum eigentlichen Ausgangs- sichtlich der Mittelschicht zugehören und deutlich punkt und Zentrum der filmischen Darbietung ent- älter sind als die anderen Besucher, den Londoner wickelt. Das Attraktionelle ist aber nie ganz ver- Jazz-Club, in dem die Chris-Barber-Band eine Mi- schwunden – Action- und Stunt-Szenen, Katastro- schung von Swing-, Blues- und Dixie-Titeln spielt. phen und Landschaften, Tanz- und Musikeinlagen Der Tanzstil, den die jungen Leute pflegen, ist eine haben immer eigene Aufmerksamkeit gebunden und Mischung von Rock‘n‘Roll-Bewegungen, zahllosen, eigene Zuschau-Lust verursacht, obwohl sie mit der oft rasend schnell ausgeführten Drehungen der Tän- Narration oft nur locker verbunden waren. Zum Teil zer, bei aller Lässigkeit und Coolness eine erkennbar sind die Attraktionsmomente konventionalisiert (ge- hohe Konzentration auf die Performance. Viele wesen), Elemente der Genreformen, Fortführungen schauen zu, bewundernd, halb-interessiert. Es ist ein älterer Konventionen der performing arts einschließ- Moment von Sich-Darstellen ebenso wie Die-Perfor- lich des Musiktheaters resp. der musikalischen Auf- mer-Beobachten im Spiel. Als sich die middle-class- führung. Die Attraktionalität kann sich in ganz ver- Besucher unter die Tanzenden mischen, ist auch ih- schiedenen Momenten der filmischen Darstellung nen selbst deutlich spürbar, dass sie den Bewegungs- manifestieren – in der Ausstattung oder im Schau- modus der Tänzer nicht aufnehmen können – sie ah- spiel, in der Montage oder der Bildgestaltung. Fast Wenn also in John Frankenheimers GRAND PRIX immer spielt die Musik dabei eine Rolle. (USA 1966) – einem fast dreistündigen Rennfahrer- film – sich einer der Fahrer verliebt und eine Se- Attraktionalität heißt nun nicht: Freistellung von der quenz folgt (1:01:50 bis 1:04:00), bei der Großauf- Einbindung in den Rahmen der Erzählung. Das tex- nahmen einzelner Zuschauer, Bilder, auf denen man tuelle Bindungsmoments bleibt beherrschend, es re- die Frau eines Fahrers zwischen anderen auf der Tri- guliert die Beziehung des Zuschauers zum Text – in büne sieht, weite Aufnahmen der Wagen auf der der Erzählung ist es die Narration, die Frage des Strecke und Fahraufnahmen aus den Wagen heraus „Wie geht‘s weiter?“, in den Attraktionsszenen da- zu sehen sind, so ist die Auswahl der Bilder zunächst gegen die Aufführung selbst. Die Erzählung steht in noch wenig auffallend: Das sind Bilder, wie sie zu derartigen Szenen meist still oder wird in einer nur einer normalen Auflösung eines solchen Ereignisses formalen Art fortgeführt (wie etwa in den Traditio- konventionellerweise verwendet werden. Sie werden nen des harmonischen Schlusses [lieto fine]) [26]. aber zu einer visuell höchst auffallenden Form ver- Gleichwohl sind attraktionelle Szenen nicht unab- schmolzen: mit Mehrfachbelichtungen, Split Screens hängig von der Narration und der Diegese des umge- und der aufschwellenden Filmmusik (hier als Wal- benden Films, sondern ihm semantisch angegliedert. zer; Komponist: Maurice Jarre); im ersten Teil liegt unter den Bildern eine Großaufnahme der lachenden Man könnte geneigt sein, das Hervortreten des At- Frau, so dass die Sequenz durchaus als (aus der traktionellen zu den Strategien der phatischen Funk- Wahrnehmung des Mannes heraus) subjektivisierte tion der Filmmusik zu rechnen. Das Phatische ge- Wahrnehmung des Rennens und als Ausdruck seiner hört zu den elementaren Kommunikationsfunktionen euphorischen Stimmung gelesen werden kann. Der und betrifft natürlich auch die Filmmusik. Es ist in Film hat nur eine Musik mit drei Themen, eines für drei Subfunktionen zu entfalten: das Rennen selbst, eines für den Franzosen, der am (1) Kommunikation allgemein ist ausgerichtet auf Ende beim Rennen umkommt (es wird hier verwen- die Etablierung einer phatic communion der Kom- det), eines für den Engländer, der weiter als Fahrer munizierenden; arbeitet, obwohl er nur knapp dem Tode entronnen (2) Kommunikation enthält Funktionselemente, die und immer noch behindert ist. Jarre moduliert die einerseits auf die Gemeinschaft der Kommunizieren- Musik immer wieder neu; an diversen Stellen unter- den (soziative Funktion), andererseits auf das physi- liegt sie wie ein Musikbett den Spiel-Szenen, kaum sche Kontaktmedium bezogen sind (mediale oder auffällig, den affektiven mood der Musik konsequent kontaktive Funktion); weitertreibend, manisch, wie die Fahrer am Renn- (3) phatische Elemente der Kommunikation dienen sport