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Literatur, 2.2.2010, 19.30 Uhr

"Mit dem Adler-Phaeton von Berlin nach Sorrent ... " Die große Reise des Otto Julius Bierbaum von Dagmar Just

Personen: Sie (jugendlich, lebendig, nicht neutral: Angerer/ Meyerfeldt?) Bierbaum: (um die 40, weich, sinnlich) Sprecher 1: Texte + mit B. sympathisierende Zitate (jugendlich) Sprecher 2 B. diskriminierende Zitate + Text (ironisch distanziert)

Musik: Johann Strauß: Die Fledermaus Richard Strauß: Traum durch die Dämmerung Oscar Straus: Der lustige Ehemann Richard Wagner: Tristan und Isolde (Prélude): Uri-Caine-Ensemble Scott Joplin : ragtime (The entertainer)

Geräusch: Eisenbahn (um 1870)

Hall

FLEDERMAUS-OUVERTÜRE (1) - ins zweite Motiv (l'été):

1 Sie: Ich suchte nur einen kleinen, mutmaßlichen Hochstapler: Martin Möbius. Worauf ich stieß, war ein ganz großer Fisch. Sein bürgerlicher Name: Otto Julius Bierbaum. Schriftsteller um die Jahrhundertwende. Ein Vielschreiber, der ein paar Bücher unter diesem Pseudonym geschrieben hatte. Bevor man ihn umbrachte. Der Mord wurde nie aufgeklärt. Man hatte Besseres zu tun, damals, als halb Europa im Fledermausfieber lag:

MUSIK: ENDE

Sie: Wie gesagt: Feierlaune in der Beletage... Da stirbt einer? So what! Die Täter: eine Clique von Professoren, Kritikern, Schriftstellern. Die Tatwaffe: ein Gift, wirksamer als Arsenik, so man es synchron ins Herz des Opfers und die Blutbahn der öffentlichen Meinung spritzt. Die Folgen? Eins der seltenen deutschen Literaturgenies - verkaufstechnisch auf Augenhöhe mit Heinrich Heine – zum Schreibzwerg eingedampft, einer Fußnote in drei verstaubten Dissertationen. Aber das nur am Rand. Wichtiger ist die Botschaft an die Nachwelt, also uns: Oben bleibt immer oben und Unten immer unten, im Leben wie in der Kunst. Hier eisbedeckter Höhenkamm mit den Edelfedern von Pythagoras und Platon bis Adorno und Botho Strauss, dort die schlammi- gen Niederungen des Tingeltangel und Boulevard von Kotzebue und Courths- mahler bis Dieter Bohlen und Thomas Gottschalk, und dazwischen der Ab- grund, Spielwiese für Verrückte, beziehungsweise Selbstmörder. Das ist das Gesetz, daran hält sich, wer was erreichen will. Und wenn nicht -

Sprecher 2 -Z: (liest langsam, scharf akzentuiert, MIT HALL , wie in einer Trauerhalle) "Nur der Politik, nicht dem Herzen gehorchend, nimmt die Redaktion der 'Xenien' von Otto Julius Bierbaums Tode Kenntnis. Für uns hatte der Mann, dem des Künstlers edelste Eigenschaft, der sittliche Ernst, gebrach, keine Bedeutung. Sein reiches, schmiegsames Talent hat er nach allen Regeln der Windrose hin verzettelt, in Vers und Prosa, lustig und schwärmerisch, heilig und frivol, modern und altertümlich gedich- tet, alles nach Lust und Laune der Leser, vielleicht auch stolz auf seine spielerische Vielseitigkeit, sein charakterloses Können. .. Ein solcher pseudohumoristischer Schriftsteller musste den Beifall gleichgesinnter Kreise finden – wir gönnen ihm seinen Eintagsfliegenruhm! Sei ihm, der doch in seinem 'Goethe-Kalender' so feinen Geschmack für Edleres

2 bekundet, die Erde so leicht, wie es sein künstlerisches Gewissen war!"

