APuZAus Politik und Zeitgeschichte 62. Jahrgang · 41–42/2012 · 8. Oktober 2012

Zukunft des Publizierens

Petra van Cronenburg In der dunklen Höhle. Zur Zukunft des Buches

Michael Roesler-Graichen Digitales Publizieren: Stand und Perspektiven

Jeff Gomez Geschichten erzählen im digitalen Zeitalter

Dominique Pleimling Social Reading – Lesen im digitalen Zeitalter

Thomas Carl Schwoerer Das Urheberrecht und die Zukunft des Verlegens

Anne Lauber-Rönsberg Raubkopierer und Content-Mafia: Die Debatte um das Urheberrecht

Jeanette Hofmann · Christian Katzenbach · Merlin Münch Kulturgütermärkte im Schatten des Urheberrechts Editorial Wie konnte es so weit kommen? Das fragten sich nicht weni- ge Literaturkritiker, als ein Buch von recht bescheidener litera- rischer Qualität einer bis dato unbekannten Autorin in diesem Jahr weltweit die Bestsellerlisten sprengte. Von den Diskussio- nen um Thema und Botschaft des Buches abgesehen, zeigt der Weg, den „Fifty Shades of Grey“ bei seiner Verbreitung be- schritten hat – von der Fan-Fiction über ein E-Book im Selbst- verlag bis hin zum Verkauf der Rechte an große Verlage – , wel- che Chancen das digitale Publizieren abseits der klassischen Vertriebs- und Verwertungswege über einen Verlag bieten kann. Der Erfolg der Trilogie ist neben wenigen anderen Beispielen noch eine Ausnahme, doch wirft self publishing – je nach Blick- winkel – sein Licht oder seinen Schatten auf die künftigen Ent- wicklungen im Verlagsgeschäft.

Während es technisch immer einfacher wird, Texte (auch) als E-Book zu veröffentlichen, haben sich auch gestalterisch neue Wege eröffnet. Mit Animationen und Videos, Audiospuren und interaktiven Funktionen lassen sich E-Books multimedial anreichern oder als App umsetzen. Ob sie sich wirtschaftlich rechnen werden, bleibt abzuwarten. Nachgedacht und experi- mentiert wird längst über das meist nachträgliche enhancement hinaus: Wie können die technischen Möglichkeiten genutzt werden, um originäre Formen des digitalen Erzählens zu schaf- fen – noch unmittelbarer, transmedialer, nicht-linearer und auf Kommunikation und Partizipation angelegt?

Die fortschreitende Digitalisierung von Inhalten und das ille- gale Herunterladen oder Teilen (sharing) von Textpassagen oder ganzen Büchern haben eine intensive Debatte um das Urheber- recht neu befeuert, die nach der Film- und Musikbranche nun auch die Buchbranche erfasst hat. Es gilt, die legitimen Interes- sen der Autorinnen und Autoren und ihrer Verlage zu schützen, aber auch veränderte Nutzungsgewohnheiten zu berücksichti- gen, etwa beim gemeinsamen Lesen (social reading) oder beim kreativen Weiterbearbeiten eines Werkes. Lohnenswert könnte hierbei ein Blick auf andere Kulturgütermärkte und ihre Rege- lungsarrangements sein.

Anne Seibring Petra van Cronenburg Der große Umbruch Die gesamte Buchbranche befindet sich welt- weit in einer Umbruchsituation: Schöpfe- In der dunklen rinnen und Schöpfer, Verlage, Distributo- ren, Handel, Leserinnen und Leser proben ein neues Rollenverständnis und Zusam- Höhle. Zur Zu- menspiel. Während dieser Essay getippt wur- de, eröffnete Amazon seinen Kindle-Shop in Indien und führte in den USA das Abon- kunft des Buches nement von Kindle Serials zum Pauschal- preis ein. Amazons E-Book-Verkäufe über- holten erstmals auch in Europa die Verkäufe Essay an gedruckten Büchern. ❙1 In Deutschland hat sich der E-Book-Markt nach sechs Monaten zum Vorjahr insgesamt verdoppelt. ❙2 Kobo enn eine Schriftstellerin einen Essay wird mit seiner Self-publishing-Plattform Wüber die Zukunft des Buches verfasst, nun auch in Europa zum Konkurrenten von müsste sie sich theoretisch nur zurückleh- Amazon und Apple. Während in der „New nen, an einem Futu- York Times“ die absolut gleichberechtigt be- Petra van Cronenburg rologischen Kongress handelten self publisher die Best­seller­listen Studium der Theologie und der Literatur in ih- stürmen, kommt auch die deutsche Fach- Judaistik; lebt als freie Jour­ rem Kopf teilnehmen presse langsam nicht mehr um die Bestsel- nalistin und Buchautorin in und alles aufschrei- lerautorinnen und -autoren im self publishing Frankreich; zuletzt erschienen ben. Dort laufen wo- herum, obwohl diese in den offiziellen Best- ist „Faszination Nijinsky“. möglich austauschba- sellerlisten weiterhin nicht eingerechnet wer- www.cronenburg.net re Projektionsflächen den. Sieben deutschsprachige Self-publishing- von Autoren-Avata- Titel halten sich im Sommer in den Kindle ren herum, direkt vernetzt mit Social-chip- Top Ten, 49 in den Top 100. ❙3 Implantaten im Hirn ihrer Leserinnen und Leser. Buchhandlungen sind zu riesigen mul- Im englischsprachigen Raum mischt Pen- timedialen Vergnügungszentren geworden. guin Books die Vorstellung von einem Ver- Ein paar Feuilleton-Bots erscheinen in Maske lag auf: Ohne Berührungsängste wurde für und schauen irgendeiner sexy gestylten Ho- 116 Millionen Dollar die Vanity-Firma Au- lografie zu, die als interaktiv quatschendes thor Solutions gekauft, um eine Self-publish- und werkelndes Sterne-Kochbuch in Küchen ing-Plattform zu kreieren. Letzteres machen gebeamt wird und selbstständig den Online- zwar Holtzbrinck mit Epubli und Droemer Einkaufszettel im Kühlschrank umprogram- Knaur mit Neobooks in Deutschland schon miert. Oder hätte sich das „gute alte Buch“ länger, aber noch nie zuvor hat sich ein eta- wie ein Steampunk-Objekt irgendwann auf- blierter seriöser Verlag derart offen mit ei- grund einer globalen Stromknappheit wieder nem Bezahlverlag verknüpft. Die Leserschaft durchgesetzt? fragt längst nicht mehr nach hoheitlichen De- finitionen von Büchern: Kurze Handyroma- Etwas kopflos tappen wir derzeit wie in ei- ner dunklen Höhle zwischen E-Books und ❙1 Vgl. Virginia Kirst, Großbritannien: Amazon ver- Papierbüchern umher und streiten, wo Ge- kauft mehr als gedruckte Bücher, 7. 8. ​2012, schichten stattfinden sollen: draußen zum online: www.computerbild.de/artikel/cb-News- PC-Hard­ware-Grossbritannien-Amazon-verkauft- Anfassen oder als flüchtige Projektion auf mehr-eBooks-als-gedruckte-Buecher-7675167.html der Höhlenwand. So viele Wege gabeln sich (11. 9. 2012). in dieser Höhle – welcher wird der vielver- ❙2 Vgl. Media Control, Deutscher E-Book-Markt mit sprechendste sein? Befinden wir uns wo- großen Zuwächsen, 11. 9. 2012, online: www.media- möglich auf einem Weg „zurück“ in die Zu- control.de/deutscher-e-book-markt-mit-grossen-zu- kunft, hin zu den Ursprüngen des Erzählens, waechsen.html (11. 9. 2012). ❙3 Vgl. Serienmorde und Holunderküsschen, 25. 7. ​ hin zum Erzählmenschen, für den das her- 2012, online: www.buchreport.de/nachrichten/­online/ kömmlich gedachte Buchkonzept gar keine online_nachricht/datum/​2012/​07/​25/serienmorde- Rolle spielt? und-holunderkuesschen.htm (6. 9. 2012).

