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KULTUR Paul singt den Kuckuck Autor Mark Hertsgaard über die Schätze des Londoner Beatles-Archivs

Hertsgaard, 38, ist der einzige Außen- aber auch ausgefallenere Nummern wie stehende, dem bislang Zugang zu dem „Can You Take Me Back“, „And Your Beatles-Archiv in den Abbey-Road-Stu- Bird Can Sing“ und „I’m Down“. dios gewährt wurde. Sein Buch „The Wenig wirklich Neues also, und man- Beatles: Die Geschichte ihrer Musik“ che mögen das enttäuschend finden. ist im Carl Hanser Verlag erschienen. Doch die Tracks selbst sind es nicht. Sie strotzen vor Energie, Experimentier- ie Musik gehört allen Menschen“, lust, musikalischem Können und Spiel- hat John Lennon einmal gesagt. freude; und sie sind ebenso unterhalt- D„Nur die Musikverlage und Plat- sam wie aufschlußreich. Viele Beatles- tenfirmen glauben, daß sie sie besit- Songs haben sich vom ersten Entwurf zen.“ bis zur endgültigen Aufnahme enorm Ein spektakuläres Beispiel dafür sind verändert. die 400 Stunden Studiomaterial, die Ich hatte das Glück, mir ein paar der Lennon und die anderen Beatles zwi- Stücke anhören zu dürfen, die jetzt ver- schen 1962 und 1970 aufgenommen ha- öffentlicht werden sollen. Es war 1993, ben. Quantitativ gesehen sind die zehn- als ich für den New Yorker eine Ge- einhalb Stunden Musik auf den 13 Al- schichte über den Wissenschaftler Mark ben und 22 Singles der Band dagegen Lewisohn recherchierte, der die ge- ein Witz. Die Bänder sind ein Doku- samten 400 Stunden Beatles-Aufnah- ment der Popgeschichte; und sie bele- men im Abbey-Road-Archiv katalogi- gen, wie die Beatles die Musik revolu- sierte. tionierten. Der Zugang zum Archivraum selbst Dennoch ruhten diese Aufnahmen war mir wegen der Sicherheitsvorschrif- mehr als ein Vierteljahrhundert hinter ten der EMI verwehrt; dort durfte übri- verschlossenen Türen in den Abbey- gens auch Lewisohn nicht hinein. Statt Road-Studios in London. Solange dau- dessen wurden die Bänder in den Raum erte es, bis in diversen Gerichtsverfah- 22 gebracht, ein kleines, vollgestopftes ren geklärt wurde, wem welche Rechte Zimmer voller Aufnahme-Konsolen, am Gesamtkatalog gehören. Tja: All dessen hinteres Fenster auf das Studio you need is love. Jetzt hat sich der juri- One hinausging – jene große Halle, in stische Wirbel gelegt, und ein Teil dieser der einige der besten Beatles-Stücke Aufnahmen wird endlich der Außenwelt aufgenommen wurden. zugänglich gemacht. Ein Toningenieur spielte mir alle elf Es ist von allem etwas dabei: bisher Takes von „A Day In The Life“ vor, unbekannte Arrangements solcher und ich hörte zu, wie sich das Stück von Mainstream-Klassiker wie „Norwegian einem akustischen Folksong zu dem Wood“, „Penny Lane“ und „“, überbordenden orchestralen Meister- INTER-TOPICS Beatles 1969: Angeblich unfähig, es im selben Raum auszuhalten