Sie: Charakterlos?... Eintagsfliege?... Frivol? ... Und dafür diesen Nachruf, im Namen der Politik?

HALL: ENDE

WAGNER: TRISTAN UND ISOLDE - PRÉLUDE

Sprecher 1-T : Sommer 1865. Amerika wird durch das Attentat auf Präsident Lincoln erschüttert, München - durch den Liebestod von "Tristan und Isolde" aus der neuen Oper von Richard Wagner. In Mannheim wird die BASF gegründet; in Wien ziehen Pferde die erste europäische Straßenbahn durch die Stadt, und der Abt des Brünner Augustinerklosters Gregor Mendel publiziert die von ihm entdeckten Vererbungsregeln, die aber keinen interessieren. Im schle- sischen Grüneberg wird Otto Julius Bierbaum geboren. Kurz darauf zieht er schon um.

GERÄUSCH (1)- EISENBAHN darüber:

Leipzig, Grimmaische Straße, direkt neben der Universität. Diesmal ist es keine Konditorei, sondern ein Bierlokal, mit dem die Bierbaums ihr Glück versuchen... Bruder Willi wird geboren... Es hätte eine schöne Kindheit werden können.

Sie: Es war der blanke Horror.

FLEDERMAUS (2) – Nr. 5, FINALE: Alfred "Glücklich ist, wer vergisst,/ was doch nicht zu ändern ist, Kling,kling Sing, sing, sing/ Trink mit mir, sing mit mir./ La la la ... Sing, sing, sing”

Sprecher 2-Z: "Wir hatten eine Wohnung, die eigentlich keine war. Neben dem Gast- zimmer nur ein kleiner Raum zum Schlafen.

3 In der Kriegszeit 1870/71 hat er auch einmal zwischen zwei pommerschen Landwehrleuten, welche in unseren Betten als Einquartierung schlafen mussten, gelegen. Schon mit vier oder fünf half er in der Wirtschaft. Da war es auch, wo er das erste Mal tüchtige Haue kriegte".

FLEDERMAUS NR.5 (3) – leise: "Glücklich ist" = 2. Wdh. - Duett Alfred-Rosalinde darüber:

Sprecher 2-Z:"Keinesfalls war es, wie Julius so oft schilderte, dass er von zu Hause fort musste, weil er so schwer zu ziehen gewesen sei" –

Sie: Trotzdem stecken sie ihn ins Erziehungsheim, in sicherer Entfernung

FLEDERMAUS NR.5 (4) – Alfred: (leise): "Das geniert mich nicht!/ Kling, kling, sing, sing, sing/ Trink mit mir, sing mit mir"

Bierbaum: "Das Freimaurerinstitut in -Friedrichstadt verfolgt nicht, wie man aus dem Namen schließen könnte, den Zweck, Freimaurer zu züchten, sondern aus jungen Knaben, die zu Hause schwer zu glätten sind, wohlpolierte Jünglinge".

Sprecher 1: Der Beginn des zweiten Kapitels von Bierbaums erstem autobiographi- schen Roman. Beim Eintritt in die Kinderhölle wird sein alter ego Willi- bald Stilpe zur Nummer 171.

Bierbaum: "Man schrieb sie ihm mit Tinte in die Wäsche, nähte sie ihm in die Kleider, klebte sie ihm in Stiefel und Mütze; sie stand auf seinem Kleiderschrank, seinem Bette, seinem Waschbecken, seinem Stiefel- wichsplatz, seinem Seifenkasten; und auch auf dem hölzernen Gewehre stand sie."

Sprecher 1: Es ist die Hoch-Zeit der schwarzen Pädagogik: Der Arzt und Gründer des ersten Leipziger Turn- und Gartenvereins Moritz Schreber steckt die eigenen Kinder in martialische orthopädische Geräte, um sie zu "gesunder Haltung" zu erziehen, und ein anderer Arzt, Heinrich Hoff- mann, genannt Kinderlieb, erfindet die "lustigen Bildgeschichten" um den "Struwelpeter" – Sadismus für Kinder von 3 bis 6...