APuZ 41–42/2012 3 ne aus ­Asien werden genauso als Buch wahr- lichen Instituten und unter Beteiligung der genommen wie ein in Deutschland verkaufter amerikanischen Navy entwickelt, die drin- 1000-Seiten-Klotz aus Papier. Wer ein Smart- gend elektronische Handbücher brauchte. phone oder ein Tablet besitzt, kommt längst Schon in den 1960er und 1970er Jahren ma- in den Genuss von Apps, die das Buch mul- nifestierten sich Ideen, wie wir sie heute von timedial aufbrechen und mit Elementen aus Apps kennen. Das sogenannte FRESS-Hy- der Spielewelt, dem Film oder mit praktischen pertext-System, das Professor Andries van Anwendungen durchsetzen. Es erscheint so- Dam an der Brown University in Providence gar eine zum Deutschen Buchpreis. auf IBM-Umgebung entwickelte, war für die Lehre konzipiert: Es ging darum, Inhalte so Die Stimmung bleibt dennoch gespalten. dynamisch zu formatieren, dass unterschied- Da sind die einen, die das herkömmliche liche Nutzer sie mit unterschiedlicher Hard- Buch wie eine bedrohte Art betrachten und und Software anschauen konnten und nicht zu seinem Schutz gegen jede Veränderung nur Zugang zu automatischen Verzeichnissen anrennen. Sie fürchten vor allem drei Fakto- hatten, sondern auch zu Grafiken und reich- ren: den Durchbruch digitaler Technologie, haltigen externen Vernetzungen durch Links. die Gleichberechtigung von self publishing mit herkömmlichen Verlags- und Handels- 1971 tippte Michael S. Hart im Rechenzen- wegen sowie eine mögliche Verlagerung des trum der Universität von Illinois den Text der stationären Buchhandels in die Hände we- amerikanischen Unabhängigkeitserklärung niger großer Internetkonzerne. Und da sind als elektronisches Dokument ein. Der Test die anderen, die sich vor allem auf die Chan- war ein Meilenstein: Hart gründete in den cen und nicht immer unproblematischen He- USA das Projekt Gutenberg, um rechtefreie rausforderungen einer künftigen Vielfalt Literatur zu digitalisieren und damit weltweit konzentrieren: neue technische wie literari- und kostenlos verfügbar zu machen. Bereits sche Formen, aber auch eine Veränderung der 1988 veröffentlichte William Gibson das ers- Veröffentlichungswege und Durchdringung te käufliche elektronische Buch – seinen Ro- unterschiedlicher Geräte mit Inhalten un- man „Mona Lisa Overdrive“. In den 1990er terschiedlicher Medien. Auch wenn das Pa- Jahren herrschte mit der zunehmenden Ver- pierbuch, wie wir es kennen und lieben, wo- breitung des Internets in normale Haushalte möglich nie untergehen wird – es hat bereits eine ungeheure Aufbruchstimmung und In- Geschwister bekommen, die nicht weniger vestierfreudigkeit vor allem in der englisch- liebenswert sind. sprachigen Welt. Als 1992 Charles Stacks mit seinem Book Stacks Unlimited die erste In- ternetbuchhandlung der Welt gründete, wur- Das E-Book setzt sich durch den dort ebenso ausschließlich physische, ge- druckte Bücher gehandelt wie bei Amazon, Seit E-Books zwischen 2004 und 2006 mit das drei Jahre später den Nerv der Zeit traf. der Verbreitung erschwinglicher Lesegerä- Gedruckte Bücher boomten durch die neue te zunächst in den USA zu einem ernstzu- Handelsmethode und die Verbreitung des In- nehmenden Branchenfaktor geworden sind, ternets wie nie ­zuvor. spricht man von der größten Revolution in der Buchwelt seit Gutenberg. Dabei ist das Der erste Hype um das E-Book platzte al- E-Book erstaunlich „alt“. Seine Geschich- lerdings ebenso schnell wie die New-Econo- te, ❙4 die man bis ins Jahr 1949 zurückverfol- my-Blase. Lesegeräte wie Rocketbook oder gen kann, ist eng mit der Entwicklung der Softbook waren für das normale Publikum Computertechnologie und den frühen Be- viel zu teuer und unhandlich. In Europa fehl- mühungen um Hypertext-Konzepte des te es völlig an mit den USA vergleichbaren world wide web verknüpft. Erste Vorfor- Strukturen: vom E-Book-Verlag über den men von E-Books wurden deshalb nicht von spezialisierten Buchhandel bis hin zu siche- der Buchbranche, sondern in wissenschaft- ren Bezahlsystemen. Das E-Book erreichte seine Kundinnen und Kunden nicht – die ein- zigen nachhaltig funktionierenden Systeme ❙4 Vgl. die Artikel „E-Book“ und „“ in der deutsch- und englischsprachigen Wikipedia, on- jener Zeit sind tatsächlich die Tauschbörsen line: http://de.wikipedia.org/wiki/E-Book (6. 9. 2012); gewesen. 1997 endlich wurde die Firma ge- http://en.wikipedia.org/wiki/Ebook (6. 9. 2012). gründet, die ein Jahrzehnt später das elektro-

4 APuZ 41–42/2012 nische Lesen revolutionieren sollte: die E Ink che Volk und die Frauen zum Lesen fanden, Corporation. Die Idee, eines Tages so etwas weil Bücher verweltlicht und verbilligt wur- wie „virtuelle Tinte“ auf papierähnlichem den, könnte die Verbreitung einfacher Do- Untergrund zu erfinden, klang noch nach it-yourself-Ware in den Charts dafür spre- echter Science Fiction. Anfang des 21. Jahr- chen, dass bisher buchferne Internet-Nutzer hunderts setzte dann der ersehnte techno- plötzlich zu Büchern finden. Es bliebe zu logische Innovationsschub ein: 2004 brachte untersuchen, ob hier nicht bisher vom ge- Sony den Reader Librie Ebr-1000ep auf den druckten Buch und vom offiziellen Litera- japanischen Markt, 2006 folgen die ersten turbetrieb ausgeschlossene Bildungsschich- E-Ink-Reader auf dem Weltmarkt, im Jahr ten das E-Book für ihre Interessen lesend wie darauf Amazons erster Kindle. Der Siegeszug schreibend erobern. des E-Books ist seither nicht mehr aufzuhal- ten. Denn jetzt ist die Hardware erschwing- lich, das Lesen durch adaptierbare Schriften Neue Formen: Das Buch öffnet sich sogar noch augenfreundlicher als auf Papier, der Download kinderleicht und allen Inter- Auf der Leipziger Buchmesse 2011 erschien net-Nutzern zugänglich. Die Geräte verbes- das „EinBuch“ des österreichischen Künst- sern sich rasend schnell, nur ein einheitliches lerkollektivs um Miba Eisbraun alias Mi- Format fehlt noch. chael Braunsteiner und Barbara Eisner in sei- ner transmedialen Bündelung von Literatur und bildender, darstellender wie angewand- Self Publishing: Der Markt öffnet sich ter Kunst noch wie ein Science-Fiction-Ob- jekt. ❙5 Es lässt sich nicht aufblättern: Dieses Publizieren speziell für E-Reader macht Ar- Buch nebst Fortsetzungen wird inszeniert, beitsschritte wie Buchsatz und Buchdruck, fotografiert, aufgeführt, gefilmt, hergestellt, aufwändige Logistik und Lagerung über- es ist eine kunstvoll demontierbare Installa- flüssig. Dadurch wird das Veröffentlichen tion ebenso wie ein sich verändernder Daten- für Menschen, die Verlage umgehen wollen, strom im Internet. Die „Skulptur Buch“ in bezahlbar, einfach und vor allem schnell. Einerauflage, bedruckt mit einem Cover und Druckkostenzuschussverlage und Vanity einer einzigen Seite, enthält eine exklusive Press braucht keiner mehr, also können bluti- DVD und wird als Preziose verkauft – wäh- ge Laien ihre Texte in die gleichen virtuellen rend der Text und die zu einem Trailer ver- Regale einstellen wie Verlage. Es gibt unter kürzte Performance kostenlos millionenfach self publishers aber genauso Buchprofis oder im Internet abrufbar und teilbar sind. Ein auch Verlagsautoren, die ihre Backlist selbst wenig ist hier die Zukunft des Buches schon neu auflegen wollen, die ihre E-Book-Rech- zu spüren: Neben der Durchdringung unter- te lieber selbst verwerten, oder die sich auf- schiedlicher Medien und Künste wird sich grund der Struktur des neuen Markts allein die Vorstellung von Autorenschaft und Ver- einen gezielteren Abverkauf und aktuellere legerschaft verändern und sicher ungewöhn- Veröffentlichungen ausrechnen. Literarische liche neue Bezahlformen für die Schöpfer er- Experimente und verlegerische Wagnisse las- fordern, von denen die Idee des crowdfunding sen sich auf diesem Wege austesten. erst der Anfang sein dürfte.

