Blätter 4’18 Das Great Game neue Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Imperialer Rassismus Imperialer Krieg um Syrien: Syrien: um Krieg Pankaj Mishra Pankaj Marcel Serr Marcel internationale deutsche und Blätter für Politik

Inken Behrmann bis Black Lives King Matter L. Martin »Wir werden frei sein!« Claus Leggewie Kein Sozialismus keine ist auch Lösung Genster, Schneider Götze, GroKo oder: Die Verschleppung große Guérot Ulrike marche? en Europa W.Alfred McCoy Die Opiumfront Afghanistan: Craig Murray, Pradetto August Kalte neue Der Krieg 4’18 Autorinnen und Autoren dieses Heftes Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Thomas Piketty Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Jan M. Piskorski Inken Behrmann, geb. 1993 in Berlin, Alfred W. McCoy, geb. 1945 in Massa- Samir Amin Norbert Frei Ian Kershaw Samantha Power studiert Sozialwissenschaften in Ber- chusetts/USA, PhD, Professor für Ge- Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Heribert Prantl lin und Washington D.C. schichte an der University of Wiscon- Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Ulrich K. Preuß sin-Madison/USA. Franziska Augstein Georg Fülberth Dieter Klein Karin Priester Gideon Botsch, geb. 1970 in Berlin, Dr. Uri Avnery James K. Galbraith Naomi Klein Avi Primor phil., Politikwissenschaftler, Leiter der Wolfgang Michal, geb. 1954 in Dachs- Susanne Baer Heinz Galinski Alexander Kluge Tariq Ramadan Forschungsstelle Antisemitismus und bach, Politikwissenschaftler, freier Patrick Bahners Johan Galtung Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann Rechtsextremismus am Moses Men- Autor und Journalist. Egon Bahr Timothy Garton Ash Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma delssohn Zentrum für europäisch-jü- dische Studien in Potsdam. Pankaj Mishra, geb. 1969 in Jhansi/ Etienne Balibar Bettina Gaus Otto Köhler Jens G. Reich Indien, Schriftsteller und Essayist, Walter Kreck Helmut Ridder Rainer Fischbach, geb. 1950 in Reut- Träger des Leipziger Buchpreises zur Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling lingen, IT-Berater und Publizist. Europäischen Verständigung 2014. In den »Blättern« Paul Krugman Romani Rose Adam Krzeminski Rossana Rossandra James K. Galbraith, geb. 1952 in Bos- Craig Murray, geb. 1958 in West Run- schrieben bisher Erich Kuby Werner Rügemer ton/USA, PhD, Professor für Wirt- ton/Großbritannien, Historiker, Buch- Jürgen Kuczynski Irene Runge schaftswissenschaften an der Lyndon autor, ehemaliger britischer Botschaf- Charles A. Kupchan Bertrand Russell B. Johnson School of Public Affairs der ter in Usbekistan. Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto University of Texas. Fritz Bauer Heiner Geißler Oskar Lafontaine Saskia Sassen August Pradetto, geb. 1949 in Graz, Yehuda Bauer Susan George Claus Leggewie Fritz W. Scharpf Grit Genster, geb. 1973 in Cottbus, Dr. phil., Professor em. für Politikwis- Bereichsleiterin Gesundheitspolitik senschaft an der Universität der Bun- Ulrich Beck Sven Giegold Gideon Levy Hermann Scheer beim Bundesvorstand der Vereinten deswehr Hamburg. Seyla Benhabib Peter Glotz Hans Leyendecker Robert Scholl Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Jutta Limbach Karen Schönwälder Ulrich Schneider, geb. 1958 in Ober- Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Birgit Mahnkopf Friedrich Schorlemmer Susanne Götze, geb. 1980 in Berlin, Dr. hausen, Dr. phil., Erziehungswissen- Ernst Bloch André Gorz Peter Marcuse Harald Schumann phil., Historikerin, freie Journalistin. schaftler, Hauptgeschäftsführer des Norberto Bobbio Glenn Greenwald Mohssen Massarrat Gesine Schwan Paritätischen Gesamtverbandes. E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Ingeborg Maus Dieter Senghaas Ulrike Guérot, geb. 1964 in Greven- Thilo Bode Jürgen Habermas Bill McKibben Richard Sennett broich, Dr. phil., Gründerin und Direk- Marcel Serr, geb. 1984 in Ludwigsha- Bärbel Bohley Sebastian Haffner Ulrike Meinhof Vandana Shiva torin des „European Democracy Lab“ fen am Rhein, Historiker und Politik- Heinrich Böll Stuart Hall Manfred Messerschmidt Alfred Sohn-Rethel Berlin, Professorin für Europapolitik wissenschaftler. Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Bascha Mika Kurt Sontheimer und Demokratieforschung an der Do- nau-Universität Krems. Raphaela Tiefenbacher, geb. 1992 in Ulrich Brand Heinrich Hannover Pankaj Mishra Wole Soyinka Innsbruck, Studentin der Rechtswis- Karl D. Bredthauer David Harvey Robert Misik Nicolas Stern Stefan Kissinger, geb. 1951 in Zel- senschaften und Philosophie an der Micha Brumlik Amira Hass Hans Mommsen Joseph Stiglitz la-Mehlis, Politikwissenschaftler und Universität Wien. Nicholas Carr Christoph Hein Wolfgang J. Mommsen Gerhard Stuby Publizist. Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Albrecht Müller Emmanuel Todd Péter Urfi, geb. 1986, Redakteur und Daniela Dahn Detlef Hensche Herfried Münkler Alain Touraine Andreas Knobloch, geb. 1977 in Journalist in Budapest/Ungarn. Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Adolf Muschg Jürgen Trittin Strausberg, Politikwissenschaftler György Dalos Ulrich Herbert Gunnar Myrdal Hans-Jürgen Urban und Journalist, lebt in Havanna/Kuba. Mike Davis Seymour M. Hersh Wolf-Dieter Narr Gore Vidal Alex Demirovic Hermann Hesse Klaus Naumann Immanuel Wallerstein Peter Lange, geb. 1958 in Göppingen, Frank Deppe Rudolf Hickel Antonio Negri Franz Walter Journalist, Korrespondent für die ARD Dan Diner Eric Hobsbawm Oskar Negt Hans-Ulrich Wehler und Deutschlandradio in Prag. Walter Dirks Axel Honneth Kurt Nelhiebel Ernst U. von Weizsäcker Claus Leggewie, geb. 1950 in Wan- Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Oswald v. Nell-Breuning Harald Welzer ne-Eickel, Dr. sc. pol., Carl-Lud- Daniel Ellsberg Walter Jens Rupert Neudeck Charlotte Wiedemann wig-Börne-Professor an der Universität Wolfgang Engler Hans Joas Martin Niemöller Rosemarie Will Gießen, Mitherausgeber der „Blätter“. Hans-M. Enzensberger Tony Judt Bahman Nirumand Naomi Wolf Erhard Eppler Lamya Kaddor Claus Offe Jean Ziegler Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Reinhard Opitz Moshe Zimmermann gelheim am Rhein, Jurist und Politik- Iring Fetscher Petra Kelly Valentino Parlato Moshe Zuckermann wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Joschka Fischer Robert M. W. Kempner Volker Perthes Heiner Flassbeck George F. Kennan William Pfaff ...und viele andere. Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 63. Jahrgang Heft 4/2018

Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Norman Birnbaum . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel Claus Leggewie . Ingeborg Maus Klaus Naumann . Jens Reich Rainer Rilling . Irene Runge Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer

Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin INHALT KOMMENTARE UND BERICHTE 4’18 5 Macron en marche: Tauziehen um Europa Ulrike Guérot

9 Nahles‘ Momentum: Die SPD vor der Erneuerung? Wolfgang Michal

13 Städte ohne Stickstoff: Verbannt die Blechpanzer! Rainer Fischbach und Stefan Kissinger

17 AfD: Im Parlament gegen das Parlament Gideon Botsch

21 Österreich: Hartz IV mit Heimatliebe Raphaela Tiefenbacher

25 Slowakei: Land mit zwei Gesichtern? Peter Lange

29 Kuba nach Castro: REDAKTION Aufbruch in Zeitlupe Anne Britt Arps Andreas Knobloch Daniel Leisegang Albrecht von Lucke Annett Mängel KOLUMNE Steffen Vogel 33 Ungarn: Wahl ohne Aussicht BESTELLSERVICE Péter Urfi Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] AUFGESPIESST

WEBSITE 70 Der Brandstiftungsminister www.blaetter.de Albrecht von Lucke

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

37 Krieg um Syrien: Das neue Great Game Marcel Serr

44 Mit aller Macht: Wladimir Putin zum Vierten August Pradetto

53 Russland unter Anklage: Das Nowitschok-Mysterium Craig Murray

59 Die Opiumfront Afghanistan als schwarzes Loch der Geopolitik Alfred W. McCoy

GroKo oder: Die große Verschleppung

71 Die vergessenen Armen Ulrich Schneider

77 Ein Neustart für die Pflege? Grit Genster

82 Klimapolitik ohne Biss BUCH DES MONATS Susanne Götze 119 Norman Birnbaum: 87 Imperialer Rassismus Der rastlose Pilger Vom Ersten Weltkrieg bis zu Donald Trump James K. Galbraith Pankaj Mishra EXTRAS 101 »Wir werden frei sein!« Schwarzer Widerstand von Martin Luther King 35 Kurzgefasst bis Black Lives Matter 124 Dokumente Inken Behrmann 125 Chronik des Monats Februar 2018 110 Kein Sozialismus ist auch keine Lösung 128 Zurückgeblättert 1968 und der heimatlose Antikapitalismus 128 Impressum und Claus Leggewie Autoren

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Anzeige

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 KOMMENTARE UND BERICHTE

Ulrike Guérot Macron en marche: Tauziehen um Europa

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Steuerung durch einen gemeinsamen Leben“, lautet der wohl berühmteste Minister und eine anspruchsvolle par- Ausspruch von Michail Gorbatschow. lamentarische Kontrolle auf europä- Heute könnte er auf die aktuelle Lage ischer Ebene.“ Dieses Konzept aller- der EU gemünzt sein. Denn mit Blick dings ist weder besonders weitreichend auf Europa ist das tatenlose Abwarten noch radikal, sondern eher alter Wein zu einem Charakteristikum deutscher in neuen Schläuchen. Es entspricht fast Politik geworden. eins zu eins jenen Plänen einer echten Immerhin ist nun, nach monatelan- Wirtschafts- und Währungsunion, die ger Koalitions-Hängepartie, endlich bereits im Juni 2012 von der EU-Kom- etwas Bewegung in die Europapolitik mission vorgelegt, dann im „Fünf-Prä- gekommen. Kaum vereidigt, flog nach sidenten-Bericht“ der EU im Dezem- der Regierungsbildung der neue Au- ber 2012 verabschiedet und schließlich ßenminister nach Paris. im Juni 2015 – vor allem wegen deut- Am Tag danach folgten der neue Fi- scher Obstruktion – nur in sehr abge- nanzminister Olaf Scholz und schließ- schwächter Form neu aufgelegt wur- lich auch die Kanzlerin, um, wie es den. Zentral geht es dabei um die Wei- hieß, die ausgestreckte Hand von Em- terentwicklung der Eurozone und ihrer manuel Macron zu ergreifen. Dieser vier „Bausteine“ zu einer Haushalts-, hatte vor und kurz nach der Bundes- Wirtschafts-, Fiskal- und Politischen tagswahl in zwei vielbeachteten Reden Union. Schon damals fielen die Kern- in Athen und an der Pariser Sorbonne begriffe Eurozonenparlament, Euro- Pläne für eine angeblich weitreichen- zonenbudget und Eurozonen-Finanz- de politische Integration Europas, vor minister. allem der Eurozone, vorgelegt, was so- Im deutschen Diskurs wird all das fort massive Abwehr auf deutscher Sei- stets äußerst verkürzt als Weg in die te hervorrief. „Haftungsgemeinschaft“ oder „Trans- „Ein Staat kann eine Krise nicht al- ferunion“ wiedergegeben. Dabei stand leine durchstehen, wenn er [wie in der beispielsweise der Vorschlag eines Eu- EU] nicht mehr über seine Währungs- rozonenparlamentes selbst in der Rede politik entscheidet. Aus all diesen des damaligen Finanzministers Wolf- Gründen brauchen wir einen stärkeren gang Schäuble, als dieser im Mai 2012 Haushalt im Zentrum Europas, im Zen- den Karlspreis entgegengennahm. trum der Eurozone“, so Macrons zen- Überdies haben die meisten bereits trale Forderung an der Sorbonne. „Dar- vergessen, dass schon nach der Bun- über hinaus müssen wir darüber nach- destagswahl 2013 nur eine Frage die denken, in diesen Haushalt zumindest europäischen Gazetten beherrschte: teilweise eine Steuer einfließen zu las- Was wird Deutschland in Europa ma- sen, zum Beispiel die Körperschafts- chen? Die Antwort bestand eine gan- steuer, sobald ihre Harmonisierung ze Legislaturperiode lang in hartnä- erfolgt ist. Ein Haushalt kann nur ein- ckigem Schweigen. Es wurde also viel hergehen mit einer starken politischen Zeit verloren. Wenn jetzt darüber spe-

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 6 Kommentare und Berichte kuliert wird, ob die Eurozonenreform belegt – obwohl die Forderungen einst nun endlich in die Gänge kommt, dann von Deutschland mitentwickelt und muss zunächst eines festgestellt wer- mitgetragen wurden. Doch wer sie den: Es geht hier nicht etwa um eine heute (noch) vertritt, gilt entweder als neue, überraschende Dynamik, son- „links“ oder verrät „nationale Inter- dern – gerade mit Blick auf Deutsch- essen“. land – um eine Art fahrlässige Kon- Diese auffällige Verschiebung eu- kursverschleppung in Sachen Eurozo- ropapolitischer Positionen findet aber nenreform, die seit mindestens sechs keineswegs nur im deutschen Parteien- Jahren überfällig ist. spektrum statt. Wann immer es um Worin aber liegen die Ursachen und Fragen der Institutionalisierung von Gründe, die in den letzten Jahren zu Solidarität in der Eurozone geht – die einer eindeutigen Verschiebung der sogenannten fiskalischen und monetä- deutschen Europapolitik geführt ha- ren Auffangnetze –, beziehen der nie- ben? Und welche Akteure haben sie derländische Ministerpräsident Mark betrieben? Rutte, aber auch der neue österreichi- Der ausschlaggebendste Grund da- sche Kanzler Sebastian Kurz ähnli- für, warum in der EU seit langem nicht che mehr oder weniger subtile pro-na- mehr die Reformen gemacht werden tionale Positionen. Eigentlich wäre zu – oder gemacht werden können –, die prüfen, ob dies immer noch dem gel- gemacht werden sollten, ist zweifel- tenden Verfassungsauftrag einer ever los der rechtspopulistische Schub, den closer union gerecht wird. Doch ist die- ganz Europa in den vergangenen Jah- se Feststellung längst müßig, denn die ren erfahren hat. So lässt sich beobach- Antwort liegt auf der Hand: natürlich ten, wie aus der von Ex-Kanzler Ger- nicht. hard Schröder 1998 ausgegebenen Pa- role einer „Normalisierung“ deutscher Europapolitik im letzten Jahrzehnt Macron ohne Verbündete bei eine „Nationalisierung“ deutscher Eu- CDU und ÖVP ropapolitik wurde. Dabei muss sich vor allem die CDU Emmanuel Macron, dem man jetzt die fragen lassen, ob sie – jenseits einer Hand reichen möchte, hat es daher be- immer noch europafreundlichen Rhe- reits laut auszusprechen gewagt, dass torik – im Kern noch als Europapartei er in der Europäischen Volkspartei (der bezeichnet werden kann. Bekannt- auch CDU und ÖVP angehören) längst lich lautete eine der letzten Bemerkun- keinen Verbündeten für seine Reform- gen Helmut Kohls mit Blick auf Ange- pläne mehr sieht. Damit aber birgt la Merkel: „Die macht mir mein Europa die Europapolitik auch erhebliches kaputt“. Nun wird Merkel in ihrer aller Potential, zum Zankapfel der neuen Voraussicht nach letzten Amtszeit zu Koalitionäre in Deutschland zu wer- beweisen haben, wie sie mit dem eu- den. Zwar greift der Koalitionsvertrag ropapolitischen Erbe Adenauers und die Macronschen Vorschläge im Kern Kohls umgeht. nicht auf, doch kommt das europapo- Fest steht, dass in den letzten Jahren litische Einführungskapitel durchaus ihrer Regentschaft eine massive anti- vollmundig daher. Dort heißt es: „Wir europäische Verschiebung stattgefun- wollen die EU finanziell stärken, da- den hat. Noch vor wenigen Jahren als mit sie ihre Aufgaben besser wahrneh- vernünftig – und vor allem als politisch men kann.“ In diesem Sinne hat der neutral – geltende institutionelle Re- neue Finanzminister Scholz bereits formvorschläge für die Eurozone wer- erklärt, dass Europa mehr Geld kosten den heute mit politischen Kampfbe- wird, womit durchaus ein Politikwech- griffen wie „Schuldengemeinschaft“ sel hin zu einer offensiveren Europa-

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Kommentare und Berichte 7 politik erkennbar wird.1 Ein Tauzie- dem ein neuer Anlauf für die Reform hen zwischen CDU und SPD, inwieweit der Eurozone genommen wurde, der man Macron entgegenkommen kann, im Juni der Öffentlichkeit vorgestellt scheint insofern vorprogrammiert. Es werden soll – organisierte Macron ei- greift also viel zu kurz, schon von ei- nen länderübergreifenden Marsch auf nem deutsch-französischen Schulter- Brüssel. schluss zu sprechen. Dies lässt all jene aufhorchen, die Der Riss geht allerdings, wie bereits der Überzeugung sind, dass die Euro- angedeutet, nicht nur durch die neue zone politisch untragbar wird, wenn deutsche Regierungskoalition. Längst man sie nicht schnell reformiert. Sie geht es im Kern darum, ob die gesam- muss ökonomische und soziale Erfolge te derzeitige Parteienstruktur in Euro- erzielen, anstatt gerade nur eben am pa unter anderem an der Frage der Eu- Leben erhalten zu werden. Auch in der rozonenreform zerschellen könnte – akademischen Community, unter Poli- und ob Macron es sogar darauf anlegt. tik- wie Wirtschaftswissenschaftlern, In Gesprächen in Brüssel war jeden- werden die Stimmen lauter, wonach falls bereits von einer „Neuordnung Europa „revolutioniert“ werden muss, der Parteiengrenzen“ auf europäischer um es zu erhalten: „Ein neuer politi- Ebene die Rede2 – was die CDU de fac- scher Ansatz würde eine echte euro- to als politischen Angriff wertet.3 päische Exekutive umfassen, die ei- Macron ist in der Tat davon über- nem Parlament der Eurozone demokra- zeugt, dass auch das europäische Par- tisch verantwortlich ist und die Wirt- teiensystem aufgebrochen und Platz schaftspolitik mit Expertise und einem für eine europäische Sammlungsbe- größeren Maß an politischer Autono- wegung geschaffen werden muss, da- mie betreibt. Ein bloßer Kredit aus dem mit es institutionelle Fortschritte in EU-Budget oder ein Schlechtwetter- Europa geben kann, die die Frage der fonds für schwierige Zeiten wären weit Legitimität und der Souveränität euro- davon entfernt, einen solchen Anpas- päischer Entscheidungen neu regeln. sungsmechanismus adäquat finanzie- „Démocratie, unité et souveraineté ren zu können. Das wäre nur mit einem européenne“ (Demokratie, Einheit und echten und beträchtlichen Eurozo- europäische Souveränität) sind die im- nenbudget möglich“, so kürzlich eine mer wiederkehrenden Schlagwörter Gruppe einflussreicher Ökonomen.4 seiner Reden, die damit die Frage der Das aber geht weit über den Koalitions- Parlamentarisierung Europas in den vertrag und sogar über die Kommissi- Mittelpunkt der Debatte stellen. onsvorschläge hinaus. Auch seine Partei La République en Marche ist längst in Brüssel angekom- men und hat dort nicht nur Netzwer- Europäischer Aufbruch oder ke aufgebaut. Vielmehr hält sie Aus- europäische Bigotterie schau, welche Parteien oder Personen sie europaweit für einen großen euro- Auch politisch werden solche Forde- päischen Wurf gewinnen könnte. Das rungen auf europäischer Ebene in- Ziel dabei ist, nach den Europawahlen zwischen aufgegriffen. Am 10. März im Mai 2019 die zweitstärkste Fraktion erfolgte in Neapel die europäische im künftigen Europaparlament zu stel- Parteigründung von DiEM25, hinter len. Zum EU-Gipfel am 24. März – auf der der ehemalige griechische Fi- nanzmister Yanis Varoufakis steht. 1 Vgl. „Süddeutsche Zeitung“, 16.3.2018. Das DiEM25-Manifest spricht von der 2 Jürgen König und Peter Kapern, Paris macht Druck, Brüssel bremst, in: „Deutschland- funk“, 22.2.2018. 4 Blueprint for a democratic renewal of the euro- 3 Vgl. „Der Spiegel“, 12.3.2018. zone, in: „Politico“, 28.2.2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 8 Kommentare und Berichte

Aufgabe, Europa aus seiner „Bigotte- ne Chance auf politische Einflussnah- rie“ herauszuführen. Das „technische“ me in Europa massiv erhöht, ist ein gro- Eurozonenmanagement müsse über- ßer Teil der CDU strikt dagegen. Die wunden und „politisiert“, das heißt Christdemokraten insistieren daher völlig anders legitimiert werden.5 Im auf Spitzenkandidaten, die nur von be- Kern entspricht das dem Ansatz von reits bestehenden europäischen Par- Macron, auch wenn dieser als „sozial- teien nominiert werden können. Die liberaler“ Politiker (wobei einige das Debatte um „Spitzenkandidaten“ ver- „sozial“ bestreiten) ansonsten politisch sus „transnationale Listen“ wird so zu nicht mit DiEM25 übereinstimmt. einem verdeckten deutsch-französi- Interessanterweise nahm Benoît Ha- schen Machtkampf in und um Euro- mon, der letztjährige Präsidentschafts- pa. Wie immer diese politische Ausei- kandidat der französischen Sozialis- nandersetzung auch ausgeht, die gu- ten, am DiEM25-Treffen in Neapel teil. te Nachricht ist: Diese Diskussion ver- Vor allem die europäische Linke grup- läuft längst nicht mehr entlang nati- piert sich um die Frage der Eurozonen- onaler Grenzen, sondern geht mitten reform neu. So könnte es bei der Eu- durch alle Parteien und alle europäi- ropawahl 2019 zu zwei konkurrieren- schen Länder. Die schlechte lautet da- den transnationalen Listen kommen, gegen: Das andere, post-nationale Eu- einer links-progressiven DiEM25-Lis- ropa kann nicht mehr einer klassi- te und einer sozialliberalen europäi- schen deutsch-französischen Zusam- schen Macron-Liste. Für DiEM25 be- menarbeit entspringen – das Tandem steht dabei das größte Problem in der hat damit auch nicht mehr die Kraft, zunehmenden Spaltung der europä- europäische Fortschritte gemeinsam ischen Linken in eine nationale Strö- auf den Weg zu bringen. mung (Corbyn, Mélenchon, Wagen- Die politischen Reflexe in Europa knecht) und eine kosmopolitische Strö- werden sich an diese neue Realität erst mung, deren politischer Platz indes be- gewöhnen müssen. Die Abstimmung grenzt scheint. Macron muss nun ver- im Europäischen Parlament am 7. Fe- suchen, Teile der europäischen Sozial- bruar über den (gescheiterten) Vor- demokratie und der europäischen Grü- schlag, zukünftig mit transnationa- nen sowie den moderat-sozialen Teil len Listen anzutreten, hat eines jeden- der europäischen Liberalen an sich zu falls deutlich gezeigt: Bei dieser Ent- binden. Um die 70 Mitglieder des aktu- scheidung war das Rechts-links-Sche- ellen Europäischen Parlaments soll er ma längst aufgehoben – auch wenn die bereits für seine Pläne gewonnen ha- liberal-grün-links-progressiven Partei- ben. Dabei gilt allerdings: Inhaltliche en in der Mehrheit eher dafür, und die Zustimmung zu Macrons Plänen führt christlich-konservativen bis hin zu den noch lange nicht zwangsläufig auch national-populistischen Parteien eher zum Wechsel des Parteilagers. dagegen waren. Am Ende gab nicht Eines aber steht bereits fest: Die Fra- zuletzt die Mehrheit der CDU-Abge- ge „Wie hältst du es mit Europa?“ hat ordneten den Ausschlag gegen den inzwischen das Potential, zur Zerreiß- Macron-Vorschlag. Wie diese so zum probe für fast jede Partei zu werden, Partner für eine Neugründung Euro- und zwar auf nationaler wie auf eu- pas werden soll, scheint mithin schlei- ropäischer Ebene. Europäischer Auf- erhaft. Wird sie es aber nicht und spal- bruch oder europäische Bigotterie lau- tet sich zeitgleich die europäische tet daher heute die Gretchenfrage. Linke, nützt dies einzig und allein den Und wo Macron auch deshalb trans- Populisten. Denn diese haben eins je- nationale Listen anstrebt, weil das sei- denfalls immer gemeinsam: dass sie von all dem – nämlich von Europa – gar 5 Vgl. www.diem25.org. nichts wollen.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Kommentare und Berichte 9

Wolfgang Michal Nahles‘ Momentum: Die SPD vor der Erneuerung?

Als Peter Glotz 1982 sein Bild vom bände gründeten die „Initiative Neue „schwer beweglichen Tanker SPD“ Soziale Marktwirtschaft“. Gemeinsam in die Welt setzte,1 dachte er nicht im bildeten die drei Konzepte die inhalt- Traum daran, dass der Tanker in nur liche Grundlage für die späteren gro- 35 Jahren zu einem kleinen Lastkahn ßen Koalitionen. Während sich die schrumpfen würde. Tatsächlich hat die SPD der „Neuen Mitte“ zuwandte, pro- SPD ihre Wähler- und Mitgliedschaft pagierte New Labour einen „Dritten inzwischen halbiert und sucht verzwei- Weg“ zwischen rechts und links. Sei- felt nach Wegen, wie sie den Schrump- nen Abschluss fand der Kurswechsel fungsprozess aufhalten könnte. Zwei der SPD dann im Hamburger Grund- strategische Möglichkeiten bieten sich satzprogramm von 2007. Das links-öko- an: Entweder sie setzt ihren jetzigen logische Berliner Programm von 1989 Kurs fort und entwickelt sich zu einer war damit endgültig Geschichte. sozialliberalen Funktionspartei nach Bei der folgenden Bundestagswahl dem Vorbild des italienischen Parti- 2009 verlor die SPD 11,2 Prozentpunk- to Democratico. Oder sie beginnt ihre te. Doch trotz der Finanzkrise setz- Re-Sozialdemokratisierung nach dem te der neue Parteivorsitzende Sigmar Modell der britischen Labour-Partei. Gabriel Schröders Kurs fort. In seiner Antrittsrede gestand er zwar ein: „Un- sere SPD befindet sich in einem katas- Weiter so als Staatspartei? trophalen Zustand“. Nötig sei jetzt „ei- ne richtige Strukturreform“, durch die Der Niedergang der SPD ist nicht zu „wir vor allem wieder Meinungsbil- verstehen ohne die „Wende“ von 1989. dung von unten nach oben schaffen.“ SPD und New Labour betrachteten Doch umgesetzt hat er davon nichts. die Globalisierung, die den Konkur- Auch international blieb der SPD- renzdruck verschärfte, zunehmend Vorsitzende auf neoliberalem Kurs. Als als gottgegeben und formulierten ein Vizepräsident der Sozialistischen Inter- Anpassungs- und Modernisierungs- nationale (SI) zerstritt er sich mit seinen programm für ihre Parteien, das der linken Genossen und gründete 2013, Deregulierung und Flexibilisierung am Vorabend der 150-Jahr-Feier der der Arbeitsmärkte das Wort redete. SPD, in Leipzig die „Progressive Alli- Ihren ersten Höhepunkt fand diese anz“, einen Zusammenschluss gemä- Entwicklung im Schröder-Blair-Papier ßigter sozialdemokratischer Parteien. vom 8. Juni 1999. Nur ein Jahr später Dieser vermied die Bezeichnung „sozi- legte ihr „Konzept ei- alistisch“, weil die US-Demokraten und ner neuen sozialen Marktwirtschaft“ der italienische Partito Democratico vor, das sich am Schröder-Blair-Papier (PD) sonst nicht beigetreten wären. Da- orientierte, und die Arbeitgeberver- mit machte Gabriel die Arbeit des lang- jährigen SI-Präsidenten und SPD-Vor- 1 Peter Glotz, Die Beweglichkeit des Tankers. Die Sozialdemokratie zwischen Staat und neu- sitzenden Willy Brandt zunichte, der en sozialen Bewegungen, Gütersloh 1982. mit den Befreiungsbewegungen der

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Dritten Welt und autokratisch regieren- politik eine Beteiligung an der Macht; den Sozialisten in Asien, Lateinameri- in der Weimarer Republik bevorzugte ka und Afrika ins Gespräch kommen sie das Zentrum und die Liberalen als wollte. Brandt hatte bei seinem Amts- Partner; in der Bundesrepublik führte antritt 1976 angekündigt, den alten ihr Aufstieg über eine große Koalition Eurozentrismus der SI aufzugeben und in der Europapolitik sucht sie den und die Organisation zu einem globa- Halt stets bei der Union. len Netzwerk mit weltweitem Einfluss Zuverlässig sorgt der rechte Flü- zu entwickeln. Entsetzt über Gabriels gel dafür, dass sich die Linken nicht Rückzug äußerte SI-Präsident Giorgios durchsetzen und die Konservativen Papandreou: „Es ist bedauerlich, dass nicht abdriften. „Das Schlimmste ver- die Führung unserer deutschen Mit- hindern“, heißt ihr uneingestandenes glieder die weltweite Bewegung pro- Programm. Für diese Passivstrategie gressiver Kräfte spalten will, statt sie zu zollt man der Partei viel Lob, man be- vereinen und zu stärken.“ wundert ihre staatspolitische Verant- Ähnlich agierte die SPD-Führung wortung – und genau das könnte er- im Europaparlament, wo sich die sozia- neut die Aufgabe der SPD werden: listische Fraktion 2009 in „Progressi- das Funktionieren der Politik zu ge- ve Allianz der Sozialdemokraten“ um- währleisten. Wie die italienische PD benannte, auch hier, um soziallibera- könnte sie den unterschiedlichen La- le Parteien aufnehmen zu können. Im gern zur Regierung verhelfen. Sie wä- französischen Präsidentschaftswahl- re nicht für sich, sie wäre für den Staat kampf unterstützte Gabriel Emmanuel da. Als Mittler- und Mitte-Partei wür- Macron, in dessen Bewegung „En de sie sich um die Aufrechterhaltung Marche“ auch Liberale, Grüne und des inneren Friedens und einen rei- Konservative vertreten sind. Den Kan- bungslosen Wirtschaftsprozess küm- didaten der sozialistischen Schwester- mern, während sich ihre Konkurrenten partei, Benoît Hamon, ignorierte er. In – die AfD, die Grünen und die Linken Italien setzte Gabriel auf den ehema- – als neue „Bewegungsparteien“ profi- ligen Christdemokraten Matteo Ren- lieren und jene Räume politisch beset- zi, dessen Partito Democratico (PD) von zen, die von der gemäßigten Staatspar- Ex-Kommunisten und Ex-Christdemo- tei SPD aufgegeben werden. kraten gebildet wurde. Statt zum ameri- kanischen „Sozialisten“ Bernie Sanders suchte er den Kontakt zum liberalen ka- Wie Bewegung in die Partei kommt nadischen Premier Justin Trudeau, in der Debatte um Rot-Rot-Grün zeigte er Aus Verzweiflung über den „selbstmör- sich als Anhänger einer Ampelkoalition derischen Kurs“ und die fortschreitende aus SPD, Liberalen und Grünen, und zu Verkleinerung des Tankers SPD propa- den jüngsten Parteitagen lud er weder gieren linke Sozialdemokraten und be- den französischen Sozialisten Jean-Luc sorgte Linke, die alte Partei müsse wie- Mélenchon noch den Labour-Vorsitzen- der Bewegung werden – wie die Arbei- den Jeremy Corbyn ein. terbewegung von einst. Als Vorbilder Der liberale Kurs der Sozialdemokra- dienen jene „populistischen“ Samm- ten ist nicht ungewöhnlich. Von Anfang lungsbewegungen Westeuropas, die es an bevorzugte der gemäßigte rechte durch Protest, internetbasierte Vernet- Flügel der SPD Koalitionen mit bürger- zung und unkonventionelle Formen der lichen Parteien. Lassalles Allgemeiner Beteiligung innerhalb weniger Jahre Deutscher Arbeiterverein setzte – an- geschafft haben, zu 10-, 20- oder gar ders als Bebel – auf ein Bündnis mit Bis- 30-Prozent-Parteien aufzusteigen: von marck. Im Ersten Weltkrieg erhoffte Syriza in Griechenland bis Podemos in sich die SPD durch ihre Burgfrieden- Spanien, von der 5-Sterne-Bewegung

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Kommentare und Berichte 11 in Italien bis zu La France Insoumise in der SPD, verfassten „ein visionäres Frankreich – ideologisch ungefestigt, Parteiprogramm“, in dem die Erwerbs- ohne allzu große Berührungsängste arbeit keine tragende Rolle mehr spielt gegenüber rechtem Gedankengut, ge- und das bedingungslose Grundein- prägt von Chantal Mouffes postmarxis- kommen gefordert wird. Und nicht zu- tischem Konzept eines unbefangenen letzt schuf der Dortmunder - linken Populismus. sabgeordnete Marco Bülow eine „Pro- Die Europawahl im Mai 2019 könnte gressive Soziale Plattform“, die von für die Ausbreitung solcher Bewegun- Altlinken wie Heiner Flassbeck, Herta gen zum Kristallisationspunkt wer- Däubler-Gmelin, Michael Müller und den. Macrons „La République en Mar- zahlreichen Sympathisanten unter- che“ sammelt bereits Stützpunkte und stützt wird. Alle diese Initiativen kön- Arbeitsgruppen in ganz Europa. 2019 nen aber bestenfalls die Voraussetzun- will er eine eigene „Fraktion progres- gen schaffen, dass eine attraktive SPD siver Kräfte“ im EU-Parlament instal- in der Lage ist, den Ansturm einer Be- lieren und das bisherige Parteienge- wegung zu integrieren. Wie das orga- füge sprengen. 70 EU-Abgeordnete, nisatorisch zu bewältigen ist, hat die darunter Liberale, Grüne, Sozial- und britische Labour-Partei vorgemacht. Christdemokraten hätten ihre Bereit- schaft zur Unterstützung schon bekun- det. La République En Marche erlaubt Vorbild Labour Doppelmitgliedschaften, erhebt keine Beiträge und verlangt von Kandidaten Die Verwandlung von Labour in eine keine Ochsentour. Neulinge sind will- Massenbewegung begann mit dem kommen, sie sind leichter zu lenken. Widerstand gegen Tony Blair und be- Macron verspricht, die europäische schränkte sich anfangs auf kluge Pa- Politik mit Hilfe transnationaler Listen piere, die von Labour-Thinktanks wie zu erneuern. 2024 will er am Ziel sein. der Compass-Gruppe verfasst wurden. Der Gärprozess in den deutschen Dann weitete sich der Unmut auf die Parteien hat gerade erst begonnen. Die Fraktion aus. Doch der Wille, den unbe- Jusos haben mit ihrer NoGroko-Kam- weglichen Tanker Labour zu reformie- pagne bewiesen, dass Willensbil- ren, griff erst, als die Partei schon vier dungsprozesse von unten nach oben Fünftel ihrer Mitglieder verloren hatte. gelingen, wenn Mut und Ausdauer In seiner Verzweiflung setzte der vorhanden sind. Auf viele Parteimit- neue Parteivorsitzende Ed Miliband ei- glieder wirkte das wie eine Befreiung. ne Kommission ein, die Vorschläge er- Zwar wurde die Spontankandidatur arbeiten sollte, wie aus der kaputten der Flensburger Bürgermeisterin Si- Partei wieder eine lebendige Bewegung mone Lange für die Wahl zum Partei- werden könnte. Als Ray Collins im Feb- vorsitz am 22. April belächelt, aber ihre ruar 2014 seinen Report vorlegte, wuss- Protestaktion wirkte als Katalysator für te die Partei, wie es geht: Eine Satzungs- andere. Im Bundestag formierte sich änderung genügte. Künftig sollten nicht ein Gruppe von zwölf Jungparlamen- mehr Gewerkschaftsbosse und ein paar tariern um die Bielefelder Abgeordne- Strippenzieher in der Labour-Fraktion te Wiebke Esdar, die den Anspruch er- den Parteivorsitz bestimmen, sondern hebt, die SPD als linke Volkspartei zu alle Mitglieder und alle Sympathisan- reanimieren. „Wir wollen, können und ten, die sich als Labour-Unterstützer re- werden diesen Anspruch weder ande- gistrieren ließen. Jon Cruddas gehör- ren Parteien noch irgendeiner Bewe- te zu den 36 Abgeordneten, die Jeremy gung überlassen.“ Jonas Freist-Held Corbyn daraufhin ins Rennen schick- und Maximilian Krahé, zwei Studen- ten. Viele glaubten, er sei nur ein Zähl- ten aus dem Pariser Freundeskreises kandidat, doch dann schwappte eine

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Bewegung von 400 000 neuen Unter- tionellen Arbeitnehmern hat das Ver- stützern in die Partei und Corbyn sieg- trauen in New Labour und die SPD als te zwei Mal hintereinander gegen das historische Verfechter ihrer Interessen Partei-Establishment. Und bei den Un- verloren. [...] Viele enthalten sich der terhauswahlen im Juni 2017 erreichte er Stimme und eine Minderheit identifi- sensationelle 40 Prozent. ziert sich mit anderen Parteien, die be- Verantwortlich für Labours Stim- haupten, ihre Interessen zu vertreten, menzuwachs war neben der Satzungs- wie ‚Die Linke’ in Deutschland und, änderung ein schlagkräftiges, etwa noch beunruhigender, die faschisti- 25 000 Mitglieder umfassendes Un- sche Partei BNP in Großbritannien. Die terstützernetzwerk namens Momen- Institutionen und kulturellen Einrich- tum, das von Bernie Sanders’ Wahl- tungen der Arbeiterklasse, auf die sich kampfteam geschult wurde und einen Labour und die SPD im zwanzigsten gezielten Haustürwahlkampf mit ei- Jahrhundert stützen konnten, sind in- ner emotionalen Kampagne in den so- zwischen entweder ganz von der Bild- zialen Medien verband. Da die Partei fläche verschwunden oder haben ihre mit Corbyn über einen integren Kan- soziale Vitalität verloren. Sie haben die didaten verfügte, war es leicht, seine strukturellen Veränderungen, die sich Kampagne über Bürgerinitiativen und in den Gesellschaften Europas vollzo- Graswurzelbewegungen in die Ge- gen, falsch gedeutet. [...] Die Politik des sellschaft zu tragen. Corbyn wurde zur „Dritten Weges“ konnte eine Spaltung Ikone einer Bewegung. Sein Name er- der Gesellschaften nicht verhindern.“2 klang als Schlachtruf auf Festivals, in Diese vernichtende Analyse des Fußballstadien und vor den Pubs. Er Schröder-Gabriel-Kurses lässt eine schaffte es, eine bunte Koalition aus glaubwürdige Re-Sozialdemokrati- jungen Leuten, Old Labour, Intellek- sierung der SPD durch die designierte tuellen, Gewerkschaftern und Rand- Vorsitzende erwarten. gruppen hinter sich zu versammeln. Anders als Gabriel arbeitet Nahles im Zu seiner Wahlkampftruppe zählte Team und ist von einem Netzwerk lo- auch Steve Hudson, der die Juso-Kam- yaler Mitarbeiter und Freunde aus ih- pagne gegen die GroKo mit anführte rer Juso-Zeit umgeben. Sie ist sich auch und Marco Bülows Progressive Platt- bewusst, dass ein abrupter Linksruck form unterstützt. Ein anderer Corbyn- die Partei zerlegen würde. Deshalb ista, der oben erwähnte Labour-Abge- versucht sie, die Parlamentarische Lin- ordnete Jon Cruddas, schrieb 2009 ge- ke, aus der sie kommt, mit den zentris- meinsam mit der damaligen SPD-Ge- tischen Netzwerkern zu verbinden, um neralsekretärin Andrea Nahles ein den Einfluss der rechten Seeheimer zu- Anti-Schröder-Blair-Papier, das mit rückzudrängen. Es wird vom Stehver- der Politik von New Labour und dem mögen der Netzwerker abhängen, ob Konzept der Neuen Mitte abrechne- Nahles die organisatorischen Voraus- te. Anders als Gabriel erkannten Nah- setzungen für eine SPD-Erneuerung les und Cruddas die Finanzkrise als nach Labour-Vorbild schaffen kann. Zäsur und verlangten eine Neuaus- Fest steht bei alledem auch: Aus sich richtung der sozialdemokratischen Po- selbst heraus ist die Partei nicht mehr litik: „Die Wahlerfolge des ‚Dritten We- erneuerbar. Sie braucht den Input ei- ges’ und der ‚Neuen Mitte’“, schrie- ner Bewegung, die mindestens 200 000 ben sie, „waren mit Kompromissen und Neumitglieder in die Partei schwemmt. Einschränkungen verbunden. Weder Nur dann wird die SPD eine Zukunft New Labour noch die SPD waren im- haben. stande, dauerhafte Koalitionen für ei- 2 Andrea Nahles und Jon Cruddas, Die gute nen transformativen Wandel einzu- Gesellschaft. Das Projekt der demokratischen gehen. [...] Eine große Zahl von tradi- Linken, Wien 2009.

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Rainer Fischbach und Stefan Kissinger Städte ohne Stickstoff: Verbannt die Blechpanzer!

Als Union und SPD am 12. März in Als Argument für den Dieselmotor Berlin feierlich den Koalitionsvertrag führten die Befürworter dessen höhe- unterzeichneten, versprach Bundes- ren Wirkungsgrad im Vergleich zum kanzlerin Angela Merkel, das neue Benziner an. Mit dieser Begründung Regierungsbündnis werde „mutig und wurde der Diesel in Europa von der In- entschlossen die Zukunft gestalten“. dustrie bevorzugt und von der Bundes- Ob die Regierung dieses Versprechen regierung durch Steuernachlass mas- erfüllt, bleibt abzuwarten. Eine erste siv gefördert – trotz der Nachteile in Gelegenheit, Entschlossenheit zu be- Gestalt deutlich höherer Emissionen weisen, bietet die kräftige Watsche, die von Feinstaub und NOx. Letztere re- die Regierung nur wenige Tage zuvor sultieren aus den höheren Brenn- erhielt. temperaturen, die den besseren Wir- Am 27. Februar entschied das Bun- kungsgrad des Diesels ermöglichen. desverwaltungsgericht, dass Städte Dabei unterließ es die Regierung, grundsätzlich Verbote für Dieselfahr- die mögliche, doch von den Herstel- zeuge erlassen können. Die Entschei- lern als zu teuer befundene Abgasrei- dung hat eine lange Vorgeschichte: nigung vorzuschreiben. Bei alledem Über Jahre ignorierten die verschiede- hat der Diesel nicht einmal sein Effi- nen Bundesregierungen europäische zienzversprechen gehalten – nicht zu- Grenzwerte für Luftverschmutzung – letzt aufgrund eines klassischen Re- und damit ihre Verantwortung, die Ge- bound-Effekts: Da die Motoren spar- sundheit der Bürger zu schützen. Statt- samer wurden, packten die Hersteller dessen galt ihre Sorge stets dem Ge- kurzerhand mehr PS in die zunehmend schäftsinteresse der Automobilindus- größeren und schwereren Autos. Der trie, übergewichtige und übermotori- gewaltige SUV-Boom der vergangenen sierte Fahrzeuge zu verkaufen. Jahre legt Zeugnis davon ab. Regierung und Industrie hatten wohl angenommen, sie würden sich damit schon durchmogeln können – Kommunen vor unlösbaren bis unabhängige Umweltverbände, die Aufgaben US-Umweltbehörden, die EU-Kommis- sion und schließlich auch ein deutsches Den Schaden dieser Entwicklung erlei- Bundesgericht dem einen Riegel vor- den nicht nur die Käufer falsch zertifi- schoben. Der Offenbarungseid ist je- zierter Wagen, sondern vor allem auch doch nicht nur mit Blick auf Stickoxide jene Teile der Bevölkerung, die infolge (NOx) und Feinstaub, sondern auch mit der Emissionen gesundheitliche Schä- Blick auf CO2 zu leisten: Hier haben den erleiden oder sogar zu Tode kom- die großen Koalitionen der letzten Jah- men, sowie die Krankenversicherten, re, nicht zuletzt infolge eines expan- die durch ihre Beiträge für die nötigen dierenden motorisierten Individual- Behandlungen aufkommen müssen. verkehrs, sogar die selbst gesteckten Die offenkundig handlungsunwilli- Ziele verfehlt. ge Bundesregierung will das Problem

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 14 Kommentare und Berichte nun ausgerechnet auf ebenjene Ebene Für eine schier unlösbare Aufgabe verschieben, die über die geringsten hält das auch der Deutsche Städtetag Ressourcen dazu verfügt: die der Kom- – es sei denn, man installiere ein elek- munen. tronisches Überwachungssystem, was Sie sollen künftig die Luftbelastung er nicht befürwortet. Denn in diesem durch selektive Fahrverbote vermin- müssten alle Kennzeichen erfasst wer- dern. Dabei ist noch nicht einmal klar, den, damit die Kommunen dann an- für welche Fahrzeugtypen diese genau hand des in einer Datenbank hinterleg- gelten sollen: Würden Verbote nur Au- ten Typs bzw. der eventuell geltenden tos bis zur Euronorm 4 betreffen oder Ausnahmerechte automatisch ermit- auch solche, die mit Euro 5 zugelassen teln können, ob das betreffende Fahr- sind? Zudem stoßen letztere nur nomi- zeug passieren darf oder nicht. Ein sol- nell weniger, real sogar mehr NOx aus ches System wäre indes wohl kaum zu als die nach der älteren Norm zertifi- begrüßen: Abgesehen von der reinen zierten. Und selbst die nach Euro 6 zu- Kostenfrage wäre damit ein weiterer gelassenen Fahrzeuge übertreffen im- Schritt zur Totalüberwachung getan. mer noch den Normwert um mehr als Und selbst dann würden Fahrverbote das Fünffache.1 Es spricht also viel da- eine bloß begrenzte Wirksamkeit ent- für, alle Dieselfahrzeuge gleicherma- falten, weil die entsprechenden Buß- ßen mit einem Bann zu belegen – zu- gelder bislang noch lächerlich niedrig mal die nach den neueren Normen ausfallen: Derzeit liegen sie bei 25 Euro. Euro 5/6 zugelassenen wesentlich zahlreicher sind als die älteren Modelle (12 Mio. gegenüber 5,5 Mio.). Eine Erfolgsmodell kostenloser ÖPNV? eventuelle Klage von Besitzern der älteren Fahrzeuge hat deshalb große Absehbar ist daher bereits jetzt, dass Erfolgsaussichten. Fahrverbote derzeit – außer zusätzli- Offen ist zudem, wie die Fahrverbote che Kosten – wenig bringen würden. durchgesetzt werden sollen. Das Um- Ohnehin würden Fahrverbotszonen weltbundesamt schlug Anfang März nur Sinn haben, wenn es überzeu- die Einführung einer blauen Plakette gende Alternativen zur Nutzung des vor, verbunden mit der Ausweisung privaten PKW gäbe. Doch gerade hier großzügiger zusammenhängender Ver- zeigen sich die schwerwiegenden Ver- botszonen, nicht etwa nur einzelner säumnisse der deutschen Verkehrs- Straßen. Ansonsten steigt die Gefahr, politik. Über Jahre hat sie hingenom- dass der Schadstoffausstoß durch län- men, dass die europäischen Normen gere Ausweichrouten eher noch zu- zur Luftreinhaltung verletzt werden. nimmt. Die Polizeigewerkschaften zei- Um nun einer Klage der EU-Kommis- gen sich allerdings skeptisch: Die Per- sion zu entgehen, schlug die Bundesre- sonaldecke sei viel zu knapp, um Ver- gierung vor, in einigen ausgewählten stöße gegen Fahrverbote systematisch deutschen Städten einen kostenlosen verfolgen zu können.2 Somit würde öffentlichen Nahverkehr einzuführen auch dieser Aspekt des Problems bei – als Testlauf für die gesamte Repub- den Kommunen geparkt, um deren lik. Dieser unausgegorene Vorschlag Personal- und Finanzdecke es kaum verfolgt jedoch vor allem taktische Ab- besser bestellt ist. sichten.3 So ist bereits die Annahme unbe- 1 Emil Nefzger, Warum Fahrverbote auch für gründet, allein der Wegfall des Fahr- neuere Diesel sinnvoll wären, www.spiegel. preises werde die bisherigen Pkw- de, 6.3.2018. 2 Nikolaus Doll und Philipp Vetter, Polizeige- 3 Vgl. auch Stefan Kissinger und Rainer Fisch- werkschaften halten Fahrverbote für nicht bach, Freier ÖPNV – mehr als eine Ablenkungs- durchsetzbar, in: „Die Welt“, 17.2.2018. offensive?, www.makroskop.eu, 20.2.2018.

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Nutzer in großen Zahlen zum Umstieg herkömmliche Unterscheidung zwi- auf den öffentlichen Verkehr motivie- schen Nah-, Regional- und Fernver- ren. Denn die marginale Ersparnis, die kehr nicht länger sinnvoll ist. So gehö- ein kostenfreier Nahverkehr mit sich ren alle Städte, die die Bundesregie- brächte, würde nicht dazu führen, das rung als Kandidaten für mögliche Pilot- Auto als das primäre und für viele kom- projekte zum kostenlosen öffentlichen fortablere Verkehrsmittel abzulösen. Nahverkehr nennt – Bonn, Essen, Her- Um diese Ratio zu erschüttern, sind renberg (Baden-Württemberg), Reut- vielmehr politische Maßnahmen ent- lingen und Mannheim –, solchen Re- lang zweier, sich ergänzender Linien gionen an. Ein hoher Anteil des dorti- erforderlich. Erstens müsste das Auto- gen Verkehrs überschreitet daher das mobil aus dem Stadtraum zurückge- jeweils abgedeckte Gebiet. Das Klein- drängt werden, der längst zum Bewe- städtchen Herrenberg beispielswei- gungs- und Abstellraum für Fahrzeuge se ist fester Bestandteil der Großregion degeneriert ist. Dann können sich die Stuttgart, und auch die Großstadt Es- vom Blechpanzer befreiten Menschen sen ist in Wirklichkeit nur ein Teil der diesen Raum wieder aneignen. Zwei- Megastadt Rhein-Ruhr mit insgesamt tens muss der Ausbau eines integrier- rund sieben Millionen Einwohnern. ten öffentlichen Verkehrs im Rahmen Ein kostenfreier öffentlicher Ver- einer umfassenden Stadtplanung erfol- kehr kann somit nur dann zum Er- gen. Dieser müsste mit Linienführung folg werden, wenn er sich auf zusam- und Frequenz den heutigen Verkehrs- menhängende Metropolenräume er- strömen gerecht werden und, nicht zu- streckt. Außerdem muss begleitend letzt, gut sichtbar sowie bequem er- dazu die Infrastruktur so ausgebaut reichbar jene Räume erschließen, in werden, dass sie einem steigenden Be- denen sich die Bevölkerung aufhält darf gerecht werden kann. Das wird und bewegt. massive Investitionen erfordern und Die Kostenfreiheit wird daher vor- einen Glaubensartikel auch der neu- aussichtlich – wenn überhaupt – nur je- en großen Koalition in Frage stellen: ne Bürgerinnen und Bürger locken, die die schwarze Null. Denn damit die In- kein Auto besitzen: Menschen mit ge- frastruktur jene zu erwartenden Ver- ringem Einkommen, die sich den Fahr- kehrsströme bewältigen kann, wä- preis bisher kaum leisten konnten, und re ein Investitionsprogramm von rund Touristen, die ohne Auto unterwegs 250 Mrd. Euro über einen Zeitraum von sind. Doch schon diese geringfügige zehn Jahren erforderlich. Das entsprä- Zunahme wird in manchen Städten ei- che bei einer schrittweisen Steigerung ne weitere Schranke aufzeigen, an der jährlich 0,5 bis 1 Prozent des Bruttoin- das Konzept scheitert: Zu bestimm- landprodukts. Makroökonomisch wäre ten Zeiten erreicht der öffentliche Ver- ein solches Programm sinnvoll, es dürf- kehr dort jetzt schon eine Kapazitäts- te jedoch neben den politischen Wider- grenze. Die Situation in Metropolen ständen auf zwei weitere Hindernisse wie München – die nicht nur unter der stoßen: zum einen die begrenzten Fer- Verkehrslast ersticken, sondern in de- tigungskapazitäten der Industrie und nen die exorbitant hohen Mieten einen zum anderen die nach jahrzehntelan- wachsenden Teil der Lohneinkommen gem Kaputtsparen kaum noch vorhan- auffressen – erfordert zudem eine poli- dene Planungsfähigkeit der öffentli- tische Antwort auf die extreme Polari- chen Hand. sierung der Siedlungsräume. Da kann auch das Versprechen der Überdies müssen Konzepte für den nächsten technologischen Wunder öffentlichen Verkehr davon ausgehen, nicht helfen: die Elektromobilität und dass wir es heute mit vernetzten Metro- das sogenannte autonome Fahren. polregionen zu tun haben, in denen die Deren, voraussichtlich nur partielle,

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Durchsetzung wird Jahrzehnte in An- geführt werden. Ein solches wäre – spruch nehmen und die Verkehrspro- nicht nur bezüglich NOx – ungleich bleme nicht lösen. Zudem ist der elek- wirksamer als selektive Fahrverbote; trische Antrieb, auch bezüglich des es ließe sich zudem einfacher durchset- Lebenszyklusverbrauchs an Ener- zen und würde niemanden diskrimi- gie, höchst ressourcenintensiv. Er ver- nieren. Ausnahmen mit 50 km/h dürf- schiebt Emissionen leidiglich, anstatt ten nur für wenige Straßenachsen gel- sie zu eliminieren, und ist von einer ten. Verstärken ließe sich die Wirkung Infrastruktur zur Erzeugung und Ver- des Tempolimits, zweitens, durch eine teilung von Strom abhängig, die noch Gewichtsbegrenzung von 1400 Kilo- nicht einmal in Ansätzen existiert. gramm pro Pkw in den Innenstädten. Ähnliches gilt für das autonome Drittens würde eine restriktive Park- Fahren, das alles andere ist als auto- raumbewirtschaftung mit hohen Ge- nom: Noch ist es ein weiter, mit vielen bühren den innerstädtischen Verkehr Hindernissen übersäter Weg von den – reduzieren. Und generell sollten Pkw, meist unter Idealbedingungen durch- viertens, in Wohngebieten aus dem öf- geführten – Pilotprojekten bis zum fentlichen Raum entfernt und in „Ver- Ausrollen eines flächendeckenden kehrshäusern“ untergebracht werden, Systems mit einer entsprechenden In- die Anschluss an den ÖPNV, Car-Sha- frastruktur, die die hohen Verfügbar- ring und Fahrradverleih bieten. Dazu keitsanforderungen erfüllen kann.4 müsste, fünftens, der ÖPNV ausgebaut werden. Insbesondere das Trambahn- netz gilt es zu erweitern, gleichzeitig Eine zukunftsorientierte müssten die Verkehrstakte vor allem Verkehrspolitik durch Automatisierung erhöht werden (bei der Bahn ist fahrerloses Fahren be- Die Untauglichkeit der derzeit disku- reits Stand der Technik). Auch sollten tierten verkehrspolitischen Alterna- Verbrennungsmotoren bei den verblei- tiven ist somit offensichtlich. Zudem benden Bussen durch alternative An- stehen nach dem Urteil des Bundes- triebe ersetzt werden. Zudem müss- verwaltungsgerichts den betroffenen ten die Fahrpreise reduziert und soll- Fahrzeughaltern massive Verluste ins te perspektivisch der Nulltarif einge- Haus. Die Hersteller zur Nachbesse- führt werden. Auch beim Lieferverkehr rung auf ihre Kosten zu verpflichten, ist, sechstens, der Verbrennungsmotor ist daher dringend geboten. Eine zu- durch alternative Antriebe zu ersetzen. kunftsorientierte Verkehrspolitik darf Siebtens muss der öffentliche Raum zu- sich darüber hinaus nicht damit be- gunsten von Fußgängern und Radfah- gnügen, nur die Luftqualität ein biss- rern umgebaut und müssen unversie- chen weniger schlecht zu machen. Fol- gelte Flächen begrünt werden. Schließ- gende acht Punkte sind demgegenüber lich ist, achtens, auch der öffentliche entscheidend, um perspektivisch die Regional- und Fernverkehr auszubau- Umweltqualität wesentlich zu verbes- en und ein erleichterter Übergang zum sern und den Verbrauch natürlicher Nahverkehr zu schaffen. Ressourcen um eine Größenordnung Ein solcher umfassender Plan ver- zu vermindern. meidet die größtenteils wirkungslo- Erstens sollte umgehend ein inner- sen Fahrverbote, die mit großem Auf- örtliches Tempolimit von 30 km/h ein- wand und kaum vermeidbaren Unge- rechtigkeiten verbunden wären. Vor 4 Ohnehin bleibt fraglich, ob das überhaupt ein allem aber kann er sofort angegangen sinnvolles Ziel ist: Vgl. dazu Rainer Fischbach werden. Die neue Bundesregierung und Stefan Kissinger, Die Zukunft des Ver- kehrs: Smart, elektro-digital oder klug?, www. müsste nur „mutig und entschlossen“ makroskop.eu, 12., 16., 19. und 26.1.2018. handeln.