hängen. Manchmal wird die Musik als martia- auch dazu, den kommunikativen Prozess der Betei- lisch-aggressive akustische Illumination des Ren- ligten zu synchronisieren und zu regulieren (vgl. nens selbst ausgelegt (etwa in der Zandvoort-Se- Wulff 1995). quenz, 1:46:00 bis 1:49:00); einmal ist sie sogar für Der Begriff ist bislang nur von Jean-Rémy Julien ein Blasorchester instrumentiert und wird von einer auch auf Filmmusik angewendet worden; wenn er englischen Militärkapelle zum Start und zum allerdings behauptet, dass „phatische Musik“ (phatic Schluss eines Rennens in England gespielt (als die- music) – die für Julien einen eigenen Typus von Mu- getische Musik, 1:53ff) [27]; und natürlich ist sie sik darstellt, die aber keine umgreifende Kommuni- Grundlage der kunstvoll instrumentierten und vari- kationsfunktion, die auch musikalisch dominant ierten Ouvertüren- und Zwischenspiel-Sequenzen werden kann, realisieren könnte – „urges the viewer (0:00:00 bis 0:04:10, [Intermission bzw. Entr‘acte] to listen without foregounding and isolating the mu- 1:40:00 bis 1:42:10). Das Sound-Design des Films sic“ (Nasta 1991, 57; vgl. Julien 1989, 28-33), und fußt auf der scharfen Entgegensetzung des naturalis- wenn es weiter heisst, „phatische Musik“ sei ein tisch anmutenden Geheuls der Motoren, das oft mi- Substitut für Geschehnisse auf der Leinwand, so nutenlang als einziger Ton den Renn-Aufnahmen un- dass die Musik in den Wahrnehmungsvordergrund terliegt; um so schärfer kontrastieren diesen Szenen trete und das visuell oder schriftlich Dargebotene in die musikunterlegten Sequenzen. Motorengeräusch den Wahrnehmungshintergrund verschiebe, dann ist und Musik halten den überlangen, aus mehreren Er- das schlicht irreführend. zählsträngen mit vier Protagonisten bestehenden Film atmosphärisch zusammen. Und es sind gerade die Sequenzen, in denen beides (vor allem in Verbin- dung mit kunstvoll gesetzten Split Screens, die das Sequenzen begründen, das sollten die vorgängigen Geschehen in ein „bewegtes Dekor“ verwandeln) zu Überlegungen unterstreichen: einer visuell höchst eindrücklichen Attraktionsform – Kriterien der Situation oder Szene selbst ein- verschmilzt. schließlich der Körperlichkeit des Handelns, – des Thematischen, – des Stilistischen, Summa – des Modalen, schließlich natürlich – des Narrativen. Manche Erscheinungsformen des Musikalischen im In allen diesen Beispielen kann Musik als Mittel ein- Film lassen sich nicht aus der inneren Bewegung der gesetzt werden, die Sequenz von der Umgebung ab- Diegese ableiten, stehen auch nicht in primärer Ab- zugrenzen. Für die Textsemantik des Films können hängigkeit von den Strukturen der Geschichte, die Musiken von ausgesprochen zentralem Belang sein. der Film erzählt und die die Musik oft kaum be- Sie sind kein schmückendes Beiwerk, sondern in oft merkbar begleitet [28]. In den Darlegungen dieser komplizierter Weise Teil der filmischen Darstellung, Untersuchung ging es um Musiken, die eigenwertig Element der Repräsentationsmodalitäten und Teil (und oft sogar eigenständig) und für die semantische des sinnlichen Angebots des Films, das eine unter Erschließung der Geschichte von Belang sind. Na- Umständen ganz eigene Bindung zwischen Lein- türlich ist die relative Autonomie von Szenen nicht wand und Zuschauer stiftet. nur durch die Handlung oder den Inhalt allein gesi- chert, sondern oft genug eben auch durch die Eigen- ständigkeit und Abgeschlossenheit musikalischer Anmerkungen Strukturen. Eine stillschweigende und zum Ver- ständnis der Leistung mancher Formen der Filmmu- [1] Zu den pragmasemiotischen Implikationen vgl. Wulff sik modellbildende Rolle könnte man dem Lied als 1999, cap. 1. Ich hatte dort für eine konsequent pragmati- sche Grundlegung der Filmanalyse plädiert. Es heißt in musikalischer Entität zuschreiben, das sowohl musi- der summa: „Weil sich die Aktivitäten des Verstehens auf kalische wie lyrische Struktur trägt und das seiner- die informationellen Prozesse richten, diese begleiten, er- seits mit filmischen Größen koordiniert werden kann weitern, in Erwartungen und Wahrscheinlichkeitsannah- [29]. Manchmal wirkt es als strukturelle Klammer men transformieren, ist das Mitteilen am Ende auf das Darstellen angewiesen. Ohne dass ein Etwas, von dem die eher im Hintergrund, manchmal gibt es in Text, Mo- Rede ist, im Spiel wäre, könnte keine Mitteilung vorkom- dus des Vortrags und musikalischer Thematik Hin- men. Darstellen hatte ich gebunden an einen Stoff resp. weise