Die großen Online-Händler haben die Ein Jahr später wird sichtbar, dass sich Chance erfasst: Self publishing ist ein wichti- überall dort kreativ Neues entwickelt, wo die ger Markt geworden. Während sich das deut- Schöpfer Print und Digital, physisches Buch sche Feuilleton noch grämt, dass die Kul- und Virtualität, linearen Text und trans­media tur des Abendlandes dadurch gefährdet sein nicht mehr getrennt voneinander wahrneh- könnte, weil nun wirklich jeder fehlerhafte men. Große Verlage experimentieren mit so- und schlechte Bücher in die gleichen Läden genannten enhanced E-Books, die oft noch stellen dürfe wie Verlage, hat sich das self pu- daran kranken, dass sie nicht eigens für ein blishing in anderen Ländern längst professio- nalisiert. Es ließe sich aus umgekehrter Per- ❙5 Vgl. Petra van Cronenburg, Ein Buch mit ei- spektive also durchaus fragen, ob wir nicht genem Kopf, 17. 3. 2011, online: http://cronen- vor einer neuen Bildungswelle stehen. So wie burg.blogspot.fr/​2011/​03/ein-buch-mit-eigenem- einst durch Gutenbergs Buchdruck das einfa- kopf.html (11. 9. 2012).

APuZ 41–42/2012 5 neues Medium konzipierte Geschichten er- gatesmemory bei Flickr gesammelt und mit zählen, sondern mit recht konventionellen dem Bookmarkdienst Delicious und einem Mitteln Lesestoff lediglich mit Multimedia- Blog vernetzt. So sollen virtuelle Archive und Inhalten „aufpeppen“. Es ist nicht so, dass Räume geschaffen werden, die durch Tätig- herkömmliche Romane oder lineares Lesen keiten wie Aktualisieren, Bewerten und Er- durch die neuen technischen Entwicklungen innern Inhalte in Bewegung bringen sollen. obsolet würden, lediglich die Vielfalt von Er- In Ruhephasen wird das Projekt überarbei- zählmöglichkeiten nimmt zu. tet, bevor es wieder neu wachsen kann.

Natürlich befruchtet moderner Medienge- In diesen Beispielen wird deutlich, dass sich brauch auch umgekehrt die Literatur in ge- Autorenschaft neu definiert. Transmedia sto- druckten Büchern. Der polnischen Schrift- rytelling ist von einer Einzelperson nicht nur stellerin Olga Tokarczuk gelang bereits 2007 kaum zu bewältigen, es lebt vor allem durch mit „Unrast“ (dt.: 2009) eine sehr eigene, col- die Einbindung des früher nur passiv konsu- lagenhafte literarische Erzähltechnik, die an mierenden Publikums. Was beim Schreiben die assoziationshafte Logik des Internetsur- im Elfenbeinturm nur hinderlich wäre, ist fens erinnert. Als in Japan die Handyroma- hier ausdrücklich erwünscht: Teilhabe, Inspi- ne boomten, entwickelte sich eine völlig neue ration und Wissenstransfer von außen, Fort- Form von rasanten, kurzen, im Ton sehr jun- entwickeln einer Geschichte oder eines The- gen Serials. Was man eigentlich nur im Netz mas, Kopie und Übertragung, Variation und vermutet, wird kurioserweise auch gedruckt Abwandlung. Weil das gültige Urheberrecht und zwischen zwei Pappdeckeln verkauft: solche offenen kollaborativen Formen eher Mit Mailromanzen (Daniel Glattauer: „Gut erschwert, werden die meisten dieser Projek- gegen Nordwind“) und Blogromanen (Rai- te unter Creative-Commons-Lizenz gestellt. nald ­Goetz: „Abfall für alle“) fing es an, es Die Diskussion um ein modernes Urheber- folgten SMS-Bücher und die „Twitteratur“. recht wird in Zukunft also nicht mehr nur „Twitteraten“ klopfen online in maximal aus einem Angstansatz geführt werden dür- 140 Zeichen zählenden Tweets Sprüche oder fen, wie er die Diskussionen um „geistigen „tweeten“ fortlaufende Geschichten in Echt- Diebstahl“ beherrscht, sondern vor allem im zeit. Sie überführen die Texte in E-Books und Sinne einer fortschrittlichen Künstlerschaft. gedruckte Bücher und veranstalten Twitter- Diese sucht verlässliche und vor allem Kunst lesungen, die zum Event mit anderen Künst- nicht behindernde Wege, wenn sie Kollabo- lern werden (zum Beispiel Jan-Uwe Fitz, Ute ration und den Teilungsgedanken von social Weber, Florian Meimberg, Anousch Müller). media in ihre Arbeit integrieren will, und Andersherum veröffentlichte die Literatur- sich das statische „Werk“ immer weiter zum nobelpreisträgerin Elfriede Jellinek bereits offenen „Prozess“ e­ ntwickelt. 2007 bis 2008 ihren „Privatroman Neid“ ka- pitelweise kostenlos und ausschließlich auf Aber auch Herausgeberschaft und das ihrer eigenen Webseite. „Verlegen“ verändern sich – hin zu multi- medialen Produktionsfirmen, zu losen Ko- Echte transmediale Projekte entstehen der- operationen für jeweils ein Projekt, zu Ar- zeit eher „von unten“ in eigens dafür gegrün- beitsgemeinschaften von Dienstleistern, die deten Kooperationen. „Das Wilde Dutzend“ auf Augenhöhe offen sind fürs Publikum. in Berlin vereinigt eine Luxusmanufaktur so- Mit wachsender Teilnahme solcher Zuliefe- wie E-Book und Non-Book mit Events und rer und Laien kommt eine neue Aufgabe ins der Beteiligung von Fans zu echtem trans- Spiel: das Kuratieren von Inhalten. Kurato- media storytelling. Neben interaktiven Akti- ren, die all die unterschiedlichen Beteiligten, onen, Ausstellungen, Vorführungen und ei- Medien und Inhalte zu einem erfolgreichen nem Blog betreibt eine fiktive „literarische Projekt zusammenführen können, dürften in Detektivin“ einen realen Salon. Das Expe- Zukunft zu einem neuen Berufsbild ­werden. riment „The Gates“ in Zusammenarbeit mit Flickr und dem Institute for the Future of the Vor allem im englischsprachigen Bereich Book entfernt sich noch weiter vom Textme- von Forschung und Lehre sind diese neu- dium und versucht, über visual literacy das en „offenen Buchprojekte“ beliebt. Sie ver- kollektive Gedächtnis zu erforschen. Fo- einen kollaboratives Lesen und Schreiben tos werden von Teilnehmern unter dem Tag mit einem Prinzip, das der O’Reilly Ver-