4 Bierbaum: "Man wusch die jungen Häute nicht mit Mandelmilch, sondern mit Bimsstein".

Sie: Statt Klagen und Selbstmitleid Humor und Einübung in die "Verhal- tenslehren der Kälte". Das Bierbaum-Prinzip.

Bierbaum: "Meine allerliebste gute Mamma! / Ich lüge dir ganz gewiss nichts vor. Wenn ich in die Ferien komme will ich Dir schon zeigen, was ich für blaue Flecke hab, und ein ganzes Büschel Haare hat mir Einer ausgeris- sen. Bloß weil ich ihm die Stiefeln nicht habe putzen wollen".

Sie: Eine Generation älter als Robert Musil und zehn Jahre vor dessen "Ver- wirrungen des Zöglings Törless" schildert dieser "Pseudohumorist" schon all die Foltern, mit denen das Kaiserreich seinen künftigen Leistungsträgern das Rückgrat bricht.

FLEDERMAUS NR. 5 (5) – Alfred "Das geniert mich nicht/ Kling, kling, sing, sing, sing, trink mit mir" .

Sprecher 1: Wunderbarerweise überleben der kleine Willi und sein Autor anschei- nend unbeschadet. Literatur als Rettungsanker -

Bierbaum: "Das Wort Dichter schlug gewaltig bei mir ein, und ich glaube, dass ich seit jenen Tagen so unverschämt gewesen bin, mir einzubilden, ich könnte einmal Dichter werden."

GERÄUSCH (2) – EISENBAHN

Sprecher 1: Kurzer Abstecher an die Leipziger Thomasschule, dann Aufnahme ins Wurzener Gymnasium. Er eckt wieder an, wehrt sich und – gründet einen literarischen Debattierklub.

Sie: Sein Wahlspruch: Sturm und Drang! Sein Gott: Lenz - der Dichter des "Hofmeisters." Der lieber im russischen Schnee erfror, als in den Net- zen der Hofgesellschaft.

Sprecher 1: Man wirft ihn hinaus. Er schreibt einen Protestbrief. An den Minister. Und hat Erfolg. David bezwingt den Goliath. Er wird rehabilitiert,

5 die Schulleitung evaluiert.

GERÄUSCH (3) – EISENBAHN

Sprecher 1: Er studiert. Hastig, ziellos, chaotisch. Fastly living, early dying. 1885 in Zürich: Philosophie, Anthropologie, Weltgeschichte, Russische Litera- tur. 1886 in : Corpsstudent in einer schlagenden Verbindung plus Militär. 1887 in München: Kurse über Islandistik und Ästhetik. 1888 in Berlin:

Bierbaum: "Ich wollte mich für den Konsulatsdienst in Persien ausbilden. Man verstehe: Firdusi! Aber das Reich brauchte, schon damals an Aus- breitung deutschen Einflusses in China denkend, Chinesen, und so trat ich in die Chinesische Klasse ein.

Sprecher 1: Zwei Jahre. Dann der Bankrott des Vaters und der Entschluss:

Bierbaum: "Auf mich und meinen Federhalter zu bauen, der nun also auch die Eltern miternähren sollte. Ich wurde Journalist."

Sie: Als wenn die Welt allen offenstünde!

Bierbaum: "Das Leben lacht,/ Der Wind geht weich,/ Die Welt wird sacht/ Zum Himmelreich;/ Lass alle Brummer brummen,/ Die Schönheit muss doch kummen."

FLEDERMAUS (6) - OUVERTURE , Anfang

Sprecher 1: München. Kunsthauptstadt. Hier soll sein Glück beginnen: Er ist jetzt 24. Hat kein Geld. Keine Kontakte. Keinen Namen und wirkt wie das leibhaftige Gegenbild zu Maupassants Bel-Ami, dem Darling jener Jahre:

Sprecher 2-Z: "Hübsch war er nicht, der junge Bierbaum: der kleine Mann hatte schon damals etwas Dicklich-Quabbliches. Das Gesicht zirkelrund und unsicher gezeichnet. Nur das graue Auge von ungewöhnlicher Schön- heit: groß, klug, klar."