auf die Bedeutung von Szene oder ganzem das Dargestellte ist stofflich vermittelt. Und das Stoffliche Text. So komplex ganze Film-Scores gebaut sein hatte ich als substantia cogitans bestimmt, als kulturell er- mögen, so sind es im Wirkungsbereich der Szene schlossene, symbolisch durchdrungene und gewusste Ma- terie. Hier schließt sich der Kreis (und ich nehme hier be- aber eher musikalische Kleinformen, die die Situati- wusst eine nominalistische Position ein): Weil der ‚Stoff‘ ons- und Kontextentbindbarkeit von Szenen garan- das Mittlerelement des Darstellens und des Mitteilens ist, tieren – und es mag mit dieser Leistung zusammen- bildet er zugleich die Bedingung der Möglichkeit für die hängen, dass „musikalische Szenen“ von so großer textuellen Prozesse“ (290). An anderer Stelle habe ich Eigenständigkeit sind, dass man sie oft fast als Kurz- versucht, gewisse Grundlagen weiter zu explizieren – den „kommunikativen Kontrakt“ etwa, der Text und Zuschau- filme betrachten und aus dem Kontext der umgrei- er in einer Beziehung bindet (Wulff 2001), oder die Tätig- fenden Filme ausgliedern kann (darum auch finden keit des „Diegetisierens“ als der Konstruktion des inneren sich zahlreiche Beispiele auf Video-Plattformen wie Zusammenhangs von erzählten Welten, deren Produkt die www.youtube.com, als abgeklammerte Kunststücke, Diegese selbst ist, die aber nicht festgestellt werden kann, Lieblingsszenen, Performances bestimmter Künstler sondern sich in actu entfalten muss (Wulff 2007). etc.). [2] Ich schlage hier also vor, den Film in der ganzen Hete- rogenität und modalen Unbestimmtheit oder sogar Wider- „Musikalische Szenen“ gehen oft über die klare Ein- sprüchlichkeit als Funktionsganzes kommunikativem bindung in den narrativen Kontext hinaus, setzen Austausches anzusehen. Dagegen vertritt Claudia Gorb- Überschussbedeutungen frei oder machen Tiefenbe- man die These, dass Film sich als „unified discourse“ an- sehen lasse und daraus seine Ganzheitlichkeitsbedingun- deutungen erschließbar; oft können sie eine schnell gen beziehe; „The aesthetic of orchestral underscoring or erkennbare ästhetische Eigenständigkeit beanspru- backgound scoring assumes film narration to be a unified chen. Es gibt eine ganze Reihe von mächtigen Klam- discourse. The music has ist purpose to clarify and rein- mern, die die relative Autonomie von Szenen oder forcethe viewer‘s unserstanding of characters, emotions, and events. Its form is generally subordinated to story ac- [6] Vgl. zu der Sequenz auch Cooke 2008, 427f. tion“ (2007, 66), heisst es, darauf abhebend, dass am Ende das Narrative als umgreifende Klammer ansichtlich [7] Suicide Is Painless wurde nach dem Film übrigens wird. Dem sei hier widersprochen; die folgenden Ausfüh- kein Hit, weil sich die US-Radiostationen weigerten, Lie- rungen werden zeigen, wie vielgestaltig die Funktionsrah- der über Selbstmord zu spielen; erst nach dem Erfolg der men sind, in die sich (diegetische und nicht-diegetische) TV-Serie notierte das Lied auch in den britischen Pop- Filmmusik einfügt. Charts; vgl. Cooke 2008, 412.

[3] Zum Bild-Ton-Verhältnis und den verschiedenen Mo- [8] Gipfelnd in einer eigenen Szene, die eine wilde Schie- dellen, die im Lauf der Theorie der Filmmusik vorgestellt ßerei zwischen der Barrow-Gang und zwei verfolgenden worden sind, vgl. Merten 2001, v.a. cap. 2. Neuerdings Autos zeigt (0:54:00 bis 0:56:30); Szene und Musik sind wird das Postulat der Unhörbarkeit der Filmmusik (inau- durch mehrere äußerst kurze Interview-Fragmente mit dibility) vermehrt diskutiert, spätestens seitdem Claudia Augenzeugen unterbrochen, was die Koppelung der Mu- Gorbman es in ihrem Buch Unheard Melodies (1987) zu sik an das Thema der Flucht noch unterstreicht. Zur Mu- einem der Bestimmungselemente der Filmmusik erhoben sik in BONNIE AND CLYDE vgl. Cooke 2008, 403, der auch hat. Dort heißt es: „music is not meant to be heard cons- darauf hinweist, dass eine ganze Reihe von Filmen – vor ciously. As such it should subordinate itself to dialogue, to allem solche, die in den 1930ern spielen – die Koppelung visuals, that is, to the primary vehicles of the narrative“ von Verbrechen und bluegrass music wiederaufgenom- (1987, 33). Zur Diskussion dieser These vgl. Reay 2004, men haben; allerdings sollte vermerkt sein, dass sie nur 33ff. selten jene semantische Dichte erreicht oder auch nur an- In dieser Hinsicht scheint normale Filmmusik gewisse gestrebt haben, die die Musikdramaturgie in BONNIE AND Ähnlichkeiten zur sogenannten Muzak aufzuweisen. Man CLYDE auszeichnet. versteht darunter Hintergrundmusiken, die in Restaurants, Fahrstühlen, Kaufhäusern, Hotels und manchen Arbeit- [9] Die Terminologie ist schwankend. Neben dem Be- sumgebungen, aber auch als Pausenzeichen in Telephon- griffspaar diegetisch/extradiegetisch finden sich Bild- systemen und dergleichen mehr eingesetzt werden. Es ton/Fremdton (Bullerjahn 2004, 20; Maintz 2005), syn- handelt sich um funktionelle Musiken, die vom Hörer un- chroner/asynchroner Ton (Monaco 1980, 201), aktuel- bewusst wahrgenommen werden sollen, um ihn heiter zu le/begleitende Musik (Emons/de la Motte-Haber 1980, stimmen und um eine entspannte Atmosphäre beim Ein- 161), source music/film music u.a.m. Extradiegetische kauf oder bei der Arbeit zu schaffen. Eine oft geäußerte Musik wird oft allgemein als funktionale Musik bezeich- Anforderung an Muzak lautet: heard but not listened, was net; Maintz (2005, 125) unterscheidet diesbezüglich kom- darauf hindeutet, dass die Musiken keine eigentliche Zu- mentierende, außerszenische und Background-Musik. wendung erfahren sollen. Vgl. dazu Lanza 2005. Vgl. So plausibel und fundamental die Trennung von Diegese Gorbman (1987, 56-59) zu einigen funktionalen Analogi- und Extradiegese auf den ersten Blick auch scheint und so en zwischen traditioneller Filmmusik und Muzak: Sie verbreitet sie in der Filmmusikanalyse inzwischen ist, so mildere Ängste und Fremdheitsempfindungen, erleichtere vielfältig und oft ambivalent sind die Beziehungen zwi- im Film das Einlassen auf die Fiktion (die suspension of schen ihnen. Ungezählt sind die Fälle, wenn eine Musik disbelief) und werde dabei bewusst kaum wahrgenom- im szenischen Ton beginnt (etwa als Klavierspiel) und men. sich dann um ein extradiegetisches Orchester anreichert; in FOR ME AND MY GAL (USA 1942, Busby Berkeley) etwa [4] Es handelt sich um eine düstere Neukomposition des proben die beiden Protagonisten (spielt von Gene Kelly Dies-Irae-Motivs aus der Symphonie Fantastique von und Judy Garland) das Titellied; das Klavierspiel geht un- Hector Berlioz, die Wendy Carlos (Synthesizer) und Ra- merklich in einen orchestralen Sound über, die beiden be- chel Elkind (vokale Effekte) ausgearbeitet haben. Vgl. ginnen zu tanzen – am Ende werden sie Partner sein. Alt- dazu die allerdings oberflächliche Beschreibung bei Bar- man (1987, 62ff; vgl. Buhler 2001, 41ff) spricht bei derar- ham (2007, 11) sowie die aufschlussreichen Produktions- tigen Stellen von einem audio dissolve („akustische Blen- notizen bei Bodde (2002, insbes. 280f). Zur Verwendung de“), bei der sich die modalen Grenzen des Diegetischen des Dies-Irae-Motivs im Film im allgemeinen vgl. Schu- verwischen; in Altmans Terminologie ergibt sich eine bert 1998. Transformation vom Realen (dem initialen Darstellungs- Modus der Szene) zum Idealen (dem offen-fiktiven Mo- [5] Der Einsatz der Musiken in WALTZ WITH BASHIR erfolgt dus des Tanzes im zweiten Teil der Sequenz), eine Ver- strikt segmental, dient dazu, die einzelnen Szenen (resp. schiebung, die nach Altman sogar konstitutiv für das Mu- Gedächtnis- oder Erzählungsepisoden) gegeneinander ab- sical-Genre ist; darum ist das diegetische Spiel eigentlich zugrenzen, sie aber auch modal-affektiv zu kennzeichnen. eine „bridge between time-bound narrative and the time- Dabei werden die pragmatischen Kontexte, denen die Mu- less transcendence of supra-diegetic music“ (Altman siken zugehören, allusiv eingemischt. Die oben erwähnte 1987, 67), die auf keine szenische Quelle mehr zurückzu- Szene ist unterlegt mit einer fröhlichen Musik, die den führen ist. Für den Zuschauer bedeutet dieses, dass er ins- Beginn des Feldzugs begleitet (0:26), das Lied, das die besondere durch die Musik permanent zwischen verschie- Verwüstung des Libanons fast wie ein kindliches Spiel denen Ebenen der textuellen Signifikation lokalisiert vorwegnimmt (und das z.B. an das Anti-Vietnam-Lied I- wird; dass derartige audio dissolves zumindest latent re- Feel-Like-I'm-Fixin'-To-Die Rag von Country Joe and the flexiv sind, dürfte evident sein. Es dürfte aber auch klar Fish, 1965, erinnert). sein, dass es einer Lehre der referentiellen Modalitäten bedürfte, um dieses Spiel der Transformationen und Ver- schiebungen des Realitätsstatus des Sichtbaren zu be- sogar noch – bis die Jagd mit dem Sturz des Verfolgten schreiben, das insbesondere durch die Filmmusik betrie- von einer Klippe endet. ben wird. [13] Der