6 APuZ 41–42/2012 lag 2006 mit seinen rough cuts vorgedacht Inhalte sehr viel unauffälliger zensieren und hat: Scheibchenweise werden sehr aktuel- willkürlich verändern lassen als das bemerk- le, bahnbrechende Inhalte vorveröffentlicht. barere Verbot eines gedruckten Buches. Als Beim „Networked Book“ des Professors für Amazon vor drei Jahren ohne Vorankündi- Kommunikation Noah Wardrip-Fruin bei- gung ausgerechnet George Orwells Roman spielsweise werden neben der Federführung „1984“ seinen Lesern vom Kindle löschte, des renommierten Massachusetts Institute war ein Präzedenzfall geschaffen. Was aber of Technology (MIT) handverlesene akade- passiert, wenn wir eines Tages unsere Biblio- mische Peers mit der Online-Community theken nicht mehr in der eigenen Wohnung Grand Text Auto vernetzt, einem populä- oder in kommunalen und wissenschaftlichen ren Multiautorenblog, dem auch nichtakade- Einrichtungen sichern würden, sondern in mische Spezialisten zum Thema angehören. einer cloud, die potenziell allen möglichen Es geht darin um digitale Fiktion, Compu- Manipulationen zugänglich wäre? Sind wir terspiele und Software-Studien. ❙6 Man setzt künftig wirklich die unüberwachten, freien vor allem auf den interdisziplinären Dialog „Besitzer“ unserer Inhalte? im Blog, wo Forschungskonzepte und Ergeb- nisse oder Informationen zwischen Indus- Wie lösen wir künftig die Ressourcen- und trie, Wissenschaft, Kunst und Allgemeinheit Energiefrage? Noch schieben wir beim Ge- geteilt werden können, die so nie in etablier- brauch unserer Smartphones Themen wie te Konferenzen finden würden. Das in Echt- Kinderarbeit, ökologisch und menschlich de- zeit fortgeschriebene interaktive Buch, bei saströse Verhältnisse bei der Rohstoffgewin- dem sich Autoren- und Leserschaft in ihren nung und das Müllproblem in die Dritte Welt Eigenschaften überschneiden, wird damit zu ab. Wann wird der erste Reader, der sich 2011 einem wichtigen Think Tank und Zukunfts- wie ein Science-Fiction-Gerät anfühlte, Müll motor. Zwar fungiert die MIT Press noch als sein? Und wohin in Zukunft mit all dem Da- gatekeeper, doch gehen die Inhalte und der tenmüll? Noch haben wir das Web nicht ge- Arbeitsweg frei von marketing­orientiertem lehrt, zu vergessen. Wird es so kommen, wie Zielgruppendenken aller Beteiligten aus. manche prophezeien, dass sich das Internet womöglich verlangsamen könnte, oder dass wir ernsthafte Probleme mit der Stromver- Alles nur schön bunt? sorgung bekommen könnten? Die Geschichte von Texten ist immer auch eine Geschichte des Die alte Kernfrage, ob Digitales Print töten Vergessens und Überlieferns. Früher erhofften wird, ist bereits überholt. Neben der billigen sich Autoren durch ihre Werke Unsterblich- E-Volksausgabe ist die limitierte Luxusaus- keit. Könnte der Wunsch der Zukunft genau gabe im Print sogar wahrscheinlich. Die in das Gegenteil sein: der Traum von der Depub- die Zukunft weisende Frage muss ganz an- likation, das Verlangen nach Vergessen? ders lauten: Wie gehen wir mit einer weltweit extrem auseinanderdriftenden Zweiklassen- In unserer dunklen Höhle sind wir sind im gesellschaft um: den Menschen mit digitalem Moment dabei, ein multimediales Lascaux ❙7 Anschluss und denen ohne? Wer wird künf- zu erschaffen. Was derzeit mit der Öffnung tig Zugang zu Informationen und Inhalten von Autoren- und Leserschaft und der Ver- haben und wer oder was wird diesen Zugang bindung unterschiedlicher medialer Aus- verteilen, filtern oder gar zensieren? Pres- drucksformen geschieht, nähert sich an den se hat einen Auftrag, Literatur ist ein Kul- Urkern des Erzählens an, wie es schon die turgut: Wie stellen wir sicher, dass alle Men- Urmenschen gekannt haben müssen: Eine schen gleiche Chancen haben? Geschichte will weitergegeben werden. Aber sie wird nicht zwingend nur in Sprache mit- Neben Fragen, wie sich Daten sichern und geteilt. Wie bei den Skulpturen und Malerei- auf neue Systeme konvertieren lassen, stehen en steinzeitlicher Höhlen erzählen auch wir wir auch vor dem Problem, dass sich digitale wieder zusätzlich in Bildern, binden Grafik, darstellende Künste und Film ein. Wir spie- ❙6 Vgl. Ben Vershbow, Expressive processing: an ex- periment in blog-based peer review, 22. 1. 2008, on- ❙7 In der Höhle von Lascaux, Frankreich, wurden ei- line: www.futureofthebook.org/blog/archives/​2008/​ nige der ältesten Höhlenmalereien der Menschheits- 01/expressive_processing_an_exper.html (7. 9. 2012). geschichte entdeckt (Anm. d. Red.).

APuZ 41–42/2012 7 len Theater, werden zu Dramaturgen. Wie Michael Roesler-Graichen einst die Schamanen überschreiten wir eine Grenze zwischen realem und fiktivem Raum, zwischen unserer realen Persönlichkeit als Digitales Publi- Autoren und unserer Selbstinszenierung im Internet und bei Auftritten. Wir laden Ge- genstände im Sinne unserer Geschichten auf, zieren: Stand und lassen andere mitspielen, kommentieren, wei- tergeben. Unsere Rituale in den social me- dia wirken archaisch: Wir teilen keine Beu- Perspektiven te, aber Bilder, wir trommeln uns nicht mehr an die Brust, klappern aber laut mit Eigen- icht mehr nur eine Minderheit der werbung. Wir lösen Emotionen nicht mehr NDeutschen interessiert sich für das elek- nur mit Fiktionen aus, sondern mit unserer tronische Buch; dies kann man – zumin- gesamten Kommunikation rund ums Buch. dest in Großstädten – Fiktion und Realität lassen sich nicht mehr schon im Alltag er- Michael Roesler-Graichen wirklich voneinander trennen, sie haben sich kennen. Während ein Dr. phil., geb. 1958; Lite­ ineinander verflochten – in dem Moment, in elektronisches Lese- raturwissenschaftler und dem fiktive Romanfiguren bei Facebook zu gerät, ein sogenann- Journalist; Redakteur beim Ansprechpartnern werden oder Verlage Au- ter E-Reader, vor ei- „Börsenblatt. Wochenmaga­ toren und Übersetzerinnen erfinden. Zwi- nem Jahr noch ein zin für den deutschen Buch­ schen Fiktion und virtueller Inszenierung vergleichsweise selte- handel“, ­Braubachstraße 16, entstehen Traumpfade wie von Ureinwoh- ner Anblick war, hat 60311 ­Frankfurt am Main. nern – gespeist aus dem Buch. er heute in öffentli- m.roesler-graichen@ chen Verkehrsmit­teln, mvb-online.de Etwas hat sich allerdings grundlegend ge- auf Bahnhöfen und ändert: Beim herkömmlichen Bücherschrei- Flughäfen eine gewisse Selbstverständlich- ben sind die storyteller noch Schöpfergott- keit erlangt – neben Smartphones, Handys heiten in einem elfenbeinernen Olymp, die und MP3-Playern. Die Verbreitung der Lese- allmächtig Menschen in ihre Fantasiewelten geräte hat, vor allem seitdem die Markttreiber hineinsaugen. Die storyteller von heute stei- Amazon und Apple auch in Deutschland ihre gen vom Olymp herab, um gemeinsam mit Reader und Tablets verkaufen, stark zuge- den Sterblichen am Lagerfeuer Geschichten nommen. Nach Angaben des Hightech-Ver- zu ersinnen und zu erleben. Wenn wir ein und bandes Bitkom werden in diesem Jahr voraus­ dieselbe Geschichte lesen, hören, sehen, spie- sichtlich 2,2 Millionen Tablets in Deutsch- len, träumen und erleben wollen, dann ist das land verkauft. eine Herausforderung so groß wie das Phä- nomen von Lascaux. In Lascaux wurde Blei- bendes geschaffen, weil die darin erzählten Deutscher E-Book-Markt Geschichten und die künstlerische Leistung des Erzählens den Menschen über Zeiten hin- Das E-Book ist entsprechend längst im deut- weg etwas zu sagen haben, weil sie Menschen schen Buchmarkt angekommen. Für 2011 er- tief in ihrem Inneren berühren. Diese Essenz mittelte die Gesellschaft für Konsum- und wird auch in Zukunft ausmachen, was vom Absatzforschung (GfK) im Auftrag des Bör- „Buch“ in jedweder Form bleiben könnte. senvereins einen Marktanteil von elektro- Wohin sich das Buch entwickeln wird, hängt nischen Büchern im Publikumsmarkt (Ein- also in starkem Maße davon ab, wie eine Ge- zelkäufer) in Höhe von einem Prozent. ❙1 sellschaft die Kreativen und Künstler achtet, Branchenbeobachter rechnen für das Gesamt- behandelt und fördert. Und es hängt davon jahr 2012 mit einem wesentlich höheren Pro- ab, wie frei, ungehindert und einfach das Er- zentsatz: Die Schätzungen schwanken zwi- zählen bleiben wird. schen 1,5 und fünf Prozent. Für das erste Halbjahr 2012 hat das Baden-Badener Markt- forschungsinstitut Media Control für E-Books einen Buchmarktanteil von zwei Prozent er- mittelt. In den ersten sechs Monaten des Jah- res seien rund 4,59 Millionen kostenpflichtige