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Gideon Botsch AfD: Im Parlament gegen das Parlament

Die Verfassungsschutzämter von Bund ist zwar Ausdruck der Radikalisie- und Ländern diskutieren derzeit kon- rung der Partei. Sie steht aber auch in trovers darüber, ob die Alternative für einer Linie mit Gaulands Eröffnungs- Deutschland (AfD) oder einzelne Strö- rede als Alterspräsident des Branden- mungen und Gliederungen der Partei burgischen Landtags Anfang Oktober wegen verfassungsfeindlicher Bestre- 2014, die seinerzeit als „intelligente bungen beobachtet werden müssen. demokratietheoretische Abhandlung“ Bereits 2017 hätten mehrere Länder wahrgenommen wurde, tatsächlich den Präsidenten des Bundesamtes, aber von pluralismusfeindlichem Ge- Hans-Georg Maaßen, „mehrfach er- dankengut geprägt war.2 folglos gebeten […], einer Material- Im Bundestag fällt die AfD-Fraktion sammlung zuzustimmen“.1 Zwar gibt bislang, wie bereits zuvor in den Land- es gute Gründe, die Beobachtungstä- tagen, vor allem mit kalkulierten Pro- tigkeit des Verfassungsschutzes grund- vokationen und medienwirksamen In- sätzlich zu kritisieren. Doch bei der ge- szenierungen auf.3 Auf diesen Kurs hat genwärtigen Praxis ist die Nichtbeob- sie sich auf ihrem Bundesparteitag An- achtung der AfD nicht nur ein Freibrief fang Dezember 2017 in Hannover ver- für deren Funktionäre und Anhänger, ständigt. Bei derselben Gelegenheit sondern bedeutet objektiv auch eine machten die Delegierten deutlich, dass Diskriminierung all jener politischen Positionen wie die des Berliner Lan- Kräfte, die beobachtet werden. desvorsitzenden Georg Pazderski, der Ganz unabhängig davon bedarf es die AfD mittelfristig koalitionsfähig einer Diskussion um die Einschätzung machen wollte, in der Partei nicht mehr der AfD. Auch Vertreter der demokra- mehrheitsfähig sind. tischen Parteien, zivilgesellschaftliche Für konstruktive parlamentarische Initiativen und weite Teile der Medien Oppositionsarbeit ist die AfD offen- haben sich dem bislang nicht hinrei- kundig nicht zu haben. Sie ist im Kern chend gestellt. Aus taktischen Rück- eine antiparlamentarische Partei, die sichtnahmen soll offenkundig vermie- die Grundlagen der bundesdeutschen den werden, Wähler zu stigmatisieren Demokratie zerstören will. Daher ist – auch aus der Angst heraus, die AfD sie auch weder daran interessiert noch könne sich als Opfer der „etablierten dazu geeignet, innerhalb des Rahmens Parteien“ stilisieren (was sie aber oh- des politischen Systems eine Reprä- nehin tut und tun wird). sentationslücke am rechten Rand zu Doch die Kampfansage kommt von schließen. der AfD: Im Januar erklärte Alexan- Betrachtet man die Entwicklung der der Gauland vor laufenden Kameras: AfD in den bald fünf Jahren seit ihrer „Wenn man Krieg haben will in diesem Gründung, so entsteht der Eindruck, Bundestag, dann kann man auch Krieg als würde sie sich wie eine Kugel auf haben.“ Diese Bürgerkriegsrhetorik 2 Vgl. Alexander Fröhlich, Gaulands Volonté 1 Vgl. Jörg Köpke, Geheimdienstchefs hal- générale, in: „Potsdamer Neueste Nachrich- ten AfD für gefährlich, www.rnd-news.de, ten“, 9.10.2014. 7.3.2018; Markus Decker, Die AfD im Visier, in: 3 Vgl. Evelyn Roll, Aufgepasst, in: „Süddeutsche „Berliner Zeitung“, 8.3.2018. Zeitung“, 16.1.2017.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 18 Kommentare und Berichte einer schiefen Ebene in immer schnel- fen rechtsextremen „Flügel“ um den lerer Fahrt nach rechts unten bewe- thüringischen Landeschef Björn Hö- gen. Im Jahr 2013 begann sie als eine cke ein. Für die Wahl Meuthens als ei- Rechtsabspaltung der Unionsparteien, nem von zwei Bundesvorsitzenden im die ein bürgerliches und seriöses Er- Dezember 2017 ist seine enge Koopera- scheinungsbild wahren wollte. Jedoch tion mit dem Ko-Vorsitzenden Alexan- mobilisierte sie schon zu Beginn die der Gauland vermutlich noch bedeu- Wähler verschiedener Rechtsaußen- tender. Gauland, die wichtigste Inte- parteien und integrierte Kräfte der äu- grationsfigur für die Gesamtpartei, ßersten Rechten, darunter auch mehr wurde in der Öffentlichkeit lange als oder weniger offene Rechtsextremis- persönlich integrer, konservativer In- ten. Geschickt vermied sie zunächst ei- tellektueller wahrgenommen, obwohl ne zu starke öffentliche Wahrnehmbar- er von Anfang an für den Rechtsaußen- keit dieser Positionen und Personen. flügel stand. Seit seiner Eröffnungs- rede im Brandenburgischen Land- tag versäumte er kaum eine Möglich- Kurs auf Fundamentalopposition keit, eine „fundamentaloppositionelle“ Strategie der AfD einzufordern.5 In ei- Frühe Wahlerfolge in drei ostdeut- ne Regierungskoalition würde die Par- schen Bundesländern bestärkten den tei unter Gauland allenfalls als stärkste populistischen Rechtsaußenkurs. Die Kraft eintreten, damit sie selbst die Be- AfD positionierte sich daraufhin ver- dingungen diktieren kann. stärkt als parteipolitischer Arm einer Gerade an Gaulands öffentlichen radikalnationalistischen und rassisti- Auftritten lässt sich verdeutlichen, wie schen Protestbewegung, deren wich- rasch sich die AfD seit dem Spätsom- tigstes Kampagnenthema die Agitation mer 2015 radikalisierte und welchen gegen Flüchtlinge und Migranten war. Anteil die mit ihr verbundene Straßen- Dabei zeigte sich, dass ihre Wähler bewegung an dieser Radikalisierung wenig Wert auf die Formulierung kon- hat. Bezeichnend dafür ist eine Epi- kreter politischer Alternativen legen. sode, die sich im Juni 2016 bei einer Zumindest hat es der AfD bislang nicht Kundgebung im brandenburgischen geschadet, dass ihren Abgeordneten in Elsterwerda ereignete: Hier übernahm den Landesparlamenten weithin Indif- Gauland eine neonazistische Parole, ferenz und Inkompetenz in Sachfragen die er auf einem mitgeführten Plakat und Zurückhaltung in der Ausschuss- eines Kundgebungsteilnehmers las.6 arbeit nachgewiesen wurde – was mit Bei ihrer Hetzkampagne gegen die der lautstarken Nutzung der Plenarde- demokratisch legitimierte Regierung batten als propagandistische Plattform Merkel übernahmen auch viele ande- deutlich kontrastiert.4 re AfD-Spitzenpolitiker offen rechtsex- Im Sommer 2015 wurden dann die treme Rhetorik und propagierten den bekanntesten Repräsentanten eines „Widerstand“. „nationalliberalen“ Flügels um den Getragen von dieser Straßendyna- Parteigründer Bernd Lucke aus der mik setzte der formierte rechtsextreme Partei gedrängt. Jörg Meuthen, der Teil der Partei im Januar 2017 zur Of- einflussreiche Landeschef von Ba- fensive an. Eine wesentliche Funktion den-Württemberg, ging bald darauf der „Dresdner Rede“ von Björn Höcke ein strategisches Bündnis mit dem of- war es, seine Partei auf den Weg einer

4 Vgl. Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels, 5 Vgl. „Wir dürfen nicht mitregieren, nirgends!“ Christian Neusser und Alexander Berzel, Par- Interview mit , in: „Com- lamentarische Praxis der AfD in deutschen pact“, 3/2016, S. 16-18. Landesparlamenten. Wissenschaftszentrum 6 Vgl. Mitteilungen der Emil Julius Gumbel For- Berlin (WZB) 2017. schungsstelle Nr. 1, Januar 2017, S. 7.

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„fundamentaloppositionellen Bewe- Position gegenüber „dem Islam“) so- gungspartei“ und ihre Fraktionen auf wie den Schutz von Minderheiten, das den Weg „fundamentaloppositioneller Asylrecht und den subsidiären Schutz Bewegungsfraktionen“ einzuschwö- von Geflüchteten. Es betrifft auch die ren. Daher diffamierte er innerparteili- Wissenschaftsfreiheit (durch die ge- che Repräsentanten einer Professiona- forderte Diskriminierung von Gen- lisierung der parlamentarischen Pra- der-Forschung).8 xis und Befürworter einer verantwort- Besonders gravierend sind indes die lichen Politik auf Landesebene als Kar- grundsätzlichen Vorstellungen der rieristen und „Luckisten“.7 Spätestens AfD zur Staats- und Verfassungsord- zu diesem Zeitpunkt zeigte sich, dass nung, die sich in einem zentralen Teil die rechtsextreme Strömung um Gau- des Programms unter der Überschrift land und Höcke formiert und hand- „Demokratie und Grundwerte“ fin- lungsfähig war, während gegenläufige den.9 Dieser Abschnitt zeigt deutlich, Tendenzen zwar noch existierten, aber dass die Vorstellungen der AfD über nicht einmal mehr über starke und öf- den demokratischen Staatsaufbau in fentlich wahrnehmbare Repräsentan- starker Spannung zum Grundgesetz ten verfügten. und den Prinzipien der freiheitlich-de- Der verfassungsfeindliche Charak- mokratischen Grundordnung stehen. ter der AfD erschließt sich aber auch Bezeichnenderweise beruft sich die aus ihrer Programmatik. Das zentra- AfD zwar auf die „Tradition der bei- le Dokument bleibt bis auf Weiteres den Revolutionen von 1848 und 1989“, ihr Grundsatzprogramm von 2016. Um nicht aber auf die Novemberrevoluti- seine Aussagen einordnen zu können, on von 1918. Dabei schuf diese erst die muss die radikalisierte Rhetorik in der Voraussetzung, um mit der Weimarer Parteipublizistik und bei öffentlichen Reichsverfassung von 1919 eine parla- Auftritten von Spitzenfunktionären mentarische Demokratie errichten zu ebenso berücksichtigt werden wie die können. Dem demokratischen Neuan- parlamentarische – genauer: antiparla- fang nach 1945 und der Verfassungs- mentarische – Praxis. gebung durch den Parlamentarischen Rat im Jahr 1949 wird im AfD-Grund- satzprogramm kein traditionsbilden- Im Widerspruch zur Verfassung der Wert zugesprochen. Demokratie und Freiheit, so behaup- Ungeachtet ihres plakativen Bekennt- tet die AfD in der Präambel, stünden nisses zu Demokratie und Grundge- „auf dem Fundament gemeinsamer setz stehen viele programmatische kultureller Werte und historischer Er- Aussagen und Forderungen der AfD innerungen“. In diesem Sinne gelte es, im eklatanten Widerspruch zu den den „Staat und seine Organe wieder in Prinzipien der Verfassung, der Men- den Dienst der Bürger zu stellen, so wie schenrechte, der Rechtsordnung der es der im Grundgesetz geregelte Amts- Bundesrepublik und zu europäischen eid aller Regierungsmitglieder“ vor- und internationalen Verpflichtungen, die sie rechtswirksam eingegangen 8 Vgl. Programm für Deutschland. Das Grund- ist. Dies betrifft Gleichstellungsfragen, satzprogramm der Alternative für Deutsch- die Religions- und Bekenntnisfreiheit land. Beschlossen auf dem Bundesparteitag in (besonders durch die diskriminierende Stuttgart am 30.4./1.5.2016, S. 48 ff. und S. 52. 9 Vgl. Gideon Botsch, Wahre Demokratie und Volksgemeinschaft. Ideologie und Program- 7 Vgl. Björn Höcke, Rede am 17.1.2017 im Ball- matik der NPD und ihres rechtsextremen Um- haus Watzke im Rahmen der Veranstaltungs- felds. Wiesbaden 2017, S. 71ff.; Gideon Botsch, reihe „Dresdner Gespräche“, organisiert von Rechte Konzepte von Demokratie, in: Die neue der „Jungen Alternative“, Compact TV, www. Bewegung von rechts. Dokumentation der Ta- youtube.com/watch?v=sti51c8abaw. gung am 29.4.2017 in Potsdam, S. 34-37.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 20 Kommentare und Berichte sehe.10 Die konkreten Forderungen der Grundgesetz: Grundsätzlich sollen Partei für eine Reform der Demokra- Verfassungsänderungen von plebiszi- tie sollen die von ihr behaupteten par- tärer Zustimmung abhängig gemacht, teipolitischen Kartellstrukturen zer- gleichzeitig außerparlamentarische schlagen. Initiativen zur Verfassungsänderung In der Summe würden die AfD-Vor- ermöglicht werden. Auch der Ab- schläge fast durchweg eine substanti- schluss „bedeutsamer“ völkerrechtli- elle Schwächung des Parlaments und cher Verträge, insbesondere die „Ab- der Parteien bewirken. So fordert sie gabe nationaler Souveränität an die EU eine Begrenzung der Parteienfinan- und andere internationale Organisa- zierung, freie Listenwahl und frei- tionen“, müsse zustimmungspflichtig es Mandat sowie eine Anbindung der werden. Dabei sollen auch Abstim- Zahl der Abgeordneten an die Wahlbe- mungsfragen finanzieller Natur aus- teiligung und insgesamt eine Verklei- drücklich erlaubt sein. nerung des Deutschen Bundestags. Die Die schiere Existenz der AfD-Frak- angestrebte Begrenzung der Amtszeit tion im Deutschen Bundestag hat be- bezieht sich explizit auf Mandatsträger reits jetzt dazu beigetragen, dass ei- und Abgeordnete, nicht aber auf den ne Regierungsbildung über mehrere Bundeskanzler oder die Ministerpräsi- Monate hinweg nicht möglich war. Ih- denten. re Vorschläge zur Verfassungsreform Ebenso soll der Lobbyismus nur mit würden verantwortliches parlamenta- Blick auf die Nebentätigkeiten der risches Regieren praktisch unmöglich Bundestagsabgeordneten eingedämmt machen. werden. Hingegen findet sich in ih- Der Blick auf das Grundsatzpro- rem Programm kaum eine Forderung, gramm der AfD, auf ihre sonstigen Äu- die auf stärkere Kontrolle von Regie- ßerungen und ihre politische – nicht rungs- oder Verwaltungshandeln zielt. zuletzt auch parlamentarische – Pra- Eine partizipative pluralistische De- xis zeigt: Aus politikwissenschaftli- mokratie, etwa durch Stärkung kom- cher Sicht sprechen inzwischen mehr munaler Selbstverwaltung und Betei- Argumente dafür als dagegen, sie der ligungsverfahren, die Ausweitung von rechtsextremen Parteienfamilie zuzu- Mitbestimmung auf betrieblicher Ebe- ordnen. Dies schließt nicht aus, dass ne oder in anderen sozialen Kontexten, sich auch Positionen in der AfD gehal- umfasst dieses plebiszitäre Verständ- ten haben, für die eine solche Einschät- nis von „wahrer Demokratie“ denn zung nicht gilt. Beim gegenwärtigen auch nicht. Stand scheinen diese Kräfte allerdings kaum in der Lage, den Rechtsaußen- kurs der Partei substanziell zu korri- Der »Wille des Volkes«? gieren. Für diese Einschätzung sind da- Vielmehr setzt die AfD einen allge- bei nicht skandalöse Aussagen ein- meinen, mindestens mehrheitlich vor- zelner Parteimitglieder ausschlagge- handenen Volkswillen voraus. Volks- bend. Entscheidend ist vielmehr die abstimmungen haben daher eine Kampfansage der AfD an die parla- überragende Bedeutung für die AfD. mentarische Demokratie, an deren Dabei soll „das Volk“ über parlamen- Grundlage im gesellschaftlichen Plu- tarisch beschlossene Gesetze abstim- ralismus und an die sie tragenden In- men dürfen, es soll aber auch eigene stitutionen. Und diese Kampfansage ist Gesetzesvorlagen zur Abstimmung in der Partei nicht nur programmatisch stellen können. Dies betrifft selbst das fest verankert – sie wird von ihren Ver- tretern in der Praxis auch immer ag- 10 AfD, Grundsatzprogramm, a.a.O., S. 6. gressiver verfolgt.

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Raphaela Tiefenbacher Österreich: Hartz IV mit Heimatliebe

Die Politik der neuen Regierung in von gerechter Verteilung, Risikoüber- Wien steht unter dem Motto „Österreich nahme und sozialer Verantwortung zuerst!“. Handelskriege, wie sie Donald durch ein völkisches Gefühl der Zu- Trump derzeit offenbar anstrebt, kann sammengehörigkeit ersetzt. sich die Exportnation dabei zwar nicht Unterdessen verliert Schwarz-Blau leisten – einen verklärten Nationalis- keine Zeit, im Sozialbereich zu kür- mus aber sehr wohl. Indes verficht die zen und gleichzeitig das obere Ein- FPÖ unter Vizekanzler Heinz-Chris- kommensdrittel steuerlich zu entlas- tian Strache verzweifelt ihr Image als ten. Als erste Amtshandlung der Re- Retterin des kleinen Mannes, während gierung wurde die „Aktion 20 000“ die ÖVP von Kanzler Sebastian Kurz abgeschafft, eine Maßnahme zur För- ruhige Vernunft und konservative Ge- derung älterer arbeitsloser Menschen. diegenheit mimt. Aufgrund der guten Konjunktur sei ein Beiden fällt die Aufrechterhaltung solches Projekt reine Geldverschwen- ihres politischen Wiedererkennungs- dung, so die Begründung. Doch ins- wertes allerdings zunehmend schwer: besondere ältere Jobsuchende unter- Die sich immer weiter zuspitzenden liegen am Arbeitsmarkt – unabhängig Anfeindungen gegen politische Kon- von der allgemeinen Wirtschaftslage – trollinstanzen – wie beispielsweise systematischer Diskriminierung, was den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in vielen Fällen zu Langzeitarbeits- – durch die FPÖ lassen das Schwei- losigkeit führt. gen der ÖVP mehr als Schockstarre Darüber hinaus soll das Budget des denn als Sachlichkeit erscheinen. Die Arbeitsmarktservice um sagenhafte 30 durchgehend neoliberale Wirtschafts- Prozent vermindert werden. Die Kür- politik steht wiederum der FPÖ nicht zungen betreffen vor allem Programme gut zu Gesicht: In den vergangenen 20 für Ältere, Flüchtlinge und Langzeit- Jahren hat sie sich erfolgreich als sozi- arbeitslose. Die dadurch entstehenden ale Heimatpartei vermarktet, der zu- Härtefälle könnten den gut ausgebau- letzt knapp 60 Prozent der Arbeiterin- ten österreichischen Sozialstaat viel nen und Arbeiter im Land ihre Stim- Geld kosten. me gaben. Viele von ihnen erhofften Den drohenden Mehrkosten begeg- sich dadurch eine Verbesserung ihrer net Schwarz-Blau jedoch vorausschau- Lebenssituation und eine Sichtbarma- end mit der angekündigten Streichung chung ihrer Probleme. der Notstandshilfe. Diese dient als Daher müssen die Rechtsnationalen Übergangsfinanzierung zwischen Ar- nun nichts Geringeres bewältigen als beitslosengeld und Mindestsicherung die Quadratur des Kreises: Wie kön- und ermöglicht es Menschen in Notla- nen sie die eigenen Wähler halten und gen, Sozialhilfe ohne staatliche Vermö- gleichzeitig konsequent Politik ge- genspfändung zu beziehen. Ihre Ab- gen deren Interessen machen? Sie tun schaffung käme faktisch der Einfüh- dies, indem sie den altbewährten, na- rung eines österreichischen Hartz IV tionalistischen Köder auswerfen, der gleich. Mit einem wesentlichen Un- da heißt: Heimat. Auf diese Weise wird terschied: Die Vermögensgrenzen, ab gesellschaftliche Solidarität im Sinne denen die Behörden auf das Eigen-

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 22 Kommentare und Berichte tum der Betroffenen zugreifen dürfen, und bessere Förderung von regionalen wären noch enger gezogen als in Brauchtumsinitiativen.“1 Deutschland. Neben dieser populistischen Metho- Nicht zuletzt soll die Normalarbeits- de zur Volksbefriedung, bemüht sich zeit flächendeckend von acht auf zwölf Rechtsaußen zudem darum, burschen- Stunden am Tag erhöht werden kön- schaftliche Emporkömmlinge poten- nen, was die Gehälter um den Über- ter Kaderschmieden mit Positionen zu stundenzuschuss senken und damit versorgen. So sind 17 ihrer 51 Parla- empfindlich drücken würde. Und erst mentsabgeordneten einer Burschen- im März stellte Wirtschaftsministerin oder Mädelschaft zuzurechnen; ganz Margarete Schramböck (ÖVP) klar, ähnlich sieht es in den FPÖ-geführten dass eine Anfahrtszeit von 2,5 Stunden Ministerien aus. zum Arbeitsplatz durchaus vertretbar Einige dieser Burschenschaften ge- sei, da das soziale Leben und die Pflege rieten jüngst ins Visier der Öffentlich- persönlicher Beziehungen sich heut- keit. So wurde etwa gegen die Germa- zutage ohnehin im Digitalen abspie- nia ein staatliches Auflösungsverfah- len würden. Deshalb sollen Arbeitslose ren wegen Wiederbetätigung durch künftig verpflichtet werden, auch weit den Generalsekretär des Innenminis- entfernte Jobangebote anzunehmen. teriums, Peter Goldgruber (FPÖ), ein- Die Hauptbetroffenen derartiger Maß- geleitet. Dies geschah notgedrungen, nahmen sind männlich, Inländer und nachdem öffentlich wurde, dass bei älter als 50 Jahre – mit anderen Worten: Germania Liederbücher mit national- das typische FPÖ-Wählerklientel. sozialistischem Inhalt im Umlauf sind. In Anspielung auf die Shoa heißt es da- rin: „Gebt Gas, ihr alten Germanen, Heimat als Kampfbegriff wir schaffen die siebte Million.“2 An dieser Stelle war die rote Li- Um den zu erwartenden Sozialprotes- nie, die Kurz entlang der Grenze zum ten den Wind aus den Segeln zu neh- Strafrecht ansiedelt, denn auch für die men, wenden sich die Rechten verstärkt Mehrheit der ÖVP überschritten. Hat- einem nostalgischen Heimatbegriff zu. ten die Blauen bis zuletzt den niederös- Seit Jahrzehnten sind sie dabei, die- terreichischen FPÖ-Spitzenkandida- sen für sich zu vereinnahmen. Auffäl- ten Udo Landbauer, Vizepräsident der lig ist dabei, dass sich das Heimatver- Germania, in Schutz genommen und ständnis zumeist in Abgrenzung vom noch unmittelbar nach Bekanntwer- „Fremden“ ableitet – etwa dem Mor- den des Skandals „Jetzt erst recht!“ genland, dem Islam oder der urbanen skandiert, mussten sie sich letztlich Moderne. Auf diese Weise wird Hei- aufgrund des Drucks durch den Bun- mat zum Dreh- und Angelpunkt eines despräsidenten und namhafter ÖVPler Wir-Gefühls, das am dankbarsten von zähneknirschend distanzieren. ebenjenen angenommen wird, die so- zioökonomisch am unteren Rand der Gesellschaft stehen und in dieser Ab- Ist das Kunst, oder kann das weg? setzung eine ideologische Aufwertung erfahren. Zugleich aber nutzen auch die Konser- In ihrem aktuellen Parteiprogramm vativen das Heimat- und Kulturtopos charakterisiert die FPÖ die Gegen- von Rechtsaußen. Die Zusammenarbeit wart als eine „Zeit der Identitätsver- zwischen beiden Parteien spiegelt sich nichtung und der Entfremdung der Völker von ihren Wurzeln.“ Umso lau- 1 FPÖ, Freiheitliches Wahlprogramm zur NR- Wahl 2017. ter fordert sie nun eine „Stärkung der 2 Nina Horaczek, „Wir schaffen die siebte Mil- kulturellen Identität durch Erhaltung lion“, in: „Falter“, 4/2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Kommentare und Berichte 23 insbesondere in der schwarz-blauen und Volkskunst aller Art, vermehrt ge- Kulturpolitik wieder, wo die demons- fördert werden.“5 trative Harmonie zwischen Rechts Gerade auch die feministische und Rechtsaußen in besonderer Weise Kunstszene spart nicht mit deutlicher kulminiert. Kritik an den derzeitigen österreichi- So wird im Regierungsprogramm schen Verhältnissen. So setzte die fe- zweierlei unterschieden: Hochkultur ministische Burschenschaft „Hyste- und Volkskultur, wobei unter Erste- ria“ die FPÖ-Veranstalter des umstrit- rem der Wirtschaftsfaktor Tourismus tenen „Akademikerballs“ unter derart samt Mozartkugeln und Salzburger hohen Druck, dass im Januar am Ball- Festspielen, unter Zweitem Brauchtum einlass erstmals eine Gesichtserken- als Quell rechter Identitätspolitik ver- nungssoftware eingesetzt wurde – um standen wird.3 Besonderen Wert legen unerwünschte Gäste bereits am Ein- die Koalitionäre auf ein „fruchtbares gang herauszufiltern. Im Vorjahr hat- Miteinander“ dieser beiden Genres. ten sich die Feministinnen unter das Mit einer „Österreichquote“ und ver- rechte Publikum gemischt und dort mit mehrter Brauchtumsförderung werden gezielten Aktionen für erhebliche Un- dem ÖVP-geführten Kulturministeri- ruhe gesorgt: Während sich die anwe- um Auflagen gemacht, die eindeutig senden Korporierten Ehrerbietungen die Handschrift der FPÖ tragen. Kon- angedeihen ließen, hisste die Hysteria servative Themenführerschaft trägt einen überdimensionalen Banner mit hingegen jene Passage, wonach Kunst dem Schriftzug „Männerschutzball“ nicht länger als Selbstzweck bestehen und schaffte es damit in alle Gazetten. soll. An die Stelle des Gießkannen- Widerstand tat sich 2017 auch in prinzips, das in der Vergangenheit für Oberösterreich auf, wo Schwarz-Blau eine breite Streuung von Förderungs- bereits seit zwei Jahren regiert. Dort mitteln gesorgt hatte, soll eine „klare wollte die Landesregierung den frei- Ergebnisorientierung“ treten. Finan- en Kulturinitiativen ein Drittel ihres zielle Aufwendungen von Seiten des Budgets kürzen. Dabei beschwor die Staates dienen künftig dementspre- chend „als Sprungbrett in die finanzi- 5 Vgl. www.markus-abwerzger.at, 5.2.2018. elle Unabhängigkeit“.4 So soll auf Dau- er nur das überleben können, was ver- marktbar ist. Die Freiheit der Kunst ori- entiert sich am Maße ihrer Nachfra- ge. Dieses Abhängigkeitsverhältnis von Mainstream und Kommerz könn- te gerade Projekten mit kritischem An- spruch schaden.

Besonders deutlich formuliert den © kallejipp / photocase.com politischen Anspruch etwa Markus Abwerzger, der Spitzenkandidat der Tiroler FPÖ, auf seiner Website: „Ideo- Revolte und Protest logische Kunst wie die feministische oder queere Kunst sollen keine Förde- Weltweit machen soziale Bewegungen rungen mehr erhalten, sondern aus ei- mobil. Was treibt diese Bewegungen an? gener Kraft am ‚freien Markt’ bestehen Und was können sie erreichen? müssen. Hingegen sollen Traditions- und Heimatpflege sowie Volkskultur Das Dossier auf www.blaetter.de: 23 »Blätter«-Beiträge für 7,50 Euro 3 Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache, Regierungsprogramm 2017-2022, S.94. 4 Ebd., S.93.

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ÖVP die gute Konjunktur, die den Ab- prellt seine Wähler zunehmend. Ei- sturz der unabhängigen Kunst am frei- nerseits vereinen sich unter ihm echte en Markt dämpfen würde. Denn die Rechtsradikale, denen die erzwunge- Konservativen halten mit ihren Null- ne Distanzierung vom NS-Gedanken- defizitfantasien nicht hinter dem Berg: gut bitter aufstößt. Andererseits mer- Gespart wird in Zeiten der Krise eben- ken auch die sozial Schwächsten mehr so wie in Zeiten des Aufschwungs. und mehr, dass die FPÖ Politik gegen Das Rezept bleibt dabei immer dassel- sie betreibt. Laut einer aktuellen Um- be: Ein starker Staat weicht dem frei- frage erwarten zwei Drittel der öster- en Markt. Einzig die Landesmuseen reichischen Bevölkerung nicht, dass und Musikschulen blieben von Kür- sich ihre Lebenssituation durch die zungen verschont. In der Kultursze- neue Regierung verbessern wird.7 ne kam es daraufhin zu einem breiten Während die Kunstszene über brei- Protest. Unter dem Slogan „Rettet das te Öffentlichkeitswirkung verfügt und Kulturland Oberösterreich!“ veranstal- damit gegen Angriffe der Politik ver- tete eine Vereinigung aus Kunst und gleichsweise gut gewappnet ist, ge- Zivilgesellschaft verschiedene Protest- rät das traditionelle Sprachrohr der är- aktionen, sammelte über 17 000 Unter- meren Österreicher zunehmend in Be- schriften und erregte auf diese Weise drängnis. Die in der Verfassung ver- viel mediales Aufsehen. Derart unter ankerte Arbeitnehmervertretung, die Druck geraten, senkte die Regierung Arbeiterkammer (AK), hat sich längst ihre Kürzungen schließlich auf zehn zum Feindbild der Rechten entwickelt. Prozent. Verbale Frontalangriffe gegen sie ge- hören zum politischen Alltag, nun dro- hen auch noch finanzielle Einschrän- Niemanden zurücklassen kungen. Doch die AK denkt gar nicht daran, klein beizugeben. Sie moniert Die versprochene „koordiniertere“6 laut die geplanten Sozialkürzungen Förderungsstrategie in der Kunst steht und stellt sich gemeinsam mit dem programmatisch für das Ineinander- Gewerkschaftsbund ÖGB auf den Ar- wirken von wirtschaftlich profitablem beitskampf ein. Gleichzeitig formiert Kommerz und politisch profitabler sich eine kleine Gruppe empörter Volkstümelei. Die Regierungsparteien Christsozialer unter Caritas-Chef Mi- scheinen erkannt zu haben, dass sich chael Landau, der offen kritisiert, dass Neoliberalismus und Nationalismus die Regierung „die Ärmsten vergisst“. ideal ergänzen. Der inszenierte Gleich- Der anwachsende Protest lässt hof- schritt von ÖVP und FPÖ verdeckt da- fen, dass die Deutschtümelei von ÖVP bei die radikale Abkehr vom Sozial- und FPÖ nicht länger über ihre drasti- staatsmodell des sozialdemokratischen schen Kürzungspläne hinwegtäuschen Kanzlers Bruno Kreisky, der von 1970 kann. Allerdings wird man all das nur bis 1983 das Land regierte. dann verhindern können, wenn am Doch noch ist nicht alles verloren, Ende gelebte Solidarität der gesamten zumal beide Koalitionäre großen He- Opposition – innerhalb und außerhalb rausforderungen gegenüberstehen. des Parlaments – all jene Menschen er- Kurz muss sich gegen seine Landes- reicht, die sich von rechter Identitäts- hauptleute durchsetzen und die breite politik haben blenden lassen. Sie müs- bürgerliche Empörung wegen der nati- sen erkennen, dass Blut und Boden onalsozialistischen „Ausrutscher“ der kein Ersatz für eine solidarische Poli- FPÖ überwinden. Auch Strache ver- tik sind.

7 Vgl. Umfrage: Zwei Drittel erwarten keine Ver- 6 Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache, besserung durch Regierung, www.profil.at, Regierungsprogramm 2017-2022, S.94. 17.3.2018.

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Peter Lange Slowakei: Land mit zwei Gesichtern?

Das Zeremoniell im Präsidentenpalast Aber obwohl nichts bewiesen ist: Die in Bratislava war feierlich, die Gesich- Hypothese von der Slowakei als Ope- ter jedoch zeigten sich düster und ver- rationsraum und Rückzugsgebiet der schlossen: Am 15. März entließ Andrej Mafia – deren Arme über eine, ehe- Kiska, der slowakische Präsident, den mals als Model tätige, obskure Bera- Ministerpräsidenten Robert Fico und terin bis unmittelbar in die Nähe Ficos beauftragte dessen bisherigen Stell- reichen – gilt als dermaßen plausibel, vertreter Peter Pellegrini mit der Bil- dass die Slowakei seither nicht mehr dung der neuen Regierung. Nur beim zur Ruhe kommt. „Was das Land jetzt Händedruck mit dem Präsidenten durchlebt, ist der Höhepunkt einer lachte Fico kurz auf. Was er ihm gesagt Gesellschaftskrise“, sagt der Soziolo- hat, ist nicht bekannt. ge Michal Vasecka. „Es ist eine Krise Dieser Moment markiert eine Zäsur des Vertrauens nicht nur in das demo- in der Geschichte der gerade 25 Jah- kratische Regime des Landes, sondern re alt gewordenen unabhängigen Slo- auch in die Fähigkeit der Slowakei, wakei. Robert Fico stellte sein Amt zur eine moderne liberale Demokratie Verfügung, um mit diesem Manöver zu sein.“ seine Koalition zu retten. Doch einen Schlusspunkt unter die tiefe innen- politische Krise konnte er damit nicht Selbstbild 1: Ein wirtschaftliches setzen. Musterland Ausgelöst wurde sie durch den Mord an dem Journalisten Ján Kuciak und Der Mord an Ján Kuciak und Martina seiner Verlobten Martina Kusˇnírová. Kusˇnírová hat die Slowaken nicht nur Am 25. Februar war das junge Paar er- geschockt, sondern er hat ihr Selbstbild schossen aufgefunden worden, in sei- beschädigt, wenn nicht gar zerstört. nem Haus in der Ortschaft Velka Ma- Gerade erst hatten sie 25 Jahre staat- ca in der Westslowakei. Es handelte liche Unabhängigkeit gefeiert. Wer sich um eine regelrechte Hinrichtung, um die Jahreswende in Bratislava mit inszeniert nach Art der kalabrischen Vertretern von Politik, Wirtschaft und 'Ndrangheta. Kultur redete, der erlebte überwiegend Und weil Kuciak zuletzt über Ver- stolze, zufriedene und erleichterte Ge- flechtungen der italienischen Mafia sprächspartner. Man hatte die dunklen mit der slowakischen Politik recher- Jahre unter dem autoritären Halbde- chiert hatte, verfolgte die Polizei zuerst mokraten Vladimír Mecˇiar hinter sich die „italienische Spur“. Sieben italie- gelassen. Die Slowakei war nicht zu ei- nische Geschäftsleute, die sich in der nem zweiten Weißrussland geworden, Ost-Slowakei niedergelassen hatten sondern sie hatte die Kurve Richtung und deren Namen in diesem Kontext Europa gekriegt. fielen, wurden festgenommen, aller- Die neoliberale Rosskur mit ihren dings nach 48 Stunden wieder auf frei- schweren sozialen Verwerfungen – en Fuß gesetzt. Seither hat man über von der selbst ihr Architekt, der ehe- den Stand der Ermittlungen nichts malige Premierminister Mikulásˇ Dzu- mehr gehört. rinda heute sagt, sie sei brutal gewe-

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 26 Kommentare und Berichte sen, aber unausweichlich – schien sich Selbstbild 2: International geachtet auszuzahlen. Das Land machte sich in trotz der Flüchtlingspolitik rasantem Tempo für den Euro fit und erlebte einen in der EU nahezu einzig- Auch außenpolitisch macht die Slowa- artigen wirtschaftlichen Aufholpro- kei eine bella figura. In Tradition und zess. Schlanker Staat, Flat Tax, nied- Kontinuität ihrer Vorgänger haben Au- rige Löhne, niedrige Sozialausgaben ßenminister Miroslav Lajcˇák und sein – das Konzept der Hayek-Schule lockte Staatssekretär Ivan Korcˇok das little tatsächlich Investoren an: Ein Cluster big country zu einem international ge- von mehreren Autokonzernen ließ sich achteten Partner gemacht. Lajcˇák steht in der Slowakei nieder. Zudem setzten zur Zeit der Generalversammlung der die Reformen in der vergleichsweise Vereinten Nationen vor und war auch jungen slowakischen Gesellschaft un- als UN-Generalsekretär im Gespräch. geheure Energien frei. Es gab einen Und im Oktober vergangenen Jahres Gründerboom von Startups mit dem präsentierte die slowakische Staats- Resultat, dass Bratislava und Kosˇice spitze eine gemeinsame Erklärung des heute Schwerpunkte der IT-Industrie Staatspräsidenten Kiska, des Minister- sind. Die Slowakei weist seit Jahren präsidenten Fico und – eher unerwar- überdurchschnittliche Wachstumsra- tet – des rechtsnationalistischen Par- ten auf. Die Arbeitslosigkeit sinkt, die lamentspräsidenten Andrej Danko. Sie Wirtschaftskraft entspricht inzwi- bekannten sich darin zu einer eindeu- schen fast der des Nachbarn Tsche- tig proeuropäischen Slowakei, die zum chien und ist nicht mehr weit entfernt Kern der europäischen Gemeinschaft vom Durchschnitt der EU. gehöre. Mit einem Mal hatte das Land Allerdings besteht im Land ein ge- in der Region ein Alleinstellungsmerk- höriges Ungleichgewicht. Die wirt- mal in einem Umfeld von EU-Skepti- schaftlich potenten Regionen liegen kern und -Gegnern. im Westen der Slowakei, während die Es blieb allerdings der Zankap- Mitte und der Osten arg abgehängt fel der europäischen Flüchtlingspoli- sind. Und die Straße der Investoren ins tik. Da praktiziert die Slowakei eine Billiglohnland hat auch eine Gegen- ebenso smarte wie erfolgreiche Dop- fahrbahn: Wer gut genug qualifiziert pelstrategie: Ministerpräsident Robert ist, geht dorthin in der EU, wo höhere Fico wetterte ein ums andere Mal ge- Löhne gezahlt werden. Daher gehen gen den Quotenbeschluss der EU-In- der Slowakei inzwischen in einigen nenminister und stellte muslimische Branchen die Fachkräfte aus. Jüngst Flüchtlinge pauschal unter Terroris- kündigte Samsung an, ein Montage- musverdacht. Besonders vor der Parla- werk zu schließen, weil man keine Mit- mentswahl 2016 griff er damit Ängste arbeiter mehr finde. in der Bevölkerung auf und verstärkte Dessen ungeachtet sieht die Mehr- sie. Er hoffte, auf diese Weise den auf- heit der Slowaken ihr Land als moderne kommenden Rechtsextremisten von proeuropäische Nation – und das nicht Marian Kotleba das Wasser abzugra- nur, weil es wegen der EU-Fördermittel ben, was jedoch nicht gelang. Hin- ökonomisch zweckmäßig ist. Vielmehr ter den europäischen Kulissen jedoch teile man die grundlegenden europä- agierten und argumentierten die slo- ischen Werte, versichert Ivan Korcˇok, wakischen Außenpolitiker etwas an- Staatssekretär im Außenministerium ders. Dort betonten sie vor allem, das und ehemaliger Botschafter in Ber- Quotensystem funktioniere nicht: „Es lin: „Die Rechtsstaatlichkeit, die indi- kann doch auch nicht im Interesse von viduellen Rechte der Menschen, Frei- Deutschland oder Schweden sein“, so heit der Medien. Das sind unsere Wer- Staatssekretär Korcˇok im Dezember, te. Das ist heutzutage extrem wichtig.“ „wenn aufgenommene Flüchtlinge

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Kommentare und Berichte 27 nach 14 Tagen verschwinden und sich höhere Löhne gestreikt wurde. Fico Richtung Norden durchschlagen.“ Das stellte sich öffentlich hinter die Be- Ergebnis dieser Strategie erkennt so- schäftigten. Es sei nicht mehr einzu- gar Mikuláˇs Dzurinda an, der ehema- sehen, warum die Arbeiter in der Slo- lige Regierungschef und Fico-Kritiker: wakei nur ein Drittel von dem verdien- „Für seinen Opportunismus bin ich ten, was ihre deutschen Kollegen be- ihm manchmal sogar dankbar, wenn er kämen. in der Slowakei brutal gegen Migran- Nach den Wahlen 2012, bei der sei- ten kämpft, dabei aber in der Lage ist, ne Smer die absolute Mehrheit erreich- sich in Brüssel so zu benehmen, dass te, wollte sich Fico eigentlich auf den gegen die Slowakei kein Vertragsver- Posten des Staatspräsidenten zurück- letzungsverfahren eingeleitet wurde, ziehen. Aber die Slowaken hatten of- wie gegen Tschechien, Polen und Un- fenbar ein feines Gespür dafür, dass zu garn. In gewisser Weise geht dieser viel Macht in den Händen einer Partei Opportunismus auf, zumindest nach von Nachteil wäre, und wählten Andrej außen.“ Kiska, einen ehemaligen Unterneh- mer. Kiska galt lange Zeit als das pro- europäische und humanistische Ge- Fico, der bekennende Populist wissen der Nation, auch in der Flücht- lingsfrage, und damit als das Gegen- Und viele Jahre funktionierte er auch bild zu Fico. Inzwischen aber hat seine nach innen: Vier Parlamentswahlen weiße Weste durch journalistische Re- hat Robert Fico gewonnen und amtier- cherchen Flecken bekommen – wegen te seit 2006 zehn Jahre als Regierungs- Heimflügen auf Staatskosten und we- chef, mit einer Unterbrechung von gen des Verdachts, Wahlkampfkosten zwei Jahren. Der junge Jurist gehörte über seine Firma abgerechnet und die- vor der Revolution 1989 zum ambitio- se als Betriebskosten bei der Steuer an- nierten Nachwuchs des kommunisti- gegeben zu haben. schen Regimes. Danach war er einige Zeit bei den Postkommunisten, bevor er 1999 zusammen mit Robert Kalinˇák Die dunkle Seite der Slowakei die Smer („Richtung“) gründete. Sie präsentierte sich als eine Sammlungs- Doch anders als Kiska standen Fico und bewegung und Alternative für alle, seine Koalition schon immer unter Kor- die mit den verkrusteten politischen ruptionsverdacht. Die wenigen, aber Strukturen und den sozialen Folgen sehr tüchtigen slowakischen Investiga- der Wirtschaftsreformen unzufrieden tivjournalisten haben kontinuierlich, waren. Fico ist ein political animal, ein wenn auch weitgehend folgenlos über Instinktpolitiker mit großen strategi- Korruption und Vetternwirtschaft be- schen und taktischen Fähigkeiten. Da- richtet. Innenminister Robert Kalinˇák her findet er es überhaupt nicht ehren- konnte zehn Affären allein deshalb po- rührig, als Populist bezeichnet zu wer- litisch überleben, weil ihn sein Wegge- den – im Gegenteil. Seinem Gespür für fährte Fico nicht fallen ließ. So soll Ka- Stimmungen ist auch sein Anti-Flücht- linˇák einen befreundeten Oligarchen, lingskurs geschuldet. in dessen Haus er wohnt (mit Fico als Und als die Kritik aufkam, interna- Nachbarn), vor einem Steuerstrafver- tionale Konzerne würden in Osteuropa fahren geschützt haben. Jüngst warf Markenprodukte von minderer Qua- ihm ein suspendierter Staatsanwalt für lität verkaufen, setzte er sich sofort an Korruptionsfälle vor, einer Firma ei- die Spitze der Gegenbewegung. Ähn- nen Beschaffungsauftrag gegen Geld lich agierte er, als vergangenes Jahr zugeschanzt zu haben. Vergangenes bei VW in der Slowakei erstmals für Jahr stellte sich heraus, dass sich an

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 28 Kommentare und Berichte den EU-Geldern für Forschung und Geiste, wenn auch im Ton etwas konzi- Entwicklung jede noch so kleine Klit- lianter. Pellegrini ist ein Kind der Smer, sche bedienen konnte – nur die slowa- zu deren Führung er seit 2014 gehört. kischen Hochschulen bekamen nichts Schon im Jahr 2012 avancierte er zum ab. Und die Delegation des Europäi- Staatssekretär im Finanzministerium, schen Parlaments, die im März in Bra- bereits zwei Jahre später wurde er für tislava war, staunte nicht schlecht: Sie ein paar Monate Minister für Bildung, musste hören, dass in der Ost-Slowakei Wissenschaft, Forschung und Sport. große Ländereien nur zum Schein um- Zuletzt war er im Kabinett zuständig gepflügt würden, um EU-Mittel für die für Investitionen und Digitalisierung – Landwirtschaft abgreifen zu können. für jene Felder also, die als besonders Man habe die Slowakei offenbar nicht korruptionsanfällig gelten. Pellegrini richtig auf dem Schirm gehabt, hieß es muss jetzt also versuchen, das Vertrau- danach aus der Delegation. en der Bürgerinnen und Bürger in die Viele Menschen haben das als uner- Regierung zurückzugewinnen. freuliche und wohl auch unvermeidli- Nur wie soll das gehen, wenn Robert che Begleiterscheinungen von Privati- Fico als Parteichef nach polnischem sierung und Wirtschaftsreformen ge- Vorbild im Hintergrund die Fäden sehen. Manche dürften auch angewi- zieht? Und selbst wenn Pellegrini ein dert und ermüdet gewesen sein von neues Kabinett zusammenstellt: Die- diesen ganzen Geschichten, deren ju- se Dreierkoalition bleibt ein wackli- ristische Verfolgung sich so lange hin- ges Gebilde, das nur von der Angst vor zog, dass man erst den Faden und ir- Neuwahlen zusammengehalten wird; gendwann das Interesse verlor. Zu- denn nach den neuen Umfragen hät- mal Justiz und Polizei, am Gängelband te sie danach keine Mehrheit im Parla- der Politik, entweder nicht fähig oder ment. nicht in der Lage waren, diese Affä- Der erste Koalitionspartner, die ren strafrechtlich angemessen zu ver- rechtsnationale SnS, überlegte schon folgen. vergangenes Jahr, die Regierung zu Nach dem Mord an Kuciak und Kusˇ- verlassen. Und die kleinste Kraft im nírová haben die politisch wachen Bür- Kabinett, die Partei der ungarischen ger nun erkennen müssen, dass es ei- Minderheit Most-Hid, konnte Fico ne zweite, dunkle Seite ihres Landes nach dem Mord nur mit Mühe zum Ver- gibt: Die Entwicklung einer demokra- bleib überreden. Selbst in der Smer tischen, rechtsstaatlichen politischen gärt es. Allerdings: Auch die heteroge- Kultur hat mit dem wirtschaftlich er- ne und zersplitterte Opposition verfügt folgreichen Aufbau nicht Schritt ge- im Moment über keine Mehrheit, es sei halten – ein systemischer Fehler. Sie denn, sie würde die Rechtsextremisten wollen ihr Land nicht als „Mafiastaat“ hinzuholen. eingestuft sehen. Deswegen gehen sie Dennoch wird Pellegrini weiter un- derzeit zu Hunderttausenden auf die ter großem politischen Druck stehen: Straße. Die derzeitigen Demonstratio- von der Opposition im Parlament, aber nen sind die größten seit 1989. auch vom Staatspräsidenten und von den Bürgern auf der Straße. Sie haben mit neuen Demonstrationen klar ge- Die Revolution von 1989 zu Ende macht, dass ihnen der Wechsel an der bringen Spitze der Regierung nicht reicht. Sie wollen endlich eine „anständige Slo- Peter Pellegrini soll es nun also rich- wakei“. Oder wie eine ältere Kundge- ten. Er wirkt äußerlich wie ein jünge- bungsteilnehmerin meinte: „Wir müs- rer Bruder von Robert Fico. Viele hal- sen jetzt die Revolution von 1989 zu ten ihn zumindest für einen Bruder im Ende bringen.“

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Andreas Knobloch Kuba nach Castro: Aufbruch in Zeitlupe

Es ist das Ende einer Ära: Die histori- Castros, der die staatlichen Medien sche Generation der kubanischen Re- modernisieren und den Ausbau des In- volution verabschiedet sich endgültig ternetzugangs auf der Insel vorantrei- von der Macht. Am 19. April wird Raúl ben will. Castro nach zwei Legislaturperioden Doch dem neuen Präsidenten fehlt das Präsidentenamt abgeben. Bis 2021 die historisch gewachsene Legitima- bleibt er wohl noch Chef der Kommu- tion der alten Garde. Bleiben Partei- nistischen Partei Kubas (PCC). Doch vorsitz und Präsidentenamt zumin- selbst das bedeutet: Erstmals seit 1976 dest übergangsweise getrennt, verfügt liegen Parteivorsitz und Präsidenten- er zudem über weniger Macht. Unter amt nicht mehr in einer Hand. Raúl Castro wurde die Balance zwi- Zudem könnten sich mit Castro drei schen Staat, Partei und Militär neu aus- weitere zentrale Figuren der Revolu- tariert. An die Stelle der charismati- tion in den Ruhestand verabschieden. schen Führerschaft des Ende Novem- Mit den beiden Vizepräsidenten José ber 2016 verstorbenen Fidel Castro ist Ramón Machado (87 Jahre) und Ventu- ein „institutionenbasierter bürokra- ra Ramiro Valdés Menéndez (85 Jahre) tischer Sozialismus“ (Bert Hoffmann) werden wohl zwei Vertreter des kon- getreten. Ausdruck davon sind die von servativen Flügels der Regierung ab- seinem jüngeren Bruder Raúl betriebe- treten, der die von Raúl Castro initiier- ne Amtszeitbegrenzung auf zweimal ten Reformen und die Annäherung an fünf Jahre und die Einführung einer die USA mit Argwohn betrachtet. Bei- Altersgrenze von 70 Jahren für Füh- de sind äußerst einflussreich: Macha- rungskader. do ist Zweiter Sekretär der PCC, Valdés Vor allem aber hinterlässt Raúl Castro sitzt wie Machado im Politbüro und seinem Nachfolger ein Land, das vor war lange Zeit verantwortlich für die gewaltigen Herausforderungen steht. Geheimdienste und die Leitung des In- Zehn Jahre nach seiner Machtüber- nenministeriums. Dritter im Bunde ist nahme fällt seine Bilanz gemischt aus: der 90jährige Guillermo García Frías, Die Lebensumstände weiter Teile der Mitglied in Zentralkomitee und Staats- Bevölkerung haben sich auch mehr als rat. Alle drei waren bereits Ende Feb- sieben Jahre nach Beginn der prokla- ruar mit der Medaille der „Helden der mierten „Aktualisierung des sozialisti- Arbeit“ ausgezeichnet worden. In Kuba schen Modells“ kaum verbessert. Vie- ist dies zumeist mit dem Ruhestand der le Kubanerinnen und Kubaner kämp- Geehrten verbunden. fen weiterhin mit geringen staatlichen Alles deutet darauf hin, dass der der- Einkommen sowie hohen Lebensmit- zeitige Vizepräsident Miguel Díaz- tel- und Konsumgüterpreisen. Vor al- Canel das Präsidentenamt überneh- lem junge, gut ausgebildete Menschen men wird. Erstmals seit 1959 würde verlassen daher in Scharen das Land mit dem 57jährigen ein Politiker an oder tragen sich mit entsprechenden der Spitze Kubas stehen, der nach der Gedanken. Das wiederum verstärkt Revolution geboren wurde und nicht den demographischen Druck. Denn den Namen Castro trägt. Díaz-Canel die ironische Kehrseite des gut funkti- gilt als Parteisoldat und Mann Raúl onierenden kubanischen Gesundheits-