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KULTUR G. HARRISON / GLOBE PHOTOS REUTERS TRANSGLOBE George Harrison Paul McCartney Ringo Starr Beatles in den neunziger Jahren: Die Musik gehört allen stück entwickelte, das „Sgt. Pepper’s lo-Demo, das einen sanft melancholi- Lonely Hearts Club Band“ beschließt. schen Ton anschlägt, so ganz anders als Während ich dem Gespräch mit ge- die halluzinogene Studio-Version. In schlossenen Augen zwischen John und Take sieben erkennt man das fertige Paul über den markerschütternden Kla- Stück, obwohl nur die ersten 60 Sekun- vierakkord am Ende des Songs lauschte, den davon auf der Platte zu hören sind, hatte ich plötzlich das Bild vor mir, wie weil Lennon beschloß, eine zweite die Beatles und George Martin im Stu- Rhythmus-Spur hinzuzufügen – die dio unter mir an ihrem vielleicht größten durchgeknallten Trompeten, Cellos, Werk arbeiteten. rückwärts abgespielten Zimbeln und die Gewiß werden die „Anthology“-CDs anderen Extras, die „Strawberry Fields“ viele Hörer auf ähnliche Gedanken zu einem der großen Kunstwerke der bringen. Live-Versionen von Rocksongs Musik der Sixties machen. wie „I Saw Her Standing There“ und Zu den herausragenden Tracks, die „Help!“ beschwören die – auf den „Anthology“-CDs zu hören sein Massen schluchzender Mädchen – her- werden, gehören Versionen von „Can’t auf. Und sie widerlegen den Mythos, Buy Me Love“ und „Tomorrow Never daß die Beatles live nicht besonders gut Knows“, von „Come Together“, „Let It spielen konnten. Be“ und „Here Comes The Sun“. Zu Die fünf Nummern aus der erfolglo- den großartigen Fundsachen gehört sen Vorspiel-Session der Beatles bei der „Leave My Kitten Alone“, eine Plattenfirma Decca im Jahre 1962 lassen Rhythm-and-Blues-Nummer, die die einen den Kopf schütteln über den un- Band 1964 coverte. Wie bei ihren frühe- glückseligen Manager, der die Band ab- ren Coverversionen von „Money“ und wies, weil Gitarrenbands „nicht mehr „Slow Down“ lärmt die Band, und Len- angesagt“ waren. non gibt den Shouter. Ursprünglich soll- Die Perlen der „Anthology“-Tracks te der Song auf dem Album „Beatles sind jedoch die Aufnahmen von der Ar- For Sale“ erscheinen, wurde aber wie- beit im Studio. Am schönsten ist viel- der gestrichen. Zum Glück ist er jetzt leicht der erste Take von „While My ausgegraben worden. Guitar Gently Weeps“. Er ist vollkom- „Anthology“ ist, wie sich aus einer men anders als sein rauher elektrischer dem Magazin Newsweek vorliegenden Vetter vom „White Album“ – sparsam Liste der Tracks ersehen läßt, chronolo- und eindringlich, eine Soloaufnahme gisch geordnet: Die erste CD enthält die von George Harrison (dem Komponi- Stücke von 1958 bis August 1964, die sten des Stücks), die nur aus seiner ma- zweite die von Ende 1964 bis Mitte 1968 kellosen akustischen Gitarre und seinem und die dritte die von 1968 bis 1969. Die meditativen Gesang besteht. Außerdem zweite und die dritte CD kommen erst ist darauf eine zusätzliche Strophe zu Anfang 1996 heraus. Das ist schade, hören, mit den beiden poetischsten Zei- denn sie enthalten das stärkste Material. len, die Harrison je geschrieben hat – Ein Highlight aus den „White Al- Zeilen, die aus der offiziellen Version bum“-Sessions ist das Demo der hüb- herausgeschnitten wurden, offenbar um schen Ballade „Dear Prudence“, die Platz für das funkelnde Gitarrensolo sei- Lennon 1968 in Indien schrieb. In einer nes Freundes Eric Clapton zu schaffen. improvisierten Sprecheinlage erzählt Kein Beatles-Song wurde wohl im John kichernd, daß es in dem Song um Studio so dramatisch verändert wie ein Mädchen gehe, „das zu einem Medi- „Strawberry Fields Forever“. Kluger- tationskurs in Rishikesh ging“. Pauls weise wurden für „Anthology“ drei un- Harmoniegesang klingt verdächtig wie terschiedliche Takes ausgewählt, ein- „Kuck-uck“, und John muß sich müh- schließlich Lennons ursprünglichem So- sam das Lachen verkneifen, bevor er

