Deutscher – 19. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Oktober 2020 23141

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Der Zweite Weltkrieg steht darüber hinaus für un- (C) Sarrazin, , Dr. Kirsten Kappert- zählige weitere namenlose Opfer. Über 60 Millionen Gonther, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Menschen verloren ihr Leben. Sie wurden Opfer eines BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN brutalen Vernichtungskrieges und einer rassistischen Lebensraumideologie. Gedenken an die Opfer des deutschen Ver- nichtungskriegs stärken und bisher weniger Mit Beginn der deutschen Besatzung im September beachtete Opfergruppen des Nationalsozialis- 1939 wurde Polen zum ideologischen Experimentierfeld. mus anerkennen Die polnische Bevölkerung hat unvorstellbar gelitten. Hunderte von Dörfern standen in Flammen. Vergewalti- Drucksache 19/23161 gungen, öffentliche Hinrichtungen und Plünderungen waren brutaler Alltag im nationalsozialistischen Terror. Für die Aussprache wurden 60 Minuten beschlossen. Polen wurde zum „Wartezimmer für den Völkermord“. Sobald Sie Platz genommen haben und in der Lage Aber ist uns das heute noch bewusst? Wissen wir, dass sind, den Rednern wieder Aufmerksamkeit zu schenken, der deutsche Vernichtungskrieg Zerstörung, Verwüstung, eröffne ich die Aussprache. – Nehmen Sie bitte Platz! Elend auch über weitere Länder brachte, auch über Ost- europa, über die Sowjetunion, über die Bevölkerung des Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der heutigen Belarus und der Ukraine? Ist uns das Ausmaß Kollegin , CDU/CSU. heute noch bewusst? Die Ukraine verlor im Zweiten (Beifall bei der CDU/CSU) Weltkrieg ein Viertel ihrer Bevölkerung. An 1 500 Orten wurden Opfer hingerichtet und dann anonym vor Ort ver- scharrt. Wissen wir das heute noch? Gitta Connemann (CDU/CSU): Wie lange werden wir uns noch an die deutsche Hun- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Het was gerstrategie in Griechenland erinnern? Der barbarische een hel“, es war die Hölle, so beschrieb unsere nieder- Entzug von Lebensmitteln kostete bis zu 360 000 Grie- ländische Großmutter den niederländischen Hungerwin- chinnen und Griechen das Leben. ter 1944. Menschen aßen Tulpenzwiebeln, um zu über- leben. Zehntausende schafften es nicht; sie verhungerten. Meine Damen und Herren, Millionen Soldaten starben. Mit dem Entzug von Lebensmitteln bestraften National- Sie wurden auf den Schlachtfeldern zu Kanonenfutter. sozialisten die Niederländer, weil sie streikten. Aber wer Stellvertretend nenne ich Stalingrad. Sechs Monate wüte- weiß das noch? Das Vergessen droht, und deshalb wollen te diese unfassbare Menschen- und Materialschlacht. Bei eisigen Temperaturen fanden Hunderttausende Menschen (B) wir als Große Koalition ein Dokumentations- und Bil- (D) dungszentrum Zweiter Weltkrieg. einen sinnlosen Tod, auf beiden Seiten. Die Opferzahlen werden viele von uns noch kennen, aber die konkreten Jetzt werden manche wieder mit den Augen rollen: Umstände, die für das einzelne Individuum, das Opfer Zweiter Weltkrieg, nicht schon wieder. Muss das wirklich den Unterschied ausmachten zwischen Krepieren und sein? Das haben wir doch in der Schule rauf- und runter- Sterben? gebetet. – Ja, aber das Vergessen droht trotzdem. Am Volkstrauertag stehen nur noch kleine Gruppen vor den Bombenangriffe, Deportationen, Hunger, Misshand- Kriegsdenkmälern, und die Zeitzeugen sterben. Deshalb lungen, Vertreibung, Zwangsarbeit – der Zweite Welt- brauchen wir ein Dokumentations- und Bildungszentrum krieg hat tiefste Spuren hinterlassen, familiär, politisch, Zweiter Weltkrieg. Wir brauchen es, um zu lernen und landschaftlich, Spuren, die auch