Plenarprotokoll 14/33

Deutscher Bundestag

Stenographischer Bericht

33. Sitzung

Berlin, Montag, den 19. April 1999

I n h a l t :

Tagesordnungspunkt 1: Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 2683 C Rede des Bundestagspräsidenten Dr. Gregor Gysi PDS ...... 2686 C Wolfgang Thierse ...... 2663 A Dr. Manfred Stolpe, Ministerpräsident (Bran- denburg) ...... 2688 A Tagesordnungspunkt 2: Michael Glos CDU/CSU...... 2689 D Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers Sabine Kaspereit SPD ...... 2691 C Vollendung der Einheit Deutschlands Eberhard Diepgen, Reg. Bürgermeister (Berlin) 2693 B Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 2668 D Nächste Sitzung...... 2695 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ...... 2674 B Dr. Peter Struck SPD ...... 2678 B Anlage Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P...... 2681 A Liste der entschuldigten Abgeordneten...... 2696 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2663

(A) (C)

33. Sitzung

Berlin, Montag, den 19. April 1999

Beginn: 12.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Die Sitzung ist er- hinterher mit neuen Augen gesehen. Aus aller Welt öffnet. strömten die Menschen in diese Stadt und konnten sich von einem neuen, heiteren Berlin überzeugen. Herr Bundespräsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- gen! Sir Norman Foster! Sehr geehrte Damen und Her- Heute, am 19. April 1999, ist es soweit: Berlin ist von ren! Zur ersten Sitzung des Deutschen Bundestages im nun an die politische Metropole Deutschlands, das um- umgebauten Reichstagsgebäude in Berlin begrüße ichgebaute Reichstagsgebäude ist ab heute Sitz des Deut- Sie alle sehr herzlich. Am 3. Oktober 1990 haben wir an schen Bundestages. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesem Ort die deutsche Einigung gefeiert. Am 4. Okto- bei aller Bedeutung dieses Tages für die deutsche Ge- ber fand in diesem Haus die erste Sitzung des gemein- schichte und für diese Stadt, bei allen unterschiedlichen samen, des gesamtdeutschen Bundestages statt. Ein Jahr Auffassungen sind wir uns einig, daß Berlin für Freiheit zuvor sind in Ostdeutschland wochen- und monatelang und Demokratie, für eine europäische Politik stehen Hunderttausende auf den Straßen für Freiheit in einem wird. Wir wollen keine andere Republik, sondern einen geeinten Deutschland eingetreten. möglichst unaufgeregten, geradezu selbstverständlichen (B) Wechsel von Bonn nach Berlin. Auch nach diesem Um- (D) „Wir sind das Volk!“ – dieser Ruf ist Wirklichkeitzug wird die Bundesrepublik der föderale, rechtsstaat- geworden. Fast neun Jahre später zieht der Deutscheliche und soziale Bundesstaat sein, der sich in Bonn über Bundestag in dieses Gebäude ein – eine notwendige und Jahrzehnte hinweg bewährt hat. zwingende Konsequenz der deutschen Einheit. „Dem Deutschen Volke“ – diese Inschrift unter dem Giebelfeld (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE des Westportals, die über Jahre hinweg eine leere For- GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) mel oder bestenfalls ein Versprechen war, steht nun wieder für den Anspruch an das Parlament und an jeden Arbeits- und Handlungsfähigkeit, Kontinuität und einzelnen von uns, den Auftrag unserer Verfassung zu Verläßlichkeit, Lösung alter und neuer Probleme, Be- erfüllen und uns ganz dem Dienst am Volk zu widmen. wältigung von Erblasten und von neuen Herausforde- rungen – dies sind unsere Handlungsmaximen für Ber- Die Parlamentarier des 12. Deutschen Bundestageslin. Politik wird von hier aus gewiß nicht bequemer oder haben sich nach einer denkwürdigen Debatte am 21. Juni gemütlicher werden. Die Menschen in Deutschland und 1991 für Berlin als wirkliche Hauptstadt und Sitz desin der Welt vertrauen aber darauf, daß wir die Chance gesamtdeutschen Parlaments ausgesprochen. Der Deut- der deutschen Einheit verantwortungsvoll für unser sche Bundestag hat damit ein Bekenntnis eingelöst, das Land und für Europa wahrnehmen, daß wir die innere er seit Jahrzehnten verkündet, beschlossen und zu kei- Einheit vollenden, daß wir den Wechsel nach Berlin nem Zeitpunkt widerrufen hat. Am 30. Oktober 1991nutzen und uns mit aller Energie den dringenden und so entschied der Ältestenrat des Deutschen Bundestagesbeschwerlichen Reformnotwendigkeiten stellen: Über- dann, daß der historische Wallot-Bau als Sitz des ge-windung der Massenarbeitslosigkeit, Reform des Sozial- samtdeutschen Parlaments wiederhergestellt und genutzt staates, Steuerreform, Gesundheitsreform, Reform unse- werden soll. res Bildungswesens, Modernisierung des Staates, Ver- besserung der Familienförderung. Der Herausforderun- Wir erinnern uns: In der Zwischenzeit ist vieles dis- gen sind genug, um von Berlin aus viele Neuanfänge zu kutiert worden. Alte Vorbehalte wurden ausgeräumt.wagen. Neue Ängste unserer Nachbarn vor einem wiederaufer- standenen übermächtigen Deutschland kamen auf. Der Wir sollten aber trotzdem, liebe Kolleginnen und Umzug wurde zeitweise zu einer reinen KostenfrageKollegen, behutsam in der Wortwahl sein. In den letzten degradiert. Selten zuvor wurde so viel über Kunst imMonaten ist viel von der Bonner und der Berliner Repu- und am Bau geredet. Das Gebäude verschwand für eine blik geredet worden. Dabei – wir wissen es – schwingen Woche unter den kunstvollen Hüllen Christos und wurde Befürchtungen mit, die durch die kriegerischen Ausein- 2664 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Präsident Wolfgang Thierse (A) andersetzungen im Kosovo und die deutsche Beteiligung wofür? Für Preußentum? Für Wilhelminismus? Für das (C) daran neue Nahrung bekommen haben mögen. WerScheitern der Weimarer Republik? Für Hitlers Diktatur? wollte bestreiten, daß wir es mit einem dramatischenFür die Teilung und die Einheit Deutschlands? – Ich will Einschnitt in der deutschen Politik zu tun haben? dazu einige Antworten versuchen. Gibt es – so frage ich mich – einen mehr als zufälli- Natürlich war der historische Reichstag kein preußi- gen zeitlichen Zusammenhang mit dem Wechsel dersches Parlament. Er war bereits weit demokratischer als deutschen Politik von Bonn nach Berlin? Ja, ich glaube, der Preußische Landtag. Das Wahlrecht machte keinen einen solchen Zusammenhang gibt es. Er ist von gerade- Unterschied mehr zwischen Besitzenden und Besitz- zu tragischer geschichtlicher Dialektik. Die Wiederkehr losen. Das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht galt für eines gesamtdeutschen Parlaments nach Berlin und der den Reichstag nicht. Aber dennoch ist nicht zu leugnen, kriegerische Konflikt um das Kosovo haben eine ge-daß der preußisch-militärische Geist im Jahr 1914 auch meinsame Ursache: das Ende des Kommunismus. Es hat den Reichstag erfaßte und die Legende vom angeblichen uns das Glück der deutschen Einheit beschert, aber eben Verteidigungsfall nahezu alle Abgeordneten veranlaßte, nicht – wie es doch vieler Menschen Hoffnung 1989 und die Kriegskredite für den ersten Weltkrieg zu bewilli- 1990 war – das goldene Zeitalter des Friedens, sondern gen. Doch es ist wiederum gerade Preußen, das zum neue, alte Gewalt. festen demokratischen Bollwerk in der Phase der Wei- Aber man sage nicht, die Rückkehr von Parlamentmarer Republik wurde. Es mußte 1932 als erstes „ge- und Regierung nach Berlin sei die Rückkehr zu einerschleift“ werden, bevor die Nationalsozialisten im Fol- kriegführenden deutschen Politik, sei ein Rückfall ingejahr ihre Machteroberung erfolgreich beenden konn- schlimmste deutsche Geschichte. Wer so polemischten. redet, der hat nichts begriffen vom Epochenwechsel Und der Wilhelminismus? Atmen nicht noch heute 1989/90, einem Epochenwechsel, der auch mittels der die Gemäuer dieses Hauses den Geist der wilhelmi- entschlossenen Friedfertigkeit der Akteure bewirkt wur- nischen Epoche? Ist es nicht in seinem Gemisch unter- de. Deren Ziel aber war die Erringung der elementaren schiedlicher Baustile, den Tilmann Buddensieg fast Menschen- und Freiheitsrechte, die heute im Kosovospöttisch den „synthetischen Reichsstil“ genannt hat, wieder auf schlimmste Weise verletzt werden. dieser Mischung von Formen der italienischen Hoch- Auch die Entspannungspolitik Willy Brandts vor über renaissance, des Neobarock und – mit der alten Kuppel – 20 Jahren und der Helsinki-Prozeß waren erfolgreicheder Kombination von Stahl und Glas geradezu ein bau- Versuche der Einmischung im Sinne der Menschen-liches Wahrzeichen dieser wilhelminischen Epoche? rechte, waren „humanitäre Interventionen“ unter denImmerhin: Die Grundsteinlegung im Jahre 1884 erlebte Bedingungen atomarer Hochrüstung. Soll jetzt wieder die Hammerschläge von Wilhelm I. und seinen Nach- (B) und weiter eine Nichteinmischungsdoktrin gelten – da- folgern Friedrich III. und Wilhelm II. Die kritische(D) mals hieß sie Breschnew-Doktrin –, unter der gerade die Öffentlichkeit vermerkte damals, daß allzuviel Militär Menschen und Bürgerrechtler im Osten Deutschlandsund kaum Parlamentarier an dieser Zeremonie teilge- und Europas gelitten haben? nommen hatten – welch ein Unterschied zu heute. Nein, es ist nicht das Wiederanknüpfen an preußisch- Dennoch wäre es verfehlt, die Identifikation mit dem deutsche Großmachtphantasien, die den Weltfrieden be- Wilhelminismus allzusehr zu strapazieren. Als der Bau droht haben. Nein, nicht gegen unsere Nachbarn, son-in den 90er Jahren fertig wurde, nannte ihn der Kaiser dern mit unseren europäischen Nachbarn haben dieöffentlich den „Gipfel der Geschmacklosigkeit“, kujo- Deutschen den schmerzlichen Entschluß gefaßt, sich an nierte den Architekten Paul Wallot und gebrauchte in einer internationalen militärischen Aktion zu beteiligen, den Briefwechseln sogar den Begriff „Reichsaffenhaus“. die keine Eroberungsziele hat, die auf nichts anderesNein, sowohl das Gebäude wie das, was in ihm geschah, zielt als darauf, dem Morden, der Vertreibung, der ethni- zielte bereits im Kaiserreich stärker in Richtung auf schen Säuberung mitten in Europa Einhalt zu gebieten. parlamentarische Demokratie als in Richtung auf einen Wer wollte bestreiten, daß dies eine Aktion mit hohem restaurativen Absolutismus. In Debatten um die Kolo- politischen wie völkerrechtlichen Risiko ist? Sie ist der nialfrage oder um den Schlachtflottenbau, über die, wie schmerzliche Schlußstrich unter viele Fehler und Ver- es damals hieß, „gemeingefährlichen Bestrebungen der säumnisse, die in den Jahren zuvor erfolgt sind. Nur –Sozialdemokratie“ oder über die Friedensresolution und hier spreche ich mit , einem entschie- 1917 stritten auf der rechten wie der linken Seite des denen Verfechter der Friedensbewegung der 80er Jahre –: politischen Spektrums so hervorragende Redner und In einer wirklich tragischen Situation wird man durchParlamentarierer wie Rudolf von Bennigsen, Eugen Handeln wie durch Nichthandeln schuldig. DurchRichter, Wilhelm von Kardorff, Ludwig Windthorst, Nichthandeln hätten wir uns vermutlich ungleich schul- Matthias Erzberger, August Bebel oder Friedrich Ebert. diger gemacht. Aber weil es dem Reichstag des Kaiserreiches nicht Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute von gelang, Verfassungsänderungen in Richtung auf erwei- unserem neuen Plenarsaal im Reichstagsgebäude Besitz terte Parlamentsrechte durchzusetzen, war es geradezu ergreifen, ist eine kritische Innenansicht unserer eigenen folgerichtig, daß der Sozialdemokrat Philipp Scheide- Geschichte geradezu zwingend, eine Selbstvergewisse- mann am 9. November 1918 von einem Fenster dieses rung darüber, welches historische Erbe wir gerade inHauses aus die Republik ausrief. Und wie selbstver- diesem so umstrittenen Gebäude antreten. Wie häufigständlich hielten auch zunächst die Arbeiter und Solda- war von ihm als Symbol die Rede. Aber ein Symboltenräte ihre Sitzungen im von ihnen besetzten Reichs- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2665

Präsident Wolfgang Thierse (A) tagsgebäude ab. Endlich galt nun nach 1919 überall in Otto Wels hielt seine bewegende und bis heute auf-(C) Deutschland das gleiche Wahlrecht für Frauen. Dasrüttelnde Rede gegen das Ermächtigungsgesetz nicht Reich erhielt eine demokratische Verfassung. mehr im Reichstagsgebäude, sondern gegenüber, in der Kroll-Oper. Den Kommunisten waren einfach die Man- Es waren übrigens die drei Parteien, die die Friedens- date aberkannt worden; viele von ihnen wie auch man- resolution im Kriegsjahr 1917 verfaßt hatten, die jetztche sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete befan- die die Weimarer Republik tragenden Parteien wurden: den sich bereits in sogenannter Schutzhaft. Der Satz die Liberalen, das Zentrum, die Sozialdemokraten. Der „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre Reichstag wurde also der Ort der parlamentarischennicht“ steht bis heute für den Mut der einzigen Oppositi- Auseinandersetzung. Und hier fanden die Trauerfeiern onspartei, der Sozialdemokraten, die in dieser Stunde statt für den ermordeten Walther Rathenau 1922, für den den nationalsozialistischen und deutschnationalen verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, fürMachthabern widerstanden und gegen das Ermächti- Außenminister Gustav Stresemann. Ab jetzt also dergungsgesetz und damit die Selbstaufgabe des Parlaments Reichstag als Ort eines ungetrübten Parlamentarismus? stimmten. Hitlers Appell an den Deutschen Reichstag – Bedauerlicherweise ist auch hier die historische Wirk- ich zitiere –, „uns zu genehmigen, was wir auch lichkeit schwieriger. Bereits nach den Wahlen von 1920 ohnedem hätten nehmen können“, demonstrierte zu- machte das Wort von der „Republik ohne Republikaner“ gleich die Ausweglosigkeit der Lage bereits zu diesem die Runde. Die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre Zeitpunkt für alle Parlamentarier. läutete den Untergang dieser ersten Demokratie auf deutschem Boden ein. Gleichwohl wollten auch die Nazis nicht ganz auf die Symbolkraft dieses Gebäudes verzichten. Nach notdürf- Golo Mann hat den Vorgang für das Parlamenttiger Teilrestaurierung wurden während der Olympi- anschaulich so beschrieben: schen Spiele 1936 Führungen für ausländische Besucher durchgeführt. Die Nazis hatten die Schamlosigkeit, in Der rasende Verfall begann, als, September 1930, diesen Räumen Ausstellungen wie zum Beispiel „Der die nationalsozialistische Fraktion von 12 Mitglie- ewige Jude“ oder „Bolschewismus ohne Maske“ zu zei- dern mit einem Schlag auf 107 anwuchs. Nun bra- gen und – bezeichnenderweise am fünften Jahrestag des chen alle Furien des Hasses ein in den Kuppelsaal Brandes – die Ausstellung über „Entartete Kunst“ hier … Der Reichstag hörte zu funktionieren auf: Pan- zu eröffnen. dämonium, in dem die Stimme der Mitte, der alt- modischen, der zur Arbeit, zur wechselseitigen Im Mai 1945 war es für die siegreiche sowjetische Achtung … Mahnenden verklangen, wie Stimmen Armee ganz selbstverständlich, ihre rote Fahne hier und der Vernunft im Irrenhaus. nicht auf dem Gebäude der nationalsozialistischen (B) Machtzentrale, der Reichskanzlei, zu hissen. (D) Die Totengräber der Demokratie hatten die deutsche Öffentlichkeit über ihre Ziele nicht im unklaren gelas- Das Reichstagsgebäude hat den Krieg überdauert. sen. Bereits 1928 hatte Joseph Goebbels freimütigWie ein Mahnmal stand es nun, insbesondere nach dem bekannt: Bau der Mauer, fast Wand an Wand mit dieser künst- lichen, gewaltsamen innerdeutschen Grenze. Schon Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns imdurch seine Höhe war es und blieb es unübersehbar, Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen auch wenn die beschädigte Kuppel aus Sicherheitsgrün- Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstags-den abgetragen werden mußte. Für mich, der im anderen abgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer Teil der Stadt lebte, war der Reichstag ein Symbol für eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn diedas ungelöste Problem der deutschen Teilung. Gut Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bären-sichtbar über die Mauer hinweg, blieb er ein Blickfang, dienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, war so Objekt, steinernes Symbol der Sehnsucht nach ist das ihre eigene Sache … Wir kommen einem als geeinten Deutschland, in dem Demokratie, Frie- Feinde! den, Freiheit des einzelnen und soziale Gerechtigkeit Und noch im August 1932 zerstreute er letzte Zweifel gemeinsam ihre Heimat haben. und Illusionen darüber, wie ernst man es meinte: Und heute, liebe Kolleginnen und Kollegen? Heute Haben wir die Macht, dann werden wir sie niehaben wir eine Reihe gewiß schwieriger Probleme, die wieder aufgeben, es sei denn, man trägt uns alswir uns – jedenfalls viele von uns – während der Teilung Leichen aus unseren Ämtern heraus. und des kalten Krieges immer gewünscht haben: näm- lich die Probleme der deutschen Einigung. Insofern hat Trotzdem: Es ist eines der hartnäckigsten und dümm- sich viel geändert. Voraussetzung dafür war, daß ein sten Vorurteile, das sich mit diesem Gebäude, in demTeil Deutschlands, daß die Ostdeutschen in einer gelun- wir heute tagen, verknüpft: daß es als Symbol für dengenen friedlichen Revolution den Wandel von der Dik- nationalsozialistischen Ungeist, seinen Rassenwahn und tatur zur Demokratie geschafft haben. Es ist dies das seine Kriegspolitik stehe. Nichts davon ist wahr. Adolf erste Mal in der deutschen Geschichte, daß ein solcher Hitler hat in diesem Gebäude nie als ParlamentarierWandel von innen heraus, aus eigener Kraft, in einer gesprochen. Es mußte fallen, es mußte brennen, bevor friedlichen und revolutionären Aktion gelungen ist. Es die NS-Machthaber ihre „deutsche Herrenmoral“ an die ist auch das erste Mal, daß Deutschland seine territoriale Stelle der angeblichen „Mitleidsmoral“ des demokra-Gestalt im Einklang, also mit dem Einverständnis seiner tischen Parteienstaats setzen konnten. europäischen Nachbarn gefunden hat. An dieser Stelle 2666 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Präsident Wolfgang Thierse (A) halte ich es für meine Pflicht – das kommt von Herzen –, Gleichheit, die ich meine. Sie ist durchaus gefährdet –(C) der damaligen Bundesregierung und ihrem Kanzlernicht nur im Kosovo, sondern auch hier in Deutschland, Helmut Kohl ausdrücklich für diese historische Leistung zum Beispiel bei jedem tätlichen Angriff, jeder Diskri- zu danken. minierung gegen Menschen, die nichts weiter getan haben außer anders, südlicher, fremdländischer auszuse- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE hen, als manche Rechtsextremisten das für angemessen GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) oder typisch halten. Dieser doppelten, historisch neuartigen Situation ver- (Beifall im ganzen Hause) danken wir die Möglichkeit, Berlin wieder zum Sitz von Parlament und Regierung, also tatsächlich zur Haupt- Die dritte Tradition, die ich erwähnen möchte, ist die stadt machen zu können. Demokratisches Engagement der guten Nachbarschaft, des Interessenausgleichs mit der Bürger und gutnachbarschaftliche Verständigungden anderen Völkern und Staaten, die unbedingte euro- haben diese Möglichkeit geschaffen. Damit symbolisiert päische Orientierung der Zusammenarbeit und Integra- der Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin zwei- tion und der Fortentwicklung der Europäischen Union, fellos etwas Neuartiges, zugleich erfreulich Zivilisatori- die sich nicht mehr nur auf den ehemaligen Westen sches in der deutschen Geschichte. Ich jedenfalls finde, Europas beschränkt. dieses neue Moment unserer Geschichte verweist zu- Das sind nicht alle, aber das sind mir besonders we- gleich auf Traditionen, die in den letzten 50 Jahren erst sentliche politische Traditionen, die auch und vor allem wirklich die deutsche politische Kultur prägen konnten. am Parlaments- und Regierungssitz Bonn entwickelt und An diesen Traditionen müssen wir festhalten. in Verträge und Gesetze gegossen worden sind. Ich beginne mit einer Überzeugung, die seit dem Unsere Zukunft hängt von diesen Prinzipien ab. Es 8. Mai 1945 in beiden Teilen Deutschlands gleicherma- sind Prinzipien, die zur Staatsräson der Bundesrepublik ßen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise gewon- Deutschland gehören. Wir sollten an dieser Kontinuität nen worden ist: dem Antifaschismus und einem unauf- festhalten, statt unsere Zeitrechnung künstlich in eine geregten, unpathetischen Verhältnis zur eigenen Nation. angebliche Bonner und eine angebliche Berliner Repu- Natürlich bestreite ich nicht, daß dieser gesamtdeutsche blik aufzuteilen. Neubeginn Ausgangspunkt sehr verschiedener Wege geworden ist. Im Westen gab es neben dem Anti- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE faschismus auch Verdrängung des deutschen National- GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) sozialismus. Andererseits aber war die Konsequenz kla- Meine Damen und Herren, ja, das Reichstagsgebäude rer und eindeutiger; sie hat im Grundgesetz der Bundes- ist ein Symbol, aber kein eindeutiges. Es ist ein Symbol (B) republik Deutschland ihren unhintergehbaren Ausdruck für all die Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten in der(D) gefunden: Eine stabile, auf die Menschenrechte gegrün- deutschen Geschichte, die wir nur als solche und als dete Demokratie sollte jeder Form von Diktatur denGanzes annehmen können. Indem wir, der 14. Deutsche Boden entziehen. Bundestag, künftig an diesem Ort tagen, machen wir deutlich, daß wir uns dieser Verantwortung und Aufgabe Die DDR setzte dagegen einen anderen Akzent, der bewußt sind. Alle Debatten, die auf Schlußstriche unter es zuließ, erneut eine Diktatur zu errichten, eine Diktatur die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts zielen, zur Verhinderung des Kapitalismus, der in erster Linie werden an diesem Ort ad absurdum geführt. Dieser Ort für Faschismus und Nationalsozialismus verantwortlich ist Geschichte, er läßt keinen Austritt aus ihr zu, er läßt gemacht wurde. Viele wußten von Anfang an, daß dies keinen Schlußstrich zu. ein Irrweg war, viele begriffen es im Laufe der Jahre, manche erst nach dem Mauerbau, andere noch später, Aber er mahnt uns auch, Lehren zu ziehen. Ge- und einzelne scheinen es noch immer nicht begriffen zu schichte ist mehr als nur Objekt für neugierige Rück- haben. Daß der sowjetisch dominierte Sozialismus ein blicke. Die erste, ganz zentrale Lehre, hat der verehrte folgenreicher diktatorischer Irrweg war, der zudem auch Kollege Helmut Kohl in seiner damaligen Funktion als ökonomisch funktionsunfähig blieb, kann aber heuteBundeskanzler 1983 präzise und treffend so charakteri- nicht mehr ernsthaft bestritten werden. Für mich per-siert: sönlich wiederhole ich: Die Einheit Deutschlands war mir kein nationales, sie war mir stets ein antitotalitäres, Das eine bleibt uns als Mahnung festzuhalten, daß ein freiheitliches, ein demokratisches Ziel. die Republik jeden Tag neu erworben werden muß, weil die politische Kultur der Freiheit sich nicht Als zweite Tradition, der ich Kontinuität wünsche, von selbst versteht. nenne ich das Streben nach sozialem Ausgleich. Wir ha- Herr Kollege Kohl, ich bin Ihnen für diese Worte sehr ben in der DDR durchaus auch positive Gleichheits- dankbar. Und ich würde mir wünschen, daß wir diese erfahrungen gemacht, die man nicht geringschätzen Mahnung als gemeinsamen Auftrag für dieses ganze sollte. Aber eine Gleichheit, die alle in eine bestimmte Haus verstehen, daß wir durch die Art unserer Debatten Schablone pressen, paßförmig für eine einheitliche und Auseinandersetzungen, durch die Kultur unseres Ideologie machen will, meine ich natürlich nicht. Die Streits täglich die Überlegenheit der Demokratie unter Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichstellung von Mann Beweis stellen, damit totalitäre Ideologen und Demago- und Frau, die Mühe um Chancengleichheit, gleiche gen in Deutschland nie wieder eine Chance bekommen. Würde und gleiche Freiheit ungeachtet der Herkunft, der Rasse, der Religion oder des Geschlechts – das ist die (Beifall im ganzen Hause) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2667