8 APuZ 41–42/2012 E-Books heruntergeladen worden. Der durch- gefähr jedes elfte Buch in digitaler Form ver- schnittliche E-Book-Preis sei von 9,56 Euro im kauft. Und ein mittelständischer Filialist wie Jahr 2011 auf 8,64 Euro 2012 gesunken. ❙2 Osiander verdient immerhin monatlich hohe vierstellige Eurobeträge mit E-Books. Von den bisherigen Studien nicht erfasst ist das Großkundengeschäft im Fachinforma- Spitzenreiter im Markt für E-Books dürf- tions- und Wissenschaftsbereich. Hier wird te allerdings nach Brancheninforma­tionen bereits seit Jahren ein großer Teil der Zeit- Amazon sein. Der deutsche Ableger des US- schriften und Bücher elektronisch vertrieben. Internetkonzerns verkauft wenige Monate Kunden sind vor allem Bibliotheken, For- nach der Eröffnung des deutschen Kindle- schungsinstitute, Großkanzleien und Unter- Shops etwa jedes zweite E-Book in Deutsch- nehmen, etwa in der pharmazeutischen und land. Grund für den Erfolg ist, wie in den der metallverarbeitenden Industrie. Verla- USA, dass Amazon einerseits über attrak- ge wie Springer Science + Business Media, tive Lesegeräte verfügt (den Kindle gibt es De Gruyter, Wolters Kluwer oder Wiley- jetzt in der fünften Generation), andererseits VCH setzen 50 Prozent und mehr ihrer Ti- über das größte Angebot an E-Books. Die ge- tel als E-Books um. In wenigen Jahren wird wünschten Titel lassen sich zudem mit weni- dort das elektronische Buch das bevorzug- gen Mausklicks herunterladen, bei Geräten te Ausgabeformat sein, gedruckte Versionen mit UMTS-Schnittstelle auch mobil aus dem werden dann nur noch auf Verlangen (on de- Netz. Die Kunden können allerdings, und mand) produziert und ausgeliefert. Die Per- das ist der dritte Erfolgsfaktor, nur E-Books spektiven im E-Book-Markt sind für die im MOBI-Format lesen. E-Books von ande- Sparten recht unterschiedlich: Während vor ren Anbietern, die in der Regel als PDF oder allem Verlage und der Zwischenbuchhandel als sogenanntes EPUB angeboten werden, von der Entwicklung profitieren, verläuft die sind hingegen auf dem Kindle nicht zu lesen. Entwicklung im Buchhandel uneinheitlich. Mit Hilfe einer von Amazon entwickelten Da E-Books in der Regel über das Internet App können Kindle-E-Books auch auf ande- erworben werden, hat der Online-Buchhan- ren Geräten verfügbar gemacht werden. del hier deutlich die Nase vorn. Dort liegt der Anteil verkaufter E-Books in vielen Fällen bei Die Marktentwicklung in Deutschland zehn und mehr Prozent, beispielsweise bei hängt auch vom E-Book-Angebot der Verla- den Webshops von Weltbild und ­Hugen­dubel. ge ab. 2011 hatte erst die Hälfte aller Verlage E-Books im Programm, dieser Anteil wird in Wesentlich niedriger ist der Prozentsatz den kommenden Jahren laut der E-Book-Stu- verkaufter E-Books im stationären Sorti- die des Börsenvereins deutlich steigen – auf ment, zumindest wenn man den gesamten mehr als 85 Prozent. ❙3 Der Anteil der Novi- Buchumsatz zugrunde legt. Viele Buchhänd- täten, die parallel als E-Book erscheinen, lag ler verkaufen nur in geringer Zahl E-Reader bei den Verlagen, die E-Books anbieten, 2011 und hoffen, anschließend vom Erwerb der bei 42 Prozent; der Anteil der digitalisierten E-Books zu profitieren. Das ist meist dann Backlist-Titel erreichte 30 Prozent. Rechnet der Fall, wenn auf dem verkauften Lesegerät man diese Anteile auf alle Verlage hoch, er- der Webshop des Händlers oder eines Barsor- schien 2011 also nur jedes fünfte Buch gleich- timents integriert ist. Stationäre Buchhänd- zeitig als E-Book. 2012 wird sich die Situati- ler, die im Sinne der Multichannel-Strategie on deutlich verbessern, zumal auch eine große auch das Internet für den Verkauf nutzen, Zahl mittlerer und kleinerer Verlage ins digita- machen zunehmend positive Erfahrungen. le Buchgeschäft eingestiegen ist oder noch ein- So wird beispielsweise über den Online-Shop steigt – beispielsweise der Reclam Verlag, der der Pustet-Buchhandlungen inzwischen un- eine wachsende Zahl an Titeln aus seiner Uni- versalbibliothek als E-Book h­ erausbringt. ❙1 Vgl. Armin Oldendorf/Bianca Corcoran-Schlie- mann/Julia Hofmann (Hrsg.), Markt mit Perspekti- Die im Handel angebotenen digitalen Ti- ven. Das E-Book in Deutschland 2011, Frankfurt/M. tel repräsentieren inzwischen in wesentli- 2012. chen Teilen die Print-Programme der Verla- ❙2 Vgl. Media Control, Pressemitteilung vom 11. 9. ​ 2012, online: http://www.media-control.de/deutscher- e-book-markt-mit-grossen-zuwaechsen.html ​ (12. 9. ❙3 Vgl. A. Oldendorf/B. Corcoran-Schliemann/J. Hof­ 2012). mann (Anm. 1).