noch ein Dreivierteljahr- nicht zu vergessen. hundert später sichtbar sind. Aber versteht sie noch jeder von uns? (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb wollen wir in der Großen Koalition und als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein Dokumentations- und Wie wertvoll Zeitdokumente sind, zeigt uns das Tage- Bildungszentrum Zweiter Weltkrieg. Das Konzept soll buch der Anne Frank. Wer kennt es nicht? Wer hat nicht von einer Arbeitsgruppe von Fachleuten erarbeitet wer- Anteil genommen an ihrem Schicksal, an ihrer ersten den, ohne politische Beteiligung. Welche Herausforde- Liebe, an ihrer Sehnsucht nach Luft, nach Lachen, an rung dies darstellt, haben die letzten sechs Monaten der ihrem frühen, sinnlosen Tod? Anne Frank hat ein ein- Antragserarbeitung gezeigt. Es gab Versuche der Ein- maliges Zeitzeugnis geschrieben. Ihr Tagebuch ist ein flussnahme durch sehr unterschiedliche Kräfte. erschütterndes Symbol für den Genozid an den Jüdinnen und Juden in Europa. Ihre Geschichte wirkt bis heute, so Wir wollen Geschichten und Geschichte verstehen, die wie auch die Folgen der Shoah bis heute wirken. Es ist Geschichten der Opfer, aber auch die der Menschen, die auch eine Geschichte für heute. Oder, um es mit Primo zu Tätern wurden. Was veranlasste einen bis dahin voll- Levi zu sagen, einem der Überlebenden von Auschwitz: kommen normalen Bürger, eine Pistole zu entsichern und „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder gesche- einen Juden oder einen Balten in der freien Landschaft zu hen.“ Mit dem Tagebuch erhält das Schicksal von Millio- exekutieren oder aber zu entscheiden, andere Menschen nen Menschen nicht nur eine Stimme, sondern auch ein auszuhungern? Welche Lehren ziehen wir daraus? Die Gesicht. Nur so lässt sich den Millionen Namenlosen, den Geschichte zeigt: Menschen tragen beides in sich, Täter gewaltsam ausgelöschten Jüdinnen und Juden wieder ein und Opfer. Es ist eine Entscheidung, ob wir Täter werden. Gesicht geben. Nur so werden aus „Niemanden“ wieder Es ist unsere Entscheidung. Es ist eine Entscheidung, wie „Jemande“. wir Gegenwart und Zukunft gestalten. Aber dafür müssen 23142 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 184. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. Oktober 2020

Gitta Connemann (A) wir die Strukturen kennen. Dieses Wissen bietet uns die Und wenn Sie mir nicht glauben, dann hören Sie viel- (C) Möglichkeit, eine Haltung einzunehmen und danach zu leicht auf den jüdischen Publizisten Henryk M. Broder, handeln: Nie wieder! der wie ein Seismograf das moralisch Unreine dieser Erinnerungspolitik ortete, sogar vom „deutschen Erinne- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der rungswahn“ sprach FDP) ( [Erfurt] [SPD]: Da zitieren Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sie ja den Richtigen! Manche sind auch ver- stört!) Nächster Redner ist der Kollege Dr. , AfD. und feststellte, dass dieselben Leute, die einander darin überbieten, Auschwitz nachträglich verhindern zu wol- (Beifall bei der AfD) len, sich tags darauf mit völlig unempathischer Israel- Kritik bis hin zum Antizionismus schadlos halten. Dr. Marc Jongen (AfD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die finstere (Beifall bei der AfD) Zeit des Nationalsozialismus wirft einmal mehr ihre Übertragen auf Ihren Antrag: Sie beklagen mit hohem Schatten in unsere Gegenwart und in dieses Hohe Haus. Pathos den fanatischen Willen der Nazis, Polen als Die Regierungskoalition will eine Dokumentations-, Bil- Nation auszulöschen, und treten zugleich mit einer dungs- und Erinnerungsstätte errichten, die der Aufarbei- unglaublichen Arroganz gegenüber dem heutigen Polen tung