ERINNERT

„Heute, am 23. Mai 1949 …“

Konrad Adenauer und die Verkündung des Grundgesetzes

CHRISTOPHER BECKMANN Geboren 1966 in Essen, Historiker, diese Charakterisierung des rasanten wirt- Wissen schaftlicher Mitarbeiter schaftlichen Aufschwungs der jungen der Hauptabteilung Wissenschaftliche Bundesrepublik wiederholt und aus- Dienste / Archiv für Christlich- drücklich als inadäquat abgelehnt hat. In Demokratische Politik der Konrad- ebensolcher Regelmäßigkeit wird an das Adenauer-Stiftung. „Wunder von Bern“ erinnert, also den sensationellen Sieg der deutschen Mann- schaft im Finale der Fußballweltmeister- Der Begriff „Wunder“ ist mit Blick auf schaft 1954, in dem manche sogar die die frühe bundesdeutsche Geschichte be- eigentliche „Geburtsstunde“ der Bundes- kanntlich durchaus gebräuchlich: Vom republik sehen – auch das eine höchst in- „Wirtschaftswunder“ ist nach wie vor die adäquate und historisch falsche Aussage. Rede, obwohl dessen „Vater“, der legen- Nun ist der Begriff „Wunder“ grund- däre Wirtschaftsminister , sätzlich wenig geeignet, um geschichtliche

14 Die Politische Meinung Ereignisse oder Prozesse zu beschreiben. exakt neun Jahre nach dem Tag, an dem Dass es aber dem Parlamentarischen Rat 1939 mit dem deutschen Überfall auf Po- 1948/49 gelang, in knapp neun Monaten len der Zweite Weltkrieg begonnen hatte. eine Verfassung – um den vorläufigen Die Schlussabstimmung über das Grund- Charakter bis zur Wiederherstellung eines gesetz und dessen Annahme wiederum gesamtdeutschen Staates zu unterstrei- hatten am 8. Mai 1949 stattgefunden – chen, nannte man das Ganze „Grund- auf den Tag genau vier Jahre, nachdem der gesetz“ – zu erarbeiten, die durch die Ver- Krieg mit der bedingungslosen Kapitula- pflichtung zum Schutz der Menschen- tion der deutschen Wehrmacht zu Ende würde eine „kopernikanische Wende“ gegangen war. Der 23. Mai 1949 hingegen, (Christian Bommarius) im Verhältnis des an dem das Grundgesetz unterzeichnet Staates zu den Bürgern bedeutete und und verkündet wurde und mit dessen Ab- sich bis heute als tragfähige Grundlage er- lauf es in Kraft trat, bezeichnete kein be- wiesen hat, trug angesichts der schwieri- deutsames historisches Datum der jünge- gen Rahmenbedingungen durchaus wun- ren deutschen Vergangenheit. Dass sich dersame Züge. Es handelte sich nämlich am 23. Mai 1618 der Prager Fenstersturz um eine „Verfassungsschöpfung unter ereignet hatte, der den Auftakt zum Besatzungsherrschaft“ (Rudolf Morsey), Dreißigjäh rigen Krieg darstellte, dürfte die sich im Schatten des eskalierenden wohl den wenigsten der Beteiligten be- Kalten Krieges – parallel zu den Bonner wusst gewesen sein. Beratungen verlief das Drama der sowje- Bis heute spielt der 23. Mai 1949 im tischen Blockade West-Berlins, die erst allgemeinen Bewusstsein der Deutschen am 4. Mai 1949 aufgehoben wurde – unter allenfalls eine untergeordnete Rolle, stellt enormen Belastungen vollzog: Hunger, er keinen nationalen „Erinnerungsort“ Wohnungsnot, Flüchtlingselend und die im Sinne eines „Kristallisationspunkte[s] moralische Last der furchtbaren Verbre- kollektiver Erinnerung und Identität“ chen, die in deutschem Namen und von (Étienne François) dar. Auch die Tatsache, Deutschen begangen worden waren. dass zwischen 1979 und 2009 die in der Regel alle fünf Jahre fällige Wahl des Bundespräsidenten bewusst an diesem (K)EIN GESCHICHTS- Tag stattfand, hat hieran nichts zu ändern TRÄCHTIGES DATUM? vermocht. hingegen, der als Präsident des Parlamentarischen Rates die Der Tag, an dem mit der Unterzeichnung Zeremonie zu leiten hatte, betonte bereits und Verkündung des Grundgesetzes der in seinen Eröffnungsworten die histori- Prozess der Verfassungsschöpfung in die sche Bedeutung des Tages: „Heute, am Gründung der Bundesrepublik Deutsch- 23. Mai 1949, beginnt ein neuer Abschnitt land mündete, war im Unterschied zu an- in der wechselvollen Geschichte unseres deren Eckdaten seines Verlaufs kein auf Volkes: Heute wird nach der Unterzeich- den ersten Blick geschichtsträchtiges Da- nung und Verkündung des Grundgeset- tum: Konstituiert hatte sich der Parla- zes die Bundesrepublik Deutschland in mentarische Rat am 1. September 1948 – die Geschichte eintreten. Wir sind uns alle