APuZ 41–42/2012 9 ge. Vor allem Spitzentitel aus der Belletristik, für 2012. ❙6 In Japan könnte sich dieser Anteil dem Sachbuch und dem Ratgeberbereich sind verdoppeln, in Großbritannien und anderen in der Regel gleichzeitig – oder manchmal so- europäischen Staaten hingegen wird der Aus- gar vor der gedruckten Version – als E-Book gabenanstieg – und damit das Umsatzwachs- erhältlich. Das Marktforschungsinstitut Me- tum – vermutlich erheblich flacher sein. dia Control GfK international erstellt daher E-Book-Bestsellerlisten für Belletristik und In den USA – dem Land, das den Takt der Sachbuch, ❙4 die dem Handel und den Verlagen E-Book-Entwicklung maßgeblich vorgibt, inzwischen als Orientierung dienen können. und in dem die großen Player Amazon, ­Apple und Google ihren Hauptsitz haben – hat sich Auch auf Handelsseite wird das Engage- das Wachstum bei E-Books rasant beschleu- ment bei E-Books künftig verstärkt. Der 2011 nigt. Nach Angaben der amerikanischen Ver- im stationären Sortimentsbuchhandel erziel- legervereinigung AAP und der Book Industry te Umsatzanteil lag zwar bei nur 0,5 Prozent, Study Group (BISG) wurden 2011 im Buch- könnte aber, wie die oben genannten Beispiele markt mehr als zwei Milliarden Dollar (rund zeigen, in diesem Jahr deutlich höher liegen. 1,6 Milliarden Euro) mit E-Books umge- Die in der E-Book-Studie des Börsenvereins setzt – 2010 waren es erst 869 Millionen Dol- befragten Sortimenter rechnen mit einem An- lar. ❙7 Der Absatz nach Stückzahlen schnellte teil am Gesamtumsatz in Höhe von 1,2 Pro- um 210 Prozent nach oben: auf 388 Millio- zent. Unterdessen steigt auch der Anteil der nen E-Books. Im Schnitt hat im vergangenen Buchhändler, die E-Books oder E-Reader ver- Jahr also mehr als jeder zweite US-Bürger kaufen. Waren dies im Jahr 2011 nur 32 Pro- ein E-Book gekauft. Der Marktanteil von zent, beträgt der Anteil 2012 bereits 65 Pro- E-Books am gesamten Buchhandel lag 2011 zent. Von den verbleibenden 35 Prozent, die bei 15 Prozent (2010: sechs Prozent). In die- bisher weder E-Reader noch E-Books anbie- sem und in den kommenden Jahren wird sich ten, will zumindest jeder fünfte künftig auch die Steigerungsrate aller Voraussicht nach ab- E-Books offerieren. Bei etwa 20 Prozent der schwächen. Aktuelle Ergebnisse der vergan- Buchhandlungen wird es auch in Zukunft kei- genen Monate zeigen, dass der E-Book-Um- ne E-Books geben, einige Sortimenter haben satz nicht mehr exponentiell wächst, sondern sich allerdings noch nicht festgelegt. in zweistelligen Prozentschritten (etwa zwi- schen 40 und 60 Prozent) zulegt. Das Wachstumspotenzial des E-Book- Markts wird von Buchhändlern und Verle- Für 2012 erwartet die amerikanische Buch- gern sehr unterschiedlich eingeschätzt: Wäh- branche einen Anstieg des E-Books-Markt- rend die in der E-Book-Studie befragten anteils auf 20 bis 25 Prozent, in den Jahren da- Verleger damit rechnen, 2015 etwa 17 Pro- rauf dürfte die Wachstumskurve dann flacher zent ihres Gesamtumsatzes mit elektroni- werden – ein Indiz für eine gewisse Markt- schen Büchern zu machen, erwarten die Sor- sättigung und für die Tatsache, dass gedruck- timentsbuchhändler nur etwa 3,5 Prozent. ❙5 te Bücher nicht komplett durch elektronische Ausgaben ersetzt werden. Vor allem Hardco- ver und Softcover mit Klappenbroschur wer- Internationaler Markt den künftig von den Kunden nachgefragt, während der Anteil der sogenannten mass Die Marktentwicklung in Deutschland ver- market paperbacks – Taschenbücher mit einer läuft deutlich verhaltener als etwa im „Leit- weichen Kartondecke und geringwertigem markt“ USA oder in Japan. So sollen sich Papier – stark zurückgehen wird. die Ausgaben für E-Books im US-Markt von 2011 bis 2016 verfünffachen, prognosti- ❙6 Vgl. PricewaterhouseCoopers (Hrsg.), Global En- ziert das Beratungsunternehmen Pricewater- tertainment and Media Outlook: 2012–2016, Juni houseCoopers in seinem aktuellen Ausblick 2012; Pressemitteilung vom 12. 7. 2012, online: www. „Global Entertainment and Media Outlook“ pwc.de/de/pressemitteilungen/​2012/alles-digital-im- mer-online-medienumsatz-steigt.jhtml (10. 9. 2012). ❙7 Vgl. AAP/BISG (eds.), BookStats 2012. An annual ❙4 Vgl. online: www.boersenblatt.net/template/bb_ comprehensive study of the U. S. publishing industry, tpl_bestseller_ebook/ (11. 9. 2012). New York 2012; Pressemitteilung vom 18. 7. 2012, on- ❙5 Vgl. A. Oldendorf/B. Corcoran-Schlie­mann/​J. Hof­ line: http://bookstats.org/bookstats-2012.php (10. 9. ​ mann (Anm. 1) 2012).

10 APuZ 41–42/2012 Interessant ist das Lese- und Kaufverhalten, ein bis zwei Jahre früher als europäische das die BISG bei US-Verbrauchern im Rahmen Marktteilnehmer in das Geschäft mit elek- ihrer auf mehrere Jahre angelegten Untersu- tronischen Büchern eingestiegen. chung „Consumer Attitudes Toward E-Book • Die schnelle Verbreitung von Lesegeräten Reading“ festgestellt hat: ❙8 Demnach führt die – begünstigt durch die löchrige Buchhan- digitale Migration von Lesern, die bisher ge- delsinfrastruktur in den USA – sowie das druckte Bücher bevorzugt haben, zu einem ge- von vornherein große Angebot an digita- mischten Kauf- und Nutzungsverhalten. An- len Titeln hat in kurzer Zeit zu erheblichen ders als die early adopters, die sich in einer sehr Absätzen und Umsätzen geführt. frühen Marktphase (und häufig ohne traditio- nellen Buchhintergrund) ein Lesegerät zuge- • Die gesetzliche Preisbindung in Deutsch- legt und elektronische Bücher gelesen haben, land, die auch für E-Books gilt, hat einer- machen es viele Konsumenten vom Inhalt eines seits den Preisverfall verhindert, anderer- Buches oder der gewünschten Nutzungssitua- seits aber auch das Wachstum im Vergleich tion abhängig, ob sie ein Buch in digitaler oder zu den USA verlangsamt. gedruckter Form kaufen. Das E-Book ist dann • Der Anteil der Novitäten, die gleichzeitig ein Inhaltsformat, das sie neben dem gedruck- als E-Book erscheinen, ist in Deutschland ten Buch oder auch dem Hörbuch verwenden. immer noch erheblich niedriger. Ebenso wenig wie das gedruckte Buch voll- ständig durch das E-Book substituiert wird, findet also bei den Verbrauchern eine unum- kehrbare „Konversion“ zum E-Book statt. Streit um das Agentur-Modell