des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialis- auf, dem Sie sein gutes Recht absprechen, sich gegen tischen Besatzungsherrschaft gewidmet sein soll. Die ungezügelte Massenmigration zur Wehr zu setzen und AfD-Fraktion wird sich bei der Abstimmung der Stimme somit seine nationale Identität zu wahren. enthalten, und ich will hier erklären, warum. (Beifall bei der AfD – [DIE LINKE]: Mit Nein können und wollen wir nicht stimmen, weil Das ist zwanghaft!) wir genauso wie alle anderen in diesem Saal das Offen- kundige sehen und anerkennen: dass in dem von den Ihre eigentlichen politischen Absichten zeigen Sie auf Nationalsozialisten entfesselten totalen Krieg schwerste Seite 4 des Antrags, wo steht, bis zur 18. Legislaturpe- Verbrechen gegen die Menschlichkeit im deutschen riode seien sich alle Fraktionen im Deutschen Bundestag Namen begangen worden sind. Viele Millionen Men- einig gewesen über die angeblich „verantwortungsvolle schen in ganz Europa fielen, aus unterschiedlichen Ver- Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte“. Die folgungsgründen, einer menschenverachtenden Ideologie AfD also hat in der 19. Legislaturperiode diesen Konsens (B) zum Opfer. Ihnen allen gebührt ehrendes und trauerndes gestört. Sie wolle angeblich Geschichtsklitterung betrei- (D) Gedenken. Die wissenschaftliche Erforschung dieser ben und etwa die Bombardierung Dresdens missbrau- Ereignisse, die immer Teil der deutschen Geschichte blei- chen, um einen – ich zitiere – „Opfermythos anzufa- ben werden – ob uns das gefällt oder nicht –, ist weiterhin chen“. notwendig. Historisch korrekte Aufklärung darüber ist Werte Kollegen von den Konsensparteien – der grüne wichtig. Antrag ist ja fast textidentisch mit dem Regierungsantrag, das ist an Symbolik schwer zu überbieten –, vor Kurzem (Beifall bei der AfD) haben Sie in diesem Saal unsere Forderung nach einer Dennoch können wir dieser neuen Erinnerungsstätte Gedenkstätte für die deutschen Opfer des Zweiten Welt- neben den vielen bereits bestehenden auch nicht zustim- kriegs mit hanebüchenen Argumenten unisono abgelehnt. men. Das hat zunächst mit einem Unbehagen zu tun, das Solange Sie die legitime Trauer um die eigenen Opfer als aus den Untertönen dieses Antrags aufsteigt. Die minu- Anfachen eines Opfermythos diffamieren, ist Ihre Erin- tiöse Aufzählung der deutschen Untaten mit den vielen nerungspolitik in einer heillosen Schieflage, die auch Superlativen und Horrorbegriffen, von der „Monstrosität noch die besten Absichten verderben muss. der NS-Verbrechen“ über den „Vernichtungskrieg“ bis Vielen Dank. hin zu der deutschen „Tätergesellschaft“ im Dritten Reich, lassen an ein Wort des Philosophen Hermann Lüb- (Beifall bei der AfD) be denken, der vom „Sündenstolz“ der Deutschen sprach. Zitat: Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Den Holocaust , SPD, ist die nächste Rednerin. – oder jetzt eben: den Vernichtungskrieg – (Beifall bei der SPD) macht uns keiner nach! Er ist unser Alleinstellungs- merkmal, das wir mit niemand teilen wollen! Marianne Schieder (SPD): Doch mit Sündenstolz, der bis zum Selbsthass reicht, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- wäscht man sich nicht von den historischen Sünden be Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! rein, sosehr man sich auch durch hypermoralisches Wir beschließen heute einen echten Meilenstein für die Büßertum vor Gott oder der Geschichte selbst zu recht- Erinnerungskultur in unserem Land. Mit der Realisierung fertigen trachtet, werte Kollegen. einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte, die sich mit der Geschichte und der Aufarbeitung des (Beifall bei der AfD) Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen