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Wirtschaftsexperten Nitz, einen der we- christdemokratischer Re- nigen Gesprächspartner, die nach dem gierungschef in Deutsch- Sturz des SED-Politbüros noch zur Ver- land erzielt hat. fügung standen. Nitz schildert das Tref- Aus Brandenburg, wo fen mit Teltschik in einem Buch („Län- die CDU gegen den Sozi- derspiel“), das diese Woche im Berliner aldemokraten Manfred Verlag edition ost erscheint. Stolpe (54,1 Prozent) bei Für Bonn, versicherte Teltschik, gehe 18,7 Prozent landete, es nicht um das Ende der DDR. Kohl be- brachte der Spitzenkandi- mühe sich, „die Situation in der DDR und dat Peter Wagner die Zu- die Regierung Modrow nicht zu destabili- versicht mit, bei der Bun- sieren“. destagswahl werde die Am 13. Dezember notierte Nitz in sei- CDU sehr viel besser da- nem „streng vertraulichen“ Papier an Mi- stehen. 70 000 potentielle nisterpräsident Modrow: „Der Kanzler CDU-Wähler hätten näm- wolle kein künstliches Feuer entfachen. lich, weil sie klare Ver- Er sähe jetzt vorrangig Chancen durch hältnisse wollten, für Stol- Zusammenarbeit mit der DDR.“ pe gestimmt. Weitere Teltschik machte dem DDR-Abge- 100 000 CDU-Anhänger sandten deutlich, daß die Bonner unter seien statt zur Wahl „in internationalem Druck stünden. Kohl die Pilze gegangen“, weil stoße mit seinem Plan für eine Konföde- traditionell der 11. Sep- ration auf „Widerstand“ und „Vorbehal- tember in Brandenburg FDP-Wahlwerbung in Nordrhein-Westfalen: Lieber te“ bei den europäischen Nachbarn. Eine Sammeltag sei. Destabilisierung der DDR wäre „für Alles schön und gut, moserte Norbert noch stärker machen. Noch vier Wo- Gorbatschow verhängnisvoll“. Kohl wer- Blüm, aber wie solle es jetzt eigentlich chen bis zum 16. Oktober, und die de daher „den Gedanken an jeden im Wahlkampf weitergehen? Ob etwa, Kanzlerpartei hat Angst vorm großen deutsch-deutschen Alleingang verdrän- fragte der Arbeitsminister, die Union Loch. gen“. weiterhin den Wahlkampf ausschließlich als Staatsmann, der erst Kohl nahm Kurs auf die schnelle Ein- gegen die PDS führen werde, um die die russische Armee und dann die Alli- heit erst nach seinem Besuch in Dresden SPD wegen Sachsen-Anhalt zu mar- ierten in verabschiedet, ist abge- am 19.Dezember 1989. Dort drängte sich tern? feiert. Daß er viel verändern und so das das Volk ins Protokoll, nachdem Kohl Die Union müsse sich fragen, pflich- moderne Deutschland schaffen wolle, und Modrow Verhandlungen über eine tete ihm der CDU/CSU-Fraktionschef sagt der Kanzler im Wahlkampf auch „Vertragsgemeinschaft“ der beiden Wolfgang Schäuble bei, ob die Aktion nicht mehr so laut wie früher. deutschen Staaten vereinbart hatten. gegen die PDS noch lange trage. Statt dessen empfahl er vorige Woche Zehntausende von DDR-Bürgern ver- „Wir haben inzwischen kapiert“, so in Bad Tölz: „Weiter so“ und ermahnte langten vor der Ruine der Frauenkirche ein Kohl-Berater, „daß das bei den Leu- die Kundgebungsbesucher im Regen, unter schwarz-rot-goldenen Fahnen mit ten in der Ex-DDR nicht ankommt.“ „auf verläßlichem Pfad“ zu bleiben und „Deutschland-Deutschland“- und Trotzreaktionen könnten die PDS nur „keine Experimente“ zu wagen. „Helmut-Helmut“-Rufen eine rasche Die Sorge geht um in der Vereinigung. Die ostdeutschen Massen Lieber mit Liberalen Unionsspitze, daß die Partei zu ließen den Bundeskanzler und promo- früh zu gut liegt – und die er- vierten Historiker Kohl plötzlich „die ge- hofften 45 Prozent am Ende schichtliche Stunde“ erkennen. „Wird die FDP erneut den Einzug nicht zu bekommen sind. Erst jetzt wurde die SED für Kohl zum in den schaffen?