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 30 Kommentare und Berichte und Sozialsystems ist, dass die Gesell- duktivität und Investitionen zu erhö- schaft altert und die Kosten für den Er- hen. Zudem sollten innerhalb von drei halt des Sozialsystems steigen. Dabei Jahren 1,5 der knapp fünf Millionen hatte Raúl Castro bei seiner Amtsüber- Staatsangestellten entlassen werden. nahme vor zehn Jahren einen durch- Angesichts der Tatsache, dass mehr als aus beachtlichen Reformprozess in 70 Prozent der Kubaner in staatlichen Gang gesetzt. Die Wirtschaft wurde Behörden und Betrieben beschäftigt für ausländisches Kapital geöffnet, der sind, haben Veränderungen in diesem Staatssektor reduziert und mehr Pri- Bereich große Auswirkungen. Doch vatinitiative zugelassen. Darüber hi- bereits Mitte 2011 wurde dieser Plan naus erlaubte die Regierung den Kauf wieder aufgegeben, da die Dinge – wie und Verkauf von Autos und Immobili- so oft auf Kuba – doch mehr Zeit in An- en, hob Reisebeschränkungen auf und spruch nehmen. baute den Internetzugang für die Be- Auch die im Oktober 2010 beschlos- völkerung aus. Viele dieser Maßnah- sene Ausweitung des Kleinunterneh- men haben durchaus für eine neue mertums, der sogenannten trabajo por wirtschaftliche Dynamik sorgen kön- cuenta propia (Arbeit auf eigene Rech- nen. Entscheidend waren neben dem nung), liegt derzeit auf Eis. Zwar ha- Annäherungsprozess mit den USA ins- ben sich schon rund 570 000 Kubaner besondere die größere Autonomie für (12 Prozent der arbeitenden Bevölke- Staatsunternehmen, die Ausweitung rung) selbstständig gemacht, in der des Kleinunternehmertums und das Regel mit einfachen Dienstleistungen Gesetz für ausländische Investitionen. und in Handwerksberufen. Der Aus- bau dieser privatwirtschaftlichen Tä- tigkeiten auf kleiner und mittlerer Ebe- Kubas stockende Erneuerung ne gilt als wichtiger Impulsgeber für Kubas wirtschaftliche Entwicklung. Doch inzwischen hat Havanna weite- Doch im Sommer 2017 entschied die re Schritte in Richtung Öffnung und Regierung, vorübergehend keine neu- Reform vorerst ausgesetzt. So läuft die en Geschäftslizenzen mehr zu verge- Dezentralisierung staatlicher Betriebe ben. Man wolle das Kleinunterneh- nur sehr langsam, und der Genehmi- mertum auf den Prüfstand stellen und gungsprozess von Auslandsinvestitio- Missstände beseitigen. Zudem seien nen verläuft nur schleppend. Überdies „Materialien und Gerätschaften ver- ist die Öffnung des Privatsektors ins botenen Ursprungs“ verwendet wor- Stocken geraten. Die lange angekün- den, und es sei zur „Nichterfüllung von digte Währungsunion zwischen dem Steuerverpflichtungen“ gekommen. Kubanischen Peso und dem sogenann- Oft müssen Kubas Privatunternehmer ten Konvertiblen Peso, die seit 1994 pa- aber schlicht aufgrund der Umstän- rallel zirkulieren, lässt weiter auf sich de in einer rechtlichen Grauzone ope- warten. Das Gleiche gilt für die Verfas- rieren. Die Regierung befürchtet nicht sungsreform und einen Rechtsrahmen zuletzt, dass die USA den Privatsektor für kleine und mittlere Privatunter- als Hebel für Veränderungen nutzen nehmen. könnten. Selbst von den bereits beschlosse- Überdies verfehlt Kuba auch sein nen Reformen wurde bisher nur ein Ziel, jährlich 2,5 Mrd. US-Dollar an Bruchteil umgesetzt. Zentrale Vorha- ausländischem Kapital anzuziehen, ben sind ins Stocken geraten – allen vo- derzeit bei weitem. Um die Wirtschaft ran die Erneuerung des Staatssektors. in Schwung zu bringen und neue Dieser soll dezentralisiert werden, und Technologien ins Land zu holen, hat- die staatlichen Unternehmen sollten te die Regierung Ende 2013 rund um größere Autonomie erhalten, um Pro- den Hafen Mariel, 45 Kilometer west-

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Kommentare und Berichte 31 lich von Havanna, eine Sonderwirt- nald Trump. Die Ende 2014 begonne- schaftszone eingerichtet. Mit beson- ne Annäherung an den früheren Erz- ders günstigen Zoll- und Steuerrege- feind USA dürfte Raúl Castros größte lungen sollten ausländische Kapital- Leistung gewesen sein. Doch die an- geber ins Land gelockt werden – ein fängliche Euphorie ist mittlerweile Modell, dass sich am Vorbild Vietnam verflogen, und die Beziehungen ver- orientiert. 2014 trat zudem ein neues schlechtern sich zusehends. Das zei- Investitionsgesetz in Kraft, das aus- gen die neuen Reise- und Geschäftsbe- ländischen Unternehmen ermöglicht, schränkungen für Kuba, die Washing- in fast alle Bereiche der kubanischen ton Anfang November veröffentlichte. Wirtschaft zu investieren – ausgenom- Demnach sind Individualreisen für die men bleiben Bildung, Gesundheit und meisten US-Amerikaner nicht mehr Militär. Doch trotz Sonderwirtschafts- möglich; auch werden Geschäfte mit zone und Auslandsinvestitionsgesetz kubanischen Staatsunternehmen er- stagniert die wirtschaftliche Entwick- schwert. lung. 2016 rutschte das Land erstmals Die Verschärfungen durch Trump seit zwei Jahrzehnten in die Rezession; bedeuten jedoch keine komplette im vergangenen Jahr wuchs die Wirt- Rücknahme der Annäherungspolitik schaft zwar offiziell wieder um 1,6 Pro- seines Amtsvorgängers Barack Oba- zent, doch viele Beobachter betrachten ma. So wird die von Obama beende- die vorgelegten Zahlen mit Skepsis. te Vorzugsbehandlung kubanischer Migranten, die sogenannte Wet-foot- dry-foot-Regelung, nicht wieder ein- Risikofaktor Donald Trump geführt. Auch die Geldüberweisun- gen aus den Vereinigten Staaten nach Für die geringen Wachstumszahlen Kuba werden nicht beschnitten, und macht die Regierung in Havanna „Ver- US-Kreuzfahrtschiffe und -Fluggesell- schärfungen der US-Blockade“ verant- schaften dürfen weiterhin die Insel an- wortlich, vor allem deren extraterrito- steuern. Auch machte Trump die Wie- rialen Charakter, der den Handel mit deraufnahme der diplomatischen Be- Drittstaaten erschwere. Tatsächlich ziehungen von Mitte 2015 – nach über besteht die Wirtschafts-, Handels- und einem halben Jahrhundert Eiszeit – Finanzblockade der USA fort. Hinzu nicht rückgängig. kommen für Kuba ungünstigere globa- Allerdings zogen die USA Ende Sep- le Rahmenbedingungen. Dazu gehören tember 2017 einen Großteil ihres Bot- die anhaltend niedrigen Weltmarkt- schaftspersonals aus Havanna ab und preise für Öl, Nickel und Zucker sowie wiesen wenige Tage später 15 kuba- die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nische Diplomaten aus. Bei mindes- des engsten Verbündeten und wichtigs- tens 24 auf der Karibikinsel stationier- ten Handelspartners Venezuela. Die ten US-Diplomaten und deren Ange- dortige politische und wirtschaftliche hörigen waren Migräne, Übelkeit, Ge- Krise führte dazu, dass Kubas Ölim- dächtnislücken und Taubheitssymp- porte aus Venezuela schrumpfen. Be- tome bis hin zum Verlust der Hörkraft reits im Sommer 2016 hatte Präsident aufgetreten. Die genauen Ursachen Raúl Castro die Bevölkerung daher auf sind unklar; von US-Seite war über wirtschaftlich schwierige Zeiten ein- „Schallwaffen“ spekuliert worden. Die gestimmt. Behörden und staatliche Be- kubanische Regierung dagegen wies triebe kürzten die Arbeitszeit und fuh- jede Verwicklung zurück und bezeich- ren den Gebrauch von Klimaanlagen nete die Vorwürfe als „Science Fiction“. herunter, um Energie zu sparen. Seit Untersuchungen von kubanischer wie Anfang 2017 kommt noch ein weiterer US-amerikanischer Seite blieben er- Risikofaktor hinzu: US-Präsident Do- gebnislos, dienten Washington aber als

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 32 Kommentare und Berichte

Begründung, die diplomatischen Be- wird es daher sein, die durchschnittli- ziehungen auf ein Mindestmaß herun- chen Einkommen und damit den ma- terzufahren. teriellen Wohlstand der Bevölkerung Doch es gibt auch Lichtblicke auf zu steigern. Auch mit staatlichen Ge- diplomatischer Ebene: Während sich hältern muss es möglich sein, zumin- die Beziehungen zwischen Kuba und dest die Grundbedürfnisse zu decken. den USA zunehmend verschlechtern, Das ist heute vielfach nicht der Fall. Die haben die Europäische Union und „Durchschnittskubaner“ interessie- Kuba einen Neuanfang gestartet. An- ren heute in erster Linie die schlechte fang November 2017 trat das Partner- Transportlage oder der Preis für Toma- schaftsabkommen der EU mit Kuba ten. Pressefreiheit oder Mehrparteien- in Kraft. Es stellt die bilateralen Be- system können aus ihrer Sicht warten; ziehungen auf eine neue Grundlage, bessere wirtschaftliche Möglichkei- nachdem diese zwanzig Jahre vom so- ten und Anzeichen wachsenden Wohl- genannten Gemeinsamen Standpunkt stands dagegen nicht. geprägt waren. Dieser machte eine Die Herausforderungen der kom- Normalisierung der Beziehungen von menden kubanischen Regierung glei- Fortschritten Kubas bei Demokratie chen damit einem Balanceakt zwi- und Menschenrechten abhängig. Kuba schen dem Erhalt von Althergebrach- hatte diese Haltung immer zurückge- tem und notwendiger Erneuerung. wiesen. Anfang 2016 einigte sich Ha- Noch im April 2016 hatte Raúl Castro vanna zudem mit den Gläubigern des auf dem VII. Kongress der PCC bekräf- Pariser Clubs über eine Schuldenres- tigt, eine Privatisierung von Schlüssel- trukturierung und machte so den Weg industrien sowie des Gesundheits- frei für eine Rückkehr an die internatio- oder Bildungswesens werde es nicht nalen Finanzmärkte. Die Wiederher- geben. Auch die Produktionsmittel stellung der Kreditwürdigkeit soll mit- sollten in den Händen des Staates ver- telfristig zu besseren Bedingungen für bleiben und privatwirtschaftliche Tä- Handel und Investitionen führen. tigkeiten einzig ergänzenden Charak- ter in der zentral gelenkten Wirtschaft haben. Auch am Einparteiensystem Wohin steuert Kuba? und der Führungsrolle der Kommu- nistischen Partei werde sich nichts Die künftige kubanische Regierung ändern. steht nun vor der Aufgabe, die gesell- Ob die künftige Regierung neue schaftlichen Fliehkräfte im Zaum zu Wege geht, das wird die Zukunft zei- halten und die Schere zwischen Arm gen. Fest steht: Wandel, vor allem wirt- und Reich nicht zu groß werden zu las- schaftlicher, ist angesichts eines sich ra- sen. Dazu muss sie einerseits die sozi- sant ändernden globalen Umfeldes nö- alen Errungenschaften der Revolution tig. Daher wird sich auch Raúl Castros – wie allgemeine kostenlose Bildung Nachfolger bei den Reformvorhaben und Gesundheit – bewahren und ver- von dessen Maxime leiten lassen: „Oh- bessern. Denn eine Auflösung oder ne Eile, aber ohne Pause.“ gar ein Wegbrechen des Sozialsystems würde wohl schnell den Herrschafts- anspruch der Kommunistischen Partei in Frage stellen. Andererseits werden die Stabili- tät des Landes und damit die Macht des künftigen Präsidenten vor allem von der wirtschaftlichen Entwick- lung abhängen. Wichtigste Aufgabe

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 KOLUMNE

Ungarn: Wahl ohne Aussicht Von Péter Urfi

Unter einheimischen und ausländi- derer. Und bei den Medien steht eine schen Medien, internationalen Orga- übermächtige, skrupellose Maschinerie nisationen und Experten herrscht ein gegen einzelne übriggebliebene unab- großer Konsens. Demnach wird bei uns hängige Plattformen. Auch wendet die in Ungarn der Rechtsstaat abgebaut und Regierungspartei für Plakatwerbung die europäischen Grundwerte werden riesige Summen auf, während die Op- permanent verletzt. Häufig hört man, position kaum über finanzielle Mittel das Land entferne sich weiter von den verfügt. Wenn es ihr doch einmal mit Demokratien westlicher Prägung, weil Müh‘ und Not gelingt, einige Plakate deren Grundelemente – wie eine unab- anzubringen, werden diese im Auftrag hängige Justiz und eine freie Presse – der Regierung über Nacht abgekratzt. immer weniger vorhanden sind. So kommt es unter Oppositionellen zu Wenn aber die Demokratie so sehr langen Diskussion darüber, ob es mög- bedroht ist, gibt es dann auch keine lich ist, die Fidesz abzuwählen. Dage- freien Wahlen? Glaubt man den Oppo- gen werden vor allem zwei Arten von sitionsführern, ist dem mitnichten so. Argumenten vorgebracht. Zum einen Ihnen zufolge ist ihr Sieg bei der kom- geht es um hinlänglich bekannte Hür- menden Parlamentswahl am 8. April den: Das Wahlsystem wurde für die Re- nicht nur möglich, sondern schon so gierungspartei maßgeschneidert. Zwi- gut wie sicher. Das ist ein unlösbarer schen den finanziellen Möglichkeiten Widerspruch, da dieselben Parteien ja der Fidesz – die sowohl über das Geld den Niedergang der demokratischen In- der Steuerzahler als auch das der ihr na- stitutionen betrauern und versprechen, hestehenden Oligarchen verfügt – und diesen umzukehren, wenn sie im April den kläglichen Finanzen der Oppositi- 2018 die Regierung stellen. Nun kann on klafft eine riesige Lücke. Dadurch ist man darüber diskutieren, wie korrekt ein echter Wettbewerb von vornherein und taktisch klug es ist, wenn Parteien, ausgeschlossen. Und schließlich sind die gerade um die für den Einzug ins die staatlichen Institutionen, vom Wahl- Parlament nötigen fünf Prozent kämp- komitee über die Staatsanwaltschaft bis fen, bereits bindende Zusagen für ihre zum Rechnungshof, von der Regierung angeblich baldige Regierungszeit ma- abhängig und entscheiden daher stets chen. Im Moment scheint nicht einmal zu deren Gunsten. ihre ständig wiederholte Behauptung Zum anderen gibt es unbekann- plausibel, die Mehrheit der Wähler be- te Hürden, auf die sich die Opposition fürworte einen Regierungswechsel. kaum einstellen kann: Die Möglich- Sicher ist allerdings: Im gegenwärti- keiten zur Schikane sind unbegrenzt. gen Wahlkampf kann von einem fairen Dabei will Orbán die Opposition kei- Wettbewerb tatsächlich keine Rede sein. neswegs vernichten, sie kann ruhig in Die Politiker der regierenden Fidesz handlichem Rahmen weiter existieren. verweigern die öffentliche Debatte. So bedenkt die Regierung auch die ein- Premierminister Viktor Orbán scheut zige linke Tageszeitung, „Népszava“, das Fernsehduell mit jedem Herausfor- und den einzigen linken Fernsehsen-

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 34 Kolumne der, ATV, mit Geld. Nervt dort aber je- mokratie aufrecht. Wladimir Putin, der mand Orbán zu sehr, verliert er sofort seit fast 20 Jahren in Russland alles be- seinen Job. Selbst wenn jemand Unter- stimmt, nennt dasselbe System „gelenk- schriften sammelt, kann er entlassen te Demokratie“. Orbán hat sich seit acht werden. Geht das nicht, wird eben sein Jahren in seiner „illiberalen Demokra- Vater schikaniert. tie“ eingerichtet. Diese Bezeichnungen Alles in allem kann also niemand sind überraschend ehrlich. Putin und ernsthaft an einen Sieg über die Fidesz Orbán sind täglich bemüht, ihre Über- glauben – sofern nicht etwas Unvorher- macht gleichzeitig zu kaschieren und gesehenes geschieht. Manche Oppositi- zur Geltung zu bringen. Darum benöti- onelle träumen daher schon davon, ein gen sie eine Opposition. Oligarch, der sich mit Orbán überwor- Wäre der Mehrheit der Ungarn jedoch fen hat, werde noch kurz vor der Wahl bewusst, dass es in ihrem Land keine etwas Peinliches aus dem Hut zaubern. Demokratie gibt, hätte das unabsehba- Andere hoffen, es könne etwas Skan- re Folgen. Denn schon die Vorstellung, dalöses über den Geheimvertrag mit die kommende Wahl sei bereits ent- Russland über die Erweiterung des un- schieden, ist schwer zu verdauen. Doch garischen Atomkraftwerks Paks 2 be- die Opposition stellt sich dieser Realität kannt werden. Wieder andere sehnen nicht aufrichtig: Auf die Frage, was ein die „Atombombe“ Brüssels herbei, den Leben unter einer nicht abwählbaren Entzug der Stimmrechte nach Artikel 7 Regierung bedeutet, gibt sie keine Ant- der EU-Verträge. Doch während sie auf wort. Zwar ist das Ziel richtig, irgend- diese Wunder warten, sollten sie sich wann die Regierung abzulösen und der allmählich eingestehen, dass Fidesz illiberalen Demokratie eine Absage zu bei der kommenden Wahl mit demokra- erteilen. Doch um das überhaupt errei- tischen Mitteln nicht besiegt werden chen zu können, muss die Opposition kann. realistischer sein als bisher. Sie sollte nicht über die vermeintli- che Chance schwafeln, Orbán abzulö- Die Opposition muss sen. Vielmehr sollte sie die Wähler auf- realistisch sein klären, warum es für sie vorteilhaft ist, wenn die parlamentarische Opposition Wenn Orbán sich nicht urplötzlich in gestärkt wird. Darauf könnte sie dann einen Demokraten verwandelt oder aufbauen. Die Opposition könnte etwa der Macht überdrüssig wird, wenn also fordern: Wählt uns, damit Orbán keine alles bleibt wie es ist, dürfte die Lage Zweidrittelmehrheit bekommt! Damit selbst 2022 noch die gleiche sein. Trotz er die absolute Mehrheit verfehlt! Denn allem stehe ich morgens nicht auf und noch kann sie die Regierung nicht in die denke, dass Ungarns Ministerpräsident Wüste schicken – aber immerhin einzel- in 20 Jahren noch immer Viktor Orbán ne Wahlbezirke gewinnen. Das zeigte heißen wird. Mir ist auch niemand be- Mitte Februar der Überraschungssieg kannt, der das akzeptieren würde. Das bei der Nachwahl in Hódmezo˝vásárhely, aber ist nicht nur ein Problem der Partei- als ein von allen Oppositionsparteien en, sondern des ganzen Volkes: Wir lü- getragener unabhängiger Kandidat den gen uns in die Tasche. Aber noch mehr Fidesz-Bewerber deutlich schlug. lügt die Macht, indem sie behauptet, So könnte ein Anfang aussehen, der demokratische Spielregeln einzuhalten. einen politischen Wandel mittelfristig Schon 1990 bezeichnete Literatur- ermöglicht. Für diese Wende braucht es Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa aber eine realistisch denkende Opposi- Mexiko als „vollkommene Diktatur“. tion. Dort war die PRI jahrzehntelang an der Macht, hielt aber den Anschein der De- Übersetzung: Gabor Szasz

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 KURZGEFASST

Marcel Serr: Krieg um Syrien: Das neue Great Game, S. 37-43

Sieben Jahre nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs ist noch immer kein Frieden in Sicht. Im Gegenteil: Aus einem vormals regionalen Konflikt ist ein zunehmend globaler Stellvertreterkrieg geworden, in dem sich eine Vielzahl von Akteuren gegenübersteht. Der Politikwissenschaftler und Historiker Marcel Serr analysiert die komplexe Konfliktdynamik. Sein Fazit: Ohne eine Strategie der Deeskalation droht eine Zerreißprobe für die ohnehin schon prekäre multilaterale Weltordnung.

August Pradetto: Mit aller Macht: Wladimir Putin zum Vierten, S. 44-52

Bis 2024 wird der neue und alte russische Präsident Wladimir Putin heißen. Dessen Wiederwahl zeugt allerdings nicht nur von einer unangefochtenen Machtstellung im Innern. Vor allem außenpolitisch hat Putin Russland zu neuer Stärke verholfen. Der Politikwissenschaftler August Pradetto ana- lysiert, wie sehr Putin dabei das Vorbild des westlichen Unilateralismus kopiert – und stellt fest, dass ihm dieser „Realismus“ immer mehr selbst zum Nachteil gereicht.

Craig Murray: Russland unter Anklage: Das Nowitschok-Mysterium, S. 53-57

Der Giftanschlag auf den britisch-russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter in Salisbury hat massive Anklagen westlicher Regierun- gen gegen Russland provoziert. Dabei ist die Beweislage bislang ausgespro- chen dünn. Der ehemalige britische Botschafter Craig Murray beleuchtet die Geschichte des umstrittenen Nervengiftes Nowitschok wie auch die möglichen Verbreitungswege nach dem Untergang der Sowjetunion. In diesem Lichte warnt er vor vorschnellen Schuldzuweisungen.

Alfred W. McCoy: Die Opiumfront. Afghanistan als schwarzes Loch der Geopolitik, S. 59-69

Seit fast vier Jahrzehnten befindet sich Afghanistan im Krieg. Doch ein Ende der Kämpfe ist auch nach über 16 Jahren westlicher Militärinterven- tion nicht in Sicht. Alfred McCoy, Professor für südostasiatische Geschichte, zeigt, wie Sieg und Niederlage in Afghanistan an einer einzelnen Pflanze hängen: dem Schlafmohn. Der Handel mit ihr bestimmt das Konfliktge- schehen und macht das Land zum weltweit führenden Narkostaat. Alle Optionen einer militärischen Befriedung sind daher chancenlos.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 36 Kurzgefasst

GroKo oder: Die große Verschleppung. Mit Beiträgen von Ulrich Schnei- der, Grit Genster und Susanne Götze, S. 71-86

170 Tage nach der Wahl kam es schließlich doch zu einer, wenn auch klei- nen „großen“ Koalition. Doch schon heute steht diese vor gewaltigen Her- ausforderungen. Die zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft (Ulrich Schneider), der dramatische Pflegenotstand (Grit Genster) und eine halb- herzig im Koalitionsvertrag abgehandelte Klimapolitik (Susanne Götze) erfordern grundlegend neue Lösungsansätze. Deren Umsetzung scheint jedoch in weite Ferne zu rücken.

Pankaj Mishra: Imperialer Rassismus. Vom Ersten Weltkrieg bis zu Donald Trump, S. 87-100

Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg betont vor allem die damalige Selbstzerstörung Europas. Dabei kämpften auf beiden Seiten hunderttau- sende nichtweiße Soldaten aus Afrika oder Asien. Sie aber, so der Essayist Pankaj Mishra, erlebten diesen Krieg nicht als Zivilisationsbruch, sondern als Rückkehr der Kolonialgewalt an ihren Ursprung – der ihr zugrunde lie- gende imperiale Rassismus besteht bis heute.

Inken Behrmann: »Wir werden frei sein!«. Schwarzer Widerstand von Martin Luther King bis Black Lives Matter, S. 101-109

Nach der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten hofften viele auf die Überwindung des Rassismus. Doch spätestens seit dem Amtsantritt Donald Trumps und der zunehmenden Polizeigewalt gegen Afroamerika- ner kann davon keine Rede mehr sein. Die Politikwissenschaftlerin Inken Behrmann erinnert vor diesem Hintergrund an die Aktualität des vor 50 Jahren ermordeten Martin Luther Kings und zeichnet eine Linie bis zur Bewegung Black Lives Matter.

Claus Leggewie: Kein Sozialismus ist auch keine Lösung. 1968 und der heimatlose Antikapitalismus, S. 110-118

Als im April 1968 der charismatische Anführer des Sozialistischen Deut- schen Studentenbundes, Rudi Dutschke, angeschossen wurde, war noch nicht absehbar, dass die 68er-Bewegung ihren Höhepunkt bereits über- schritten hatte. Ein halbes Jahrhundert später fragt der Politikwissenschaft- ler und „Blätter“-Mitherausgeber Claus Leggewie, was von ’68 geblieben und was unter die Räder gekommen ist – und inwiefern ein Zusammenhang mit dem Erstarken der Neuen Rechten besteht.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Krieg um Syrien: Das neue Great Game Von Marcel Serr

uch sieben Jahre nach Beginn des blutigen Konflikts kommt Syrien A nicht zur Ruhe. Längst hat sich die Hoffnung zerschlagen, der Bürger- krieg würde sich nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) – durch die Eroberungen Rakkas wie des irakischen Mossul – seinem Ende zuneigen. Auch alle Versuche der diplomatischen Konfliktlösung sind bis- lang gescheitert. Stattdessen ist das Land faktisch dreigeteilt: Das Regime von Baschar al-Assad kontrolliert die bevölkerungsreichsten Kerngebiete Syri- ens. Es stützt sich dabei auf russische Luftunterstützung, iranische Militärbe- rater, die libanesische Hisbollah und vom Iran gesteuerte Milizen. Die Kurden wiederum kontrollieren mit Rückendeckung aus Washington rund 20 Prozent des Landes, einschließlich einer rohstoffreichen Gegend im Nordosten und des ergiebigsten Agrarlandes. Eine Allianz aus der Türkei und sunnitisch-is- lamistischen Rebellen schließlich beherrscht Gebiete im Norden Syriens. Zuletzt konzentrierten sich die Angriffe des Assad-Regimes auf zwei der größten verbleibenden Rebellengebiete: Idlib im Nordwesten und Ost- Ghouta nahe Damaskus, wo es zu erheblichen Verlusten auf Seiten der Zivil- bevölkerung kam. Moskau hielt Assad dabei den Rücken frei, indem es eine vom UN-Sicherheitsrat angestoßene Waffenruhe zur dringend notwendigen Versorgung der Zivilisten verzögerte und verwässerte. Was vor sieben Jahren als Bürgerkrieg begann, ist somit längst zu einem Schlachtfeld geopolitischer Interessen, Allianzen und Rivalitäten geworden. Die Konfliktlinien verlaufen zwischen den internationalen Großmächten USA und Russland, zwischen regionalen Machtzentren wie Israel und Iran und sogar zwischen den Nato-Partnern Türkei und USA. Diese Konstellation erinnert an das „Great Game“, das Russland und Großbritannien im 19. Jahr- hundert um Afghanistan austrugen – doch im Falle Syriens ist die Lage weit- aus komplizierter. Dafür steht schon die Vielzahl der beteiligten Akteure.1 Daraus resultieren zahlreiche Konflikte, die teilweise brandgefährlich sind und bei einer weiteren Zuspitzung nicht nur Syrien selbst betreffen würden. Das gilt insbesondere für eine militärische Auseinandersetzung zwischen Iran und Israel, die derzeit fast unausweichlich scheint. Bei seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar machte der israelische Pre-

1 Vgl. dazu: Hauke Ritz, Die Welt als Schachbrett. Der neue Kalte Krieg des Obama-Beraters Zbig- niew Brzezinski, in: „Blätter“, 7/2008, S. 53-69.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 38 Marcel Serr mierminister Benjamin Netanjahu deutlich, dass Israel nicht gedenkt, seine legitimen Sicherheitsinteressen zu vernachlässigen. Mit einem Trümmerteil einer zerstörten Drohne in der rechten Hand sprach er den iranischen Außen- minister Mohammed Javad Zarif direkt an: „Herr Zarif, erkennen Sie das? Sie sollten es, denn es gehört Ihnen. Sie können es zurücknehmen mit einer Nachricht an die Tyrannen von Teheran: Testen Sie nicht Israels Entschlos- senheit!“2 Damit bezog sich Netanjahu auf einen Vorfall vom 10. Februar die- ses Jahres: In den frühen Morgenstunden trat eine Drohne in den israelischen Luftraum ein. Sie war vom T-4-Luftwaffenstützpunkt westlich von Palmyra in Syrien gestartet, gesteuert von den dort stationierten Quds-Brigaden, einer Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden. Neunzig Sekunden nachdem die Drohne die israelische Grenze überflogen hatte, wurde sie von einem Apache-Kampfhubschrauber der israelischen Luftwaffe (IAF) abgeschos- sen. Wenig später verübten acht F-16-Kampfjets der IAF einen Vergeltungs- schlag. Die syrische Luftverteidigung feuerte daraufhin mehr als zwanzig Boden-Luft-Raketen ab. Dabei wurde eine F-16 getroffen, die in großer Höhe im israelischen Luftraum flog und wohl zu spät auf den Angriff reagierte. Die zweiköpfige Besatzung konnte sich rechtzeitig mit dem Schleudersitz retten. In der Folge weitete Israel die Luftschläge aus und zerstörte zwölf Ziele in Syrien einschließlich der Luftverteidigung nahe Damaskus sowie iranische Militäreinrichtungen. Dieser Vorfall war in zweifacher Hinsicht bemerkens- wert: Zum ersten Mal steuerten die Iraner selbst eine Drohne, die den israeli- schen Luftraum verletzte. Vor allem aber war zuvor mehr als drei Jahrzehnte lang kein IAF-Kampfjet mehr abgeschossen worden. Insofern markiert diese Auseinandersetzung eine erhebliche Eskalation im Konflikt zwischen Iran und Israel.

Irans Achse des Widerstands

Schon seit der Iranischen Revolution von 1979 betrachtet Teheran Israel als Erzfeind, als „Krebsgeschwür“ oder „kleinen Satan“ und droht regelmäßig mit der Vernichtung des jüdischen Staates. Umgekehrt bewertet Jerusalem den Iran als erstrangige Sicherheitsbedrohung. Gleichzeitig strebt das schi- itische Regime in Teheran aggressiv eine regionale Vormachtstellung an, der sich die sunnitischen Staaten unter Führung Saudi-Arabiens widerset- zen. Begünstigt wurden diese Ambitionen nolens volens durch die US-In- vasion des Irak im Jahr 2003. Der Sturz des sunnitischen Despoten Saddam Hussein im mehrheitlich schiitischen Irak hat das Kräftegleichgewicht der Region in den letzten Jahren zugunsten Teherans verschoben. Dank des militärischen Eingreifens Washingtons sah sich Iran von einem mächtigen Gegner und Konkurrenten befreit. Geschickt baut Teheran seither den Irak zu seinem Einflussgebiet aus, in dem vom Iran gelenkte Milizen operieren und iranische Unternehmen die Wirtschaft dominieren. Vor diesem Hinter-

2 Vgl. „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 18.2.2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Krieg um Syrien: Das neue Great Game 39 grund markiert die Einflussnahme in Syrien den konsequenten nächsten Schritt in der iranischen Geopolitik. Teheran bastelt an einer „Achse des Widerstands“, einem iranisch kontrollierten Korridor, der über Bagdad und Damaskus bis in die libanesische Hauptstadt Beirut reicht, wo die schiitische Hisbollah residiert, eine iranische Kreation aus den 1980er Jahren. Indem Iran das Regime Baschar al-Assads in Damaskus stützt, etabliert das Land eine direkte Zugangs- und Versorgungsroute zur libanesischen Terrororga- nisation via Irak und Syrien. Um die eigenen Verluste im Syrienkonflikt möglichst gering zu halten, unterhält Iran schlagkräftige Milizen mit bis zu 20 000 schiitischen Kämpfern aus Afghanistan, dem Irak, Libanon und Pakistan, die mittlerweile als Rück- grat der Pro-Assad-Truppen gelten.3 Dieses Vorgehen basiert auf der Strate- gie, durch ein weitverzweigtes Netz von Stellvertretern die iranische Macht- und Einflusszone über große Distanzen auszuweiten. Diesem Ziel dienen auch die verbündeten Huthi im Jemen. Sobald die letzten „Widerstandsnes- ter“ vernichtet sind, mit voraussichtlich unzähligen weiteren zivilen Opfern, und Assad wieder fest im Sattel sitzt, wird Iran seine Milizen in Syrien auf ein neues Ziel ausrichten – Israel. Die Vorbereitungen laufen bereits. Iran etab- liert über ganz Syrien verteilt Militärbasen und Ausbildungslager für seine Stellvertreter-Milizen. Das Regime errichtet sogar Produktionsstätten für Raketen in Syrien und im Libanon. Im Falle eines bewaffneten Konflikts will Teheran dem jüdischen Staat offenbar einen Zweifrontenkrieg aufzwingen – mit der Hisbollah im Libanon und schiitischen Milizen oder den Quds-Bri- gaden in Syrien. Israel wiederum hat verbal, vor allem aber durch über hundert Luftschläge innerhalb der letzten sieben Jahre in Syrien zu verstehen gegeben, dass es die iranische Präsenz im Nachbarland nicht duldet. Das gilt insbesondere für den Bau von militärischer Infrastruktur. Denn die Stationierung von iranischen Waffensystemen stellt eine erhebliche Veränderung des regionalen Kräfte- gleichgewichts zulasten Israels dar. Bereits heute ist das Raketenarsenal der Hisbollah schon aufgrund seiner schieren Masse äußerst beunruhigend: Mehr als 100 000 Raketen sollen auf Israel gerichtet sein.4 Überdies haben sich deren Zielgenauigkeit und Reichweite dank iranischer Unterstützung erheb- lich verbessert. Von diesen präzisionsgeleiteten Waffen geht eine erhebliche Gefahr für Israel aus: Die kritische Infrastruktur des Landes konzentriert sich auf wenige Punkte, die die Hisbollah genau ins Visier nehmen kann. Derweil bleibt die Nahost-Politik der USA unter Präsident Donald Trump weiterhin vage und undefinierbar. Dabei sind die Vereinigten Staaten, ganz entgegen der Erwartung, Trump werde sein Land in eine isolationistische Periode führen, in dieser Region durchaus wieder aktiver geworden. Aller- dings hat dies die Spannungen eher noch verschärft:5 So versetzte Trumps Ankündigung, die US-Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem zu ver-

3 Vgl. Ben Hubbard, Isabel Kershner und Anne Barnard, Iran, Deeply Embedded in Syria, Expands „Axis of Resistance“, www.nytimes.com, 19.2.2018. 4 Vgl. Loveday Morris und Louisa Loveluck, With sharp words and stealth strikes, Israel sends a mes- sage to Hezbollah and U.S., www.washingtonpost.com, 21.9.2017. 5 Vgl. dazu: Christopher R. Hill, Syrien: Das Scheitern der USA, in: „Blätter“, 3/2018, S. 37-38.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 40 Marcel Serr legen, die gesamte Region zeitweilig in Aufruhr.6 Außerdem verschärfte sich die Rhetorik Washingtons gegenüber Iran, insbesondere mit Blick auf den von Trump gering geschätzten Atomdeal. Auch zeigt sich die Trump-Regie- rung weniger zurückhaltend beim Einsatz militärischer Mittel als sein Vor- gänger Barack Obama: Auf Assads wiederholten Einsatz von chemischen Kampfstoffen reagierte das Weiße Haus im April 2017 mit dem Beschuss eines syrischen Flugfeldes durch Marschflugkörper. Zudem intensivierte die Trump-Regierung den Kampf gegen den IS in Syrien und im Irak. Bis zu 2000 US-Soldaten sind derzeit in Syrien im Einsatz. Sie kooperieren eng mit den Demokratischen Kräften Syriens (DKS), einer Dachorganisation von Milizen, die von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) dominiert wer- den, dem syrischen Zweig der PKK. Nach dem weitgehenden Sieg über den IS stellte der damalige US-Außen- minister Rex Tillerson im Januar 2018 klar, dass die US-Truppen bis auf weite- res in Nordsyrien bleiben werden, um ein Wiedererstarken der Islamisten zu verhindern und den iranischen Einfluss einzugrenzen. Doch die US-Soldaten befinden sich inmitten eines unübersichtlichen Kampfgeschehens auf immer engerem Raum. Das wurde in der Nacht vom 7. Februar 2018 schlagartig deutlich: Vom Iran geführte Einheiten belegten die von den USA unterstütz- ten DKS-Einheiten südlich von Deir al-Zour mit Artilleriefeuer. Anschließend rückten rund 500 Mann gegen die DKS-Stellung vor. Ihr Ziel war offenbar die Eroberung einer von den Kurden kontrollierten Ölförderanlage. Doch ein massiver US-Luftschlag schlug die Angreifer in die Flucht, etwa 100 Kämp- fer wurden dabei getötet, darunter wohl auch eine unbekannte Anzahl rus- sischer Söldner der paramiliärischen Wagner Group.7 Obgleich die Hinter- gründe der russischen Beteiligung an der Operation unklar sind, zeigt der Vorfall, dass es in Syrien jederzeit zu einer direkten Konfrontation zwischen russischen und US-amerikanischen Truppen kommen kann.

Türkei: Nato-Partner auf Kollisionskurs

Noch komplizierter wird die Lage durch die Rolle der Türkei. Für sie bedeu- tet die fortwährende US-Unterstützung der syrischen Kurden eine Provoka- tion. Ankara betrachtet die YPG-Miliz als Terrororganisation und will die Entstehung einer autonomen kurdischen Region in Nordsyrien, unmittelbar an der Grenze zur Türkei, verhindern. Daher befahl Präsident Recep Tayyip Erdog˘an am 20. Januar 2018 den Einmarsch der türkischen Streitkräfte in die kurdisch kontrollierte Stadt Afrin im Nordwesten Syriens, die sie dann knapp zwei Monate später einnahmen.8 Offenbar baten die Kurden am 19. Februar ausgerechnet Assad um Hilfe, mit dem sie bislang aufgrund ihrer Unabhän-

6 Vgl. Riad Othman, Trump und Jerusalem: Die gefährliche Kraft des Faktischen, in: „Blätter“, 2/2018, S. 17-20. 7 Joshua Yaffa, Putin’s Shadow Army Suffers a Setback in Syria, www.newyorker.com, 16.2.2018; Christoph Reuter, Amerikanischer Furor. Was geschah wirklich in Deir al-Sor?, www.spiegel.de, 1.3.2018. 8 Zweifel an Rechtmäßigkeit von türkischer Offensive, www.zeit.de, 8.3.2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Krieg um Syrien: Das neue Great Game 41 gigkeitsbestrebungen verfeindet waren. Damit bekämpfen nun Assad und die kurdischen Rebellen gemeinsam die Türkei, um die territoriale Integrität Syriens zu verteidigen – eine äußerst unvorhergesehene Wende, selbst für den an Überraschungen reichen syrischen Bürgerkrieg. Überdies stellt der türkische Feldzug jedoch die Beziehungen innerhalb der Nato auf eine schwere Belastungsprobe. Denn die Türkei hat bereits angedroht, das Kampfgebiet auszuweiten – auch auf Bereiche, in denen sich US-amerikanische Truppenbasen befinden. Damit rückt die bewaffnete Konfrontation zweier Nato-Mitglieder in den Bereich des Möglichen. Dies ist auch Ausdruck der zunehmenden Distanz Erdog˘ans zum transatlantischen Bündnis. Stattdessen musste die Türkei für ihre Militäroperation die Einwil- ligung Russlands einholen, insbesondere mit Blick auf den Einsatz der Luft- waffe. Und Russlands Präsident Wladimir Putin wird der Türkei mit Freu- den grünes Licht gegeben haben – im Wissen um den dadurch entstehenden Konflikt zwischen den Nato-Partnern in Ankara und Washington.

Neuer Hausherr Putin?

Bereits im Herbst 2015 hatte Russland auf Seiten des Assad-Regimes militä- risch in den Syrienkonflikt eingegriffen. In erster Linie ging es Putin darum, sein Land erneut als Großmacht auf der internationalen Bühne zu verankern, bestenfalls auf Kosten des alten und neuen Rivalen in Washington. Tatsäch- lich ist es Moskau in den letzten zweieinhalb Jahren gelungen, die USA weit- gehend aus Syrien zu verdrängen und sich geopolitisch im Nahen Osten an die Spitze der externen Mächte zu setzen. Möglich wurde dies freilich nur deshalb, weil Washington sich unter Präsident Obama aus dem Nahen Osten sukzessive zurückgezogen hat. Putins Kalkül ist damit aufgegangen: Russ- land ist wieder wer im Nahen Osten. Zuletzt wurde dies der Welt im Februar 2018 vor Augen geführt, im Rah- men des erwähnten iranisch-israelischen Schlagabtausches. Israel plante nach dem Abschuss seiner F-16 wohl eine umfangreichere Gegenoffensive. Doch ein Anruf des russischen Präsidenten genügte, um Jerusalem an einer weiteren Eskalation zu hindern. Nach israelischen Medienangaben „bat“ Putin Netanjahu, von Handlungen abzusehen, die zu „gefährlichen Konse- quenzen für die Region“ führen könnten.9 Israelische Beobachter zeigten sich darüber enttäuscht. Angesichts positiv verlaufener Treffen zwischen Putin und Netanjahu hatten sie gehofft, Russland werde sich zumindest neu- tral verhalten. Doch eine größere Auseinandersetzung zwischen Iran und Israel ist keinesfalls im Interesse Russlands, da sie die mühsam erkämpfte Stabilität des Assad-Regimes wieder ins Wanken bringen würde. Ein schwe- lender Konflikt niedriger Intensität dient hingegen durchaus Putins Interes- sen, erlaubt er Moskau doch, ungestört die eigene strategische Position wei- ter auszubauen.

9 Vgl. Amos Harel, Putin’s Phone Call With Netanyahu Put End to Israeli Strikes in Syria, www.haaretz. com, 15. 2.2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 42 Marcel Serr

Fraglich ist jedoch, ob Russland eine derart volatile Konstellation wie im Nahen Osten dauerhaft kontrollieren kann. Mittelfristig ist jedenfalls auch Russland nicht an einer dauerhaften Präsenz Irans in Syrien gelegen. Dazu sind die Interessen beider Mächte zu verschieden. Im Gegensatz zu Teheran sieht Putin das politische Überleben Assads nicht unbedingt als notwendig an, solange das Regime in Damaskus insgesamt nach Moskaus Pfeife tanzt. Da Russland die Rolle der einflussreichen Großmacht im gesamten Nahen Osten spielen will, kann es sich außerdem nicht leisten, zu intensive Bezie- hungen mit Teheran zu pflegen. Das würde die sunnitischen Staaten ver- prellen, insbesondere in der Golfregion. Einstweilen jedoch inszeniert sich Putin mit seiner Syrien-Politik gekonnt als konträr agierender Gegenpol zu den USA. Washingtons Verbündete im Nahen Osten waren schockiert dar- über, wie schnell die Obama-Regierung bereit war, den langjährigen Ver- bündeten Hosni Mubarak in Ägypten nach den Massenprotesten im Januar/ Februar 2011 aufzugeben – nur um dann ausgerechnet eine Regierung der Muslimbruderschaft zu akzeptieren. Demgegenüber will Putin zeigen, dass er seinen Verbündeten beisteht, koste es, was es wolle. Diese Haltung soll Eindruck auf die Staatschefs im Nahen Osten machen – und in der Tat: Sie verfehlt ihre Wirkung nicht. Sowohl Saudi-Arabien als auch die Türkei – beide bislang mit Militärgerät aus den USA versorgt – haben Interesse am Kauf des russischen S-400-Raketensystems angemeldet. In erster Linie spielt Syrien aber eine zentrale Rolle in Putins geopolitischen Großmachtträumen. Dabei geht es um die Fähigkeit, militärische Macht über größere Distanzen auszustrahlen. Hierfür sind Flottenverbände entschei- dend, die wiederum Versorgungsstützpunkte benötigen. So arbeitet Putin am Aufbau einer russischen Mittelmeerflotte, für die der von Russland gepach- tete syrische Hafen Tartus eine Schlüsselrolle spielt. Elf Schiffe soll Russlands Marine dort unterbringen und versorgen können – auch nukleare U-Boote. Darüber hinaus pachtet Russland die Khmeimim-Luftwaffenbasis im Westen des Landes. Die dort stationierten Luftstreitkräfte sollen der künftigen russi- schen Mittelmeerflotte die nötige Luftunterstützung gewährleisten. Insofern kommt Syrien eine entscheidende Bedeutung für Putins Geopolitik zu.10

Hochexplosive Lage

Diese Gemengelage sorgt dafür, dass sich die Situation in Syrien und der Region so schnell nicht entspannen dürfte. Ende Februar deutete sich eine erneute Eskalation an. Der US-amerikanische Nachrichtensender „Fox News“ veröffentlichte am 27. Februar 2018 Satellitenbilder, die eine irani- sche Militärbasis außerhalb von Damaskus zeigen, wo die Quds-Brigaden unter anderem Raketen lagern sollen.11 Dem könnte ein israelischer Luftan- griff folgen. Denn Ähnliches hatte sich bereits im Dezember 2017 zugetra-

10 Vgl. Yaakov Kedmi, Moscow on the Euphrates, in: „Israel Defense“, Winter 2018, Nr. 40, S. 19-22. 11 Vgl. Jennifer Griffin und Lucas Tomlinson, New satellite photos show Iran establishing another base in Syria, www.foxnews.com, 27. 2.2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Krieg um Syrien: Das neue Great Game 43 gen: Nach einem Bericht der BBC über einen Militärstützpunkt pro-irani- scher Kräfte in Syrien folgte ein Luftangriff, der Israel zugeschrieben wird.12 Irgendwann wird Iran auf Israels Luftschläge reagieren. Wissend um die militärische Überlegenheit Israels, wird Teheran möglicherweise auch jüdi- sche und israelische Ziele im Ausland ins Visier nehmen. Der Konflikt wird dann nicht auf den Nahen Osten beschränkt bleiben. Eine Entschärfung des Konflikts auf dem Verhandlungsweg ist derzeit unwahrscheinlich. Die gesellschaftlichen Wunden gehen tief. Das Assad- Regime, das chemische Kampfstoffe und Fassbomben willkürlich gegen die eigene Bevölkerung einsetzt, ist außergewöhnlich brutal vorgegangen. Das liegt auch daran, dass die Fronten entlang ethnischer, ideologischer und reli- giöser Bruchlinien verlaufen. Daher ist die Opposition in eine Vielzahl von Akteuren gespalten und erreicht keine kritische Masse. Erschwerend kommt hinzu, dass die Macht bei einer Minderheit liegt, den Alawiten. In einer sol- chen Konstellation ist die Furcht vor der Rache der unterdrückten Mehrheit groß. Daher neigt das Regime zu besonderer Brutalität. Aufgrund der Ein- mischung von außen ist auch das „Ausbluten“ einer Seite unwahrscheinlich – zumal sich längst eine Bürgerkriegsökonomie herausgebildet hat, in der die Gewaltakteure ein Interesse am Fortbestand des Konfliktes haben, um ihre Stellung und ihr Einkommen zu sichern. Hinzu kommt, dass die externen „Spieler“ allesamt gegensätzliche Ziele verfolgen und so eine konzertierte Aktion, die eine Lösung erzwingen könnte, derzeit unmöglich erscheint. Die Trump-Regierung ist dabei weiterhin die große Unbekannte. Klar ist vor allem, dass die USA Iran als akute Bedrohung wahrnehmen, wie jüngst auch Trumps Sicherheitsberater, H. R. McMaster, auf der Münchner Sicher- heitskonferenz verdeutlichte: „Jetzt ist die Zeit, um gegen den Iran zu han- deln.“13 Sollte diese Ankündigung zu einem offensiveren Vorgehen gegen Iran auf syrischem Territorium führen, würde sich die Situation dort weiter zuspitzen. Israel erhielte dadurch mehr Handlungsspielraum für eigene Mili- täroperationen, gleichzeitig würde eine Konfrontation mit Russland erheb- lich wahrscheinlicher. Letztlich wird daher vor allem Wladmir Putin beweisen müssen, ob er der von ihm angestrebten russischen Rolle als neuer Ordnungsmacht im Nahen Osten gerecht werden kann. In erster Linie müsste er dazu die verhärtete Situ- ation zwischen Iran und Israel entspannen – alles andere als eine einfache Aufgabe. Möglicherweise spielt die Zeit dabei aber für Jerusalem. Denn früher oder später wird Putin der iranischen Präsenz in Syrien überdrüssig werden. Dann dürfte er sich der israelischen Position zuneigen, und das große Spiel um Syrien ginge in eine neue Runde. Das Land und seine geschundene Bevölke- rung aber, so viel steht fest, werden noch lange nicht zur Ruhe kommen.

12 Amos Harel, Satellite Images of Iranian Missile Base in Syria May Signal an Israeli Strike, www. haaretz.com, 3.3.2018. 13 Tovah Lazaroff, McMaster: Time is now to act against Iran’s proxies, www.jpost.com, 18.2.2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Mit aller Macht: Wladimir Putin zum Vierten Von August Pradetto

ass Wladimir Putin auch aus seiner vierten Wahl zum russischen Prä- D sidenten siegreich hervorgehen würde, konnte unter innenpolitischen Vorzeichen nicht wirklich überraschen. Aber diese Tatsache hat vor allem auch eine außenpolitische Dimension. Die „Rückkehr Russlands auf die Weltbühne“ war in den letzten Jahren unübersehbar, und sie ist eindeutig verbunden mit dem Namen Putin: von der „Heimholung“ der Krim über die erfolgreiche Unterstützung von Separatisten bei der von Moskau mitverur- sachten Krise in der Ukraine bis zur Kriegsbeteiligung in Syrien unter ande- rem mit dem Ergebnis, dass Russland seine Militärstützpunkte weiter aus- bauen kann. Kurzum: Putin made Russia great again. Speziell das Vorgehen der russischen Führung in der Ukraine und im Nahen Osten ließ den Westen konfus und hilflos aussehen. Und inzwischen gibt es bereits weitergehende Absprachen über Einflusszonen in Syrien mit dem Nato-Mitglied Türkei sowie die Vorstellung neuer, global einsetzbarer Waffensysteme. Innenpolitisch dagegen stand und steht Putin nach wie vor für die Über- windung des Chaos der Jelzin-Ära, für Ruhe und Ordnung sowie für einen partiellen Wirtschaftsaufschwung, der sich auch für die Mittelschichten bemerkbar machte. Die Sanktionen westlicher Länder, das niedrige Niveau der Ölpreise, die Korruption und eine insgesamt von ökonomischer Stagna- tion gekennzeichnete Entwicklung setzen dem Land zwar zu, aber die Krise konnte zumindest teilweise kompensiert werden. Und zur mentalen Integra- tion dient vor allem ein massiver antiwestlicher Nationalismus.

Putin als innenpolitischer Stabilitätsanker

Nicht zuletzt steht Putin innenpolitisch für Stabilität. Das ist ein Wert, der nach Umfragen des Carnegie Moscow Center und des Levada Center nicht nur für die älteren, sondern auch für die meisten jungen Menschen der russi- schen Gesellschaft von hoher Bedeutung ist. Für die meisten ist die Verbes- serung ihrer Lebensbedingungen prioritär, nicht jedoch der regime change. Daran ändert auch die vor allem in der Jugend zunehmende Unzufriedenheit mit der Einschränkung von Liberalität und Offenheit wenig. Außerdem gab es bei der Wahl keine ernstzunehmenden Gegenkandidaten. Der einzige

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Mit aller Macht: Wladimir Putin zum Vierten 45 potentielle Kandidat, der eine Herausforderung für Putin gewesen wäre – Alexej Nawalny, in seinem Nationalismus eher noch rechts vom Präsiden- ten –, wurde wegen einer politisch umstrittenen Verurteilung nicht zu den Wahlen zugelassen. Der Westen hat sich also auch in der vierten Amtszeit Putins auf einen großen außenpolitischen Macht- und Gestaltungswillen im Kreml einzustellen. Dieser geht einher mit einer ausgesprochen „realisti- schen“ Weltsicht: In einer Welt der Anarchie, so die Grundannahme, in der Akteure um Einfluss und Macht ringen und dafür ihre ökonomischen, poli- tischen und militärischen Ressourcen einsetzen, überlebt nur derjenige, der sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln an dieser Auseinander- setzung erfolgreich beteiligt. Internationales Recht, regelkonformes Verhal- ten und internationale Organisationen werden vor allem unter dem Aspekt ihrer Instrumentalisierbarkeit wahrgenommen. In diesem Denkschema fühlt sich Moskau bestätigt; die Krim, Syrien und die wiederbelebte Angst des Westens vor Russland werden als Erfolge verbucht.

Die gefährliche Kopie der Außenpolitik des Westens

Putin folgt damit keineswegs nur einer „Pfadabhängigkeit“ russischer impe- rialer Tradition, sondern liegt hier in einem sich seit 20 Jahren verstärkenden weltpolitischen Trend. Unilateralisierung und die Militarisierung von Außen- politik sowie die Abkehr von Völkerrecht und kooperativen Institutionen sind nicht nur das Markenzeichen aktueller russischer Politik. Lange bevor Mos- kau die Krim annektierte und in Syrien intervenierte, führten westliche Staa- ten Kriege gegen Serbien, Afghanistan, Irak sowie Libyen und unterstützten in Syrien massiv islamistische Bürgerkriegsparteien – alles unilateral oder in „Koalitionen der (Kriegs-)Willigen“ und somit völkerrechtswidrig. Allein Frankreich hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten an die 30 Mal in Afrika militärisch interveniert – oftmals ohne Mandat der Vereinten Nationen. Ver- haftet in „realistischen“ Denkschablonen, setzte Washington alles daran, auch die Ukraine in die Nato zu bekommen – völlig unnötig und kontra- produktiv unter dem Gesichtspunkt kooperativer sicherheitspolitischer und militärischer Beziehungen auf dem eurasischen Kontinent. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten andere Akteure dem „unipola- ren Moment“ (Charles Krauthammer) der USA zunächst nichts entgegen- zusetzen. Doch Putin hat in den letzten Jahren wesentliche Elemente der außenpolitischen Leitkultur Washingtons übernommen. Freilich war die Annexion der Krim deswegen noch lange nicht „logisch“, sondern eine eigenständige Entscheidung für jene militarisierte Globalpoli- tik, wie sie vor allem für die USA seit 9/11 charakteristisch ist. Russland wäre ohne die Krim nicht unsicherer, und mit der Krim ist Russland keinesfalls sicherer geworden. Im Gegenteil: Russland ist längst selbst zu einem Faktor der Konfliktverschärfung und der Erosion des Völkerrechts geworden. Zu welchen Trugschlüssen „realistisches“ Denken verleiten kann, zeigt die Fehlkalkulation Putins, Donald Trump als US-Präsidentschaftskandidat

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 46 August Pradetto zu unterstützen – trotz dessen deutlichen Ankündigungen, massiv aufrüs- ten und dem Multilateralismus sowie internationalen Organisationen den Rücken kehren zu wollen. Ob die Einmischung in den US-Wahlkampf von der Abneigung gegen die Moskau-kritische Hillary Clinton oder vom Grund- satz geleitet war, alles was „den Westen“ durcheinanderbringt (beispiels- weise ein Konflikt zwischen den USA und der EU), sei gut für Moskau, oder beides: Die gesteigerte Weltunordnung schadet der Sicherheit, der Stabilität und dem Wohlstand Russlands nicht weniger als anderen Weltregionen. Auch die Unterstützung rechtsradikaler und populistischer Parteien in Europa basiert auf einer solchen „realistischen“ Fehlkalkulation: Mehr Nationalismus bringt Moskau höchstens kurzfristig politische Entlastung. Längerfristig trägt Moskau ein hohes Risiko, unter anderem weil sich west- liche Länder wie auch China erheblich mehr Rüstung leisten können. Mit einer kurzfristigen Besserung der Lage bzw. mit einer außenpolitischen Reorientierung ist weder in Moskau noch bei anderen zentralen Akteuren zu rechnen. Fast simultan stellten Donald Trump und Wladimir Putin neue Nuklearwaffen- und Raketenprogramme vor, die einen neuen Rüstungswett- lauf einläuten und Abrüstungs- und Rüstungskontrollbemühungen zunichte machen. Die immer unverfrorener vorgetragenen Gebietsansprüche Pekings gegenüber Anrainern, das massive Aufrüstungsprogramm Washingtons, der Druck auf die europäischen Nato-Mitglieder, ihre militärischen Ausgaben um fast das Doppelte der bisherigen Budgets zu erhöhen, die Steigerung der Waffenexporte auch in Krisengebiete und an Konfliktparteien, die türkische Intervention in Syrien, die Interventionen Saudi-Arabiens in seinen Nach- barländern, die Einmischung Irans und damit die weitere Chaotisierung des Greater Middle East: Dies alles ist Ausdruck der Erosion jener Prinzipien, die gerade von den zentralen Playern auf globaler und regionaler Ebene zu berücksichtigen wären, um nach dem Zerfall der alten Weltordnung eine sta- bile neue zu schaffen. Und weder in den USA noch in Russland, China oder den anderen genann- ten Staaten gibt es eine ausreichende Opposition, die willens und in der Lage wäre, diesen Trend umzukehren.