Song selbst ist ein Jazz-Lied von Herman Hup- [10] Möglicherweise bilden Todesszenen ein Sujet, an feld aus dem Jahr 1931. Er schrieb Text und Melodie. In dem eine Extradiegetisierung der Musik besonders nahe- CASABLANCA wird es gesungen von Dooley Wilson in der liegt, vor allem, wenn es darum geht, die empathische Be- Rolle des Sam, dem Pianospieler in Ricks „Café Améri- ziehung des Zuschauers zu der verstorbenen Figur noch cain“ in Marokko (eigentlich ein Schlagzeuger). Vgl. einmal zu intensivieren. „Ich habe kürzlich den Film dazu den Eintrag in der Wikipedia (URL: http://en.wikipe- DIALOGUE AVEC MON JARDINIER (DIALOG MIT MEINEM GÄRTNER, dia.org/wiki/As_Time_Goes_By_(song)). Frankreich 2007, Jean Becker) gesehen [...]. Der Film ist frei von (nondiegetischer) Filmmusik. Er handelt von ei- [14] Zum Modell der „semantischen Beschriftung“ und nem naiven Arbeiter, der im Lauf des Films mit Mozart zur Rolle des Zitats in der Filmmusik vgl. neben den Ar- konfrontiert wird. Der angesichts seines Alters und des beiten Schmidts auch Merten 2001, 75ff, passim. nahenden Todes lernt, sich mit dem ‚Schönen‘ zu befas- sen. Erst ganz am Ende sehen wir den Mann, der nicht [15] Die hier angeschnittene Problematik wird in dieser mehr laufen kann, liegend vor seinen Blumen im Garten. Untersuchung noch an mehreren anderen Stellen ange- Er hat ein Transistorradio dabei, es spielt Mozart. Die schnitten – wirft sie doch einige grundlegende Fragen Musik löst sich vom plärrenden Klang des Radios, be- nicht nur der Filmmusikanalyse, sondern der Analyse po- ginnt die Szene zu dominieren, nimmt den vollen Umfang pulärkultureller Produkte im allgemeinen auf. Sie hat ge- des 5.1-Klangvolumens an. Vom Diegetischen ‚ver- wichtige soziologische Implikationen (erweist sich doch schiebt‘ sie sich ins Nondiegetische (in einem musikfreien bei manchen Filmen der verwendete score als hochgradig Film sowieso schon hochsignifikant). Sie überlagert den exklusiv und knüpft an sehr spezifische nur subkulturell Tod des Gärtners, sublimiert ihn vielleicht. Eine Kitsch- zu erwerbende Wissensbestände an), benennt ein Kern- Strategie, sicherlich. Aber hat man damit erfasst, welche problem der empirischen Untersuchung von Rezeptions- Bedeutungsprozesse hier greifen können? [...] Die Vor- prozessen und ist nicht zuletzt ein wichtiges Problem se- stellungsmodelle des Todes, die im Film ausgefaltet sind, miotischer Analyse. Es dürfte aber deutlich geworden umfassen sehr oft eine Art von Überhöhung des Todes in sein, dass eine Theorie der Filmmusik (oder sogar der die Sphären des Ästhetischen oder Rhetorischen hinein. Musik im allgemeinen), die sich nicht mit rein morpholo- Pathos und Süsslichkeit sind nur zwei Extrempunkte in gischer Analyse befassen will, sondern die signifikativen einer langen Kette von Alternativen. Tod ist die definitive Prozesse zu modellieren trachtet, in die Filmmusik einge- Aufkündigung der Teilhabe am Diegetischen. Es mag bunden ist, nicht um die pragmasemiotischen Aspekte von sein, dass der so regelmäßige Einsatz von Musiken in To- Musiknutzung (im Film und in der alltäglichen Praxis) desszenen mit einer Modulation der Diegese zu tun hat, herumkommen wird. dass er also auf einer eigentlich formalen Operation be- ruht“ (Brief an Mirkko Stehn, 12.9.2007). [16] Vgl.: The Lion Sleeps Tonight. In: Wikipedia, URL: http://en.wikipedia.org/wiki/The_Lion_Sleeps_Tonight [11] Auch Gorbman (1987, 23) plädiert dafür, die Diffe- (Stand: 30.5.2008). renz zwischen den beiden Arten von Musik nicht zu groß zu machen – auch diegetische Musik kann dramatische [17] Der Roman durfte 1938 nur in der Schweiz erschei- Spannung erzeugen oder unterstreichen, auch sie kann der nen, weil Kästner Berufsverbot hatte. Das Buch war 1943 Psychologie der Figuren Ausdruck verleihen, auch sie von Hans Deppe schon einmal unter dem Titel DER KLEINE kann – vor allem in Komödien – ironisch oder burlesk GRENZVERKEHR verfilmt worden (mit Willy Fritsch als Ge- wirken (1987, 78). Vgl. dazu auch Reay 2004, 34, passim. org Rentmeister und Hertha Feiler als Konstanze); wie in der 1957er Fassung hatte Kästner – im Krieg noch unter [12] Die Musik wurde von Mikis Theodorakis kompo- dem Pseudonym Berthold Bürger, das er für das Dreh- niert; die Sequenz ist seriell gebaut, zeigt ein sich weitge- buch zu MÜNCHHAUSEN verwendet hatte – den Roman hend wiederholendes Geschehen, darin durchaus dem selbst zum Drehbuch umgeschrieben. Prinzip der Musik korrespondierend. Die Sequenz