Präsident Wolfgang Thierse (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute hat das stabil- heute, am Ende dieses 20. Jahrhunderts, eindeutig: Die(C) ste und selbstbewußteste Parlament, das wir jemals indeutsche Frage, ein stetiger Risikofaktor im europäi- Deutschland hatten, jenes Gebäude bezogen, das un-schen Staatensystem, ist gelöst, eine Rückkehr zur übersehbar der Vergangenheit entstammt, aber glei-Großmachtpolitik undenkbar. Deutschland hat nicht nur chermaßen bereit ist für eine zukunftsgerichtete Politik – seinen Platz in Europa gefunden, sondern gestaltet die- nach innen wie nach außen. Es ist an uns Parlamenta-ses Europa aktiv mit. Daran haben viele, sehr viele mit- riern, diesem Bauwerk viele neue Bausteine an gutergewirkt: von über bis demokratischer Politik hinzuzufügen. zu , Hans-Dietrich Genscher, und Helmut Kohl. Sie alle nenne ich nur stell- Die fruchtbare Verbindung zwischen Alt und Neu,vertretend. zwischen Vergangenheit und Gegenwart – wir haben es gesehen und bestaunt, vielleicht auch ein bißchen be- Deutschland hat zusammen mit seinen Nachbarn die wundert – gilt insbesondere für die Architektur. Daß das europäische Integration dynamisiert und die europäische Haus mit seinen inneren und äußeren Strukturen denWährungsunion mit vollen Kräften unterstützt – trotz Erwartungen gerecht werden kann, daß seine Ausmaße großer Widerstände und Bedenken und im Wissen um und Baumassen den Eintretenden aufnehmen statt ab-die Stärke der eigenen Währung und der damit verbun- schrecken, ist dem Architekt, Sir Norman Foster, zudenen Risiken. verdanken. Er hat mit seinem Konzept eines Neubaus Wir Deutsche haben erfahren, was ein geteiltes Land von Plenarsaal und Kuppel innerhalb der historischenbedeutet. Deshalb sind wir auch in der besonderen Ver- Ursprungsarchitektur eine gelungene Synthese geschaf- antwortung, unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropa fen. Sie spiegelt die Geschichte dieses Hauses und seiner auf ihrem Weg in die Europäische Union zu unterstüt- Gegenwart und Zukunft mit den Mitteln der baulichen zen. Wir wollen nicht nur ihre Verbündeten in der Gestaltung wider. Er hat Geschichte sichtbar gemacht, NATO, sondern auch in der Europäischen Union sein. aber er ist nicht dort verharrt. Gleichermaßen hat Damit er dies gelingt und vor allem auch auf Dauer Be- Raum für die demokratischen Strukturen einerseits und stand hat, brauchen wir beides: die Erweiterungsfähig- für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments andererseits ge- keit der Union und die Beitrittsfähigkeit der zu integrie- schaffen. Dafür ist Sir Norman Foster von dieser Stelle renden Länder. An beidem wird derzeit hart gearbeitet. aus herzlichen Dank zu sagen. Es ist ein gutes Ergebnis in diesem Prozeß, daß aus- (Beifall im ganzen Hause) gerechnet während der deutschen Ratspräsidentschaft Mein besonderer Dank gilt aber auch meiner Vorgän- und dazu noch hier in der Stadt Berlin der entscheidende gerin, Frau Professor Rita Süssmuth, die mit unermüdli- Durchbruch zur Verabschiedung der Agenda 2000 ge- lungen ist. Sie schafft erst die Voraussetzung dafür, daß (B) cher Energie die Realisierung dieses Umbauprojektes (D) vorangetrieben hat. Wir verdanken ihr, daß dieses Haus der europäische Integrationsprozeß in Richtung Mittel- so schön geworden ist und so gut für unsere parlamenta- und Osteuropa fortgesetzt werden kann. rischen Zwecke paßt. Herzlichen Dank, Frau Süssmuth. Entscheidend für die europäische Einigung wird aber sein, ob die Bürgerinnen und Bürger von diesem Europa (Beifall im ganzen Hause) überzeugt und für dieses Europa bereit sind. Dies wird Unser Dank sollte aber auch der Baukommission,ohne eine Verstärkung der demokratischen Strukturen, ihren Mitgliedern und ihrem Vorsitzenden, dem Kolle- ohne eine dringend notwendige Entflechtung der Ver- gen Dietmar Kansy, gelten. Er hat die schwierige Arbeit, fahrensabläufe auf der einen Seite und ohne die Tole- die Planungsarbeit in vielfältigen Entscheidungen be-ranz für andere Kulturen und Lebensentwürfe auf der gleitet. Herzlichen Dank für diese wichtige Arbeit inanderen Seite nicht möglich sein. unser aller Namen. Probleme und Rückschläge gehören zu diesem Pro- (Beifall im ganzen Hause) zeß dazu. Gerade wir Deutschen haben diese Erfahrun- gen hautnah bei der deutschen Einheit gemacht. Wie Wir sollten selbstverständlich alle diejenigen in unse- schwierig das Zusammenwachsen eines über Jahrzehnte ren Dank einschließen, die – sei es als Bauarbeiter oder hinweg geteilten Landes mit konträren Gesellschafts- Ingenieurin, sei es als Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter strukturen ist, wurde vielen von uns erst nach und nach der Verwaltung des Deutschen Bundestages – zum Ge- deutlich. Über Jahrzehnte hinweg wurde das Ideal der lingen dieses Projektes beigetragen haben. deutschen Einheit niemals aufgegeben. Es war zwar Vi- sion, aber keine Utopie. Mit Zuversicht haben viele, sehr (Beifall im ganzen Hause) viele daran festgehalten. Der Architekt des deutschen Parlaments stammt nicht Heute – fast zehn Jahre nach dem Fall der Mauer – aus Deutschland. Man muß es erwähnen. Auch das istleben wir in mancher Hinsicht noch immer in zwei Ge- – nebenbei, aber nicht unwichtig – eine Geste der Dank- sellschaften. Wir haben erkennen müssen, daß die Höhe barkeit an die Europäer, die die Einheit unseres Landes der finanziellen Transfers, die Anzahl der Autobahnen mitgetragen, mehr noch: unterstützt haben. Europa wird und Telefonleitungen, die Größe der Kaufhäuser und auch eine der zentralen Botschaften sein, die vom politi- ihrer Angebote – so begrüßenswert, so dankenswert all schen Berlin ausgehen wird. War vor einem Jahrzehnt, diese materiellen Leistungen und Fortschritte sind – als die alten Ost-West-Strukturen aufbrachen, die Zu-eben noch nicht selbstverständlich und garantiert eine kunft Europas noch ungewiß, so ist der europäische Weg gemeinsame Identität schaffen. 2668 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Präsident Wolfgang Thierse (A) So konnten erneut wechselseitig Ressentiments zwi- Stadt mit dem ausgeprägtesten internationalen Charakter (C) schen Ost- und Westdeutschen wachsen. Für die einen in Deutschland: Es gibt wohl kaum einen geeigneteren wurden die Westdeutschen zu „hochnäsigen Kolonial- Ort für Dialog, für friedliches Zusammenleben von herren“, für die anderen die Ostdeutschen zu „undank- Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen. Berlin baren Jammerlappen“. Fehlverhalten hier wie dort wird soll ein Beispiel für die Vollendung der Einheit in den zum Bild für das Ganze überhöht und für Feind- undKöpfen und Herzen der Menschen in Deutschland und Klischeebilder benutzt, deren Realitätstauglichkeit sich in Europa werden. Historische Vorbilder oder Parallelen allenfalls im Bestätigen von Vorurteilen erweist. gibt es nicht. Alle hier wirkenden Menschen werden die- sen Teil der Geschichte selber schreiben, und zwar jeden Immer noch zu oft neigen wir dazu, das Leben in dem Tag aufs Neue. Dazu wünsche ich uns allen eine glück- anderen System nach eigenen, nach oberflächlichen liche Hand. Maßstäben einzuordnen. Das ist bequem; aber es erzeugt Vorurteile und Vorbehalte. Warum respektieren wir Der Deutsche Bundestag ist im guten Sinne des nicht die Menschen mit ihren unterschiedlichen Biogra- Wortes ein Arbeitsparlament. Bei aller Kritik, die dieses phien? Warum gestehen wir nicht anderen das zu, was Hohe Haus auf sich zieht, manchmal verdient, manch- wir selbst von anderen erwarten, nämlich Verständnismal benötigt und jedenfalls immer verträgt, darf doch und Toleranz? Dazu gehört vor allem, einander ohnefestgestellt werden: Hier wird hart um beste, um durch- Ängste, Mißtrauen und vorgefertigte Meinungen zu be- setzbare, um sachgerechte und um verantwortbare Lö- gegnen, uns unsere unterschiedlichen Erfahrungen zusungen gerungen. Es wird hart gearbeitet. erzählen, aber auch zuzuhören. Nur so gelangen wir zu wirklicher Solidarität, einer Solidarität, die die innere Vor diesem Hintergrund ist es gut, den neuen Plenar- Einheit vollendet. Nur so verstehen wir auch die unter- saal des Deutschen Bundestages mit einer ernsthaften schiedlichen Dimensionen gleicher Sachverhalte. Debatte in Besitz zu nehmen. Angesichts der Beschwer- nisse, die wir im eigenen Land erleben, angesichts der Natürlich ist Arbeitslosigkeit für jeden einzelnen, für Tatsache, daß diese Beschwernisse im Osten Deutsch- jede Familie in West wie in Ost eine schwer erträgliche lands, wo nun auch der Deutsche Bundestag seinen Sitz Belastung und Zumutung. Gleichwohl ist die Herausfor- hat, noch immer größer sind als im Westen, und auch derung wie die Katastrophe für jeden Ostdeutschenangesichts des Umstandes, daß wir im Plenum des ungleich größer, weil im System der DDR wenigstens Hohen Hauses schon lange nicht mehr herausgehoben die Sicherheit des Arbeitsplatzes unverrückbar garantiert darüber diskutiert haben, ist eine Debatte über die noch zu sein schien. bestehenden Herausforderungen für die Angleichung der Auch der Gebrauch von und der Umgang mit Freiheit Lebensverhältnisse und die Vollendung der Einheit will gelernt sein. Für die Westdeutschen ist es die inDeutschlands ein besonders geeignetes Thema für diese (B) einem langen Prozeß erlebte Erfahrung, daß sie miterste Sitzung. (D) ihren Möglichkeiten und Chancen zugleich auch immer Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. die Kehrseite von Risiken und Unsicherheiten in sich birgt. Für die Ostdeutschen waren die Freiheit der Rede (Beifall im ganzen Hause) und die Möglichkeit, frei zu reisen, verständliche Ob- jekte der Sehnsucht. Aber nun müssen sie erst lernen, Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf: daß grenzenlose Freiheit auch Bindungslosigkeit be- Abgabe einer deuten kann, daß frühere Sicherheiten verlorengehen. So wird nun Freiheit häufig weniger als Chance denn als Regierungserklärung des Bundeskanzlers Last empfunden. Vollendung der Einheit Deutschlands Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Umzug Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für von Bonn nach Berlin rücken wir genau an die Naht-die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklä- stelle dieses noch offenen Prozesses des Zusammen-rung zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen wachsens. In keiner anderen Stadt Deutschlands werden Widerspruch. Dann ist so beschlossen. die Defizite, die besonderen Empfindlichkeiten, aber auch die Fortschritte auf beiden Seiten deutlicher als Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat hier in Berlin. Wir Parlamentarier sollten diese Nähe für der Bundeskanzler Gerhard Schröder. unser politisches Wirken nutzen. Der heutige Tag ist auch ein wichtiger Tag für diese Bundeskanzler: Herr Präsident! Stadt und ihre Menschen. Nach Jahren des Hoffens, Gerhard Schröder, Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Heute“, so Wartens und Vorbereitens spüren die Berliner heute: schreibt eine große deutsche Zeitung, „beginnt eine neue Das Parlament, das Herzstück der Demokratie, ist wie- Zeit“. Das mag ein wenig übertrieben klingen. Aber so- der inmitten dieser Stadt zu Hause. Dies bedeutet eine viel ist klar: Mit der heutigen Plenarsitzung endet ein historische Chance und vor allem auch belebende Im- weiteres Provisorium in der Geschichte unserer Repu- pulse. Viele alteingesessene Berliner freuen sich auf die blik. Das alte Reichstagsgebäude – der Präsident hat es Zuziehenden aus dem Westen. Traditionelles und Inno- überzeugend deutlich gemacht – ist bezugsfertig für den vatives, Pioniergeist und Abgeklärtheit werden in dieser neuen Deutschen Bundestag. Stadt eine spannungsreiche Mischung erzeugen, die sie für ihre neue Rolle brauchen wird. Berlin als die Mitte Über Geschmack – auch das ist klar geworden – darf von Ost und West in Deutschland und Europa, als dienicht gestritten werden, und dies ist nicht der Deutsche Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2669

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Architektentag, sondern der Deutsche Bundestag. IchDas föderative Modell deutscher Politik – das gilt es ge- (C) möchte mich auch persönlich bei Sir Norman Foster be- rade hier festzustellen – ist bewährt und nicht im gering- danken und ihm ein großes Lob aussprechen für densten gefährdet. Mut, aber auch für die Behutsamkeit, mit der er traditio- nelle und moderne Elemente zusammengefügt hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir scheint, daß dies der richtige Ort und die richtige Zeit ist, eine (Beifall im ganzen Hause) Zwischenbilanz der deutschen Einheit zu ziehen. Es ist der richtige Ort, weil so, wie Bonn schließlich doch für Ich wünsche mir im übrigen, daß die gläserne Kuppel den Westen der Republik steht, Berlin das vereinte über uns, die der Architekt für dieses Haus entworfenDeutschland symbolisiert. Nicht nur für die Ostdeutschen hat, zum Sinnbild für Offenheit und für Transparenz un- macht es viel aus, daß Regierung und Parlament nicht serer demokratischen Politik wird; denn natürlich lebtmehr fern am Rhein, sondern relativ nahe bei ihnen, näm- Architektur auch hier von der Institution, die sie belebt. lich hier an der Spree, sind. Es ist die richtige Zeit, weil Unsere Demokratie und unser Parlament – wir sinddas vereinte Deutschland auch politisch den Generati- dessen sicher – sind stark und stabil. Der Umzug nach onswechsel vollzogen hat. Ich meine damit keineswegs Berlin ist kein Bruch in der Kontinuität deutscher Nach- nur einen Regierungswechsel. Es gibt kein Land, in dem kriegsgeschichte; denn wir gehen ja nicht von Bonndie Ablösung der politischen Generation, die den zweiten nach Berlin, weil wir etwa in Bonn gescheitert wären. Weltkrieg noch unmittelbar miterlebt hat, nicht eine be- deutende Veränderung in der Politik bezeichnet hätte. Das Die gelungene Bonner Demokratie, die Politik dergilt für uns in Deutschland allemal. Verständigung und der guten Nachbarschaft, die feste Die richtige Zeit für eine Zwischenbilanz ist es aber Verankerung Deutschlands in Europa und im Atlan- auch deshalb, weil uns nicht zuletzt die Ereignisse der tischen Bündnis, aber auch die Ausstrahlung eines letzten Wochen und Monate dramatisch vor Augen ge- Lebens in Freiheit, all das hat entscheidend dazu beige- führt haben, daß sich Deutschlands Rolle in der Welt tragen, daß die „Berliner Republik“ im geeinten verändert hat, daß wir heute anders und intensiver in der Deutschland möglich wurde. Wie immer man diesem Verantwortung für das Schicksal auch anderer Völker Begriff gegenübersteht, was immer man damit anfangen stehen, als dies in den Jahren der Teilung und unmittel- will: Selbstverständlich werden wir auch hier in Berlin bar danach der Fall gewesen ist. Dies wiederum sage ich die Bundesrepublik Deutschland sein und bleiben. Und ganz bewußt von Berlin aus, der Stadt, in der das Wort noch eines wird bleiben: Die Probleme und Aufgaben von der „internationalen Solidarität“ so unterschiedlich nehmen wir mit, wenn wir von Bonn nach Berlin um- erlebt und erfahren wurde. ziehen. Eine solche Zwischenbilanz der deutschen Einheit (B) (D) Als Bundestag des demokratischen Deutschland tra- fällt aus meiner Sicht überwiegend positiv aus. In Ost- gen wir nun in einem Haus mit guter demokratischerdeutschland ist eine eindrucksvolle Aufbauleistung voll- Tradition Verantwortung. Der aus geheimer, gleicherbracht worden. Wir wissen, daß es noch nicht gelungen und freier Wahl hervorgegangene Reichstag – dessenist, das Ost-West-Gefälle vollständig zu überwinden. Gebäude übrigens mindestens im Volksmund nochGleichwohl denke ich, es lohnt, über das zu reden, was lange Reichstag heißen wird – wir miteinander schon erreicht haben, über Leistungsbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- reitschaft und Solidarität der Menschen im Osten wie im wie bei Abgeordneten der SPD und der PDS – Westen unseres Landes. Michael Glos [CDU/CSU]: Zu Recht!) Die nach wie vor bestehenden Probleme der ostdeut- wurde – der Herr Präsident hat darauf hingewiesen –schen Wirtschaftsstruktur sind ja nicht Folge mangeln- dem Kaiser und Bismarck abgetrotzt. den Leistungswillens der Bevölkerung in den neuen Ländern. Und andererseits: Mit finanziellen Hilfen allein Auch wenn manche an der Silbe „Reichs“ Anstoßwären wir längst nicht so weit gekommen, wie wir durch nehmen: Zu seiner konstituierenden Sitzung nach Hitlers das Engagement der Bürgerinnen und Bürger beim Auf- Machtantritt 1933 trat der Reichstag eben nicht in die- bau und der Erneuerung der Städte und der Wirtschaft, sem Gebäude zusammen, sondern in der Potsdamerbei den Unternehmensgründungen und den Innovatio- Garnisonskirche. Das Ermächtigungsgesetz – der Herr nen, bei Hilfe, aber auch bei Selbsthilfe gekommen sind. Präsident hat darauf hingewiesen –, das den Reichstag Es ist eben beides wahr, was die Demonstranten damals faktisch ausschaltete, wurde nicht hier, sondern gegen- vor und nach dem Fall der Mauer gerufen haben: „Wir über, in der Kroll-Oper beschlossen. sind d a s Volk“ oder:„W i r sind das Volk“ und: „Wir sind e i n Volk“. Sicher, der Umzug nach Berlin ist auch eine Rück- kehr in die deutsche Geschichte, an den Ort zweier deut- Ich will deshalb auch keine detaillierte Auflistung scher Diktaturen, die großes Leid über die Menschen in dessen vornehmen, was getan worden ist und was noch Deutschland und in Europa gebracht haben. Abergetan werden muß. Unter den laufenden und von dieser „Reichstag“ einfach mit „Reich“ gleichzusetzen wäreBundesregierung fortgesetzten oder neu aufgelegten genauso unsinnig, wie Berlin mit Preußens Gloria oder Projekten für den Aufbau Ost möchte ich nur einige we- deutschem Zentralismus zu verwechseln. nige hervorheben: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Da ist erstens das Programm „100 000 Jobs für ungej CDU/CSU) Leute“ mit seinem Schwerpunkt in den neuen Ländern. 2670 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Aus diesem Programm hat es in ganz Deutschland bisfähigen Produkten und zu neuen Verfahren auf neuen(C) jetzt 75 000 Vermittlungen in Arbeit und in Ausbildung Märkten führt, werden wir die Arbeitslosigkeit gerade in gegeben, davon 33 000 allein in den neuen Bundeslän- den neuen Ländern nicht so erfolgreich bekämpfen kön- dern. nen, wie das unsere Aufgabe ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unsere Gesellschaft wird nicht bestehen können, DIE GRÜNEN) wenn sie nicht gerecht ist, gerade denjenigen gegenüber, die aus dem Arbeitsprozeß der sogenannten alten Indu- Zusätzlich sind 17 500 Jugendliche in einem weiteren strien herausgefallen sind. Aber unser Land hätte keine Sonderprogramm in den neuen Ländern untergekom-Zukunft, wenn wir nicht alle zu Gebote stehenden Mittel men. Man sieht daran zweierlei: einmal, daß es uns mit für die Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft ein- der Aussage ernst ist, daß wir die Jugendlichen einstei- setzten. In dieser Hinsicht – sagen wir es ganz deutlich – gen lassen müssen, wenn wir nicht wollen, daß sie aus hat der Osten dem Westen unseres Landes nach der Ver- der Gesellschaft aussteigen, einigung durchaus schon einiges vorgemacht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) PDS) Besonders greifbar sind die Fortschritte beim Um- und zum anderen, daß die Jugendlichen von sich aus er- weltschutz. 1990 – um ein Beispiel zu nennen – stand kannt haben, daß sie nicht nur ein Recht auf diesen Ein- die alte DDR beim Ausstoß an Schwefeldioxid weltweit stieg haben, sondern auch eine Pflicht, entsprechendean der Spitze der Pro-Kopf-Belastung. Heute werden die Angebote anzunehmen. Ich bin froh darüber, daß sie das Grenzwerte nirgendwo mehr überschritten. In Leipzig insbesondere in den neuen Bundesländern in diesembeispielsweise ist die Belastung um 83 Prozent zurück- Umfang tun. gegangen. Durch ökologische Modernisierung konnten Zweitens. Die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarkt- bereits jetzt europaweit mustergültige Regionen im politik haben wir auf hohem Niveau verstetigt. UnterOsten Deutschlands geschaffen werden. dieser Bundesregierung – das haben wir versprochen, Dasselbe gilt für den Bereich der Telekommunikati- und das werden wir halten – wird es kein Auf und Abon. In Ostdeutschland wurde das modernste Netz der vor und nach Wahlen geben, Welt geschaffen. Das gilt aber auch für manche soge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nannte alte industrielle Anlage. Opel in Eisenach, die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Kraftwerksbetriebe Schwarze Pumpe oder die Mikro- Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Nur Ab, chipherstellung in Dresden zum Beispiel erreichen heute (B) kein Auf!) Produktivitätswerte, die an der Weltspitze rangieren. (D) dies deshalb, weil wir lieber Arbeit bezahlen, als Ar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beitslosigkeit bezahlen zu müssen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Laut einem jüngst veröffentlichten „Spiegel“-Test des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sind ostdeutsche Hochschulen weit überproportional auf den Spitzenplätzen des Landes vertreten. Das betrifft das Drittens. Die Bundesfinanzhilfen für die Städte-Verhältnis von Lehrenden zu Studierenden, aber auch bauförderung werden bei 520 Millionen DM für alledie Ausstattung und inhaltliche Qualität der universitä- neuen Länder stabilisiert. Unser neuer Ansatz dabei ist ren Ausbildung. die soziale Stadt. Es geht uns um die Förderung von Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf. Wir Diese Entwicklungen zeigen die Chance des Aufbaus wissen, welchen Einfluß das städtische Umfeld auf das im Osten. Wir leben nicht mehr in den Zeiten von Lud- Leben gerade junger Menschen hat, und wir wissen, daß wig Erhard. Aber vielleicht gelingt uns ja doch so etwas gerade in Stadtvierteln mit schlechter Bausubstanzwie ein kleines Wirtschaftswunder, gerade im Osten un- Langzeitarbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit und Zu- seres Landes. wanderung ohne Arbeitsperspektive gefährlicher sozia- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ler Zündstoff sind oder werden. DIE GRÜNEN) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!) Ein Wissenswunder jedenfalls, ein Technikwunder, Deshalb ist es geradezu ein Gebot der Vernunft, daß wir das müssen wir gemeinsam anstreben. Damit schaffen uns bei der Lösung der städtebaulichen Probleme aufwir die Voraussetzungen für nachhaltigen wirtschaftli- solche Stadtviertel konzentrieren. chen Aufschwung und – das ist von eminenter Bedeu- tung – vor allem für mehr Beschäftigung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bei allem dürfen wir nicht vergessen: Berlin ist der Ort, an dem sich, wie Willy Brandt einmal gesagt hat, Viertens. Noch in diesem Jahr werden wir die För-„die Teilung der Welt versteinert hat“. Hier treffen so derinitiative „Innoregio“ starten. Ziel ist es, innovative kraß wie produktiv die Unterschiede aufeinander, die Entwicklungen in regionalen Netzwerken zu unterstüt- 40 Jahre Trennung hinterlassen haben. Diese Stadt bleibt zen. Denn wir wissen: Ohne eine nachhaltige Förderung – um es mit den Worten von Friedrich Schorlemmer zu der Innovation, die zu neuen, international wettbewerbs- sagen – „eine besondere Werkstatt der Einheit“. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2671

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Westdeutsche verbinden in ihrer Erinnerung mit Ber- mitunter sicher unerhört schmerzhaft. Deshalb verdient (C) lin, meist Westberlin; je nach Alter ein Fußballpokal-diese Leistung unser aller Respekt. endspiel, ein Rockkonzert oder einen Theaterbesuch. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Für die Ostdeutschen war Berlin Hauptstadt der DDR, GRÜNEN und der PDS) ein Ort besonderer Bevorzugung und Machtarroganz gegenüber dem, was man „die Republik“ nannte. Berlin Ich möchte in diesem Zusammenhang einen denk- und Mauer bilden noch lange, nachdem das schändliche würdigen Satz zitieren, den ich aus aktuellem Anlaß ge- Bauwerk selbst verschwunden ist, in aller Welt einenhört habe. Da sagt der Kabarettist und Schriftsteller Pe- semantischen Zusammenhang. ter Ensikat, als auch er in seiner engsten Umgebung mit einem Fall verschwiegener Stasi-Vergangenheit kon- Gewiß: Die schmerzende Wunde des kalten Krieges frontiert wurde: „Auch in der DDR wurde ich nicht ge- ist vernarbt; aber sie bleibt doch fühlbar. Gleichzeitig lebt. Ich habe gelebt.“ Das heißt dann ja wohl: Der nöti- bündeln sich in dieser Metropole die Probleme der mo- ge Respekt vor den Biographien der Menschen bedingt dernen Industriegesellschaften: Jeder achte Berliner ist auch Selbstrespekt, ein Bekenntnis jedes einzelnen zu Ausländer, jeder sechste ist ohne Arbeit. Das zwingt zur seiner eigenen Verantwortlichkeit. Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirk- lichkeit. Darin liegt aber auch die Chance des Umzugs Ich wünschte mir, wir alle würden uns gelegentlich von Bonn nach Berlin. auf folgende Erkenntnis besinnen: Es gab gelingendes, glückendes und authentisches Leben mitten in einem Ob die Politik besser wird, wenn sie krasser mit der falschen System, so wie es mißlingendes Leben auch in gesellschaftlichen Realität konfrontiert wird? Ob die einem richtigen System geben kann. Politik klüger wird, wenn sie zwangsläufig in engeren und häufigeren Kontakt mit Künstlern und Intellektuel- Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Ent- len kommt? Ich hoffe das. Aber es gibt Zyniker, die sa- schädigung der Opfer von SED-Unrecht sagen. Die gen: Eher wird die Kunst schlechter, als daß das andere Bundesregierung will Verbesserungen in den Punkten eintritt. Ich denke, wir sollten uns auf diese Zynikererreichen, über die ich bereits vor geraumer Zeit mit den nicht berufen. Ich sehe mehr Chancen. Wir wären tö-Opferverbänden gesprochen habe. Wir wollen eine Er- richt, wenn wir diese enormen Chancen nicht nutzten. höhung der Kapitalentschädigung für ehemalige politi- sche Häftlinge erreichen. Hierfür brauchen wir die Zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stimmung der Länder. Ich hoffe, daß wir sie bekommen DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Heidi werden. Knake-Werner [PDS]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitaus DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (B) schwieriger als mit dem wirtschaftlichen Aufbau verhält (D) PDS und des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]) es sich mit dem, was man innere Einheit nennt, mit der Überwindung der Mauer in den Köpfen und gelegentlich Wir wollen die Leistungen für die Hinterbliebenen in den Herzen. Ich glaube, die Verständigung über das, der ehemaligen politischen Häftlinge verbessern. Hier was war, ist Voraussetzung für die Analyse dessen, was denke ich insbesondere an die nächsten Angehörigen der ist und was sein soll. Die Mauer – dies gilt es zu erken- Hingerichteten oder der während der Haft Verstorbenen. nen und zu bewahren – wurde von Ost nach West einge- Beseitigt werden müssen auch die Schwierigkeiten bei drückt, und nicht etwa vom Westen geschleift. der Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden. Wir müssen mehr tun für die Menschen, die aus den Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bieten jenseits von Oder und Neiße verschleppt worden Man kann nicht oft genug daran erinnern, daß noch bis sind. Lassen Sie uns das zusammen erreichen! kurz vor dem 9. November 1989 niemand im Westen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eine wirklich realistische Einschätzung vom nahenden des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Zusammenbruch der DDR und des Kommunismus hatte. PDS) (Widerspruch bei Abgeordneten der Meine sehr verehrten Damen und Herren, machen wir CDU/CSU) uns keine Illusionen: Die Unterschiede in der Befindlich- – Na ja, Sie vielleicht. Das will ich gerne einräumen. – keit, auch im Geschichtsbewußtsein, die gegenseitigen Eine behütet aufgewachsene Generation im Westen hat Ressentiments werden wohl noch eine ganze Weile beste- sich allzuoft herausgenommen, Biographien von Men- henbleiben. Ohne Frage gibt es Differenzen zwischen schen aus dem Osten herabzuwürdigen, ohne sich auch Ost- und Westdeutschland, genauso wie es auch Kli- nur einmal die Frage zu stellen: Wie hätte ich, wie hät- schees über Ost und West gibt. Diese Unterschiede sind ten wir uns denn unter ähnlichen Bedingungen verhal- eben nicht nur die Folge von 40 Jahren Teilung, sondern ten? auch von zehn Jahren Erfahrungen mit der Einheit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Was wir voneinander wissen, ist oft zu oberflächlich, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zu vorurteilsbeladen und ähnliches mehr. Ost- und PDS) Westdeutsche werden sich noch länger einander zu er- klären haben, ohne sich gleich rechtfertigen zu müssen. Die Anpassungsleistung, die notwendig war, mußte fast ausschließlich von den Menschen in den neuen Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf einen Ländern erbracht werden. Das war oft schwierig undanderen Aspekt eingehen. Seit vielen Jahren diskutieren 2672 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) wir in unserer Gesellschaft, auch hier mitten im Parla- Denn eine frustrierte Jugend – das haben wir oft genug (C) ment, über die Anforderungen der Globalisierung, über bitter erfahren müssen – kann zu Extremismus, zu Haß die Notwendigkeit, flexibler auf die Veränderungen der und auch zu Fremdenfeindlichkeit verführt werden. Das ökonomischen Basis in der Arbeitswelt zu reagieren. müssen wir miteinander mit aller Kraft verhindern. Dabei fällt auf: Diese Diskussion wird fast aus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schließlich im Westen Deutschlands geführt. Die große DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Mehrheit in den neuen Ländern hat sich diese Frage F.D.P. und der PDS) nämlich gar nicht stellen dürfen. Die Menschen mußten Gerade weil wir uns für die Durchsetzung der Men- es bei der Umgewöhnung in marktwirtschaftliche Ver- schenrechte überall auf unserem Kontinent einsetzen, hältnisse wie selbstverständlich hinnehmen, daß von ih- dürfen wir im eigenen Land nicht nachlassen, für eine nen Flexibilität und Mobilität erwartet wurde. Gleiches offene, tolerante und friedliche Gesellschaft zu arbeiten. an Erwartungen haben die Menschen auch im Westen zu erfüllen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Heute, so sagen die Zahlen, ist jeder dritte Jugendli- Demokratie, meine sehr verehrten Damen und Her- che aus den ostdeutschen Ländern gleichsam „auf Wan- ren, die Einübung demokratischen Bewußtseins und die derschaft“, sucht seine Arbeits- und Bildungsmöglich- Praxis gegenseitigen Verstehens – das sind auch Aufga- keit im Westen und an besonders chancenreichen Orten ben der Kultur. Kultur kann und darf nicht vom Staat im Osten Deutschlands. verordnet werden. Aber für die Bedingungen, unter de- Ich will hier nicht über die möglicherweise heilsamen nen sich Kultur entfalten kann, ist das Gemeinwesen, ist Schockwirkungen – so wird das gelegentlich genannt – der Staat sehr wohl verantwortlich. der deutschen Vereinigung philosophieren. Ich will auch In den nächsten zwei Jahren werden wir deshalb zu- nicht behaupten, daß irgend jemand geplant hat, was im sätzlich 120 Millionen DM für ein kulturelles Investiti- Osten an tatsächlicher Entwurzelung, an Herausschleu- onsprogramm in den fünf neuen Ländern bereitstellen. dern aus eingeübten Lebensläufen geschehen ist. Ich sa- ge nur, daß auch bei den Mentalitätsunterschieden die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Situation keineswegs so eindeutig ist, daß die Menschen DIE GRÜNEN) aus den ostdeutschen Ländern in wenigen Jahren ein Auch die Hauptstadt-Kulturförderung wird in diesem solches Maß an Umstellung vollzogen haben, daß ihnen Jahr um 60 auf 120 Millionen DM verdoppelt. Wie ge- vieles am Besitzstanddenken der „Wessis“, am Behar- sagt: Niemand sollte die kulturellen Unterschiede, die rungsvermögen auch wider besseres Wissen schlicht un- regionalen Eigenheiten einebnen wollen. Die Vorstel- (B) verständlich ist. lung etwa von einem vereinheitlichten Geschichtsbild(D) aller Deutschen widerspricht unserem Ziel einer offenen, Aber auch das, meine sehr verehrten Damen und Her- einer demokratischen Gesellschaft. ren, eröffnet enorme Möglichkeiten. Ich wage zu be- haupten: Wenn wir diese Bereitschaft zum Umdenken, Nein, mir geht es nicht um eine „gesamtdeutsche Iden- Umlernen und Umorientieren mit einer klugen und fle- tität“, sondern es geht um die Herausbildung einer ge- xiblen Sozialpolitik absichern, wird unsere Arbeitswelt meinsamen Identität der Deutschen, der in Deutschland die nötigen Modernisierungsschübe gerade aus demLebenden. Dieser Prozeß wird – ich bin dessen sicher – Osten erfahren. Das ist auch gut so, weil wir dann ler- noch eine geraume Zeit in Anspruch nehmen, und er wird nen, daß wir etwas von den Menschen lernen können,auch von Rückschlägen gekennzeichnet sein. Wenn wir die hier ihre Aufbauleistungen vollbracht haben. aber bedenken, wie lange es, um ein Beispiel zu nehmen, nach dem amerikanischen Bürgerkrieg gedauert hat, wie- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE der zu einem halbwegs dialogfähigen gemeinsamen Be- GRÜNEN und der PDS) wußtsein zu kommen, dann kann man sich ein Bild von den Zeiträumen machen und dann stehen wir, glaube ich, Es mag wie eine Binsenweisheit klingen, aber mit es dem, was von den Menschen in Deutschland im Ma- kann, wie ich glaube, nicht oft genug wiederholt wer-teriellen wie im Immateriellen geleistet worden ist, nicht den: Der deutsch-deutsche Lernprozeß, das Zusammen- so schlecht da. Wir sollten uns also darauf einstellen, daß wachsen dessen, was zusammengehört, ist ein beider-es noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird, bis wir seitiger Prozeß. Er verläuft von Stuttgart nach Schwerin auch geistig eine „Nation von Staatsbürgern“ sind, wie genauso wie von Rostock nach München. Dabei setzeJürgen Habermas sie uns wünscht. ich jedenfalls vor allen Dingen auf die jüngere Generati- on. Meine Damen und Herren, ohne die feste Einbindung in den europäischen Einigungsprozeß und in das Atlanti- Die junge Generation ist viel weniger belastet von 40 sche Bündnis wäre die deutsche Einheit nicht möglich Jahren Teilung. Diese Jugend genießt die Einheit ingeworden. Ebensowenig wäre sie gelungen ohne den vollen Zügen, sofern sie erlebt, daß sie in dieser Einheit Beitrag der Völker in unseren osteuropäischen Nachbar- eine Zukunftschance hat. Genau um diese Zukunfts-staaten – der Ungarn, der Tschechen, der Polen. Beides chance unserer Jugend müssen wir kämpfen. werden, beides dürfen wir nicht vergessen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2673

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Der Umzug nach Berlin, die geographische Verlage- Weiter schreibt er: (C) rung von Parlament und Regierung bringt uns näher her- an an unsere polnischen Nachbarn, macht deutlich, wie Mit seiner Intervention auf dem Balkan hat das at- wichtig Berlin als Drehscheibe zwischen Ost und West, lantische Europa eine neue Seite in der Weltge- als Scharnier der europäischen Einigung werden kann schichte aufgeschlagen... Es geht nicht um materi- und – ich bin sicher – werden wird. Wir kommen eben elle Interessen, sondern ums Prinzip: die Verteidi- nicht nach Berlin als Rückkehr in eine – wie man es gung der Rechte und der Existenz des ärmsten Vol- nannte – „Mittellage“, die zu deutschen „Sonderwegen“ kes auf dem Kontinent. So wird Europa zum Euro- verführen könnte. Nein, wir gehen vorwärts in die Mitte pa der Menschen... Dies ist ein Gründungsakt, und Europas. Berlin steht deshalb für die Vertiefung und für wie stets geschieht ein solcher Akt nicht im Jubel, die Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses. sondern im Schmerz. Das, meine Damen und Herren, macht die wirkliche Selten – ich gebe es zu – habe ich die Worte eines Bedeutung der Agenda 2000 aus, die wir, unter deut-Schriftstellers zu einem solchen Problem so treffend ge- scher Ratspräsidentschaft, vor wenigen Wochen hier in funden. Das sage ich auch ganz persönlich. Berlin beschlossen haben. Bei aller berechtigten Kritik Es geht um folgendes: Die Epoche nach dem kalten an Einzelheiten: Es sollte wenigstens versucht werden, Kriege verlangt von uns, daß wir Europa politisch neu diesen gesamteuropäischen Aspekt zu begreifen. definieren. Für Europa hat es nie eine allgemeingültige (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geographische Definition gegeben. In der Geschichte hat DIE GRÜNEN) sich Europa immer politisch und dabei gewissermaßen immer aufs neue definiert. Aber der Berliner Kompromiß ist darüber hinaus auch aus deutscher Sicht ein Erfolg, und das insbesonde- Was sind die Anforderungen an diese neue Definiti- re für Ostdeutschland. Die neuen Bundesländer bleiben on? Mehr als alles andere braucht Europa heute Rechts- in ihrer Gesamtheit in der höchsten europäischen För- sicherheit und Rechtsfrieden. Beides ist nur dort her- derkategorie. Über den gesamten Zeitraum der Agenda stellbar, wo sich Europa auch politisch für Europa, und werden sie insgesamt 20 Milliarden Euro erhalten. Ost- zwar für ganz Europa, zuständig fühlt und die entspre- berlin wird noch einmal eine Übergangsunterstützung in chende Verantwortung auch tatsächlich wahrnimmt. Das Höhe von 729 Millionen Euro erhalten. Darin enthalten macht die Bedeutung unseres Engagements auf dem ist eine Sonderzahlung von 100 Millionen Euro, dieBalkan aus; und insofern stimme ich Ismail Kadaré zu, wir auf dem Berliner Gipfel aushandeln konnten – für wenn er von einem „Gründungsakt“ spricht, den wir die schwierige Situation hier in Berlin. Durch den Berli- hinter uns haben. (B) ner Kompromiß werden wir zusätzliche Rückflüsse in (D) Höhe von etwa 700 Millionen DM in Anspruch nehmen Es geht um den Gründungsakt für ein Europa der können. Diese sollten wir für besondere Aufgaben nut- Menschen und der Rechte der Menschen – der Men- zen. schenrechte. Die Notwendigkeit eines solchen „Grün- dungsaktes“ gilt insbesondere für unser Land, für Die Bundesregierung hat ja, entsprechend der An-Deutschland nach der Vereinigung. Wir, die wir die kündigung in der Regierungserklärung vom 10. Novem- Trennung Europas so schmerzlich erlitten haben, können ber 1998, bereits dreimal mit ostdeutschen Landesregie- nun beweisen, daß wir die Chancen der Einigung be- rungen vor Ort getagt, um sich die besonderen Probleme herzt ergreifen und daß wir das nicht nur für uns tun. Ich der jeweiligen Regionen vor Augen zu führen. Dabeimeine nicht nur die Chancen der institutionellen Eini- wurde – ob in Dresden, ob in Schwerin oder in Erfurt – gung, sondern auch und vor allem die der Herstellung eines ganz deutlich: Auf den Nägeln brennen den betrof- einer gesamteuropäischen Wertegemeinschaft. Das fenen Ländern vor allem Verkehrs- und Infrastruktur-heißt: Wir bekennen uns heute zu einem Europa der projekte. Die Bundesregierung wird deshalb den Lan-Menschenrechte, das niemanden auf unserem Kontinent desregierungen der ostdeutschen Bundesländer vor-ausschließt; und dafür kämpfen wir. schlagen, die zusätzlichen Rückflüsse für zusätzliche In- vestitionen in die dringendsten Verkehrsprojekte der Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erfah- neuen Bundesländer zu verwenden. rungen – zumal die der friedlichen Revolution in der damaligen DDR – zeigen uns: Menschenrechte und De- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mokratie sind in Europa heute machbar bzw. müssen machbar werden. Denn das ist heute möglich. Freiheit, Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den ver- das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, Demokratie, gangenen Wochen hat sich dramatisch vollzogen, was Menschenrechte und Solidarität – das alles sind heute als „neue deutsche Verantwortung“ im Grunde seit Ende keine Proklamationen mehr, die man über den europäi- des kalten Krieges und seit der staatlichen Einigung schen Zaun hinwegrufen könnte. Wir sind nach dem En- Deutschlands absehbar war. Es ist Zeit, das immer wie- de des kalten Krieges eben nicht in eine „Geometrie der der auszusprechen. In diesem Zusammenhang möchte Macht von 1648 bis 1945“ zurückgefallen, wie es uns ich Ismail Kadaré, den bekanntesten und vielfach preis- manche amerikanischen Historiker vorgerechnet haben. gekrönten Schriftsteller Albaniens, zitieren: Nein, wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß es Der Balkan ist der Hof des europäischen Hauses, zur Westbindung Europas – und damit auch zur West- und in keinem Haus kann Frieden herrschen, solan- bindung Deutschlands – politisch und kulturell keine ge man sich in seinem Hof totschlägt. Alternative gibt. 2674 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Deshalb ist für uns Stabilitätspolitik in Europa heute für den ist heute gewiß ein bewegender Tag. Deswegen (C) – ganz aktuell – in erster Linie Menschenrechtspolitik. gestatten Sie mir die persönliche Bemerkung: Die Tatsa- Wir wissen aber ebenso: Die friedliche Entwicklung, die che, daß wir als deutsches Parlament heute in der deut- uns in mehr als 50 Jahren Nachkriegszeit in Westeuropa schen Hauptstadt unsere Arbeit aufnehmen können, hat beschert war, hatte Wohlstand, wirtschaftliche Zusam- viele Gründe. Viele haben daran mitgewirkt, aber einer menarbeit und kulturellen Austausch zur Voraussetzung. vielleicht doch mehr als andere. Deswegen möchte ich Das war kein Zufall. Auch für Ost- und Südosteuropazu Beginn meiner Rede Helmut Kohl herzlich danken. gilt: Friedliche Entwicklung braucht Wohlstand, und der Wohlstand braucht den Frieden. Diesen Lehrsatz zu be- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- herzigen und nach ihm zu handeln ist gerade uns Deut- wie bei Abgeordneten der SPD) schen historischer Auftrag. Ohne sein Festhalten daran, daß die deutsche Frage (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten offenblieb, solange das Brandenburger Tor zu war – die- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) se Worte stammen von jemand anderem; aber das war die Politik –, und ohne das entschlossene und zugleich Wir stehen nicht nur in einer historischen Verant-maßvolle und beherrschte Nutzen der Chance, als die wortung: als Land zweier Diktaturen in diesem Jahrhun- Geschichte sie bot, wären wir heute nicht hier. dert, als Land, das Völkermord und Aggression über un- seren Kontinent gebracht hat; nein, wir stehen auch in Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer endet jetzt eine einer Verantwortung, die aus unserer Wirtschaftskraft Phase, die den Übergang von der Teilung zur Einheit erwächst. Gesamteuropa, unter Einschluß der Völker des markiert, 50 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, Balkans, braucht eine gemeinsame, europäische Per-50 Jahre nach Entstehen der zwei Staaten in Deutsch- spektive, eine Perspektive des Friedens, aber, wenn man land, das vor zehn Jahren wiedervereinigt wurde. Ausge- ihn dauerhaft sichern will, auch eine Perspektive derrechnet in diesen Wochen ist Deutschland im Kosovo ökonomischen und sozialen Entwicklung. Wir habenerstmals seit dem zweiten Weltkrieg an anhaltenden daran mitzuarbeiten. militärischen Kampfaktionen beteiligt. Das ist viel auf einmal und deshalb Grund genug, sich zu vergewissern, Meine sehr verehrten Damen und Herren, gleich hin- wo wir stehen, welches die Fundamente sind, wohin wir ter diesem Haus, auf der östlichen Seite des Reichstags- gehen und wie wir die Welt sehen, in der wir leben gebäudes, hat nach dem Mauerdurchbruch 1989 jemand wollen. in großen Lettern die „Kinderhymne“ von Bertolt Brecht an eine Wand geschrieben. Ich wünschte mir, diese Von diesem Jahr 1999, seinen vielfältigen wider- Hymne würde zum Integrationssymbol für Ost undsprüchlichen Gedenktagen – vom Goethe-Jahr bis zum West, würde zum Selbstverständnis der „Berliner Repu- 60. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkrieges – (B) blik“ beitragen; denn es gibt kaum einen Text, der auf so und der Art, wie wir damit umgehen, hängt viel ab, ver- (D) einfache und durchdringende Weise die Verbundenheit ehrte Kolleginnen und Kollegen, wie unser vereintes mit dem eigenen Land ohne jede nationale Überheblich- Deutschland an der Schwelle des neuen Jahrhunderts die keit beschreibt. Wunden des alten überwindet und Grundlagen für das neue findet, um Zukunft zu gestalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wenn wir nach der Vollendung der Einheit Deutsch- Deshalb möchte ich zum Schluß jenem anonymenlands fragen, dann müssen wir uns der Grundlagen unse- Fassadenmaler danken – aber nur das eine Mal! –, der rer nationalen Gemeinschaft vergewissern. Mir scheint, uns diese schönen Worte gewissermaßen ins Blickfeld daß, unbeschadet aller definitorischen Bemühungen, die geschrieben hat: ja ganze Bibliotheken füllen, jedenfalls gemeinsame Und weil wir dies Land verbessern Erinnerungen und der Wille zur gemeinsamen Zukunft dafür unverzichtbar sind – Erinnerung und Zukunft, also Lieben und beschirmen wir's die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und das liebste mag's uns scheinen Um die Zukunft zu gewinnen, müssen wir unser Ver- So wie andern Völkern ihrs. hältnis zur Geschichte immer wieder neu klären. Das ist Luther, das ist Goethe, das ist Bismarck, aber es ist eben Vielen Dank. auch und vor allem die Geschichte dieses Jahrhunderts: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Katastrophen zweier Weltkriege, die Tragödie einer DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gescheiterten Republik, das Grauen der Nazibarbarei, PDS) das den Namen Auschwitz trägt. Zu diesem Jahrhundert gehören die 40 Jahre der Teilung und die dann doch noch erfolgte Rückgewinnung der Einheit in Freiheit. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Auch die Mahnmaldebatte, die wir jetzt im Parlament zu dem Kollegen Wolfgang Schäuble, Fraktionsvorsitzen- einem Abschluß bringen müssen, ragt sperrig, aber not- der der CDU/CSU. wendig in das Jahr der Gedenktage 1999 hinein. Es ist unsere gemeinsame Geschichte, und das war Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Präsi- sie auch in der Zeit der Teilung. Aber was so leicht ge- dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer sich sagt ist, erfordert doch manches: Was wissen die West- mit dem Umzug von Bonn nach Berlin beschäftigt hat, deutschen schon von den 40 Jahren DDR? Wenn wir uns Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2675