Europas Chance: Allianzen der Legalität und Koalitionen der Rechtswilligen

Welche Optionen gibt es für Deutschland und Europa? Abgesehen von der Partikularität europäischer Staaten wäre der Versuch einer klassischen Balance-of-Power-Politik nur geeignet, den beschriebenen Trend zu ver- stärken – ebenso wie die Strategie, sich an die eine oder andere Großmacht anzuhängen, um die eigenen Interessen zu wahren (bandwagoning). Somit bleibt zweierlei: eine größere Autonomie hinsichtlich europäischer Sicher- heit (und damit kollektiver europäischer Verteidigungsglaubwürdigkeit gemäß Art. 42 Abs. 7 des Vertrags von Lissabon) und eine Politik der Stär- kung von Völkerrecht und internationalen Organisationen. Bindung qua

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Mit aller Macht: Wladimir Putin zum Vierten 47

Recht und rechtsbasierte Institutionen sind neben kollektiven militärischen Beistandsregelungen die Stärke kleiner und mittlerer Staaten. Die Tatsa- che, dass im Prinzip auch die großen Staaten an der Einhaltung internatio- nalen Rechts durch konkurrierende Akteure interessiert sind, verschafft der Charta der Vereinten Nationen und dem Sicherheitsrat selbst in Zeiten von Trump, Putin und Erdog˘ an eine gewisse Autorität. Sanktionen werden gegen solche Akteure nicht wirksam. Umso wichtiger ist es, durch das Bestehen auf Rechtskonformität Druck auszuüben. Putin ist dabei nur ein Adressat. Für die EU und damit auch für Deutsch- land geht es darum, Allianzen der Legalität und Koalitionen der Rechtswil- ligen zu schmieden – nicht nur gegen Moskau, sondern auch gegen diverse Verbündete, um eine militärische Instrumentalisierung der Kapazitäten von Nato und EU zu verunmöglichen. Verteidigungspolitik muss wieder Vertei- digungspolitik werden, und nicht wie seit Ende der 1990er Jahre zunehmend globale militärische Interessenpolitik. Wenn nicht klargestellt und vorge- lebt wird, dass Rechtsgrundsätze für alle bindend sind, könnte Russland für Europa und Deutschland längerfristig ein noch größeres Problem werden. Putin instrumentalisiert in immer stärkerem Maße negative Entwicklun- gen im Westen für seine autoritäre Innen- und destruktive Außenpolitik. Und im Westen gibt es einen analogen Trend: nämlich Politiker, Militärs und Think Tanks, die genau darauf abzielen, Russland als (in seiner Gefähr- lichkeit kalkulier- und kontrollierbaren) Feind darzustellen, der die eigenen weltpolitischen und militärischen Ambitionen legitimiert. Zukunftsgerichtet ist diese egozentrische Vabanque-Mentalität nicht. Aber ob sich die Auffas- sung durchsetzt, dass nur die Stärkung von Rechtsverhältnissen sukzessive wieder mehr Rationalität und Ethik in die bestehende Weltunordnung brin- gen kann, ist angesichts der Machtungleichgewichte und der Erosion von Rechtsbewusstsein alles andere als sicher. Wie schwer dies ist, zeigte soeben der Fall des russischen Doppelagenten Sergej Skripal.

Der Nervengiftanschlag auf Sergej Skripal und die Reaktion des Westens

Der Nervengiftanschlag auf Skripal und seine Tochter Julija im südengli- schen Salisbury Anfang März 2018 und die darauffolgenden Reaktionen sind der vorläufige Tiefpunkt des Verhältnisses zwischen Russland und dem Wes- ten. Die Rhetorik eskaliert seither in einer Weise, die an die kältesten Zeiten des Kalten Krieges erinnert. Bei dem Anschlag handele es sich um „einen bewaffneten illegalen Gewalteinsatz gegen Großbritannien durch den russi- schen Staat“, verkündete Theresa May, woraufhin sich die USA, Frankreich und Deutschland mit Großbritannien solidarisch erklärten. De facto sprach die britische Premierministerin von einem Kriegsakt Moskaus gegen Groß- britannien, mit dem sie vor dem Parlament die Ausweisung 23 russischer Diplomaten begründete, die der Kreml umgehend mit der Ausweisung 23 britischer Diplomaten aus Russland beantwortete.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 48 August Pradetto

Natürlich ist nicht auszuschließen, dass die Moskauer Führung einen ehe- maligen (oder eventuell sogar bis zum Anschlag für beide Seiten arbeiten- den?) Doppelagenten beseitigen will und dies auch mit einem chemischen Kampfstoff bewerkstelligt. Um so mehr, als die Duma vor zwei Jahren ein Gesetz beschlossen hat, das die Liquidierung von Überläufern und Verrätern auch im Ausland legalisiert (was übrigens an zahlreiche Fatwas in islami- schen Staaten erinnert). Die Logik spricht aber nicht gerade für ein solches Vorgehen. Abgesehen von der schlechten Stimmung, die dadurch interna- tional vor der Fußballweltmeisterschaft in Russland erzeugt wird: Welches Interesse kann Moskau haben, dass eventuell vorhandenen Kapazitäten an verbotenen militärischen Kampfstoffen international zu großer Publizität verholfen wird? Russland würde dadurch zu einem Paria, der die gesamte internationale Öffentlichkeit gegen sich hat. Selbst wenn Putin, wie seine „Rede an die Nation“ zwei Wochen vor seiner Wiederwahl zum Präsidenten zeigte, daran Gefallen findet, dem Westen Angst vor neuen konventionellen und nuklearen Offensivwaffen zu machen, und selbst wenn das russische Verteidigungsministerium weiterhin über derartige Substanzen verfügen oder gar an ihrer Weiterentwicklung arbeiten sollte: Welches Interesse kann daran bestehen, international zu einem Außenseiter gestempelt zu wer- den, der alle ethischen Prinzipien und vertraglichen Vereinbarungen über Chemiewaffen bricht? Und selbst wenn die russische Führung aus welchen Gründen auch immer Sergej Skripal umbringen wollte: Warum wird er nicht erschlagen, erstochen, erschossen oder, nach altem Geheimdienstbrauch, in einen fingierten Autounfall verwickelt? Oder entführt und nicht mehr auf- gefunden?

Cui bono?

Angenommen, der Kreml wollte ein Exempel statuieren und hat eine Kam- pagne gestartet, um (potentielle) Überläufer einzuschüchtern: Verstehen die Adressaten das erst, wenn Skripal und seine Tochter mit einem verbotenen chemischen Kampfstoff ausgeschaltet werden? Oder wollte Putin – westliche Reaktionen legen derartige Gedanken nahe – mit diesem Anschlag gerade zeigen oder sogar damit drohen, dass man über chemische Waffen verfüge, die in der Lage sind, heimtückisch und ganz ohne den Einsatz „klassischer“ militärischer Mittel x-beliebige Teile der britischen Bevölkerung oder der Bevölkerung eines jeden anderen westlichen Landes zu vernichten? Das würde Putin und Moskau umso mehr zu einem Feind der Sonderklasse stempeln, der aufgrund vorhandener Technologie und zur Ver- fügung stehender Ressourcen nicht nur erheblich gefährlicher wäre als Nord- korea, sondern der moralisch noch weit unter dem im Westen tendenziell als „Irren“ und „Raketenmann“ charakterisierten nordkoreanischen Machtha- ber Kim Jong-un stünde. Der russischen Politik, Diplomatie, Wirtschaft und dem Versuch, über den Fernsehsender „RT“ und andere Medien die westli- che und internationale Öffentlichkeit für sich einzunehmen, wäre damit nicht

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Mit aller Macht: Wladimir Putin zum Vierten 49 gerade gedient. Auch innenpolitisch bestand wenig Handlungsbedarf, vor den Wahlen eine Aktion durchzuführen, die der einheimischen Öffentlich- keit durch die staatlich gelenkten Medien eine sowieso verbreitete Ansicht bestätigt: dass das Land vom Westen schlecht gemacht und alles unternom- men werde, um Russland seinen berechtigten Platz in der internationalen Arena streitig zu machen. Ein Giftgasanschlag wie der auf Skripal dürfte auch in der russischen Öffentlichkeit als eher unappetitlich oder furchter- regend wahrgenommen werden. Außerdem war sowieso klar, dass Putin mit großer Mehrheit wiedergewählt würde. Und zur nationalistischen Ein- peitschung zwecks Mobilisierung für den Gang an die Wahlurnen eigneten sich andere Themen und Motive besser: die Feier zum vierten Jahrestag der „Heimholung“ der Krim just am Tag der Wahl, die „grandiosen Erfolge“ der russischen Streitkräfte bei der Intervention in Syrien, die Vorstellung neuer Waffensysteme, die Russland angeblich unbesiegbar machen, und auch Putins Kritik an den Missständen im Land. Vor diesem Hintergrund liegt die Frage nahe, wer ein Interesse an den Implikationen und Folgen einer Aktion haben könnte, die Russland in einem so nachteiligen Licht erscheinen lässt: nämlich als vertragsbrüchigen, hin- terhältigen und aller Skrupel entledigten Mörderstaat. Beweise für die Täterschaft Moskaus wurden bislang nicht präsentiert. Statt Argumente für die Anschuldigungen vorzulegen, dekretierte der briti- sche Verteidigungsminister gegenüber Moskau, „das Maul zu halten und zu verschwinden“. Und die offiziellen Unterstützungsreaktionen aus Washing- ton, Paris und Berlin waren nicht viel besser. Oder hat die britische Regie- rung ihren Verbündeten Evidenzen vorgelegt, die die Verurteilung Moskaus plausibel erscheinen lassen? Bekannt ist davon nichts.

Hauptproduktionsstätte Usbekistan

Bekannt ist stattdessen, dass die Hauptproduktionsstätte für die Entwick- lung und Produktion des Nervengiftes Nowitschok in Usbekistan lag, und dass nach dem Ende der Sowjetunion dort wie im Westen größte Befürch- tungen über den illegalen Export biologischer und chemischer Kampfstoffe bestanden. Die nichtrussischen Republiken (teilweise auch Russland selbst) versanken zum größeren Teil (bis auf die baltischen Staaten) im Chaos des überstürzten neoliberalen Umbruchs. Klar ist auch, dass das Nervengift, das aus chemischen Elementen besteht, die jedes für sich harmlos sind, aber im Zusammenspiel eine tödliche Wirkung entfalten, auch anderswo als in Russ- land illegal hergestellt werden kann. Was darüber hinaus zutage liegt: Sergej Skripal, Ex-Offizier des russischen militärischen Nachrichtendienstes, heute 66 Jahre alt, war Doppelagent (vermutlich ab 1995) und wurde 1999 im Rang eines Oberst pensioniert. Danach arbeitete er im Haushaltsausschuss des russischen Außenminis- teriums bzw. in der Administration des Moskauer Oblast und gleichzeitig weiterhin für den britischen MI6. 2004 wurde er kurz nach einer Reise nach

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 50 August Pradetto

Großbritannien wegen Spionage für den britischen Geheimdienst verhaftet und 2006 wegen Hochverrats zu erstaunlich milden 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Laut Anklage waren aufgrund seiner Tätigkeit unter anderem 300 russische Agenten aufgeflogen. Im Zuge eines Austauschs von Spionen kam er 2010 nach England, erhielt die britische Staatsbürgerschaft und ließ sich in Salisbury nieder. Der Anschlag selbst und seine Umstände sind ominös. Anfang März 2018 besuchte ihn seine Tochter Julija, aus Moskau anreisend. Die Familie war im Zuge des Agentenaustauschs 2010 ebenfalls nach England gekommen. Julija Skripal kehrte allerdings 2014 nach Russland zurück und war dort als Geschäftsfrau tätig. Vor einem Jahr starb ein Sohn Skripals in nicht näher bekannten Umständen auf einer Urlaubsreise mit seiner Freundin in Sankt Petersburg. Trotz ihres exilierten Vaters konnten die Kinder ungehindert und frei zwischen Großbritannien und Russland hin- und herreisen. Laut der Einlassung eines Exilkollegen, Valery Morozov, war Skripal weiterhin für Russland tätig und hatte regelmäßig die russische Botschaft in London aufge- sucht. Morozov, der nach eigenen Aussagen als Bauunternehmer in Russland die Korruption nicht mehr ausgehalten und um sein und seiner Familie Leben gefürchtet hatte, lebt seit 2012 in Surrey, anderthalb Autostunden von Salis- bury entfernt.1 Gemäß britischen Nachforschungen war ein „Geschenk“, das auf dem Flug von Moskau nach London am 3. März 2018 im Koffer von Julija Skripal transportiert wurde, mit dem Nervengift imprägniert worden. In Wirklichkeit ist das genaue Ziel des Anschlags ebenso unklar wie die Provenienz derer, die – wenn sich diese Darstellung als haltbar erweisen sollte – den Gegenstand im Koffer von Skripals Tochter entsprechend aufbe- reitet haben. In einer Stellungnahme zu den Anschuldigungen von Downing Street Nr. 10 ließ Labour-Führer Jeremy Corbyn verlauten, nach Faktenlage könnten einfach auch Gangster hinter dem Anschlag stecken. Angesichts der Erfahrungen mit vorschnellen Beschuldigungen wie vor dem Irakkrieg 2003 möge Theresa May sich vor übereilten Zuschreibungen hüten. Darüber hinaus: Politische Motive könnten viele haben, von tschetschenischen Extre- misten, die Moskau desavouieren wollen, bis zu ukrainischen Ultras, die auf eine Verschärfung der westlich-russischen Auseinandersetzung aus sind.

Ein neues »containment« gegen Moskau?

Geht es also bei der politischen Aufbereitung des Vorfalls um ein neues, aggressiveres containment gegen Moskau? Wird er ausgeschlachtet, um – wie der russische Außenminister Sergej Lawrow vermutete – den Schwie- rigkeiten des Brexit mit einem vehementeren Feindbild zu begegnen? Wird jetzt die Gunst der Stunde für eine Demonstration westlicher Geschlossen- heit genutzt, nachdem durch die Wahl Donald Trumps und seine desaströse Allianzpolitik inklusive der Relativierung der Nato, durch den Austritt Groß-

1 Vgl. das Interview mit dem „Independent“, 7.3.2018; sowie: Nick Holdsworth, The film Russia tried to block: The „threats and corruption” behind Sochi Olympics, in: „The Telegraph”, 24.11.2013.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Mit aller Macht: Wladimir Putin zum Vierten 51 britanniens aus der Europäischen Union und die Spaltung Europas infolge der Flüchtlingsproblematik das Bild tiefer Zerrissenheit entstanden ist und das Zutrauen in die Fähigkeit von EU und Nato, die bestehenden Krisen zu bewältigen, immer mehr gelitten hat? Sind die simultanen Reaktionen Angela Merkels und Emmanuel Macrons der Versuch, die aggressive Stra- tegie Moskaus zu kontern, die auf eine Schwächung und Fragmentierung der EU abzielt und darauf, nationalistischen, anti-europäischen Kräften zum Durchbruch zu verhelfen? Ist die dem Stand der Untersuchung und der Auf- klärung wenig angemessene Reaktion auch auf das Bestreben zurückzufüh- ren, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, London könne sich in einer Aus- einandersetzung mit Moskau nicht auf seine Verbündeten verlassen? Soll der Anmutung eines neuen Zerwürfnisses zwischen der EU und Großbritannien, das neben politischen auch sicherheitspolitische Implikationen hätte, von vornherein der Boden entzogen werden? Verschwörungstheoretisch könnte man sowohl zu dem Schluss kom- men, dass Moskau doch hinter der Kampfstoffattacke steckt, weil die man- gelnde Plausibilität hinsichtlich der Urheberschaft Moskaus zu offensichtlich erscheint und die russische Führung genau deswegen auf eine Vertiefung der Spaltung des Westens spekuliert hat. Man könnte aber auch zu dem Schluss gelangen, dass die Art und Weise, wie der versuchte Mord an Skripal ausge- führt wurde, aus den schon genannten Motiven auf eine westliche „Agentur“ hindeutet. Auszuschließen ist angesichts der langen Geschichte von zum Teil haarsträubenden geheimdienstlichen Aktivitäten beides nicht. Die Wahr- scheinlichkeit für beides ist aber nicht sehr hoch. Angesichts der beschränk- ten Reichweite russischer Propaganda im Westen und der Dominanz eher anti-russisch eingestellter Mainstream-Medien kann sich durch diesen Anschlag mit einem chemischen Kampfstoff, der mit Moskau in Verbindung gebracht wird, das Image Russlands im Westen nur verschlechtern. Damit aber würde dort die Bereitschaft für die Steigerung von Rüstungsausgaben und eine verschärfte Eindämmungspolitik gegenüber Moskau nur wachsen.

Die Verselbstständigung der Netzwerke?

Prinzipiell sind dem britischen, französischen und US-Geheimdienst nicht weniger perfide Methoden zuzutrauen als ihren russischen Counterparts. Nötig haben sie es allerdings angesichts dessen, was Moskau in den letzten Jahren außen- und innenpolitisch veranstaltet hat, auch nicht. Und es gibt genügend aktuelles Material. Ost-Ghouta ist zwar weiter weg als Salisbury, aber die Bilder von verstümmelten Kindern und zerstörten Krankenhäusern bringen genügend negative Images in die Wohnzimmer westlicher Länder, die Moskau als Unterstützer einer menschenverachtenden Vernichtungs- kampagne charakterisieren können. Auszuschließen ist freilich nicht, dass russische Geheimdienstmitarbeiter auf eigene Faust mit Skripal abrechneten und dass die Wahl der Methoden sich mit ihrer Sensibilität in Bezug auf den Ruf ihres Landes deckt. Das Prob-

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 52 August Pradetto lem der Verselbstständigung von Geheimdiensten oder von Teilen derselben und ihrer Zusammenarbeit mit der Mafia ist nicht nur ein russisches Problem, dort aber besonders evident. In den letzten Jahren gab es in den USA und in Großbritannien ein Dutzend mysteriöser Todesfälle aus Oligarchen- und Geheimdienstkreisen. Die Verselbstständigung von Netzwerken im staatli- chen und militärischen Bereich ist, wie Untersuchungen über die Eskalation vieler internationaler Krisen zeigen, auch ein sicherheitspolitischer Risiko- faktor. Bezogen auf Russland, könnte der post-imperiale Phantomschmerz, der nicht wenige in Russland umtreibt, zusammen mit der nationalistischen und anti-westlichen Propaganda und der Verschärfung von Auseinander- setzungen zwischen Russland und dem Westen zu Übergriffen führen, ohne dass diese ins strategische Konzept Moskaus passen. In welcher Form und mit welcher Intensität die Aufbereitung des Falls Skripal erfolgt, ist jedenfalls ein Indikator für den zerrütteten Zustand im rus- sisch-westlichen Verhältnis im Besonderen und in den internationalen Bezie- hungen im Allgemeinen. Die Inszenierung passt jedenfalls in das Schema dessen, was sich seit Beginn der 2000er Jahre an fataler Destruktion koope- rativer Beziehungen und der Rekonstruktion von Feindbildern abspielt – samt ihrer Instrumentalisierung für je eigene Interessen und Motive. Ohne eine grundsätzliche Umkehr an dieser Stelle dürfte der Fall Skripal nur der Vor- schein noch gefährlicherer Krisen sein. Die Einrichtung einer internationalen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Affäre unter Einschluss russi- scher Experten und auf Basis der OPCW, der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen, wäre dagegen ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.

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Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Russland unter Anklage: Das Nowitschok-Mysterium Von Craig Murray

n den vergangenen Jahren gab es oft Spekulationen darüber, dass in den I frühen 1970er Jahren als Teil des sogenannten Foliant Programms eine vierte Generation von Nervengasen, sogenannte Nowitschoks (Newcomer), in Russland entwickelt wurden – mit dem Ziel, einen Kampfstoff zu finden, der militärische Verteidigungsmaßnahmen unterlaufen würde. Informatio- nen über diese chemischen Verbindungen waren in der Öffentlichkeit sehr spärlich, die meisten kamen von einem russischen Dissidenten und Militär- chemiker mit dem Namen Wil Mirsajanow. Es wurde jedoch nie eine unab- hängige Bestätigung über Struktur oder Eigenschaften von solchen chemi- schen Verbindungen veröffentlicht. Im Jahr 2016 publizierte Robin Black – der Leiter des Aufklärungslabora- toriums von Großbritanniens einziger Anlage für chemische Waffen in der Forschungseinrichtung Porton Down und ein früherer Kollege von David Kelly1 – in einem renommierten Wissenschaftsjournal einen Artikel, wonach der Beweis für die Existenz von Nowitschoks dürftig und ihre Zusammen- setzung unbekannt sei.2 Dennoch behauptet jetzt die britische Regierung, im Falle des Anschlags auf Sergej Skripal und seine Tochter, eine Substanz aus dem Stegreif identifizieren zu können, die ihr eigenes Forschungszentrum für biologische Waffen niemals zuvor gesehen hat und deren Existenz unge- sichert ist. Schlimmer noch: Sie behauptet nicht nur, diese Substanz iden- tifizieren zu können, sondern auch deren Herkunft nachweisen zu können. Wenn man sich Blacks Publikation vor Augen hält, dann ist es offensichtlich, dass dies nicht wahr sein kann. Die internationalen Experten für chemische Waffen teilen Blacks Auffas- sung. Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) ist eine Abteilung der UN, die in Den Haag angesiedelt ist. Hier folgt der Bericht ihrer Wissenschaftsabteilung aus dem Jahre 2013, die aus US-amerikani- schen, französischen, deutschen und russischen Vertretern zusammenge-

* Der Artikel basiert auf mehreren Blog-Beiträgen, die unter www.craigmurray.org.uk und in deut- scher Übersetzung unter www.nachdenkseiten.de erschienen sind. 1 David Kelly war der Chemiewaffenexperte und Whistleblower, der die Geheimdienstlüge über die irakischen Massenvernichtungswaffen ans Licht brachte und dann unter seltsamen Umständen ums Leben kam. 2 Robin Black, Development, Historical Use and Properties of Chemical Warfare Agents, Royal Society of Chemistry, 2016.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 54 Craig Murray setzt war und in der Black Großbritannien vertrat: „[Der wissenschaftliche Beirat] betont, dass die Begriffsbestimmung über giftige Chemikalien in dem Abkommen alle potentiellen chemischen Verbindungen einschließt, die als Chemiewaffen benutzt werden könnten. Was neue giftige Verbindungen anbelangt, die nicht im chemischen Verzeichnis aufgelistet sind, die aber dennoch ein Risiko für das Abkommen sein könnten, weist der wissenschaft- liche Beirat auf die ‚Nowitschoks’ hin. Der Name ‚Nowitschoks’ wird in einer Veröffentlichung von einem früheren sowjetischen Wissenschaftler benutzt, der berichtet hat, nach einer neuen Klasse von Nervengiften zu forschen, die als binäre chemische Waffen angewendet werden könnten. Der wissen- schaftliche Beirat möchte hiermit feststellen, dass er nicht über ausreichende Informationen verfügt, um sich über die Existenz oder die Eigenschaften von ‚Nowitschoks’ äußern zu können.“3 Die OPCW war in der Tat so skeptisch über die Existenz von Nowitschoks, dass sie beschloss – mit dem Einverständnis der USA und Großbritanniens – weder sie noch deren angebliche Vorläufer auf ihre Verbotsliste zu setzen. Kurzum, die breite Gemeinschaft der Wissenschaftler nahm an, dass Mir- sajanow zwar an Nowitschoks arbeitete, zweifelte aber an seinem Erfolg. Angesichts der Tatsache, dass die OPCW die Existenz von Nowitschoks bezweifelt, wäre es ungemein wichtig gewesen, dass Großbritannien der OPCW eine Probe davon hätte zukommen lassen – wenn man denn eine sol- che überhaupt hatte. Großbritannien ist zudem vertraglich verpflichtet, dies zu tun. Russland seinerseits hat dagegen einen Antrag an die OPCW gerich- tet, dass Großbritannien eine Probe des Materials aus Salisbury einreichen solle, damit sie international untersucht werden könne. Aber London wei- gerte sich, dies zu tun. Stattdessen sollten Ermittler der OPCW am Tatort in Salisbury Proben nehmen, was dann auch geschah. Ein weiterer Teil der Anschuldigungen von Theresa May ist, dass Nowit- schoks nur in bestimmten militärischen Einrichtungen hergestellt werden können. Doch das ist nachweislich nicht wahr. Wenn es die Nowitschoks denn wirklich gibt, so wurden sie mutmaßlich so gestaltet, dass sie mühe- los in jeder chemischen Werkstatt hergestellt werden können – das war ein Hauptaspekt davon. Der einzige reelle Beweis für die Existenz von Nowit- schoks war die Aussage des früheren sowjetischen Wissenschaftlers Mirsa- janow. Der aber schrieb bereits 1995: „Man sollte nicht vergessen, dass die chemischen Verbindungen der Vorläufer von A-232 oder ihre binäre Variante Nowitschok-5 gewöhnliche Organophosphate sind, die in gewerblichen che- mischen Fabriken hergestellt werden können, die auch solche Produkte wie Dünger und Pestizide herstellen.“4 Wissenschaftlich gesehen, kann Porton Down unmöglich in der Lage gewesen sein, auf russisches Nowitschok zu schließen, wenn es niemals eine

3 OPCW, Bericht des wissenschaftlichen Beirats über Entwicklungen in Wissenschaft und Techno- logie für die dritte Berichtskonferenz, 27.3.2013. 4 Vil Mirzayanov [deutsche Transkription: Wil S. Mirsajanow], Dismantling the Soviet/Russian Che- mical Weapons Complex: An Insider’s View, in: Amy E. Smithson, ders., Gen Lajoie und Michael Krepon, Chemical Weapons Disarmament in Russia: Problems and Prospects, in: „Stimson Report N° 17“, Oktober 1995, S. 21.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Russland unter Anklage: Das Nowitschok-Mysterium 55 russische Probe davon besessen hat, um sie damit vergleichen zu können. Sie mögen eine Probe gefunden haben, die identisch mit einer Formel von Mirsajanow ist, aber da dieser die Formel bereits vor zwanzig Jahren veröf- fentlichte, belegt dies nicht ihre russische Herkunft. Wenn Porton Down sie synthetisch herstellen kann, so können das außer den Russen viele andere auch. Und schlussendlich: Mirsajanow ist ein usbekischer Name und das Nowitschok-Programm, sollte es denn existiert haben, lief zwar in der Sow- jetunion, aber weit entfernt vom heutigen Russland, im heute usbekischen Nukus. Während meiner Zeit als Botschafter dort habe ich die Chemiewaf- fenfabrik in Nukus selbst besucht. Sie war abgebaut und sicher, alle Vorräte waren vernichtet und die Ausrüstung war, meiner Erinnerung nach, damals von der US-Regierung demontiert worden. Es gab in Wirklichkeit niemals einen Beweis für die Existenz von Nowitschoks im heutigen Russland. Zusammenfassend lässt sich somit Folgendes feststellen. Erstens: Porton Down hat in seinen Veröffentlichungen bestätigt, niemals irgendwelche rus- sischen Nowitschoks gesehen zu haben. Die britische Regierung hat keine Informationen, die einem „Fingerabdruck“ gleichkommen würden, wie zum Beispiel Verunreinigungen, nach denen diese Substanz eindeutig Russland zugeordnet werden könnte. Zweitens: Bis heute waren weder Porton Down noch die weltweiten Experten der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) von der Existenz von Nowitschoks überzeugt. Drittens: Das Vereinigte Königreich hat sich geweigert, der OPCW eine Probe zur Verfü- gung zu stellen. Viertens: Nowitschoks wurden hauptsächlich entwickelt, um auf Basis herkömmlicher Bestandteile in jedem wissenschaftlichen Labor hergestellt werden zu können. Die Amerikaner haben die Einrichtung, die Nowitschoks angeblich entwickelt hat, studiert und abgerissen. Es entspricht somit nicht der Wahrheit, dass nur die Russen sie, so es Nowitschoks denn tat- sächlich gibt, hergestellt haben könnten, wenn das potentiell jeder konnte. Fünftens: Das Nowitschok-Programm war in Usbekistan angesiedelt und nicht in Russland. Sein Vermächtnis wurde nicht an die Russen weiterver- erbt, sondern an die Amerikaner, zu Zeiten ihrer Allianz mit Karimow.

Wo sind die Beweise?

Doch genau dieselben Leute, die einst versichert haben, dass Saddam Hus- sein Massenvernichtungswaffen hätte, wollen uns jetzt weismachen, Wla- dimir Putin benutze Nowitschok, um Menschen auf britischem Boden anzugreifen. Wie bei der Geschichte von den irakischen Massenvernich- tungswaffen ist es auch hier unerlässlich, nachzuprüfen ob die Beweise auch schlüssig sind. Ein wichtiges Wort jedenfalls fehlte bei der Erklärung von Theresa May am 17. März: das Wort „nur“. Sie sagte nämlich nicht, dass das benutzte Nervengift nur von den Russen hergestellt wurde. Sie sagte viel- mehr, dass diese Gruppe von Nervenkampfstoffen „von den Russen entwi- ckelt“ worden war. Antibiotika wurden von einem Schotten entwickelt, aber das ist kein Beweis dafür, dass alle Antibiotika heutzutage auch von Schotten

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 56 Craig Murray verabreicht werden. Die Giftgase der Nowitschok-Gruppe – ein weitgefass- ter Begriff für jene Gruppe von neuen Nervengiften, die die Sowjetunion vor fünfzig Jahren entwickelt haben soll – sind mit größter Wahrscheinlichkeit von Porton Down analysiert und kopiert worden. Porton Down produzierte damals chemische und biologische Waffen und noch heute produziert es solche in geringen Mengen zur Verteidigung und um Gegengifte zu entwi- ckeln. Nach dem Zerfall der Sowjetunion stellten russische Chemiker eine Menge von Informationen über diese Nervengifte zur Verfügung. Nowitschok ist demnach keine spezifische Substanz, sondern eine Klasse von neuen Nervengiften. Übereinstimmend wird berichtet, dass sie entwor- fen wurden, um besonders beständig und um ein Vielfaches wirksamer zu sein als Sarin oder VX. (Das allerdings ist kaum vereinbar mit der Tatsache, dass bisher zum Glück noch niemand daran gestorben ist und dass diejeni- gen, die damit möglicherweise in Berührung kommen, angeblich nur ihre Kleidung waschen müssen.) Von einer guten Quelle im FCO, dem britischen Außenministerium, habe ich die Bestätigung erhalten, dass die Wissen- schaftler von Porton Down nicht die Möglichkeit haben, den Nervenkampf- stoff als einen von Russland hergestellten Kampfstoff zu identifizieren und dass sie verbittert über den Druck auf sie sind, es doch zu tun. Porton Down würde – nach einem eher schwierigen Meeting, wobei das Folgende als Kom- promiss herauskam –, nur die Formulierung „von einer Art, wie sie von Russ- land entwickelt wurde“ unterschreiben. Die Russen haben vermutlich im Nowitschok-Programm nach einer Gene- ration von Nervenkampfstoffen geforscht, die mit handelsüblichen Aus- gangsstoffen wie Dünger und Insektiziden hergestellt werden könnten. In diesem Sinne ist die Substanz ein Nowitschok. Es ist von dieser Art. Genauso wie ich auf einem Laptop schreibe, der in den Vereinigten Staaten entwickelt, aber in China hergestellt wurde. Dies war jedem aus dem Regierungsviertel (wörtlich: „anybody with a Whitehall background“) seit einigen Tagen klar. Die Regierung hat niemals gesagt, dass der Nervenkampfstoff in Russland hergestellt wurde oder dass nur Russland ihn hätte herstellen können. Die exakte Formulierung „eines Typs, wie er von Russland entwickelt wurde“ hat Theresa May im Parlament benutzt; sie wurde vom Vereinigten König- reich im UN-Sicherheitsrat benutzt, von Boris Johnson in der BBC – und, am verräterischsten von allem, ist „eines Typs, wie er von Russland entwickelt wurde“, genau der Satz, der in der gemeinsamen Erklärung des Vereinigten Königreiches, der USA, Frankreichs und Deutschlands benutzt wurde: „Der Einsatz eines militärischen Nervenkampfstoffs eines Typs, wie er von Russ- land entwickelt wurde, stellt die erste offensive Anwendung eines solchen Nervengifts in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg dar.” Wenn von derselben sorgfältig ausgewählten Formulierung niemals abge- wichen wird, dann weiß man, dass sie das Resultat eines sorgfältig gewähl- ten Kompromisses des Regierungsviertels ist. Meine Quelle im Außenmi- nisterium und ich erinnern uns noch an den außergewöhnlich hohen Druck auf das Personal des Außenministeriums und anderer Beamter, das schmut- zige Dossier über die irakischen Massenvernichtungswaffen abzuzeichnen,

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Russland unter Anklage: Das Nowitschok-Mysterium 57 einen Druck, den ich in meinem Buch „Murder in Samarkand“ wiedergege- ben habe. Es taugt offenbar zum Vergleich mit dem, was jetzt passiert, beson- ders in Porton Down, aber ohne meine Soufflage. Nebenher habe ich auch noch die Presseabteilung der OPCW angeschrieben und sie gebeten, mir zu bestätigen, dass es niemals einen schlagenden Beweis für die Existenz russi- scher Nowitschoks gegeben hat und dass das Programm zur Vernichtung der russischen Chemiewaffen letztes Jahr abgeschlossen wurde. Kennen Sie diese interessanten Tatsachen? Die Inspektoren der OPCW hatten über ein Jahrzehnt lang vollen Zugang zu allen russischen Einrichtungen zur Herstellung von Chemiewaffen – ein- schließlich denjenigen, die vom vermutlichen Nowitschok-Whistleblower Mirsajanow benannt worden waren – und letztes Jahr haben die Inspektoren der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen die letzten 40 000 Tonnen russischer Chemiewaffen zerstört. Im Vergleich dazu ruht das Programm zur Zerstörung amerikanischer Chemiewaffen seit fünf Jahren. Auch Israel hat umfangreiche Lager von chemischen Waffen, aber es weigert sich, sie der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen zu melden. Bis zu dieser Woche war die fast einhellige Meinung aller Experten für Chemiewaffen sowie auch die offizielle Stellung der OPCW, dass Nowit- schoks vor allem ein theoretisches Entwicklungsprogramm waren, das die Russen nie abgeschlossen oder wirklich synthetisiert und hergestellt hat- ten. Darum stehen sie auch nicht auf der Liste der von der OPCW verbote- nen Chemiewaffen. Porton Down ist sich nicht sicher, dass, wenn überhaupt, es die Russen waren, die Nowitschok hergestellt haben. Von daher heißt es: „eines Typs, wie er von Russland entwickelt wurde“. Man beachte: entwi- ckelt, nicht gemacht, hergestellt oder produziert. Es ist eine sorgfältige Wör- terpropaganda. Eines Typs, wie sie von Lügnern entwickelt wurde. Umso mehr bin ich zutiefst aufgeschreckt von den hektischen Anstrengun- gen der Geheimdienst-, Spionage- und Rüstungsindustrien, die Russenpho- bie zu schüren und einem neuen Kalten Krieg den Weg zu bereiten. Beson- ders besorgt bin ich über die Anzahl von „Experten“ des Kalten Krieges, die jetzt die Nachrichten beherrschen. Ich schreibe hier als jemand, der durchaus glaubt, dass Agenten des russische Staates Alexander Litwinenko ermordet haben und dass der russische Geheimdienst zumindest einen Teil der Bom- benanschläge auf Appartments ausgeführt hat, die den Ausschlag für den brutalen Angriff auf Tschetschenien geliefert haben. Ich bin überdies auch der Auffassung, dass die russische Besetzung der Krim und von Teilen Geor- giens illegal ist. Doch die naive Sicht, die die Welt in „Gute“ und „Böse“ unterteilt, mit unserer eigenen herrschenden Klasse als den Guten, ist Unfug. Ich war in Usbekistan selbst Zeuge der Bereitschaft der Sicherheitsbehörden des Ver- einigten Königreichs und der USA, Erkenntnisse anzunehmen und zu bestä- tigen, von denen sie wussten, dass sie falsch waren, nur um ihre politischen Ziele weiter zu verfolgen. Wir sollten daher hinsichtlich der jetzigen antirus- sischen Geschichte sehr skeptisch sein. Es gibt viele mögliche Verdächtige bei diesem Angriff.

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Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Die Opiumfront Afghanistan als schwarzes Loch der Geopolitik

Von Alfred W. McCoy

ach einem Krieg, der mittlerweile länger andauert als jeder andere ihrer N Geschichte, stehen die Vereinigten Staaten in Afghanistan am Rande der Niederlage. Ein Ende der Kämpfe ist nicht in Sicht und die Aussichten auf ein stabiles Afghanistan sind derart trostlos, dass bereits Präsident Barack Obama den geplanten Rückzug der US-Truppen stoppte und entschied, über 8000 US-Militärs auf unabsehbare Zeit im Land zu belassen. Wie aber konnte es dazu kommen? Wie konnte die einzige Supermacht dieser Erde mehr als 16 Jahre lang ununterbrochen kämpfen – auf dem Höhe- punkt des Konflikts mehr als 100 000 Soldatinnen und Soldaten entsenden, fast 2300 Militärangehörige opfern, über eine Billion Dollar für ihre Militär- operationen ausgeben und darüber hinaus eine Rekordsumme von 100 Mrd. Dollar für „Nation-Building“ sowie zur Finanzierung und Ausbildung einer 350 000 Köpfe zählenden afghanischen Bündnistruppe aufbringen – und es trotzdem nicht schaffen, eines der mittlerweile ärmsten Länder der Welt zu befrieden?

Der Schlafmohn als Kriegsschmiermittel

Das amerikanische Scheitern erscheint paradox: Washingtons waffen- starrende Kriegswalze wurde durch eine unscheinbare Blume zum Stehen gebracht – den Schlafmohn. In den fast vier Jahrzehnten, in denen Washing- ton in Afghanistan Krieg führte, waren seine Operationen stets nur dann erfolgreich, wenn sie sich halbwegs in die Muster des illegalen Opiumhan- dels in Zentralasien einfügten. Verliefen sie nicht komplementär dazu, nah- men sie Schaden. Die erste Intervention der Vereinigten Staaten in Afghanistan erfolgte noch während des Kalten Krieges. Als die Sowjets im Dezember 1979 Kabul besetzten, um ihr Vasallenregime dort vor dem Sturz zu bewahren, schalte- ten sich die USA ein, indem sie militanten Muslimen in deren Kampf zur Ver- treibung der Sowjetarmee beisprangen. In Washington, das noch unter dem

* Der Beitrag ist die deutsche Erstveröffentlichung eines Auszugs aus „In the Shadows of the Ameri- can Century“, dem jüngsten Buch des Autors, das im Verlag Haymarket Books erschienen ist. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Karl D. Bredthauer.

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Trauma des vier Jahre zuvor erfolgten Falls von Saigon stand, beschloss man, Moskau durch die Unterstützung des islamistischen Widerstands in Afgha- nistan nun „sein eigenes Vietnam“ zu bescheren. Die folgenden zehn Jahre hindurch versorgte die CIA die Guerillakrieger der Mudschaheddin mit Waffen im Wert von schätzungsweise drei Milliar- den Dollar. Diese Unterstützung sollte, zusammen mit den Erlösen eines expandierenden Opiumanbaus, den afghanischen Widerstand jene zehn Jahre hindurch aufrechterhalten, derer es bedurfte, um den sowjetischen Rückzug zu erzwingen. Ein Grund für den seinerzeitigen Erfolg der ame- rikanischen Strategie bestand darin, dass der von der CIA ausgelöste Stell- vertreterkrieg die afghanischen Verbündeten nicht daran hinderte, den anschwellenden Drogenhandel des Landes zur Finanzierung ihres langwie- rigen Kampfes zu nutzen.

Opiumhandel unter den Augen der CIA

Der aktuelle Krieg begann unmittelbar nach den Terroranschlägen von 9/11. Obwohl seit Oktober 2001, seit der amerikanischen Invasion zum Sturz des Taliban-Regimes, fast ununterbrochen gekämpft wird, sind alle Bemühun- gen, das Land zu befrieden, gescheitert – hauptsächlich deshalb, weil es den USA schlicht nicht gelungen ist, die explodierenden Gewinne aus dem afghanischen Heroinhandel unter ihre Kontrolle zu bringen. Afghanistans Opiumproduktion schwoll von etwa 180 Tonnen im Jahr 2001 auf über 3000 Tonnen ein Jahr nach der Invasion und bis 2007 sogar auf über 8000 Tonnen an. In jedem Frühjahr füllt der Ertrag der Opiumernte die Kassen der Taliban aufs Neue und befähigt diese, einen neuen Schub von Guerillakämpfern zu rekrutieren. In jedem Stadium dieser seit fast vier Jahrzehnten andauernden turbulen- ten und tragischen Geschichte – im verdeckten Krieg der 1980er Jahre, im Bürgerkrieg der 1990er und der Besatzungszeit seit 2001 – hat Opium eine zentrale Rolle gespielt und das Schicksal Afghanistans entscheidend mitbe- stimmt. Es ist eine der bitteren Ironien der afghanischen Geschichte, dass die Begegnung der einzigartigen Natur des Landes mit der amerikanischen Militärmaschinerie aus diesem entlegenen, weltabgeschiedenen Gebiet den ersten echten Narkostaat werden ließ – ein Land, in dem illegale Drogen wirtschaftlich dominieren, politische Richtungsentscheidungen prägen und über das Schicksal ausländischer Interventionen entscheiden. Im Verlauf der 1980er Jahre trug der verdeckte Krieg der CIA gegen die sowjetischen Besatzer Afghanistans dazu bei, dass in den afghanisch-pakis- tanischen Grenzgebieten eine Basisstation des globalen Heroinhandels ent- stand. „In den Stammesgebieten gibt es keine Polizei.“, so das US-Außenmi- nisterium 1986. „Es gibt keine Gerichte. Es gibt keine Steuern. Keine Waffe ist illegal [...] Haschisch und Opium sind häufig on display, werden ganz offen gehandelt und zur Schau gestellt.“ Die Mobilisierung einer Guerilla zum Kampf gegen die Besatzungsmacht war zu dieser Zeit längst in vollem

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Gange. Statt selbst eine Koalition aus Widerstandsführern zu bilden, hatte die CIA sich auf die mächtige Inter-Services Intelligence Agency (ISI) Pakis- tans und deren afghanische Klienten gestützt, die alsbald zu Schlüsselfigu- ren im grenzüberschreitend aufblühenden Opiumhandel wurden. Während Afghanistans Opiumproduktion von etwa 100 Tonnen jährlich in den 1970er Jahren bis 1991 auf 2000 Tonnen steil anwuchs, sah die CIA ein- fach weg. Zu eben der Zeit, als die CIA-Operation anlief, in den Jahren 1979 und 1980, schoss entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze ein wahres Netzwerk von Heroinlaboratorien aus dem Boden. Binnen kurzem entwi- ckelte die Region sich zum weltgrößten Produzenten der Droge. Schon 1984 versorgte sie atemberaubende 60 Prozent des US-amerikanischen und sogar 80 Prozent des europäischen Marktes. In Pakistan selbst explodierte die Zahl der Heroinabhängigen. Von nahezu null (ja: null!) 1970 stieg sie bis 1980 auf 5000. In den folgenden fünf Jahren wurden daraus 1,3 Millionen, was auf eine – wie die Vereinten Nationen formulierten – „besonders schockierend“ hohe Abhängigkeitsrate hinauslief. Einem Bericht des State Department von 1986 zufolge ist Schlafmohn, die Opiumpflanze, „eine ideale Feldfrucht in kriegszerrissenen Ländern, da sie nur geringe Kapitalinvestitionen verlangt, schnell wächst sowie leicht trans- portiert und gehandelt“ werden kann. Darüber hinaus eigne sich Afghanis- tans Klima gut für den Mohnanbau. Das erbarmungslose Ringen zwischen den Stellvertreterkriegern der CIA und der Sowjets forderte seinen Zoll. Schließlich gingen afghanische Bauern „aus Verzweiflung“ zum Opium- anbau über, weil dieser „hohe Profite“ abwarf, mit denen sie die steigenden Lebenshaltungskosten decken konnten. Gleichzeitig stiegen, dem Bericht des State Department zufolge, Elemente des Widerstands in Opiumproduk- tion und -handel ein, „um die unter ihrer Kontrolle lebende Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen und Waffenkäufe zu finanzieren“.

Das Hauptziel: Den Sowjets so viel Schaden zuzufügen wie möglich

Anfang der 1980er Jahre erzielten die Mudschaheddin-Guerilleros erste Bodengewinne und begannen, innerhalb Afghanistans befreite Zonen ein- zurichten. Zur Finanzierung ihrer Operationen zogen sie unter anderem von den Bauern, die sich auf den lukrativen Schlafmohnanbau verlegten, Steuern ein, besonders im fruchtbaren Helmandtal. Die Karawanen, die CIA-Waffen in diese Region transportierten, kehrten oft schwer beladen mit Opium nach Pakistan zurück – manchmal, wie die „New York Times“ berichtete, „mit der Zustimmung pakistanischer oder amerikanischer Geheimdienstler, die den Widerstand unterstützten“. Charles Cogan, ein ehemaliger Leiter der afghanischen CIA-Operation, äußerte sich später ganz offen über die Prioritäten seiner Agentur. „Unsere Hauptaufgabe war es, den Sowjets so viel Schaden zuzufügen wie möglich“, sagte er 1995 in einem Interview. „Wir hatten seinerzeit eigentlich weder Mittel noch Zeit, um uns um eine Untersuchung des Drogenhandels zu

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 62 Alfred W. McCoy kümmern. Ich denke nicht, dass wir uns dafür entschuldigen müssen [...] Es gab Nebenwirkungen in Gestalt der Drogen, ja. Aber die Hauptaufgabe wurde erledigt. Die Sowjets verließen Afghanistan.“ Auf lange Sicht hat die US-Intervention allerdings ein schwarzes Loch geo- politischer Instabilität geschaffen, das nie wieder geschlossen werden konnte – eine Wunde, die nicht heilt. Afghanistan konnte sich von der beispiellosen Verwüstung, die es in den Jahren der ersten amerikanischen Intervention erlitten hatte, einfach nicht erholen. Als der sowjetisch-afghanische Krieg zwischen 1989 und 1992 abflaute, überließ die von Washington angeführte Allianz das Land im Grunde seinem Schicksal. Sie versäumte es sowohl, eine Friedensregelung zu fördern, als auch den Wiederaufbau zu finanzieren. Als Washington seine Aufmerksamkeit von Afghanistan ab- und anderen ausländischen Brennpunkten in Afrika und am Persischen Golf zuwandte, brach in dem Land, das zwischen 1979 und 1989 bereits etwa anderthalb Millionen Todesopfer zu beklagen hatte – ungefähr zehn Prozent seiner Ein- wohnerzahl –, ein mörderischer Bürgerkrieg aus. Während der jahrelangen Kämpfe zwischen den zahlreichen schwerbewaffneten Warlords, welche die CIA gut vorbereitet für den Kampf um die Macht zurückgelassen hatte, bau- ten Afghanistans Bauern die einzige Feldfrucht an, die sofortige Gewinne garantierte: die Opiumpflanze Schlafmohn. Nachdem sich die Mohnernte während der Ära der verdeckten Kriegführung in den 1980er Jahren bereits verzwanzigfacht hatte, wuchs sie während des Bürgerkriegs der 1990er Jahre kräftig weiter. Diesmal verdoppelte sie sich. Angesichts der Wirren dieser Jahre lässt der Aufstieg des Opiums sich am besten als Reaktion auf die schweren Schäden verstehen, die zwei Dekaden zerstörerischer Kriegführung hinterlassen hatten. Als drei Millionen Flücht- linge in das verwüstete Land zurückkehrten, erschienen die Beschäfti- gungsmöglichkeiten der Opiumproduktion wie ein Geschenk des Himmels, erforderte doch der Schlafmohnanbau neunmal so viele Arbeitskräfte wie der traditionell in Afghanistan angebaute Weizen. Darüber hinaus konnten nur Opiumhändler schnell genug die Kapitalmengen akkumulieren, derer es bedurfte, um den armen Mohnbauern die dringend benötigten Vorschüsse zahlen zu können. Oft machten diese mehr als ihr halbes Jahreseinkommen aus. Für viele verarmte Dorfbewohner erwiesen sich solche Kredite als über- lebenswichtig. In der ersten Phase des Bürgerkriegs, zwischen 1992 und 1994, foch- ten rücksichtslose örtliche Kriegsherren ihren landesweiten Kampf um die Macht mit einer Kombination von Waffen und Opium aus. Später warf dann Pakistan seinen Einfluss zugunsten eines neu aufgekommenen paschtuni- schen Machtfaktors in die Waagschale – der Taliban. Nachdem diese 1996 Kabul erobert und dann große Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht hatten, begünstigten sie den örtlichen Opiumanbau. Das Taliban-Regime stellte den Rauschgiftexport unter staatlichen Schutz und erhob zur Geldbe- schaffung Steuern sowohl auf die Schlafmohnernte als auch auf das aus dem Rohopium raffinierte Heroin. UN-Berichte zeigen, dass während der ersten drei Jahre des Taliban-Regimes die Opiumernte Afghanistans 75 Prozent der

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Weltproduktion ausmachte. Doch im Juli 2000, als eine verheerende Dürre ihr zweites Jahr erreichte und sich im ganzen Land eine Hungersnot ausbrei- tete, verhängte das Regime plötzlich ein umfassendes Verbot, Schlafmohn anzubauen und zu Heroin zu verarbeiten, offenbar in dem Bestreben, inter- nationale Anerkennung zu erlangen. Eine daraufhin von der UNO unter- nommene Untersuchung, die 10 030 Dörfer erfasste, ergab, dass dieses Verbot die Ernte tatsächlich um 94 Prozent reduziert hatte. Drei Monate später, im September 2000, entsandten die Taliban dann eine Delegation zum UN-Hauptquartier in New York, um mit der anhaltenden Drogenbekämpfung in ihrem Land um diplomatische Anerkennung zu wer- ben. Doch stattdessen verhängten die Vereinten Nationen neue Sanktionen gegen das Regime, weil es Osama bin Laden Schutz bot. Die Vereinigten Staaten indessen belohnten die Taliban sogar mit humanitärer Hilfe im Wert von 43 Mio. Dollar, ungeachtet ihrer Unterstützung der UN-Kritik in Sachen bin Laden. Ihr Außenminister Colin Powell lobte, als er diese Maßnahme im Mai 2001 bekannt gab, „das Verbot des Schlafmohnanbaus als eine Entschei- dung der Taliban, die wir begrüßen“, forderte aber weiterhin, das Regime solle „seine Unterstützung des Terrorismus; seine Verletzung international anerkannter Menschenrechtsstandards, insbesondere bei der Behandlung von Frauen und Mädchen“ beenden.

9/11 oder die Wiederentdeckung Afghanistans

Nachdem man es in Washington ein ganzes Jahrzehnt hindurch weitgehend ignoriert hatte, wurde Afghanistan in der Folge der Terrorangriffe von 9/11 „wiederentdeckt“. Im Oktober 2001 begannen die Vereinigten Staaten mit der Bombardierung des Landes, um anschließend, unterstützt von britischen Streitkräften, eine Invasion zu starten, an deren Spitze örtliche Warlords marschierten. Das Tempo, mit dem das Taliban-Regime zusammenbrach, überraschte viele Regierungsvertreter. Im Rückblick entsteht der Eindruck, dass das Opiumverbot der Taliban ein Schlüsselfaktor dafür war. Zwei volle Dekaden hindurch hatte Afghanistan seine Ressourcen – Kapital, Boden, Wasser und Arbeitskraft – in einem Ausmaß, das nicht allgemein bekannt ist, in die Produktion von Opium und Heroin gesteckt. Zu dem Zeitpunkt, als die Taliban den Mohnanbau verboten, war aus der afghanischen Landwirt- schaft schon fast eine Opium-Monokultur geworden. Die meisten Steuerein- nahmen und große Teile der Exporterlöse entstammten dem Drogenhandel und auch die Beschäftigungsrate hing stark von ihm ab. So erwies sich der Opiumbann, den die Taliban plötzlich verhängten, als ein Akt ökonomischen Suizids, der eine bereits geschwächte Gesellschaft an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Im Jahr 2001 ergab eine UN-Unter- suchung, dass das Verbot „für geschätzte 3,3 Millionen Menschen“ – rund 15 Prozent der Bevölkerung – „schwere Einkommensverluste bewirkt“ hatte. Unter diesen Umständen war es den Vereinten Nationen zufolge „für westli- che Militärs einfacher, die ländlichen Eliten und die Bevölkerung zur Rebel-

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 64 Alfred W. McCoy lion gegen das Regime zu bewegen“. Mit ihrem mörderischen Bombenkrieg und den Bodenangriffen der verbündeten Warlords brauchten die Vereinig- ten Staaten kaum länger als einen Monat, um die geschwächten Abwehr- kräfte der Taliban zu zerschlagen. Doch die längerfristige US-Strategie legte – im wahrsten Sinne des Wortes – die Keime dafür, dass die Taliban nur vier Jahre später überraschend wieder aufleben konnten.