geht Die Geschichte: Wer 1938 aus Deutschland nach Ös- dem Schluss voraus, scheint den Sieg der Gerechtigkeit terreich einreisen will, darf nur 10 RM, kein weiteres zu signalisieren; um so bitterer klärt der noch folgende Geld mit sich führen. Auch der wohlhabende Georg Rent- Teil darüber auf, dass der Terror der Diktatur damit nicht meister (Paul Hubschmid), der anlässlich der Salzburger zum Stoppen gebracht werden konnte. Festspiele täglich die Grenze passiert, muß sich an diese Ein deutsches Beispiel stammt aus dem deutschen Vorschrift halten. In Salzburg lernt er die hübsche Kon- Film WETTERLEUCHTEN UM MARIA (1957, Luis Trenker): In stanze (Marianne Koch) kennen, als er in einem Café die einer Gastwirtschaft kommt es zur Enttarnung eines Ver- Rechnung nicht bezahlen kann und sie ihm aushilft. Vor- räters, der in den nahegelegenen Bergwald flieht. Ein gu- geblich ist sie Stubenmädchen auf einem Schloss – und tes Dutzend Männer nimmt die Verfolgung auf; sie grei- als er nach einem gemeinsamen Ausflug ins Salzkammer- fen sich Stöcke vom Waldboden und schlagen mit ihnen gut den letzten Bus verpasst und sie ihn heimlich auf ih- wie auf einer Treibjagd gegen die Baumstämme; das rem Zimmer im Schloss nächtigen lässt, ist er entschlos- Stockschlagen wird rhythmischer, geht über in den Takt sen, sie zu heiraten. Nur zufällig erfährt er im Kasino, der Filmmusik; diese beschleunigt die Folge der Schläge dass sie sich, wie auch der Rest ihrer Familie, als Dienst- personal auf dem väterlichen Schloss ausgibt, um ihrem Vater, einem Lustspielautor, bei seinen Situationsstudien Diese Praxis isolierte die Auftritte auch akustisch vom zu helfen. Um in Konstanzes Nähe zu bleiben, spielt Ge- Rest des Films, auch wenn auf die Ähnlichkeit der Stim- org die Maskerade mit. Er ist dreifach promoviert, sucht men geachtet wurde. Die Sopranistin Marni Nixon lieh seinerseits die Geheimnisse des Lachens zu ergründen. Stars wie Deborah Kerr (etwa in THE KING AND I, USA Am Ende haben sich die Verwirrungen aufgeklärt, das 1956, Walter Lang), Natalie Wood (z.B. in WEST SIDE Paar ist zusammen. STORY, USA 1961, Jerome Robbins, Robert Wise) und Au- drey Hepburn (MY FAIR LADY, USA 1964, George Cukor) [18] Die Don-Giovanni-Aufzeichnung wurde im Rahmen in Gesangsnummern ihre Stimme und übernahm auch die der Salzburger Festspiele aufgenommen (vermutlich hohen Tonlagen in den Songs von Marilyn Monroe in 1954, Leitung: Wilhelm Furtwängler), die Rechte lagen GENTLEMEN PREFER BLONDES (USA 1953, Billy Wilder); zur 1957 bei den Londoner Harmony Films. Wann die Ballett- Biographie vgl. Nixon 2006. Diese Praxis des voice aufnahme entstand und wer sie veranstaltet hat, war nicht dubbing resp. des voice doubling ist selbst in SINGIN' IN THE eindeutig zu ermitteln; es handelt sich wohl um eine Auf- RAIN (USA 1952, Stanley Donen, Gene Kelly) Kernstück führung des von George Balanchine choreographierten der dramatischen Konstellation gewesen – hier als Kritik Divertimentos Nr. 15 in B-Dur, KV 287, von Wolfgang an der Illusionsmaschinerie Hollywoods formuliert. Die Amadeus Mozart, das am 31.5.1956 vom New York City tatsächliche Praxis des voice casting sah dagegen durch- Ballet auf dem Mozart Festival im American Shakespeare aus anders aus, die Stimmen blieben im Hintergrund, wur- Theater in Stratford, Conn., uraufgeführt wurde. den meist nicht einmal in den Credits genannt. Vgl. allge- mein zum Umgang mit Synchronstimmen in - [19] Ich werde auf die musikvermittelten Symboliken hier Musiknummern Seifert 1995, Anderson 1997. nicht weiter thematisieren; an dieser Stelle sei nur darauf Insbesondere traf das natürlich auf Opern- und Operet- hingewiesen, dass allein ein Blick auf den Song I Wish I ten-Adaptationen zu. In Otto Premingers CARMEN JONES Was in Dixie sich verlohnen würde, der den inneramerika- (USA 1954) etwa – die durch die konsequent schwarze nischen Konflikt zwischen Süd- und Nordstaaten bis heu- Besetzung als Provokation und Durchbruch im Holly- te anzeigen kann, weil er realgeschichtlich als Südstaaten- wood-Umgang mit der Hautfarbe der Darsteller galt – Hymne im Sezessionskrieg (1861-65) mit politischer Si- wurden die Gesangsparts von Dorothy Dandridge, die die gnifikanz aufgeladen wurde. Das Lied wurde 1859 veröf- Carmen Jones spielte, von Marilyn Horne gesungen; und fentlicht; kurioserweise wurde es sowohl im Wahlkampf auch die Lieder von Harry Belafonte, der den männlichen von Abraham Lincoln eingesetzt wie aber auch bei der