Dr. Wolfgang Schäuble (A) zur Gemeinsamkeit der Geschichte auch in der Zeit der Vielleicht rührt das falsche Bild von den Siegern und (C) Teilung bekennen, dann heißt das zuerst, daß wir sieBesiegten, das in manchem Herzen nagt und neue Di- überhaupt kennen – kennen wollen, kennenlernen. Dastanz schafft, daher, daß viele, zu viele das Gefühl ha- haben die Westdeutschen vielleicht Nachholbedarf. Die ben, ihr Leben in diesen Jahrzehnten vor 1989 sei nichts Deutschen in der DDR wußten vom Leben im Westenmehr wert, sei vergeblich gewesen. Das wird übrigens mehr – nicht das, was im Zerrbild der SED-Propaganda ausgerechnet noch von denjenigen politisch ausgebeutet, ausgemalt wurde, sondern eher durch das Westfernse- die die Hauptverantwortung für das System vor 1989 hen, durch die Zunahme von Westreisen, vor allem intrugen. den 80er Jahren. Aber sie wußten letztlich vor allem deshalb etwas, weil sie Interesse daran hatten, wie es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wohl im Westen sein mochte. Darüber müssen wir uns Rechenschaft ablegen: Auch Aber auch Hitler und Auschwitz sind gemeinsamedie Deutschen, die in der DDR lebten, haben ihre Le- Vergangenheit. Da haben die Ostdeutschen vielleichtbensleistung, auf die sie genausoviel oder genausowenig Nachholbedarf, weil die Kommunisten unter der zuneh- stolz sein wollen und können wie andere im Westen. mend wohlfeilen Formel des Antifaschismus die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. antwortung für diesen Teil unserer Geschichte bequem sowie bei Abgeordneten der SPD) auf den Westen abschoben. Beethoven, Goethe, selbst Luther, Bismarck und Friedrich der Große – das war Erfolge des Systems gab es, vom Sport einmal abge- auch den DDR-Offiziellen deutsche Geschichte. Bloßsehen, in der DDR wenig. Das hat ja auch die verfas- Hitler, den ließ man den Westdeutschen allein. sungspolitische Debatte über Bewahrenswertes aus Vielleicht sind wir am Ende dieses Jahrhunderts eher DDR-Zeiten im Zuge der Herstellung der staatlichen bereit, dazuzulernen, wenn wir uns klarmachen, daß wir Einheit 1990 so eigenartig unkonkret gemacht. Aber die eben alle Nachholbedarf haben. Wenn wir uns um die Lebensleistung der Menschen, die zum Beispiel unter ganze Geschichte bemühen, dann dürfen wir auch den ungleich schwierigeren Bedingungen als im Westen – deutschen Osten und sein Erbe – Flucht und Vertrei-mit Reparationen an die Sowjetunion statt mit Marshall- bung, bis zu den Sudetendeutschen und den Rußland-plan-Hilfe, ohne Demokratie und mit einem Effizienz deutschen – nicht vergessen. und Leistung eher unterdrückenden stupiden bürokrati- schen Zentralismus – ihre Heimat doch auch wieder (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aufgebaut haben, bleibt unberührt von der Erfolglosig- keit und dem Zynismus des Systems, in dem sie leben Die durch diese gut 40 Jahre, bis 1989, zweigeteilte mußten. Geschichte erklärt für mich viel von den Verletzungen, (B) die als Folge von Teilung und Diktatur auch zehn Jahre (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (D) danach spürbar geblieben sind, ja, die zum Teil erst in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind oder ver- Sie mußten unter der Kuratel eines repressiven und stärkt wurden: „Besser-Wessis“ und „Jammer-Ossis“ – totalen Überwachungsstaats Mitmenschlichkeit, Nähe satirisch gemeint, aber in ihrer Begrifflichkeit und inund Anstand leben, und sie haben es getan. Sie haben es dem, was sie beschreiben, Quellen neuer Verletzungen. mit ansehen und miterleben müssen, als 1953 ein frei- heitlicher Aufstand blutig niedergeschlagen wurde, und Fremdheit und signifikante Einstellungsunterschiede, 1968 haben die Menschen in der damaligen DDR nach etwa zu grundlegenden Positionen der sozialen Markt- dem Prager Frühling und seiner brutalen Niederschla- wirtschaft, wie Demoskopen belegen, aber auch gung zu den Mut nicht verloren, sondern ein neues Ver- Grundfragen der politischen Ausrichtung unserer Bun- ständnis für Bürgerrechte entwickelt und damit ihren desrepublik Deutschland, von der europäischen Eini-Anteil daran, daß der Helsinki-Prozeß möglich wurde gung einschließlich der Osterweiterung bis zu denund Erfolg hatte. NATO-Aktionen im Kosovo; Verletzungen durch die ju- ristische und bürokratische Aufarbeitung der Teilung, Aber Lebensleistung, die keinem genommen werden von den Strafverfahren bis zu den Eigentumsfragen, von darf, schuf eben nicht Identität in und mit der DDR – Entschädigungsregelungen bis zur Anerkennung vonwas vielleicht erklären könnte, daß in der DDR sogar Bildungsabschlüssen – immer lauert dahinter das Bild, das Gefühl für die Bewahrung unserer deutschen Natio- daß die Wende im Ergebnis Sieger und Besiegte hatte. nalkultur lebendiger, verbreiteter blieb als teilweise im Westen. Es entstand eben keine DDR-Identität, und die Zugegeben, soweit es bis 1989 einen Wettlauf derSED-Machthaber wußten das übrigens viel besser als Systeme gab, so weit hat in der Tat die Freiheitsordnung manche linken Anpasser im Westen. von Grundgesetz und sozialer Marktwirtschaft gesiegt. Aber deswegen sind die Ostdeutschen nicht die Besieg- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ten. Sie wollten Freiheit und Demokratie, auch soziale Marktwirtschaft – und die dadurch gegebenen besseren Sie wußten genau, daß sie die gesamtdeutsche Identität Chancen für Wohlstand – und soziale Sicherheit. Sienicht würden ausrotten können. Deswegen haben sie wollten ja gerade das DDR-System loswerden. Also sind auch Gorbatschow von vornherein so mißtraut, und in sie nicht Besiegte, sondern Sieger. dem Mißtrauen hatten sie recht: Das mußte das System beseitigen. Schlecht war es trotzdem nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) 2676 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Daraus ergibt sich die Lehre: Ohne Freiheit entstehen nicht Sieger und Besiegte gab, weil uns nach dem(C) Identität, Zugehörigkeit nicht; und – wie wir im ehema- Zweiten Weltkrieg unterschiedliche Systeme auferlegt ligen Jugoslawien grausam studieren müssen – Toleranz wurden und wir uns am Ende gemeinsam für die Freiheit eben auch nicht. Die Freiheit markiert den entscheiden- entscheiden konnten, sollten wir bei der Aufarbeitung den Unterschied in diesen 40 Jahren bis zum Fall derder Vergangenheit die Suche nach individueller Schuld Mauer. Deshalb war die Freiheit, wie Bundeskanzlernicht zu sehr in den Vordergrund stellen. Helmut Kohl einst im Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland sagte, der Kern der deutschen Wir haben auch nicht nur Fehler gemacht. Wir haben Frage. Weil alle die Freiheit wollten, gab es 1989 nurgemeinsam auch viel erreicht. Darauf können und darauf Sieger, und auch weil wir uns alle die Freiheit nicht al- sollten wir ein wenig stolz sein. Vielleicht ist das Wis- lein und nicht nur durch eigene Leistung erworben ha- sen um das gemeinsam Geschaffene und Gelungene ben, sondern sie zum Teil eben auch geschenkt bekamen auch eine Vorkehr gegen zuviel Wehleidigkeit der Deut- – im Westen zuerst durch die Wertegemeinschaft derschen am Ende dieses Jahrhunderts. Wir, verehrte Kol- freiheitlichen Demokratien und im Osten dann durch das leginnen und Kollegen, haben es nicht am schwersten Offenhalten der deutschen Frage und den Wunsch Euro- auf dieser Welt. Andere beneiden uns eher. pas, seine Teilung zu überwinden, so daß die Menschen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem überall in Europa in Freiheit leben könnten –, gibt es BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. weder Sieger noch Besiegte. Es gibt auch keinen Grund sowie bei Abgeordneten der PDS) – für niemanden in Deutschland –, Dankbarkeit einzu- fordern oder sie zu schulden für die gemeinsame Arbeit, Wir leben in größerem Wohlstand und in größerer so- Teilung und Unfreiheit als Last unserer Geschichte zuzialer Sicherheit als die allermeisten Menschen auf die- überwinden. Bei dieser Arbeit haben wir gemeinsam Er- ser Welt – auch in Europa. Das gilt auch für die Men- folg gehabt. schen in den neuen Bundesländern – bei allen Proble- men und bei allen noch immer im Vergleich zu West- Für die Freiheit steht als Symbol der Reichstag. Für deutschland bestehenden Unterschieden und Nachteilen. die Freiheit, Herr Regierender Bürgermeister, steht Ber- Aber nichts ist für die Zukunft selbstverständlich. lin. Die Welt verändert sich. Der Wandel der realen wirt- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD und schaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse voll- der F.D.P.) zieht sich oft schneller und in gewaltigeren Dimensio- Deshalb mußte für mich Berlin auch Sitz von Parlament nen, als vielen lieb ist. Dem müssen wir uns stellen. Wer und Regierung werden. Deshalb, Herr Präsident, habe Bewährtes erhalten will, muß verändern – immer, heute ich übrigens bis heute nicht verstanden, warum wir die- aber vielleicht mehr als zu früheren Zeiten. Weil Wohl- (B) ses Gebäude mit seiner demokratischen republikani-stand eher zur Verteidigung von Besitzständen verleitet, (D) schen Tradition nicht mehr sollen Reichstag nennen dür- stoßen Innovationen und Reformen auf viel Widerstand fen. – im Westen übrigens stärker als im Osten, wo die Men- schen seit 1989 wahrhaft grundstürzende Veränderungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- verkraften mußten. Aber an der Fähigkeit zu zukunfts- ordneten der SPD und der F.D.P. – Zuruf der gestaltenden Strukturreformen entscheiden sich trotz al- Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) ler Widerstände unsere Zukunftschancen. Der Arbeits- – Ja, wir sind der Deutsche Bundestag. Wir haben auch markt verändert sich durch technologische Entwicklung schon im Wasserwerk getagt. Jetzt tagen wir und im Globalisierung rasant, und der Altersaufbau unserer Reichstag. Belassen wir es also bei der gewohnten Be- Bevölkerung auch. Konsequenzen für Renten- und zeichnung und schreiben wir keine andere vor. Krankenversicherung sind ebenso unausweichlich wie die Reform unserer Schulen und Hochschulen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Europäische Einigung ist die beste Vorsorge für das kommende Jahrhundert; aber auch sie fordert – wie wir Im Wasserwerk, Frau Vizepräsidentin, haben wir ent-beispielsweise bei der Währungsunion gesehen haben schieden, daß wir künftig im Reichstag tagen. So ein-und bei der Osterweiterung noch sehen werden – immer fach ist der Zusammenhang. Aber es ist immer derwieder Mut zu Neuem. Wenn wir – auch unter dem Ge- Deutsche Bundestag. sichtspunkt von Friedenssicherung und ökologischer Also, die Freiheit war entscheidend. Mit der Freiheit Nachhaltigkeit – unseren Globus zunehmend als eine hängen – richtig verstanden – Solidarität und Gerechtig- Welt begreifen, als eine Welt, in der Grenzen weniger keit untrennbar zusammen. Deshalb war das Grundge- trennen und Entfernungen schrumpfen, dann muß uns setz und seine Ordnung das Maß der Dinge – vor dem dies auch den Blick für globale Zusammenhänge und für Fall der Mauer gerade für die Menschen in der DDR und die Unteilbarkeit unserer Verantwortung öffnen. bei der Herstellung der staatlichen Einheit für uns alle. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Das müssen wir uns immer wieder klarmachen, auch SES 90/DIE GRÜNEN) zehn Jahre danach. Vielleicht – nein, gewiß, verehrte Kolleginnen und Kollegen – haben wir auf diesem Weg Verunsicherung, Angst vor der Zukunft wäre die fal- beim Einigungsvertrag und bei seiner oft so bürokratisch sche Antwort. Offenheit als Chance begreifen, Gestal- und perfektionistisch wirkenden Umsetzung Fehler ge- tungsaufgaben als Herausforderung, Freude auf Neues, macht. Aber lernen können wir noch immer. Da es 1989 Neugier auf Künftiges – das kann man auch in diesem Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2677

Dr. Wolfgang Schäuble (A) wunderbar erneuerten Reichstag so empfinden –, dasbei Fragen, wie wir in Zeiten der Globalisierung soziale (C) alles macht Mut zur Zukunft. Sicherheit und Vollbeschäftigung wahren können, im Prinzip nicht anders als bei der Debatte um die völker- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rechtlichen Grundlagen von NATO-Aktionen. Die Basis dafür haben wir in unseren gemeinsamen Die Anerkennung von Realitäten, die Kraft des Fakti- Erinnerungen und in den Werten, die Grundlage frei-schen, die etwa im Völkerrecht beim Interventionsverbot heitlichen Zusammenlebens sind. Sie sind unverzichtbar. eine ganz entscheidende Rolle spielt, die stoßen sich mit Deswegen ist Verantwortung für die Geschichte so we- manch grundsatzbewegter Rechthaberei, und sie sollten nig rückwärts gewandt wie das Eintreten für Grundwerte uns die Prozeßhaftigkeit – also die Veränderbarkeit – wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, Menschen- politischer, sozialer und wirtschaftlicher Sachverhalte würde und Toleranz oder auch das Eintreten für Ord-und der Kriterien zu ihrer Beurteilung lehren. nungsprinzipien und Institutionen, die Werte vermitteln können, von der Familie bis zum Subsidiaritätsprinzip. Das alles ist beunruhigend, unbequem. Aber es wird Wer feste Wurzeln hat, kann weiter ausgreifen. Wer sich durch die Einsicht erleichtert, daß wir nicht mehr allein seines Fundaments gewiß ist, hat mehr Kraft zur Inno- stehen, letztlich weder allein handeln können noch – vor vation, zur Veränderung. Das läßt Zukunft gestalten. allem – wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Natürlich ist auch Integration nicht immer bequem. ordneten der F.D.P.) Eigene Vorstellungen und Überzeugungen lassen sich nicht immer so ganz durchsetzen, und Kompromisse Ich sagte schon: Wir haben es nicht am schwerstensind ebenso unvollkommen wie unausweichlich. Aber auf dieser Welt – genauso wie wir nicht – und schon gar Integration vermeidet eben Isolierung. Im übrigen wirkt nicht auf Grund unserer Vergangenheit – ein Monopol Integration auch der Gefahr dramatischer Irrwege entge- auf Betroffenheit oder Sensibilität haben. Andere sind gen. Schwerfälligkeit von Entscheidungsprozessen ist auch betroffen, und andere haben auch Sensibilität. dann insoweit immerhin auch Vorkehr gegen Übermut, Damit bin ich beim Zusammenhang von Frieden und so wie Trägheit, physikalisch betrachtet, eben auch sta- Freiheit, auch bei der Unteilbarkeit von Frieden undbilisiert. Freiheit. Genau darum geht es im Kosovo. Militärische Gewaltanwendung bleibt als Ultima ratio Wir haben vor ein paar Tagen in Bonn – und gewiß zur Wahrung von Frieden, Freiheit und grundlegenden nicht zum letzten Mal – wieder über Völkerrecht, Inter- Menschenrechten unverzichtbar, solange wir internatio- ventionsverbot und Universalität von Menschenrechten nal eine verbindliche und durchsetzbare Rechtsordnung diskutiert. Wir werden damit lange nicht zu Ende sein. und ein Gewaltmonopol nicht haben. Niemals mehr al- (B) Entziehen können wir uns dieser Debatte nicht mehr.lein – das ist die Lehre unserer Geschichte und zugleich (D) Den Konsequenzen müssen wir uns stellen. unsere Chance an der Schwelle zum nächsten Jahrhun- dert. So ist unsere Bundesrepublik Deutschland mit der Wiedervereinigung auch erwachsen geworden. „Unein- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. geschränkt souverän“ nennt das der Staatsrechtler. Wer sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- aber Rechte hat, hat auch Pflichten. Wir werden nicht SES 90/DIE GRÜNEN) mehr bevormundet, sondern sind Partner und tragenEuropäische Integration und atlantische Partnerschaft deshalb Verantwortung. Weder behütet noch bevormun- sind unsere feste Basis. Um sie zu erhalten, müssen wir det – das bedeutet erwachsen sein. selbst verläßliche Partner sein. Das beschreibt unsere Das bedeutet zuerst, daß staatliche Machtentfaltung Verantwortung: für uns und unsere Zukunft, für uns und auch am Ende dieses Jahrhunderts notwendig bleibt, um für Europa. friedliches, freiheitliches Zusammenleben zu sichern. Im Besonders in den neuen Ländern tun sich manche Rechtsstaat haben wir eine verbindliche Rechtsordnung unserer Mitbürger damit schwer – aber wer wollte das mit einer die Durchsetzung von Recht sichernden Ge-nicht verstehen? – wo man so lange nicht nur dem richtsbarkeit und staatlichem, auch rechtlich begrenztem Zerrbild der Anti-NATO-Propaganda ausgesetzt war, Gewaltmonopol. International, weltweit, aber leidersondern wo man vor allem auch unter zuviel staatlicher auch in Teilen Europas haben wir das noch nicht. Des- Machtentfaltung gelitten hat. Aber zuwenig ist so halb ist für Sicherheit, für Frieden und Freiheit Machtlo- falsch wie zuviel. Demokratisch legitimierte, rechtlich sigkeit keine Tugend, sondern Verweigerung von Ver- kontrollierte und begrenzte staatliche Machtentfaltung antwortung. bleibt notwendig, auch nach dem Zuviel der Diktatu- (Beifall bei der CDU/CSU) ren. Das fällt uns Deutschen am Ende dieses Jahrhunderts Aber auch das gilt: Wegsehen hilft am Ende nieman- nicht leicht. Aber die Erkenntnis und ihre Konsequenzen dem. Das wenigstens hat uns dieses Jahrhundert gelehrt. sind unausweichlich: staatliche Machtentfaltung, Durch- Andere haben nicht weggesehen. Deshalb leben wir setzung von Regeln für politische, soziale und ökonomi- heute in Frieden, Freiheit und Einheit. Das ist nicht we- sche Sachverhalte und Prozesse. Das läßt sich allerdings nig, verehrte Kolleginnen und Kollegen, und gewiß ge- nicht immer so perfektionistisch regeln, wie wir uns das nug, um darauf eine neue Ernsthaftigkeit unseres Ver- in unserem – gelegentlich zur Hypertrophie neigenden – ständnisses von politischen Prioritäten und Notwendig- Rechtswegestaat manchmal angewöhnt haben. Das gilt keiten zu gründen. 2678 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Wenn wir den Zusammenhang von Freiheit, Solida- Es ist gerade für uns Sozialdemokraten ein denkwür- (C) rität und Gerechtigkeit national, europäisch und weltweit diger Tag, für meine Fraktion in ganz besonderem Ma- begreifen, dann finden wir unsere Aufgaben, Aufgaben, ße; denn wir Sozialdemokraten kommen zurück – besser über die wir an Einheit noch vollenden können, was bis- gesagt kehren zurück – in ein Haus, in dem unsere Par- her unfertig geblieben ist und was uns hilft, die Wunden tei, Fraktionen der SPD schon im letzten Jahrhundert für von Diktaturen und Teilung zu schließen und Verletzun- mehr Demokratie und für soziale Gerechtigkeit gestrit- gen auszuheilen. ten haben, mit August Bebel an der Spitze. Über unsere Aufgaben aus der Verantwortung für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frieden und Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Einheit vollenden, daran, verehrte Kolleginnen und Kollegen, läßt sich arbeiten: hier im Reichstag Dennoch für kehren wir mit gemischten Gefühlen in dieses Haus zurück. Es ist der Ort, an dem die Demokratie von Deutschland und für Europa. ihren Gegnern systematisch mit Füßen getreten wurde, (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der Ort, an dem die größte Niederlage der Demokratie in der F.D.P.) Deutschland vorbereitet wurde. Aber für uns bleibt es auch der Ort, an dem Sozialdemokraten in ihrem Kampf für eine gerechtere Welt allen Demokratieverächtern die Präsident Wolfgang Thierse: Lieber Kollege Stirn geboten haben. Schäuble, Sie haben mich in Ihrer Rede direkt angespro- chen. Ich will deswegen etwas dazu sagen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß mir das Wort „Reichstag“ in meiner Rede fließend über die Lip- Es war ein zäher Kampf, ein Kampf der tausend klei- pen gekommen ist. nen Schritte. Heute vor 100 Jahren, genau am 19. April 1899, wurde in diesem Haus für einen dieser kleinen (Heiterkeit) Schritte gestritten – von Sozialdemokraten. Die Forde- Aber ich glaube nicht, daß Sie mich dafür kritisieren rung nach besseren Arbeitsbedingungen für Verkäufer sollten, daß ich eine Kompromißformulierung des Älte- und Heimarbeiter stand auf der Tagesordnung. Es ging stenrates als Parlamentspräsident öffentlich vertrete,darum, Arbeiter nicht länger als Menschen zweiter Klas- eine Kompromißformulierung zudem, der Sie persönlich se zu behandeln und sie gegenüber Arbeitgebern mit zugestimmt haben, Herr Kollege Schäuble. mehr Rechten auszustatten. „Bravo-Rufe bei der SPD- Fraktion“ vermerkte das Protokoll, als ein sozialdemo- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Hört! Hört!) kratischer Tischler aus Dresden am zähen Kampf seiner (B) Im übrigen halte ich es für meine Pflicht als Parla-Partei – meiner Partei, unserer Partei – keine Zweifel(D) mentspräsident, dafür einzutreten, daß der Name unseres ließ und den Gegnern der sozialdemokratischen Arbei- Parlaments, Bundestag, auch in Berlin eine Chance be- terbewegung voraussagte: kommt. Wir werden alles einsetzen, um die Gleichberechti- (Beifall bei der SPD) gung zwischen Unternehmern und Arbeitern einzu- führen; solange der Kampf auch noch nötig sein Das Wort erteile ich nun dem Fraktionsvorsitzenden mag, wir werden nicht erlahmen, bis wir das Ziel der SPD-Fraktion, dem Kollegen Peter Struck. erreicht haben. (Beifall bei der SPD) Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Ich glaube, die Frage, wie dieses Haus Ob Sie, Herr Bundeskanzler, das alles heute noch so genannt werden wird, werden die Bürger entscheiden.unterschreiben würden, versehe ich mit einem Fragezei- Aber prinzipiell möchte ich Ihnen, Herr Präsident, sa-chen. Aber generell möchte ich schon sagen, Herr Bun- gen: Die SPD-Fraktion steht immer auf Ihrer Seite. Da deskanzler: Es freut mich sehr, daß der erste Regie- können Sie ganz sicher sein. rungschef, der eine Regierungserklärung im neuen Bun- destag, im Reichstag abgegeben hat, ein Sozialdemokrat (Beifall bei der SPD) ist. Das zweite, was ich sagen möchte: Heute ist ein (Beifall bei der SPD) besonderer Tag. Man merkt das an der etwas weihe- vollen Stimmung, die üblicherweise nicht im Deut- Auf diese Geschichte des langen Atems sind wir So- schen Bundestag herrscht. – Ich denke, das wird sich zialdemokraten stolz. Deshalb empfinde ich es auch als ändern. – Man merkt es übrigens auch an der Präsenz gutes Omen, jetzt an diesen Ort zurückzukehren, an dem des Bundesrates, die in diesem Maße auch nicht üb- August Bebel, wie er sagte, „die Tretmühle des Parla- lich ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren Mi- ments“ erlebt hat. nisterpräsidenten, wenn Sie in Zukunft auch so zahl- reich dabeisein werden, dann werden wir uns alle sehr Wenn es einen Ort gibt, der für die demokratischen Höhen und Tiefen Deutschlands steht, dann ist es dieser freuen. Bau. – Ich möchte an dieser Stelle, Herr Präsident, all (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ denjenigen danken, die in der Baukommission des Älte- DIE GRÜNEN) stenrates an diesem Bau mitgewirkt haben. Ich möchte Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2679