Ohne Opium keine Lebensgrundlage

Während 2001 den ganzen Oktober hindurch der amerikanische Bomben- krieg tobte, schaffte die CIA 70 Millionen Dollar Bargeld ins Land, um ihre alte Koalition mit den Warlords der Stämme aus der Zeit des Kalten Krieges für den Kampf gegen die Taliban zu remobilisieren. Präsident George W. Bush sollte diese Transaktion später als eines der „größten Geschäfte“ der Geschichte preisen. Für die Eroberung Kabuls und anderer Schlüsselstädte investierte die CIA ihr Geld in die Führer der Nordallianz, eine tadschiki- sche Stammestruppe, die in den 1980er Jahren gegen die Sowjets gekämpft hatte und in den 1990ern der Taliban-Regierung widerstand. Diese Warlords hatten ihrerseits lange den Drogenhandel in dem von ihnen während der Taliban-Jahre kontrollierten Gebiet Nordostafghanistans beherrscht. Ferner setzte sich die CIA mit einer Gruppe aufstrebender paschtunischer Kriegs- herren entlang der pakistanischen Grenze ins Benehmen, die im südöstli- chen Teil Afghanistans als Drogenschmuggler operiert hatten. Als das Tali- ban-Regime kollabierte, waren die Voraussetzungen dafür, Opiumanbau und Drogenhandel in großem Stil wieder aufzunehmen, also bereits geschaffen. Sobald Kabul und die Provinzhauptstädte erobert waren, übertrug die CIA die operative Kontrolle rasch auf verbündete Truppen und Zivilbeamte. In den folgenden Jahren überließen die untauglichen Antidrogenprogramme dieser Kräfte die wachsenden Profite aus dem Heroinhandel de facto zunächst den Warlords und später großteils den Taliban-Guerilleros. Eine historisch bei- spiellose Entwicklung führte so dazu, dass 2003 illegale Drogen 62 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts ausmachten. Doch in den ersten Jahren der Besatzungsherrschaft nahm Verteidi- gungsminister Donald Rumsfeld einem Bericht der „New York Times“ von 2007 zufolge „zunehmende Hinweise darauf, dass den Taliban Drogengeld zufloss, nicht ernst“. Die CIA und die Militärs sähen, so die „Times“, „über die Drogen-bezogenen Aktivitäten prominenter Warlords hinweg“. Ende 2004, nachdem man die Opiumkontrolle fast zwei Jahre lang den bri- tischen Verbündeten und die Polizeiausbildung den Deutschen überlassen hatte, sah sich das Weiße Haus plötzlich mit beunruhigenden Erkenntnis- sen der CIA konfrontiert. Diese deuteten darauf hin, dass der eskalierende Drogenhandel einer Wiedergeburt der Taliban Vorschub leistete. Unterstützt von George W. Bush drängte Außenminister Colin Powell deshalb auf eine energische Antidrogenstrategie für Teile des ländlichen Afghanistans, unter Einbeziehung ebenjener Entlaubungsangriffe aus der Luft, wie sie seinerzeit

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Afghanistan: Die Opiumfront 65 gegen den illegalen Coca-Anbau in Kolumbien durchgeführt wurden. Doch Zalmay Khalilzad, der damalige US-Botschafter in Kabul, widersetzte sich einem solchen Vorgehen, unterstützt von seinem afghanischen Verbündeten Aschraf Ghani. Der damalige Finanzminister (und seit 2014 Präsident) des Landes warnte, ein solches Ausrottungsprogramm würde zu einer „umfas- senden Verarmung“ Afghanistans führen. Ansonsten wären 20 Mrd. Dollar Auslandshilfe erforderlich, um eine „echte alternative Lebensgrundlage“ zu schaffen. Der Kompromiss bestand dann darin, dass Washington sich künf- tig auf private Vertragsunternehmen wie DynCorp stützte, die afghanische Teams dazu ausbilden sollten, Drogen zu eliminieren. Doch schon 2005 hat- ten sich die Ergebnisse dieser Bemühungen der „New York Times“-Korres- pondentin Carlotta Bell zufolge als „eine Art Witz“ erwiesen. 2007 stellte dann der UN-Opiumbericht für Afghanistan fest, dass die in diesem Jahr erzielte Rekordernte von etwa 8200 Tonnen für 93 Prozent des illegalen Heroinnachschubs weltweit sorgte. Wichtig war auch die Erkennt- nis, dass die Taliban-Kämpfer „begonnen haben, aus der Drogenwirtschaft Ressourcen für Waffen, Logistik und Soldzahlungen abzuzweigen“. 2008 kassierten die Rebellen Berichten zufolge 425 Mio. Dollar an „Steuern“ auf den Opiumhandel, und jede neue Ernte verschaffte ihnen genügend Mittel, um in den Dörfern einen neuen Jahrgang junger Kämpfer zu rekrutieren. Jeder dieser Guerillakrieger konnte auf monatliche Zuwendungen in Höhe von 300 Dollar zählen – weit mehr, als er als Landarbeiter hätte verdienen können.

Die große »Welle« – Obamas gescheiterter Versuch

Um den sich ausweitenden Aufstand einzudämmen, entschied Washington Mitte 2008, weitere US-Kampfverbände – insgesamt 40 000 zusätzliche Sol- datinnen und Soldaten – nach Afghanistan zu entsenden. Das erhöhte die Gesamtstärke der alliierten Kampftruppen auf 70 000. Weil man die Schlüs- selrolle der Opiumeinkünfte für die Taliban-Rekrutierung erkannt hatte, setzte das alliierte Oberkommando jetzt auch Spezialistenteams ein, die Entwicklungshilfemittel zur Drogenbekämpfung in mohnreichen Provinzen einsetzten. Ein glücklicher Zufall wollte es, dass die Rekordernte von 2007 einen Opiumüberschuss erbracht hatte, der auf die Preise drückte, während gleichzeitig Lebensmittelengpässe den Anbau von Weizen konkurrenzfä- hig machten. In Schlüsselgebieten der Provinzen Helmand und Nangarhar begannen Bauern mit Unterstützung ausländischer Hilfsgelder Kulturpflan- zen anzubauen, woraufhin die afghanische Opiumproduktion stark zurück- ging. 2007 hatte sie eine Rekordfläche von 200 000 Hektar in Anspruch genommen, zwei Jahre später waren es nur noch 123 000 Hektar – was aller- dings immer noch ausreichte, die Taliban am Leben zu erhalten. Zudem führ- ten plumpe und gewalttätige Versuche, den Drogenhandel zu unterdrücken, letztlich nur zu wachsendem Widerstand gegen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten.

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2009 schließlich breiteten sich die Aufständischen so rapide aus, dass sich die neue Obama-Administration zu einer als „Surge“ (Welle) bezeichneten Auf- stockung der US-Truppen auf 102 000 Soldaten entschloss – in der Absicht, den Taliban einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Offiziell begann die Umsetzung dieser Strategie, mit der Obama auf einen großen Durchbruch setzte, am 13. Februar 2010 vor Sonnenaufgang in Marja, einem abgelegenen Marktflecken in der Provinz Helmand. Ganze Wellen von Hubschraubern setzten, Staubwolken aufwirbelnd, in den Außenbezirken Hunderte von Marines ab, die über die Schlafmohnfelder auf die Lehmmauern des Dorfes zustürmten. Obwohl ihr Angriff den dortigen Taliban-Kämpfern galt, han- delte es sich de facto um die Besetzung einer der Metropolen des weltweiten Heroinhandels. Eine Woche später flog General McChrystal in Begleitung Karim Khalilis, des afghanischen Vizepräsidenten, per Hubschrauber nach Marja ein. Die beiden kamen zu einer Medieninszenierung der neu gestylten Aufstandsbe- kämpfungstaktiken, die, wie der General den Reportern erzählte, Dörfer wie Marja mit Sicherheit befrieden würden. Die örtlichen Opiumbauern sahen das allerdings anders. „Wenn sie mit Traktoren anrücken“, verkündete eine afghanische Witwe unter den anfeuernden Zurufen der anderen Dorfbewoh- ner, „werden sie mich überrollen und töten müssen, bevor sie meinen Mohn töten können“. Von einem der umliegenden Schlafmohnfelder aus rief mich damals ein Vertreter der US-Botschaft per Satellitentelefon an und sagte: „Man kann diesen Krieg nicht gewinnen, ohne gegen die Drogenproduktion in der Provinz Helmand vorzugehen.“ Da man zwar die Aufständischen attackierte, es aber nicht schaffte, die Opiumernte zu unterbinden, die in jedem Frühjahr half, neue Kämpfer zu finanzieren, blieb Obamas „Surge“ alsbald stecken. Während nun alliierte Truppen rapide abgebaut wurden, um eine politisch dekretierte Frist einzu- halten – die „Beendigung“ aller Kampfeinsätze bis Dezember 2014 –, ermög- lichte eine deutliche Reduzierung auch der alliierten Luftoperationen es den Taliban, gleichzeitig massive Bodenoffensiven zu starten, in denen so viele afghanische Soldaten und Polizisten getötet wurden, wie nie zuvor. John Sopko, der Special Inspector der US-Regierung für Afghanistan, fand zu die- ser Zeit eine vielsagende Erklärung dafür, warum die Taliban hatten über- leben können. Trotz der atemberaubend hohen Aufwendungen von 7,6 Mrd. Dollar für „Drogenvernichtungs“-Programme während der letzten zehn Jahre „sind wir“, so Sopko, „nach jedem erdenklichen Kriterium gescheitert. Anbau und Produktion haben Höchst-, Verbots- und Vernichtungsmaßnah- men Tiefststände erreicht. Auch die finanzielle Unterstützung des Aufstands verzeichnet ein Hoch, während Drogenabhängigkeit und -missbrauch in Afghanistan beispiellose Rekorde erzielen.“ Als die Opiumernte des Jahres 2014 eingebracht wurde, ergaben frische Zahlen der UNO, dass das Produktionsniveau des Landes sich wieder dem bisherigen Höchststand von 2007 näherte. Diese Drogenschwemme flutete den Weltmarkt, und das obwohl die US-Ausgaben zur Drogenbekämpfung auf 8,4 Mrd. Dollar angestiegen waren. Unter diesem Eindruck versuchte

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Sopko im Mai 2015, das Problem mit einem für jeden Amerikaner nachvoll- ziehbaren Vergleich zu illustrieren. „Afghanistan“, sagte er, „widmet grob geschätzt 500 000 Acres oder ungefähr 780 Quadratmeilen dem Anbau von Opiummohn. Das entspricht einer Fläche von mehr als 400 000 amerikani- schen Football-Plätzen – einschließlich der jeweiligen Endzone.“ In der Kampfsaison 2015 ging die Initiative dann eindeutig auf die Taliban über, und das Opium schien immer stärker zum integralen Bestandteil ihrer Operationen zu werden. Im Oktober des Jahres veröffentlichten die Ver- einten Nationen eine Landkarte, aus der hervorging, dass die Taliban mehr als die Hälfte der ländlichen Bezirke Afghanistans in „hohem“ oder „ex- tremem“ Maße kontrollierten. Binnen eines Monats eröffneten die Aufstän- dischen landesweit Bodenoffensiven, um Territorium zu erobern oder zu halten. Wenig überraschend erfolgten die stärksten Angriffe im Kerngebiet des Mohnanbaus, der Provinz Helmand, wo damals die Hälfte des gesamten afghanischen Schlafmohns angebaut wurde.

Das finale Scheitern – die Helmand-Offensive 2016

2016, fünfzehn Jahre nach der „Befreiung“ Afghanistans, entschloss sich Washington schließlich zu einer Korrektur der Obamaschen Truppen- abbau-Strategie und startete eine Mini-„Surge“ in der Provinz Helmand. „Hunderte“ neuer US-Kräfte wurden dorthin entsandt, um den Aufständi- schen die „ökonomische Prämie“ auf die produktivsten Mohnfelder der Welt zu entziehen. Obwohl sie von der US-Luftwaffe und 700 special operation troops unterstützt wurden, zogen sich die bedrängten Regierungsverbände im Februar und März 2016 aus zwei weiteren Bezirken zurück. Zehn der vier- zehn Bezirke dieser Provinz standen danach weitgehend unter der Kontrolle der Taliban. Angesichts der Demoralisierung der eigenen Truppen und der Tatsache, dass die Taliban mittlerweile kampfkräftige, mit Nachtsichtgeräten und hochentwickelten Waffen ausgerüstete Verbände einsetzten, blieben ame- rikanische Luftschläge jetzt die einzige, prekäre Verteidigungslinie der afghanischen Regierung. In stillschweigender Anerkennung ihres Schei- terns stellte die Obama-Administration im Juni 2016 den geplanten Abzug ein. Die im Lande verbliebenen US-Streitkräfte durften sich fortan über ihre Beratertätigkeit hinaus wieder in das Kampfgeschehen einschalten, und einen Monat später verkündete Washington, 8400 Soldaten würden bis auf weiteres in Afghanistan bleiben. In Helmand und anderen strategisch wichtigen Provinzen schien die afghanische Armee einen Krieg zu verlieren, der sich jetzt – was den meis- ten Beobachtern allerdings entging – um die Verfügung über die Opiumpro- fite des Landes drehte. In der Provinz Helmand ringen die Aufständischen und die Provinzbehörden gleichermaßen um die Kontrolle des lukrativen Drogenhandels. „Afghanische Regierungsvertreter beteiligen sich mittler- weile direkt am Opiumhandel“, berichtete die „New York Times“ im Februar

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2016. Hierdurch weiteten sie „ihre Konkurrenz mit den Taliban [...] in einen Kampf um die Kontrolle des Drogenhandels aus“ und erlegten „den Bauern eine Steuer auf, die praktisch identisch mit der von den Taliban erhobenen“ sei. Buchstäblich der gesamte Regierungsapparat sei in einen Prozess ver- wickelt, in dem Provinzverantwortliche einen Anteil ihrer illegalen Profite „nach oben weiterleiten, bis hin zu Regierungsvertretern in Kabul [...], um so sicherzustellen, dass die örtlichen Behörden weiterhin von oben unterstützt werden und den Opiumanbau aufrechterhalten“. Zur gleichen Zeit ergab eine Untersuchung des UN-Sicherheitsrats, dass die Taliban den Drogenhandel „in jedem Stadium der Lieferkette“ syste- matisch angezapft hatten. Dabei hatten sie eine Zehnprozentsteuer auf den Opiumanbau in Helmand erhoben, um die Kontrolle der Heroinlaboratorien gekämpft und als „die wichtigsten Garanten des illegalen Handels von Roh- opium und Heroin aus Afghanistan“ agiert. Statt wie zuvor den illegalen Handel lediglich zu best–euern, waren die Taliban inzwischen so tief und so unmittelbar verstrickt, dass es – wie damals die „New York Times“ schrieb – „mittlerweile schwerfällt, [sie] von einem eingefleischten Drogenkartell zu unterscheiden“.

Die Grenzen hegemonialer Macht

Die bedrückende Entwicklung hielt auch 2017 an: In diesem Jahr verdoppelte sich die afghanische Schlafmohnernte auf 9000 Tonnen nahezu und über- traf damit den bisherigen Rekord von 2007 – 8200 Tonnen – noch deutlich. In der kriegszerrissenen Provinz Helmand nahm die Mohnanbaufläche um 79 Prozent auf 144 000 Hektar zu und stand damit für 44 Prozent des gesamtaf- ghanischen Erntevolumens. In der Überzeugung, dass 60 Prozent der Mittel, die den Taliban für Lohnzahlungen und Waffen zufließen, aus der Opium- wirtschaft stammen, setzte das US-Kommando im November 2017 erstmals F 22-Kampfflugzeuge und B 52-Bomber ein – ermutigt durch Donald Trumps Entschluss, den Afghanistankrieg zu „gewinnen“. Zehn Heroin-Laboratorien der Taliban in Helmand wurden dabei zerstört – ein winziger Bruchteil der 500 Drogenraffinerien des Landes. Bis auf weiteres dürfte Opium also inte- graler Bestandteil sowohl der ländlichen Ökonomie als auch des Taliban-Auf- stands und der Regierungskorruption bleiben, die zusammengenommen das Afghanistan-Problem in seiner ganzen Vertracktheit ausmachen. Das Scheitern der US-Intervention in Afghanistan erlaubt weitreichende Einsichten in die Grenzen der globalen Machtstellung Amerikas. Dass sowohl der Opiumanbau als auch der Taliban-Aufstand fortdauern, ver- mittelt eine Ahnung von dem Irrweg, auf den die wechselnden Strategien Washingtons seit 2001 geführt haben. Weltweit sind es für die meisten Men- schen in erster Linie wirtschaftliche Aktivitäten – die Produktion und der Austausch von Gütern –, die sie in Kontakt mit staatlichen Stellen bringen. Wenn aber, wie jetzt in Afghanistan, das wichtigste Produkt eines Landes illegal ist, dann verlagern sich die politischen Loyalitäten naturgemäß auf

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Afghanistan: Die Opiumfront 69 jene ökonomischen Netzwerke, die dieses Produkt sicher und diskret von den Feldern bis auf die ausländischen Märkte begleiten und in jedem Sta- dium für Schutz, Finanzierung und Beschäftigung sorgen. „Der Drogenhan- del vergiftet“, wie John Sopko 2014 darlegte, „den afghanischen Finanzsek- tor und fungiert als Treibstoff einer zunehmend illegalen Ökonomie“. Diese wiederum untergrabe „die Legitimität des afghanischen Staates, indem sie die Korruption anheizt, kriminelle Netzwerke fördert sowie den Taliban und anderen Rebellengruppen erhebliche finanzielle Unterstützung verschafft“. Nachdem es sechzehn Jahre lang ununterbrochen Krieg geführt hat, steht Washington jetzt vor der gleichen Wahl, vor der es schon 2010 stand, als Obamas Generäle jene Landungstruppen in Marja absetzten. Exakt wie in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten drohen die Vereinigten Staa- ten in dem immer gleichen endlosen Kreislauf gefangen zu bleiben: So wie in jedem Frühling der Schnee von den Berghängen abschmilzt und Mohn- pflanzen aus dem Boden sprießen, so wird es jedes Mal einen frischen Schub Teenager aus den verarmten Dörfern geben, die bereit sind, für die Sache der Rebellen zu kämpfen. Doch selbst für dieses geplagte Land und die entmutigende Komplexi- tät der politischen Probleme dort gibt es Alternativen. Würde auch nur ein kleiner Teil all der fehlinvestierten Militärausgaben in die Landwirtschaft des Landes gesteckt, eröffneten sich für die Millionen von Bauern, deren Beschäftigung heute vom Opiumanbau abhängt, neue wirtschaftliche Mög- lichkeiten. Ruinierte Obstplantagen könnten instandgesetzt, dezimierte Schafherden aufgestockt und Saatgut neu gezogen werden, und schadhafte Schmelzwasser-Bewässerungssysteme, die vor diesen Kriegsjahrzehnten einst eine vielfältige Landwirtschaft ermöglichten, ließen sich reparieren. Wenn die internationale Gemeinschaft sich darum bemüht, die Abhängig- keit des Landes von der illegalen Opiumwirtschaft zu verringern, indem sie eine nachhaltige ländliche Entwicklung fördert, dann kann Afghanistan vielleicht aus der Rolle des führenden Narkostaats des Planeten herausfinden – ja möglicherweise kann sogar der alljährliche Kreislauf der Gewalt endlich durchbrochen werden.

Nach der Krise

© rednuht/Flickr (CC BY 2.0) (CC © rednuht/Flickr ist vor der Krise Zehn Jahre sind vergangen seit dem Ausbruch der globalen Wirtschaftskrise. Wie konnte es dazu kommen? Was müsste getan werden? 12 »Blätter«-Texte aus 10 Jahren – für nur 5 Euro. www.blaetter.de

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Schneller hätte Horst Seehofer nicht das Ausgesprochene zwar viel mit dem deutlich machen können, was er un- brandgefährlichen „gesunden Volks- ter Heimatschutz versteht – nämlich empfinden“, aber nichts mit der Verfas- Copy-and-paste von AfD-Positionen. sung zu tun hat – und der Heimatminis- Mit seinem nur zwei Tage nach der ter geschwind den Verfassungsminister Vereidigung via „Bild“ verkünde- ignoriert. Wie aber soll das in Zukunft ten Leitsatz „Der Islam gehört nicht weitergehen? Wie will der neue Innen- zu Deutschland“ übernahm der neue minister, wie bereits von ihm angekün- Heimatminister wortwörtlich das, digt, zu einer weiteren nationalen „Is- was die AfD bereits vor zwei Jahren lamkonferenz“ einladen, wenn denn auf dem Stuttgarter Parteitag in ihrem der Islam doch gar nicht zu Deutschland Parteiprogramm festgeschrieben hat gehört? Sollte der „Erfahrungsjurist“ – und das just in der Woche, in der in (Seehofer über Seehofer) damit gar eine Deutschland zahlreiche Moscheen in neue „Herrschaft des Unrechts“ (Seeho- Brand gesteckt wurden. fer über Merkel) begründen wollen? Aber vielleicht führt der CSU-Chef ja auch etwas ganz anderes im Schil- Der Brandstiftungs- de. „Wie hältst Du es mit der Obergren- ze?“, lautete ab Sommer 2015 die Gret- minister chenfrage, die für Seehofer wie ein Jungbrunnen wirkte. Ab jetzt heißt es eben, zum Zwecke der Revitalisierung: Ab jetzt sitzt also die AfD mit auf der „Wie hältst Du es mit dem Islam?“ Was Regierungsbank und definiert, was in kümmert es da einen abgehalfterten diesem Lande Heimat bedeutet. Da- Provinzpolitiker, der sich auf seine al- mit wird aus dem vorgeblichen Inte- ten Tage noch einmal frische Haupt- grations- ein Spaltungsministerium, stadtluft gönnen will, dass er damit das erhöhte Brandgefahr inklusive. Wenn ganze Land zu spalten droht. nämlich der Islam in Deutschland kei- Aber: Auch in Bayern leben Mus- ne Heimat hat, wie sollen sich die gläu- lime. Und ihre Stimmen könnten der bigen Muslime hier heimisch fühlen? CSU bei den Landtagswahlen im Aus dem Munde eines angeblichen Herbst durchaus fehlen. Seinem schon Christenmenschen ist eine solche Po- ganz den milden Landesvater mimen- sition schon bemerkenswert, zumal den Nachfolger Markus Söder hat See- eines Unionspolitikers. Bestand doch hofer damit jedenfalls ein faules Ei ins die Leistung seiner Partei gerade in der Nest gelegt. Doch was schert es den Beilegung des konfessionellen Streits Horst? Wenn Söder nämlich trotzdem zwischen Katholiken und Protestanten. gewinnt, kann er stolz auf seine Pola- Gleiches müsste die Union heute im risierung verweisen. Und wenn Söder Umgang mit den mittlerweile vier Mil- verliert, hat nicht Seehofer versagt, lionen Muslimen in Deutschland leis- sondern sein Nachfolger. Eine persön- ten, die hier ihre verfassungsrechtlich liche Win-win-Situation nennt man garantierte Religion ausüben wollen das wohl. Man kann es aber auch mit – und zudem auch ihr Wahlrecht. Doch einem besonders schönen bayerischen der CSU-Chef meint offenbar, auf ihre Wort auf den Punkt bringen: „hinter- Stimmen verzichten zu können. fotzig“. „Schmutzeleien“ hatte Seeho- „Seehofer spricht nur das aus, was fer dem Söder einst vorgeworfen, nun die übergroße Mehrheit in Deutschland zeigt er, dass ihm zumindest in diesem denkt“, so sein getreuer neuer Gene- Gewerbe noch immer keiner etwas ralsekretär Markus Blume. Das aber vormacht. ist genau das Problem: wenn nämlich Albrecht von Lucke

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 GroKo oder: Die große Verschleppung

Die merklich geschrumpfte große Koalition steht vor enormen Herausforderungen in einem politisch polarisierten und sozial gespaltenen Land. Aber nimmt sie diese auch an – oder droht ein erneutes Aussitzen dringender Zukunftsfragen? Dem widmen sich die folgenden Beiträge von Ulrich Schneider (zu Armut und Sozialpolitik), Grit Genster (zur Pflegereform) und Susanne Götze (zur Klimapolitik). – D. Red.

Ulrich Schneider Die vergessenen Armen

ie unter einem Brennglas haben just zum Start der großen Koalition W die Vorgänge bei der Essener Tafel das Thema Armut in Deutschland plötzlich wieder in den medialen und politischen Fokus gerückt: Die dortige Tafel war überlastet und überfordert von dem Andrang der Menschen, die Lebensmittelspenden in Anspruch nehmen wollten, und von der großen Zahl von Migranten und Flüchtlingen unter ihnen. Sie entschied in ihrer Not, erst einmal keine weiteren Nichtdeutschen als „Neukunden“, wie die Tafeln die Hilfebedürftigen nennen, zuzulassen. Ganz fraglos war das eine inakzeptable Diskriminierung. Fast schien ein Tabu gebrochen. Die Medien stürzten sich geradezu auf die Essener Tafel. Darf man Ausländer und Flücht- linge abweisen, war die Frage, die heiß diskutiert wurde. Die vielen Bilder, die da plötzlich in den Nachrichtensendungen auf- tauchten, von Menschen, die bei Eiseskälte stundenlang anstehen für etwas Gemüse, Fleisch oder Joghurt; die Berichte über Lossysteme, die darüber entscheiden, wer das Glück haben darf, etwas von den wenigen Lebens- mitteln abzubekommen; die Geschichten der Menschen, darunter viele Alte und Alleinerziehende, die sich dem unterziehen: All das brachte plötzlich wieder das ganze brutale Gesicht der hiesigen Armut in die Wohnzimmer. Klar wurde: Wer in der Hoffnung auf einige Lebensmittel in der Kälte aus- harrt, der tut das, weil er es muss. Er ist einfach arm. Es gibt sie doch, die Armut in Deutschland. Schnell standen nicht mehr die Essener Tafel und deren aus der Not getroffene Fehlentscheidung im Mittelpunkt der Debatte.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 72 Ulrich Schneider

Sondern der Blick fiel auf verarmte Rentner, auf arme Familien, auf den Mangel an bezahlbarem Wohnraum und nicht zuletzt auf unzureichende Hartz-IV-Leistungen sowie Grundsicherungsbeträge für Altersarme. Die beiden letzteren tragen schlechterdings nicht über den Monat und zwingen die Menschen an die Tafeln, sofern diese vor Ort zur Verfügung stehen.

Keine Korrekturen an Hartz IV

All das passierte just, als die alte große, aber mittlerweile reichlich geschrumpfte Koalition aus Union und SPD sich anschickte, weitere vier Jahre zu regieren. Die plötzliche Diskussion um Armut und Hartz IV traf sie im Grunde völlig unvorbereitet. Immerhin tragen CDU, CSU und SPD als die Regierenden der letzten Wahlperiode Mitverantwortung für die eskalierende Armut in Deutschland. Wichtig ist auch: Mangel an bezahlbarem Wohn- raum, Gentrifizierung und zunehmende Obdachlosigkeit, Langzeitarbeits- losigkeit und Niedriglöhne, Kinderarmut und eine schnell wachsende Alters- armut gab es schon, bevor im Sommer 2015 eine große Zahl flüchtender Menschen zu uns kam. Es waren auch oder gerade die Unterlassungen der letzten großen Koalition und die vielen politischen Halbherzigkeiten, die zur zunehmenden sozialen Spaltung in Deutschland beigetragen haben. Doch auch der neue Vertrag der alten Koalitionäre sieht im Wesentlichen nur ein „Weiter so“ vor – eine Antwort auf die Problematik gibt er nicht. Geradezu skurril mutete daher die in Folge der Tafeldebatte aufploppende „Diskussion“ um die Höhe der Regelsätze von Hartz IV und der Altersgrund- sicherung an. Sie offenbarte das Dilemma der Koalitionäre: Hartz IV bedeute Armut, kritisierten Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften. Von 4,77 Euro, dem Regelsatz für Lebensmittel für einen Single am Tag, sei keine ver- nünftige Ernährung möglich, noch viel weniger von den 2,70 Euro, die für ein Kleinkind gewährt werden.1 Mit Hartz IV habe jeder, was er brauche, Hartz IV sei keine Armut, hielt der gerade designierte Gesundheitsminister (CDU) dagegen, was ihm eine – wahrscheinlich wohlkalkulierte – Welle der Entrüstung ein- brachte. „Völlig daneben“ kanzelte der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner seinen Koalitionär Spahn ab. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich hätten ein solches Ausmaß erreicht, „dass man solche Äußerungen nicht machen kann“.2 „Wir haben andere Vorstellungen, und das weiß auch jeder“, erklärte der designierte Finanzminister Olaf Scholz geheimnisvoll für seine SPD. Er glaube, „Herr Spahn bedauert ein wenig, was er gesagt hat“.3 So richtig anlegen wollte man sich mit Spahn allerdings nicht. Denn alle wissen: Er hatte nichts anderes als die ganz regierungsamtliche GroKo- Position vertreten. Demnach seien die Hartz-IV-Regelsätze ausreichend und

1 Vgl. www.der-paritaetische.de/aufruf. 2 Zit. nach: Ralf Stegner: Spahn-Äußerungen lassen Unterschiede zu SPD deutlich werden, www.stern.de, 13.3.2018. 3 Zit. nach: Olaf Scholz: „Ich glaube, Herr Spahn bedauert ein wenig, was er gesagt hat“, www.spie- gel.de, 13.3.2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 GroKo oder: Die große Verschleppung 73 deckten das vom Verfassungsgericht eingeforderte Existenzminimum ab, das auch sozio-kulturelle Teilhabe und Bildung beinhaltet. Tatsächlich hat Hartz IV genau die Höhe, die die jetzige SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles als Arbeitsministerin in der alten GroKo entgegen aller Kritik von Wohl- fahrtsverbänden und Fachleuten errechnen ließ und für angemessen hielt.4 Und exakt diese Position wird auch im neuen Koalitionsvertrag fortgeführt. Das lässt einen echten Streit zwischen CDU und SPD nicht zu. Zwar ist im Vertrag von der Bekämpfung der Kinderarmut und sogar von Altersarmut die Rede. Doch bei der zentralen Frage, was und wie viel Geld ein Mensch in Deutschland braucht, um wenigstens auf bescheidenstem Niveau teilhaben zu können und somit vor Armut geschützt zu sein, weist der Vertrag eine bemerkenswerte Leerstelle auf. Dass die Regelsätze für Kinder in Hartz IV mehr geraten als berechnet sind, ist allgemein bekannt. Dass die Regel- sätze für Erwachsene eine auffällige Alltagsferne zeigen und genau dazu führen, was wir derzeit bei den Tafeln erleben müssen, ist ebenso bekannt. Und so ist die geradezu schon provozierende Beiläufigkeit, mit der die neue alte GroKo diese zentrale sozialstaatliche Frage des Existenzminimums in ihrer Agenda ausspart, geradezu skandalös. Getrost dürfen wir die Kritik an Spahn, soweit sie aus Reihen der Koalition kam, als scheinheilig bezeichnen, denn auf Taten werden wir lange warten dürfen – zumindest, wenn wir dem Koalitionsvertrag folgen.

Familienpolitik mit der Gießkanne – zu Lasten der Armen

Stattdessen spricht vieles dafür, dass wir es wieder einmal mit vier armuts- politisch verlorenen Jahren zu tun bekommen werden. Schauen wir auf Familienpolitik, Rentenpolitik und Wohnen: Kernmaßnahme der Familienpolitik soll die Erhöhung des Kindergeldes um 25 Euro pro Kind werden: 10 Euro zum 1. Juli 2019 und weitere 15 Euro zum Wahljahr 2021 – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Der Kindersteuer- freibetrag soll entsprechend steigen. Nun wäre es völlig verfehlt, das Kinder- geld schlechtzureden. Denn ohne es würden deutlich mehr Kinder und ihre Familien als sogenannte Aufstocker in den Hartz-IV-Bezug fallen, wie diverse Untersuchungen zeigen.5 Und dennoch: Die Ärmsten haben von dieser Erhöhung gar nichts. Ihnen wird sie sogleich wieder von den Hartz- IV-Sätzen abgezogen. Vielmehr wird die Drei-Klassen-Familienpolitik ver- schärft fortgeschrieben. Am meisten erhalten diejenigen, die ohnehin am meisten haben: Spitzenverdiener nämlich, die über den Kindersteuerfrei- betrag deutlich stärker entlastet werden als mittlere Einkommen durch das Kindergeld. Völlig leer gehen die Ärmsten aus. Die Spaltung vertieft sich also weiter. Daran ändern auch die avisierten Verbesserungen beim Kinder- zuschlag und dem Bildungs- und Teilhabepaket für arme Kinder nur wenig.

4 Vgl. Annett Mängel, Von Kindesbeinen an: Im Teufelskreis der Armut, in: „Blätter“, 2/2017, S. 9-12. 5 Vgl. Ulrich Schneider, Kein Wohlstand für alle!? Wie sich Deutschland zerlegt und was wir dagegen tun können, Frankfurt a. M. 2017, S. 187.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 74 Ulrich Schneider

Vorgesehen ist, neben der Erhöhung des Kindergeldes um 25 Euro auch den Kinderzuschlag von 170 auf 176 Euro zu erhöhen. Diese Leistung wird gezahlt, wenn Eltern ein Erwerbseinkommen erzielen, das sie allein zwar vor dem Gang zum Jobcenter bewahren würde, sie wegen der Kinder jedoch von Hartz IV abhängig wären. Ehrlicherweise müssen die Koalitionäre jedoch einräumen, dass auch mit dieser Verbesserung kaum eines der rund zwei Millionen Kinder aus Hartz IV herauskommen wird, selbst dann, wenn die Eltern erwerbstätig sind und lediglich aufstocken. Denn dazu ist, gerade bei den vielen betroffenen Alleinerziehenden, das Erwerbseinkommen einfach zu gering, weil sie nur Teilzeit arbeiten können oder auch wegen schlechter Stundenlöhne.

Bildung und Altersarmut: Keine überzeugenden Lösungen

Beim Bildungs- und Teilhabepaket wollen die Koalitionäre das sogenannte Schulstarterpaket erhöhen und den Eigenanteil von einem Euro bei der Mit- tagsverpflegung in Schulen oder Kitas streichen. Als das Bundesverfassungs- gericht feststellte, Bildung und Teilhabe seien für Kinder in Hartz IV nicht ausreichend sichergestellt, erhöhte die damalige Regierung nicht etwa den Regelsatz für Kinder, sondern führte das sogenannte Bildungs- und Teil- habepaket ein. Mit möglichst geringen Kosten für die öffentlichen Haushalte wollte sie so dem Druck des Bundesverfassungsgerichts entgegenkommen. Das Schulstarterpaket sieht seitdem 100 Euro pro Schuljahr für jedes be- rechtigte Schulkind vor. Eine Anpassung ist nach acht Jahren mehr als über- fällig, zumal die tatsächlichen Kosten, die von den Eltern zu stemmen sind, oftmals über 200 Euro jährlich liegen und je nach Jahrgang auch bis zu 330 Euro betragen können. Es bleibt abzuwarten, zu welchen Beträgen sich die Koalition schließlich durchringen wird: Anders als andere Vorhaben, ist dieses im Vertrag finanziell nicht unterlegt. Der Verzicht auf den einen Euro Eigenbeteiligung bei schulischer Gemeinschaftsverpflegung von Kindern dürfte eher unter Verwaltungsvereinfachung als unter Armutsbekämpfung fallen – gleichwohl ist es zu begrüßen, dass damit hoffentlich keine hungrigen Kinder mehr anderen beim Mittagessen zusehen müssen. Erfreulich ist auch der erleichterte Zugang zu Nachhilfeunterricht, der nun auch dann gegeben sein soll, wenn keine Versetzungsgefährdung vorliegt. Dies ist aber eher eine selbstverständliche Korrektur schlechter Verwaltungsvorgaben denn eine tat- sächliche Innovation. Insgesamt legt der Vertrag viel Wert auf Verwaltungsver- einfachung beim Bildungs- und Teilhabepaket. Alles soll besser werden. Nur mehr Geld sollen die Kinder nicht bekommen: So bleibt es bei den bemerkens- wert realitätsabgewandten und unzureichenden zehn Euro pro Monat für die Mitgliedschaft in einem Sportverein, die Musikschule oder Ähnliches. Wer sich mit der Bekämpfung von Kinderarmut im Koalitionsvertrag auseinander- setzt, muss sich mit Details und kleinen Beträgen beschäftigen. Es bleibt bei der inkrementalistischen Fortschreibung des Gewesenen und Gegebenen. Den großen Wurf sucht man leider vergebens.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 GroKo oder: Die große Verschleppung 75

Nicht viel anders sieht es bei der „Bekämpfung“ der Altersarmut aus – von Innovation keine Spur. Das seit den rot-grünen Riester-Rentenreformen nach der Jahrtausendwende von 53 auf mittlerweile 48 Prozent abgestürzte Rentenniveau bleibt, wie es ist. Die Zuschüsse von über drei Mrd. Euro jähr- lich für die restlos gefloppte Riesterrente werden nicht etwa endlich ein- gestellt. Vielmehr soll mit der privaten Versicherungswirtschaft, der man sich offenbar sehr viel näher fühlt als der gesetzlichen Rentenversicherung, ein „Dialogprozess“ zur Entwicklung eines neuen (renditesichernden) Riester-Produkts angestoßen werden. Mit der Grundrente für sozialhilfeabhängige Ruheständler, die sehr viele Beitragsjahre aufweisen, findet sich erneut ein altbekanntes Projekt im Koalitionsvertrag. Schon die damalige Arbeitsministerin (CDU) kündigte in der schwarz-gelben Koalition 2012 etwas ganz Ähnliches unter dem Titel „Zuschussrente“ an. Als „Solidarische Lebens- leistungsrente“ fand es sich auch im Vertrag der letzten GroKo wieder – ohne umgesetzt zu werden. Damit sollen Menschen, die 35 Jahre in die Rente ein- gezahlt haben oder Kindererziehungs- oder Pflegezeiten vorweisen können und trotzdem von Altersgrundsicherung abhängig sind, einen Zuschlag von zehn Prozent auf ihre Sozialhilfe erhalten. Begrifflich ist das Ganze eine Mogelpackung: Es handelt sich gerade nicht um eine Rentenleistung, auf die ich Anspruch habe, egal ob ich bedürftig bin oder nicht. Es ist besten- falls eine Sozialhilfe Plus. Mit einem einfachen Freibetrag auf ausgezahlte Renten bei der Berechnung der Altersgrundsicherung wäre ein gleicher Effekt wirkungsvoller und einfacher erreicht – freilich ohne das politische Blendwerk des Rentenbegriffs. Sollte die Grundrente tatsächlich einmal das Licht der Welt erblicken, würde sie aufgrund der restriktiven Vorgaben der- zeit ohnehin nur zwölf Prozent der rund 500 000 Bezieher von Altersgrund- sicherung erreichen.6 Natürlich ist auch das „Bekämpfung von Altersarmut“. Doch ist der Koalitionsvertrag weit davon entfernt, überzeugende Lösungen für die auf uns zukommende wachsende Altersarmut anzubieten. Stattdessen werden wir einmal mehr auf eine Kommission verwiesen. Das provoziert die Frage, weshalb man diese nicht bereits vor vier Jahren eingerichtet hat. Es ist das berühmte Spiel auf Zeit.

Eklatanter Mangel an bezahlbarem Wohnraum

Armut, soziale Verunsicherung und Abstiegsängste von immer mehr Menschen sind die Phänomene, die uns heute Sorgen machen müssen. Und weit mehr als in früheren Jahren hat sich das Thema Wohnen und Wohn- kosten dabei vielerorts zu einem ganz entscheidenden Faktor entwickelt. Nicht nur arme Menschen, sondern immer mehr Durchschnittsverdiener sind es, die in Ballungsgebieten wegen explodierender Mieten an ihre

6 Vgl. Paritätische Einschätzung zum Koalitionsvertrag, www.der-paritaetische.de, 9.2.2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 76 Ulrich Schneider finanziellen Belastungsgrenzen geraten und aus ihren angestammten Wohn- gebieten vertrieben werden. Ein eklatanter Mangel an bezahlbarem Wohn- raum ist das Resultat eines auf Rendite setzenden Wohnungsmarktes, der Wohnungen zum Spekulationsobjekt macht – und einer Politik, die dem nicht nur weitgehend tatenlos zuschaut, sondern den Mangel durch ihren nach der Jahrtausendwende angetretenen Rückzug aus dem sozialen Wohnungsbau erheblich mitverursacht hat. Wer nun dachte, dass man aus der weitgehenden Wirkungslosigkeit der auf Druck der CDU mit allerlei Ausnahmen versehenen Mietpreisbremse7 Konsequenzen ziehen würde, sieht sich getäuscht. Die Ausnahmen bleiben ebenso bestehen wie die Tatsache, dass es für den Vermieter ziemlich risiko- frei bleibt, wenn er gegen das Gesetz verstößt und seinen Mieter hereinlegt. Nur wenn er ertappt wird, wird die Miete angepasst. Das war es. Forderungen von Verbänden und Fachleuten, Verstöße gegen die Mietpreisbremse mit Strafen zu versehen, blieben ebenso unberücksichtigt wie die nach einem Verbandsklagerecht, mit dem das Gesetz nachhaltig durchgesetzt werden könnte. Die Lobbyisten wissen nur allzu gut: Kaum ein Mieter, vor allem keiner mit wenig Geld, zieht gegen seinen Vermieter vor Gericht. Für den sozialen Wohnungsbau verlängert die Koalition die Förderung durch den Bund von einer Mrd. Euro jährlich um zwei weitere Jahre bis 2021. Das ist zwar gut so. Allerdings wissen alle politisch Verantwortlichen, dass ein Mehrfaches dieser Mittel – nämlich rund drei Mrd. Euro jährlich – nötig wären, um die Förderung des sozialen Wohnungsbaus dauerhaft zu sichern. Bei allen sozialpolitischen Themen lässt sich feststellen, dass das Kern- problem der letzten großen Koalition bestehen bleibt: Sie greift eine Menge sehr richtiger und unter den Nägeln brennender Themen auf, aber es fehlen Innovation und Geld – wobei beides zusammenhängt. Denn wer Steuer- erhöhungen zum Tabu erklärt, wer sich scheut, große Vermögen und hohe Einkommen zur Finanzierung der wichtigen sozialen Aufgaben und zur Bekämpfung der Armut in diesem Lande heranzuziehen, der wird nur ein unterfinanziertes Stückwerk abliefern können. Die weitere Spaltung dieser Gesellschaft hält man so nicht auf – und die Tafeln bleiben der Notnagel für viel zu viele Menschen, deren Geld nicht zum Leben reicht.

7 Vgl. Andrej Holm, Feigenblatt Mietpreisbremse, in: „Blätter“, 5/2014, S. 20-22; ders., Barbara Schönig, Daniel Gardemin und Dieter Rink, Städte unter Druck. Die Rückkehr der Wohnungs- frage, in: „Blätter“, 6/2015, S. 69-79.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Grit Genster Ein Neustart für die Pflege?

enige Tage vor seinem Amtsantritt wollte sich der neue Bundes- W gesundheitsminister Jens Spahn zwar noch nicht zu seinem Arbeits- feld äußern, fand aber irritierende Worte zur Situation von Hartz-IV- Empfängern: In einem Zeitungsinterview meinte er, Hartz IV bedeute keine Armut. Vielmehr habe damit „jeder das, was er zum Leben braucht“.1 Diese Behauptung sorgte für gehörige Irritationen bis in die eigenen Reihen, vor allem aber unter Betroffenen.2 Ob sich der Gesundheitsminister in seinem eigentlichen Arbeitsbereich eine passendere Einschätzung der Lage ver- schafft, bevor er breit diskutierte Probleme für erledigt erklärt, bleibt abzu- warten. Auf seiner Agenda müsste jedenfalls eine Menge stehen, vor allem die desaströse Situation in der Pflege. Erst als ein junger Pflege-Azubi die Kanzlerin kurz vor der Bundestags- wahl mit seinen Fragen in der ARD-Wahlarena sprachlos machte, erhielt die Pflege auch im Wahlkampf die ihr gebührende Aufmerksamkeit. Alle Parteien sagten prompt Verbesserungen zu. Dabei ist schon lange offensicht- lich, wie groß das Problem ist. In der Alten- und Krankenpflege wächst seit Jahren der Bedarf an zusätzlichem Personal, und die Beschäftigten klagen über unzumutbare Arbeitsbedingungen. Die Gefährdungsanzeigen von Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeheimen sprechen eine klare Sprache: „Keine Pause, Mehrarbeit, Überstundenaufbau.“ „Keine Gespräche und Besprechungen möglich mit Leitung und Ärzten.“ „Kopfschmerzen (keine Zeit zum Trinken), Gliederschmerzen und Schlafstörungen, starke Gereiztheit, Überforderung (ein Team muss auf drei Stationen verteilt werden).“ „Ständig neue Patienten zu versorgen. Frischoperierte müssen nach Kollaps, Erbrechen sofort versorgt werden! Abendessen soll schon verteilt sein. Blutzuckerkontrollen mussten gestrichen werden.“3 Solche belastenden Arbeitssituationen sind bei weitem keine Einzelfälle. Und während die Arbeitsbelastung dramatisch steigt, sinkt die Qualität der Versorgung. Insgesamt fehlen 162 000 Beschäftigte in deutschen Kranken- häusern – allein rund 70 000 davon in der Pflege. Unter diesen Umständen sind die Krankheitsausfälle besonders hoch: Lag die durchschnittliche Aus- fallzeit durch Arbeitsunfähigkeit für alle Beschäftigten zuletzt bei 16,1 Ta- gen im Jahr, waren Krankenhausmitarbeiter mit durchschnittlich 18,2 Ta- gen deutlich länger krankgeschrieben. Die meisten Fehlzeiten wiesen mit

1 Vgl. Jens Spahn kritisiert die Debatte um die Essener Tafel, www.waz.de, 10.3.2018. 2 Vgl. zur Debatte um die Essener Tafel den Text von Ulrich Schneider in dieser Ausgabe. 3 Vgl. Grit Genster, Für Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen – Die Bewegung für Entlastung und mehr Personal, in: Lothar Schröder und Hans-Jürgen Urban (Hg.), Ökologie der Arbeit – Impulse zum nachhaltigen Umbau. Jahrbuch Gute Arbeit 2018, Frankfurt a. M. 2017.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 78 Grit Genster jeweils über 23 Tagen Beschäftigte in Pflege- und Altenheimen auf.4 Zudem arbeiten Menschen in medizinischen Gesundheitsberufen besonders häufig, obwohl sie selbst krank sind.5 Zugleich gerät die Qualität der praktischen Ausbildung massiv unter Druck: Es fehlt schlicht an Zeit, und aufgrund des Personalmangels kommt es überdies zu Arbeitsverdichtung. Schon Aus- zubildende in Pflegeberufen leiden unter Überstunden, kurzfristigen und ungeplanten Versetzungen, Zeitmangel ihrer Praxisanleiterinnen und Zeit- druck bei der Arbeit.6 Längst ist jedoch erwiesen, dass eine nachhaltig gute Versorgung – und damit die Patientengesundheit – maßgeblich davon abhängen, ob aus- reichend fachlich qualifiziertes Personal vorhanden ist. Unter den aktuellen Bedingungen wird daher vielerorts die Gesundheit von Patienten, Pflege- bedürftigen und Beschäftigten aufs Spiel gesetzt – nicht, weil man es nicht besser wüsste, sondern allein aus Kostengründen. Denn in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich das Gesundheitswesen von einem Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge in ein profitables Geschäftsfeld verwandelt: Krankenhäuser können heute Gewinne oder Verluste machen, und in der Altenpflege dominieren private Anbieter, die hohe Gewinne erwirtschaften. Längst steht nicht mehr der hilfsbedürftige Mensch im Mittelpunkt, sondern das Interesse des entsprechenden Unternehmens, das seinen Ertrag steigern will. Markt und Wettbewerb bestimmen das Geschehen. Ausschlaggebend dabei sind allerdings nicht die beste Qualität, gute Konzepte und Ideen – sondern letztlich der Preis. Vor allem private Träger setzen darauf, die Kosten immer weiter zu senken. Und die öffentlichen wie die freien gemeinnützigen Arbeitgeber ziehen unter diesem Druck nach. Um mithalten zu können, sparen auch sie beim Personal und flexibilisieren und verdichten die Arbeit. Dagegen regt sich jedoch immer lauterer Protest – und die mediale Öffentlich- keit widmet sich vermehrt den unzumutbaren Arbeitsbedingungen im Gesundheitsbereich. Ob sich jedoch tatsächlich an diesem Zustand etwas ändert, hängt ganz maßgeblich von der neuen Bundesregierung ab.

Licht und Schatten: Die Pläne der GroKo

Entsprechend hoch sind die Erwartungen. Tatsächlich benennt der Koalitionsvertrag im Bereich Pflege und Gesundheit viele notwendige Hand- lungsfelder. So wollen die Koalitionspartner 8000 neue Fachkräfte für die medizinische Behandlungspflege einstellen. Bei mehr als 13 000 stationären Einrichtungen entspricht das rechnerisch allerdings nur 0,6 Stellen pro Einrichtung – zu wenig, um Beschäftigte wirksam zu entlasten und Pflege- bedürftige besser versorgen zu können. Bereits heute besteht in der Alten- pflege ein flächendeckender Fachkräftemangel. Dieser wird zunehmen,

4 BKK-Bundesverband, BKK-Gesundheitsatlas, Berlin 2017, www.bkk-dachverband.de. 5 DGB-Index „Gute Arbeit“. Sonderauswertung „Arbeiten trotz Krankheit – Wie verbreitet ist Prä- sentismus?“, Berlin 2016, http://index-gute-arbeit.dgb.de. 6 Verdi-Jugend, Ausbildungsreport Pflegeberufe, http://gesundheit-soziales.verdi.de, Berlin 2015.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 GroKo oder: Die große Verschleppung 79 sofern nicht noch entschiedener gegengesteuert wird. Zu begrüßen ist jedoch, dass die zusätzlichen Stellen aus der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden und nicht über den Eigenanteil der Pflegebedürftigen. Denn während die Pflegekosten insgesamt immer weiter steigen, deckt die Pflegeversicherung immer weniger ab. Notwendig ist daher eine regelmäßige Anpassung der Pflegesätze an die steigenden Kosten. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu immerhin, dass Sachleistungen kontinuierlich an die Personal- entwicklung angepasst werden sollen. Das ist ein erster wichtiger Schritt – denn mehr Personal benötigt auch ein Mehr an Ausstattung, von Hand- schuhen über Seife und Desinfektionsmittel bis hin zur Arbeitskleidung. Längst werden die in den einzelnen Bundesländern gültigen Personal- schlüssel der aktuellen Lage in den Pflegeeinrichtungen nicht mehr gerecht: Die Bewohnerinnen und Bewohner sind im Durchschnitt älter, leiden unter mehr Krankheiten und sind kognitiv eingeschränkter als noch vor einigen Jahren. Daher sollte sich die Personalbemessung am individuellen Bedarf der Pflegebedürftigen orientieren, wozu auch die Unterstützung bei der Teil- habe am gesellschaftlichen Leben gehört. Bereits mit dem Pflegestärkungs- gesetz II von 2017 wurde beschlossen, bis 2020 ein Verfahren zur Personal- bemessung in der Altenpflege zu entwickeln. Umgesetzt wurde dies jedoch bislang noch nicht. Und auch im Koalitionsvertrag findet sich zu diesem Punkt kein Wort. Geplant ist aber, im Rahmen einer „Konzertierten Aktion Pflege“ eine Ausbildungsoffensive zu starten, Anreize für eine bessere Rückkehr von Teil- in Vollzeitbeschäftigung zu setzen sowie Pflegehelferinnen und -helfer zu Fachkräften auszubilden. All das ist zu begrüßen – und muss jetzt mit Leben gefüllt werden. Denn nur mit guter Bezahlung, einer deutlich besseren Personalausstattung, attraktiven und gesundheitsförderlichen Arbeits- bedingungen, hochwertiger Ausbildung und dem Eingehen auf individuelle Bedürfnisse von Beschäftigten können Fachkräfte gewonnen und gehalten werden. Die Arbeitgeber sind mitverantwortlich, wenn Pflegefachkräfte fehlen: Würden sie endlich Arbeitsbedingungen schaffen, die den Kranken- stand, den Rentenbeginn und die Teilzeitquote auf den durchschnittlichen Stand aller Erwerbstätigen senkten, stünde bereits ein enormes Potential zusätzlicher Fachkräfte zur Verfügung. Daher setzt die „Konzertierte Aktion Pflege“ an den richtigen Stellen an – nun dürfen die Arbeitgeber der Branche aber nicht aus der Verantwortung entlassen werden. Eines haben die Koalitionäre offenbar endlich erkannt: Sie müssen eine angemessene Entlohnung der Beschäftigten sicherstellen und wollen daher die Bezahlung nach Tarif stärken. „Gemeinsam mit den Tarifpartnern wollen wir dafür sorgen, dass Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zur Anwendung kommen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Das ist längst über- fällig, denn das Lohnniveau ist vielerorts beschämend niedrig. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB)7 erhalten Fachkräfte in der Altenpflege durchschnittlich 600 Euro bzw. 20 Prozent weniger als in der

7 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Entgelte von Pflegekräften – weiterhin große Unterschiede zwischen Berufen und Regionen, www.iab-forum.de, Januar 2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 80 Grit Genster

Krankenpflege. Insbesondere private Unternehmen sind oft nicht bereit, mit der Gewerkschaft Verdi Tarifverträge abzuschließen. Angesichts der Viel- zahl kleiner Einrichtungen kann dieses Problem nicht allein im jeweiligen Betrieb gelöst werden. Vielmehr muss die Regierung dem Wettbewerb über die niedrigsten Löhne ein Ende setzen. So könnte sie über das Arbeit- nehmerentsendegesetz per Rechtsverordnung Mindestarbeitsbedingungen festlegen, damit der entsprechende Tarifvertrag in allen Einrichtungen gilt – unabhängig von Trägerschaft oder Tarifbindung. Damit wäre für die Beschäftigten viel gewonnen.

Krankenhäuser: Positive Weichenstellungen

Insbesondere die Beschäftigten der Krankenhäuser haben die Überlastung und den eklatanten Personalmangel mit öffentlichen Protesten und betrieb- lichen Aktionen auf die politische Agenda gesetzt. Das schlägt sich auch im schwarz-roten Koalitionsvertrag nieder. Dieser verspricht einige Weichen- stellungen, die – konsequent umgesetzt – zu Verbesserungen führen können. So ist geplant, dass die Pflegepersonalkosten „besser und unabhängig von Fallpauschalen vergütet werden“. Dabei sollen „die Aufwendungen für den krankenhausindividuellen Pflegebedarf“ berücksichtigt werden. Damit würden die Ausgaben für das Pflegepersonal zu Recht dem System der Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) entzogen.8 Denn auf das DRG-System folgte allerorten eine enorme Arbeitsverdichtung. Mit den eingesparten Kosten beim Pflegepersonal finanzieren Krankenhäuser der- zeit notwendige Bauvorhaben und steigern private Konzerne ihre Gewinne. Wenn Union und SPD ihre Pläne konsequent umsetzen, wäre damit Schluss. Das würde bedeuten, dass Geld fürs Personal zukünftig zweckgebunden sein muss; die Länder nötige Investitionen vollständig finanzieren müssen und verbindliche gesetzliche Personalvorgaben in allen Bereichen des Krankenhauses geschaffen werden. Dass die Pflege nicht mehr in den Fall- pauschalen enthalten sein soll, kann aber nur ein erster, wenn auch mutiger und wichtiger Schritt sein – raus aus dem Wettbewerb auf Kosten der Gesund- heit von Patienten und Beschäftigten. Zudem soll es Personaluntergrenzen nicht nur für wenige „pflege- intensive“ Bereiche geben, sondern für alle bettenführenden Abteilungen der Krankenhäuser. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verhandeln bereits darüber, welche Untergrenzen für besondere Bereiche gelten sollen – dieser Auftrag wird nun erweitert. Wichtig ist dabei, dass Untergrenzen nicht mehr dazu dienen, „unerwünschte Ereignisse“ zu vermeiden, sondern sich am Pflegebedarf orientieren und das Personal entlasten. Denn zu niedrig bemessene Vorgaben könnten dazu führen, dass Krankenhäuser mit besserer Personalausstattung Stellen abbauen und schlechte Untergrenzen

8 Vgl. auch Kai Mosebach und Nadja Rakowitz, Fabrik Krankenhaus, in „Blätter“, 9/2012, S. 19-22.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 GroKo oder: Die große Verschleppung 81 zur Norm werden. Union und SPD werden sich daran messen lassen müssen, ob sie die qualitativen Verbesserungen ohne Abstriche und Schlupflöcher umsetzen. Der Gesetzgeber wird selbst aktiv werden müssen, falls die Selbst- verwaltungspartner DKG und GKV versuchen, die Pläne zu verwässern. Schließlich will die große Koalition Tarifsteigerungen im Krankenhaus vollständig refinanzieren. Dafür sollen die Kliniken nachweisen müssen, dass sie das Geld tatsächlich an ihre Beschäftigten weitergeben. Das ist gut so. Wer sich nicht an Tarifverträge hält, darf nicht belohnt werden. Um das im derzeitigen System der Fallpauschalen umzusetzen, muss der neue Gesund- heitsminister Spahn allerdings gehörig knobeln.