Gegenpart der Carmen-Figur darstellte, hatte in den Mu- Amtseinsetzung des Südstaaten-Präsidenten Jefferson Da- sikauftritten die Stimme von LeVern Hutcherson. Vgl. vis (1861) gespielt. Im Krieg wurde der Text verändert, dazu Smith 2003. Lana Turners Gesangsauftritte in Curtis das Lied wurde zum Dixie Warsong. Von Beginn der Bernhardts Adaption Lustigen Witwe von Franz Léhar Filmgeschichte an wurde der Dixie Song vor allem natür- (THE MERRY WIDOW, DIE LUSTIGE WITWE, USA 1952) wur- lich zur musikalischen Repräsentation der Südstaaten und den auf ein Duett zusammengestrichen, in dem der Tur- eines besonderen, traditionalistisch angehauchten Rebel- ner-Part durch die Sopranistin Trudy Erwin gesungen lentums eingesetzt, signalisiert manchmal aber auch dar- wurde. über hinaus eine meist spielerisch modulierte Haltung von Widerstand. [22] The night is mighty chilly, / and conversation seems pretty silly. / I feel so mean and wrought, / I’d rather have [20] Darum auch wäre eine Interpretation der Musik als the blues / than what I’ve got. The room is dark and gloo- Ausdruck der inneren Entspanntheit der Figur ganz irre- my / you don’t know what you’re doing to me. / The web führend, geht es doch gerade darum, die Doppelorientie- has got me caught; I’d rather have the blues / than what rung der Musik für die Rezeption auszuloten: Der Zu- I’ve got. schauer ist „in der Figur“, weil sie sich in einer Art Ruhe- All night I walk the city / watching the people go by. / I phase der Handlung zu befinden meint; und er ist gleich- try to sing a little ditt / but all that comes out is a sigh. / zeitig „außerhalb ihrer“, weil die Konvention besagt, dass The street looks very frightening; / the rain begins and derartige Musiken oft in die dann plötzlich hereinbrechen- then comes lightning / It seems love’s gone to pot / I’d de Katastrophe einmünden. rather have the blues / than what I’ve got. All night I walk the city, / watching the people go by. / I [21] Dass die Stimme eines Stars in gesungenen Passagen try to sing a little ditty, / but all that comes out is a sigh. / durch die Synchronstimme einer anderen Frau ersetzt The wind is blowing colder; / it looks like love is stale wurde, ist sehr häufig vorgekommen. So wurden die di- and older. / My luck don’t look so hot; / I’d rather have versen Lieder Rita Hayworths in dem Musikfilm PAL JOEY the blues / than what I’ve got. (USA 1957, George Sidney) wie schon in (USA 1952, Vincent Sherman) oder MISS SADIE [23] Die Behauptung bei Gorbman (1997, 67), Whitney THOMPSON (USA 1953, Curtis Bernhardt) von der Sängerin Houston singe das Lied, ist falsch. Jo Ann Greer gesungen. Anita Ellis verlieh Hayworth ihre Stimme in (1946, King Vidor), THE LADY FROM [24] Die Rolle der Gina wird übrigens gespielt von der SHANGHAI (1947, Orson Welles) und in THE LOVES OF Sängerin Connie Russell, von der es trotz ihrer musikali- CARMEN (1948, Charles Vidor). Selbst die Auftritte Leslie schen Qualitäten fast keine Schallplattenaufnahmen gibt Carons in GIGI (USA 1958, Vincente Minelli) wurden von Einzig die folgenden Aufnahmen waren nachweisbar: Betty Wand synchronisiert. Russell, Connie: Don't smoke in bed. New York: United Artists [1959?], 12 in., 33 1/3 rpm, 35min. – Playgirls: an original musical revue. [Written, produced & directed by] cken der Propaganda instrumentalisiert werden kann (oder Jackie Barnett. [Burbank, Calif.]: Warner Bros. [1964], 12 dass sie, im Gegenzug, zum Anlass von Zensur und Ver- in, 33 1/3 rpm, analog mono sound disc. Starring Connie bot werden kann). Russell, Cara Williams, Julie Wilson, and Kay Stevens, with orchestra; Dean Elliott, arranger-conductor. – "Snow [29] Auf eine Systematisierung verschiedener funktiona- dreams". Auf: Let it snow!: Cuddly Christmas classics ler Typen von Liedern werde ich hier verzichten; verwie- from Capitol. Hollywood, Cal.: Capitol Record 1992, 4 sen sei aber auf auf die Liste in Calvet/Klein (1987); die 3/4 in, 69min sound disc. Produced and compiled by Brad Autoren unterscheiden action songs, expositive songs, Benedict. – "Fascinating rhythm" (Connie Russell, Six synhetic (plot oriented) songs, pause songs, leitmotif Hits and a Miss, Berry Brothers, and MGM Studio Cho- songs, credit songs; Nasta (1991, 79) erweitert die Liste rus). Findet sich auf CD 3 von: That's entertainment: the noch um contrastive songs und gelegentlich verwendete ultimate anthology of M-G-M musicals. [s.l.] : Turner opera songs. Zwar liegen zahlreiche Untersuchungen