“ Dem erfahrenen Profi Hei- Nichts. Y ner Geißler graut vor einer ja 37 Lücke in der Kampagne. Und er traut den Prognosen der Koalitionen nein 57 Meinungsforscher nicht recht: „Ich weiß von früher, daß in den letzten Wochen vor den „Angenommen, die FDP kommt nicht mehr Wahlen mit Umfragen auch In die Pilze in den nächsten Bundestag. Wie fänden Politik gemacht wird.“ Sie das?“ Das Institut für Demoskopie 42 in Allensbach, das noch immer gegangen 38 im Bann der Gründerin und Kohl-Beraterin Elisabeth Die Union setzt jetzt auf die abso- Noelle-Neumann steht, glaubt lute Mehrheit oder eine Große zu wissen, daß die Präsentati- 19 on der SPD-Troika den Ab- Koalition – weil die FDP in Not ist. wärtstrend der Genossen nicht bremsen könne. Die SPD s gab nur gute Nachrichten in den plumpste bei den Allensbach- Sitzungen von Präsidium und Vor- Umfragen von 34,2 Prozent Estand der CDU am vorigen Mon- „würde ich „würde ich „wäre mir egal“ auf 33 Prozent. tag. Dennoch blieb die Stimmung mau. begrüßen“ bedauern“ Die Sozialdemokraten hal- Kurt Biedenkopf konnte mit 58,1 Pro- ten Umfragen ihres Polis-Insti- An 100 fehlende Prozent: keine Angabe; Emnid-Umfrage für den SPIEGEL, zent bei der sächsischen Landtagswahl 1000 Befragte, 12. und 13. September 1994 tuts dagegen – von 34 kletterte das beste Ergebnis vorweisen, das je ein die SPD auf 36 Prozent –,

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Umfragen derzeit etwa Fraktion, Jürgen Rüttgers, forderte gleichauf mit Union plus Kinkel öffentlich auf, er solle für Ord- FDP. nung in seinem Laden sorgen. Kohl werde wahrschein- hatte seine Partei auf lich mit schmaler Mehr- Kohl und die herrschende Regierung heit weiterregieren, da festgelegt. Jetzt versucht er, sich aus der war sich die Mehrheit im Affäre zu ziehen: „Ich habe mit dem CDU-Präsidium im Prin- Saarbrücker Landesverband nichts zu zip Hoffnung einig (der- tun.“ zeit haben Union und Kinkel glaubt unverdrossen an den FDP eine Mehrheit von Wiedereinzug der Liberalen in den Bun- 128 Mandaten). destag und die Fortsetzung der Koaliti- Oder es kommt für die on (siehe Seite 24). Seine Rechnung ist Regierung schlimm, und leicht paradox: Je gewaltiger die Nieder- die Liberalen bleiben auf lagen in den Ländern ausfallen, desto der Strecke. In Sachsen strahlender wird die Bilanz am 16. Ok- (1,7 Prozent) und Bran- tober sein. denburg (2,2 Prozent) en- Die nordrhein-westfälische FDP, dete der Kinkel-Klub als wichtigster Landesverband der Libera- Splitterpartei wie schon kurz zuvor bei der Euro- „Dann müssen NETZHAUT pawahl. In Bayern näch- ohne den Verlierer sten Sonntag sieht es ähn- vernünftige Leute sich lich erschreckend aus. wonach die glorreichen drei die Chan- In Umfragen steht die FDP bundes- zusammensetzen“ cen am 16. Oktober enorm verbessert weit noch bei etwa 7 Prozent. In der hätten. CDU-Spitze aber regen sich Zweifel, ob len, will ihren Wählern den Verlierer in Nur soviel ist inzwischen bei den das so bleibt. Kohl beklagte öffentlich, Serie ersparen: Kinkel-Plakate gibt es Volksbefragungen so gut wie unum- die Liberalen hätten ihre Klientel auf an Rhein und Ruhr nicht. Landeschef stritten: Die PDS dürfte wieder im Kommunal- und Landesebene weitge- Jürgen W. Möllemann läßt lieber sich nächsten Bundestag sitzen. Mindestens hend verloren. Eine Zweitstimmen- selber neben die Veteranen Otto Graf drei Direktmandate sind ihr ziemlich si- Kampagne der CDU zugunsten des klei- Lambsdorff und Hans-Dietrich Gen- cher am 16. Oktober, ergibt sich aus ei- neren Partners, die er schon mal zur scher kleben – „Starke Köpfe braucht ner Emnid-Umfrage im Auftrag des Rettung der FDP erwogen hat, lehnt der das Land“. Zehn Tage vor der Wahl soll SPIEGEL (siehe Seite 29). Kanzler mittlerweile ab: „Wir haben dann Genscher, „der Macht-Techniker, Wahrscheinlich werde die PDS sogar keine Stimme zu verschenken.