Zügige und konsequente Umsetzung

Aktuell sind die Verhältnisse in der Gesundheits- und Pflegebranche oft gefährlich – nicht nur für Patienten oder die Pflegebedürftigen in den Heimen. Auch die Pflegekräfte selbst leiden darunter, wenn sie unter den gegebenen Umständen ihren Beruf nicht so ausüben können, wie sie ihn erlernt haben. Die allermeisten Beschäftigten wählen den Pflegeberuf auf- grund ihrer hohen intrinsischen Motivation, Menschen zu helfen. Doch immer öfter kollidiert ihr Anspruch mit den realen Verhältnissen, die eine gute Versorgung verhindern: Es fehlt die Zeit, um in Ruhe mit den Pflege- bedürftigen zu sprechen oder sie zu trösten, nicht selten dauert es unzumut- bar lange, bis Windeln gewechselt werden können, oder es gibt keine Kapazi- täten, um beim Essen zu assistieren. Doch während der Koalitionsvertrag für die Krankenhauspflege positive Weichenstellungen enthält, bleiben die Pläne von Union und SPD bei der Altenpflege hinter den Erwartungen zurück. Zwar greift der Koalitions- vertrag wichtige Handlungsfelder auf, doch vor allem bei der Personalaus- stattung ist deutlich mehr nötig. Um die Zahl an Fachkräften in der Pflege zu halten, die für eine qualitativ hochwertige Versorgung nötig ist, und zudem junge Menschen für diesen Beruf zu gewinnen, braucht es drei mutige Schritte: Erstens muss sowohl für die Beschäftigten im Krankenhaus als auch in der Altenpflege eine verbindliche, bundeseinheitliche gesetzliche Personalbemessung eingeführt werden. Zweitens muss die Arbeit der Pflege- fachkräfte aufgewertet werden. Dazu muss die Tarifbindung, insbesondere in der Altenpflege, verbessert und vor allem endlich für allgemeinverbind- lich erklärt werden. Schließlich muss, drittens, die Pflegeversicherung als Teilversicherung so weiterentwickelt werden, dass alle pflegebedingten Aufwendungen nach dem Sachleistungsprinzip getragen werden. Erst eine Vollversicherung würde garantieren, dass pflegebedürftige Menschen tat- sächlich entsprechend ihrem Bedarf versorgt werden. Jens Spahn hat also eine Menge zu tun. Und die Beschäftigten in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen werden weiter keine Ruhe geben – bis die Entlastung in den Betrieben tatsächlich angekommen ist.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Susanne Götze Klimapolitik ohne Biss

enn man von einer Menschheitsaufgabe sprechen kann, dann beim W Kampf gegen den Klimawandel. Aber bewegt sich die neue große Koalition auf Höhe dieser Aufgabe? Vor vier Jahren bekannten sich CDU/

CSU und SPD im Koalitionsvertrag ambitioniert dazu, die deutschen CO2- Emissionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken. In sieben Jahren, dürften sich die schwarz-roten Koalitionäre damals gesagt haben, ist dieses Ziel zu erreichen. Und noch im vergangenen Dezember erklärte der SPD-Klimapolitiker im Brustton der Überzeugung, Deutsch- land werde „international daran gemessen, dass es seine Klimaziele einhält“.1 Doch im aktuellen Koalitionsvertrag heißt es nur noch lapidar: Die Regierung wolle die „Handlungslücke so schnell wie möglich schließen“. Wie nachgeschoben wirkt der Satz: „Das Minderungsziel 2030 wollen wir auf jeden Fall erreichen.“ Das klingt fast beschwichtigend, nachdem die große Koalition sich zuvor von ihrem einstigen Emissionsziel für 2020 ver- abschiedet hatte. Zu diesen wenig ehrgeizigen Vorgaben passt der Wechsel im Bundesumweltministerium: Auf die engagierte Sozialdemokratin Barbara Hendricks folgt ihre Parteifreundin Svenja Schulze, die klimapolitisch auf Bundesebene bislang kaum in Erscheinung getreten ist. Nun ist es an der aus Nordrhein-Westfalen stammenden Schulze zu beweisen, dass sie mehr ist als eine parteiinterne Proporzkandidatin. Denn bis 2030 muss die Bundesrepublik klimapolitisch aufholen. Auch dieses Jahr scheint noch gefährlich weit weg und kann dazu verleiten, die dringend nötigen Schritte zu vertagen. So könnten auch die nächsten Regierungen den Berg der Emissionsversprechen weiter vor sich herschieben. Dieser ist in den letzten vier Jahren enorm angewachsen, und die Klimaschulden der Bundes- republik vergrößern sich von Jahr zu Jahr.

Fehlender politischer Wille

Die Aufgaben sind dementsprechend gewaltig: Bislang hat die Bundes- republik nur ein Fünftel dessen eingespart, was sie 2013 versprochen hatte:

40 Mio. Tonnen CO2 jährlich. Und um die ausstehenden 160 Mio. Tonnen pro Jahr wird sie die Emissionen in den verbleibenden knapp zwei Jahren unmöglich verringern können. Die Verschiebung der Zielvorgaben auf 2030 macht es der Regierung nun nicht unbedingt leichter: Nach neuesten

1 Vgl. „Kohle muss den größten Brocken bringen“, www.klimaretter.info, 7.12.2017.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 GroKo oder: Die große Verschleppung 83

Berechnungen müsste Deutschland die jährlichen CO2-Emissionen bis 2030 sogar um 450 Mio. Tonnen vermindern, um die Vorgaben des Pariser Klima- schutzabkommens zu erfüllen. Auch dies ist beim aktuellen Tempo kaum zu schaffen. Was fehlt, ist der politische Wille. Selbst der Bundesverband der Deutschen

Industrie hält mittlerweile eine CO2-Reduktion von 80 Prozent bis 2050 für „technisch möglich“ und „volkswirtschaftlich verkraftbar“, wie es in einer im Januar publizierten Studie heißt.2 Doch während sich die Gesellschaft in Richtung mehr Klimaschutz bewegt, tritt Schwarz-Rot auf der Stelle. Das liegt an eingespielten Reaktionsmustern und ideologischen Vorbehalten der Koalitionäre, aber auch am Lobbyeinfluss auf die Ministerien. Daher ist ein klimapolitischer Wandel wohl nur zu erwarten, wenn der gesellschaftliche oder außenpolitische Druck auf Deutschland steigt und die große Koalition vor sich hertreibt. Der gehen derweil bewährte Kräfte von Bord – wie etwa Rainer Baake. Der ehemalige Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium gilt als einer der Architekten der Energiewende. Weil er die Klimapolitik im neuen Koalitions- vertrag nicht mittragen wollte, bat er den neuen Wirtschaftsminister vor einigen Wochen um seine Entlassung. Ähnlich frustriert dürften die verbleibenden Ökologen in der neuen Koalition sein: Außer dem Bundesumweltministerium (BMU) – das abgesehen von Mahnungen und Appellen nicht viel bewegen kann – nimmt traditionell kaum ein Ressort den Klimaschutz wirklich ernst. Das gilt insbesondere auch für die klima- politisch wichtigen Ministerien für Verkehr, Wirtschaft und Landwirtschaft. Das BMU hätte mit seinen Klimaschutzkonzepten schon immer sehr allein dagestanden, beklagt etwa der ehemalige Leiter der dortigen Abteilung Klimaschutz, Franzjosef Schafhausen: „Was kann eine Umweltministerin gegen einen Wirtschaftsminister ausrichten, der nicht nur SPD-Vorsitzender, sondern auch Vizekanzler ist?“, fragt Schafhausen mit Blick auf Sigmar Gabriel rückblickend. Aufgrund unterschiedlicher Interessen liegen Umwelt- und Wirtschaftsministerium grundsätzlich im Dauerclinch. Erschwerend kommt hinzu, dass zu Beginn der vergangenen Legislaturperiode die Zuständigkeiten für erneuerbare Energien vom Umwelt- ins Wirtschafts- ministerium gewandert sind. Zudem fehle dem BMU häufig die politische Unterstützung, so Klimaexperte Schafhausen. Das Kabinett verabschiedet zwar Klimaschutzprogramme, in denen sich alle Ministerien zu Maßnahmen verpflichten – doch oftmals ignorieren die Ressorts diese dann einfach. Ein eindringliches Beispiel für die systematische Vernachlässigung von Klimaverpflichtungen liefert das Verkehrsministerium. Der bisherige Behördenchef wusste, dass sich sein Haus mit dem Aktionsplan Klimaschutz bis 2020 zu einer Reduktion von mindestens 7 bis

10 Mio. Tonnen CO2 verpflichtet hatte. Doch hat Dobrindt diese Ziele nicht nur vier Jahre lang ignoriert, sondern auch dabei zugesehen, wie die CO2- Emissionen des Verkehrs in diesem Zeitraum von knapp 160 Mio. auf 166 Mio.

2 Vgl. BDI, Klimapfade für Deutschland 2050, Berlin 2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 84 Susanne Götze

Tonnen anwuchsen. Wenn es um Entscheidungen über CO2-Grenzwerte, Förderprogramme oder Straßenplanung ging, hingen Dobrindt und selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel am Tropf der Autolobby und mussten erst in „München und Stuttgart“ anfragen. Dort sitzen große deutsche Autobauer: BMW, Daimler, Porsche – und nicht zuletzt der Autofahrer-Lobbyclub ADAC.

Im Dienste der Autoindustrie

Einem ganz ähnlichen Muster folgte der Umgang mit dem Dieselskandal um erhöhte Stickoxid- und CO2-Werte durch manipulierte Software in Fahr- zeugen.3 Während VW-Manager in den USA vor Gericht gestellt wurden, übte sich die Bundesregierung in Schadensbegrenzung – im Interesse der Autoindustrie. Dabei versuchte sie, die dringend notwendigen Hardware- nachrüstungen ebenso zu vermeiden wie Fahrverbote in den Innenstädten. Auch unter dem neuen CSU-Verkehrsminister wird sich daran wenig ändern. Dementsprechend zurückhaltend heißt es im Koalitions- vertrag, man wolle zwar „Anstrengungen zur Verbesserung der Luftqualität“ vornehmen, aber Hardware-Verbesserungen an Fahrzeugen nur zulassen, „soweit [dies] technisch möglich und wirtschaftlich vertretbar“ ist. Dem- entsprechend wird das lästige Dieselproblem in die neue Arbeitsgruppe „Technische Nachrüstung“ ausgelagert. Noch klarer positioniert sich die neu- alte Koalition gegen Fahrverbote. So müssen erst Gerichtsentscheidungen – wie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von Ende Februar – die Ver- kehrspolitik von Schwarz-Rot geraderücken. Sämtliche Mahnungen von Umweltministerium oder Umweltbundesamt, endlich die blaue Plakette einzuführen, verhallen hingegen ungehört. Bedenkt man, dass der Verkehr eine Hauptschuld am deutschen Klimaversagen trägt und die EU sogar eine Klage wegen verkehrspolitischer Untätigkeit in Sachen Stickoxide erwägt, fallen auch Formulierungen wie „mehr Elektromobilität“ und „Reduzierung von Schadstoffemissionen im Straßenverkehr“ im Koalitionsvertrag recht lasch aus. Neben Steuervorteilen für Elektroautos und einer leicht erhöhten Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs soll ein „Schienenpakt“ die Fahrgastzahlen bei der Bahn steigern und den Gütertransport teilweise von der Straße auf die Schiene verlagern. Außerdem will die Regierung die Elektrifizierung vorantreiben: „Bis 2025 wollen wir 70 Prozent des Schienen- netzes in Deutschland elektrifizieren“; derzeit sind es 60 Prozent. Wie das genau geschehen soll und welche Mittel bereitgestellt werden, ist noch offen.

Beruhigungspolitik statt strukturellen Umdenkens

Auch bei der Kohle drückt sich die große Koalition um klare Bekenntnisse. Immerhin konnten sich die Verhandler zu einer bis dato unerreichten Klarheit

3 Vgl. den Text von Rainer Fischbach und Stefan Kissinger in dieser Ausgabe.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 GroKo oder: Die große Verschleppung 85 durchringen: Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hatte während der Verhandlungen noch für den Verzicht auf eine „Ausstiegsphilosophie“ geworben. Doch nun soll die geplante Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ einen Plan „zur schritt- weisen Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung einschließlich eines Abschlussdatums“ vereinbaren, heißt es im Vertrag. Um das böse Wort „Abschlussdatum“ hatte es zuvor über Monate Streit gegeben. So wehrte sich der seinerzeitige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel jahrelang vehe- ment dagegen, ein konkretes Datum zum Kohleausstieg festzulegen. Doch angesichts der Weigerung der Koalitionäre, eine konkrete Zahl abzu- schaltender Kohlekraftwerke im Koalitionsvertrag festzuschreiben, fürchten Kritiker nun, die Kommission werde keine ausreichenden Maßnahmen ver- einbaren, um das Klimaziel für 2030 zu erreichen. Fest steht: Das Ringen um den Kohleausstieg und die Abfederung des Strukturwandels in den Kohle- revieren wird zentral für die Klimapolitik der GroKo-Neuauflage werden. Noch in diesem Jahr soll die Kommission ihre Arbeit aufnehmen, deren Mit- glieder aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Umweltverbänden kommen sollen.

Ähnlich vage greift die Koalition die sinnvolle Idee auf, einen CO2- Preis einzuführen – also eine Abgabe auf Emissionen. Dazu strebt sie eine Zusammenarbeit mit der französischen Regierung an, die bereits seit Monaten auf internationalem Parkett für das Vorhaben wirbt. Allerdings folgt der entsprechenden Passage im Koalitionsvertrag gleich ein Bekennt- nis zum Schutz energieintensiver Industrien. Auch hier droht Beruhigungs- politik statt strukturellen Umdenkens.

Hoffnungsschimmer Klimaschutzgesetz

Ein wirkliches Novum markiert hingegen die Absicht, ein Klimaschutzgesetz zu erlassen. Damit wollen die Koalitionäre zeigen, wie ernst es ihnen dieses Mal mit der Einhaltung ihrer Ziele ist. Schon im nächsten Jahr, so heißt es im Koalitionsvertrag, wolle man „eine rechtlich verbindliche Umsetzung ver- abschieden“. Sind die Ziele erstmal rechtlich bindend, könnte sich tatsäch- lich einiges ändern. Bisher gibt es ähnliche Klimaschutzgesetze in Groß- britannien, Österreich und der Schweiz sowie in einigen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Erfreulich sind auch die Pläne zur Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien an der Stromproduktion: Bis 2030 soll dieser auf etwa 65 Pro- zent ansteigen. Zuvor galt lediglich ein Ziel von 50 Prozent. Bis 2020 sollen Windräder und Photovoltaikanlagen mit einer zusätzlichen Kapazität von je 4000 Megawatt entstehen, auch die Offshore-Windenergie soll aus- geweitet werden. Allerdings machen die Koalitionäre die Ausschreibungen für erneuerbare Energien von der Schaffung neuer Trassen abhängig. Die Koalition plant also wieder keine dezentrale und demokratische Energie- wende, sondern eine mit Stromautobahnen und Riesen-Ökokraftwerken.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 86 Susanne Götze

Welche Akzente die neue Umweltministerin angesichts dessen setzen kann, bleibt abzuwarten. Svenja Schulzes Vorgängerin, Barbara Hendricks, war zwar eine weitgehend machtlose, aber gerade in den letzten Monaten immer lauter gewordene Kämpferin für mehr Klimaschutz. Von Schulze kann sich bisher kaum jemand ein rechtes Bild machen: Mit Energie und Klima hatte die langjährige PR-Beraterin immerhin in ihrer Zeit als umweltpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion zu tun. Ökologen aus Nordrhein-West- falen erinnern sich an Schulze als eine konstruktive Politikerin. Einige hoffen sogar, sie könne die SPD von ihrer Kohleversessenheit befreien. Ihren Widerpart im Wirtschaftsministerium, Peter Altmaier, haben hin- gegen viele noch als Bremser der Energiewende in Erinnerung. Diesen Ruf hat er sich erarbeitet, als er im Mai 2012 von seinem Parteifreund Norbert Röttgen das Amt des Umweltministers übernahm und dort bis zur Bundes- tagswahl 2013 für die Energiewende zuständig war – deren Kosten er stets betonte. Manche Beobachter loben, statt Heißspornen wie Sigmar Gabriel hätten es nun mehr Pragmatiker ins Kabinett geschafft. Aber reicht Pragmatismus, um die gesellschaftlichen Gräben zwischen alter Energiewirtschaft und der Autolobby einerseits sowie der Ökobranche und Klimaschützern anderer- seits zu schließen? Das bleibt abzuwarten. So vage wie der Koalitions- vertrag bei Klima und Umwelt bleibt, ist die Politik der nächsten vier Jahre schwer abzuschätzen. Einige sehen von vornherein schwarz: Mit der großen Koalition drohe „ein Fadenriss bei umwelttechnischen Innovationen und im Klimaschutz“, warnte der Bundesverband der grünen Wirtschaft. Andere wie der langjährige Klimaschutzbeauftragte des BMU, Franzjosef Schaf- hausen, wünschen sich trotz allem einen „Ruck in der Klimapolitik“. Fest steht: Die Weichen für 2030 werden jetzt gestellt. Schon die nächsten Monate werden darüber entscheiden, ob Deutschland wieder auf den Pfad der Klimatugend zurückkehrt.

Populismus:

© misterQM / photocase.de Die autoritäre Wende

Trump, Kurz, Gauland, Le Pen: Überall in der westlichen Welt kanalisieren Populisten die Wut der Abgehängten und Verunsicherten. Etablierte Parteien und Medien reagieren hilflos. Wie lässt sich der Vormarsch der Antidemokraten stoppen? Das Dossier auf www.blaetter.de: 25 »Blätter«-Beiträge für nur 8,50 €

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Imperialer Rassismus Vom Ersten Weltkrieg bis zu Donald Trump

Von Pankaj Mishra

n der Westgrenze steht heute ein Auswurf afrikanischer und asiatischer A Wilder und alles Räuber- und Lumpengesindel der Erde unter Waffen.“ Das schrieb der deutsche Soziologe Max Weber im September 1917. Weber meinte damit die Millionen indischer, afrikanischer, arabischer, chinesi- scher und vietnamesischer Soldaten und Arbeiter, die im Ersten Weltkrieg in Europa und auf verschiedenen Nebenkriegsschauplätzen für die briti- schen und französischen Streitkräfte kämpften. Um dem Mangel an militäri- schem Personal Abhilfe zu schaffen, hatten die britischen Imperialisten bis zu 1,4 Millionen indische Soldaten rekrutiert. Frankreich hob in seinen Kolonien in Afrika und Indochina fast 500 000 Mann aus. Und zu den US-Streitkräften wurden annähernd 400 000 Afroamerikaner eingezogen. Diese nichtweißen Kombattanten sind die wahren unbekannten Soldaten des Ersten Weltkriegs. Ho Chi Minh, der sich während des Krieges großenteils in Europa aufhielt, kritisierte die Geschehnisse als Nötigung von Völkern zweiter Klasse. Vor dem Ausbruch des Großen Krieges, schrieb Ho, sah man in ihnen „nichts als dreckige Neger [...], zu nichts anderem nütze als zum Rikscha-Ziehen“. Als aber die Kriegsmaschinerien Europas „Menschenmaterial“ brauchten, da verpflichtete man sie. Andere Antiimperialisten wie Mahatma Gandhi und W.E.B. Du Bois unterstützten die Kriegsziele ihrer weißen Herrscher ganz entschieden und hofften, dafür nach Kriegsende mit Anerkennung für ihre Landsleute entlohnt zu werden. Doch sie erkannten dabei nicht, was Webers Bemerkung offenlegte: Die Europäer hatten die körperliche Nähe zu ihren nichtweißen Untertanen – ihren „neu gefangenen verdrossenen Völkern“, wie Rudyard Kipling die kolonisierten Asiaten und Afrikaner in seinem Gedicht „Die Bürde des weißen Mannes“ von 1899 nannte1 – sehr schnell zu fürchten und zu hassen begonnen. Diese Kolonialuntertanen spielen in den gängigen Geschichtsbüchern über den Krieg immer noch eine nur marginale Rolle. Auch in ehrwürdigen Ritualen wie dem britischen Remembrance Day am 11. November, in Erinne- rung an den Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918, finden sie weitgehend keinen Platz.

* Das englische Original erschien in „The Guardian“, Copyright Guardian News & Media Ltd 2018, Übersetzung: Andreas Förster. 1 Rudyard Kipling, Die Ballade von Ost und West. Ausgewählte Gedichte, Zürich 1992, S. 127.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 88 Pankaj Mishra

Die Gedenkprozession aller wichtigen britischen Würdenträger zum Ehren- mal von Whitehall, die zwei Schweigeminuten und ihr Abschluss mit den Klängen des „Last Post“, die Trauerkränze aus blutroten Mohnblüten und die Nationalhymne im Chor – all das präsentiert den Ersten Weltkrieg als einen kolossalen Akt der Selbstverstümmelung Europas. Ein ganzes Jahrhundert lang gedachte man dieses Krieges als einem großen Bruch in der westlichen Zivilisation der Neuzeit. Er galt als eine unerklärliche Katastrophe, in die die höchst zivilisierten europäischen Großmächte nach dem „langen Frieden“ des 19. Jahrhunderts schlafwandlerisch hineinspazierten – eine Katastrophe, deren ungelöste Probleme einen weiteren verheerenden Konflikt zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimes hervorriefen, aus dem Ers- tere schließlich siegreich hervorgingen, womit Europa zu seinem eigentli- chen Gleichgewicht zurückfand. Mit mehr als acht Millionen Toten und mehr als 21 Millionen Versehrten war dieser Krieg der bis dahin blutigste in der europäischen Geschichte; übertroffen nur von jenem zweiten Weltenbrand, der 1945 endete. Die Fried- höfe von Verdun und Passendale, an der Marne und an der Somme sowie die Kriegerdenkmäler auch in den entlegensten Dörfern Europas verkörpern das Andenken an eine herzzerreißend große Todes- und Verlusterfahrung. Derweil zeichnen viele Bücher und Filme die Vorkriegszeit als eine Epoche des Wohlstands und der Zufriedenheit in Europa: der Sommer 1913 als letzter Sommer im Paradies. Heute jedoch, da Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wieder im Zentrum westlicher Politik angelangt sind, ist es höchste Zeit, sich den Hintergrund des Ersten Weltkrieges in Erinnerung zu rufen: den rassistischen Imperia- lismus, der jahrzehntelang Bestand hatte und noch heute massive Auswir- kungen zeitigt. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs bestanden in allen westlichen Mächten rassistische Hierarchien, die das Projekt territorialer Expansion bemäntelten. So äußerte US-Präsident Woodrow Wilson im Jahr 1917 unum- wunden seine Absicht, „die weiße Zivilisation und ihre Vorherrschaft auf dem Planeten“ zu verteidigen und dafür zu sorgen, „dass die weiße Rasse stark bleibt gegen die gelbe“.2 Eugenisches Gedankengut im Sinne einer Konkurrenz zwischen „Rassen“ war im Mainstream allgegenwärtig. Ebenso weit verbreitet war im Westen eine Angst, die Zeitungen wie die „Daily Mail“ zum Ausdruck brachten: Sie warnte vor möglichen Kontakten zwischen wei- ßen Frauen und „Eingeborenen, die schlimmer sind als Tiere, sobald ihre Leidenschaften erst einmal geweckt sind“. In den meisten US-Bundesstaaten galten Gesetze gegen „Rassenvermischung“, und noch vor 1914 kam es in den europäischen Kolonien in Afrika zum Verbot von sexuellen Beziehungen zwi- schen europäischen Frauen und schwarzen Männern (nicht aber zwischen europäischen Männern und afrikanischen Frauen). Die Gegenwart der „dre- ckigen Neger“ in Europa nach 1914 schien daher ein echtes Tabu zu brechen. Im Mai 1915 sorgte beispielsweise eine Fotografie in der „Daily Mail“ für Empörung: Abgebildet war eine britische Krankenschwester, die hinter

2 Zit. nach: Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Auf- stieg Asiens, Frankfurt a. M.. 2013, S. 242.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Imperialer Rassismus 89 einem verwundeten indischen Soldaten stand. Der Armee-Apparat wollte weiße Krankenschwestern daraufhin aus jenen Lazaretten abziehen, in denen Inder behandelt wurden, und untersagte es Letzteren, das Lazarettge- lände ohne weiße männliche Begleitung zu verlassen. In Deutschland war die Entrüstung über den Nachkriegseinsatz französischer Soldaten aus Afrika (mehrheitlich aus dem Norden) während der Rheinlandbesetzung ganz besonders heftig und zog noch weitere Kreise. Zwar hatte auch Deutschland Tausende afrikanische Soldaten im Kampf um seine Kolonien eingesetzt, aber nur in Ostafrika, nicht in Europa – das wäre eine „rassenschänderische Verwendung Farbiger“ gewesen, wie sich der deutsche Außenminister (und ehemalige Gouverneur von Samoa), Wilhelm Solff, ausdrückte.3 „Für deutsche Frauen“, warnte 1920 eine gemeinsame Erklärung der Wei- marer Nationalversammlung, „sind diese Wilden eine schauerliche Gefahr.“4 In „Mein Kampf“ bezeichnete Adolf Hitler die afrikanischen Soldaten auf deutschem Boden gar als Ergebnis einer jüdischen Verschwörung mit dem Ziel, die Weißen „von ihrer kulturellen und politischen Höhe zu stürzen“.5 Von den rassehygienischen Neuerungen in den USA inspiriert, sterilisier- ten die Nazis 1937 zwangsweise Hunderte Kinder afrikanischer Soldaten. Doch die Angst vor und der Hass auf bewaffnete „Nigger“ auf deutschem Boden (wie Max Weber sie nannte) beschränkten sich weder auf Deutsch- land noch auf die politische Rechte: Auch der Papst protestierte gegen die Stationierung, und ein Leitartikel in der sozialistischen britischen Zeitung „Daily Herald“ von 1920 trug den Titel „Schwarze Plage in Europa“.

Die rassistische Ordnung der Welt

So sah die damals vorherrschende rassistische Ordnung der Welt aus. Sie fußte auf einem ausschließenden Begriff des Weiß-Seins und war unterfüt- tert mit Imperialismus, Pseudowissenschaften und sozialdarwinistischer Ideologie. Die kontinuierliche Erosion der althergebrachten rassistischen Privilegien, deren Zeugen wir heute sind, hat die westlichen Identitäten und Institutionen destabilisiert – und vor dem Hintergrund dieser Erosion erweist sich der Rassismus als noch immer potente politische Kraft, indem er rechten Demagogen im Zentrum des modernen Westens den Rücken stärkt. Wenn Verfechter der weißen Vorherrschaft heute fieberhaft transna- tionale Bündnisse schmieden, drängt sich zwingend eine Frage auf, die Du Bois schon 1910 stellte: „Was, in aller Welt, ist dieses derart begehrenswerte Weiß-Sein?“6 Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg muss daher vor dem Hintergrund eines Projekts der westlichen Weltherrschaft stattfinden – eines Projekts, das allen wesentlichen Kriegsparteien gemein war. Der Erste Welt-

3 Wilhelm Solff, Kolonialpolitik. Mein politisches Vermächtnis, Berlin 1919, S. 46. 4 Zit. nach: Fatima El-Tayeb, Schwarze Deutsche. Der Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890-1933, Frankfurt a. M. und New York 2001, S. 160. 5 Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1943 [1925/1927], S. 357. 6 W. E. Burghardt Du Bois, The Souls of White Folk, in: ders., Darkwater. Voices from within the veil, New York 1920, S. 29-52, hier: S. 30.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 90 Pankaj Mishra krieg markiert somit eigentlich den Moment, in dem das gewalttätige Ver- mächtnis des Imperialismus in Asien und Afrika an den heimischen Herd zurückkehrte und sich als selbstzerstörerische Schlächterei in Europa ent- faltete. Und das stimmt knapp hundert Jahre nach dem Waffenstillstand von 1918 besonders nachdenklich. Denn die Gefahr eines großflächigen Chaos im Westen ist heute größer als zu jedem anderen Zeitpunkt in dem langen Frieden der westlichen Welt seit 1945. Wenn Historiker die Kriegsursachen erörtern, konzentrieren sie sich für gewöhnlich auf starre Bündnisse, militärische Ablaufpläne, imperialistische Konkurrenz, Rüstungswettläufe und auf den deutschen Militarismus. Der Erste Weltkrieg, so erzählen sie, war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts − Europas Erbsünde, die den Grundstein legte für gar noch größere Ausbrü- che der Barbarei wie den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Eine sehr umfangreiche Literatur über den Krieg, buchstäblich Zehntausende von Büchern und Forschungsartikeln, beschäftigt sich vor allem mit der West- front und den Auswirkungen des gegenseitigen Abschlachtens auf Großbri- tannien, Frankreich und Deutschland – und zwar bezeichnenderweise mit den Zentren der Kolonialmächte und nicht mit deren Peripherie. In dieser konventionellen Erzählung − die nur durch Verweise auf die Russische Revo- lution und die Balfour-Deklaration des Jahres 1917 etwas plastischer wird − begann der Krieg mit dem „Augusterlebnis“ von 1914, als jubelnde patrio- tische Massen in ganz Europa die Soldaten in das blutige Patt der Schützen- gräben verabschiedeten. Mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 kehrte der Frieden zurück, der allerdings 1919 durch den Versailler Vertrag auf tragische Weise kompromittiert wurde, womit der Boden bereitet war für den nächsten Weltkrieg. Der vorherrschenden, aber höchst ideologischen Erzählung europäischer Geschichte zufolge, die übrigens erst mit Beginn des Kalten Krieges größere Verbreitung fand, waren die beiden Weltkriege sowie der Faschismus und der Kommunismus einfach grauenhafte Absonderlichkeiten auf dem Weg des universellen Fortschritts von Freiheit und liberaler Demokratie. In vie- lerlei Hinsicht indes müssen die Jahrzehnte nach 1945 − in denen ein sei- ner Kolonien beraubtes Europa aus den Ruinen zweier verheerender Kriege auferstand − zunehmend als außergewöhnlich erscheinen: Denn im Schoße einer allgemeinen westeuropäischen Verdrossenheit gegenüber militant- kollektivistischen Ideologien erstrahlten die Vorzüge der Demokratie in hellstem Lichte, vor allem die Achtung individueller Freiheiten. Die prakti- schen Vorzüge eines überarbeiteten Gesellschaftsvertrags und des Sozial- staats lagen ebenso auf der Hand. Doch dieser Tage erleben wir in Ost- wie in Westeuropa, dass weder die Jahrzehnte relativer Stabilität noch der Zusam- menbruch der kommunistischen Regime nach 1989 hinreichend Grund zu der Annahme bieten, dass Demokratie und Menschenrechte tief im europäi- schen Boden verwurzelt sind. Anstatt also des Ersten Weltkriegs in einer Weise zu gedenken, die unse- ren heutigen Vorurteilen schmeichelt, sollten wir uns Hannah Arendts Hin- weis aus „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ in Erinnerung rufen,

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Imperialer Rassismus 91 einer der ersten großen Abrechnungen (in der westlichen Welt) mit der erdrü- ckenden europäischen Erfahrung von Krieg, Rassismus und Völkermord im 20. Jahrhundert. Arendt merkt an, dass die Europäer während ihrer Erobe- rung und Ausbeutung eines Großteils von Asien, Afrika und der Amerikas als erste die „Menschheit in Herren- und Sklavenrassen“ einteilten.7 Errich- tet wurde diese entwürdigende rassistische Hierarchie, weil sich das Ver- sprechen von Gleichheit und Freiheit in der Heimat nur dann wenigstens teilweise einlösen ließ, wenn sich Europa imperial ausdehnte.

Imperiale Ausdehnung: Nationale Gleichheit und die Unterscheidung der »Rassen«

Wir vergessen oftmals, dass man im späten 19. Jahrhundert den Imperialis- mus mit seinem Versprechen von Land, Lebensmitteln und Rohstoffen weit- hin als unabdingbar für den nationalen Fortschritt und Wohlstand ansah. Der Rassismus war – und ist – weit mehr als ein hässliches Vorurteil, das sich allein mit gesetzlichen und gesellschaftlichen Verboten ausrotten ließe. Er war auch ein ernsthafter Versuch, durch Ausschluss und Herabsetzung für politische Ordnung zu sorgen und den Aufruhr in Gesellschaften zu befrie- den, die von einem raschen gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Wandel ergriffen waren. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die Popularität des Sozialdarwinismus zur einhelligen Meinung geführt, Nationen seien wie biologische Organis- men zu betrachten, denen Niedergang und Ausrottung droht, falls es ihnen nicht gelingt, Fremdkörper auszustoßen und „Lebensraum“ für ihre eige- nen Bürger zu erlangen. Pseudowissenschaftliche Theorien über biologi- sche „Rassenunterschiede“ zeichneten eine Welt, in der alle „Rassen“ einen internationalen Kampf um Reichtum und Macht führen. Das Weiß-Sein war, wie Du Bois beobachtete, die „neue Religion“ geworden,8 sie bot einerseits Sicherheit inmitten unübersichtlicher ökonomischer und technologischer Veränderungen und andererseits das Versprechen auf Macht und Autorität über die Mehrheit der Weltbevölkerung. Das heutige Wiedererstarken von Vorstellungen weißer Vorherrschaft im Westen – wie auch die viel weiter verbreitete Stigmatisierung ganzer Men- schengruppen, die angeblich aufgrund ihrer Kultur von der weißen west- lichen Bevölkerung grundverschieden seien – lässt vermuten, dass der Erste Weltkrieg tatsächlich kein tiefgreifender Bruch mit der europäischen Geschichte war. Wie Chinas wichtigster moderner Intellektueller, Liang Qichao, schon 1918 mit Nachdruck feststellte, war der Große Krieg vielmehr „ein Übergang, der Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet“.9 Die salbungsvollen Reden am Volkstrauertag und die Beschwörung des schönen und langen Sommers von 1913 verleugnen sowohl die entsetzli-

7 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2017 [1951], S. 220. 8 Du Bois, a.a.O., S. 31. 9 Zit. nach: Mishra, a.a.O., S. 258.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 92 Pankaj Mishra che Realität, die dem Krieg vorausging, als auch den Fakt, dass sie bis ins 21. Jahrhundert hinein fortbesteht. Zum hundertsten Jahrestag des Kriegs- endes stehen wir daher vor einer großen Aufgabe: Wir müssen herausfinden, wie diese Vergangenheit unsere Gegenwart durchdringt und wie sie die Zukunft zu prägen droht – denn die endgültig geschwächte Vorherrschaft der weißen Zivilisation und das neue Durchsetzungsvermögen der vormals unterdrückten Völker entfesselt heute im Westen einige sehr alte Tendenzen und Charakterzüge.

Eine Geschichte des Weiß-Seins

Dafür kommt es darauf an, die Erfahrungen und Perspektiven der nichteuro- päischen Akteure und Beobachter des Ersten Weltkriegs in den Blickpunkt zu rücken. Doch fast ein Jahrhundert nach Ende des Krieges liegen diese noch immer weitgehend im Dunkeln. Es existieren verhältnismäßig wenige Erkenntnisse darüber, wie der Erste Weltkrieg die politischen Auseinander- setzungen in ganz Asien und Afrika beschleunigte, welche neuen Chancen er arabischen und türkischen Nationalisten sowie antikolonialen Aktivisten in Indien und Vietnam bot und wie der Krieg zwar alte Imperien in Europa zerstörte, aber in Asien mit Japan eine gefährliche neue imperialistische Großmacht hervorbrachte. Eine umfassende Darstellung dieses Krieges, die auch politische Konflikte außerhalb Europas berücksichtigt, würde den heu- tigen Hypernationalismus vieler asiatischer und afrikanischer Eliten und Führungsschichten erklären, für den das gegenwärtige chinesische Regime nur das auffälligste Beispiel bietet – mit seiner Selbstinszenierung als Rächer für die jahrhundertelange Erniedrigung Chinas durch den Westen. Immerhin erhielten die nichteuropäischen Soldaten und Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs bei den jüngsten Gedenkfeiern einen größeren Raum: Insgesamt mehr als vier Millionen nichtweiße Männer wurden zu den euro- päischen und amerikanischen Armeen eingezogen, und es kam auch an sehr weit von Europa entfernten Orten zu kriegerischen Auseinandersetzungen – von Sibirien und Ostasien über den Nahen Osten bis hin zu Afrika südlich der Sahara und sogar den südpazifischen Inseln. An der Mesopotamienfront stellten indische Soldaten während des gesam- ten Krieges die Mehrheit der Entente-Streitkräfte. Weder die britische Beset- zung Mesopotamiens noch der erfolgreiche britische Feldzug in Palästina wären ohne indische Unterstützung möglich gewesen. Sikh-Soldaten halfen sogar den Japanern, die Deutschen aus ihrer chinesischen Kolonie in Qing- dao zu vertreiben. Zwar interessiert sich die Forschung inzwischen mehr für die beinahe 140 000 chinesischen und vietnamesischen Vertragsarbeiter, die von den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs angeheuert wurden, um die Kriegsinfrastruktur aufrechtzuerhalten und Gräben auszuheben. Mehr Erkenntnisse aber besitzen wir darüber, wie das Europa der Zwischen- kriegszeit zur Herberge einer Vielzahl antikolonialer Bewegungen wurde.

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Zur ostasiatischen Auswanderergemeinde in Paris beispielsweise zählten punktuell sowohl Zhou Enlai, der spätere Premierminister Chinas (1949- 1976), als auch Ho Chi Minh, der spätere Präsident Vietnams (1946-1969). Das Schicksal vieler dieser Asiaten und Afrikaner in Europa bestand in einer grausamen Behandlung in Form von Segregation und Sklavenarbeit. Deng Xiaoping – nach Maos Tod 1976 der große Reformer Chinas –, der 1920 kurz nach Kriegsende in Frankreich angekommen war, erinnerte sich später an „die Demütigungen“, die seinen chinesischen Landsleuten durch „die Hand- langer der Kapitalisten“ zugefügt wurden.10

Die Vernichtung der »Wilden« als Normalität

Um aber die aktuelle Rückkehr von Vorstellungen weißer Vorherrschaft im Westen zu begreifen, bedarf es einer weiter zurückreichenden Geschichts- schreibung – einer Historiographie, die aufzeigt, wie das Weiß-Sein im spä- ten 19. Jahrhundert zum Garanten für individuelle Identität und Würde und zur Grundlage für militärische und diplomatische Bündnisse wurde. Eine solche Geschichte würde aufzeigen, dass es in der globalen rassistischen Ordnung des Jahrhunderts vor 1914 für „unzivilisierte“ Völker vollkommen normal war, vernichtet, terrorisiert, eingekerkert, ausgegrenzt oder radikal umerzogen zu werden. Dieses fest etablierte System bildete außerdem keine bloße Koinzidenz des Ersten Weltkriegs, sondern es besteht ein direkter Zusammenhang zur grauenhaften Kriegsführung und zu jener Verrohung, die den Schrecken des Holocaust den Boden bereitete. Sprich: Die äußerste, unrechtmäßige und oftmals willkürliche Gewalt des modernen Imperialis- mus kehrte letzten Endes wie ein Bumerang nach Europa zurück. Diese neue Geschichtsschreibung enthüllt den langen Frieden Europas von 1871 bis 1914 als eine Epoche grenzenloser Kriege in Asien, Afrika und Amerika. Diese Kolonien erweisen sich somit als der Schmelztiegel, in dem die bösartigen Taktiken der brutalen europäischen Kriege im 20. Jahrhun- dert zuallererst geformt wurden: ethnische Säuberungen, gewaltsame Ver- treibungen und die Verachtung für Zivilisten. Im wachsenden zeitgeschichtlichen Forschungsfeld zum deutschen Kolo- nialismus versucht man, den Holocaust auf die ersten Völkermorde zurück- zuführen, die die Deutschen Anfang des 20. Jahrhunderts in ihren afrika- nischen Kolonien verübten, wo auch einige zentrale Ideologien wie die vom „Lebensraum“11 aufkeimten. Zu einfach wäre jedoch die Schlussfolgerung, insbesondere aus einem angloamerikanischen Blickwinkel, dass allein Deutschland in seinen Kolonien die Normen der Zivilisation gebrochen, einen neuen Standard der Barbarei gesetzt und damit den Rest der Welt in ein Zeitalter der Extreme gezwungen habe. Denn die imperialistischen Praktiken und rassistischen Vorurteile der europäischen und amerikani- schen Großmächte wiesen starke Kontinuitäten auf.

10 Zit. nach: Mishra, a.a.O., S. 254. 11 Deutsch im Original.

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Tatsächlich stimmten die Geisteshaltungen der westlichen Mächte während dieser Blütezeit des „Weiß-Seins“ in bemerkenswert hohem Maße überein – es ging um „den Besitz der Erde bis in alle Ewigkeit“, wie Du Bois das „Weiß- Sein“ prägnant definierte.12 Die Kolonisierung Südwestafrikas durch die Deutschen beispielsweise, mit der man das Problem der Überbevölkerung zu lösen suchte, wurde oftmals von den Briten unterstützt. Und alle westlichen Großmächte teilten und verteilten im späten 19. Jahrhundert ganz brüderlich den großen chinesischen Kuchen. Jegliche Spannungen, die beim Auftei- len der asiatischen und afrikanischen Beute auftraten, wurden weitgehend friedlich entschärft, wenn auch stets auf Kosten der Asiaten und Afrikaner.

Äußere Expansion für den inneren Frieden

Seine Ursache hat dieser Umstand darin, dass die Kolonien zum Ende des 19. Jahrhunderts als unverzichtbare Ventile für den heimischen sozioöko- nomischen Überdruck angesehen wurden. Nach einem Zusammentreffen mit wütenden Arbeitslosen im Londoner East End sprach sich Cecil Rhodes 1895 in beispielhafter Klarheit für solche Ventile aus. Der Imperialismus, so erklärte er, „ist die Lösung des sozialen Problems, das heißt, um die vierzig Millionen Einwohner des Vereinigten Königreichs vor einem mörderischen Bürgerkrieg zu schützen, müssen wir Kolonialpolitiker neue Ländereien erschließen, um den Überschuss an Bevölkerung aufzunehmen, und neue Absatzmärkte schaffen für die Waren, die sie in ihren Fabriken und Minen erzeugen“. Nach Rhodes’ Auffassung galt: „Wenn Sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen Sie Imperialisten werden.“13 Rhodes’ Jagd nach den Goldvorkommen Afrikas trug dazu bei, den zwei- ten Burenkrieg auszulösen, in dessen Verlauf die Briten mit ihrer Internie- rung von Frauen und Kindern den Begriff „Konzentrationslager“ in den allgemeinen Sprachgebrauch einführten. Bei Kriegsende im Jahr 1902 war es „ein Gemeinplatz der Geschichte“, so John A. Hobson, „wie Regierun- gen nationale Zwistigkeiten, auswärtige Kriege und den Glanz einer Welt- reichgründung dazu benutzen, den Geist des Volkes zu umnebeln und stei- gende Empörung gegen Missstände im Inneren abzulenken“.14 Während der Imperialismus „ein Panorama vulgären Stolzes und roher Sensationslust“ eröffnete,15 versuchten die herrschenden Klassen allerorts hartnäckig, „die Nation zu imperialisieren“, wie Hannah Arendt schrieb: „sie umzuorgani- sieren in ein Instrument für die verheerende Eroberung fremder Gebiete und die ausrottende Unterdrückung fremder Völker“.16 Dieses Projekt wurde von der noch jungen Boulevardpresse rasch aufgegriffen: Die „Daily Mail“ etwa schürte seit dem ersten Jahr ihres Erscheinens, also seit 1896, einen vulgären

12 Du Bois, a.a.O., S. 30. 13 Wladimir I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständli- cher Abriss, in: ders., Werke, Bd. 22, Berlin (Ost) 21971, S. 189-309, hier: S. 261. 14 Zit. nach: John A. Hobson, Der Imperialismus, Köln und Berlin 1968, S. 139. 15 Ebd., S. 108. 16 Arendt, a.a.O., S. 347.

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Stolz darauf, weiß, britisch und den wilden Eingeborenen überlegen zu sein – und das tut sie noch heute.

Das Zusammenwirken der Imperialisten

Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde Deutschland seiner Kolonien beraubt und von den siegreichen Kolonialmächten allen Ernstes der Misshandlung seiner Untertanen in Afrika beschuldigt. Solche Werturteile sind auch heute noch zu vernehmen. Sie versuchen, einen „gutartigen“ britischen und ame- rikanischen Imperialismus vom deutschen, französischen, niederländischen und belgischen Kolonialismus abzugrenzen. Gleichzeitig zielen sie darauf ab, das kraftvolle, länderübergreifende Zusammenwirken des rassistischen Imperialismus aus dem Gedächtnis zu tilgen. Klarsichtiger zeigt sich hier Marlow, der Erzähler in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“: „Ganz Europa hatte zu seiner Entstehung beigetragen“, sagt er – zur Entstehung des grau- samen Stationsleiters Kurtz.17 Und, so hätte er hinzufügen können, zur Ent- stehung der neumodischen Methoden zur Vernichtung der Wilden. Ein Jahr nach der Verurteilung Deutschlands im Friedensvertrag von Versailles wegen seiner Verbrechen gegen die Afrikaner erklärten die Bri- ten im Jahr 1920 Luftangriffe zur Standardpolitik in ihrer neuen irakischen Besitzung – ein Vorläufer der heutigen, ein Jahrzehnt schon andauernden Luft- und Drohneneinsätze in West- und Südasien. „Die Araber und Kurden wissen nun, was ein echtes Bombardement bedeutet“, stand 1924 im Bericht eines Offiziers der Royal Air Force zu lesen: „Sie wissen nun, dass man ein ganzes Dorf binnen 45 Minuten [...] praktisch ausradieren und ein Drittel sei- ner Bewohner töten oder verwunden kann.“18 Dieser Offizier war kein ande- rer als Arthur „Bomber“ Harris, der im Zweiten Weltkrieg die Feuerstürme von Hamburg und Dresden entfesseln sollte – und dessen bahnbrechende Irak-Aktivitäten sich die Deutschen in den 1930er Jahren bei der Planung des „totalen Kriegs“19 zunutze machten. Oft wird behauptet, die Europäer seien ihren weit entlegenen Kolonialbe- sitzungen gegenüber gleichgültig oder unachtsam gewesen und nur wenige Erzimperialisten wie Rhodes, Kipling und Lord Curzon hätten sich überhaupt für diese interessiert. Dadurch erscheint der Rassismus als unwesentliches Problem, das erst durch die Ankunft von asiatischen und afrikanischen Ein- wanderern im Nachkriegseuropa nach 1945 relevant geworden wäre. Doch die chauvinistische Raserei, mit der Europa 1914 in ein Blutbad stürzte, legt beredtes Zeugnis ab von der kriegerischen Kultur des Kolonialismus und der machistischen Sprache einer „Rassenüberlegenheit“, die das nationale und individuelle Selbstwertgefühl unterfüttert hatten. So trat Italien im Rausch einer allgemeinen Sehnsucht nach imperialer Größe 1915 an der Seite Groß-

17 Joseph Conrad, Herz der Finsternis, Zürich 1977 [1899/1902], S. 101. 18 Martin Böhm, Die Royal Air Force und der Luftkrieg 1922-1945. Personelle, kognitive und konzepti- onelle Kontinuitäten und Entwicklungen, Paderborn 2015, S. 282, Fußnote 89. 19 Deutsch im Original.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 96 Pankaj Mishra britanniens und Frankreichs in den Krieg ein – und versank, nachdem seine imperialistischen Begierden nicht gestillt worden waren, prompt im Faschis- mus. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hatte es italienische Schriftsteller und Journalisten ebenso wie Politiker und Geschäftsleute nach kolonialer Macht und imperialem Ruhm gelüstet. Italien nahm inbrünstig am Wettlauf um Afrika teil, nur um 1896 schmachvoll Äthiopien zu unterliegen. (Mussolini sollte sich 1935 dafür rächen, indem er die Äthiopier über und über mit Gift- gas eindeckte.) 1911 hatte man schließlich die Gelegenheit ergriffen, Libyen aus dem Osmanischen Reich herauszulösen: Nach mehreren Rückschlägen in der Vergangenheit führte Italien – das von Großbritannien und Frankreich grünes Licht erhalten hatte – einen grausamen Angriff gegen das nordaf- rikanische Land, der in der Heimat lautstarken Beifall hervorrief. Die Mel- dungen über die von den Italienern verübten Grausamkeiten – darunter das erste Luftbombardement der Weltgeschichte – radikalisierte viele Muslime in ganz Asien und Afrika. Doch die öffentliche Meinung in Italien stand wei- terhin unverrückbar hinter dem imperialen Abenteuer.

Deutsche Kontinuitäten

Selbst der deutsche Militarismus, der gemeinhin als Ursache für die euro- päische Todesspirale zwischen 1914 und 1918 gebrandmarkt wird, erscheint weniger akzentuiert, wenn man sich folgendes vergegenwärtigt: Viele Deutsche in Politik, Wirtschaft und Forschung sowie mächtige Interessen- verbände wie der Alldeutsche Verband (in dem auch Max Weber kurzzeitig Mitglied war) hatten ihre Regierung aufgefordert, einen ähnlichen imperia- len Rang wie Großbritannien und Frankreich zu erklimmen. Ferner erfolg- ten alle militärischen Kampfeinsätze Deutschlands zwischen 1872 und 1913 außerhalb Europas; darunter Strafexpeditionen in den afrikanischen Kolo- nien und, im Jahr 1900, auch ein ambitionierter Beutezug in China, bei dem sich Deutschland sieben anderen Staaten in einer Vergeltungsexpedition gegen junge Chinesen anschloss, die gegen die westliche Vorherrschaft im Reich der Mitte rebelliert hatten. Bei der Verabschiedung der deutschen Truppen nach Asien schwor der Kaiser sie ein als Rächer ihrer „Rasse“ und erteilte folgenden Auftrag: „Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht.“ Die Soldaten sollten dafür sorgen, „dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“.20 Als die Deutschen in Nordchina ankamen, war die Zerschlagung der „Gelben Gefahr“ (ein Schlagwort aus den 1890er Jahren) schon mehr oder weniger erfolgt. Des- sen ungeachtet führten die Deutschen im chinesischen Hinterland zwischen Oktober 1900 und Frühjahr 1901 Dutzende Einsätze durch, die wegen ihrer äußersten Brutalität bald berühmt-berüchtigt waren. Zu den Freiwilligen der Expeditionstruppen gehörte auch Generalleutnant Lothar von Trotha, der sich bereits durch das Abschlachten von Einheimi-

20 Zit. nach: Manfred Gortemaker, Deutschland im 19. Jahrhundert. Entwicklungslinien, Opladen 1996, S. 357.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Imperialer Rassismus 97 schen und das Niederbrennen von Dörfern in Afrika einen Namen gemacht hatte. Seine Vorgehensweise nannte er „Terrorismus“ und er erklärte: „Ter- rorismus kann hier nur helfen.“21 In China ließ er Ming-Gräber plündern und kommandierte mehrere Erschießungen. Seine eigentliche Großtat aber stand ihm noch bevor, als im Januar 1904 in Deutsch-Südwestafrika, dem heuti- gen Namibia, ein antikolonialer Aufstand ausbrach. Im Oktober 1904 befahl von Trotha, selbst auf Frauen und Kinder des militärisch bereits im August geschlagenen Herero-Volkes auf Sicht zu schießen und die Überlebenden in die Omaheke-Wüste zu treiben, wo sie ihrem Schicksal überlassen wer- den sollten. Schätzungsweise 60 000 bis 70 000 von insgesamt 80 000 Herero wurden schließlich getötet, und viele weitere starben Hungers in der Wüste. Ein zweiter Aufstand gegen die deutsche Herrschaft in Südwestafrika, die Erhebung der Nama, endete 1908 nach vier Jahren mit dem Tod von rund der Hälfte der Nama-Bevölkerung, an die 10 000 Menschen.

Über alle nationalen Grenzen: Die Verbreitung mörderischer Ideen

In den letzten Jahren des europäischen Friedens waren solche neuartigen Völkermorde gang und gäbe. Der belgische König Leopold II. etwa, der den Kongo-Freistaat von 1885 bis 1908 als persönlichen Besitz regierte, dezi- mierte die örtliche Bevölkerung um die Hälfte und schickte nicht weniger als acht Millionen Afrikaner in den Tod. Die amerikanische Eroberung der Phi- lippinen von 1898 bis 1902, der Kipling sein berühmtes Gedicht „The White Man‘s Burden“ (Die Bürde des weißen Mannes) widmete, kostete mehr als 200 000 Zivilisten das Leben. Die Zahl der Todesopfer erscheint wohl weniger überraschend, wenn man sich vergegenwärtigt, dass 26 der 30 US-Generäle auf den Philippinen in ihrer Heimat an den Vernichtungskriegen gegen die Indianer Nordame- rikas beteiligt gewesen waren. Einer von ihnen, der Brigadegeneral Jacob H. Smith, erklärte in seinem Truppenbefehl ausdrücklich: „Ich will keine Gefangenen. Ihr sollt töten und niederbrennen. Je mehr ihr tötet und nie- derbrennt, desto mehr Freude bereitet ihr mir.“ In einer Senatsanhörung zu den Gräueltaten auf den Philippinen sprach General Arthur MacArthur (der Vater von Douglas MacArthur, der nach 1945 Oberbefehlshaber in Japan werden sollte) von den „großartigen arischen Völkern“, denen er angehöre, und von der „Einheit der Rasse“, die zu wahren er sich verpflichtet fühle. Die Geschichte neuzeitlicher Gewalt zeigt, dass auch die ärgsten Feinde sich nie gescheut haben, mörderische Ideen voneinander zu übernehmen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Skrupellosigkeit der amerikanischen Elite gegenüber Schwarzen und Indigenen beeindruckte die erste Gene- ration liberaler deutscher Imperialisten in großem Maße, und zwar schon Jahrzehnte bevor auch Hitler die eindeutig rassistische Staatsbürgerschafts- und Einwanderungspolitik der USA bewundernd zur Kenntnis nahm. Die

21 Isabel V. Hull, Absolute Destruction. Military culture and the practices of war in imperial , Ithaca und London 2005, S. 27.