zur Classic Movies Music / Los Angeles, CA: Rhino Movie Funktion einzelner Lieder vor; eine umfassende Untersu- Music 2006, 6 sound discs, digital, 4 3/4 in. Hinweis von chung steht aber aus. Vgl. dazu Altman 2001; Ludger Kaczmarek. Berliner/Furia 2002; Nasta 1991, 77-88; Lannin/Kaley 2005; Smith 2001. [25] Es handelt sich um den „Art and Viv Sanders’ Wood Green Jazz Club“ an den Fishmonger’s Arms in London; die Aufnahmen erfolgten 1955; die Produktion hatte der Literatur BFI Experimental Film Fund übernommen; der Film wur- de in der ersten Auswahl der Free-Cinema-Programme im Altman, Rick (1987) The American Film Musical. Bloo- Februar 1956 im National Film Theatre gezeigt. Zur de- mington/Indianapolis: Indiana University Press. taillierteren Analyse des Films vgl. Wulff 2011. --- (2001) Cinema and Popular Song: The Lost Tradition. [26] Ähnlich Gorbman 1987, 162. Ähnlich wie hier sieht In: Soundtrack Available: Essays on Film and Popular Gorbman auch die Ähnlichkeiten zwischen musikalischen Music. Ed. by Pamela Robertson Wojcik & Arthur Knight. Szenen, die als Musiknummern in der dargestellten Reali- Durham: Duke University Press, pp. 19-30. tät aufgeführt oder die durch extradiegetische Musik ge- klammert werden; zu letzteren vgl. Gorbman 1987, 39; ihr Berliner, Todd / Furia, Philip (2002) The sounds of si- Beispiel ist Fritz Langs Film RANCHO NOTORIOUS (DIE GE- lence. Songs in Hollywood films since the 1960s. Critical JAGTEN, aka: ENGEL DER GEJAGTEN, USA 1952), in dem nicht essay. In: Style 36,1, Spring 2002, pp. 1-11. nur eine Gesangsnummer von Marlene Dietrich (Get Away Young Man) enthalten ist, sondern vor allem eine Bodde, Gerrit (2002) Die Musik in den Filmen von Stan- mehrfach eingespielte Ballade vorkommt (Legend of ley Kubrick. Osnabrück: Der Andere Vlg. Chuck-A-Luck, gesungen von Bill Lee), die als extradie- getische Musik deskriptive Bildfolgen klammert; Gorb- Bühler, Karl (1965) Sprachtheorie. Die Darstellungsfunk- man vergleicht das Lied mit den Kommentar-Funktionen tion der Sprache. Stuttgart: Gustav Fischer. des Chors in der griechischen Tragödie, eine Interpretati- on, die insofern zu weit geht, als der Chor eine Instantiati- Bullerjahn, Claudia (2004) Grundlagen der Wirkung von on der moralischen Größe des Kommunikators (des Tex- Filmmusik. 2. Aufl. Augsburg: Wißner (Forum Musikpäd- tes) ist; der Song in Langs Film erreicht die Eindeutigkeit agogik. 43.). der textuellen Position des Chors an keiner Stelle. Außer- dem zeigen viele andere Beispiele, dass sich die Übertra- Calvet, Louis-Jean / Klein, Jean-Claude (1987) Chanson gung der dramatischen Funktionsrolle des Chors als un- et cinéma. In: Vibrations, 4, Janv. 1987, pp. 98-109. möglich oder irreführend erweist. Cooke, Mervin (2008) A History of Film Music. Cam- [27] Vgl. auch eine Marschversion, die zu einem Rennen bridge: Cambridge University Press. in Monza erklingt, 2:25:30. Eine genaue Beschreibung der Musiken, die auf der jüngst erschienenen Soundtrack- Emons, Hans / de la Motte-Haber, Helga (1980) Filmmu- CD enthalten sind (darunter einige Stücke, die in dem sik. Eine systematische Beschreibung, München/Wien: Film nicht verwendet wurden), findet sich auf der Home- Hanser. page der Film Score Monthly (URL: http://www.filmsco- remonthly.com/notes/grand_prix.html). Gorbman, Claudia (1987) Unheard Melodies. Narrative Film Music. Bloomington: Indiana University Press / [28] Explizit musikzentrierte Szenen begründen sich oft London: BFI Publishing. auch in einem eigenen ökonomischen und in einem politi- schen Funktionskreis – da Musik auch Warencharakter hat --- (2007) Hearing THELMA AND LOUISE. Active reading of und Objekt einer ganzen Industrie ist, nimmt es nicht the hybrid pop score. In: Thelma & Louise live! The cul- wunder, dass Musikszenen im Film immer auch eine Be- tural afterlife of an American film. Ed. by Bernie Cook. ziehung zu diesem Außen des Films haben, der gewisser- Austin: University of Texas Press, pp. 65-90. maßen immer auch ein Werbemedium für die Musiken ist. Und da Film immer in gesellschaftlicher Kommunikation steht, darf es nicht verwundern, dass Filmmusik zu Zwe- Herzog, Amy (2010) Dreams of Difference, Songs of the Schmidt, Hans-Christian (1988) „Spiel mir das Lied...“. Same: The Musical Moment in Film. Minneapolis: Uni- Entwicklungen und Grundlinien der Filmmusik. In: Uni- versity of Minnesota Press. versitas, 4, April 1988, S. 407-421.

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