Dr. Peter Struck (A) in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Kollegenfür unmöglich gehalten hätten. Es ist eine besondere(C) Peter Conradi erwähnen, der heute unter uns ist. – Tragik, daß ausgerechnet die erste rotgrüne Bundesre- gierung in der Geschichte unseres Landes solche Ent- (Beifall) scheidungen mit vorzubereiten und zu verantworten hat. Wir alle wehren uns dagegen – der Bundestagspräsident, Am Ende des Jahrhunderts, nach einer langen Phase der Bundeskanzler haben es ausgesprochen –, eines den oft angespannten Friedens zwischen Ost und West, Reichstag einseitig als Parlament der Nazi-Macht-ist das Gespenst des Völkerhasses in Europa wieder vor ergreifung zu sehen. Es ist bezeichnend, daß er denaller Augen. Für viele von uns ist die Erfahrung Gegnern der Demokratie – vom Kaiserreich bis zumschmerzhaft, daß es ein Heraushalten, ein Zusehen nicht Nationalsozialismus – immer ein Dorn im Auge war.geben kann. Manche wollen und können nicht akzeptie- Für sie war er „Reichsaffenhaus“, „Schwatzbude“ oder ren, daß ausgerechnet Luftangriffe den Frieden bringen „Lügenzentrale“. Parlamentarismus als Meinungsbil-sollen. Ich glaube, quer durch die Fraktionen ist die Er- dung war diesen Hetzern verhaßt. Sie tragen die Ver-schütterung über diese Situation groß, und vielen mag es antwortung dafür, daß sich das Gros der „Insassen“ am ergehen wie mir: Ich stehe zu der Entscheidung der Ende der Weimarer Republik zu einem „gröhlendenNATO; ich bin aber tief verunsichert darüber, daß eine Männerchor“ gewandelt hat. So hat es Willy Brandt als solche Entscheidung zum Ende dieses Jahrhunderts Alterspräsident 1990 bei der ersten Sitzung des wieder- notwendig ist. vereinten Bundestages an diesem Ort ausgedrückt. Uns muß das Mahnung und Verpflichtung sein. Nie wieder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ darf aus diesem Haus heraus durch Mißachtung und DIE GRÜNEN) Verleumdung des politischen Gegners der Demokratie Die Rückkehr des Parlaments gerade an diesen Ort muß Schaden zugefügt werden. uns Verpflichtung sein, nie wieder von Deutschland aus (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einem Völkermord tatenlos zuzusehen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Willy Brandt hat 1990 allerdings auch daran erinnert, DIE GRÜNEN) daß längst nicht alle Parlamentarier in dieses dumpfe Für meine Partei, für meine Fraktion ist es eine bittere Gröhlen eingestimmt haben. Er hat daran erinnert, daß Erfahrung, daß die Warnung der deutschen Sozialdemo- 200 Mitglieder des Reichstages in Konzentrationslager kratie vor Hitler allzu lange ungehört blieb, nicht nur im und Gefängnisse verbracht wurden und daß über 100eigenen Land, sondern in der gesamten zivilisierten Mitglieder des Reichstages wegen ihrer demokratischen Welt. Der „Trümmerhaufen Europa“, wie die SPD ihn Überzeugungen das Leben geben mußten. Das zeigt:1934 unter ihrem Vorsitzenden Otto Wels düster vor- (B) (D) Das Parlament, das in diesem Reichstag vor uns getagt ausahnte, hätte womöglich vermieden werden können. hat, gehört nicht zum Verwerflichsten, was deutsche Ge- Um so bindender müssen wir dafür einstehen: Einen schichte zu bieten hat. neuen „Trümmerhaufen Europa“ darf es nicht geben. Wir kehren heute zurück in ein Gebäude, das wie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kein zweites an die deutsche Trennung durch die Mauer DIE GRÜNEN) und an das Fehlen von Demokratie im real existierenden Sozialismus mahnte. Direkt an der Mauer war der leer- Wir wollen, wie Otto Wels es in seiner mutigen Rede stehende Reichstag nach Meinung des ehemaligen Re- gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz 1933 gesagt hat, ein gierenden Bürgermeisters Klaus Schütz ein Symbol, das Europa der Menschlichkeit und der Freiheit. – seiner Funktion beraubt –, den Zustand der Nation am (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten deutlichsten wiedergab. Folgerichtig müssen wir ihn des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) jetzt – vereint – wieder mit parlamentarisch-de- mokratischem Leben erfüllen. Wir sind in der Pflicht, Angesichts dieser ethnischen Katastrophe keine zwei dieses Haus zum Wahrzeichen einer prosperierendenFlugstunden von uns entfernt halte ich es für angemes- Demokratie zu machen. sen, vorhandene Probleme daheim mit etwas mehr Ge- lassenheit zu betrachten. Ich stimme Ihnen, Herr Kollege (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schäuble, auch Ihnen, Herr Bundeskanzler, darin aus- DIE GRÜNEN) drücklich zu. Willy Brandt hat in seiner Rede als Alterspräsident Die Rückkehr des Parlaments in den Reichstag, die 1990 ahnungsvoll gesagt: Rückkehr nach Berlin, in den Brennpunkt des Zusam- menwachsens, ist der Beweis, daß wir alle in diesem Die Mitverantwortung Deutschlands ist in der Welt Haus die Vollendung der inneren Einheit noch energi- gewachsen. Krieg droht vor der Haustür Europas. scher anpacken wollen. Es stimmt, auch neun Jahre nach Seine Befürchtungen sind auf das schlimmste übertrof- der staatlichen Einheit ist die innere Einheit noch nicht fen worden. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. vollends gelungen. Aber jeder, der in diesem Land Ver- Massaker, Vertreibung und Völkermord halten uns inantwortung trägt, müht sich – wenigstens subjektiv – den 90er Jahren in Atem. Die Auseinandersetzungen in nach besten Kräften, dieses Ziel zu erreichen. Bundes- Jugoslawien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo präsident Herzog hat in seiner Rede zum Tag der deut- forderten und fordern uns Entscheidungen ab, die wirschen Einheit im letzten Oktober zu Recht vor der „har- 1990 in der Freude über die deutsche Vereinigung noch monieversessenen Vorstellung“ gewarnt, „die innere 2680 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Dr. Peter Struck (A) Einheit sei erst dann erreicht, wenn alle Deutschen sodert, in eine trotz aller internationalen Schatten chancen- (C) ziemlich das gleiche Lebensgefühl hätten. Das kannreiche Zukunft. Und: Wir kommen nicht mit leeren nicht unser Ziel sein. Händen vom Rhein an die Spree. Wir bringen mit, was wir an demokratischen Traditionen in 50 Jahren erar- (Beifall bei der SPD) beitet haben. Es sind stabile Traditionen. Wir ziehen Daß es Unterschiede im Denken, in Prioritäten, auch nicht fort von der Bonner in die Berliner Republik, wir in politischen Grundüberzeugungen gibt, darf nicht ver- bleiben Bundesrepublik Deutschland. ängstigen, weder die Menschen im Westen noch die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Menschen im Osten. Die Sozialisation in der DDR war des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der eine andere als in der Bundesrepublik. Wir müssen dazu CDU/CSU) stehen und dürfen nicht überdramatisieren. Wer in der relativ behüteten Welt eines bayerischen Dorfes lebt Wir sollten nicht leichtfertig von dieser Selbstver- – ich habe selbstverständlich nichts gegen die Bayern –, ständlichkeit abgehen. Wir wollen und brauchen keine hat Probleme, sich in das pulsierende, hektische Leben andere Republik. „Ein Ortswechsel, kein Richtungs- einer westlichen Großstadt hineinzuversetzen. wechsel“, hat Bundespräsident Roman Herzog zu Recht bemerkt. Für die Bürger darf nicht das Wo des Parla- (Zuruf von der SPD: Und umgekehrt! ments entscheidend sein. Sie müssen sich darauf verlas- – Heiterkeit) sen können, daß in Berlin genau wie in Bonn um die be- Ich nehme aber an, die Kolleginnen und Kollegen dersten Lösungen für das Land gerungen wird. Der Bun- CSU-Landesgruppe, Herr Glos, werden das alles hervor- destag macht entweder gute oder schlechte Gesetze ragend meistern. Ich will nur ein Problem beschreiben. – jetzt, nach den neuen Mehrheiten, macht er in der Regel gute Gesetze –, Genauso wie wir diese Tatsache akzeptieren, müssen wir die Unterschiede im Lebensgefühl zwischen Rhein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ländern und Sachsen, zwischen Pfälzern und Branden- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – burgern als Selbstverständlichkeit nehmen. Seien wir Lachen bei der CDU/CSU) auch gerade hier in Berlin nicht so ungeduldig! Verges- ob am Rhein oder an der Spree. Daran muß man sich, sen wir nicht, daß gerade hier Ost und West aufeinan-ganz unabhängig vom Standort, messen lassen. derprallten und beide Teile der Stadt quasi zu Banner- trägern des einen oder des anderen Systems hochstili- (V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters) siert wurden. Gerade hier, an der Schnittstelle ehemali- Es stimmt: Der Umzug verlangt von uns Parlamenta- ger Unterschiede, kann das Verwachsen der Wunden ein riern eine ganze Menge Umstellung. Den Bürgern aber (B) Prozeß sein, der besondere Geduld verlangt. Wir müssen und auch unseren Nachbarn muß er Kontinuität garantie- (D) und wir wollen diese Geduld aufbringen. Ich bin derren. Das Koordinatensystem unserer Politik wird und Meinung des Herrn Bundestagspräsidenten: Er erwartet darf sich nicht verschieben. Wir brauchen weiterhin eine von diesem Parlament, daß es, insbesondere hier in der Politik, die nach innen wirtschaftliche Leistungsfähig- Hauptstadt, Verständigungsprozesse anstößt. Dazu will keit mit sozialer Gerechtigkeit verbindet. ich das Meine tun, dazu will die SPD-Bundestags- fraktion das Ihre tun. (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, der Aufbau Ost, den der Diese Traditionen, die wir in 50 Jahren am Rhein gehegt Bundeskanzler angesprochen hat, die Entwicklung der haben, bringen wir mit, eine Erfolgsgeschichte, auf die weiteren wirtschaftlichen Angleichung der Lebensver- wir alle alles in allem stolz sein können. hältnisse steht auch im Mittelpunkt sozialdemokratischer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Innenpolitik. Das schlägt sich nicht nur in Bekenntnis- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sen nieder, sondern auch in konkreten Zahlen. Ich möchte nur eine Zahl nennen: Wir haben die Ansätze für Nach außen brauchen wir eine Politik, die eine der konsumtive und investive Ausgaben in den neuen Län- guten Nachbarschaft ist und es auch bleibt. Gerade hier dern weiter verstärkt. Sie steigen von 89 Milliarden DM in Berlin können wir Deutschen Europa noch weiter zu- im letzten Jahr auf rund 100 Milliarden DM in diesem einanderführen. Gerade hier verstehe ich es als große Jahr. Wir verstärken und verstetigen dabei in zweiChance, die östlichen Nachbarn noch stärker in die Eu- Richtungen. Einerseits geht es um die Stabilisierung der ropäische Gemeinschaft einzubinden. Sie wünschen es. Aufbauleistungen, andererseits um die verstärkte Förde- Wir werden ihnen dabei nach Kräften helfen und damit rung bei Zukunftsfragen. Als besonders wichtige Zu-ein vereintes Europa vorantreiben. kunftsinvestition seien noch einmal – man kann es nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten oft genug betonen – die Bekämpfung der Jugendar- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) beitslosigkeit und das Sonderprogramm der Bundesre- gierung mit seinen großen Erfolgen erwähnt. Aber lassen Sie mich hier genauso klarstellen: Der Schritt nach Osten bedeutet keine Aufgabe der Westbin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dung; nein, diese ist und bleibt unabdingbare Vorausset- DIE GRÜNEN) zung. Die Nähe zu Brüssel, London, Paris, Rom und Wir, Parlament und Regierung, kehren nach BerlinWashington wird nicht deshalb geringer, weil uns in zurück. Aber der Umzug ist keine Reise in die Vergan- Berlin nicht mehr so viele Kilometer von Budapest, genheit. Er markiert den Aufbruch in ein neues Jahrhun- Moskau, Prag oder Warschau trennen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2681

Dr. Peter Struck (A) In seiner Rede als Alterspräsident hat Willy Brandt Wir sollten heute weitere Selbstverständlichkeiten(C) 1990 hier – der Raum sah etwas anders aus, aber der Ort besprechen, und zwar nicht, weil der Ältestenrat bzw. ist derselbe – gesagt, seine Visionen seien mit dem Fall das Präsidium einen akrobatischen Namensvorschlag für der Mauer noch nicht zu Ende, sein Wunsch sei jetzt,die Kombination von Plenarbereich und Reichstagsge- den Tag zu erleben, an dem auch Europa eins geworden bäude gemacht hat. Die Sprache des aufgeklärten Bür- ist. Es war ihm nicht vergönnt. Wir haben jetzt gertums die in Deutschland präzisiert den Namen. Dieser Chance, für uns und unsere Kinder die Sehnsucht dieses Name ist „Reichstag“. Daran führt keine Wortkombina- großen Europäers zu verwirklichen. Von Berlin aus ste- tion vorbei. hen wir in der Pflicht für ein Europa, das eines nicht (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so- mehr fernen Tages eins geworden ist. wie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Das, was wir jetzt in einer Zwischenbilanz der deut- Wir wollen ein Europa auf jenen Grundfesten, die der schen Einheit debattieren, wird nicht bestimmt durch SPD-Vorsitzende Otto Wels 1933 in seiner Rede gegen die Bezeichnung „Berliner Republik“ oder „Bonner das Ermächtigungsgesetz beschworen hat, ein Europa, Republik“, nicht durch eine Wortbezeichnung für die- das den Grundsätzen der Menschlichkeit, der Gerechtig- ses Gebäude und den Raum, den wir mit parlamentari- keit und der Freiheit verpflichtet ist. schen Debatten ausfüllen, und auch nicht – Herr Bun- deskanzler, das muß ich noch zu Ihrer Regierungser- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ klärung sagen – durch volkswirtschaftliche Kennzif- DIE GRÜNEN) fern. Was heute hier besprochen werden muß, ist die innere Verfassung der deutschen Nation. Die ist ganz Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe dem Vor- entscheidend. sitzenden der F.D.P.-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) das Wort. Damit ist nicht die geschriebene Verfassung gemeint. Die allein reicht nicht. Die Verfassungstradition ist gut. Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Herr Präsident! Ich meine die Nationalversammlung in der Paulskirche, Meine Damen und Herren! Wir alle wären heute nicht den gescheiterten Versuch der Weimarer Reichsverfas- hier, wenn es nicht die couragierten Teilnehmer dersung, aber dann auch den gelungenen des Grundgeset- Montagsdemonstrationen des Jahres 1989 gegeben hätte. zes. Trotzdem spüren wir im innerdeutschen Zusam- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so- menwachsen, daß wir den erneuten ernsthaften Versuch wie bei Abgeordneten der SPD) machen müssen, die Zustimmung der Menschen zum (B) Grundgesetz, zum Vertrag zur deutschen Einheit, (D) zu Wir wären nicht hier, wenn sich die Freiheit damalsParlament, Marktwirtschaft, föderativem Staatsaufbau nicht in gewaltfreiem Widerstand und mit großem En- und zum Bundesverfassungsgericht zu erreichen. Das ist gagement hätte Bahn brechen können. Das heißt, wirwichtig; aber nicht die geschriebene Verfassung ist müssen auch über das Selbstbewußtsein der Deutschen schon die Sache selbst. selbst sprechen. Der erste Bundespräsident dieser Republik, deren Wir schulden den Bürgerinnen und Bürgern der ehe- Grundzüge wir hier in Berlin beheimatet sehen wollen, maligen DDR, von denen viele als Kolleginnen undTheodor Heuss, hat gesagt: Die Deutschen brauchen ein Kollegen heute bei uns im Deutschen Bundestag sind,Maß. – Das heißt, sie brauchen eine Überzeugung für für dieses Engagement Respekt. Sie haben für die Ver- die Freiheit, die Klarheit, die Freiheit in ihren Grenzen wirklichung der deutschen Einheit einen großen Frei-nicht zu überschreiten. Er hat gesagt, man müsse den heitswillen bewiesen. Deutschen ihren billigen Nationalismus abgewöhnen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so- Wie wahr in einer Zeit, in der wir wieder spüren, wie wie bei Abgeordneten der SPD) billiger Nationalismus zu Morden führt! Wir tagen hier aber auch, weil es in der alten Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) republik Deutschland Persönlichkeiten gab, die in ihrer Eine Haltung mit Weitsicht, all das, was die kulturelle eigenen Biographie den Willen zur deutschen Einheit Dimension einer Freiheit ausmacht, ist mir in Deutsch- immer aufrechterhalten haben, auch in Zeiten, als dies land nicht ausreichend ausgeprägt. Wahrscheinlich muß nicht Mode war, als der Wunsch, die deutsche Einheit zu man der eigenen Nation sagen: Es gibt europäische erreichen, sehr stark in die rechte Ecke gedrängt wurde Nachbarländer, die eine breitere kulturelle Dimension und als er eher als ein übles Zurückholen falscher der Freiheit haben. Wenn wir in Deutschland über Frei- Bruchstücke der deutschen Geschichte dargestellt wur- heit sprechen, kann man dies kaum tun, ohne die Di- de. Eine dieser Persönlichkeiten ist heute hier. Da jeder mensionen der Gleichheit und der Gerechtigkeit mit zu Namen aus seiner politischen Grundrichtung genannt beachten, die wichtige Werte sind. Aber Tatsache ist, hat, möchte ich diesen auch nennen. Es handelt sich um daß sich in Deutschland die Werte Freiheit und Gleich- Wolfgang Mischnick, dem wir sehr zu Dank verpflichtet heit fälschlicherweise dauernd bekämpfen, daß auf der sind für das, was er getan hat. einen Seite die Anwälte der Freiheit stehen, die auf der (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU anderen Seite von den Anwälten der Gleichheit konter- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kariert werden. 2682 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) Meine Damen und Herren, Gleichheit und Gerechtig- Wir wissen, daß sich der Wettbewerbsdruck verstärkt(C) keit sind niemals herzustellen durch einen paternalisti- hat. Mauer und Stacheldraht – das könnte man heute schen Umverteilungsstaat. noch sagen – waren für die alte westdeutsche Politik reichlich bequeme Veranstaltungen. Es gab jährliche (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Verteilungen, Wahlkämpfe nach dem Motto „Wer bietet Wer Freiheit will, der muß persönliche Verantwortung mehr?“ und unbegrenzte wirtschaftliche Zuwachsraten. übernehmen. Das muß in dieser Zwischenbilanz gesagt Nun, da sich das geändert hat, frage ich: Haben wir ge- werden. Die Verringerung des Risikos, nach der sichnügend Kraft, Systeme zu ändern, von denen wir wissen, viele sehnen, vernichtet am Ende die Freiheit, weil zur daß sie nicht mehr finanzierbar sind? Jeder sagt doch Freiheit untrennbar die Bereitschaft zur Übernahme von hinter vorgehaltener Hand: Das geht so nicht mehr weiter. Verantwortung einschließlich des Risikos, scheitern zu Haben wir nicht zu viele öffentliche Tabuwächter, die uns können, gehört. Das macht im Kern freiheitliche Gesell- daran hindern? Wir wissen doch alle, daß die Arbeitslo- schaften aus und nicht nur das, was wir uns angewöhnt sigkeit die lohnbezogenen sozialen Sicherungsysteme, auf haben, mit der Freiheit zu verbinden. die sich die soziale Sicherheit von Menschen seit Genera- Der Verfassungsauftrag des Grundgesetzes, das, was tionen gründet, an die Grenze der Zerreißprobe gebracht wir an Politik gestalten müssen, ist die unbändige Kraft- hat. Jeder von uns in diesem Haus weiß, daß die Rente anstrengung, Menschen zu eigener Verantwortung zunicht stabil bleiben kann, wenn der Anteil der älteren Per- befähigen, ihnen die Chancen dazu zu geben und ihnen sonen immer größer, die Lebenserwartung immer höher, Chancengerechtigkeit zu vermitteln. Aber niemals kann der Anteil der Erwerbspersonen immer kleiner wird, das dahinter ein Bild der Gleichheit der Ergebnisse stehen. Renteneintrittsalter sinkt und die Aufnahme von Arbeit Menschen sind unterschiedlich, und wir müssen denimmer weiter hinausgeschoben wird. unterschiedlichen Lebensanstrengungen gerecht werden. Bundespräsident Herzog hat doch zu Recht gesagt, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der daß der Ernstfall in Deutschland zu spät geprobt wird. CDU/CSU) Er hat hinzugefügt, lebenslanges Lernen sei richtig, aber es sollte bitte im Beruf und nicht als Beruf stattfinden. Im übrigen – wenn wir ehrlich gegenüber uns selbst Daß das Konsequenzen für die sozialen Sicherungssy- sind – haben sich in manchen früheren westdeutschensteme hat, ist offensichtlich. Wenn man das Bildungssy- Milieus Verhaltensweisen entwickelt, die denen sehr an- stem kritisch anspricht, gilt man schon als Feind der genähert waren, die ein sozialistisches System bei den Menschheit, weil man nicht mehr genügend von der so- Menschen erzeugen wollten. Auch viele bei uns haben zialen Sicherheit redet. geglaubt, es gäbe jährliche Wachstumsraten, ein Staat sei nur legitim, wenn er verteilen kann, wenn er die Meine Damen und Herren, die soziale Sicherheit (B) (D) volle Dienstleistungsfähigkeit besitzt. Bei vielen hat sich einer Gesellschaft gründet sich auf nichts anderes als auf das Gefühl der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen gelok- die Leistungsbereitschaft und die Fähigkeit, soziale Si- kert, und ist der Ärger über das Gemeinwesen gewach- cherheit mit einem freien marktwirtschaftlichen System sen, wenn ein Staat in besonderen Situationen nichtzu verbinden. mehr so leistungsfähig war. Es muß in Deutschland dar- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) auf ankommen, das politische Gemeinwesen in Erinne- rung zu rufen und nicht nur zu glauben, wir lebten in Ich spreche diese Themen an, weil ich die Befürch- einem Staat mit dem Verfassungsauftrag zur Wachs-tung habe, daß eine Politik für Wandel – der Kollege tumsvorsorge. Schäuble hat das in seinem Beitrag angesprochen –, für Veränderungen von vielen noch zu stark als Bedrohung Wir müssen uns darüber klar werden, warum wir in emfpunden wird. Noch sperren sich zu viele gegen Ver- diesem Land zusammenleben. Das betrifft auch vieleänderungen. Aber wir wissen alle: Wenn man nicht alte westdeutsche Erinnerungen. Seit dem Auftreten Mi- rechtzeitig verändert, gibt es hinterher große Verwer- chail Gorbatschows hat sich doch nahezu alles verän-fungen, und zwar nicht nur sozialer, sondern auch de- dert. Vielleicht haben wir zunächst geglaubt, das beträfe mokratischer Art. 18 Millionen Deutsche in der früheren DDR, die alten RGW-Staaten. Alle westeuropäischen Gesellschaften Jetzt beginnt doch erst – egal, welcher Partei man an- sind davon erfaßt worden. Nichts ist mehr so, wie esgehört – die Diskussion um die zentrale Frage, wie sich früher war. die Beschäftigung in Zukunft entwickeln wird. Egal, welches Parteiprogramm man geschrieben hat: Der Viele politische Entscheidungen, die wir treffen, tref- Themendruck der Zeit wird uns veranlassen, zu anderen fen wir noch immer so, als lebten wir in der alten Welt. Lösungen zu kommen, als wir sie heute haben. Mancher Sind wir ausreichend in der neuen Wirklichkeit ange-Gewerkschaftstag kommen? Diese Frage stellt sich in einem Zwischenbe- richt zur Lage der deutschen Nation. (Ingrid Matthäus-Meier [SPD]: Und mancher Unternehmer!) (Beifall bei der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) wird in zwei bis drei Jahren Themen diskutieren müssen, die vielleicht in ganz anderen Parteiprogrammen stehen, Wir stehen heute im weltweiten Wettbewerb. Wirals man heute denkt. bauen Infrastrukturen auf, wir erheben Steuern und ent- scheiden damit, ob das mobile Kapital kommt oder geht. (Beifall bei der F.D.P.) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2683