6 Sprecher 1: Sonstige Kennzeichen: wilde Phantasie, labile Gesundheit, ein Alkohol- problem. Bohèmehaftes Outfit. Schreibzwang. Mangelnde Ausdauer. gnadenloser Optimist. Talent zum Geldborgen. Allesgenießer.

Sprecher 2-T: (ironisch) Das ist das Kapital, mit dem er die Welt erobern will.

Sprecher 1: Das ist das Kapital, mit dem er sie erobert. Fast 750 Titel in zwanzig Jahren. Gedichte, Lieder, Romane, Erzählungen, Novellen, Märchen, Dramen, Opern-, und Ballettlibretti, KünstlerBiografien, Reisebe-richte, Reportagen, Kinderbücher, Kritiken, Essays. In den Pausen übersetzt er, bearbeitet, leitet ein, gibt heraus, kommentiert.

Sie: Er schreibt, wie andere atmen. Was ihn treibt? Seine Vision. Die Mauern in der Kunst – einreißen! Die alten Claims – aufmischen und das Para- dies zurückerobern!

SCOTT JOPLIN: RAGTIME (sehr leise, darüber)

Ein Postmoderner vor dem Beginn der Moderne.

Sprecher 1: Ein Utopist, der alles mit allem verbinden will: Literatur, Musik und Malerei mit Tanz und Kunsthandwerk, Architektur und Technik, das Niedere mit dem Erhabenen, Humor und Pathos, Tradition und Innovation, Kritik und Liebe.

Sie: Wagners Gesamtkunstwerk down to earth . Eine Kunst – universell und demokratisch.

Sprecher 2 Hundert Jahre später postuliert ein anderer Träumer und Anarchist:

Sprecher 1-Z: Wir haben die Aufgabe, erschöpfte Menschen auf nichtekelhafte Weise zu unterhalten".

Sie: Das nennt Peter Hacks Klassik. Bierbaum nennt es: Gebrauchskunst .

Bierbaum: "Angewandte Lyrik- da haben Sie unser Schlagwort."

Sprecher 1: Fieberhaft arbeitet er an seinem Projekt. Sucht Partner, schmiedet Alli- anzen, akquiriert Sponsoren, reist von München nach Berlin, und von

7 Wien zurück nach München, plant, gründet, scheitert, plant erneut, gründet wieder.

Sprecher 2-T: (spöttisch) Damals erfindet täglich einer irgendwas!... Dynamit- Kaugummi-Schreibmaschine-Telefon-Füller-Glühlampe-Wolkenkrat-zer- Motorrad-Auto-Taxi-Jenaer Glas-Zeppelin-Tonfilm-Bakteriologie- Kommunismus-Gartenstadt-Art-Déco-Psychoanalyse.

Sprecher 1: Und doch veröffentlicht er die erste Anthologie moderner Lyrik; ent-wirft Programm und Profil des ersten deutschen ; kreiert das einzige "lyrische Theater" von Berlin; erfindet den Begriff Schlager, den Goethe-Kalender, das geflügelte Wort "Reisen statt rasen!" und "Humor ist, wenn man trotzdem lacht"... Revolutioniert die Buchgestaltung; entdeckt Rilke und die Plakatkunst, speziell die von Toulouse-Lautrec; rettet Böcklin vor den "Sachverständigen und Laien", die ihn nur als "geschmacklosen Narren" handeln; druckt zuerst "Den Tor und den Tod" des jungen Loris, alias Hugo von Hofmannsthal. Und prägt be- rühmte Literaturzeitschriften: die "Freie Bühne" benennt er in "Neue Deutsche Rundschau" um. Den "PAN" konzipiert er Sprecher 2-Z : "als Mekka der besten dichterischen und zeichnerischen Könner der Gegenwart, feinsten Essayisten auf den Gebieten der Literatur, Kunst und des Kunstgewerbes". - Ernst von Wolzogen. Sprecher 1: Heute ein Sammlerobjekt, sollte es damals das Publikum zur Kunst erziehen, statt es zu hofieren... Zeitschrift Nummer ist die berühmte "Insel", und die begründet den Inselverlag - ein Imperium, das noch immer unter diesem Namen, Logo und Geist segelt.