15 Nr. 555, März/April 2019, 64. Jahrgang Erinnert klar darüber, was das bedeutet. Wer die Sicht ein „Sprung ins Dunkle“, in eine un- Jahre seit 1933 bewusst erlebt hat, wer den gewisse Zukunft, gewesen sei. völligen Zusammenbruch im Jahre 1945 Ort der Unterzeichnung war der mitgemacht hat, wer bewusst erlebt hat, große Saal der direkt am Rhein gelegenen, wie die ganze staatliche Gewalt seit 1945 im Stil des Dessauer Bauhauses errichte- von den Alliierten übernommen worden ten Bonner Pädagogischen Akademie, des ist, der denkt bewegten Herzens daran, späteren Bundeshauses und Kerns des sich dass heute, mit dem Ablauf dieses Tages, in den folgenden Jahren und Jahrzehnten das neue Deutschland entsteht.“ entwickelnden Parlaments- und Regie- rungsviertels. Zahlreiche nationale und internationale Pressevertreter beobachte- ZWIESPALT DER GEFÜHLE ten das Eintreffen der geladenen Gäste, die Fahnen der deutschen Länder wehten vor dem Gebäude, ebenso eine schwarz- Schon der Auftakt der Arbeit des Parla- rot-goldene Fahne auf dem Dach der Aka- mentarischen Rates, die Eröffnung am demie. Das Interesse der Bevölkerung 1. September 1948 im Lichthof des natur- hingegen hielt sich, wie während der ge- kundlichen Museums Koenig, hatte un- samten Arbeit des Parlamentarischen Ra- terschiedliche Emotionen ausgelöst: Wäh- tes, in Grenzen – die meisten Deutschen rend der als Beobachter anwesende Wirt- waren damit beschäftigt, die Widrigkei- schaftsjournalist Antonius John rückbli- ten des Nachkriegsalltags zu bewältigen, ckend meinte, es sei tatsächlich „so etwas viele befanden sich nach dem Untergang wie Staatsgefühl“ aufgekommen, glaubte der Demokratie von Weimar und dem to- sich die für die SPD dem Rat angehörende talen, nicht zuletzt moralischen Bankrott Notarin Elisabeth Selbert aus Kassel in ei- des Nationalsozialismus in politischer ner „Krematoriumsfeier“. Apathie. Außerdem machte es der ange- Dieser Zwiespalt prägte auch die Ge- sichts der deutschen Teilung angestrebte fühle bei der Unterzeichnung des Grund- Provisoriumscharakter des zu schaffen- gesetzes am 23. Mai 1949, das der Parla- den Staatswesens schwer, die Bonner Be- mentarische Rat in den neun Monaten seit ratungen zu einem nationalen histori- der Eröffnung erarbeitet hatte. Der Journa- schen Ereignis aufzuwerten. Das Gefühl list und spätere CSU-Bundestagsabgeord- der meisten Westdeutschen gegenüber nete Max Schulze-Vorberg, der den Gang dem Parlamentarischen Rat war weder der Beratungen des Parlamentarischen Ra- Begeisterung noch Ablehnung, sondern tes intensiv beobachtet und kommentiert schlichte Teilnahmslosigkeit. hatte, erinnerte sich später, „viel Hoff- Wie die gesamte Tätigkeit des Parla- nung“ gehabt zu haben. Der Sozialdemo- mentarischen Rates war auch die Unter- krat Hannsheinz Bauer hingegen, einer der zeichnung des Grundgesetzes, immerhin wenigen unter den Verfassungseltern, die nichts weniger als eine Staatsgründung, das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet von Nüchternheit und Sachlichkeit ge- hatten, berichtete, sich bei seiner Unter- kennzeichnet. Auf dem Tisch, auf dem das schrift unter das Grundgesetz „nicht ganz Original des Grundgesetzes zur Unter- wohl gefühlt“ zu haben, weil es aus seiner zeichnung bereitlag, stand als Schmuck