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) Die sozialen Sicherungssysteme, die wir haben und die Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE(C) einen großen Teil der Diskussion ausmachen, begleiten GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! heute die Arbeitslosigkeit, anstatt zum wirklichen Pro- Liebe Gäste auf der Empore! Es ist schon ein schönes, blemlösungsbereich vorzustoßen. neues und aufregendes Gefühl, hier zu sprechen. Den- noch habe ich mir den Tag der ersten Sitzung des Deut- Wir diskutieren eine Zwischenbilanz zur Lage der schen Bundestages im umgebauten Reichstag schon et- Nation Gott sei Dank nicht mehr in den Kategorien Ost was anders vorgestellt: sorgenfreier, feierlich, aber poli- oder West. Die Probleme haben uns überall erreicht. Die tische Routine letztlich. Veränderungsnotwendigkeiten und der Strukturwandel stehen jedem ganz klar vor Augen. Wir sollten unseren Angesichts des Krieges im Kosovo wird jedoch die Bürgerinnen und Bürgern sagen, daß wir uns nicht nur Geschichte in einer Weise lebendig, daß mir die feierli- als Träger einer Erwerbsbiographie Ost oder West emp- che Routine etwas fehlt. Wir müssen über uns selbst, un- finden dürfen. Wir sind nicht die Kunden eines Staates, sere Geschichte, unsere Stellung in Europa und der Welt wir sind Staatsbürger. Ich glaube, daß in Ost wie in in einer Weise neu nachdenken, wie ich es mir vor zehn West eine Haltung angebracht wäre, daß wir Beschei-Jahren nicht hätte träumen lassen. denheit mit Selbstbewußtsein verbinden und daß wir in Heute sind wir ein Volk, dem dieses Haus gewidmet der Lage sind, uns von einem Staat zu emanzipieren, der uns zwar beschützt, aber uns manchmal in unseren Fä- ist. Damit geht die Bundesrepublik Deutschland nach 50 Jahren Grundgesetz an den zentralen Ort der deutschen higkeiten auch beschneidet. Dringend notwendig ist in Geschichte zurück und stellt sich der politischen Ver- Deutschland ein Bewußtsein, das nicht nur die Risiken sieht, sondern auch die Chancen. Wir haben doch alleantwortung dieser Geschichte. Nach dem Mauerbau, der sicher nicht nur eine Sichteinschränkung brachte, konnte Chancen in einem Land mit großartiger Infrastruktur, man vom Osten aus von diesem Haus eigentlich nur die mit einem öffentlichen Bildungswesen, mit föderativer Grundverfassung und mit Garanten wie Bundesverfas- Fahne sehen, die Fahne, die sich heute in der Glaskuppel spiegelt, die Fahne, die plötzlich massenhaft auf den sungsgericht, parlamentarischem System, mit einer offe- Leipziger Montagsdemos auftauchte – nicht im natio- nen Wettbewerbsordnung wie der Marktwirtschaft, um unsere Probleme zu lösen. nalen Überschwang, sondern als ein Symbol für bürger- liche Freiheit, als Wunsch nach staatlicher Einheit. Entscheidend wird sein, ob unsere Gesellschaft insge- Wir haben im Prozeß der Einheit im Verlauf der samt Kompetenz im Wandel entfaltet und auch zu An- strengungen bereit ist, die jenseits von materiellen An- letzten Jahre viel erreicht – trotz der Anfangsfehler und der fatalen Fehleinschätzungen. Die Ostdeutschen haben reizen liegen. Wenn das gelingt, dann können wir opti- mit viel Fleiß und mit Hilfe der Westdeutschen ein mistisch sein, die Zukunft zu bewältigen. Was jetzt not- wendig ist, das ist das neue Bürgerbewußtsein in unse- enormes Pensum bewältigt. Es war absehbar, daß der (B) Vollzug der Einheit in rechtlicher, sozialer und wirt-(D) rem Land, weil wir das Zusammenwachsen wollen, weil schaftlicher Hinsicht mindestens eine Generation dauern wir die Einheit als Glück begreifen, weil wir wissen, daß es ohne Internationalität und europäische Vision nicht würde. So gesehen, können wir auf das Erreichte wirk- lich stolz sein, ohne uns zufrieden zurückzulehnen. geht. Das sind keine Bedrohungen, das sind Chancen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In der heutigen Debatte – nicht jeder nimmt sie als ein- fache Debatte routinemäßig auf – würde ich gerne sagen: und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) Ja, die viel umstrittene, viel mißverstandene und in vielen Katastrophen gelandete deutsche Nation gibt es. Aber sie Auch nach neun Jahren ist längst nicht alles im Lot, muß in ihrem Bürgerbewußtsein begreifen, daß der Staat sind weitere Fördermittel nötig, ist die Arbeitslosigkeit nicht immer nur die anderen sind. Der Staat sind wir; es unzumutbar hoch, steht die Wirtschaft noch auf wackli- geht also auch darum, wie wir uns verhalten. gen Beinen, wissen viele nicht, ob man das Ärgste hinter (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeord- sich hat oder jetzt in einer Gesellschaft lebt, deren beste Zeiten vorbei sind. Die Bundesregierung hat dem Auf- neten der CDU/CSU) bau Ost höchsten Stellenwert eingeräumt, damit das Ost- Welche Tugenden wir ganz persönlich entwickeln,West-Gefälle eher im „Memorial“ statt in der aktuellen welche Zivilcourage wir aufbringen und welche Risiko- Statistik erscheint, damit mehr junge Leute eine Lehr- bereitschaft wir einbringen, wird das internationale An- stelle und Lebensperspektive im Osten finden und damit sehen Deutschlands in den nächsten Jahren bestimmen – endlich mehr dorthin ziehen statt von dort weg. nach innen wie nach außen. Darum geht es bei der De- Die innere Einheit Deutschlands zu vollenden ver- batte zur Lage der Nation und nicht um den nächsten langt aber nicht nur die bessere Einbeziehung der Men- Autobahnkilometer oder hundert weitere Telefonan- schlüsse. schen aus den fünf neuen Bundesländern – oder wie die- ses Wortungetüm heißt –, sondern auch die Anerken- Herzlichen Dank. nung der ausländischen Mitbürger als gleichberechtigte Staatsbürger. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNNDIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Wer- Ich finde es deswegen gut, Herr Schäuble, daß Sie letz- ner Schulz. ten Donnerstag in der Kosovo-Debatte – zwar an unpas- 2684 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Werner Schulz (Leipzig) (A) sender Stelle, dennoch möchte ich es noch einmal auf- Hier und heute wird nicht der Plenarbereich Reichs- (C) greifen, damit es nicht verlorengeht – das Angebot ge- tagsgebäude, sondern der Deutsche Bundestag einge- macht haben, diese unselige Polarisierung einzustellen weiht. und gemeinsam eine tragfähige Lösung zu finden. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN glaube, das ist auch ein Beitrag zur inneren Einheit. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ich habe keine Antwort bekommen!) Mit der Zeit wird sich das im Volksmund herumspre- chen, wenn wir uns zu dieser Republik, ihren Grund- Die Enttäuschung über die hohe Arbeitslosigkeit und werten und Traditionen bekennen. Bekanntlich sind die Enttäuschung über die Geschwindigkeit des wirt-auch Berliner Taxifahrer helle, und von der Reichsbahn schaftlichen Aufschwungs haben auch Zweifel an derspricht keiner mehr. Demokratie geweckt – nicht nur im Osten, wie das so oft (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ behauptet wird; wir sollten uns da nichts vormachen. DIE GRÜNEN) Aus unserer Geschichte wissen wir aber, daß die Demo- kratie nicht auf dem Boden von Armut gedeiht. Ange- Die Politik muß im Parlament geschehen – sichtbar sichts weltweiter Veränderungen stehen wir erneut vor und nachvollziehbar. Das Haus selbst bietet die besten der Aufgabe, den Zusammenhalt zwischen Demokratie Voraussetzungen. Es könnte die neue Mitte von Berlin und Sozialstaat zu festigen. Deshalb dürfen soziale Ge- werden. Wenn wir offen sind, wird es ein Anziehungs- rechtigkeit und solidarischer Lastenausgleich kein ein- punkt wie zu den Volksfestzeiten der Reichstagsverhül- maliger Kraftakt in einem Land sein, das sich der sozia- lung durch Christo. Doch wer politischen Entscheidun- len Marktwirtschaft verpflichtet hat und guttut, darangen ausweicht und selbst immer häufiger das Bundes- festzuhalten. verfassungsgericht anruft, muß sich über das gesetzge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN berische Echo von dort nicht wundern. Beispiel: Famili- sowie bei Abgeordneten der SPD) enlastenausgleich. Ich will gar keine einseitige Schuld- zuweisung betreiben, denn das war eine Kopfnuß für uns Nach der Wiedervereinigung ist die Wiederbelebung alle. Bei den vielen Fördertöpfen, die wir haben, müssen der Gesellschaft gefragt, die Verständigung über Bin-wir vor allen Dingen den Nachwuchs unserer Gesell- dungskräfte, Ziele und gemeinsame Werte. Demokratie schaft besser fördern. Das ist eine große Aufgabe für die ist keine Sache von Berufsdemokraten. Der Ruf „WirKoalition. sind das Volk!“ sollte nicht als historische Episode, son- dern als Daueranspruch verstanden werden. Die innere Nicht nur was vor uns liegt, ist beachtlich. Wir müs- Einheit vollenden verlangt eine stärkere Einbeziehung sen in der Politik, beim Autofahren, den Rückspiegel im (B) (D) des Souveräns, was mit der gelegentlichen Einblendung Auge behalten, um hinter uns liegende, auf uns zurol- der berühmten Sonntagsfrage nicht getan ist. lende Gefahren zu erkennen. In unserer Gesellschaft le- ben heute Opfer und Täter aus zwei Diktaturen neben- Mit dem Umzug des Parlamentes verbindet sich die einander. Wie schwierig die Verständigung selbst nach Hoffnung auf eine bessere Qualität und Akzeptanz der Jahrzehnten ist, hat die Bubis-Walser-Debatte gezeigt. Politik. Die erträgliche Leichtigkeit am Rhein hat einWieviel schwieriger sie erst ist, wenn die inneren Nar- Ende. ben noch frisch sind, können wir daraus ableiten. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was für ein Ich möchte an dieser Stelle dem Leiter und den Mit- Quatsch!) arbeitern der Gauck-Behörde ausdrücklich dafür danken, daß sie in sorgfältiger Kleinarbeit die Aktenablage und Die Standortveränderung wird – davon bin ich überzeugt die Mechanismen eines totalitären Herrschaftsapparates – auch den Blickwinkel und die Richtung verändern.offengelegt haben. Der Osten rückt näher, die EU-Osterweiterung wird in doppelter Hinsicht eine naheliegende Aufgabe, die Me- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei tropolen- und Großstadtkonflikte lassen sich nicht über- der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) sehen. Es hat nicht die befürchtete Lynchjustiz gegeben, im Wenn wir das Bonner Raumschiff verlassen undGegenteil: ein großes gesellschaftliches Bedürfnis nach wirklich in Berlin ausschwärmen, werden wir die neuen Akteneinsicht, Aufklärung und kritischer Auseinander- sozialen Spannungen und die politischen Herausforde- setzung. rungen der Gesellschaft erleben. Wir dürfen die Akten, Augen und Ohren nicht zuma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chen, sondern müssen aufeinander zugehen. Das ver- langt den Mut des ersten Schrittes, der allemal besser ist In Berlin wird sich die Vision der sozialen Stadt testen als die verdrucksten Reaktionen im Blitzlicht der Medi- lassen, Herr Bundeskanzler. Davor muß uns aber nicht en. Mag sein, daß etliche die Vergangenheitsdebatte satt bange sein, wenn wir bessere Politik als einen Anspruch haben. Mal flott aus Wittenberg oder anderswo geäu- an uns selbst, als Rückgewinn von Kompetenz, Legiti- ßerte Schlußstrich- oder Amnestieforderungen helfen mation und Handlungskraft verstehen. Darum dürfen wir aber nicht weiter. den Kakao, durch den man uns gelegentlich zieht, nicht noch selbst erzeugen. (Beifall des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2685

Werner Schulz (Leipzig) (A) Im Namen vieler Bürgerrechtler und SED-Opfer er- feld, Wurzen oder anderswo sind ein Angriff auf die(C) kläre ich hier: Wir sind zur Versöhnung bereit. Alle,Zivilgesellschaft. die sich ihrer Mitschuld und ihrer Mitveranwortung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, stellen, sollten, wenn nicht schon längst geschehen, bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abge- eine Chance im vereinten Deutschland erhalten. Wahr- ordneten der CDU/CSU und der PDS) lich nicht strenggenommen liefert die PDS sogar den organisierten Beweis der zweiten Chance. Darum soll- „Ausländer raus“ ist die Geisteshaltung, die im Extrem ten Sie den unverschämten Begriff „Siegerjustiz“ fal- bis zur Vertreibung der Albaner aus Pristina führt. lenlassen, Wir hatten im letzten Bundestag eine bewegende De- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei batte zur Wehrmachtsausstellung. Die Bilder von Mas- der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) senexekutionen, um die es da ging, laufen wieder, erst in Bosnien, jetzt im Kosovo. Wir sollten nicht nur in Aus- ein Begriff übrigens, mit dem die Unverbesserlichen stellungen gehen, sondern auch so weit, um das mit allen nach dem zweiten Weltkrieg die Rechtsprechung der Mitteln zu unterbinden. Alliierten verunglimpft haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ich habe Anfang der 90er Jahre darauf gehofft, daß bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abge- die Demokratie, ähnlich wie in Ostdeutschland, überall orndeten der PDS) in Osteuropa zum Zuge kommt. Doch wir erleben seit geraumer Zeit, daß auf dem Balkan ein primitiv-brutaler Vielleicht erleben wir mit dem schmerzhaften Nationalismus wütet. Hier im ehemaligen ReichstagNATO-Eingriff zur Wahrung der Menschenrechte die sollten wir uns daran erinnern, zu welch schrecklichen Geburtsstunde eines neuen Völkerrechts: daß es keinen Folgen der Nationalismus geführt hat. Zuerst wurde die Anspruch auf Souveränität gibt, wenn eine Staatsmacht Demokratie zerschlagen, dieses Haus in Brand gesteckt auch nur Teile des eigenen Volkes umbringt. Ich habe und dann Europa. Verständnis für Zweifel und Respekt vor Bedenken, ob man ein solch schlimmes Übel wie Luftkrieg gegen ein Heute vor 56 Jahren begann der Aufstand im War- unerträgliches Übel wie Völkermord einsetzen kann. schauer Ghetto. Es war ein heroischer Widerstand der- Doch eines möchte ich hier persönlich klar ansprechen, jenigen Juden, die sich nicht deportieren lassen woll- denn wir suchen je auch die politische Auseinanderset- ten, junge Frauen und junge Männer. Es war kein zung in diesem Haus: Es geht mir schon an die Nieren, Kampf um das Recht zu leben, sondern um das Recht, wenn Leute, die mich früher mit dem Symbol „Schwer- würdig zu sterben. Nur wenige sind diesem Inferno ter zu Pflugscharen“ als Staatsfeind behandelt haben, entkommen, so der stellvertretende Kommandant Ma- mich heute wegen meiner Haltung zum Einsatz im Ko- (B) rek Edelmann. Er hat uns schon beim Völkermord in (D) sovo an den PDS-Kriegspranger stellen. Bosnien aufgefordert, dem mit Militär Einhalt zu ge- bieten. Auf meine bange Frage, ob wir Deutschen dort (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei hingehen können, wo wir Unheil angerichtet haben, hat der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) er mir damals geantwortet, daß gerade das vereinte Deutschland vor dem Hintergrund seiner Geschichte Gesellschaftswissenschaftler, die uns Lenins „The- nicht das Recht zur Zurückhaltung, sondern die Pflicht sen vom gerechten Krieg“ eingeimpft und den Ein- zum Eingreifen hat. marsch in die CSSR und Afghanistan als Inbegriff des Klassenkampfes dargestellt haben, Funktionäre, die (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der gegen das Malen von Panzern im Kindergarten, Wehr- CDU/CSU und der F.D.P.) kunde in den Schulen, vormilitärische Ausbildung an den Universitäten, gegen die Militarisierung einer gan- Vielleicht lassen sich die Gegenstimmen, die es dazu zen Gesellschaft kein Sterbenswörtchen verloren ha- gibt, zumindest von einem solchen Zeitzeugen ins Ge- ben, weil es ihr Programm war, die nur durch äußeren wissen reden. Mich hat das tief beeindruckt. Druck ihren Kampfgruppenanzug abgelegt haben, ge- In diesem Haus liegt ein Vermächtnis, meine Damen hen heute wie Friedensengel auf Demonstrationen, um und Herren, das heißt: Nie wieder Faschismus, nie wie- Gregor Gysi zuzujubeln, der wie der unbefleckte Enkel der Krieg! Ich bitte, künftig auch die Reihenfolge zu be- von Karl Liebknecht so tut, als habe er hier die kaiser- achten! Denn „nie wieder Faschismus“ heißt, nie wieder lichen Kriegskredite abgelehnt, und dann etwas später Völkermord, nie wieder Vertreibung, nie wieder Terror, Milosevic die Hand gibt. Das ist schon atem- und Mord und Totschlag gegen Minderheiten zuzulassen und glaubwürdigkeitsberaubend. damit rechtzeitig Kriege einzudämmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Was in Jugoslawien geschieht, verweist auf den Zu- CDU/CSU und F.D.P.) stand Europas. Die gesamte Geschichte des 20. Jahrhun- Im Interesse aller Europäer geht es darum, daß Natio- derts scheint wieder lebendig zu sein. Das Haus Europa, nalismus und Rassismus auf diesem Kontinent keinedas Michail Gorbatschow skizziert hat, ist ein unfertiges Chance bekommen. Deswegen dürfen wir auch im eige- Haus im Umbau, in das immer mehr Bewohner einzie- nen Land nicht wegschauen. Von Skinheads und Rechts- hen wollen. Wir brauchen jetzt eine verbindliche Haus- radikalen sogenannte „nationalbefreite Zonen“ in Saal- ordnung in einem Haus ohne Folterkeller und Todes- 2686 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Werner Schulz (Leipzig) (A) zelle. Doch eine solche neue europäische Friedensord- heit unserer Berliner Verantwortung stellen. Möge uns(C) nung bekommen wir nur, wenn wir Europa als Ganzes hier viel Gutes gelingen! begreifen, wenn wir der Gefahr einer erneuten Spaltung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, entgegentreten. Die innere Einheit zu vollenden heißt der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) heute, die innere Einheit Europas zu festigen und voran- zubringen. Deswegen müssen wir die osteuropäischen Reformstaaten, Rußland, auch Serbien in die Demokra- Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die PDS- tie mitnehmen. Fraktion spricht nun der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Meine Da- CDU/CSU und der F.D.P.) men und Herren! Nicht Gebäude machen Geschichte, Ohne demokratischen Fortschritt wird es auch in Ost- sondern Menschen. Den Streit um die Symbolik von europa keinen wirtschaftlichen Aufschwung geben.Gebäuden halte ich deshalb, von Ausnahmen abgesehen, Aber ohne sichtbare wirtschaftliche Verbesserung wer- für eher müßig. Wichtig wird sein, was die Abgeordne- den dort auch die demokratischen Grundregeln nichtten und ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger hier trei- greifen. Wir müssen in unserem Land das Bewußtsein ben, welche Politik hier gemacht, ob hier Demokratie dafür schaffen, daß sich der Aufbau Ost nicht mehr al- und Freiheit gelebt und für Frieden, Chancengleichheit lein auf die neuen Bundesländer beschränkt. Wer mitund soziale Gerechtigkeit wirksam gestritten wird. militärischer Gewalt – bei aller moralischen Berechti- (Beifall bei der PDS) gung – Zerstörung anrichtet, muß auch bereit sein, bei der Beseitigung der Schäden, beim Wiederaufbau Serbi- Da es darauf ankommt, was wir hier machen, meine ens, mitzuhelfen. Das ist eine geschichtliche Erfahrung, auch ich, ein historisch entstandener Name sollte blei- auf die wir mit Erfolg verweisen, wenn wir vom „EU- ben. Das heißt, der Deutsche Bundestag berät in einem Marshallplan“ reden. Gebäude, das Reichstag und nicht anders heißt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der PDS) und der SPD) Die Wende in der DDR 1989 vollzog sich friedlich. Das vereinte Deutschland hat Verantwortung in einer Die vielen politisch Ohnmächtigen wurden mächtiger neuen Dimension zu tragen. Deswegen müssen wir un- und die damals politisch Mächtigen ohnmächtig. Die ei- sere eigenen Probleme schneller lösen. Europa braucht nen setzten keine Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele das vereinte Deutschland. Daß die Teilung nur durchein, und die anderen verzichteten dann auch auf den (B) Teilen überwunden werden kann, hat eine europäische Einsatz ihrer Gewaltpotentiale, vielleicht weil sie spür- (D) Tragweite bekommen. ten, sie könnten höchstens verzögern, nicht aber wirk- sam verhindern. Diese Friedlichkeit, diese Gewaltfrei- Natürlich bietet der Umzug vom Rhein an die Spree heit können wir heute ganz anders schätzen, wenn wir auch die Chance zur Inventur. Der Reformbedarf be-an Jugoslawien und vor allem an das Kosovo denken. stand übrigens schon vor der Vereinigung. Seit Jahren kommt hinzu, daß sich etliche westdeutsche Ge-Die PDS-Fraktion und ich selbst hatten es aus ver- brauchsmuster an der ostdeutschen Realität reiben.schiedenen Gründen, von denen wir einen Teil selbst ge- Möglicherweise steigt jetzt sogar die Veränderungsbe- setzt haben, nie leicht im Bundestag. Aber wir haben reitschaft. Für das Grundinventar allerdings gilt dieimmer geschätzt, daß wir hier Dinge sagen können, von Formel „Bewahren und erneuern.“ Deswegen halte ich denen wir in der Volkskammer bis 1989 fast nichts hät- überhaupt nichts von dem Begriff der „Berliner Repu- ten sagen können. Dennoch macht der öffentliche Um- blik“, gang mit der PDS einen Teil auch der kulturellen Pro- bleme der Vereinigung deutlich. Deshalb sage ich Ihnen, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Herr Schulz: Der merkwürdigste Vorwurf, den ich hier SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ immer wieder höre, ist – das wird nach der Aufzählung CSU und der F.D.P. von lauter Untaten der SED hinzugefügt –, daß die PDS den ein um Originalität bemühter Kolumnist derheute eine andere Position dazu hat; eigentlich ist es der „FAZ“ aufgebracht hat und den jetzt einige blumig um- Vorwurf, daß wir nicht immer noch so denken wie da- schreiben. Wir sollten bei der Bundesrepublik bleiben. mals. Aber das fände ich wirklich sehr viel schlimmer, Sie ist ein Glücksfall in der deutschen Geschichte. Ich und deshalb finde ich diesen Vorwurf ziemlich daneben. empfinde das ganz authentisch, weil ich zwei Staaten (Beifall bei der PDS – Dr. Uwe Küster [SPD]: miteinander vergleichen kann. Ich hätte allerdings nichts Sie denken dummerweise so, wie es gerade – dabei geht es mir nicht um ein Wortspiel, sondern um opportun ist! Chefopportunist!) eine Entwicklung – gegen eine „Deutsche Demokrati- sche Bundesrepublik“ einzuwenden. Vielleicht kommen Ich sage meinen Kolleginnen und Kollegen in der wir so der Geschichte näher, daß der demokratischeFraktion immer: Wir sind nicht hier, damit wir es leicht Aufbruch Ost leider nur als Systemzusammenbruch ver- haben; das wollen wir ja auch gar nicht. Zur Demokratie kannt wurde. gehört auch, zu akzeptieren, daß es in einer so zentralen Frage wie der Frage Krieg-Frieden gänzlich voneinander In jedem Falle sind wir gut beraten, meine Damenabweichende Auffassungen gibt. Wenn es aber stimmt, und Herren, wenn wir uns in aller Bonner Bescheiden- daß über 60 Prozent der Bevölkerung für den Krieg der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2687

Dr. Gregor Gysi (A) NATO gegen Jugoslawien und über 30 Prozent dagegen weil man dann die Alltagserfahrungen der Ostdeutschen (C) sind, dann bleibt doch, daß der letztgenannte Teil dernegiert. Bevölkerung im Bundestag völlig unterrepräsentiert ist. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS) Demütigend ist und bleibt, wenn die neuen Bundes- Ich will es hier noch einmal ganz klar sagen – wie ich länder in einigen alten Bundesländern häufig vor allen es übrigens schon im Oktober 1998 im Bundestag inDingen als Kostenfrage diskutiert werden. Herr Bonn und danach bei anderen Gelegenheiten gesagt und Schäuble hat sich darüber beschwert, daß von Siegern geschrieben habe –: Die jugoslawische Führung undund Besiegten gesprochen wird. Aber wenn Hundert- speziell Milosevic begingen und begehen schlimmstetausende in Prozesse zu ihrem Grundstückseigentum Menschenrechtsverletzungen und damit Verbrechen im und ihren Nutzerrechten verwickelt werden und viele Kosovo. Meine Gespräche am Sonnabend mit vertriebe- ihr Grundstück tatsächlich verlassen müssen, dann nen Kosovo-Albanern in Albanien haben das erneut für empfinden sie es eben so. Warum ist es eigentlich bis mich dramatisch bestätigt. Dazu darf nicht geschwiegen heute nicht gelungen, endlich dafür zu sorgen, daß alle werden; dagegen muß auch etwas getan werden. Aber so Ausbildungsabschlüsse aus der DDR anerkannt wer- wie Herr Fischer mit Herrn Milosevic geredet hat, damit den? es gar nicht erst zum Krieg kommt, so habe ich halt mit (Beifall bei der PDS) ihm geredet, um zu sehen, ob es einen Weg gibt, aus diesem Krieg herauszukommen. Was wurde eigentlich dagegen getan, daß sich die Ge- hälter und Löhne in den neuen Bundesländern zwischen (Beifall bei der PDS) 60 und 85 Prozent der Gehälter und Löhne in den alten Aber die PDS ist und bleibt auch eine entschiedene Bundesländern eingependelt haben, daß die Preise je- Gegnerin des völkerrechtswidrigen Krieges der NATO doch bei 100, zum Teil sogar bei über 100 Prozent lie- gegen Jugoslawien. Es leiden immer die Völker, nicht gen? Das verträgt sich einfach nicht miteinander. Das die politisch Verantwortlichen. Zerstörte Wasserwerke führt nicht nur zu sozialen, sondern auch zu erheblichen und Heizkraftwerke, zerstörte Düngemittelfabriken tref- kulturellen Differenzen. Menschen in den neuen Bun- fen die serbische Bevölkerung und nutzen keinem Ko- desländern verlieren ihre Grundstücke heute häufig we- sovo-Albaner. gen überhöhter Wasser-, Abwasser- und Straßenbaube- teiligungsgebühren. Das ist für sie – wie ich finde, zu Es entstehen immer mehr Haß und Feindschaft. Deshalb Recht – nicht nachvollziehbar. Man hätte so etwas nie muß der NATO-Krieg ebenso beendet werden, wie die zulassen dürfen. Verbrechen im Kosovo beendet werden müssen. Natürlich ist im Osten auch vieles aufgebaut worden: (B) (D) (Beifall bei der PDS) Stadtzentren, Telekommunikation, Wohnungen, ich Deshalb brauchen wir wieder Politik, Gespräche, Di-könnte noch vieles andere nennen. Das alles ist wahr. plomatie und auch Wirtschaft statt Krieg. Die Bomben Der Wegfall von Millionen von Arbeitsplätzen aber ist auf Jugoslawien haben die Leiden der Kosovo-Albaner die Kehrseite. Arbeitslosigkeit ist überall schlimm; sie nicht gelindert; sie sind im Gegenteil ständig schlimmer ist im Osten jedoch doppelt so hoch wie im Westen. Es geworden. ist eine Tatsache: Seit der Vereinigung hat Reichtum in der Gesellschaft zugenommen; aber auch Armut ist be- Am 3. Oktober 1990 gab es die staatliche Vereini-achtlich angewachsen. Mit der Einheit kommen wir gung in Deutschland. Aber deshalb sind die Gesell-meines Erachtens in dem Maße voran, in dem wir Ar- schaften noch lange nicht vereint. Ein Grundproblem,beitslosigkeit wirksam bekämpfen, soziale Gerechtigkeit das sich in Polen, Tschechien und anderen osteuropäi- herstellen und Extremismus, Ausländerfeindlichkeit und schen Ländern nicht stellte: Als die DDR unterging,Rassismus überwinden. wurde aus ihr nichts wirklich existentiell im vereinigten Deutschland gebraucht. Vieles ging unter, und vieles, Als Berliner möchte ich Ihnen noch gerne sagen: Wir was blieb, blieb nicht aus Notwendigkeit, sondern imBerliner sind manchmal etwas muffelig, das ist wahr. Wege der Gnade. Das gilt für die Wirtschaft, die Wis- Ich will auch nicht bestreiten, daß wir gerne meckern. senschaft und die Kultur. Die Ostdeutschen wollten aber Wir sind aber eigentlich nicht weniger herzlich als nicht Gnade, sondern Respekt. Das ist der Kern derRheinländer. Deshalb bitte ich Sie: Kommen Sie einfach kulturellen Differenz. gerne. In Berlin kulminieren alle Widersprüche dieser Gesellschaft und auch der Vereinigung. Begreifen wir Wenn Sie, Herr Schäuble, sagen, daß die Leistungen Berlin als Herausforderung und nehmen wir diese Her- der Ostdeutschen ohne ihr Verschulden außer im Sport ausforderung an, weil es auch eine Chance ist – zu nichts geführt hätten, so sage ich: Das ist eben nicht wahr. Dieser Satz ist nicht ausreichend. Haben sie wirk- (Beifall bei der PDS) lich zu nichts geführt? Gab es nicht auch respektablefür uns, für die Menschen in der Bundesrepublik Filme der DEFA? Gab es nicht auch ausgezeichnete In- Deutschland und für unsere Nachbarn. Wir sollten auch szenierungen an Theatern und Opern? Gab es nicht auch in diesem Gebäude demonstrieren: Einheit verlangt sozialverträgliche Mieten und Kindergärten? Vieles muß nicht Einheitlichkeit, sondern Anerkennung und Respekt und kann man an der DDR scharf kritisieren. Wenn man in der jeweiligen Unterschiedlichkeit. aber solche positiven Dinge nicht sieht und von ihnen- nicht spricht, wird die kulturelle Differenz nur vertieft, (Beifall bei der PDS) 2688 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