FLEDERMAUS (7) – OUVERTÜRE, gesampelt mit JOPLINS Entertainer- RAGTIME (2), darüber:

Der erste satirische Romane der deutschen Literatur? Aus seiner Feder. Die erste offene Darstellung von Päderastie und Knabenliebe in den Salons der happy few ? Sein Verdienst.

Sie: Inklusive dem Skandal, den die Fledermaus-Gesellschaft daraufhin vom

8 Zaune bricht. Um ihn umzubringen.

Sprecher 1: Aber vorher plant er noch einen historischen Roman über Päpstin Johanna. Arbeitstitel: "Die Päpstin". Er stirbt darüber, - also hat die Amerikanerin Donna Woolfolk Cross den 2009 verfilmten Bestseller verfasst. Auch eine avantgardistische Zeitschrift im Geist von Samuel

Becketts "Wen kümmert's, wer spricht" will er gründen. Ihr Name: "Der

Tulpen-Klub".

Sie: Last but not least: Seine "Empfindsame Reise mit dem Automobil”. Das erste Autoreisebuch der Deutschen...

GERÄUSCH (1) - EISENBAHN/ AUTO (um 1900) Irgendwie hatte er die Direktion der Berliner Adler-Werke dazu ge- bracht, ihn mit dem neuesten Modell ihrer Produktion -

Sprecher 2-T: einem Adler-Phaeton, 8 PS, ein Zylinder, drei Gänge, offener Viersitzer ohne Türen, 25 bis 30 km/h maximal, Sie: - plus Chaffeur und Ehefrau auf eine Reklametour von Berlin nach Rom und über die Alpen zurück zu senden.

Bierbaum: "Das Maschinelle ist bis auf Kleinigkeiten eigentlich schon tadellos, es fehlt nur noch am Ästhetischen. – Unsere Automobile sehen aus wie Zugwagen ohne Zugtiere. Ein Auto, sprich: ein Laufwagen, soll aber Selbstgefühl genug haben auszusehen wie eine Maschine ... Hier ist eine ästhetisch-konstruktive Aufgabe zu erledigen, der nur ein Kün-stler gewachsen ist, dem mehr einfällt als Schnörkel im Jugendstil und sezessionistischer Zierat. Peter Behrens zum Beispiel – Sprecher 2-T: 1868 bis 1940. Architekt, Maler, Designer, Typograph. Ab 1908 Industriebauten, vor allem für die AEG. Erfinder des Corporate Designs

Sprecher 1: Wie Goethe schildert Bierbaum diese Reise in Briefen. 18 Stück, alle im Voraus an die Wiener "ZEIT. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst" verkauft. Darin – köstliche Szenen wie die von seinem Empfang in Floridsdorf bei Wien:

Bierbaum: "'A Automobüll? Alsdann – was bedeut' das? Gonix! Bei uns im Hof steht ans, wann wir nur fahren wollten!' oder: 'Sie! Ham's ka Göld nüt

9 zum Eisenbahnfohm?' Nur ein Betrunkner produzierte etwas wie Witz, als er rief: 'Da sollte der Tierschutzverein a Wörtl dreinredn. Alsdann, was geschieht denn mit dene Gäul, wenn man mit solche Zeugln fahrt? Müssen alle geschlachtet werden! Und überhaupt: Was saufts denn nöt lieber den Spiritus, statt an Gestank daraus zu machen?'