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Gesetze zur Rassentrennung in den Südstaaten dienten den Nationalsozialis- ten als Inspirationsquelle. Daher bildete im vergangenen Jahr Charlottesville in Virginia auch einen sehr passenden Schauplatz für die neuerliche Demons- tration mit Hakenkreuzfahnen und „Blut und Boden“-Sprechchören.22 Im Lichte dieser gemeinsamen Geschichte von Rassengewalt mutet es seltsam an, den Ersten Weltkrieg weiterhin als eine ebenso bedeutende wie unerwartete „Katastrophe“ (George F. Kennan), nämlich als einen Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus, darzustellen. Der indische Gelehrte Aurobindo Ghose gehörte zu den vielen antikolonialen Denkern, die schon vor Kriegsausbruch voraussagten, das „prahlerische, aggressive, dominante Europa“ sei bereits „zum Tode verurteilt“ und warte auf seine „Vernichtung“.23 Ebenso erkannte Liang Qichao 1918, dass sich der Krieg als Brücke erweisen sollte, zwischen Europas Vergangenheit imperialer Gewalt und seiner Zukunft eines gnadenlosen Brudermordes. Diese scharfsinnigen Einschätzungen waren nicht die Frucht fernöstlicher Weisheit oder afrikanischer Hellsicht. Die „Völker zweiter Klasse“ erkann- ten einfach, und zwar lange bevor Arendt 1951 ihr „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erstmals veröffentlichte, dass der Frieden in der westli- chen Metropole viel zu sehr abhängig war von der Auslagerung des Krie- ges in die Kolonien. Die massive Erfahrung von Tod und Zerstörung, die die meisten Europäer erst nach 1914 machen mussten, war in Asien und Afrika schon weithin bekannt, wo nämlich Land und Rohstoffe gewaltsam angeeig- net, wirtschaftliche und kulturelle Infrastruktur systematisch zerstört und ganze Bevölkerungsgruppen mittels modernster Bürokratien und Technolo- gien ausgelöscht wurden. Das Gleichgewicht in Europa zehrte viel zu lang vom Ungleichgewicht anderer Kontinente. Letzen Endes konnten Asien und Afrika nicht ewig der in sicherer Entfer- nung liegende Schauplatz für die europäischen Expansionskriege des späten 19. und des 20. Jahrhunderts bleiben. Die europäischen Bevölkerungen erlit- ten die enorme Gewalt schließlich selbst, die den Asiaten und Afrikanern lange Zeit zugefügt worden war. Arendt warnte zu Recht: „Gewalt, die um der Gewalt willen [...] angewandt wird, entfesselt sofort einen Zerstörungs- prozess, der zum Stillstand erst kommen kann, wenn nichts mehr übrig ist, das nicht vergewaltigt wäre.“24 Nichts veranschaulicht heutzutage die ruinöse Logik gesetzloser Gewalt, die sowohl die politische wie die persönliche Moral korrumpiert, deutlicher als der stark rassistisch gefärbte Krieg gegen den Terror: Er setzt einen Feind voraus, den man im In- und Ausland „ausräuchern“ muss, und rechtfertigt die Anwendung von Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen, denen auch westliche Bürger zum Opfer fallen. Aber seine Misserfolge und Ver- fehlungen brachten, wie Arendt vorhersah, nur eine noch größere Abhän- gigkeit von der Gewalt hervor, eine Vervielfachung unerklärter Kriege und neuer Schlachtfelder, einen unablässigen Angriff auf Bürgerrechte im In-

22 Vgl. Paul Mason, Charlottesville: Der neue Kulturkrieg, in: „Blätter“, 9/2017, S. 41-44. 23 Zit. nach: Mishra, a.a.O., S. 259. 24 Arendt, a.a.O., S. 314.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Imperialer Rassismus 99 land – und eine übersteigerte Herrschaftsmentalität, die sich aktuell mani- festiert in Donald Trumps Drohungen, das Atomabkommen mit dem Iran auf- zukündigen und Nordkorea „mit Feuer und Zorn“ zu überziehen, „wie es die Welt noch nicht gesehen hat“.

Die Selbstbeschädigung des Westens

Es war immer schon eine Illusion anzunehmen, dass „zivilisierte“ Völker in der Heimat immun blieben gegenüber der Zerrüttung von Moral und Recht in ihren ausländischen Kriegen gegen die Barbaren. Diese Illusion aber hat sich nun endgültig zerschlagen, da rassistische Bewegungen in Europa und den USA im Aufwind sind und dafür oftmals Beifall finden bei dem Verfech- ter weißer Vorherrschaft im Weißen Haus, der wiederum dafür sorgt, dass heute nichts mehr übrig ist, das nicht vergewaltigt wäre. Denn die weißen Nationalisten haben die alte Rhetorik des liberalen Internationalismus über Bord geworfen, die jahrzehntelang die bevorzugte Sprache des politischen und medialen Establishments im Westen war. Sie behaupten gar nicht erst, die Welt zum sicheren Hort der Demokratie zu machen, sondern erklären ganz offen die Kultureinheit der weißen „Rasse“ in Abgrenzung gegenüber einer existentiellen Bedrohung durch dunkel- häutige „Fremde“ – seien diese nun Bürger, Einwanderer, Flüchtlinge, Asyl- suchende oder Terroristen. Aber die globale rassistische Ordnung, die ihren Nutznießern über Jahr- hunderte hinweg Macht, Identität, Sicherheit und Prestige verliehen hat, beginnt nun endlich zusammenzubrechen. Nicht einmal ein Krieg mit China oder ethnische Säuberungen im Westen könnten dem weißen Mann den Besitz der Erde bis in alle Ewigkeit garantieren. Die Wiedererlangung impe- rialer Macht und Herrlichkeit hat sich bereits als trügerische, eskapistische Phantasie erwiesen, die den Nahen Osten und Teile von Asien und Afrika verwüstet hat und gleichzeitig den Terror zurück auf die Straßen Europas und Amerikas bringt – vom britischen Brexit-Bockshorn ganz zu schweigen. Alle noch so hinreißenden protoimperialistischen Projekte im Ausland können die Spaltungen nach Klasse und Bildung im Inland nicht verdecken oder die Massen auch nur ablenken. In der Konsequenz erweist sich die sozi- ale Frage als unumgänglich: Zutiefst polarisierte Gesellschaften scheinen am Rande jenes Bürgerkriegs zu stehen, den Rhodes befürchtet hatte – und das Potential zur Selbstbeschädigung ist inzwischen bedenklich angewach- sen, wie der Brexit und das Phänomen Trump eindringlich belegen. Auch aus diesem Grund ist das Weiß-Sein heute der gefährlichste Fetisch der Welt. Eine Religion hingegen machte man daraus erstmals während der wirt- schaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche, die der Gewalt von 1914 vor- ausgegangen waren. Die Vorstellung rassischer Überlegenheit wurde histo- risch ausgelebt durch Kolonialismus, Sklaverei, Segregation, Ghettoisierung, militarisierte Grenzkontrollen sowie Massenverhaftungen. Sie ist nun, mit Trump, in ihre letzte und aussichtslose Phase eingetreten.

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Die „schreckliche Wahrscheinlichkeit“, die James Baldwin einst beschrieb, können wir indes nicht mehr außer Acht lassen: dass nämlich die Sieger der Geschichte, „in ihrem Ringen zu behalten, was sie den Besiegten gestohlen haben, und ihrer Unfähigkeit, in den Spiegel zu blicken, auf der ganzen Welt ein Chaos anrichten, das vielleicht gar das Ende allen Lebens auf diesem Pla- neten, zumindest aber einen Rassenkrieg bedeutet, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat“.25 Der gesunde Menschenverstand würde zumindest eine Untersuchung der Geschichte des rassistischen Imperialismus (und seines hartnäckigen Fortbestehens) erfordern – eine Aufarbeitung, der sich bisher Deutschland als einzige westliche Macht überhaupt gestellt hat. Das Risiko, das wir eingehen, wenn wir uns nicht mit unserer wahren Geschichte auseinandersetzen, war wohl noch nie so klar wie heute. Wenn wir weiter vor ihr weglaufen, werden sich in einem Jahrhundert die Histori- ker wohl einmal mehr fragen, warum der Westen nach einem langen Frieden in sein bisher größtes Unglück geschlafwandelt ist.

25 James Baldwin, The International War Crimes Tribunal, in: ders., The Cross of Redemption. Un- collected Writings, New York 2010, S. 248 f. Anzeige

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 »Wir werden frei sein!« Schwarzer Widerstand von Martin Luther King bis Black Lives Matter

Von Inken Behrmann

as Jahr 1968 markierte in den Vereinigten Staaten in gewisser Weise D schon den Tiefpunkt jener Revolte, die weltweit unter dem Label „68er-Bewegung“ in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Nachdem die Bürgerrechtler, Hippies und Studenten das Land seit den 1950er Jahren kulturell tiefgreifend verändert hatten, wurde es 1968 durch zwei tödliche Attentate regelrecht traumatisiert. In der Nacht vom 4. zum 5. Juni 1968 wurde der linke Senator Robert Kennedy im Vorwahlkampf für die Präsi- dentschaft erschossen, keine fünf Jahre nach seinem Bruder, dem damaligen Präsidenten John F. Kennedy. Bereits zwei Monate zuvor, am 4. April 1968, war die charismatische Führungsfigur der Schwarzen Bürgerrechtsbewe- gung,1 Martin Luther King Jr., ermordet worden. Am Vortag seines Todes kam King in die Stadt Memphis im US-Bundesstaat Tennessee und sprach den dort streikenden Müllmännern Mut zu. In seiner Rede „I‘ve been to the Mountaintop“ (zu Deutsch: Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen) zog King eine Analogie von der Bürgerrechtsbewegung zur biblischen Exodus-Geschichte. Moses, der das Volk Israel aus der Sklaverei führte, konnte das versprochene Land vom Berg Nebo aus sehen. Auch King sah das gelobte Land bereits vor sich liegen: „das neue New York, das neue Atlanta, […] das neue Memphis, Tennessee“. So wie das Reich Gottes für Jesus bei den armen Menschen beginnt, so blickte auch King auf die „Slums hier und Gottes Kinder, die nicht einmal drei Mahlzeiten am Tag essen können“. In aller Welt stünden Menschen gegen die wirtschaftliche und soziale Unge- rechtigkeit auf. Ihr Ruf sei allerorten zu vernehmen: „Wir wollen frei sein!“2 Ebenso wie Moses sollte auch King das versprochene Land nicht mehr erreichen – und auch die Schwarze Bevölkerung bislang nicht. Noch immer bestimmen Armut und Rassismus den Alltag vieler Schwarzer Gemeinden in den USA. Und nur wenige Schwarze Menschen entkommen dem Teufels- kreis aus Antidrogenkrieg, Kriminalisierung und Armut.

1 Im Anschluss an die Aktivistinnen Noah Sow und Kimberlé Crenshaw schreibe ich Schwarz groß, da es sich um keine adjektivische Beschreibung, sondern um die politisch gewählte Selbstbezeich- nung einer Gruppe handelt. Weiß dagegen wird als die Bezeichnung einer gesellschaftlichen privi- legierten Position kleingeschrieben. – Die Autorin. 2 Martin Luther King Jr., „I’ve Been to the Mountaintop“, Memphis/Tennessee, 3.4.1968, www.ameri- canrhetoric.com. Die Zitate in diesem Text hat die Autorin aus dem Englischen übersetzt.

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Doch hat der Kampf gegen den institutionalisierten Rassismus in den USA in jüngster Zeit neue Kraft gewonnen. „Sterne kann man nur sehen, wenn es dunkel genug ist“, wusste bereits King. Ein besonders heller Stern ist derzeit das Movement for Black Lives (M4BL), ein US-amerikanisches Netzwerk aus mehr als 50 Organisationen, die sich gemeinsam gegen Rassismus, Diskrimi- nierung und Armut stark machen. Die 2014 entstandene Bewegung setzt den Kampf Kings fort und knüpft – wenn auch ohne Führungsfigur – direkt an die frühe Bürgerrechtsbewegung an. „Rassismus, Kapitalismus und Sexis- mus sind immer noch dieselben wie damals“, so Patrisse Khan-Cullors, eine Organisatorin des Black-Lives-Matter-Netzwerks. „Und wann immer Men- schen nicht bekommen, was sie verdienen [...], werden sie sich erheben.“3

Das unvollendete Erbe

Mitte der 1950er Jahre war es Martin Luther King, der gegen die weiße Vorherrschaft aufstand. Bis heute ist er die Ikone der Schwarzen Bürger- rechtsbewegung und gilt als der „bedeutendste und erfolgreichste organi- sche Intellektuelle der amerikanischen Geschichte“.4 In den nunmehr fünf Jahrzehnten seit seiner Ermordung wurde er zwar zu einer Schlüsselfigur der amerikanischen Kultur, seine politische Vision blieb in ihrer Radikali- tät jedoch unvollendet. Während die Errungenschaften der Bürgerrechts- bewegung so längst Teil der nationalen Erzählung in den USA sind,5 wur- den ihre radikalen und nach wie vor hochaktuellen Forderungen unter den roten Teppich der Ehrerbietung für King gekehrt. Die populäre Erzählung über die Bürgerrechtsbewegung erweckt somit den Eindruck, Rassismus sei ein Problem der Vergangenheit. Davon profitiert nicht zuletzt die weiße Mit- telschicht, die sich diese Erzählung als Teil ihrer nationalen Fortschrittsge- schichte aneignen kann und sich damit zugleich auch drängenden Fragen nach dem fortbestehenden Rassismus nicht länger stellen muss. Die bekannte Geschichte des Bürgerrechtlers Martin Luther King beginnt mit dem Montgomery Bus Boycott im Dezember 1955. Rosa Parks, damals eine Schwarze Frau Anfang 40, blieb auf dem Platz eines Busses sitzen, den ein weißer Mann für sich beanspruchte, und wurde daraufhin verhaftet. Aus Protest boykottierte die Schwarze Bevölkerung für mehr als ein Jahr den öffentlichen Nahverkehr in Montgomery, der Hauptstadt des US-Südstaates Alabama – ein Protest, der symbolische Bedeutung für den Widerstand gegen die Segregation im ganzen Land gewann. Während des Boykotts wurde der junge Pastor Martin Luther King zur Galionsfigur der Bewegung. Jahre der Organisierung und der Marsch auf Washington mit der berühmten „I Have a Dream“-Rede folgten, bis die Bewegung zwischen 1964 und 1968 wichtige

3 Time: Patrisse Cullors On The History Of Black Lives Matter Movement And Its Political Future, www.youtube.com, 25.1.2018. 4 Cornel West und Christa Buschendorf, „We need Martin more than ever”: Interview with Cornel West on Martin Luther King, Jr., in: „Amerikastudien/American Studies“, 3/2011, S. 449-467. 5 Vgl. Jeanne Theoharis, A More Beautiful and Terrible History. The Uses and Misuses of Civil Rights History, Boston 2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Schwarzer Widerstand von Martin Luther King bis Black Lives Matter 103 legislative Erfolge erzielte: Die gesetzliche Rassentrennung wurde beendet und die Diskriminierung Schwarzer Menschen bei der Wohnungsvergabe, auf der Arbeit und bei Wahlen offiziell für illegal erklärt. Die nationale Erzählung der Bewegung endet in den 1960er Jahren mit den Bürgerrechtsgesetzen. In Vergessenheit gerät dabei jedoch zumeist, dass Proteste gegen sozioökonomische Missstände in den letzten Jahren vor der Ermordung Kings erheblich an Bedeutung gewannen. Bereits 1958 beschrieb King ökonomische Ungleichheit als „den Zwilling“ rassistischer Ungleichheit und zog Parallelen zwischen kommunistischen Idealen und dem Christentum als Protestbewegungen gegen soziale Ungerechtigkeit.6 In den späten 1960er Jahren verschärfte King diese Kritik. Um die Dring- lichkeit politischen Handelns zu verdeutlichen, verglich er etwa 1967 in einer Vortragsreihe die Armut Schwarzer Menschen in den USA mit einem Haus- brand: „Für die Schwarzen und Armen dieser Gesellschaft brennt das Feuer jetzt. Aufgrund der grausamen wirtschaftlichen Ungerechtigkeit leben sie unter tragischen Umständen, die sie in einer ‚Unterklasse‘ gefangen halten. […] Die einzigen wirklichen Revolutionäre, sagen die Leute, sind jene, die nichts zu verlieren haben. Es gibt Millionen arme Menschen in diesem Land, die wenig oder gar nichts zu verlieren haben. Wenn diese Menschen sich ver- bünden, werden sie zu einer neuen, gewaltigen politischen Kraft in unserem allzu selbstzufriedenen Land.“7 Gegen die soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeit organisierte King im Jahr seiner Ermordung einen zweiten Marsch nach Washington – diesmal von Arbeitslosen und Armen –, der in eine regelrechte Belagerung der Stadt münden sollte.8 Die Demonstrantinnen und Demonstranten forderten unter anderem ein Mindestjahreseinkommen, vergleichbar mit dem bedingungs- losen Grundeinkommen. Und weniger als eine Woche nach seiner Ermor- dung führte Coretta Scott King, Aktivistin und Witwe Martin Luther Kings, den Poor People’s March durch die US-Hauptstadt. Dessen Erfolg hielt sich allerdings in Grenzen: Zwar wurde 1968 ein Gesetz zur Gleichberechtigung bei Mietpreisen verabschiedet, ein umfangreiches Sozialprogramm schei- terte jedoch im Kongress. Martin Luther King war bei alldem jedoch kein Einzelkämpfer, sondern vielmehr die Galionsfigur einer überaus gut organisierten Bewegung. Ella Baker, damals eine der wichtigsten Organisatorinnen, sagte, „die Bewegung erschuf eher Martin, als dass Martin die Bewegung erschaffen hätte“.9 Sein Wirken muss deshalb im Rahmen dieser Organisierung verstanden werden. Ebenso ist der Kampf gegen Segregation mit jenem gegen soziale und öko- nomische Ungleichheiten eng verwoben. Erst diese Kontextualisierung gibt

6 Martin Luther King, Jr., Pilgrimage to Nonviolence, in: Cornel West (Hg.), The Radical King, Boston 2015, S. 39-43. 7 Martin Luther King, Jr., Nonviolence and Social Change, in: Cornel West (Hg.), The Radical King, Boston 2015, S. 147. 8 Vgl. Albert Scharenberg, Der unvollendete Traum. Der „Marsch auf Washington“ und das radikale Vermächtnis Martin Luther Kings, in: „Blätter“, 8/2013, S. 107-117; Martin Luther King, Jr., Where do we go from here?, in: Cornel West (Hg.), The Radical King, Boston 2015, S. 161-180. 9 Interview: Veterans of the Civil Rights Movement – Ella Baker, 19.6.1968, www.crmvet.org/nars/ baker68.htm.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 104 Inken Behrmann den Blick auf Analysen aus der Bewegung frei, welche die Armut Schwar- zer Menschen als eigenständiges System rassistischer, kapitalistischer und sexistischer Ausbeutung verstanden haben. Insbesondere für Schwarze Frauen manifestierten sich die rassistische Diskriminierung und sexistische Dominanz von weißen und Schwarzen Männern auch materiell in Lohnunterschieden. Das alltägliche Erleben dieser Mehrfachdiskriminierung veränderte die Perspektive der Betroffe- nen auf den notwendigen gesellschaftlichen Wandel radikal: „Wir müssen feststellen, auf welche Art und Weise der Kapitalismus uns unterdrückt und dann neue Institutionen bauen, […] die alle Formen der Unterdrückung abschaffen“, schrieb die Schwarze Feministin Frances Beale im Jahr 1970.10 Erst wenn Rassismus, Sexismus und kapitalistische Ausbeutung zusammen- gedacht und zusammen bekämpft werden, hätten Schwarze Frauen eine Chance auf gesellschaftliche Gerechtigkeit und Gleichheit.

Krieg gegen die Drogen statt gegen die Armut

Der politische Kampf der Schwarzen Bewegung war mit dem Tod Kings kei- neswegs abgeschlossen. Das zeigte sich allzu deutlich in den 1970er Jahren – die vor allem von einem politischen Backlash gekennzeichnet waren. Anstatt des von King geforderten War on Poverty11 erklärte Präsident Richard Nixon im Jahr 1971 den War on Drugs – den Krieg gegen die Drogen. Laut John Ehr- lichman, einem engen Berater Nixons, hatte das Weiße Haus damit zwei neue Feindbilder geschaffen: die Antikriegslinke und Schwarze Menschen. „Wir wussten, dass wir es weder für illegal erklären konnten, gegen den Krieg oder Schwarz zu sein“, räumte Ehrlichman Jahrzehnte später ein. „Aber indem wir Hippies mit Marihuana assoziierten und Schwarze mit Heroin, konnten wir beide kriminalisieren und ihre Gemeinschaften spalten. Wir konnten ihre Führungsfiguren festnehmen, ihre Häuser durchsuchen, ihre Versammlungen auflösen und sie Nacht für Nacht in den Abendnachrichten diffamieren. Wussten wir, dass wir über die Drogen logen? Natürlich wussten wir das.“12 Das Kalkül der Nixon-Regierung ging auf. Mit dem War on Drugs wurde ein System der Kriminalisierung und Masseninhaftierung mehrheitlich Schwarzer Bürgerinnen und Bürger geschaffen, das bis heute Bestand hat. Zwischen 1980 und 2015 stieg die Zahl der inhaftierten Menschen in den USA von rund 500 000 auf über 2,2 Millionen an. Die Vereinigten Staaten weisen damit heute die höchste Inhaftierungsquote weltweit auf.13 Der Großteil der Insassen sitzt für gewaltlose Verbrechen ein, zumeist für Drogendelikte. Und obwohl Schwarze ähnlich viel und häufig Drogen konsumieren wie Weiße,

10 Frances Beale, Double Jeopardy. To Be Black and Female, in: Words of Fire. Anthology of African American Feminist Thought, New York 1995, S.146-155, hier: S. 154 f. 11 King, Jr., Nonviolence and Social Change, a.a.O., S. 152. 12 Tom LoBianco, Report: Nixon’s war on drugs targeted black people, www.cnn.com, 24.3.2016. 13 NAACP, Criminal Justice Fact Sheet, www.naacp.org; Sarah Childress, Michelle Alexander, „A System of Racial and Social Control“, www.pbs.org, 29.4.2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Schwarzer Widerstand von Martin Luther King bis Black Lives Matter 105 werden sie rund sechs Mal häufiger für Drogenkonsum oder -besitz verhaftet – und obendrein erheblich härter für diese Delikte bestraft.

Der Teufelskreis der Kriminalisierung

Die Folgen dieser systematischen Kriminalisierung sind dramatisch und zer- stören die sozialen Netzwerke Schwarzer Menschen nachhaltig.14 In den USA wird dieses System als School to Prison Pipeline beschrieben, in der der Weg vieler junger Menschen aus der Schule fast zwangsläufig in die Jugend- und Erwachsenengefängnisse führt. Aufgrund rigoroser Null-Toleranz-Politiken führen bereits geringfügige Delikte und Disziplinarverstöße zu Schulaus- schlüssen, Festnahmen in der Schule und Einträgen im polizeilichen Füh- rungszeugnis. Betroffen sind dabei vor allem Schwarze, sozioökonomisch Benachteiligte sowie Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen. So wird denn auch ein Drittel der Schwarzen Jugendlichen mindestens ein Mal von einer Schule ausgeschlossen – im Vergleich zu nur 15 Prozent der weißen Jugendlichen. Die frühe Kriminalisierung beeinträchtigt die Chan- cen im weiteren Leben enorm: Ein Eintrag im polizeilichen Führungszeug- nis senkt die Wahrscheinlichkeit, später eine Anstellung zu erhalten, um die Hälfte; bei Schwarzen Menschen fällt der Effekt doppelt so hoch aus.15 Auch deshalb lebt gut ein Viertel der Afroamerikanerinnen und Afroame- rikaner unterhalb der Armutsgrenze – mehr als doppelt so viele wie im natio- nalen Durchschnitt. Als besonders armutsgefährdet gelten dabei Kinder und Frauen: Von allen Schwarzen Familien, die in Armut leben, werden knapp 80 Prozent von alleinerziehenden Frauen geführt.16 Gerade die Inhaftierung von Elternteilen stellt ein ökonomisches und soziales Problem für Schwarze Familien dar. Wenn alleinerziehende Mütter in mehreren schlecht bezahl- ten Jobs arbeiten müssen, um die Familie über die Runden zu bringen, fehlt Kindern zumeist die notwendige Stabilität sowie ausreichend Fürsorge und Unterstützung durch Erwachsene. Infolge der Armut und Kriminalisierung geraten sie oft ebenfalls in den sozialen und ökonomischen Teufelskreis. Ein kommunales Netzwerk, das diesen Kreislauf durchbrechen könnte, fehlt zumeist. In vielen Städten leben zwischen 15 und 35 Prozent der armen Schwarzen Menschen auch in armen Nachbarschaften. Die sozioökonomi- sche Benachteiligung Schwarzer Menschen betrifft somit nicht allein das Schicksal Einzelner, sondern sie ist strukturell – durch unterfinanzierte Schu- len, Straßen, Kommunalpolitik und die gesamte öffentliche Infrastruktur.17 In der öffentlichen Debatte kommen all diese Faktoren kaum zur Spra- che. Soziale Zerrbilder prägen die Debatte um Rassismus und Armut und der ideologische Siegeszug des Neoliberalismus hat diese Diskussion politisch ausgehöhlt.

14 Vgl. Patrisse Khan-Cullors und Asha Bandele, When They Call You a Terrorist. A Black Lives Matter Memoir, New York 2018. 15 Vgl. NAACP, Criminal Justice Fact Sheet. 16 Poverty in Black America, www.blackdemographics.com, 2014. 17 Ta-Nehisi Coates, The Enduring Solidarity of Whiteness, in: „The Atlantic“, 8. 2.2016.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 106 Inken Behrmann

Als Zerrbild dient vor allem das von Ronald Reagan in seinem Präsident- schaftswahlkampf im Jahr 1976 eingeführte Stereotyp der welfare queen („Wohlfahrtskönigin“). Es beschreibt alleinerziehende Schwarze Mütter, die zu faul zum Arbeiten seien und stattdessen auf Staatskosten Kinder bekä- men. Diesem Stereotyp steht das der Schwarzen Matriarchin gegenüber, die ihren Partner seiner patriarchalen Privilegien beraube und damit für den Zerfall der Familie verantwortlich sei. Während das erste Bild sozialpoliti- sches Schmarotzertum unterstellt, zeichnet das zweite die Armut alleinerzie- hender Schwarzer Frauen als Ergebnis ihres kulturellen Versagens. In bei- den Fällen wird die Verantwortung für Armut nicht rassistischen Strukturen, sondern den vermeintlich asozial handelnden Individuen zugeschrieben.18 Die Individualisierung der ökonomischen und sozialen Ungerechtigkeit wurde durch die zunehmend neoliberale Wirtschaftspolitik in den 1980er und 90er Jahren zusätzlich verstärkt – insbesondere während der Amtszeiten Ronald Reagans und Bill Clintons. Nahezu alle von der Bürgerrechtsgenera- tion erkämpften Sozialstaatsprogramme gegen Armut wurden in diesen drei Jahrzehnten entweder massiv beschnitten oder gleich gänzlich eingestellt. Zugleich differenzierte sich die sozioökonomische Situation der Schwar- zen Bevölkerung in den USA immer weiter aus: Während auf der einen Seite (teils extreme) Armut über Generationen fortbestand, wuchs die Schwarze Mittelschicht auf ein Drittel der Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen an; es entstand sogar eine kleine Schwarze obere Mittelschicht. Diese Nach- folgegeneration der Bürgerrechtsaktivisten und -aktivistinnen verfolgte nunmehr das Ziel, die politischen Interessen der Schwarzen Bevölkerung in politischen Ämtern zu repräsentieren. Und dies mit Erfolg: Im Jahr 2008 wurde Barack Obama zum ersten Schwar- zen Präsidenten der USA gewählt. Dieser wichtige Etappensieg gab vielen Schwarzen Menschen neue Hoffnung auf den lang erwarteten Change.

Die Rückkehr auf die Straße

Tatsächlich aber bereitete Obamas Sieg den Boden für zahlreiche Enttäu- schungen – und beförderte zugleich das Entstehen einer neuen Schwarzen Bewegung. Denn auch unter seiner Präsidentschaft veränderte sich das alltägliche Leben der Schwarzen Bevölkerung nicht wesentlich. Stattdes- sen stimmte auch Obama in das Credo ein, Schwarze Menschen sollten die Armut individuell bekämpfen. Statt Sozialprogramme einzuführen, setzte er sich für die Belange der Wall Street ein.19 Währenddessen wuchs bei vie- len Schwarzen Menschen der Zorn über die anhaltenden Diskriminierungen und die zunehmende Polizeigewalt. Als am 9. August 2014 der Polizist Darren Wilson in Ferguson im Bundes- staat Missouri den 18jährigen Schüler Mike Brown erschoss, war dies der

18 Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Em- powerment, New York 22002, S. 69-96. 19 Cornel West (Hg.), The Radical King, Boston 2015, S. xiv.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Schwarzer Widerstand von Martin Luther King bis Black Lives Matter 107

Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. In der Stadt kam es zu andau- ernden Demonstrationen und Unruhen gegen rassistische Polizeigewalt. Nachdem eine Grand Jury Ende November entschied, kein Verfahren gegen Wilson zu eröffnen, eskalierte die Situation endgültig: Landesweit protestier- ten Menschen in mehr als 170 Städten. Dass sich die Wut derart heftig entlud, hat einen schlichten Grund: Nahezu alle Schwarzen Menschen machen in ihrem Leben Erfahrungen mit Poli- zeiwillkür und -gewalt – insbesondere seit dem Beginn des War on Drugs und der damit einhergehenden Militarisierung der Polizeikräfte. Vielerorts kontrollieren zudem weiße Polizisten Schwarze Viertel. Systematisch nutzen sie vor allem Verkehrskontrollen, um Schwarze zu kriminalisieren. Mehr als einem Zehntel der Erschießungen durch Polizisten geht eine Verkehrskon- trolle voraus.20 Was den Zorn obendrein anfachte, war die Tatsache, dass die Täter in der Regel ungeschoren davonkommen; in den allermeisten Fällen kommt es nicht einmal zu einer Anklage.

#BlackLivesMatter und das Movement for Black Lives

Seit 2009 hatten Videos von den Ermordungen Schwarzer Jugendlicher in sozialen Netzwerken die Aufmerksamkeit für Polizeigewalt noch erhöht.21 Als im Juli 2013 der Nachbarschaftspolizist George Zimmermann vom Vor- wurf freigesprochen wurde, den 17jährigen afroamerikanischen High- school-Schüler Trayvon Martin ermordet zu haben, antworteten die Aktivistinnen Alicia Garza und Patrisse Khan-Cullors auf Facebook mit #BlackLivesMatter (zu Deutsch: „Schwarze Leben zählen“). Unter diesem Hashtag wurde die Welle von lokalen Protesten, die von 2014 bis 2016 zahl- reiche US-Städte in Atem hielt, national und international als Black Lives Matter bekannt. Im Juli 2015 traf sich die entstehende Bewegung schließ- lich auf einer Konferenz an der Cleveland State University, an der mehrere tausend Aktivistinnen und Aktivisten teilnahmen. Dort wurde das Move- ment for Black Lives (M4BL) gegründet.22 Diesem Netzwerk aus mehr als 50 Organisationen gehören unter anderem Gruppierungen wie das Black Lives Matter-Netzwerk, die Dream Defenders und das Ella Baker Center for Human Rights an. Ihr Ziel ist es, eine „geeinte Front“ im Kampf für Gleichheit und Freiheit für Schwarze Menschen zu bilden. Das Movement for Black Lives haucht den Forderungen Martin Luther Kings neues Leben ein. In seinem Manifest fordert es ähnlich radikal wie die frühe Schwarze Bürgerrechtsbewegung eine umfassende, kollektive Befrei- ung: „Es wird nicht ein Gesetz geben, das plötzlich alle Wege, in denen das System Schwarze und Braune Menschen marginalisiert, aufhebt. Wir müssen das ganze Ding neu aufbauen“, sagt auch Kayla Reed, eine der M4BL-Orga-

20 Wesley Lowery, „They Can’t Kill Us All“. Ferguson, Baltimore and a New Era in Americas Racial Justice Movement, New York 2016, S. 15, 45, 126, 138. 21 Seit 2009 wurden standardmäßig hochauflösende Videokameras in Smartphones verbaut. Dies ermöglichte Filmaufnahmen von Polizeigewalt sowie deren schnelle Verbreitung im Internet. 22 Vgl. Movement for Black Lives, https://policy.m4bl.org/about.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 108 Inken Behrmann nisatorinnen.23 Die Aktivistinnen und Aktivisten prangern die Willkür und Gewalt der Polizei an und kritisieren den systematischen Rassismus, durch den Armut fortgeschrieben wird. Konkret fordern sie die Auflösung privater Gefängnisse; stattdessen müsse in Schulen und die kommunale Infrastruk- tur in Schwarzen Gemeinden investiert werden. In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Bewegung zunehmend weiter dezentralisiert. Einige Gruppen bauen vor Ort politische Macht auf, indem sie mit eigenen Kandidaten an Wahlen teilnehmen oder ihnen nahestehende Bewerberinnen unterstützen.24 Campus-Gruppen protestieren gegen Ras- sismus im Universitätssystem. Andere Verbände arbeiten eng mit Gewerk- schaften zusammen und setzen sich für Lohnverbesserungen Schwarzer Angestellter ein. Auf diese Weise kämpft das Movement for Black Lives nicht nur gegen Polizeiwillkür, sondern auch gegen strukturelle Diskriminierun- gen und letztendlich gegen das Stigma individueller Verantwortung für die eigene ökonomische Lage. Anders als die Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren verfügt die aktuelle Schwarze Bewegung jedoch über keine prominente Führungsfigur, wie sie damals Martin Luther King darstellte. Stattdessen ist sie als Gras- wurzelorganisation konzipiert, was eine lokale und gruppenzentrierte Füh- rung ermöglicht. Im Unterschied zur in Teilen patriarchal geprägten Bürger- rechtsbewegung orientiert sich das Movement for Black Lives damit an den horizontalen Strukturen feministischer und queerer Bewegungen, denen auch die drei Begründerinnen des #BlackLivesMatter-Netzwerkes entstam- men – neben Alicia Garza sind dies die Schriftstellerin Opal Tometi und die Künstlerin Patrisse Khan-Cullors. Die Bewegung ist so zum einen weniger abhängig von zentralen Führungsfiguren, die wie im Falle Kings ermordet werden können. Zum anderen erhoffen sich die Aktivisten, dass ihren politi- schen Forderungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als den Personen. Die Kräfte der Bewegung konzentrieren sich daher vor allem auf das Empowerment der Menschen an der breiten Basis. Gerade auch weil landes- weite Kampagnen unter einem Präsidenten Donald Trump geringe Aussich- ten auf Erfolg haben, sollen sie ermächtigt werden, auf lokaler oder überre- gionaler Ebene für die Verbesserung von Lebensbedingungen zu kämpfen.

Liebe als Waffe gegen Rassismus und Diskriminierung

Bei allen Unterschieden in den Organisationsstrukturen bleiben die – nicht zuletzt spirituellen – Parallelen des Movement for Black Lives zur Bürger- rechtsbewegung aus Kings Zeiten unverkennbar. Nach dem Freispruch für George Zimmermann im Sommer 2013 schrieb Alicia Garza ihren inzwischen legendären Facebook-Eintrag. Ihre digitale „Liebesnotiz an Schwarze Menschen“ endete mit den Zeilen: „Schwarze Menschen, ich werde uns niemals aufgeben. […] Schwarze Menschen. Ich

23 Lowery: „They Can’t Kill Us All“, a.a.O., S. 222. 24 Dani McClain, Can Black Lives Matter Win in the Age of Trump?, in: „The Nation”, 19.9.2017.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Schwarzer Widerstand von Martin Luther King bis Black Lives Matter 109 liebe Euch. Ich liebe uns. Unsere Leben sind wertvoll, Schwarze Leben sind wertvoll.“25 Patrisse Kahn-Cullors antwortete mit dem Hashtag #BlackLives- Matter. Die Liebe, die Garza hier beschreibt, erinnert stark an die radikale Liebe, die für Martin Luther King die Grundlage des gewaltlosen Widerstands war. Es geht dabei keineswegs um Affekte, sondern um die Liebe als ein auf die Gemeinschaft ausgerichtetes Verstehen und erlösendes Wohlwollen. Indem der innere Kompass auf Gerechtigkeit, gegenseitiges Verständnis und Gemeinschaft ausgerichtet wird, verwandelt sich die radikale Liebe in ein Werkzeug für gesellschaftlichen Wandel und zugleich in ein strategisches Mittel des politischen Widerstands.26 Die Liebe von Garza, Khan-Cullors und anderen Black-Lives-Matter- Aktivistinnen beruht auf dem tiefen Verständnis für die Lebensrealitäten Schwarzer Menschen. Sie ist nicht weniger als die gemeinschaftsstiftende Antwort auf Kriminalisierung, Inhaftierung, die Zerstörung Schwarzer Gemeinschaften sowie die Individualisierung von Armut. Dass die Aktivistinnen und Aktivisten diese Gemeinschaftsorientierung auch in ihren Organisationsstrukturen umsetzen, ist womöglich ein wesent- licher Grund dafür, dass die Schwarze Bürgerrechtsbewegung derzeit mit neuer Kraft auf die Straße, in die Öffentlichkeit und in die politischen Insti- tutionen drängt. Diese neue Kraft entsteht in den Gemeinschaften und ruht zugleich auf dem Fundament des bereits Jahrhunderte andauernden Wider- stands Schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner gegen Rassismus und Unterdrückung. Die Schwarze Aktivistin Adrienne Cabou brachte diesen Zusammenhang jüngst am Rande einer Black-Lives-Matter-Demonstration auf den Punkt: „Wenn heute eine von uns heraussticht, dann kann die eine Person dies nur aufgrund der Massen Afrikanischer Menschen, die eben dafür gekämpft haben. Gewiss, derzeit sind wir noch nicht frei. Aber wenn wir uns organisieren und zusammenschließen, dann werden wir frei sein!“27 Diese Vision von Freiheit und Gerechtigkeit, die auch das aktuelle Move- ment for Black Lives antreibt, formulierte King bereits am Vorabend seines Todes. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass der Weg dorthin steinig ist und seine Lebenszeit überdauern würde. In seiner letzten Rede zitierte er den Propheten Amos: „Wir werden weiterkämpfen, bis das Recht wie Wasser strömt und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ Dieser Kampf ist heute, 50 Jahre später, noch lange nicht ausgefochten. Aber er wird im Movement for Black Lives mit neuer Stärke weitergeführt.

25 „Black people. I love you. I love us. Our lives matter, Black Lives Matter.“ 26 Martin Luther King, Jr., Pilgrimage to Nonviolence, in: Cornel West (Hg.), The Radical King, Boston 2015, S. 51. 27 Anthony Jackson, Demonstrators support Black Lives Matter movement, www.dailylobo.com, 27.2.2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Kein Sozialismus ist auch keine Lösung 1968 und der heimatlose Antikapitalismus

Von Claus Leggewie

or genau 50 Jahren, am 11. April 1968, flogen die „drei Kugeln auf V Rudi Dutschke“ (Wolf Biermann), wurde der charismatische Anführer des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ (SDS) auf dem Berliner Kurfürstendamm durch einen rechtsradikalen Attentäter lebensgefährlich verletzt. Dutschke war in der „Frontstadt“ Berlin lange der unbestrittene Hauptakteur gewesen, seine Ansprachen waren getragen von großem exis- tenziellem Pathos. Gerne zitierte er den Marxschen Satz aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie „mit dem kategorischen Imperativ, alle Ver- hältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechte- tes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Dabei schwankte Dutschke zwischen Hinschmeißen und dem Übergang in eine „echte“ Stadtgueril- la-Aktion. Und kurz bevor ihn die verhängnisvollen Kugeln trafen, ließ er sich auf dem Cover des Wirtschaftsmagazins „Capital“ („für lumpige tausend Mark“) ablichten, woraufhin er innerhalb des SDS mit harscher Kritik kon- frontiert wurde. Er hatte ungewollt ein Tabu gebrochen, begriff sich die 68er-Revolte doch selbst sowohl als eine antikapitalistische als auch als eine inter- und trans- nationale Bewegung. Einer ihrer Lieblingsslogans war „Hoch die Interna- tionale Solidarität!“ Sie wollte damit den gescheiterten Internationalismus der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung beerben und erneuern, der Sozialismus sollte nunmehr a priori ein weltumspannendes Projekt werden. Wohl nirgends kam dies in der Bundesrepublik stärker zum Ausdruck als auf dem Vietnamkongress im Februar 1968, wo Dutschke per- sönlich gefordert hatte: „Es lebe die Weltrevolution und die daraus entste- hende Gesellschaft freier Individuen!“ Mit dem Attentat auf Rudi Dutschke endete bereits die Hochzeit der Revolte. Zwar kam es in Berlin wie in vielen Hochschulorten zu vehementen Protesten gegen die Springer-Presse. Insbesondere versuchte man, die Aus- lieferung der „Bild“-Zeitung zu verhindern, da diese in besonders hetzeri- scher Weise gegen die Studenten Front gemacht hatte. In München starben auf einer dieser Demonstrationen zwei Personen durch Wurfgeschosse von Demonstranten.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Kein Sozialismus ist auch keine Lösung 111

Auch international stand der April 1968 mit der Ermordung Martin Luther Kings für eine dramatische Zäsur. Der „summer of love“ des Vorjahres war damit endgültig vorbei. Nun begann der Zug in die Sektiererei der K-Grup- pen und in den Terrorismus, auch die staatliche Repression nahm zu. Heute, 50 Jahre nach der Revolte, stellt sich die Frage, inwieweit der hohe internationalistische und antikapitalistische Anspruch von ’68 aufrecht- erhalten wurde – oder ob sich dieser in Richtung einer „Fundamentallibe- ralisierung“ (Habermas) und Identitätspolitik entwickelt hat, während die ökonomischen Dimensionen der Ungerechtigkeit sträflich vernachlässigt wurden. Wie standen die kollektiven Identitätsmarker der ’68er („Wir Stu- denten“, „wir Jugendlichen“, „wir Frauen“) zu dem Anspruch, dass die Akti- visten und Theoretiker der ’68er nicht gerade beiläufig gegen die kapitalis- tische Wirtschaftsordnung opponierten und einen an den marxistischen und anarchistischen Klassikern orientierten utopischen Sozialismus propagier- ten? Und, so die vielleicht drängendste Frage: Inwiefern hat das Verschwin- den der Systemfrage von links es einer Neuen Rechten erst ermöglicht, diese zentrale Frage in ihrem Sinne neu zu formulieren?

Gegen den Spätkapitalismus, für eine freie Gesellschaft

Die Vorkämpfer der Revolte verstanden sich als Sozialrevolutionäre, sie woll- ten den aus ihrer Sicht reformunfähigen Spätkapitalismus überwinden und eine freie Gesellschaft bauen, die sich vom nächstliegenden Beispiel, dem „realexistierenden“ Sozialismus, zum Teil deutlich abhob, zum Teil aber auch diesem nacheiferte. Darüber, wie das Adjektiv „sozialistisch“ zu füllen wäre, hatten die Aktivisten keine sonderlich konkrete Idee, denn wie bei vielen Vorläufern der sozialistischen Bewegung, nicht zuletzt bei Karl Marx selbst, stand die Wucht der Kapitalismuskritik in keinem Verhältnis zur Anschau- lichkeit der Alternative. Sozialisten sind primär Antikapitalisten und hoffen auf eine im Klassenkampf selbst entstehende Dynamik; die konkrete Ausge- staltung einer „anderen Gesellschaft“ war der Zukunft überlassen.1 Viele Protagonisten zog es nach 1968 in die „Produktion“, in der vagen Hoffnung, Arbeiter würden sich mit ihnen massenhaft gegen Unternehmer und Manager erheben. Außer im Mai 1968 in Frankreich war das jedoch nur höchst punktuell der Fall, das Bündnis von Studenten und Proletariat, dar- unter Lehrlinge, beschränkte sich auf wenige Episoden. Gleichwohl wurde die auf die Veränderung der eigenen Person zielende Praxis in dieser Tra- dition ausdrücklich „liquidiert“; an die Stelle des „subjektiven Faktors“ trat das geschichtsphilosophisch untermauerte „revolutionäre Subjekt“, zu dem gegen alle Evidenz die Arbeiterklasse stilisiert wurde. Doch dieses „Subjekt“ wollte nicht viel wissen von den revolutionären Ambitionen der Studenten. Zwar waren die frühen 1950er Jahre in West- Europa noch von spürbaren Klassengegensätzen und harten Klassenkon-

1 Exemplarisch Hans Magnus Enzensberger, Ein Gespräch über die Zukunft, mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler, in: „Kursbuch“ 14, August 1968, S. 146-174.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 112 Claus Leggewie flikten gekennzeichnet gewesen. Doch mit dem anhebenden „Wirtschafts- wunder“, den „trente glorieuses“, der 30jährigen Prosperitätsphase, und der „affluent society“, der Überflussgesellschaft, setzte dann ein „Fahrstuhl- effekt“ (Ulrich Beck) ein, der alle Schichten anhob – und sie dabei doch zugleich auf Abstand hielt. Beflügelt wurde diese Entwicklung durch eine keynesianische Wirtschaftspolitik. In diesem Zähmungsprozess verwandelte sich frontale Kritik am Kapitalis- mus zumeist in eine Kritik am Konsum der Überflussgesellschaft, an der Ver- geudung von Ressourcen, damals eher selten an der Ausbeutung der Natur. Die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus war damit zwar keineswegs überwun- den, seine Wahrnehmung wurde in den späten 1970er Jahren aber durch individualistische Weltanschauungen geprägt, wonach jeder seines Glü- ckes Schmied sei und es am Ende nichts gebe, das man Gesellschaft nennen könne: „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt einzelne Män- ner und Frauen, und es gibt Familien. Und keine Regierung kann etwas tun, außer durch die Menschen, und die Menschen müssen sich zuerst um sich selbst kümmern”, so die eiserne Lady und neoliberale Vorreiterin Margret Thatcher.

Erfolge im Reproduktionsbereich, Rückschritte im Produktionsbereich

Befragt man ’68 vor diesem Hintergrund, was es für die Entwicklung in Europa bewirkt hat, wird man zunächst erhebliche Erfolge im „Reprodukti- onsbereich“ konstatieren:2 Hochschulreformen haben mehr Bildungsgerech- tigkeit geschaffen (wobei die Ideale der Kritischen Universität längst wieder verabschiedet wurden). Der kulturelle Pluralismus und die Geltung subkul- tureller Minderheiten sind heute breit, wenn auch nicht gesellschaftsweit akzeptiert. Zudem bestehen zwischen den Generationen und Geschlechtern heute weit mehr Freiheiten und Spielräume. Nicht zuletzt im Zuge der Ausei- nandersetzung zwischen den Generationen etablierte sich ein antifaschisti- scher, wenn auch kein breiter antitotalitärer Konsens. Und schließlich erwei- terte der Internationalismus den politischen Horizont des postkolonialen Europa, das seit den 1970er Jahren zunehmend mit Einwanderung aus der nicht-europäischen Peripherie konfrontiert ist. Ohne die mentale Öffnung durch „’68“ hin zu einer nicht mehr homogenen Gesellschaft wäre daher auch die immense Hilfsbereitschaft des Jahres 2015 gegenüber knapp einer Million Flüchtlingen wohl nicht zu denken. Wie aber verhält es sich mit dem für die Protagonisten von ’68 entscheiden- den „Produktionsbereich“, was wurde aus der Kapitalismuskritik? Gewiss, die Sensibilität für soziale Ungleichheit wuchs, konnte aber deren Zunahme seit den 1990er Jahren nicht aufhalten. Die Gesamtbilanz von ’68 fällt also höchst gemischt aus. Auf der Soll-Seite steht eine dramatische Spal- tung der Gesellschaft. Auf der Haben-Seite dagegen steht zweifellos, dass

2 Vgl. auch Claus Leggewie, 50 Jahre ’68. Köln und seine Protestgeschichte, Köln 2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Kein Sozialismus ist auch keine Lösung 113 die außer-, zum Teil antiparlamentarische Opposition die Demokratisierung der westlich-liberalen Demokratien unterm Strich beflügelte und damit beitrug zur „Beteiligungsrevolution“ der 1970er Jahre und der Entstehung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft in Europa. Aus scharfen Kritikern des politischen Liberalismus, die man vor allem im „Salon-Maoismus“ der K-Gruppen antraf, wurden vielfach dessen überzeugte Anhänger. Allerdings wird der neue, nicht zuletzt durch ’68 forcierte Konsens der „glücklich gescheiterten Umgründung der Republik“3 heute von rechts mas- siv bestritten, und zwar durch eine revisionistische Anti-68-Position, die die von links angeblich angezettelten culture wars umzudrehen bemüht ist. Gegen den Kampf um (moralische) Anerkennung von Minderheiten formu- liert die Neue Rechte ihr neues Identitätsangebot: Sozialdarwinismus statt Solidarität, Patriarchat statt Emanzipation, plebiszitäre Volksherrschaft statt Demokratie, Schlussstrich statt Erinnerung, völkischer Nationalismus statt Vielvölkerrepublik. Was in den 1980er Jahren von Helmut Kohl als „geis- tig-moralische Wende“ postuliert, aber nicht exekutiert wurde, was US-ame- rikanische Neokonservative, darunter einstige Linksradikale der 1930er Jahre, gegen die von den Vietnam-Protesten ausgehenden „Kulturkämpfe“ ins Feld führten, all das wird heute mit dem Terminus der „Konservativen Revolution“ belegt – von identitären Intellektuellen in Europa ebenso wie von weißen Suprematisten und National-Sozialisten wie Steve Bannon in den USA. Auf dem Programm steht, kurzum, eine unverhohlene und auch so titulierte Konterrevolution.

Zu viel der Identitätspolitik?

Die Botschaft von „1968“ war aber keineswegs einfach Identitätspolitik. Eine solche Kritik trugen bereits 1999 die Kultursoziologen Luc Boltanski und Eva Chiapello vor, indem sie „1968“ dem Typus der „Künstlerkritik“ zuordneten, im Unterschied zur Sozialkritik der Arbeiterbewegung. Für Letztere sei der Kapitalismus die Ursache von Armut und Ungleichheit, während Künstler und Intellektuelle eher Tendenzen zur Normierung bekämpften. Mit ihrem Bestehen auf Werten wie Autonomie, Spontaneität, Mobilität, Disponibilität, Kreativität und Fähigkeiten zur Plurikompetenz und Vernetzung bedien- ten sie den „neuen Geist des Kapitalismus“ wie vordem die Protestantische Ethik (Max Weber) den Industriekapitalismus. Diesem Geist, so Boltanski und Chiapello, habe die Revolte von „1968“ den Weg bereitet – ein Vorwurf, den übrigens Régis Debray, ein Weggefährte von Che Guevara, dem Pariser Maiaufstand schon bald nach 1968 gemacht hatte. Sosehr diese Kritik einen, wenn nicht den wunden Punkt der ’68er-Revolte trifft, so sehr geht sie doch am Kern der Sache vorbei. Sicher ist in den letz- ten Jahrzehnten die Kluft zwischen oben und unten, Reich und Arm, Kapital

3 Claus Leggewie, Der Mythos des Neuanfangs – Gründungsetappen der Bundesrepublik Deutsch- land: 1949 – 1968 – 1989, in: Helmut Berding (Hg.), Mythos und Nation, Teil 3, Frankfurt a. M. 1996, S. 275-302.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 114 Claus Leggewie und Arbeit gewachsen, doch ebenso bleiben die Unterschiede zwischen Frau und Mann, Homos und Heteros, Farbigen und Weißen relevant, und oft fallen Nachteile von Rasse, Klasse und Geschlecht in eins. Auch wenn Identitätspolitik heute bisweilen sektenhafte Züge angenom- men hat, entwertet das nicht das um 1968 gesteigerte Gespür für kulturelle Differenz. Es gibt nichts daran auszusetzen, wenn sich die Kritik am Kon- sumkapitalismus erweitert hat und zusätzlich zum Aspekt der Ausbeutung, der prekär Beschäftigte wie Paketzusteller, Reinigungspersonal und Pflege- rinnen ebenso betrifft wie Scheinselbstständige in der Digitalwirtschaft, nun Aspekte unfairer Handelsbeziehungen, schädlicher Emissionen und unge- sunder Produkte hinzugetreten sind. Denn auch hier bleibt der Widerstand gegen Diskriminierungen und das Engagement für gesamtgesellschaftli- che Solidarität, der Einsatz für die „Erniedrigten und Beleidigten“, wie es Dutschke in Bezug auf Marx und Dostojewski ausdrückte, Aufgabe einer zeitgemäßen Linken.

»Weg von den Minderheiten, zurück zur Klasse« – die Lehre aus Trump?

Allerdings kann dagegen eingewandt werden, dass die moralischen Prin- zipien der ’68er auch in dieser Hinsicht nur unvollständig oder halbherzig umgesetzt wurden. Schon vor fast 20 Jahren warnte der US-amerikanische Philosoph Richard Rorty, die Arbeiter, ob nun organisiert oder nicht, wür- den sich einmal dafür rächen, dass ihre Regierung nichts gegen Lohndum- ping und Auslagerung von Industriearbeitsplätzen unternehme. Sie und die abstiegsbedrohte Mittelschicht würden sich nach einem starken Mann umsehen und Politiker, Anwälte, Broker, Journalisten und Professoren zum Teufel jagen. Und dann würden auch alle Vorurteile gegen Schwarze und Hispanics, Frauen und Homosexuelle wieder zu Tage treten. Kurzum: Wir waren also schon lange gewarnt vor Donald Trump, der ja all dies verkörpert. In dem New Yorker Historiker Mark Lilla hat Rorty nun einen meinungs- starken Nachfolger gefunden, der in einem viel beachteten Artikel den aka- demisch-pädagogischen „Narzissmus“ attackiert und ein Ende des „Identi- täts-Linksliberalismus“ fordert, der einzig die Unterschiede innerhalb der amerikanischen Nation feiert.4 Diese Obsession mit „Diversität“ habe länd- liche und religiöse Weiße erst ermuntert, sich als benachteiligte Gruppe, als unterdrückte Identität, sozusagen als Fremde im eigenen Land wahrzuneh- men, die von den Eliten ignoriert werden und in ihrer Existenz bedroht sind. Liberale sollten sich daher wieder mehr Fragen von Klasse, Krieg und Frie- den, der Wirtschaft und dem „Allgemeinwohl“ zuwenden. Eine nicht-sektie- rerische Politik müsse also weniger die Unterschiede als die Gemeinsamkei- ten betonen, Rorty nannte das einen „inklusiven Patriotismus“. Doch diese Kritik an der Identitätspolitik wird durch den Ausgang der amerikanischen Präsidentenwahl nur zum Teil bestätigt. Zunächst ist Donald

4 Vgl. Mark Lilla, Das Scheitern der Identitätspolitik, in: „Blätter“, 1/2017, S. 48-52.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Kein Sozialismus ist auch keine Lösung 115

Trump nicht mehrheitlich von Arbeitern oder gar von Arbeitern mehrheit- lich gewählt worden, sondern am stärksten von der weißen Mittelschicht mit einem Jahreseinkommen um die 100 000 US-Dollar. Auch der „Camem- bert-Faschismus“ (Nils Minkmar) der Marine Le Pen, der „Austrofeschis- mus“ (Armin Thurnher) des Tandems Kurz/Strache und die völkisch-auto- ritären Reaktionäre der Pegida-AfD greifen allesamt Stimmungslagen auf, die der deutsche Soziologe Theodor Geiger schon vor über 80 Jahren treffend als „Panik im Mittelstand“ identifiziert hat. Wenn Präsident Trump auch von Millionen weißer Arbeiter mit geringer formaler Bildung unterstützt worden ist, darunter über die Hälfte der Frauen aus dieser Schicht, hat er Letztere trotz seines offenen Sexismus erreicht, und die Männer genau deswegen. Noch stärker mobilisiert hat Trump beide Gruppen durch seinen nicht min- der offenen Rassismus.