16 Die Politische Meinung „Heute, am 23. Mai 1949 …“, Christopher Beckmann ein goldenes, von zwei kleinen Engeln Genehmigung des Grundgesetzes durch flankiertes Tintenfass. Es war 1899 vom die Militärgouverneure und seine An- Goldschmied Alois Kreiten geschaffen nahme durch die Landtage der west- worden, stammte aus dem Kölner Rats- deutschen Länder, deren Minister- und silber und dürfte dem ehemaligen Kölner Landtagspräsidenten nun ebenfalls unter- Ober bürger meister Konrad Adenauer also schrieben, ebenso der Berliner Oberbür- vertraut gewesen sein. germeister Ernst Reuter und der Präsident Nach seinen einleitenden Worten der Berliner Stadtverordnetenversamm- setzte der spätere Bundeskanzler als Erster lung, . seine Unterschrift unter das Grundgesetz; es folgten die Vizepräsidenten des Parla- mentarischen Rates, Adolph Schönfelder „ICH HAB MICH ERGEBEN“ und Hermann Schäfer, dann die übrigen Abgeordneten, darunter auch die sechs (von acht) Abgeordneten der CSU, die in Begleitet wurde der Unterzeichnungs- der Schlussabstimmung dem Verfas- vorgang mit gedämpfter Orgelmusik. Da- sungswerk wegen des ihrer Meinung nach bei wäre es fast zu einem kleinen Eklat nicht stark genug ausgeprägten Föderalis- gekommen: Der Organist spielte einige mus die Zustimmung verweigert hatten. Paraphrasen aus Joseph Haydns Kaiser- Auch der Bayerische Landtag hatte am quartett, zu dessen Melodie Hoffmann von 20. Mai 1949 das Grundgesetz nach fünf- Fallersleben sein „Lied der Deutschen“ zehnstündiger, teilweise tumultartiger komponiert hatte. Dieses aber war seitens Debatte abgelehnt, in einer weiteren Ab- der Siegermächte nach wie vor verboten. stimmung allerdings beschlossen, dass es Der SPD-Politiker Carlo Schmid soll zum trotzdem für Bayern gelten solle, sofern Organisten geeilt sein und diesem statt- ihm zwei Drittel der deutschen Länder zu- dessen Händel verordnet haben. Nach stimmen würden. Nur die beiden Abge- Abschluss des Unterzeichnungsvorgangs ordneten der Kommunistischen Partei im verkündete Konrad Adenauer offiziell Parlamentarischen Rat, Max Reimann „im Namen und im Auftrage des Parla- und Heinz Renner, verweigerten ihre Un- mentarischen Rates“ das Grundgesetz und terschrift – mit der von Renner nach sei- dessen Inkrafttreten „mit Ablauf des heu- nem Namensaufruf lautstark vorgetrage- tigen Tages“. Da das soeben entstandene nen Begründung, man lehne es ab, „die „ Provisorium“ noch keine Hymne hatte, Spaltung Deutschlands“ zu unterschrei- stimmten die Anwesenden ein 1820 vom ben. Schon in der konstituierenden Sit- aus der Turnerbewegung stammenden zung des Parlamentarischen Rates hatten Germanisten Hans Ferdinand Maßmann, Reimann und Renner den Antrag gestellt, Teilnehmer am Wartburgfest von 1817, man möge die Beratungen über eine sepa- unter der Überschrift „Gelübde“ verfass- rate westdeutsche Verfassung sofort ein- tes Lied an: „Ich hab mich ergeben, mit stellen beziehungsweise gar nicht erst auf- Herz und mit Hand, Dir Land voll Lieb nehmen. und Leben, mein deutsches Vaterland.“ Nach der Unterzeichnung durch die Konrad Adenauers prominente Rolle Abgeordneten verkündete Adenauer die bei der Verkündung des Grundgesetzes

17 Nr. 555, März/April 2019, 64. Jahrgang „Heute, am 23. Mai 1949 …“, Christopher Beckmann war sinnbildlich für den Führungsan- Präsidenten innewohnenden Möglichkei- spruch, den er mit der Präsidentschaft im ten besser erkannt als die meisten ande- Parlamentarischen Rat erworben und un- ren, viele CDU-Politiker eingeschlossen. termauert hatte. Sie war gewissermaßen Schmid betrachtete daher in der Rück- das Sprungbrett des mittlerweile 73-Jähri- schau die Zustimmung der SPD zur Wahl gen ins Kanzleramt. Dies lag zum einen Adenauers als „entscheidenden Fehler“: an der effektiven Art und Weise, mit der er Dieser habe nämlich das Amt genutzt, um die Beratungen über das Grundgesetz ge- für die Öffentlichkeit und die Besatzungs- leitet und dafür gesorgt hatte, scheinbar mächte zum „ersten Mann des zu schaf- festgefahrene Situationen zu überwinden fenden Staates“ zu werden, „noch ehe es und den Prozess der Verfassungsschöp- diesen Staat gab“. fung zu einem erfolgreichen Ende zu brin- Die Verkündung des Grundgesetzes gen. meinte später, Ade- beendete Konrad Adenauer, indem er „der nauer habe sein „großartiges Talent“ festen Überzeugung“ Ausdruck verlieh, eingesetzt, um „das zu vereinfachen und dass man mit der Erarbeitung des Grund- aufzuknoten, was sich in den Kontrover- gesetzes „einen wesentlichen Beitrag zur sen der […] Spezialisten verwirrt und ver- Wiedervereinigung des ganzen deutschen wickelt hatte“. Volkes“ geleistet habe. Er zitierte aus des- sen Präambel, wonach das deutsche Volk sich dieses Grundgesetz gegeben habe, „ERSTER MANN DES ZU „von dem Willen beseelt, seine nationale SCHAFFENDEN STAATES“ und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem verein- ten Europa dem Frieden der Welt zu die- Zum anderen hatte der Alte von Rhön- nen“. Seit dem 3. Oktober 1990 ist der dorf, wie Carlo Schmid, eine weitere zen- erste Teil dieser Selbstverpflichtung er- trale Gestalt des Parlamentarischen Rates, füllt. Der zweite bleibt eine dauerhafte rückblickend feststellte, die dem Amt des Aufgabe.

18 Die Politische Meinung