(A) Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort für Sicherheit und Zusammenarbeit wäre das Wunder(C) dem Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Dr. der Einheit nicht Wirklichkeit geworden. Manfred Stolpe. (Beifall bei der SPD) Dank und Respekt zollen wir der Bereitschaft der vier Dr. Manfred Stolpe, Ministerpräsident (Branden- Siegermächte und den europäischen Nachbarstaaten, die burg): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und deutsche Einheit ermöglicht und gebilligt zu haben. Herren! In dieser Stunde stellen wir dankbar fest, daßNach allem, was Deutsche anderen Menschen angetan Wort gehalten wurde: Wort gehalten an den Beschlüssen haben, durften wir dieses Vertrauen nicht selbstver- des Deutschen Bundestages seit 1949, Wort gehalten am ständlich erwarten. Wir werden es auch von Berlin aus Einigungsvertrag und Wort gehalten am Beschluß über rechtfertigen. die „Vollendung der Einheit Deutschlands“. Auch was sich vor zehn Jahren im Frühjahr 1989nkündigte, a als (Beifall bei der SPD) die Unzufriedenheit Tausender DDR-Bürger über Un- Nun also konnten die Deutschen zusammenkommen. freiheit, Gängelei und deutsche Trennung drängender Schon bald aber mußten wir feststellen, daß der deutsch- wurde, hat heute ein wichtiges Ziel erreicht: Der Umzug deutsche Umgang gelernt sein will. Denn der Einheit des Bundestages nach Berlin ist das vollzogene Be- gingen 45 Jahre einer sehr verschiedenen politischen, kenntnis zu Einheit und Freiheit für alle Deutschen. wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung im Vor zehn Jahren, am 19. April 1989, machte ich ingeteilten Deutschland voraus. Da sind unterschiedliche meinem persönlichen Tagebuch drei Eintragungen: Mit soziale Systeme entstanden, die auch die Menschen un- der DDR-Regierung war über eine Vereinfachung derterschiedlich geprägt haben. Besuchsreisen nach Westberlin zu sprechen – erfolglos; Wir im Osten erlebten nun einen dreidimensionalen mit dem Bezirk Cottbus gab es Streit wegen dessen For- Umbruch: Da ist zum einen der Wandel der politischen derung, schon die Anfertigung von Kopien staatlich ge- Struktur, der Übergang von einer Diktatur mit all ihren nehmigen zu lassen; am Kloster Chorin verhandelte eine Formen der Repression zu einem demokratische Rechts- Menschenrechtsgruppe über den Zusammenhang von staat. Da ist zum anderen der wirtschaftliche Wandel, sozialen Rechten und Freiheitsrechten. der Übergang von einer Staatsplanwirtschaft zur Wett- Die Menschen in der DDR begannen, offen zu reden; bewerbswirtschaft. Schließlich – was gelegentlich über- bisherige Tabus galten nicht mehr. Was jahrzehntelang sehen wurde – ist da die dritte Dimension, der Umbruch ertragen wurde, war unerträglich geworden. Da bahnte für den einzelnen, der Übergang von einem Bevormun- sich etwas an, was in seinen Dimensionen und Wirkun- dungssystem, das von der Wiege bis zur Bahre reichte, gen noch niemand richtig erahnen konnte. Es folgte eine hin zu einem System der Eigenverantwortung und der (B) (D) friedliche Revolution, in der die einen den Mut zur offe- Selbstbehauptung. Diese subjektive Seite ist es, die viel nen Auflehnung fanden und die anderen ihren Machtap- Verunsicherung mit sich bringt. Denn die Umstellung parat nicht zur blutigen Unterdrückung einsetzten. für den einzelnen war radikal. Die Erfahrungen sind oft ein Schock gewesen, vor allem die nicht erwarteten Er- Am Ende haben sich die Menschen in der DDR infahrungen, zu denen insbesondere die unerwartete Mas- freier Selbstbestimmung für die staatliche Einheit ent- sen- und Langzeitarbeitslosigkeit gehört. schieden. Wir haben mit dieser Entscheidung damals ei- nen Wechsel auf die Zukunft unterschrieben und durften (Beifall bei der SPD) auf Fairneß und Grundsatztreue der Vertragspartner wie Die Biographie jedes einzelnen, alle individuellen auch der Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Lebensentwürfe und Lebenssicherheiten, alle Perspekti- vertrauen. ven und Kalküle wurden auf den Kopf gestellt. Es gibt Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren voll- kaum eine Familie zwischen Elbe und Oder, in der sich zog sich in Deutschland eine erstaunliche und großartige nicht mindestens ein Mitglied beruflich völlig neu ori- Gemeinschaftsleistung: Die Deutschen im Osten zeigten entieren oder – schlimmer – aus dem Arbeitsprozeß aus- umfassenden Veränderungswillen, trugen geduldig die scheiden mußte. Lasten des radikalen Umbruchs und schufen eine be- Und doch kann ich diese Empfindung der großen achtliche Aufbauleistung. Die Deutschen im WestenMehrheit der Menschen in den neuen Ländern vermit- bewiesen eine historisch unvergleichbare Solidaritätteln. Bei allen Problemen und manchem Schmerz, der durch einen riesigen Finanztransfer und Zehntausende mit dem Veränderungsdruck und mit einzelnen Folgen Aufbauhelfer in Verwaltung und Wirtschaft des Ostens. des Umbruchs einhergegangen ist: Wir haben die neuen (Beifall bei der SPD) Freiheiten und Möglichkeiten als große Bereicherung er- fahren. Im Ergebnis sind die gesellschaftlichen Strukturen ge- staltet und die Grundlagen für eine wettbewerbsfähige Aber eines ist für die Deutschen in Ost und West Wirtschaft geschaffen worden. noch zu tun. Wir wissen noch zuwenig voneinander; wir kommen dadurch zu schnell zu Mißverständnissen und Die deutsche Einheit – und in deren Folge die Ent-Vorurteilen. Meine Damen und Herren, nutzen wir alle scheidung für den Umzug von Parlament und Regierung den künftigen Sitz von Parlament und Regierung in – ist der Wille des Volkes und das Ergebnis der europäi- Berlin als eine Möglichkeit, uns besser kennenzulernen, schen Entspannung. Ohne europäischen Friedensprozeß voneinander zu lernen und die Chancen unterschiedli- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2689

Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe (Brandenburg) (A) cher Erfahrungswerte anzuwenden. In vielen Unterneh- werden, auf denen sie basiert, nämlich Menschenwürde, (C) men im Osten kann man zum Beispiel erfahren, wie er- Freiheit und Demokratie, müssen wir – nun von Berlin folgreich eine gemischte Ossi-Wessi-Geschäftsführung aus – alles tun, um den Menschen in Ost und West über sein kann. Arbeit und Einkommen ihre persönliche Perspektive im vereinten Deutschland erfahrbar zu machen. Ich freue mich darauf, daß nun viele Neue aus dem Westen, dem Norden und dem Süden unseres Vaterlan- (Beifall bei der SPD) des in diese Region kommen. Vertrauen Sie mir bitte: Dafür darf ich fünf Bitten aussprechen, um die sozial- Ihnen wird nicht nur das hiesige Klima, sondern auch ökonomischen Grundlagen im Osten Deutschlands zu die Weite des Landes, die einen freien Blick gewähren festigen: kann, gut gefallen und guttun. Lassen Sie uns mehr tun, um die schwache industri- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten elle Basis auszubauen. Helfen wir den Hunderttausenden der PDS) Existenzgründern, die an Kapitalmangel und Zahlungs- Um Berlin herum erwarten Sie über 3 000 Seen undverweigerung leiden. Stärken wir Kultur-, Sport- und Deutschlands größte Waldgebiete, viele kleine Dörfer, Freizeitangebote als soziale Integrationshilfe gerade nicht allzu große Städte sowie 700 Schlösser und Her- auch für Jugendliche. Verbessern wir die noch schwache renhäuser – einige sind noch zu haben –, Infrastruktur und ungenügende Lebensqualität vor allem in großen Wohngebieten. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Stellen wir uns darauf ein, daß in benachteiligten Re- und nicht zuletzt erwartet Sie der rauhe Charme dergionen noch etwa zehn Jahre Arbeitsförderungsmaß- Märker. Sie, die Neuankömmlinge im Osten, werdennahmen und Ausbildungsprogramme nötig sein werden. selber erfahren können, wie es denn nun um die innere Einheit der Deutschen steht. Das alles ist zu schaffen. Es ist wenig, gemessen an unserer bisherigen Gemeinschaftsleistung; aber es wird Meine Damen und Herren, dabei warne ich vor Über- schließlich ganz Deutschland dienen. Denn dieses Land frachtung des Begriffs und rate zu nüchterner Betrach- muß leistungsfähig sein, um wirksam für Frieden und tung. Denn es gilt, was die Deutschen in Ost und West Menschenrechte in Europa und darüber hinaus einzu- gewollt und gewählt haben: Es gibt heute in ganztreten. Deutschland ein demokratisches System, das auf Betei- ligung der Bürgerinnen und Bürger fußt, ebenso Rechts- (Beifall bei der SPD) sicherheit, Bewegungsfreiheit und ökonomische Effizi- Lassen wir uns an diesem Tag dazu ermutigen. enz. Das sind gemeinsame Grundlagen, und das ist viel. (B) Die Grundprinzipien der Verfassung werden von großen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) Mehrheiten in Ost- und Westdeutschland getragen. Glei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der ches gilt für die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. PDS) Die Identifikation mit dem vereinten Deutschland ist ge- geben. Auch das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist vorhanden, trotz aller gepflegten Vorurteile, die es zwi- Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort für die schen West und Ost und schließlich auch zwischen Nord CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat der Kollege Michael und Süd gibt. Übrigens war uns dieses Problem auch in Glos. der ehemaligen DDR durchaus geläufig. Die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschen liegt Michael Glos (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine nicht in der Akzeptanz der Staats-, Rechts- und Werte- sehr verehrten Damen und Herren! Noch vor zehn Jah- ordnung, sondern in den unterschiedlichen persönlichen ren war es für viele von uns ein Traum, daß die Teilung Erfahrungen mit der Funktionsfähigkeit sozialer Markt- Berlins und die Teilung Deutschlands so schnell über- wirtschaft. Vom Verlauf dieser Erfahrungen hängt für wunden werden könnten. Der Wettstreit der Systeme ist die Zukunft viel ab, vom Empfinden, im gleichen Maße ganz klar entschieden: Die Menschen im Osten haben wie im Westen auch im Osten Deutschlands faire Chan- Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale cen wahrnehmen zu können. Erst damit werden die Ost- Marktwirtschaft gewählt. Wir haben zu allen Zeiten deutschen die Zeit des Übergangs als abgeschlossen und immer daran geglaubt – das haben nicht alle in diesem die innere Einheit als vollzogen ansehen können. Hause getan –: Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl konnten nicht das letzte Wort in der deutschen Ge- Willy Brandt war sich der Bedeutung der Chancen- schichte sein. gleichheit und der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse für die nationale Identität bewußt. Er war es, der mit der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) politischen Einheit die soziale Abfederung des Eini- Die Menschen in der damaligen DDR haben im gungsprozesses anmahnte, der darauf achtete, daß Be- Herbst 1989 ein großartiges Kapitel deutscher Ge- schwörungen nationaler Zusammengehörigkeit nicht da- schichte geschrieben und durch ihre friedliche Revoluti- von ablenkten, die Arbeitslosigkeit und eine ungerechte on in die Tat umgesetzt. Bei der ersten freien Volks- Lastenverteilung zu bekämpfen. kammerwahl wurde den Kommunisten eine klare Absa- ge zuteil. Es wurde für die Einheit Deutschlands votiert. Weil wir nicht riskieren dürfen, daß die sozialen Fol- gen der Einheit zum Sprengsatz für die Grundwerte (Beifall bei der CDU/CSU) 2690 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Michael Glos (A) Es ist durchaus keine Selbstverständlichkeit – inso- Es war gut und richtig, nach dem Beitritt an unserer (C) fern ist es ein ganz großer Tag –, daß wir heute bewährten im Verfassung festzuhalten. Auf dieser Grundla- Reichstag in Berlin unsere Arbeit als frei gewähltesge werden wir auch die künftigen Herausforderungen Parlament aufnehmen können. Ich erinnere mich sehrbewältigen. Der Umzug von Parlament und Teilen der genau an die vielen Fraktionssitzungen, die insbesondere Regierung in die Bundeshauptstadt Berlin darf nicht als die CDU/CSU-Fraktion in diesem Gebäude abgehalten historische Zäsur verstanden werden. Die Zukunft ge- hat, oder an die vielen damaligen Ausschußsitzungen,hört auch in Europa dem Föderalismus und nicht dem als Autos der sowjetischen Militärkommission ständig Zentralismus. Ich freue mich, daß der Bundeskanzler um diesen Bau kreisten. Gerade wir von der CSU waren auch heute noch einmal ein Bekenntnis dazu abgelegt damals immer geschlossen vertreten und haben damithat. Wir werden ihn auch in Zukunft daran messen. auch ein Bekenntnis unseres Glaubens an die Einheit Wir sind ganz sicher: Die Länder sind das Fundament Deutschlands abgelegt. des Hauses Deutschland. Wir werden als CSU gerade in (Beifall bei der CDU/CSU) Berlin ein ganz besonderes Wächteramt hinsichtlich des Föderalismus ausüben. Deswegen müssen wir bei allen Es muß auch in dieser Stunde daran erinnert werden: Entscheidungen in diesem Haus bedenken, daß die Es war der verstorbene frühere Parteivorsitzende der Kompetenzen der Länder gewahrt bleiben und nicht CSU, Franz Josef Strauß, der die damalige Klage der weiter ausgehöhlt werden. Sie müssen gestärkt werden. Bayerischen Staatsregierung initiierte, mit der ein ent- sprechendes Urteil zum Grundlagenvertrag erstritten (Anke Fuchs [Köln] [SPPD]: Das haben Sie wurde und mit der die deutsche Einheit nicht nur histo- aber artig gesagt!) risch, sondern auch rechtlich offengehalten wurde. Wir müssen uns hüten, Frau Präsidentin, einer schlei- (Beifall bei der CDU/CSU) chenden Aushöhlung der Länderzuständigkeiten das Wir haben nie einen Zweifel an unserem Willen zur Wort zu reden oder im Parlament sogar unsere Hand da- Wiedervereinigung gelassen. Die deutsche Währungs- für zu erheben. union, die ein mutiger Schritt von Helmut Kohl und (Beifall bei der CDU/CSU) Theo Waigel gewesen ist, hat einen ganz entscheidenden Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung geleistet und Ein lebendiger Föderalismus ist in einer Zeit zuneh- hat sie unumkehrbar gemacht. mender Globalisierung wichtiger denn je. Wer allerdings ja zum Föderalismus sagt, der muß auch ja zum Wett- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- bewerbsföderalismus sagen; denn es ist ganz entschei- ordneten der F.D.P.) dend, daß diejenigen, die überdurchschnittliche An- strengungen unternehmen, von den Früchten der An- (B) In dieser historischen Stunde ist es angebracht, auch für (D) diese Leistung ganz herzlich zu danken. strengungen ein Stück profitieren können. Gleichmache- rei löst letztendlich kein Problem, und deswegen treten (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ram- wir auch für den Wettbewerbsföderalismus ein. sauer [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Das deutsche Vaterland hat die volle innere und äußere ordneten der F.D.P.) Souveränität in Freiheit wiedererlangt. Ohne die Einbin- dung der Bundesrepublik Deutschland in die freiheitliche Dieser Wettbewerbsföderalismus ist nur richtig mög- westliche Werte- und Verteidigungsgemeinschaft wärelich, wenn es starke und leistungsfähige Bundesländer dies alles in dieser Form sicherlich nicht erreichbar gewe- gibt. Deshalb brauchen wir in einem geeinten Europa sen. Nun wissen wir, daß Bündnisse keine Schönwetter- der Nationen und Regionen klare Zuständigkeiten. Auch veranstaltungen sind und daß unsere Solidarität und unser darüber muß in diesem Hause gestritten werden. Einsatz im Bündnis jetzt gefordert sind. Wir werden uns Deutschland ist auf dem Wege der Vollendung seiner als treue, verläßliche Bündnispartner erweisen. Einheit. Die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost In vier Wochen, am 23. Mai, können wir mit Stolzund West ist weit vorangeschritten. Man kann sagen, das auf den 50. Jahrestag der Verkündung des Grundgeset- Glas sei halb voll oder halb leer. Für mich ist das Glas zes der Bundesrepublik Deutschland zurückblicken. Das halb voll. Wahr ist: Insbesondere der wirtschaftliche Ei- Bonner Grundgesetz war und ist ein Glücksfall für unser nigungsprozeß ist schwieriger, als wir es uns alle vorge- Land. Das Grundgesetz mit seinen demokratischenstellt haben. Das lag aber auch daran, daß das Ausmaß Spielregeln und seinem Katalog von Grundrechten stellt der Zerstörung, die Kommunismus und real existieren- eine fundamentale Wertentscheidung für die Deutschen der Sozialismus ausgelöst haben, sehr viel größer gewe- dar. Die Annahme unserer Verfassung war eine Ent-sen ist, als wir es uns alle insgesamt vorgestellt haben. scheidung für die politische Freiheit und gegen den To- (Beifall bei der CDU/CSU) talitarismus. Sie war eine Entscheidung für den Rechts- staat und gegen die Gewaltherrschaft, und sie war vor Wahr ist auch: Die Solidarität in Deutschland ist ohne allen Dingen eine Entscheidung für eine liberale und ge- historischen Vergleich. Die Menschen in Ost und West gen eine kollektivistische Wirtschaftsordnung. leisten gleichermaßen Beispielloses. Der Prozeß der in- neren Einheit und des inneren Zusammenwachsens ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – aber nicht nur eine Frage von Mark und Pfennig. Unsere Zuruf von der SPD) Nation lebt von gemeinsamen geistigen und wertemäßi- – Das ist das, was Sie immer gewollt haben! gen Grundlagen. Eine dieser Grundlagen muß wieder Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2691

Michael Glos (A) stärker hervorgehoben werden. Wie wir in Umfragen le- blik“ gegeben hat. Es geht um die gemeinsame deutsche (C) sen, ist die Grundlage der Freiheit etwas in den Hinter- Republik, die wir insgesamt weiter pflegen und voran- grund getreten. Ich glaube, daß das der falsche Weg ist. bringen wollen. Eine freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsord- Ein Allerletztes. Mir gefällt dieses Haus, unser Berli- nung gründet auf Eigenverantwortung und Solidarität. ner Parlament. Seien wir doch selbstbewußt genug, es so Wer allerdings Solidarität erwartet, der muß auch bereit zu nennen, wie es die Leute nennen: Der Bundestag sein, Eigenverantwortung zu übernehmen. Das ist etwas, wird künftig im Reichstag tagen. was wir den Menschen im Land wieder stärker ins Be- Herzlichen Dank. wußtsein rufen müssen, und zwar in beiden Teilen unse- res Landes. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort für die Die Mahnung richtet sich auch an uns hier in diesem SPD-Fraktion hat die Kollegin Sabine Kaspereit. Haus: Politik, Staat und Gesellschaft, Schulen und In- stitutionen müssen wieder verstärkt Werte vermitteln, auf denen der moralische, politische und letztendlich Sabine Kaspereit (SPD): Herr Präsident! Verehrte auch wirtschaftliche Wiederaufbau nach 1945 gelungen Kolleginnen und Kollegen! Anläßlich der Übernahme ist. des Reichstagsgebäudes durch den Deutschen Bundestag drängt sich die historische Würdigung dieses Tages Eine weitere Mahnung, die wir beherzigen müssen: förmlich auf. Es ist aber von unserem Parlamentspräsi- Gewalt darf in Deutschland niemals wieder eine Chance denten, dem Bundeskanzler und den meisten meiner haben. Das müssen wir auch – heute ist soviel von unse- Vorredner schon viel dazu gesagt worden. Ich will den ren ausländischen Mitbürgern gesprochen worden – den Würdigungen der Geschichte des Reichstages nicht noch ausländischen Mitbürgern und Gästen sagen, die eine in weitere hinzufügen. Deutschland leben. Vorhin hat der Kollege Schulz an- gemahnt – Wolfgang Schäuble hat am vergangenen Ich will von meinen Gefühlen sprechen, die mit dem Donnerstag, wie ich meine, zu Recht, noch einmal einen Reichstag verbunden sind. Tief bewegt und auch ein breiten Konsens bei der Staatsbürgerschaft gefordert –, bißchen stolz darauf, heute an dieser Stelle stehen zu vielleicht doch noch einmal Gespräche, auch außerhalb dürfen, kann ich nicht sagen, daß sich mir ein Traum er- dieses Hauses, aufzunehmen, um in dieser existentiellen füllt hätte. Wie hätte ich davon träumen können? Für Frage zu einem Konsens zu kommen. Deswegen fordere mich war der Reichstag eine Ruine, auf die ich als DDR- ich namens der CDU/CSU-Fraktion die Bundesregie-Kind, wenn ich nur nahe genug an die Mauer herankam, (B) rung noch einmal auf, in diese Gespräche einzutreten.einen sehr eingeschränkten Blick hatte – intellektuell(D) Diese haben ganz viel mit der inneren Einheit unseresund vor allem visuell. Später war der Reichstag ein Landes zu tun. Symbol der Verbundenheit der Westdeutschen mit der Insel Westberlin und noch später die Kulisse für laut- (Beifall bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka starke Rockkonzerte, die den DDR-Oberen so schrill in [SPD]: Die Sie gespalten haben!) den Ohren klangen, daß es mich freute, auch wenn ich Es wird in diesen Tagen sehr bewußt: Das geeinteselbst nur das Echo der Konzerte in den DDR-Medien Deutschland übernimmt Verantwortung für Frieden,wahrnahm. Freiheit und Menschenrechte in Europa. Auch künftig Als ich 1994 als Abgeordnete die konstituierende Sit- muß deshalb unser Platz immer an der Seite unsererzung des 13. Deutschen Bundestages in den Mauern des westlichen Partner sein. Fünf Jahrzehnte ist Deutschland Reichstages erlebte, bekam dieses Haus plötzlich eine von Bonn aus regiert worden. Es waren fünf gute Jahr- andere Dimension für mich. Ich empfand die Wucht und zehnte für unser Vaterland. Der Wechsel vom Rhein an Schwere des Gemäuers als Verantwortung auf meinen die Spree darf nicht mit einer Verschiebung der politi- Schultern. Daran hat auch der spielerische Umgang schen Grundachse Deutschlands und seines politischen Christos mit seiner zauberhaften Verhüllung nichts ge- Koordinatensystems einhergehen. ändert. Es geht eine Ausstrahlung von diesem Hause (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aus, der man sich nur schwer entziehen kann. Wofür steht dieser Koloß? Steht er für parlamentarische Demo- Michael Stürmer sprach gestern in der „Welt am Sonn- kratie? Steht er für deren Ende durch die Nazis? Steht er tag“, sich auf Goethe berufend, von der Angst der Deut- als Symbol des Sieges über die Nazis? schen vor einer Hauptstadt. Die CSU, wir alle haben keine Angst vor einer Hauptstadt. Wir sind selbstbewußt Für mich steht er heute als Symbol für den Neuan- genug, zu wissen, daß es auch noch genügend anderefang nach 40 Jahren SED-Regime. Voraussetzung dafür Zentren gibt, die wir in Deutschland pflegen. Unserwar der Fall der Mauer, die meine Landsleute aus dem Land besteht aus dieser Vielfalt. Osten zum Einstürzen gebracht haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber Berlin muß ebenso wie Bonn ein Synonym für in- der CDU/CSU) nen- und außenpolitische Berechenbarkeit, für Konti- nuität und selbstverständlich für Liberalität werden und Dieser Neuanfang nach dem Fortfall der Konfrontati- bleiben. Deswegen gibt es für mich keine „Berliner Re- on der Blöcke fordert von uns Parlamentariern innen- publik“, genausowenig wie es je eine „Bonner Repu-wie außenpolitisch mehr Sorgfalt und komplexere 2692 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Sabine Kaspereit (A) Sichtweisen sowie mehr Verantwortungsbewußtsein,begann politisches Leben eigentlich erst mit der demo- (C) damit wir die Chance einer langfristigen und allseits ge- kratischen Volkskammer nach den ersten freien Wahlen achteten Friedensordnung ergreifen können. Dies sage in der DDR in den Reichstag einzuziehen. ich auch und gerade vor dem Hintergrund der Gescheh- Die Bundestagsfraktion der SPD hat sich als erste nisse im Kosovo. ganz bewußt dafür entschieden, den Reichstag für die Für uns Ostdeutsche mit unserer viel aktuelleren, län- Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen Abge- geren und auch tiefgreifenderen Diktaturerfahrung, als ordneten der Volkskammer zu nutzen. Die anderen da- die Westdeutschen sie haben, ist die Rückkehr der ge- maligen Bundestagsfraktionen sind ihr in unterschiedli- samtdeutschen parlamentarischen Demokratie nachcher Weise bald gefolgt. Das Reichstagsgebäude als Berlin eine besondere Freude und Genugtuung. Bindeglied zwischen den frei gewählten Parlamenten der beiden deutschen Staaten – das ist unter den Funk- (Beifall bei der SPD) tionen, die dieses Haus je innehatte, wahrlich nicht die Mit dem Widerstand gegen die Verweigerung einer geringste. wirklichen parlamentarischen Repräsentanz in der DDR (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat angefangen, was wir heute als die gewaltlose Revo- der CDU/CSU und der F.D.P.) lution des Herbstes 1989 bezeichnen. Mit dem Ruf nach freien Wahlen hat die Entmachtung des DDR-Ich denke, das dürfte den 99jährigen Sozialdemokra- Machtapparates begonnen, und sie wurde sozusagenten Josef Felder, den einzigen noch lebenden Abgeord- durch „Ersatzparlamente“ weitergeführt, durch die run- neten des Reichstages, der diese Debatte von München den Tische auf kommunaler, bezirklicher und nationaler aus sicher verfolgt, sehr freuen. Ebene. Natürlich waren diejenigen, die an den runden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Tischen saßen, nicht gewählt, und die Zusammenset- der CDU/CSU und der F.D.P.) zung war auch nicht repräsentativ. Aber die runden Ti- sche hatten etwas, was ein Parlament neben der ein-Ich möchte Josef Felder von dieser Stelle aus sehr herz- wandfreien demokratischen Legitimation durch Wahlen lich grüßen. braucht: Sie hatten das Vertrauen all derer, die schon lange kein Vertrauen mehr in ihre Staatsführung gehabt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hatten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der Alltag der deutschen Einigung nach den Festta- der CDU/CSU und der F.D.P.) gen des 9. November 1989 und des 3. Oktober 1990 zeigt: Dies waren nur die Feiern zur Grundsteinlegung. Die runden Tische waren offen für alle. (B) An der Vereinigung muß noch lange und auch hart gear- (D) beitet werden. Anstrengende Arbeit ist nicht nur bei der Warum spreche ich diese Erfahrungen und Erinne- Wirtschaftsförderung und der Angleichung der Lebens- rungen an? Weil wir heute einen neuen Abschnitt deut- verhältnisse erforderlich, sondern sie muß auch beim scher Geschichte beginnen, der ohne das eben Gesagte Zusammenführen zweier Gesellschaften geleistet wer- überhaupt nicht denkbar wäre und zu Zeiten der deut- den, deren Entwicklungswege nicht unterschiedlicher schen Teilung trotz aller Sonntagsreden von allen Seiten hätten sein können. auch nicht gedacht worden ist. Deshalb hätte ich nie da- von träumen können, heute hier zu stehen. Vieles ist erreicht worden. Die Westdeutschen haben hingenommen, daß ihr Realeinkommen ungefähr auf Das Vergangene der 40 Jahre vor 1989 und sein Ende dem Stand von 1990 verharrt. Die Ostdeutschen haben dürfen genausowenig vergessen werden wie das der Jah- sich tiefgreifenden Veränderungen unterzogen. Viele re vor 1945. Das Verwerfliche daran darf nicht von Ge- haben in den vergangenen neun Jahren mindestens ein- wohnheit und Gleichgültigkeit des täglichen Lebens und mal den Arbeitsplatz wechseln müssen oder die Erfah- des politischen Alltags glattgeschliffen werden. Ich will rung von Arbeitslosigkeit gemacht. Vor allem die Frau- nicht zulassen, daß im Schatten von Rechtsradikalen das en in den neuen Bundesländern betrifft der Wandel oft Unrecht des DDR-Systems bis zur Unauffälligkeit ver- genug negativ. schwimmt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN – Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer konsequent die Verfolgung von Machenschaften Leider wahr!) bei der Privatisierung volkseigener Betriebe fordert, Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig. kann nicht gleichzeitig einen Schlußstrich unter das Unrecht ziehen wollen, unter dem zwar unmittelbar Wenn es auch der Mehrzahl der Ostdeutschen heute nicht die Mehrheit der DDR-Bürger zu leiden hatte,deutlich besser geht als im Jahre der Vereinigung, so ist aber mit Sicherheit jeder, der sich dagegen aufzulehnen die Vereinigung doch nur an wenigen ohne Spuren vor- gewagt oder den Versuch unternommen hat, ihm zubeigegangen. Für das Viele, was noch zu tun bleibt, ver- entkommen. sprechen wir ostdeutschen Parlamentarier uns von einem in Berlin arbeitenden Bundestag ein genaueres Hinsehen (Beifall) auf das, was in den neuen Ländern geschieht, eine un- Wenn wir von symbolischen Sitzungen der Bundes- mittelbarere Erfahrung der Gemeinsamkeiten und Ge- tagsfraktionen und der Bundesversammlungen absehen, gensätze von Ost und West sowie die schnellere und Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2693