GERÄUSCH (2) – AUTO 1910

"Noch an keinem Tage taten uns die Eisenbahnreisenden so leid, denn

wir fuhren auf der alten Straße über den Brenner, bald über, bald unter, bald neben der Brennerbahn, deren schwarze geschlossene Wagen uns wie aneinandergekoppelte Käfige vorkamen. Dass sich die heutigen Menschen freiwillig dahineinbegeben, nur, weil sie die Möglichkeit haben, damit schnell vorwärtszukommen, wird einmal zu den Wunder- lichkeiten unserer Zeit gehören."

GERÄUSCH (3) - AUTO 1910

Bierbaum: "Vom Vesuv ist zu melden, dass er nicht spuckt. ich werde mich bei Herrn Thomas Cook beschweren. Ich verlange ja keinen direkten Aus- bruch, aber bloß so dazustehen wie jeder andere Berg, ohne die ge- ringste Rauchsäule, das ist für einen allgemein anerkannten und im Baedecker mit zwei Sternen versehenen Vulkan zu wenig... Bloß Wolken, die kann man auch über dem Kreuzberg sehen, der gar keinen Stern hat".

GERÄUSCH (4) - AUTO – EISENBAHN

GERÄUSCH (5) - AUTO

Bierbaum: "Aber die rasenden Automobilisten sollten Lokomotivführer werden,

10 oder für ihren Sport eigne Straßen bauen, die recht und links mit drei Meter hohen, dichten Planken umgeben sind. Mögen sie, wenn ihnen das Spaß macht, als Klecks an einer Gartenmauer enden, oder als moderne Schaltiere, überzogen mit einer Kruste von Staub irgendwo ankommen, von wo sie nächsten Tages weiter rasen, um wieder bloß irgendwo anzukommen". Sie: Was war dieser Bierbaum, wenn nicht ein Ein Pionier! Ein Abenteurer! Ein Kolumbus der Moderne! Sprecher 2-T: Ein Schwätzer! Ein Markt-Sklave! Literarischer Wendehals! Dampf-Angler im trüben Wasser des Massenerfolgs!

JOPLIN - Entertainer (3)

Sprecher 2-T: (abschätzig) Sein erstes Kinderbuch: "Zäpfel Kerns Abenteuer" – ein Klassiker. Die Anthologie "Deutsche Chansons" - ein Bestseller. Sein zweiter Gedichtband, "Irrgarten der Liebe" – der nächste Bestseller, Startauflage: 5000 Stück, vergriffen in einer Woche. 30 000 nach einem Jahr. 1923 - die magische Marke von 100 000.

Bierbaum: "Nichts hat man mir verübelt, als dass ich einige Zeit hindurch den Ruf besaß, gute Geschäfte mit der Literatur gemacht zu haben. Wie wenig das zutrifft!"

Sprecher 2-Z: "Wie kann man nur Bierbaum heißen und Dichter werden wollen?" Stefan George.

Sprecher 1-Z: "Es könnte sein, dass manch sangbares Lied seines Mundes noch lebt, wenn vieles, was uns heute gewichtiger dünkt, vergessen ist." Thomas Mann.

RICHARD STRAUSS: TRAUM DURCH DIE DÄMMERUNG darüber

Bierbaum: "Weite Wiesen im Dämmergrau; / die Sonne verglomm, die Sterne ziehn, nun geh ich hin zu der schönen Frau,/ weit über Wiesen im Dämmergrau, / tief in den Busch von Jasmin."

11 Sprecher 1: Seine Lieder wurden von bekannten und unbekannten Komponisten vertont. "Traum durch die Dämmerung" in der Version von Richard Strauss gehört zum Repertoire aller großen Sänger von Richard Tauber und Dietrich Fischer-Dieskau bis Jessye Norman.