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hinzufügt: „Wer hätte gedacht, daß sie in der Obhut des Maharishi Mahesh Yo- Fernsehen gi völlig durchdrehen würde?“ Das Abbey-Road-Archiv ist voll von solchen Plaudereien zwischen den Bea- tles bei der Arbeit; das einzige größere Im Kern Manko der Kompilation ist, daß nicht mehr davon darauf zu hören sind. Etwa die vom Abend des 8. November 1965, krank als die Band „“ aufnahm. Die Bänder, auf denen sie Witze reißen, Scharfe Schnitte, starke Schocks: einander nachäffen und sich scherzhaft Michael Crichton und Steven Spiel- anpöbeln, sind nicht nur brüllend ko- misch anzuhören, sondern verdeutli- berg haben das totgeglaubte Genre chen auch die psychische Synergie der der Krankenhausserie wiederbelebt. Bandmitglieder, die so wichtig war für die Magie der Beatles: John war der An- führer und geistige Kopf der Gruppe, ovon träumt der Doktor, wenn er Paul der perfektionistische Workaholic, sich einmal kurz auf seine Prit- George der eifrige kleine Bruder und Wschelegt,imMorgengrauen, nach Ringo der treue gute Freund. 18 Stunden Dienst ohne Pause: Schaut er Dann wäre da noch das Gespräch, das im Schlaf die Segnungen der Gesund- George und John im Januar 1969 führ- heitsreform? Hat er Visionen von Schuß- ten, als die Beatles „Let It Be“ aufnah- wunden und Geschwüren? men. George erzählt John, daß er gern Oder sehnt er sich, wie sein geplagtes ein Soloalbum machen würde, damit er Gesicht suggeriert, nur danach, wieder all die Songs aufnehmen könne, die auf einmal träumen zu dürfen, eine ganze die letzten Beatles-Platten nicht mehr Nacht lang, in einer Schwarzwaldklinik draufpaßten. John ist begeistert von der oder im Krankenhaus am Rande der Idee, und die beiden malen sich aus, wie Stadt? die Beatles weiterhin zusammen Platten Dr. Greene (Anthony Edwards) hat machen, während sie nebenbei Solopro- keine Chance, die Tiefschlafphase zu er- jekte verfolgen. Dadurch, erklärt Harri- reichen. Schon steht die Oberschwester son, „bleibt das hier, das Beatles-Ding, in der Zimmertür, ruft: „Aufwachen, länger bestehen.“ Doktor! Ein Notfall!“ Ein so kurzes Gespräch ist kein ein- Und der Doktor greift benommen deutiger Beweis, aber es widerspricht nach seiner Brille, stolpert durch die auf jeden Fall der gängigen Lesart der Flure, bekommt statt eines Frühstücks Auflösung der Band. Zu einem Zeit- das erste blutverschmierte Unfallopfer punkt, als die Beatles es angeblich nicht auf dem Operationstisch präsentiert, im selben Raum miteinander aushalten und er schert sich nicht um Risiken konnten und Streite- reien wegen Freundin- nen, Managern und Musik eine Trennung unvermeidlich ge- macht hatten, hört man tatsächlich auf dem Band George und John in freundli- chem Ton darüber sprechen, wie die Band weiter zusam- menarbeiten kann. Ich finde, das Ab- bey-Road-Archiv soll- te geöffnet werden und sei es nur, um derarti- ge Kontroversen der Geschichtsschreibung beizulegen. Die „Anthology“-CDs ver- führen zu einem Blick hinter die Kulissen der Entstehung der wich- tigsten Kunstwerke dieses Jahrhunderts. John hatte recht. Die-

se Musik gehört allen. PRO SIEBEN Viel Spaß damit. TV-Serie „ER“: Keine Zeit für Doktorspiele

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