“ Balance-Künstler und Rückversicherer bis zu sieben direkt gewählte Wahl- Wie hätte die Union auch. Selbst par excellence“ (Die Woche), allein für kreisabgeordnete stellen, sagte Bundes- wenn die Liberalen es wieder schaffen, die Blaugelben werben – als Schachspie- tagspräsidentin Rita Süssmuth ihren muß es ja nicht unbedingt für die alte ler, mit dem Spruch: „Ein kluger Zug: Führungskollegen voraus. Dazu beitra- Regierung reichen. Die FDP könnte Ihre Zweitstimme“. gen könnte eine Flüsterkampagne unter dann in eine Ampel- SPD-Sympathisanten, wonach die PDS Koalition mit SPD und in ihren aussichtsreichen Ost-Wahlkrei- Grünen eintreten. FDP am Boden sen gepäppelt werden soll. Der FDP-Fraktions- Ergebnisse der letzten Wahlen in Prozent Er werde „immer und immer wieder chef Hermann Otto 5,9 dementieren“, daß es solche Abspra- Solms redete vorige 5,6 chen gebe, merkte SPD-Geschäftsfüh- Woche unvermutet an- rer Günter Verheugen an. Dabei ist die ders über die Ampel als 4,4 Einsicht unter Sozialdemokraten ge- sein Parteichef Klaus 4,2 4,1 wachsen, daß die FDP schwach bleiben Kinkel („Es wird nicht 3,6 und die PDS stark werden muß, damit herumgehampelt und Schleswig-Holstein Helmut Kohl und Klaus Kinkel keine nicht rumgeampelt“). 5.4.1992 Mehrheit mehr haben. Wenn es für die Fort- Hamburg 19.9.1993 Erste Vorstöße, bei den Erststimmen setzung der Koalition Baden- 2,2 Württemberg Niedersachsen 13.3.1994 zu mauscheln, sind laut Verheugen so- nicht mehr reiche, er- 5.4.1992 Europawahl 12.6.1994 1,7 gar von der CDU gekommen. Ein Mit- läuterte Solms gravitä- arbeiter des Konrad-Adenauer-Hauses tisch, die FDP aber mit Sachsen-Anhalt 26.6.1994 habe ihm schon vor der Europawahl SPD und Grünen ei- Brandenburg 11.9.1994 vorgeschlagen, man solle doch wechsel- ne Mehrheit besitze, Sachsen 11.9.1994 seitig die Kandidaten von CDU oder „muß man weiterse- SPD in den PDS-dominierten Wahl- hen“. kreisen unterstützen. Er habe das da- Solms dementierte im nachhinein. Der Sozialdemokrat Verheugen, als mals („Ich bin ja nicht blöd“) ebenso Eher sei die FDP bereit, in die Oppositi- einstiger FDP-Generalsekretär und als Kartell der Großen abgelehnt wie on zu gehen. Genschers Ziehsohn bestens mit den li- später einen entsprechenden Vorschlag Die Liberalen wackeln nach allen Sei- beralen Verhältnissen vertraut, ist si- des CDU-Abgeordneten Horst Eyl- ten. In Bonn stehen sie gegen die SPD cher: „Die FDP fliegt raus aus dem mann. und den Troikaner Lafontaine – in Saar- Bundestag. Es gibt immer ein erstes Zusammen mit den PDS-Abgeordne- brücken wollen sie mit der SPD und La- Mal.“ ten – voraussichtlich etwa 30 – liegen fontaine koalieren. Der Parlamentari- Auch Kohl und Schäuble sehen den Sozialdemokraten und Grüne in den sche Geschäftsführer der CDU/CSU- Partner in akuter Absturzgefahr. Jeder

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für sich allein, das ist die Devise der Union für die allerletzten Wochen im Liberale Wahlkampf. Absolute Mehrheit der C-Parteien – 45 Prozent plus x – heißt das Ziel. Die Überlegung: Scheitert die FDP knapp unter 5 Prozent, würde die Union als Der gute Kamerad stärkste Fraktion den größten Anteil beim Aufteilen der Restprozente erhal- SPIEGEL-Redakteur Hartmut Palmer über FDP-Chef Klaus Kinkel ten. Die absolute Mehrheit der Sitze wä- re, FDP und sonstige gescheiterten Par- teien mit rund 8 Prozent veranschlagt, wanzig Minuten vor Beginn der droht am