Sprecher 2-Z: (ironisch) "Ringelringelrosenkranz, ich tanz mit meiner Frau/ Wir tanzen um den Rosenbusch/Klingklanggloribusch, ich dreh mich wie ein Pfau" –

OSCAR STRAUS: DER LUSTIGE EHEMANN, erste Strophe ,

Sprecher 1: "Der Lustige Ehemann". Gedacht als freche Parodie auf ein Schäferlied mit ironischer Spitze gegen das amüsierwütig-unpolitische Bürgertum. Aber man nehme einen Operettenkönig wie Oscar Straus -

Sie: der später am Broadway Karriere macht -

Sprecher 1: - dazu das Tänzertraumpaar Bradsky und Koppel -

Sie: eine Art Berliner Ginger und Fred um 1900 -

Sprecher 1: stecke sie in einen neckischen Bierdermeierlook und lasse das Ganze en suite auf der Bühne des angesagten "Überbrettl" spielen –

Sie: Ernst von Wolzogens Gründung des ersten Berliner Kabaretts:

Sprecher 1: Aus der Parodie wird ein Hit

Sie: und der deutsche Columbus - zum Schlagerdichter der Saison und populärsten deutschen Schriftsteller.

Sprecher 2-Z "Der Riesenerfolg, den seine literarischen Gassenhauer durch mein Überbrettl fanden, wurden ihm als Verbrechen angerechnet und bis ans Ende seiner Tage nachgetragen". Ernst von Wolzogen.

Sie: Verbrechen! Das Stichwort.

Sie: Offiziell stirbt er an einem nie ausgeheilten Nierenleiden. Die wirkliche Todesursache ist anderer Art.

Sprecher 1: Mobbing, von englisch: "to mob" – anpöbeln, bedrängen. Oder auch

12 "mob" – Meute, Pöbel, Bande. Terminus für Psychoterror am Arbeits- platz. 1963 von Konrad Lorenz ins Deutsche eingeführt für: "Angriff mehrerer Tiere auf einen Fressfeind oder überlegenen Gegner" – bei ihm: Gänse gegen einen Fuchs.

Sprecher 2-T: Und wer wären die Gänse im Fall Bierbaum?

Sie: Die üblichen Verdächtigen: Kulturträger. Besitzstandswahrer. Das Establishment.

Sprecher 2-T: Ihr Motiv?

Sie: Neid, Rache. Profilierungssucht.

Sprecher 2-T: Allgemeinplätze!

Sie: Sie neiden ihm alles. Sein Talent, seine Frohnatur. Seinen Aufstieg. Sprecher 2-T: Reine Spekulation!

Sie: Seine Frauen, seine Häuser, seine Freiheit. Dass er sich traut, monate-

lang aus dem Dunstkreis der Macht abzutauchen. Ins Abseits.

Sprecher 2-Z: "Die schönen Frauen muss man phantasielosen Männern wie Bier- baum überlassen. Der Schurke hat Glück mit Häusern und Weibern."

Sie: Die hecheln und lügen, ohne rot zu werden. Bierbaums erste Frau ist mit einem Geiger durchgebrannt.

Sprecher 1: Z "Danach war es aus mit der Friedlichkeit seines Humors. Er wurde sar- kastisch bitter." Kuriert sich jedoch selbst, mit der gleichen Medizin wie einst in Wurzen, Dresden, Leipzig -

Bierbaum: "Auf eine altenglische Melodie zur Zupfgeige zu singen": Ach, mein Schatz ist durchgegangen,/ Laridah!/ Erst wollt ich ihn wiederfangen,/ Laridah/ Doch dann hab ich mich besonnen:/ Laridah/ Manch Verloren ist Gewonnen,/ Laridah."

Sprecher 1: Macht einfach einen Hit aus seinem Schmerz. Gesundet. Verliebt sich wieder. Heiratet die 18 Jahre jüngere Italienerin Gemma Pruneti-Lotti

aus Fiesole

Bierbaum: "Dich zu lieben, das wird Ruhe sein,/ Hand in Hand und ohne Bangen –

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darüber:

Sie: Noch stärker als der Neid trifft der Hass. Sie mauern. Verbreiten Gerüchte. Verweigern den Vorabdruck seiner Texte, verreißen, was neu erscheint oder schweigen tot.

Sprecher 1-Z: "Diesem geheimen aber wohlorganisierten Widerstand gegen Bier- baum bin ich immer wieder begegnet. Ich bin überzeugt, dass er unter diesem Meuchelmord an seinem Schaffen schwer gelitten hat." Josef

August Beringer.