Sabine Kaspereit (A) wirksame Umsetzung der daraus gewonnenen Erkennt- Wir standen nicht nur deshalb auf dem Platz vor dem (C) nisse in politisches Handeln. Reichstag, weil das der große Platz in der Stadt war, auf dem Hunderttausende zusammenkommen konnten, son- Ein guter Freund hat mir im vergangenen Herbst sei- dern wir standen vor dem Gebäude, das Hoffnung und ne Gedanken im Rahmen der Einsichtnahme in seineErwartung auf Demokratie und Wiedervereinigung wi- Stasiakte aufgeschrieben. Ich war nicht so sehr von den derspiegelte. geschilderten Einzelheiten der Bespitzelung beeindruckt. Darüber gibt es viele erschütternde Berichte. Viel beein- Für mich war das alles mit Ziel und Motivation ver- druckender war für mich sein persönlicher Umgang mit bunden. Ziel und Motiv für politisches Handeln liegen der Tatsache, daß er sich unter Inkaufnahme von Isolie- für mich in all den Erfahrungen, in all dem, was wir in rung und beruflicher Nachteile nicht, wie von der SED der Nachkriegszeit erleben mußten: von den Berichten verlangt, von seinen Verwandten im Westen losgesagt über den Volksaufstand in Ungarn, über den Bau der hatte. Er schließt mit den Worten: Mauer oder, noch früher – da war ich noch etwas jünger –, über den Volksaufstand, der auch in besonderer Wei- Es ist Oktober 1998. Nächste Woche fliegen meine se von Berlin ausgegangen ist. Frau und ich für drei Wochen ganz weit weg. Wo- hin, das müssen wir niemandem mehr sagen. Nie- Meine Damen und Herren, ich erinnere auch an die manden müssen wir um Genehmigung bitten. Da- vielen Staatsgäste, die ich selbst in einen Flügel dieses nach kehren wir sehr gern wieder nach Hause zu- Gebäudes, den Ostflügel, führen durfte, um ihnen von rück. Und das liegt zum Glück seit acht Jahrendort aus einen Blick über die Mauer zu ermöglichen und wieder mitten in Deutschland! all die Sehnsüchte und Hoffnungen zu erläutern. Das ist für mich „Reichstag“. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Eine geschichtliche Entwicklung findet hier heute ei- CDU/CSU und der F.D.P.) nen, wie ich finde, demonstrativen Abschluß, und oft verspottete Hoffnungen werden Wirklichkeit. Deswe- gen, meine Damen und Herren, hängen viele Berliner so Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe nun dem an diesem Reichstag. Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diep- Damit muß ich, glaube ich, zu aktuellen weiteren De- gen, das Wort. batten nichts sagen. Nur, Herr Kollege Struck – er ist jetzt nicht da –, gerade das Auf und Ab der Geschichte des Reichstags bzw. dessen, was sich an demokratischen Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen, Entwicklungen in diesem Reichstag vollzogen hat, be- (Berlin): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen weist, daß die Rückkehr in dieses Gebäude ein Sieg der (B) und Herren! Knapp 50 Jahre nach der Verabschiedung (D) Demokratie ist, ein Sieg der Demokratie! des Grundgesetzes kommt heute der Deutsche Bundes- tag zum erstenmal in ordentlicher Sitzung in diesem Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. bäude zusammen. Dieser Tag ist – auch in dieser De- sowie bei Abgeordneten der SPD) batte – gewürdigt worden als historischer Tag, als Mei- lenstein für diese Stadt und sicherlich auch als Meilen- Meine Damen und Herren, das heutige Datum ist stein für die gesamte Bundesrepublik Deutschland. auch ein Eckpfeiler für die innere Einheit des Landes. Es gab hier eine Bestandsaufnahme, die ein Stück weit Sie werden am Ende dieser Debatte – auch wenn sich überlagert war von dem, was wir an neuen Erfahrungen, die Begriffe wiederholen – sicher Verständnis dafür ha- an neuer internationaler Verantwortung in den Ausein- ben, daß ich Ihnen ein Stück persönliche Empfindungandersetzungen auf dem Balkan heute mitgestalten müs- wiedergebe. Die Sitzung des frei gewählten gesamtdeut- sen. schen Parlaments war und ist für mich und vielleicht für viele Berlinerinnen und Berliner die Verwirklichung Es gab die Bilanz zu den Fragen der inneren Einheit. eines politischen Traums. Diese Bilanz war insgesamt positiv. Die Wiedervereini- gung hat sich – das ist in der heutigen Zeit am wichtig- Wenn ich von der vorangegangenen Rede ausgehe, sten – in Frieden vollzogen. Es gab keine unüberwindli- dann merke ich, wie unterschiedlich Erfahrungen undchen sozialen Eruptionen. Die Demokratisierung und Begrifflichkeiten im zusammenwachsenden Deutschland vielleicht auch ein Elitewechsel sind im Gegensatz zu waren. Aber es war für mich ein Traum, der oft als Uto- anderen Staaten gelungen. pie und als politische Lebenslüge einer ganzen Gesell- schaft diskreditiert wurde. Ich erinnere an die Freiheits- Viele Städte, einst vom Verfall bedroht, sind lie- kundgebung auf dem Platz vor dem Reichstag. Ich höre benswert renoviert worden. Die Infrastruktur im Ostteil die Stimme von Ernst Reuter: „Ihr Völker der Welt:Berlins und im Ostteil Deutschlands ist grundlegend Schaut auf diese Stadt!“ „Schaut auf diese Stadt“ warmodernisiert worden. Die Produktionsstätten – der Bun- nicht nur auf Berlin bezogen, sondern das war auf Wün- deskanzler hat darauf hingewiesen – können sich im in- sche zur Unterstützung im Kampf gegen Totalitarismus, ternationalen Vergleich durchaus sehen lassen. Aber für Freiheit und für Demokratie bezogen. Das betrafauch dies ist hier betont worden: Die politischen, gesell- deswegen viel mehr als „nur“ Berlin. schaftlichen und verwaltungsmäßigen Veränderungen, der Aufbau einer völlig neuen wirtschaftlichen und ins- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. besondere auch industriellen Basis in den sogenannten sowie bei Abgeordneten der SPD) jungen Bundesländern haben den Menschen Erhebliches 2694 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

Reg. Bürgermeister Eberhard Diepgen (Berlin) (A) abverlangt. Ich bin mir, meine Damen und Herren, ganz Vordergrund stehende Gefälle zwischen Ost und West. (C) sicher: Künftige Generationen werden davon mit Be-Zum anderen wies er darauf hin, daß wir uns so anein- wunderung sprechen. Es wäre schön, wenn ein Stückander gewöhnen müssen, daß wir in Umrissen eine ge- Anerkennung und Respekt auch heute selbstverständli- meinsame Geschichte erzählen könnten, und zwar auch cher Gegenstand der politischen Diskussion wäre. Das eine gemeinsame Geschichte von den zurückliegenden haben die Menschen verdient. 50 Jahren. Auch 40 Jahre DDR – nicht nur 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland – sind ein Stück gemein- (Beifall) same Geschichte. Über die Differenzierung 40 Jahre und Ohne Frage: Es gibt weiteren Handlungs- und Ent-10 Jahre müssen wir intensiv nachdenken. Jedenfalls wicklungsbedarf. Es geht um Arbeitsplätze, um denkommt es darauf an, daß diese Zeit als die Geschichte Ausbau von Wissenschaft und Forschung. Es geht um des deutschen Volkes insgesamt – in den gegenseitigen Produkte, die im internationalen Markt konkurrenzfähig Abhängigkeiten – begriffen wird. Ich glaube, die Men- sind. Wichtig ist auch die innere Entwicklung. Aus mei- schen erwarten von uns, an dieser Generationenaufgabe ner Sicht gab es auf dem Weg der letzten Jahre sehrzu arbeiten. Der Umzug nach Berlin kann dabei helfen. viele emotionale Verletzungen und Mißverständnisse. Denn unsere Stadt weitet den Blick auf das Schicksal Die unterschiedlichen geschichtlichen und gesellschaft- der Menschen östlich der Elbe in besonderer Weise. lichen Erfahrungen wurden nicht ausreichend für die Durch die Wiedervereinigung und den Umzug sind gemeinsame Zukunft genutzt. Die gemeinsame Zukunft, die Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland im we- das ist der Aufbau im ganzen deutschen, ich benutze den sentlichen nicht geändert worden. Dennoch ist der Um- Begriff hier: Vaterland – in Ost und West, in Nord und zug mehr als ein bloßer Ortswechsel. Der Zusammen- Süd. Es ist richtig, daß nicht alles aus dem sogenannten bruch des Kommunismus und die fortschreitende Glo- Westen zu erhalten und aus dem sogenannten Osten zu balisierung erfordern Weiterungen, die mit dem Namen verändern war. Lernen ist keine Einbahnstraße im zu-Berlin verbunden sein werden. Das wiedervereinigte sammenwachsenden Deutschland und darf auch nicht so Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin steht für Ver- begriffen werden. antwortung und Verläßlichkeit, für strukturelle Reform (Beifall) und gesellschaftliche Modernisierung sowie für eine er- weiterte Bündnisfähigkeit, und zwar nicht nur in der Meine Damen und Herren, bei allen notwendigenbewährten Form nach Westen, sondern auch nach Osten. kritischen Anmerkungen – eine Herausforderung für die Zukunft – können die Menschen dieses Landes auf das Berlin war über Jahrzehnte ein Symbol für die geteilte stolz sein, was sie geleistet haben. Diese Leistung gibt Nation. Heute ist es ein Sinnbild für die Überwindung der uns aus meiner Sicht die Gewißheit, den weiteren Weg Teilung. Trotz aller Schwierigkeiten und Probleme kön- (B) erfolgreich gestalten zu können. Denn die Leistungsfä- nen wir Berliner und, so meine ich, wir Deutsche ins-(D) higkeit der Menschen in Ost und West beweist genaugesamt stolz darauf sein, daß die Wiedervereinigung der dies. Mein Wunsch ist es, daß weniger in den Kategori- Stadt wie auch die Wiedervereinigung insgesamt bisher en von Ost und West gedacht wird, sondern daß über die auch im sozialen Frieden gelungen ist. In Berlin wird Grenzen einzelner Bundesländer hinweg gemeinsamees am ehesten gelingen, die 40 Jahre lang geteilte deut- Stärken herausgearbeitet werden. Der Verfassungsauf- sche Nachkriegsgeschichte zusammenzudenken und den trag nach gleichwertigen Lebensverhältnissen – übrigens Grundstein für die Zukunft zu legen, in der Ost und West nicht nach gleichen Lebensverhältnissen – wird aus-nur noch geographische Richtungen sind. drücklich durch regionale Vielfalt ergänzt, das heißt Als Hauptstadt bildet Berlin eine Klammer für unser durch regionale Schwerpunktsetzung auch in dem, was Land. Denn, meine Damen und Herren, nur eine Nation, sich Menschen im einzelnen unter Lebensqualität vor- die keine sein will, braucht keine Hauptstadt. Ich habe stellen. die Sorge vernommen – es gab ja Auseinandersetzungen Wir können also auf dem aufbauen, was bisher gelei- mit dem Thema –, Berlin stehe für Zentralismus. Ich stet worden ist. Die geleistete materielle Hilfe ist Grund- glaube, diese Sorge ist unbegründet. Der Föderalismus lage und Zukunft dabei, insbesondere für die neuen Bun- ist in Deutschland tief verwurzelt. Jedoch muß die Auf- desländer. Diese Länder brauchen die Solidarität. Nur so gabe des Gesamtstaates, muß die Rolle der Nation im kann sichergestellt werden, daß die bisher erfolgte Hilfe zusammenwachsenden Europa jetzt, weil der Bundestag nicht nutz- und erfolglos wird. Gleichzeitig darf sich das eben in Berlin tagt, von Berlin aus neu definiert werden. Engagement allerdings nicht im Materiellen erschöpfen. Wir müssen Sorge dafür tragen, daß unser in vielem be- Es kommt auf den Umgang miteinander an. währte bundesstaatliche System nicht durch Globalisie- rung und Partikularisierung einer Erosion zum Opfer Richard Schröder hat vor einem Monat in Weimar ge- fällt und daß sich keine Gräben beispielsweise zwischen fragt, wann man von einem Gelingen der Einheit spre- armen und reichen Ländern auftun. Der kooperative chen könne. Er nannte zwei Bedingungen: zum einen, Föderalismus hat sich in den 50 Jahren bewährt. Aber daß wir mit den Ost-West-Unterschieden ebenso gelas- auch künftig werden wir daran erinnern – möglicherwei- sen umgehen wie mit den Nord-Süd-Unterschieden. Da- se erinnern müssen –, daß die Bundesrepublik ein Bun- hinter steckte sicherlich die Erkenntnis, daß in der weite- desstaat mit gesamtstaatlichen Verantwortungen und ge- ren Entwicklung dieser Republik die Unterschiede zwi- samtstaatlicher Identität ist – und kein Staatenbund. schen Nord und Süd etwas stärker zu beachten sein wer- den als bisher sozusagen das eher traditionelle, vor dem (Beifall der Abgeordneten Anke Fuchs [Köln] Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklung noch im [SPD]) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2695

Reg. Bürgermeister Eberhard Diepgen (Berlin) (A) Das größer gewordene Deutschland erhält mit Berlin kratische europäische Zukunft, aber auch ein Stück weit (C) eine Hauptstadt, die mehr als nur ein VerwaltungssitzStolz und Würde für das ganze Deutschland darstellen. ist. Berlin ist eine Bühne, eine Arena, ein Labor. Meine Damen und Herren, ein Blick aus dem Fenster genügt, Für uns in Berlin geht ein langgehegter Wunsch in um zu sehen, daß Sie nicht in eine fertige Stadt gekom- Erfüllung. Ich muß daran erinnern: Über Jahrzehnte be- men sind. Aber eine Baustelle, eine Werkstatt ist auch kundete das Abgeordnetenhaus von Berlin zu Beginn ein inspirierender Ort für ein Parlament, das immer im seiner Sitzungen seinen – ich zitiere – „unbeugsamen Leben steht. Dieser Genius loci, der an die historische Willen“, daß die Mauer fallen und Deutschland mit sei- Verantwortung genauso erinnert wie an die Aufgabenner Hauptstadt Berlin wiedervereinigt werden muß. des Tages, ist das, was wir vermitteln wollen. Heute sind Einigkeit und Recht und Freiheit im ganzen deutschen Vaterland verwirklicht. Das Herz der deut- Willy Brandt hat konsequent angemahnt, das Ver-schen Demokratie wird hier im Reichstag schlagen. Da- sprechen einzuhalten, nach dem Berlin im Falle derfür sind wir dankbar. Wiedervereinigung Hauptstadt werden würde – auch Sie haben Verständnis dafür, wenn ich sage: Wir weil das „mehr als eine symbolische Form von Solida- Berliner sind stolz darauf, an dieser Entwicklung ein rität mit dem Osten unserer größer gewordenen Bundes- bißchen mitgewirkt zu haben. Ich jedenfalls heiße Sie republik“ bedeutet. Wolfgang Schäuble hat in alle der herzlich willkommen in dieser Stadt, in der Bundes- Hauptstadtdebatte im Jahr 1991 in seiner richtungswei- hauptstadt Berlin. Von diesem Gebäude mögen gute Be- senden Rede für Berlin gekämpft und sich danach fürschlüsse zum Wohle der Menschen in unserem Land einen schnellen Umzug an die Spree eingesetzt. ausgehen, Beschlüsse – wie der Bundestagspräsident sagte – mit Weisheit und Beschlüsse, die von Glück ge- Er sagte – das will ich hier vor allen Dingen heraus- tragen werden. stellen –, es gehe nicht um den „Wettstreit zweier Städ- te, nicht um Struktur- und Regionalpolitik, sondern um Vielen Dank. die Zukunft unseres Landes“. Ich kann Ihnen nur sagen: (Beifall im ganzen Hause) Die Geschichte hat beiden Rednern recht gegeben. Ich sage heute allen Bewohnerinnen und Bewohnern von Bonn Dank für das, was geleistet wurde. Vizepräsident Rudolf Seiters: Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir sind am Ende der ersten Sitzung im (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der neugestalteten Reichstag. Ich denke, wir können nach F.D.P) diesen Stunden sagen, daß wir uns hier im Reichstag auch künftig wohl fühlen und parlamentarisch zu Hause Aber hier ging es eben nicht um eine regionale Ent-sein werden. (B) scheidung. (D) Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages fin- Als Hauptstadt – ich wiederhole das – bildet Berlin det in Bonn statt. Ich berufe sie auf Mittwoch, den eine Klammer für unser Land. Eine Nation, die keine21. April 1999, 13 Uhr ein. sein will, braucht keine Hauptstadt. Aber wir wollen Die heutige Sitzung ist geschlossen. eine Hauptstadt haben und wollen auch eine Nation sein. Berlin wird demokratisches Selbstverständnis, demo- (Schluß: 15.38 Uhr) 2696 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999

(A) Anlage zum Stenographischen Bericht (C)

Anlage Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Moosbauer, Christoph SPD 19.4.99 entschuldigt bis Mosdorf, Siegmar SPD 19.4.99 Abgeordnete(r) einschließlich Müller (Berlin), PDS 19.4.99 Walter Bachmaier, Hermann SPD 19.4.99 Neumann (Gotha), SPD 19.4.99** Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 19.4.99 Gerhard Marieluise DIE GRÜNEN Dr. Niese, Rolf SPD 19.4.99 Beer, Angelika BÜNDNIS 90/ 19.4.99 Raidel, Hans CDU/CSU 19.4.99 DIE GRÜNEN Rübenkönig, Gerhard SPD 19.4.99 Belle, Meinrad CDU/CSU 19.4.99 Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 19.4.99 Bohl, Friedrich CDU/CSU 19.4.99 Scharping, Rudolf SPD 19.4.99 Bühler (Bruchsaal), Klaus CDU/CSU 19.4.99* Scheu, Gerhard CDU/CSU 19.4.99 Diller, Karl SPD 19.4.99 Schöler, Walter SPD 19.4.99 Dr. Eid, Ursula BÜNDNIS 90/ 19.4.99 Schösser, Fritz SPD 19.4.99 DIE GRÜNEN Schuhmann (Delitzsch), SPD 19.4.99 Dr. Fuchs, Ruth PDS 19.4.99 Richard Großmann, Achim SPD 19.4.99 Schurer, Ewald SPD 19.4.99 Hagemann, Klaus SPD 19.4.99 Seidenthal, Bodo SPD 19.4.99 Hampel, Manfred SPD 19.4.99 Steen, Antje-Marie SPD 19.4.99 Hasenfratz, Klaus SPD 19.4.99 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 19.4.99 Hempelmann, Rolf SPD 19.4.99** Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 19.4.99 Ibrügger, Lothar SPD 19.4.99 Titze-Stecher, Uta SPD 19.4.99 Dr. Jens, Uwe SPD 19.4.99 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 19.4.99 Kolbow, Walter SPD 19.4.99 DIE GRÜNEN (B) Koschyk, Hartmut CSU/CSU 19.4.99 Urbaniak, Hans-Eberhard SPD 19.4.99 (D) Kröning, Volker SPD 19.4.99 Vaatz, Arnold CDU/CSU 19.4.99 Lehn, Waltraud SPD 19.4.99 Wagner, Hans Georg SPD 19.4.99 Dr. Lucyga, Christine SPD 19.4.99* Dr. Wegner, Konstanze SPD 19.4.99 Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 19.4.99 Weißgerber, Gunter SPD 19.4.99 Erich Willner, Gert CDU/CSU 19.4.99 Mark, Lothar SPD 19.4.99 –––––––– * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Metzger, Oswald BÜNDNIS 90/ 19.4.99 sammlung des Europarates DIE GRÜNEN ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union

Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 ISSN 0720-7980

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