Auch im weltweiten Maßstab wird das Das immense Wachstum des E-Book-Markts E-Book an Bedeutung zunehmen. Vor allem geht, zumindest in der Anfangsphase, vor al- China, aber auch die anderen Wirtschafts- lem auf das Konto von Amazon, das mit sei- mächte von morgen – Brasilien, ­Indien, Süd- nem im November 2007 präsentierten Kindle korea – stellen ihre Buchproduktion zu- das erste massentaugliche Lesegerät auf den nehmend auf digitale Publikationen um. Markt brachte, das zudem eine große Zahl an PricewaterhouseCoopers rechnet in seinem elektronischen Buchtiteln verfügbar machte. Ausblick damit, dass im Jahr 2016 E-Books Amazon verfolgte beim Verkauf seiner Bü- bereits 18 Prozent des Gesamtumsatzes im cher allerdings eine Niedrigpreispolitik, die globalen Buchmarkt ausmachen; 2011 waren den Verlagen zunehmend missfiel, weil sie es weltweit fünf Prozent. Einen guten Über- das Preisgefüge im Buchmarkt vollkommen blick über die weltweite Marktentwicklung durcheinander zu bringen drohte. Spitzen­ gibt der Report „The Global eBook Market: titel, die auf der Bestsellerliste der „New Current Conditions & Future Projections“. ❙9 York Times“ standen, waren bei Amazon als E-Book zu einem Preis erhältlich, der den Das hohe Tempo der Digitalisierung in den Hardcoverpreis um mehr als 50 Prozent un- USA im Vergleich zu Deutschland (und Eu- terbot (9,99 US-Dollar, etwa 8 Euro). ropa) und die unterschiedlichen Marktent- wicklungen haben mehrere Gründe: Als im April 2010 das erste iPad von Apple auf den Markt kam und zugleich der iBook­ • US-amerikanische Verlage und vor allem store gestartet wurde, ergriffen mehrere gro- Online-Händler wie Amazon sind etwa ße Verlagsgruppen die Chance, mit Apple so- genannte Agency-Verträge abzuschließen. Bei diesem Modell (agency model) tritt Apple nicht ❙8 Vgl. BISG (ed.), Consumer Attitudes Toward E-Book Reading, Volume 3, Report 3 of 4 July 2012; Pressemit- als Händler auf, sondern als Verkäufer im Auf- teilung vom 31. 7. 2012, online: www.bisg.org/​news- trag der Verlage. Den Endverkaufspreis für die 5-779-press-releasee-book-consumers-diversifying- über den iBook­store vertriebenen Bücher le- their-format-preferences-says-new-bisg-study.php gen dabei die Verlage fest – in einem Spektrum (10. 9. 2012). von 12,99 bis 14,99 Dollar, also deutlich höher ❙9 Vgl. Rüdiger Wischenbart, The Global eBook als in Amazons . Market: Current Conditions & Future Projections 2011, online: www.publishersweekly.com/binary- data/ARTICLE_ATTACHMENT/file/​000/​000/​ Amazon büßte zwar in der Folge einige 522-1.pdf (10. 9. 2012). Marktanteile ein (von ehemals 90 Prozent

APuZ 41–42/2012 11 sank der Anteil auf rund 65 Prozent), die des Buchmarkts eine dominante Position zu durch die Agency-Verträge erzielte De-fac- erobern. Neben den zahlreichen Services, to-Preisbindung für E-Books rief allerdings die das Unternehmen bereits bietet, etwa die die amerikanischen Kartellwächter auf den Self-publishing-Plattform Kindle Direct Pu- Plan, die darin einen Verstoß gegen das Wett- blishing, ist Amazon inzwischen mit Ama- bewerbsrecht witterten, zumal der US-Buch- zon Publishing ins Verlagsgeschäft eingestie- markt im Gegensatz zum deutschen Markt gen. Unter der Leitung von Larry Kirshbaum keine (gesetzliche) Preisbindung kennt. soll ein Programm entstehen, das vor allem mit Bestseller-Autoren glänzen soll. Eini- Im April 2012 reichte die Antitrust Divisi- ge Stars im US-Buchgeschäft wurden bereits on des Department of Justice eine Klage ge- abgeworben, die ersten Titel werden dem- gen Apple und fünf große Verlagsgruppen nächst auf den Markt kommen. Und wenn es in den USA ein. Für drei Verlage (Hachette nach Amazon geht, sollten diese Titel auch Book Group, HarperCollins, Simon & Schus- im stationären Buchhandel, dessen Marktan- ter) endete das Verfahren vorzeitig durch ei- teile es durch seine Online-Aktivitäten zu- nen Vergleich (settlement), den das zuständi- nehmend auffrisst, vertrieben werden. Das ge Gericht Anfang September 2012 gebilligt Signal der unabhängigen Buchhändler und hat. Apple sowie die beiden Verlagsgruppen großer Wettbewerber wie Barnes & Noble ist Penguin und Macmillan (die dem deutschen allerdings eindeutig: Keine Amazon-Bücher Holtzbrinck-Konzern gehört) warten dage- in unseren Regalen. gen den Prozess ab. Die Aktivitäten Amazons lösen deshalb Der Vergleich sieht unter anderem vor, dass in den USA – und möglicherweise bald auch die betroffenen Verlage innerhalb einer Wo- in Deutschland – Beunruhigung aus, weil che ihre Agency-Verträge mit Apple beenden sie nicht nur auf die Kontrolle bestimmter müssen. Zudem müssen alle Verträge mit an- Marktsegmente zielen, sondern auch darauf, deren Händlern aufgelöst werden, die eine ein geschlossenes Buch-Ökosystem zu schaf- sogenannte Meistbegünstigungsklausel ent- fen, das vom Autor über den Verlag über das halten und den Händler dazu verpflichten, Buch bis zum Vertrieb (als physisches oder E-Books nicht günstiger als die Mitbewerber elektronisches Buch) keine Partner mehr anzubieten. In den kommenden fünf Jahren, braucht. Beobachter in den USA sprechen da- so das Gericht weiter, dürfen außerdem kei- her in Bezug auf Amazon von der „book in- ne entsprechenden Neuverträge abgeschlos- dustry in the box“. sen werden. Branchenbeobachter wie Mike Shatzkin (Gründer und Geschäftsführer von The Idea Logical Company) rechnen nun da- Frage der Endgeräte mit, dass eine neue Runde im E-Book-Preis- kampf eingeläutet wird. „Ich denke, dass Für die Entwicklung des digitalen Publizie- jeder, der im E-Book-Markt mit Amazon rens in den kommenden Jahren ist die Frage konkurriert, sich besser anschnallen sollte“, entscheidend, auf welchen Geräten die Kun- sagte Shatzkin der „New York Times“. ❙10 den lesen: Werden es überwiegend klassische E-Reader sein, die zumeist eine Technolo- gie auf der Basis digitaler Tinte (zum Beispiel Amazon – the „book industry E-Ink) einsetzen, oder werden sich Tablets wie in the box“ das iPad oder der Kindle Fire durchsetzen?

Amazon ist nicht nur im E-Book-Geschäft Die GfK hat zwar in einer Gerätestudie eine Hegemonialmacht, sondern verfolgt für das erste Halbjahr 2012 in Westeuropa auch den Kurs, in allen anderen Bereichen einen stärkeren Anstieg der Umsätze bei Ta- blets gegenüber E-Readern gemessen (plus 142 Prozent gegenüber plus 93,3 Prozent) ❙11 – 10 ❙ Zit. nach: Jolie Bosman, Judge Approves E-Book daraus den Schluss zu ziehen, E-Reader wür- Pricing Settlement Between Government and Pub- lishers, 6. 9. 2012, online: http://mediadecoder.blogs. nytimes.com/​2012/​09/​06/judge-approves-e-book- ❙11 Vgl. Gfk, Pressemitteilung vom 30. 8. 2012, on- pricing-settlement-between-government-and-pub- line: www.gfk.com/group/press_information/press_ lishers/ (12. 9. 2012). releases/​010230/index.de.html (12. 9. 2012).