Klassenkampf-Rhetorik von rechts

Mit der ’68er-Linken hat dies insofern eine Menge zu tun, als deren identi- täre Kritik einer exklusiven Identitätspolitik gerade gegen die Verteidigung der Privilegien des weißen Mannes gerichtet war. Trump griff dagegen die vormals linke Rhetorik des Antikapitalismus und des Klassenkampfes auf, indem er sie selbstredend nicht gegen skrupellose „Deal-Maker“ oder die „Wall Street“ richtete, sondern gegen Minderheiten, sozial Schwache und Frauen. Wenn Klassenidentität bei seinem Wahlsieg entscheidend war, dann eine rein angloamerikanische – als eine fundamental-protestantische oder radikal-katholische oder auch christlich-zionistische, kurz: eine in jeder Richtung heterophobe, gegen alles Nicht-Zugehörige. Wenn Klassenkampf, dann einer, der (ganz im Sinne des fälschlicherweise August Bebel zuge- schriebenen Satzes, der Antisemitismus sei der Klassenkampf der dummen Kerls) auf einer aggressiven weißen Männlichkeit aufbaute. Auch der Front National konnte 2017, seinen sektiererischen Ursprüngen und langer antifaschistischer Quarantäne zum Trotz, zwischenzeitlich zur stärksten politischen Kraft in Frankreich werden. Bei der Präsidentschafts- wahl 2012 stimmten ein Drittel der Ungelernten und Facharbeiter sowie Arbeitslosen für Le Pen, jüngste Umfragen bestätigen die Verankerung der Partei in einer Arbeitnehmerschaft, die vor 30 Jahren noch eine sichere Bank der linken Parteien und Gewerkschaften war. Deindustrialisierung und Pre- karisierung haben zu dieser Travestie des Antikapitalismus ebenso beigetra- gen wie die in dem Milieu stets virulente Xenophobie. In Didier Eribons biographischem Roman „Rückkehr nach Reims“ ist all das gut beschrieben. Und dennoch eignet sich sein Werk nicht, sosehr es auch versucht wurde, zur polemischen Verwurstung gegen die ’68er-Linke. Um es noch einmal klar zu betonen: Keine noch so desolate Soziallage recht- fertigt die Schmähung oder Zurücksetzung von Minderheiten (ein in dieser Hinsicht fatales Beispiel boten die jüngsten Ereignisse um die Essener Tafel). Aber die um eine korrekte Sprache bemühte Affirmation von Minderheiten

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 116 Claus Leggewie behebt auch keine aus dem Lot geratenen Arbeits- und Sozialverhältnisse, unter denen im Übrigen erneut Frauen und Minderheiten überproportional zu leiden haben. Kurzum: Man muss weiterhin beides im Auge behalten – es gibt eben keine Haupt- und Nebenwidersprüche, wie es einmal im Mar- xismus-Leninismus hieß. Sexismus und Rassismus sind die eine Seite, die andere, dass heute massenhaft Wählerinnen und Wähler zur Rechten über- laufen, weil sie sich von den beiden großen Parteien der linken oder rechten Mitte nicht mehr ernst genommen und repräsentiert fühlten – weder in den USA noch in Europa.

Es gibt kein Entweder-oder

Es gibt also kein Entweder-oder, kollektive Identität oder Klassenfrage, Künstler- oder Sozialkritik, Gleichheit oder Differenz, Universalismus oder Partikularismus. Eine anspruchsvolle Gesellschaftstheorie und politisch- soziale Bewegung muss stets beide Stränge zusammendenken. Wie Karl Polanyi schon vor über 70 Jahren gezeigt hat,5 ist der Kapitalismus mehr als ein wirtschaftliches Subsystem; er ist eine Vergesellschaftungsweise, die Differenz als unumgänglich hinstellt und somit Ungleichheit und Ausbeu- tung den Betroffenen selbst zurechnet (und zwar nicht erst in ihrer neuesten, neoliberalen Spielart). Wer also nicht im Schock der neuen Konterrevolution von rechts gefan- gen bleiben will, darf die dreifache Unterdrückung durch Ethnie, Klasse und Geschlecht nicht übergehen. Dabei ist allerdings die Frage nicht nur berechtigt, sondern dringend geboten, die der schwedische Soziologe Göran Therborn aufgeworfen hat: Warum sind reiche Gesellschaften im Bemühen um eine Verringerung der rechtlichen Ungleichbehandlung bestimmter Gruppen – von Schwarzen und Weißen, Männern und Frauen, Heterosexu- ellen und Homosexuellen – so viel erfolgreicher als bei ihren Versuchen, die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen zu verringern? Apartheid und die Kriminalisierung von Homosexualität konnten auf- gebrochen werden, die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen sind geschrumpft, in den USA konnte sich eine schwarze Mit- telschicht entwickeln. Weil aber race, gender und class weiterhin zentrale Faktoren sind, die soziale Ungleichheit generieren und reproduzieren, ver- hindert die Identitätspolitik nicht notwendig den Kampf gegen eine Diskri- minierung, wie sie die Einkommens- und Vermögensungleichheit darstellt. Aber sie muss stets eines dabei beachten: „Jene, denen es ausschließlich um ‚Identitäten’ geht, wollen dafür sorgen, dass alle Menschen an derselben Startlinie ins Rennen gehen, aber sie kümmern sich nicht darum, dass einige Menschen mit Ferraris und andere auf Fahrrädern antreten“, so Branko Mila- novic in „Die ungleiche Welt: Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht“.

5 Gareth Dale, Karl Polanyi: A Life on , New York 2017.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Kein Sozialismus ist auch keine Lösung 117

50 Jahre nach den Schüssen auf Rudi Dutschke bleibt es der kategorische Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein ernied- rigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Und tatsächlich gibt es eine erfreuliche Rückbesinnung in diversen Denkschulen, darunter im undogmatischen Marxismus, erneut über Klassenstrukturen, -bewusstsein und -kämpfe nachzudenken. Auch Marx als Autor erfreut sich im 200. Jahr seines Geburtsjahres einer gewissen Renaissance. Man kommt damit allerdings nicht platt auf den Klassenkampf alten Stils zurück und auch nicht vornehmlich auf Tarifkonflikte um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, wie sie bis in die 1980er Jahre offensiv in den neuen Mittelschichten und defensiv in abstiegsbedrohten Industriebranchen typisch waren. Der damals von Ulrich Beck und anderen dargelegte „Fahr- stuhleffekt“, der eine Zeit lang die Unterschichten mitnahm, ist schließlich längst außer Betrieb – angesichts einer aktuellen Situation mit niedrigen Wachstumsraten, Privatisierungen des öffentlichen Dienstes, dem Schwin- den von Normalarbeit, eingeschränkter Sozialstaatlichkeit und aufgrund eines nicht mehr gleichheitsfördernden technischen Fortschritts. Mit der Einschränkung sozialer Staatsbürgerrechte schwand die gesellschaftliche Wertschätzung von Arbeit, während sich das berüchtigte „eine Prozent“ der superreichen Eliten im Finanzkapitalismus seinerseits von der meritokrati- schen Illusion löste und regelrecht abhob.

Die zwei großen Defizite der Kapitalismuskritik von ’68

Zuletzt hat der Kapitalismus seine Funktionsweise und sein Gesicht also noch einmal radikal verändert, er ist heute finanzgetrieben und radikal dynami- siert durch die Monopole der digitalen Kommunikationsmedien.6 Ein immer größerer Teil des Reichtums wird erzeugt, indem Geld Geld heckt bzw. natür- liche Ressourcen durch private und staatliche Akteure, immer nahe an der ungenierten Kleptokratie, aus dem Boden geholt werden bzw. Grundeigen- tümer horrende Renditen erwirtschaften. Der Kapitalismus ist vielfach auf vorindustrielle und quasi-feudale Ausbeutungsverhältnisse regrediert. All dem kommt man natürlich nicht bei mit einer schlichten Wiederauf- lage der „Kapital“-Lektüre, zumal die Organisationen der Lohnabhängigen die besonders von sozialer Ungleichheit Betroffenen schon lange kaum mehr erreichen, weder in den reichen Metropolen noch vor allem in der kapitalis- tischen Peripherie, die heute – eine Ironie der Geschichte – zunehmend im Bann des chinesischen Staatskapitalismus steht. Hier zeigt sich eine fatale Parallele zur Lage vor 50 Jahren: Ein parado- xes Resultat von „’68“ war ja der parallele Niedergang der Sozialdemokra- tie und der demokratischen Linken generell. Dabei schien zunächst ja das Gegenteil der Fall: In Deutschland und zeitverzögert in Frankreich kam die Sozialdemokratie an die Macht, in Paris sogar in einer Linksunion mit

6 Vgl. Adam Tooze, Crashed: How a Decade of Financial Crises Changed the World, New York 2018.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 118 Claus Leggewie der Kommunistischen Partei, die (weniger als die Genossen in Italien und Spanien) einen „eurokommunistischen“ Weg einschlug und sich aus dem Schatten des realexistierenden Sozialismus herausbewegte. Doch wie Ralf Dahrendorf richtig vermutete, war das sozialdemokratische Jahrhundert bereits Mitte der 1970er Jahre de facto abgelaufen; die demokratische Linke konnte keine wirksamen Abwehrmittel gegen neokonservative Ideologeme und neoliberale Gesellschaftsexperimente aufbieten noch sich die Themen der ökologischen Kritik aneignen, die Theoretiker der Neuen Linken wie André Gorz und die neuen sozialen Bewegungen gegen Kernenergie und für Umweltschutz, teils in Verlängerung und Pointierung der Konsumkritik, auf die Tagesordnung gesetzt hatten.7 Vor allem zwei große Defizite wird man der Neuen Linken um 1968 daher entgegenhalten, wenn auch nicht anlasten müssen: Europa und die ökologi- sche Frage waren Anathemata. Erst der Linkssozialist Michel Rocard hat die Europäische Union nicht nur als Veranstaltung des multinationalen Kapitals betrachtet, sondern als Option zu dessen Einhegung, und daher das Postulat formuliert, dass der Sozialismus europäisch sein müsse oder gar nicht. Und ganz im Bann der industriellen Moderne und deren vergangener Klassen- kämpfe stehend, waren den ’68ern Naturschutz und Zweifel an der friedli- chen Nutzung der Kernenergie fremd. Sie wussten weder vom Waldsterben noch vom Klimawandel. Oder, wie es Daniel Cohn-Bendit und Reinhard Mohr schon vor 30 Jahren auf den Punkt brachten: 1968 war „die letzte Revo- lution, die noch nichts vom Ozonloch wusste“. Gewiss, Letzteres kann man den ’68ern kaum anlasten, aber eine Politik, die heute wie auch immer an die Kapitalismuskritik von 1968 anschließen möchte, kommt an diesem neuralgischen Punkt kaum vorbei. Er deutet näm- lich auf etwas hin, das die ’68er mit ihrer konservativen wie sozialdemokrati- schen bzw. eurokommunistischen Umgebung verband – der naive Glaube an die Unendlichkeit des Wachstums und die daraus resultierende Möglichkeit, durch bloße (Um-)Verteilung sozialen Fortschritt erreichen zu können. So noch ganz fest in der industriellen (und patriarchalen) Welt verankert, haben erst die dann von 1968 ausgehenden neuen sozialen Bewegungen diese Fortschrittsgläubigkeit postindustriell verabschiedet. Verbunden war dies meistens mit einem deklarierten politischen Realismus, der auch einem Flügel der Grünen den Namen gab, in dem nicht weniger ’68er tätig waren, die ihre revolutionären Ambitionen allerdings gehörig gestutzt hatten. Nicht das aber ist heute das Problem oder gar ein Verrat; das Manko der realexistie- renden Linken besteht vielmehr darin, dass sie keine sozialen Utopien mehr zu formulieren vermag, die der verordneten Alternativlosigkeit eine bessere Zukunft entgegensetzen – und auf diese Weise junge Menschen motivieren und mobilisieren, realistisch zu sein und doch das Unmögliche zu fordern.

7 Dazu die Gorz-Kommentare jüngerer Autorinnen und Autoren in Claus Leggewie und Wolfgang Stenke (Hg.), André Gorz und die zweite Linke. Die Aktualität eines fast vergessenen Denkers, Berlin 2017.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 BUCH DES MONATS

Norman Birnbaum: Der rastlose Pilger Von James K. Galbraith

Norman Birnbaum ist ein großer Chronist: In seinen soeben erschienenen Memoiren bilan- ziert der „Blätter“-Mitherausgeber nahezu acht Jahrzehnte abgeklärter Auseinander- setzung – falls es so etwas geben kann – mit intellektuell und politisch führenden Köpfen der USA und Europas. Als außergewöhn- lich vielseitig interessierter Soziologe hat der 1926 geborene Birnbaum stets versucht, europäische Traditionen kritischen Denkens in Amerika heimisch zu machen, und dabei die einstmals, vor undenklichen Zeiten, die amerikanische Szene beherrschende Selbst- gefälligkeit immer wieder herausgefordert. Als ein Progressive, der abwechselnd in die Marxschen und die liberalen Traditionen ein- Norman Birnbaum: From the Bronx to tauchte, mag er dem Typus gleichen, den E. P. Oxford and Not Quite Back. Washing- ton, D.C., New Academia Publishing Thompson einmal als einen „International of 2018, 722 Seiten. the imagination“ beschrieben hat: Er ist also ein Internationaler der Vorstellungskraft, „gleich fern vom Stalinismus wie von jeder Komplizenschaft mit den Begrün- dungen kapitalistischer Machtausübung“. Birnbaums Haltung wurde erst in Williams und Harvard geformt, danach in London und in Oxford, weiter in Straßburg an Frankreichs deutscher Grenze mit regelmäßigen Ausflügen nach Berlin, Paris und Rom, und schließ- lich, zurück in den USA, in Amherst. Unterwegs fand er überall mühelos Zugang – zum Weißen Haus, zu französischen Eliten und Revolutionären von 1968 und danach, zu deutschen Dissidenten wie Amtsträgern beiderseits der Mauer, zu italienischen Katholiken und Kommunisten, vor allem aber zu den Salons und High Tables des akademischen Britanniens und der Vereinigten Staaten. In seinen Memoiren lässt Birnbaum die Luft aus der aufgeblasenen Selbstherrlichkeit des Lebens in Harvard und Oxford entweichen. Er bietet scharfsinnige, oft bewundernde, manchmal auch eisig distanzierte Einblicke in die Welt der großen Geister und akademischen Berühmtheiten der Zeit.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 120 Buch des Monats

Schlagfertige Antworten sind eine seiner Spezialitäten. Ein kleines Beispiel liefert die Begegnung mit dem ostdeutschen Grenzer, der ihm in den spä- ten Tagen der DDR den Einlass nach Ostberlin verweigerte (wegen Normans Angewohnheit, die Dissidentengruppen hinter der Mauer zu besuchen). „Ich fragte ihn, ob er mir sagen könne, warum ich keine Besuchserlaubnis hätte, und er baute sich in seiner vollen, allerdings nicht sehr beeindruckenden Körperlänge vor mir auf: Er sei nicht verpflichtet, solche Fragen zu beant- worten. Ich entschuldigte mich in aller Form und erklärte, natürlich hätte mir klar sein müssen, dass sein Dienstgrad nicht hoch genug sei, um die Ant- wort zu kennen. [...] Er rang um Fassung, riss sich zusammen und wechselte die Tonlage: ‚Bitte.’“. Wenig später war Norman bei einem Dinner des ost- deutschen Botschafters in Washington zu Gast. Ob er sich tatsächlich auf Staatsgebiet der DDR befinde, fragte er da, um dann seine Freude darüber zu bekunden, den einzigen Teil des Landes besuchen zu dürfen, in dem für ihn nicht „Zutritt verboten!“ gelte. „Die anwesenden US-Regierungsvertre- ter erzählten mir später, sie seien geneigt, mir meine sonstigen Regelverstöße eine Zeit lang nachzusehen.“ Ich kenne Norman seit mindestens fünfunddreißig Jahren, und er selbst kannte noch vorher meine Eltern. Ich verehre ihn, habe ihm ein Buch gewid- met und bin oft bei ihm zuhause – Gespräche mit ihm und seine Gastfreund- schaft begeistern mich. Und doch habe ich Norman nicht wirklich gekannt, bevor ich dieses Buch las. Es gab gewiss noch nie einen derart bescheidenen, seiner Stellung in der Welt so wenig gewissen und doch gleichzeitig von so vielen Zeitgenossen so hoch geschätzten Memoirenschreiber. Er beginnt mit einem Portrait seiner Familie – voll Sympathie für seinen strebsamen Vater, schonungslos der Mutter gegenüber – und seiner High School in Manhattan: „Ich kann nicht sagen, Townsend Harris habe mir gefallen, da es damals überhaupt nichts gab, was mir wirklich gefiel.“ Es fol- gen der Wechsel nach Williams, eine private Krise, Flucht in die Arbeit beim Office of War Information in New York, schließlich die Rückkehr ins Nach- kriegs-Williams und akademischer Erfolg, aber in Maßen und ohne große Leidenschaft oder viel Selbstvertrauen: „Es dauerte Jahre, bis ich begriff, dass unter meinem Ehrgeiz, unter allem Draufgängertum und Verlangen versteckt die Überzeugung lag, dass mir eigentlich nur sehr wenig zustand.“ Dennoch öffneten sich Birnbaum weiterhin viele Türen: Er traf Eleanor Roose- velt 1942 in Campobello und den Kunstkritiker Clement Greenberg auf einer Soirée der „Partisan Review“. Später erlangte er Zugang zur Harvard Uni- versity und zu solchen Größen wie dem Politikwissenschaftler Sam Beer, John F. Kennedys späterem Nationalen Sicherheitsberater Carl Kaysen oder Henry Kissinger sowie den tonangebenden Soziologen jener Zeit, vor allem zu Talcott Parsons. So sehr Harvard gelegentlich funkelte, dominierte dort doch eine Mischung aus Selbstgewissheit und Konformismus. „Das Beste, was man in eben diesem Augenblick überhaupt dachte und sagte, wurde – glaubten wir – in Harvard gedacht und gesagt. Dabei neigten wir keineswegs zur Nachsicht mit altertümlichen Angebern. [...] Heute erscheint mir bemer- kenswert, mit welcher intellektuellen Fügsamkeit wir uns aufführten. [...]

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Buch des Monats 121

Ganz harvardgemäß verstanden wir die Möglichkeit, kritisieren zu dürfen, als Errungenschaft, die wir nicht überstrapazieren wollten.“ 1952 ging es von Harvard weiter nach Deutschland, vordergründig zu For- schungen für eine Dissertation über die Reformation, obwohl es doch „alle Bücher und Zeitschriften, die ich brauchte, in Harvard gab, in der Univer- sitätsbibliothek, die viel größer war als irgendeine deutsche. Aber darum ging es nicht.“ Zumindest teilweise ging es darum, hinter das Geheimnis des Nazismus zu kommen. Im weiteren Sinne jedoch betrieb Norman einen Entdeckungs- und Selbstverständigungsprozess, einen Aufbruch. Irgendwie stand das, was Birnbaum in Deutschland vorfand, in einer gewissen Konti- nuität mit seiner Harvarderfahrung: jene Mischung aus Anspruch und Ver- logenheit im Dienste der Selbstrechtfertigung. Nach 1945 wollte niemand in Deutschland je Nazi gewesen sein! Andererseits fand Norman inmitten der schleunigst wieder aufgebauten Ruinen auch ein Vorbild: Wolfgang Abend- roth – Sozialdemokrat, Überlebender nationalsozialistischer Gefängnisse und einer Strafdivision auf Lemnos, aus der er desertiert war, um sich dem griechischen Widerstand anzuschließen, und mittlerweile auf einem politik- wissenschaftlichen Lehrstuhl in Marburg gelandet. Über Abendroth schreibt Birnbaum: „Er verstand die Gewöhnlichkeit des gewöhnlichen Lebens, die Zwänge von Anspruch und Wirklichkeit. Er konnte auch über Wichtigtuerei und Eitelkeit lachen und spottete über die Rigidität eines Großteils der gesell- schaftlichen Konvention. Das waren Vorzüge, die ich später bei Henri Lefebvre und Herbert Marcuse wiederfand. Alle drei waren Künstler, die aus vertrau- ten Alltagsmaterialien eine mögliche Welt schufen. Die Menschheit, die ihnen vorschwebte, unterschied sich sehr von derjenigen, an der sie tagtäglich Maß nahmen.“ Ziemlich das Gleiche lässt sich von Norman sagen.

Den Marxismus modernisieren

Von Deutschland aus ging es weiter zu einem Lehrauftrag an der London School of Economics, wo man Birnbaum allerdings unter Wert einstufte. Er fand sich in einem ziemlich trostlosen grauen Nachkriegslondon wieder und lernte die eigentümliche Wissenschaftsszene Britanniens kennen, in der „ein Mensch unter Vierzig zu bescheiden sein sollte, ein Buch zu schreiben, und einer über Vierzig zu stolz, dergleichen nötig zu haben.“ Und doch stachen aus diesem monotonen Einerlei gewichtige und einflussreiche Gestalten hervor: Ernest Gellner, Ralf Dahrendorf, Eric Hobsbawm, Ralph Miliband. Ein Pro- jekt, „den Marxismus zu modernisieren“ schälte sich heraus. Möglich wurde das an „einem nicht gänzlich unsichtbaren und gewiss nicht leicht zu über- hörenden großen internationalen College“, befreit nicht nur von den nüchter- nen Fesseln der britischen Sozialphilosophie, sondern auch von der „schran- kenlos ausschweifenden amerikanischen Einbildung, mit ihrem imperialen Selbstbild der Vereinigten Staaten als des neuen Herrn über Raum und Zeit“. Das Projekt umfasste auch Zeitschriften wie die „New Left Review“ (zu deren Gründungsherausgebern Birnbaum zählt) und die Schaffung einer Soziologie

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 122 Buch des Monats für die Nachkriegszeit. Als man ihn irgendwann fragte, was ihn denn dazu qualifiziere, nach dem neuen Soziologie-Curriculum in Oxford zu unterrich- ten, antwortete er: Vielleicht die Tatsache, dass er selbst es geschrieben habe. Später jedoch sah er sich als „Gefangenen der Kategorien einer kritischen Soziologie“. Diese Ambivalenz verliert sich nie ganz und gar. Bei einem sommerlichen USA-Besuch erlebt er lehrstückhaft jene „schran- kenlos ausschweifende amerikanische Einbildung“: „In Harvard gab es Geld dafür, einen herausragenden Europäer zu einem einjährigen Lehrauftrag einzuladen. Ein Assistent McGeorge Bundys, des damaligen Dekans, bat mich um Vorschläge. Ich nannte Sartre. Mein Gesprächspartner, Michael Maccoby, wandte ein, Sartre spreche kein Englisch. Da niemand in Harvard zugeben würde, kein Französisch zu verstehen – erwiderte ich –, würden Sartres Vorlesungen um so mehr Zulauf finden. Maccoby deutete an, Sartres politische Ansichten könnten hinderlich sein; er stand ja nicht gerade in der vordersten Reihe der Atlantiker Europas. Um so besser, meinte ich: Es wäre eine amerikanische Geste gegenüber den Europäern. Maccoby [...] straffte sich und verkündete: ‚Harvard macht keine Gesten.’“ Im Buch stoßen wir immer wieder auf pointierte Urteile über Sprachrohre des intellektuellen Journalismus. „Die ‚Partisan Review’“, heißt es da, „hielt ziemlich energisch an ihrer pauschalisierenden Aggressivität und perma- nenten Entrüstungsbereitschaft fest. Das Problem war nicht mehr der Kapita- lismus. [...] Das Ärgernis besteht jetzt darin, dass das Kapital nicht für die rich- tige Sorte von Kulturgütern aufkommt.“ „‚Dissent‘“, lesen wir, „war das Werk unversöhnlicher amerikanischer Progressives [...] hartnäckiger demokrati- scher Sozialisten.“ Als der britische „Encounter“ einen amerikakritischen Artikel von Dwight MacDonald ablehnte, stellte Birnbaum in einem offenen Brief die Frage, wer den verantwortlichen „Congress for Cultural Freedom“ finanziere.1 „Ich war nicht der Erste“, heißt es in den Memoiren, „der das tat, und meine eigene Publikationsbilanz war nicht makellos. Ich selbst hatte 1958 einen Artikel im ‚Encounter’ veröffentlicht [...] und wie mager das Hono- rar auch ausgefallen sein mag, so war ich doch selber Nutznießer geworden, wo auch immer die ‚Congress’-Mittel herkamen.“ Normans Frage blieb unbe- antwortet, bis 1967 offenbar wurde, dass die CIA dahinter steckte. Von der London School of Economics zog Birnbaum nach Oxford weiter, wo er einmal mehr unter ungünstigen Bedingungen anfing. Oxford war – der Hinweis möge genügen – eine Art Harvard in groß und altertümlich, ein „akademisches Disneyland“, dessen Alltagsgeschäft darin bestand, die herrschende Klasse auszubilden. Für Frauen war es (selbstredend) ein Schre- ckensort, insbesondere für Professorengattinnen, die allein zuhause blieben und nicht einmal auf „Abenteuer“ ausgehen konnten – weil, wie es hieß, alle Männer „in College“ waren. Birnbaums Karriere in Oxford scheiterte zum Teil an Isaiah Berlin, der Versprechungen machte, aber nicht einhielt. „Isaiah stand im Ruf eines Weisen [...], dessen Weisheit moralische Dimensionen ein- schloss, die weit über seine intellektuellen Fähigkeiten und wissenschaft- lichen Leistungen hinausgingen. Die letzteren waren zweifellos enorm, doch

1 Vgl. Norman Birnbaum, Should We Abolish the CIA?, in: „Dissent“, 9.7.2014.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Buch des Monats 123 was seine menschlichen Qualitäten im Allgemeinen angeht, erscheint mir ein gewisses Maß an Zweifel gerechtfertigt.“

Wachtposten des demokratischen Sozialismus

Zurück in den USA ging Birnbaum nach Amherst, und jetzt wird die Story mindestens so politisch wie akademisch. Es war der Herbst 1968. Repräsen- tant der herrschenden Klasse war in Amherst dessen Kuratoriumsvorsitzen- der John J. McCloy, Präsident der Chase Bank und des „Council on Foreign Relations“, Anführer des Establishments: „The Chairman“ eben, wie die denkwürdige Formulierung des Journalisten Richard Rovere lautet. Über diese Klasse schrieb Birnbaum damals: „Sie war inkompetent. Wer sonst konnte ein Imperium gewinnen und dann, wie in Vietnam, losziehen, um es zu verlieren? Sie war auf mörderische Weise scheinheilig. Obendrein hatte sie, anders als ihr britisches Gegenstück, weder Manieren noch Stil. Schließ- lich was es nicht gerade üblich, diejenigen, die man sich als tüchtige Dienst- boten wünschte, zu kränken.“ McCloy verlangte, dass Amherst und Birn- baum sich entschuldigten, was nicht geschah, woraufhin er das Kuratorium des College alsbald verließ. Der Vietnamkrieg und Richard Nixon kamen und gingen. Schließlich hatte Birnbaum von Amherst genug und zog weiter nach Washington und Georgetown. Dort ist er geblieben, ein Wachtposten des demokratischen Sozialismus in einer imperialen Hauptstadt, die unter intellektuellem und moralischem Verfall leidet. Seine internationalen Verbindungen, die Norman bis heute pflegt, umspannten in der Periode des Spätkommunismus Ost und West. In sei- nem politischen Engagement hielt er ebenso Abstand vom Kapitalismus eines Ronald Reagan wie vom Staatskapitalismus Leonid Breschnews oder (schlimmer) Erich Honeckers. Budapest beispielsweise besuchte er, um Georg Lukács zu treffen, der 1956 überlebt hatte, möglicherweise wegen sei- ner Verbindungen in den Westen, vielleicht aber auch, weil die Herrschen- den „entschieden haben mochten, dass seine über die Maßen verdichtete Prosa niemanden auf die Straße treiben“ würde. Nirgends in all diesen Geschichten und Vignetten verlässt Birnbaum sein Sinn für die Komplexität, für die je eigenen Züge, die das politische und gesellschaftliche Leben allerorten trägt. Diese Sensibilität erlangte er viel- leicht zuerst als jüdischer Amerikaner im Nachkriegsdeutschland der frühen 1950er Jahre. Er lässt uns zurück mit der Frage, die ein Münchner Karikatu- rist 1989 einem ostdeutschen Grenzer in den Mund legt: „Wahnsinn! Siehst Du den diesen bärtigen Demonstranten da drüben“, ruft der seinem Kollegen zu, der ebenfalls durch seinen Feldstecher auf die Mauer starrt. „Ist er nun auf deren Seite, also ein mutiger Friedensfreund? Oder auf unserer und ein gefährlicher Staatsfeind?“ In Norman Birnbaums Fall lautet die Antwort natürlich: beides.

Copyright: Dissent Magazine, Übersetzung: Karl D. Bredthauer

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »Die Hälfte der Menschheit ist von Wassermangel bedroht« UN-Weltwasserbericht 2018, 19.3.2018

• »Mit CO2-Preis und Kohleausstieg sind die deutschen Klimaziele erreichbar« Studie des World Wildlife Fund (WWF), 19.3.2018

• »Der Klimawandel könnte bis 2050 mehr als 140 Millionen Menschen zur Flucht zwingen« Bericht der Weltbank, 19.3.2018 (engl. Originalfassung)

• »Eine sozialdemokratische Alternative zum neoliberal-konservativen Dogma« Papier von 12 SPD-Bundestagsabgeordneten, 16.3.2018

• »Die zwangsweise Öffnung afrikanischer Märkte durch EU-Handelsabkom- men aussetzen« Appell deutscher Entwicklungsorganisationen, 15.3.2018

• »Das Web ist bedroht – Kämpfen Sie für ein freies Netz« Offener Brief von Tim Berners-Lee, 12.3.2018 (engl. Originalfassung)

• »Weltweit wächst der Handel mit Großwaffen« Bericht des Stockholm International Peace Research Institute, 12.3.2018 (engl. Origi- nalfassung)

• »Abgastricks reißen 10-Milliarden-Steuerloch« Studie im Auftrag der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament, 10.3.2018

• »Auf Twitter verbreiten sich Lügen schneller als die Wahrheit« Studie des Massachusetts Institute of Technology, 8.3.2018 (engl. Originalfassung)

• »Frauen leben immer häufiger von eigener Erwerbstätigkeit« Studie des Statistischen Bundesamtes, 8.3.2018

• »Stickstoffdioxid führt zu erheblichen Gesundheitsbelastungen« Studie des Umweltbundesamtes, 8.3.2018

• »Arme Menschen nicht gegeneinander ausspielen – Sozialleistungen endlich erhöhen« Gemeinsame Erklärung zur Armutsbekämpfung von über 30 bundesweiten Organi- sationen, 6.3.2018

• »In Deutschland hängt der soziale Status eines Menschen maßgeblich vom sozialen Status seiner Vorfahren ab« Studie des Instituts für Weltwirtschaft Kiel (IfW) und der Universität Madrid, 5.3.2018

• »Deutsche Leistungsbilanzüberschüsse: Eine Zeitbombe für den Euro« Studie des IMK, 1.3.2018 (engl. Originalfassung)

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Chronik des Monats Februar 2018

1.2. – Großbritannien. Premierministerin EU-Beauftragte Barnier mit, über die Aus- May erklärt während einer Chinareise, Ein- gestaltung der Übergangsphase nach dem wanderer aus der Europäischen Union könn- Austritt Großbritanniens gebe es noch er- ten in der Brexit-Übergangsphase nach dem hebliche Differenzen. – Am 27.2. unterstüt- EU-Austritt im März 2019 nicht mehr die zen die Vertreter der Bundesrepublik und gleichen Rechte erhalten wie bisher. Wer Frankreichs auf einem Ministertreffen in nach diesem Termin nach Großbritannien Brüssel das von der EU-Kommission gegen einwandern wolle, solle kein automatisches Polen eingeleitete Strafverfahren nach Arti- Bleiberecht mehr erhalten. Dazu könnten kel 7 des EU-Vertrages, das mit einem Ent- weitere Auflagen kommen wie der einge- zug des Stimmrechts im Ministerrat enden schränkte Zugang zu Sozialleistungen. Aus kann. Die Kommission sieht die Unabhän- dem Europäischen Parlament heißt es, Bür- gigkeit der polnischen Justiz gefährdet. gerrechte während der Übergangsphase sei- 5.2. – Vatikan. Papst Franziskus empfängt en „nicht verhandelbar“. den türkischen Präsidenten Erdogan zu ei- 2.2. – Russland. In Wolgograd, dem frühe- nem einstündigen Gespräch. Erdogan ist ren Stalingrad, wird mit einer Militärparade das erste türkische Staatsoberhaupt, das seit an das Ende der Schlacht von Stalingrad vor 60 Jahren den Vatikan besucht. 75 Jahren erinnert. Präsident Putin würdigt 7.2. – Große Koalition. Mit einer Nachtsit- den Sieg der Roten Armee über die deutsche zung werden die Sondierungen von Christ- Wehrmacht im Februar 1943 und ruft seine demokraten und Sozialdemokraten über Landsleute auf, „sich an den Taten der Väter die Bildung einer gemeinsamen Regierung und Großväter ein Beispiel zu nehmen“. Die beendet (vgl. „Blätter“, 3/2018, S. 125). Die Schlacht um Stalingrad mit Hundertausen- Parteivorsitzenden Angela Merkel (CDU), den von Toten gilt als Wendepunkt im Zwei- Horst Seehofer (CSU) und ten Weltkrieg. (SPD) teilen vor der Presse mit, man habe 4.2. – EU. Die Kommission legt ein Strate- sich auf den Text eines Koalitionsvertra- giepapier für die Beschleunigung des EU- ges verständigt. Der Titel lautet: „Ein neuer Beitritts der sechs Westbalkan-Staaten Ser- Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik bien, Montenegro, Mazedonien, Bosnien- für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt Herzegowina, Albanien und Kosovo vor. für unser Land.“ Über die Annahme des Eine Mitgliedschaft dieser Staaten sei „im Koalitionsvertrages und den Eintritt in ei- politischen, sicherheitspolitischen und wirt- ne Regierung mit den Christdemokraten schaftlichen Interesse der Union“. Die Kom- sollen die SPD-Mitglieder entscheiden, das mission stellt dafür weitere Finanzmittel Ergebnis einer Befragung soll am 4. März und gezielte Unterstützung in mehreren d.J. vorliegen. – Am 9.2. verzichtet Schulz Politikfeldern in Aussicht. „Entweder wir ex- überraschend auf einen Posten im neuen portieren Stabilität oder importieren Insta- Kabinett. Durch die Diskussion über seine bilität“, erklärt EU-Erweiterungskommissar Person sehe er den Erfolg der SPD-Mitglie- Johannes Hahn (Österreich). Serbien und derbefragung über den Koalitionsvertrag Montenegro könnten bereits 2025 der Union mit der Union gefährdet, schreibt Schulz in beitreten. – Am 7.2. setzt sich der polnische einer Presseerklärung. Mit seiner demons- Diplomat Pawel Swieboda, einer der wich- trativen Ankündigung, das Amt des Außen- tigsten Berater der EU-Kommission, für den ministers zu beanspruchen und doch in eine weitgehenden Verzicht auf das Prinzip der Regierung Merkel einzutreten, hatte Schulz Einstimmigkeit und den Übergang zu Mehr- massive Kritik in der Partei ausgelöst. heitsentscheidungen in der Europäischen – USA. Die „Neue Zürcher Zeitung“ Union ein. Man könne nicht endlos disku- berichtet ausführlich über eine neue Nukle- tieren, die Union müsse besser auf Krisen arstrategie der Administration in Washing- reagieren können. In den Verträgen stehe ton. Mit einer Modernisierung des Arsenals nichts, was dies verbiete. – Am 9.2. teilt der der atomaren Waffen, die rund 1,2 Billionen

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 126 Chronik

Dollar kosten solle, werde eine Epoche der „Wir warten darauf, dass der anhaltende Di- Abrüstung beendet. Die USA wendeten sich alog zwischen Südkorea und dem Norden zu wieder verstärkt der Abschreckung zu. Gesprächen zwischen den USA und Nord- 8.2. – Frankreich. In Regierungskreisen korea sowie zur Denuklearisierung führt.“ werden Pläne über eine deutliche Erhö- 12.2. – Irak. Eine Studie der Weltbank, die hung des Verteidigungsetats bestätigt und in Kuwait einer internationalen Konferenz mit dem Kampf gegen den Terrorismus von Geberländern, Nichtregierungsorgani- und internationale Krisen begründet. Für sationen und Unternehmen vorliegt, bezif- das Militär sollen im Zeitraum von 2019 bis fert die benötigten Mittel für den Wieder- 2025 insgesamt 295 Mrd. Euro bereitgestellt aufbau nach dem militärischen Sieg über werden, im Schnitt ein Jahresbudget von die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in den 39,6 Mrd. Euro. Die fallende Tendenz der kommenden Jahren auf rund 88 Mrd. Dollar. vergangenen 30 Jahre werde umgekehrt, In dem mehr als dreijährigen Krieg gegen so Verteidigungsministerin Florence Parly. den IS seien allein über 70 000 Häuser völlig Paris wolle dazu beitragen, das Europa der zerstört worden. Ministerpräsident Haider Verteidigung aufzubauen. – Am 13.2. droht al-Abadi hatte im Dezember v.J. den Sieg Präsident Macron der syrischen Führung, über den IS verkündet. sollte der Einsatz von Chemiewaffen gegen 13.2. – SPD. Nach dem Verzicht auf ein Re- die Bevölkerung nachgewiesen werden. Da- gierungsamt legt Martin Schulz auch den mit wäre eine rote Linie überschritten. „Wir Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei werden angreifen.“ Deutschlands mit sofortiger Wirkung nie- – IStGH. Der Internationale Strafge- der (zur Wahl vgl. „Blätter“, 5/2017, S. 127). richtshof in Den Haag leitet Ermittlungen zu Schulz schlägt die Fraktionsvorsitzende möglichen Verbrechen gegen die Mensch- Andrea Nahles als Nachfolgerin vor. Nah- lichkeit in Venezuela ein. Seit April 2017 les wird von Präsidium und Vorstand ein- hatten fast täglich Demonstrationen ge- stimmig nominiert. Über die Wahl soll ein gen die Regierung von Präsident Maduro Sonderparteitag am 22. April entscheiden. stattgefunden, die Polizei war zum Teil mit Zunächst übernimmt der dienstälteste Stell- äußerster Gewalt vorgegangen. Über 120 vertreter, der Hamburger Erste Bürgermeis- Menschen kamen bei den Auseinanderset- ter Olaf Scholz kommissarisch den Partei- zungen ums Leben. vorsitz. 9.2. – Spanien. Die Fraktion des abgesetzten – Israel. Als Ergebnis einjähriger Er- katalanischen Regionalpräsidenten bringt mittlungen empfiehlt die Polizei eine Ankla- im Regionalparlament in Barcelona einen ge wegen Korruption gegen Regierungschef Gesetzentwurf ein, der es Carles Puigde- Netanjahu. Es seien ausreichend Beweise mont ermöglichen soll, sich in Abwesenheit für Bestechlichkeit und Untreue in zwei Fäl- erneut an die Spitze der Regionalregierung len gesammelt worden. Aus der Umgebung wählen zu lassen und die Regierungsge- von Netanjahu heißt es, dieser werde auch schäfte „aus der Ferne“ zu führen, unter an- im Falle einer Anklageerhebung nicht zu- derem über Video- und Telefonkonferenzen. rücktreten. Puigdemont hält sich weiterhin im Exil in 14.2. – Südafrika. Präsident Jacob Zuma, Brüssel auf (vgl. „Blätter“, 3/2018, S. 126 f.). dem Korruption und Vetternwirtschaft vor- – Ägypten. Sicherheitskräfte beginnen geworfen wird, tritt zurück. Zuma hatte sich eine großangelegte „Anti-Terror-Operati- zunächst geweigert, der Rücktrittsauffor- on“ auf der Sinai-Halbinsel und in anderen derung seiner Partei, des African National Regionen. Die Armee, so ein Militärspre- Congress (ANC), zu folgen. Die Funktion cher, wolle Terrornester „ausrotten“. des Staats- und Regierungschefs über- 9.-11.2. – Korea. Am Rande der Olympi- nimmt der neue ANC-Präsident Cyril Rama- schen Winterspiele im südkoreanischen phosa. Pyeongchang begegnen sich hochrangige – Ungarn. Die Regierung bringt im Vertreter aus beiden koreanischen Staaten. Parlament ein Gesetzespaket ein, das Die nordkoreanische Seite überbringt eine Nichtregierungsorganisationen, die Asyl- Einladung an Südkoreas Präsident Moon suchenden helfen, mit Strafe bedroht. Auf Jae-in zu einem Gipfeltreffen in Pjöngjang. alle Spenden ausländischer Geber soll eine Moon äußert sich am 17.2. zurückhaltend: Extrasteuer erhoben werden. Ausländische

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Chronik 127

Mitarbeiter müssen den Landesverweis keit“ Palästinas und Israels in den Grenzen fürchten. von 1967. Israel müsse die jüdische Besied- 14.-15.2. – Nato. Vor den Verteidigungs- lung der besetzten Gebiete stoppen und die ministern der Mitgliedstaaten in Brüssel Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt teilt Generalsekretär Stoltenberg mit, das Israels annullieren. Auch die Verlegung der Bündnis habe die Militärausgaben 2017 im US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem Vergleich zum Vorjahr um fast fünf Prozent müsse gestoppt werden. Die Zweistaatenlö- gesteigert, weitere Anstrengungen seien nö- sung bleibe das Fundament aller Friedens- tig. Im Mittelpunkt der Ministerkonferenz bemühungen. stehen Beschlüsse über einen erheblichen – Türkei/Syrien. Mit einem Bombar- Ausbau der Kommandostrukturen mit Stütz- dement setzt die türkische Armee ihren punkten in einzelnen Mitgliedstaaten. Feldzug gegen die Kurdenmilizen fort (vgl. 16.2. – Türkei/BRD. Der deutsch-türkische „Blätter“, 3/2018, S. 126). Die Angriffe rich- Journalist Deniz Yücel, Korrespondent der ten sich vor allem gegen Stellungen in der Tageszeitung „Die Welt“, wird nach 367 Region Afrin im Norden Syriens. Die türki- Tagen Untersuchungshaft aus einem türki- sche Regierung betrachtet die kurdischen schen Gefängnis entlassen. Yücel darf das Einheiten, die gegen den IS kämpfen, als Land verlassen, das Verfahren gegen ihn verlängerten Arm der verbotenen Arbeiter- läuft jedoch weiter. Eine türkische Nach- partei Kurdistans PKK. In einer Stellung- richtenagentur hatte gemeldet, Yücel sei nahme des syrischen Regimes in Damaskus freigekommen, unmittelbar nachdem die vom 19.2. heißt es: „Unsere Truppen werden Justiz Anklage wegen Terrorpropaganda sich an dem Widerstand gegen die türkische und „Aufstachelung des Volkes“ erhoben Aggression beteiligen, um die territoriale und bis zu 18 Jahren Haft gefordert hatte. Einheit und Integrität Syriens zu verteidi- Bundesaußenminister Gabriel versichert, es gen.“ habe „keine Verabredungen, Gegenleistun- 25.2. – Slowakei. Der Journalist Ján Kuciak gen oder Deals“ im Zusammenhang mit der und seine Verlobte Martina Kusnírová fallen Freilassung gegeben. in ihrem Privathaus einem Mordanschlag 16.-18.2. – Münchener Sicherheitskonferenz. zum Opfer. Kuciak hatte im Rahmen sei- In der bayerischen Landeshauptstadt findet ner investigativen Recherchen regelmä- die traditionelle Sicherheitskonferenz statt. ßig über Steuerbetrug und die Verbindung Teilnehmer sind Regierungschefs, Außen- Prominenter zu Kreisen der Organisierten minister, Abgeordnete und Wissenschaftler Kriminalität bis hin zur italienischen Mafia aus vielen Ländern. Bundesverteidigungs- berichtet. Das Verbrechen löst heftige Re- ministerin von der Leyen kündigt an, Union aktionen aus. In der Öffentlichkeit wird die und SPD würden im Falle einer Neuauflage Forderung nach Rücktritt verschiedener Po- der Koalition die Etats für Verteidigung und litiker erhoben. Entwicklung im Verhältnis 1:1 erhöhen. Zwi- 26.2. – CDU/CSU. Auf einem Sonderpar- schen Israel und dem Iran kommt es zu einer teitag der CDU in Berlin stimmen die De- öffentlichen Kontroverse. Ministerpräsident legierten mit großer Mehrheit bei nur 27 Netanjahu droht dem Iran in seiner Rede mit Nein-Stimmen dem Koalitionsvertrag mit einem Angriff, wenn die Sicherheit seines den Sozialdemokraten zu. Der Parteivor- Landes dies erfordere. „Stellen Sie nicht Is- stand der CSU hatte den Vertrag schon zu- raels Entschlossenheit auf die Probe.“ Irans vor gebilligt. Außenminister Zarif antwortet scharf und 28.2. – Afghanistan. Im Rahmen des „Ka- wirft Netanjahu Kriegstreiberei vor. bul-Prozesses“ findet in der afghanischen 20.2. – UNO. Palästinenserpräsident Abbas Hauptstadt eine weitere Friedenskonferenz legt dem Sicherheitsrat der Vereinten Nati- statt, an der Vertreter von 25 Ländern und onen in New York einen neuen Nahost-Frie- drei internationalen Organisationen teil- densplan vor. Kernpunkt soll eine geplante nehmen. Am Rande heißt es, die Taliban Friedenskonferenz Mitte 2018 sein, auf der kontrollierten zurzeit 13 Prozent des Landes. Grundlage der bestehenden UN-Resolutio- Weitere 30 Prozent seien umkämpft. In sei- nen. Wichtigste Bedingung sei die Aufnah- ner Eröffnungsrede stellt Präsident Ghani me Palästinas als UN-Mitglied und eine die Anerkennung der Taliban als politische „gegenseitige Anerkennung der Staatlich- Partei in Aussicht.

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Zurückgeblättert...

Anlässlich des Todes des großen Politikwissenschaftlers und Friedensforschers Ekkehart Krippendorff erinnern wir an seine durchaus bittere Bilanz zur Emeritierung: »Unzufrieden. Vierzig Jahre Politische Wissenschaft« (»Blätter«, 8/1999, S. 992-1001).

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Blätter-Gesellschaft: Die gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V., vormals abgekürzt „Blätter-Förderverein“, gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die Blätter für deutsche und internationale Politik heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Christoph Wagner vor. Die „Blätter“ erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 12,50 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 54 02 46, 10042 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank IBAN: DE26 5003 3300 1028 1717 00, BIC: SCFBDE33XXX. Preise: Einzelheft 10 Euro, im Abonnement jährlich 84,60 Euro (ermäßigt 67,20 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint jeweils im Dezemberheft. Heft 5/2018 wird am 27.4.2018 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2018 Autorinnen und Autoren dieses Heftes Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Thomas Piketty Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Jan M. Piskorski Inken Behrmann, geb. 1993 in Berlin, Alfred W. McCoy, geb. 1945 in Massa- Samir Amin Norbert Frei Ian Kershaw Samantha Power studiert Sozialwissenschaften in Ber- chusetts/USA, PhD, Professor für Ge- Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Heribert Prantl lin und Washington D.C. schichte an der University of Wiscon- Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Ulrich K. Preuß sin-Madison/USA. Franziska Augstein Georg Fülberth Dieter Klein Karin Priester Gideon Botsch, geb. 1970 in Berlin, Dr. Uri Avnery James K. Galbraith Naomi Klein Avi Primor phil., Politikwissenschaftler, Leiter der Wolfgang Michal, geb. 1954 in Dachs- Susanne Baer Heinz Galinski Alexander Kluge Tariq Ramadan Forschungsstelle Antisemitismus und bach, Politikwissenschaftler, freier Patrick Bahners Johan Galtung Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann Rechtsextremismus am Moses Men- Autor und Journalist. Egon Bahr Timothy Garton Ash Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma delssohn Zentrum für europäisch-jü- dische Studien in Potsdam. Pankaj Mishra, geb. 1969 in Jhansi/ Etienne Balibar Bettina Gaus Otto Köhler Jens G. Reich Indien, Schriftsteller und Essayist, Walter Kreck Helmut Ridder Rainer Fischbach, geb. 1950 in Reut- Träger des Leipziger Buchpreises zur Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling lingen, IT-Berater und Publizist. Europäischen Verständigung 2014. In den »Blättern« Paul Krugman Romani Rose Adam Krzeminski Rossana Rossandra James K. Galbraith, geb. 1952 in Bos- Craig Murray, geb. 1958 in West Run- schrieben bisher Erich Kuby Werner Rügemer ton/USA, PhD, Professor für Wirt- ton/Großbritannien, Historiker, Buch- Jürgen Kuczynski Irene Runge schaftswissenschaften an der Lyndon autor, ehemaliger britischer Botschaf- Charles A. Kupchan Bertrand Russell B. Johnson School of Public Affairs der ter in Usbekistan. Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto University of Texas. Fritz Bauer Heiner Geißler Oskar Lafontaine Saskia Sassen August Pradetto, geb. 1949 in Graz, Yehuda Bauer Susan George Claus Leggewie Fritz W. Scharpf Grit Genster, geb. 1973 in Cottbus, Dr. phil., Professor em. für Politikwis- Bereichsleiterin Gesundheitspolitik senschaft an der Universität der Bun- Ulrich Beck Sven Giegold Gideon Levy Hermann Scheer beim Bundesvorstand der Vereinten deswehr Hamburg. Seyla Benhabib Peter Glotz Hans Leyendecker Robert Scholl Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Jutta Limbach Karen Schönwälder Ulrich Schneider, geb. 1958 in Ober- Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Birgit Mahnkopf Friedrich Schorlemmer Susanne Götze, geb. 1980 in Berlin, Dr. hausen, Dr. phil., Erziehungswissen- Ernst Bloch André Gorz Peter Marcuse Harald Schumann phil., Historikerin, freie Journalistin. schaftler, Hauptgeschäftsführer des Norberto Bobbio Glenn Greenwald Mohssen Massarrat Gesine Schwan Paritätischen Gesamtverbandes. E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Ingeborg Maus Dieter Senghaas Ulrike Guérot, geb. 1964 in Greven- Thilo Bode Jürgen Habermas Bill McKibben Richard Sennett broich, Dr. phil., Gründerin und Direk- Marcel Serr, geb. 1984 in Ludwigsha- Bärbel Bohley Sebastian Haffner Ulrike Meinhof Vandana Shiva torin des „European Democracy Lab“ fen am Rhein, Historiker und Politik- Heinrich Böll Stuart Hall Manfred Messerschmidt Alfred Sohn-Rethel Berlin, Professorin für Europapolitik wissenschaftler. Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Bascha Mika Kurt Sontheimer und Demokratieforschung an der Do- nau-Universität Krems. Raphaela Tiefenbacher, geb. 1992 in Ulrich Brand Heinrich Hannover Pankaj Mishra Wole Soyinka Innsbruck, Studentin der Rechtswis- Karl D. Bredthauer David Harvey Robert Misik Nicolas Stern Stefan Kissinger, geb. 1951 in Zel- senschaften und Philosophie an der Micha Brumlik Amira Hass Hans Mommsen Joseph Stiglitz la-Mehlis, Politikwissenschaftler und Universität Wien. Nicholas Carr Christoph Hein Wolfgang J. Mommsen Gerhard Stuby Publizist. Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Albrecht Müller Emmanuel Todd Péter Urfi, geb. 1986, Redakteur und Daniela Dahn Detlef Hensche Herfried Münkler Alain Touraine Andreas Knobloch, geb. 1977 in Journalist in Budapest/Ungarn. Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Adolf Muschg Jürgen Trittin Strausberg, Politikwissenschaftler György Dalos Ulrich Herbert Gunnar Myrdal Hans-Jürgen Urban und Journalist, lebt in Havanna/Kuba. Mike Davis Seymour M. Hersh Wolf-Dieter Narr Gore Vidal Alex Demirovic Hermann Hesse Klaus Naumann Immanuel Wallerstein Peter Lange, geb. 1958 in Göppingen, Frank Deppe Rudolf Hickel Antonio Negri Franz Walter Journalist, Korrespondent für die ARD Dan Diner Eric Hobsbawm Oskar Negt Hans-Ulrich Wehler und Deutschlandradio in Prag. Walter Dirks Axel Honneth Kurt Nelhiebel Ernst U. von Weizsäcker Claus Leggewie, geb. 1950 in Wan- Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Oswald v. Nell-Breuning Harald Welzer ne-Eickel, Dr. sc. pol., Carl-Lud- Daniel Ellsberg Walter Jens Rupert Neudeck Charlotte Wiedemann wig-Börne-Professor an der Universität Wolfgang Engler Hans Joas Martin Niemöller Rosemarie Will Gießen, Mitherausgeber der „Blätter“. Hans-M. Enzensberger Tony Judt Bahman Nirumand Naomi Wolf Erhard Eppler Lamya Kaddor Claus Offe Jean Ziegler Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Reinhard Opitz Moshe Zimmermann gelheim am Rhein, Jurist und Politik- Iring Fetscher Petra Kelly Valentino Parlato Moshe Zuckermann wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. Joschka Fischer Robert M. W. Kempner Volker Perthes Heiner Flassbeck George F. Kennan William Pfaff ...und viele andere. Blätter 4’18 Das Great Game neue Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Imperialer Rassismus Imperialer Krieg um Syrien: Syrien: um Krieg Pankaj Mishra Pankaj Marcel Serr Marcel internationale deutsche und Blätter für Politik

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