kommenden Sonntag bei der schon bei gut 46 Prozent zu haben. Veranstaltung wird der Saal verklei- Landtagswahl in Bayern ein neues De- Schlägt die Union nicht ganz soviel Znert. Er bietet Platz für 1800 Perso- bakel. heraus, bleibt dennoch Hoffnung, wei- nen und ist zu groß für diesen Gast. Ein „Es gibt Dinge“, jammert der Vorsit- terzuregieren. Denn SPD und Grüne Teil der furchterregend leeren Stuhlrei- zende in einer Mischung aus Wut und dürften, wenn es die PDS schafft, eine hen verschwindet hinter einer faltbaren Wehleidigkeit, „für die ich nichts kann – Mehrheit für den Wechsel schwerlich er- Trennwand – Gnade für Klaus Kinkel. und trotzdem muß ich den Buckel hin- gattern. Und Kanzlerkandidat Rudolf Vor ein paar Tagen standen hier die halten.“ Scharping ist noch strikt gegen eine Dul- Leute bis auf die Straße, als der PDS- Was bleibt ihm anderes übrig, als die dung durch die PDS nach Magdeburger Kandidat Stefan Heym und dessen SPD- Lage für die Bundestagswahl schönzure- Modell oder gar die Beteiligung der So- Kontrahent zum den. Klaus Kinkel hat sich auf ein Spiel zialisten an einer rot-grünen Regierung. Streitgespräch antraten. Kinkel zieht am eingelassen, das ihn Kopf und Kragen Und dann? Bliebe die Große Koaliti- vergangenen Dienstag gerade mal 300 kosten kann. on mit der SPD als Junior-Partner. bis 400 Neugierige ins Verlagshaus der „Wenn es am 16. Oktober nicht Auch diese Möglichkeit schließt der am Ost-Berliner Alex- klappt“, das immerhin ist ihm klar, Kanzler nicht mehr aus: „Dann müssen anderplatz. „dann ist es aus mit mir.“ vernünftige Leute sich zusammenset- „Ich finde Sie wirklich sympathisch“, Wenn es aber klappt und Helmut zen und sagen, daß wir auf Zeit zusam- sagt einer von denen zu ihm. „Aber ich Kohl mit den Liberalen weiterregieren mengehen und das miteinander ma- weiß einfach nicht, warum ich FDP wäh- kann, warten Hans-Dietrich Genschers chen.“ len soll.“ große Schuhe auf ihn. Fürs passende Echo bei den Sozialde- Präziser läßt sich Kinkels Problem So jedenfalls stellt sich Kinkel, der mokraten sorgt Troikaner Gerhard nicht auf den Punkt bringen. Alle mögen Genscher-Zögling, das vor. Hat nicht Schröder. Er ist offenbar für jede Über- den Schwaben. Nur wählen wollen sie auch der Hallenser Meister Jahre ge- raschung gut und engagiert sich inzwi- ihn nicht. Immer mehr Deutsche finden braucht, ehe er Anerkennung in der Öf- schen offen via Fernsehen für die Große seine FDP entbehrlich. Seit Kinkel den fentlichkeit und in seiner Partei fand? Koalition: „Wenn es wirklich so sein Parteivorsitz übernahm, fuhr die FDP Ist nicht Genscher am Anfang seiner sollte, daß nach der Bundestagswahl ei- nur schlimme Niederlagen ein. Nun Laufbahn genauso als Amateur und Lai- ne andere Möglichkeit rechnerisch nicht enspieler verspottet worden wie Kinkel übrigbleibt, dann wird man eine Regie- * In Radebeul. heute? rung bilden müssen, das geht doch gar nicht an- ders.“ Und Scharping? Er spricht einstweilen in Rätseln. Kurz vor der Sachsen- Wahl lobte er den CDU- Mann Biedenkopf: „Wahrlich ein guter Mi- nisterpräsident. Ich sage das, selbst wenn das mei- nen Freunden in Sachsen schadet.“ Nach der Wahl wollte er nur soviel sa- gen: „Unter Kohl wird es keine Große Koalition geben.“ Unter wem aber? Unter Schäuble oder gar Biedenkopf? Unverbrüchlich ist noch gegen das Mammut- Bündnis mit dem Junior- Partner SPD. Ihm wäre eine von den Sozialde- mokraten auf Zeit tole- rierte Minderheitsregie-

rung Kohl lieber – „bis zu M. STEHLIK / TRANSIT Neuwahlen“. Y Wahlkämpfer Kinkel*: „Wenn es nicht klappt, ist es aus mit mir“

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