Sie: Sie verleumden ihn, wo sie können:

Sprecher 2-Z: "Sächsisch-Provinzieller Stegreiflaie" ist. Ein Lügner. Ein Dekorationsgenie". Ein Literaturchamäleon". Produzent widerwärtiger Plattheiten, Banalitäten und zum Brechen süßen Zuckerzeugs".

Sie: Einem, nur einem antwortet er.

Bierbaum: "Sehr geehrter Herr Mauthner! Ich mag ein sehr kleiner Poet sein, ein Däumling von einem Poeten, gerade groß genug, den hohlen Zahn eines Kritikers zu füllen, aber wenn ich mich an eine poetische Arbeit begebe, so geschieht es, weil ich etwas auf dem Herzen habe, und wenn ein Poet etwas auf dem Herzen hat, so schnüffelt er nicht in fremden Theaterstücken herum oder stochert in aktuellen Perversi- täten aus Zeitungsakten und überlegt, ob lustig oder traurig mehr du jour ist, sondern es beschäftigt ihn zunächst nur der Gedanke: Soll ich diese Bewegung lieber mit mir selber als Mittelpunkt und allem tatsächlichen Drum und Dran widerspiegeln, oder soll ich sie in eine Fabel bringen, die es mir erlaubt, sie weit von mir wegzustellen... Sind dann wirklich nur 'maskierte Zeitgenossen' herausgekommen ..., will ich mir gern den ästhetischen Tadel gefallen lassen, den das verdient, - nicht aber den sittlichen, dass ich schwindelhaft spekuliert hätte."

14 Sprecher 1-Z: "Ein Argloser, des kollegialen Giftes nicht gewärtig" .

Sie: Es hilft nichts. Sie verzeihen ihm nicht, dass er der falsche Mann am falschen Ort zur falschen Zeit ist. Und dass er sie das spüren lässt: Er ist keiner von ihnen. Er ist der Prototyp des modernen Schriftstellers.

SCOTT JOPLIN () - the ENTERTAINER-RAGTIME

Sprecher 1: Seine Intelligenz, sein Geschmack, seine Bildung, seine leichte Hand, sein überragendes Talent zum Networking und Trendsetting – Sie: Ein Umberto Eco der Kaiserzeit. Hollywood hätte ihm Höchstgagen gezahlt - Zu spät!

FLEDERMAUS (9) – FINALE NR. 11 - "Brüderlein und Schwesterlein"

Sprecher 1: Ende 1909 zieht er gegen den Rat der Ärzte plötzlich nach Dresden. Ausgerechnet Dresden, den Schreckens-Ort. Arbeitet weiter. Immer nachts, immer mit Tee, Kaffee, schweren Zigarren. Doch die Kraft ist aufgebraucht. Er erkrankt. Liegt sieben Wochen. Verspricht seiner Mut- ter, die ihn pflegt: Wenn ich wieder gesund bin - und stirbt. Mit 44.

Sie: Das Gift der Gänse aber wirkt weiter.

Bierbaum: 1921 erscheint eine siebenbändige Werkausgabe. Vergessen. 1934 wird das auf ein Buch zusammengestrichene dreiteilige Hauptwerk "Prinz Kuckuck" neu ediert und kurz darauf als "Schund- und Schmutz- literatur" indiziert. Heute vergessen. Nach dem Krieg gibt es vereinzelte Ausgaben der Lieder und Geschichten, abzuzählen an den Fingern einer Hand. Dazu das Autobuch. Drei Dissertationen, vier Nachworte. Keine Biografie. Die Briefe verstauben in der Münchner Stadt bibliothek. In den Lexika nur kurze abschätzige Einträge. "Lorbeer ist ein gutes Kraut/ Für die Saucenköche;/ Wer's als Kopfbedeckung wünscht,/ Wisse, dass es steche."

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FLEDERMAUS (10) – OUVERTÜRE, Anfang. Ende.

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