12 APuZ 41–42/2012 den künftig beim elektronischen Lesen eine kömmlichen E-Readern dargestellt werden, geringere Rolle spielen, wäre aber verfehlt. weil diese nur über ein Graustufen-Display Denn Tablet-Käufer sind nicht immer an den verfügen und wegen ihrer zu geringen Ka- Lesefunktionen und am Zugang zu E-Book- pazität für die Wiedergabe von Animationen Shops interessiert. Im Gegensatz dazu steht oder Videos ungeeignet sind. Die entspre- bei Käufern von E-Readern der Kauf und das chenden Titel sind daher meist für das iPad Lesen von E-Books im Vordergrund. E-Rea- optimiert, auch Android-Versionen sind teil- der sind vor allem für Vielleser das Gerät der weise verfügbar. Wahl, während Gelegenheitsleser häufig auch das Tablet nutzen. Mehrere Publikumsverlage haben be- reits multimedial angereicherte E-Books im In Deutschland wird inzwischen eine gro- Programm: Rowohlt in der Reihe Digital- ße Zahl an Lesegeräten angeboten – in al- buch Plus, Kiepenheuer & Witsch mit der len Preisklassen von rund 60 bis mehr als Programmlinie Kiwi eBook Extra, Lübbe 500 Euro. Etwa 20 verschiedene E-Reader mit seinen digital novels, die in verschiede- gehören zu den meistgekauften Geräten – da- nen Versionen (auch als reines E-Book) an- runter der , der Sony Rea- geboten werden. Auch bei Random House der PRS-T2, die Reader von Pocketbook, das und Hoffmann und Campe (zum Beispiel Cybook Odyssey von Bookeen, der Liro Ink der historische Roman „Cagot“ von Tom von der MVB und der Kobo Glo Comfort- Knox) sind bereits angereicherte E-Books light vom kanadischen E-Book-Spezialisten im ­Programm. Kobo. ❙12 Ob sich enhanced E-Books auf Dauer Bei den multifunktionalen Tablets mit far- durchsetzen, ist allerdings fraglich. Sie kos- bigem LCD- oder TFT-Display dominiert ten in der Regel mehr als die einfache Version eindeutig Apple mit seiner iPad-Produktrei- und verführen den Leser dazu, die Lektüre zu he den Weltmarkt. Im zweiten Quartal 2012 unterbrechen, um sich beispielsweise ein Ex- lag der globale Marktanteil laut einer Studie perteninterview, eine Wochenschauaufnah- des Marktforschungsinstituts IHS ­iSuppli me von Albert Einstein oder animierte phy- bei rund 70 Prozent. ❙13 Weitere Geräte, die sikalische Experimente anzuschauen. Setzt nicht mit dem Apple-eigenen Betriebssystem man die Absätze angereicherter E-Books in iOS, sondern mit dem von Google entwickel- Relation zu den verkauften Downloads für ten Android arbeiten, sind unter anderen das konventionelle Bücher, dann sprechen die Samsung Galaxy, das Nexus 7 von Google, Zahlen eine eindeutige Sprache. So hat bei- das Tablet S von Sony sowie die seit Kurzem spielsweise Kiepenheuer & Witsch von al- auch in Deutschland erhältlichen Amazon- len seinen „Extra“-Titeln bisher rund 3000 Tablets Kindle Fire und Kindle Fire HD. Downloads verkauft, während einzelne Spit- zentitel aus dem Belletristik- oder Sachbuch- programm fünfstellige Downloads erzielen – Enhanced E-Books und Apps also das Hundertfache.

Auf welchem Endgerät gelesen wird, ist dann Die App, die mittlerweile von zahlreichen nicht gleichgültig, wenn es sich um Bücher mit Verlagen in großer Zahl produziert wird, er- farbigen Illustrationen, Fotos, multimedialen freut sich inzwischen größerer Beliebtheit als Anreicherungen (Podcasts, Videos und Ähn- das enhanced E-Book, das in gewisser Weise lichem) sowie interaktiven Funktionen han- ein Hybrid zwischen einem Buch und einer delt – sogenannten enhanced E-Books (auch multimedialen Umgebung ist, wie man sie enriched E-Books). Sie können nicht auf her- früher beispielsweise von CD-ROMs kannte. Bei der App hat der Kunde auch eine andere ❙12 Eine Übersicht über aktuelle Lesegeräte ist zu fin- Erwartung: Er wünscht nicht das klassische den unter www.boersenblatt.net/549138 sowie auf Leseerlebnis, sondern will die unterschiedli- den Webseiten www.cme.at und www.lesen.net (24. 9. ​ chen Funktionen nutzen, um sich beispiels- 2012). weise ein Kochrezept per Video erklären und ❙13 Vgl. Top 5 makers of tablets, led by Apple, 6. 9. 2012, online: www.cbsnews.com/​8301-505250_​ anschließend die Mengenangaben in der Zu- 162-57507761/top-5-makers-of-tablets-led-by-apple- tatenliste auf die gewünschte Personenzahl amazon-3rd/ (12. 9. 2012). herunterzurechnen. Die lineare Erzählstruk-

APuZ 41–42/2012 13 tur eines Buches wird dabei aufgebrochen Lektoren-Team oder auch der Autoren-Com- und der Inhalt auf vielfältige, multimedial er- munity bewertet. In einem Voting-Verfahren weiterte Anwendungen verteilt. werden dann die Texte ausgewählt, die als E-Book verlegt werden sollen. Beispiele für Nicht nur bei Kochbüchern, Gesundheits- diese internetbasierte Verlagsarbeit sind die ratgebern oder Reiseführern bietet sich die Plattformen Epidu und Neobooks (Droemer Produktion von Apps an, sondern auch bei Knaur). Kinderbüchern, die beispielsweise um Spiele, Quizfunktionen oder eingespielte Begriffser- Auch wenn self publishing von E-Books klärungen erweitert werden können. Ein ak- den Weg in die Öffentlichkeit erleichtern tuelles Beispiel ist die Hotzenplotz-App aus kann – eine Erfolgsgarantie ist es nicht. Nur dem Thienemann Verlag, die aus animier- wenigen Autoren wie etwa Amanda Ho- ten Buchszenen (eingesprochen von Armin cking oder E. L. James („Shades of Grey“) ­Rohde) und acht kleinen Spielen besteht. Ver- ist so der große Durchbruch gelungen. Und trieben werden die Apps meistens über den ist dieser Punkt einmal erreicht, unterschrei- App Store von Apple, doch mit der Einfüh- ben die meisten dieser erfolgreichen self pu- rung der Kindle-Tablets von Amazon und blisher einen Vertrag mit einem klassischen der zeitgleichen Eröffnung des Amazon App- ­Verlagshaus. Shops werden die Anbieter dazu übergehen, ihre Apps auch den Nutzern der Kindle-Fire- Tablets zugänglich zu machen. E-First, E-Only und reine E-Book-Verlage Eine speziell für den Lesenachwuchs kon- zipierte Vertriebsplattform, die im Herbst Verkürzte Produktionszeiten bei E-Books 2011 erstmals von den Initiatoren Oetinger haben im klassischen Verlagsgeschäft bereits und Tigerfish Media vorgestellt wurde, ist dazu geführt, dass Spitzentitel wie „Shades der digitale Kinderbuchladen Tigerbooks. Es of Grey“ (Goldmann) bereits Tage vor der handelt sich dabei um eine Vertriebs-App für Auslieferung der gedruckten Buch­exem­plare elektronische Kinder- und Jugendbücher, die als E-Book verfügbar sind. Auch andere Ver- kostenlos im App Store von Apple herunter- lage bringen bestsellerverdächtige Titel gern geladen werden kann und über die Kinder ge- vorab als E-Book in den Handel. Inzwischen zielt nach klassischen und interaktiven Titeln publizieren einige Verlage, unter ihnen Droe­ stöbern können. Dabei werden ihnen Lese- mer Knaur, DuMont und Kiepenheuer & proben, Audiovorschauen oder auch vorgele- Witsch bestimmte Titel exklusiv als E-Book – sene Szenen geboten. so etwa in der Reihe Kiwi ebook extra Nick Hornbys Fußballbuch „Pray. Meine Premier- League-Saison 2011/12“. Neue Möglichkeiten des Verlegens Die Verlagsszene wird aber auch von Mit der digitalen Publikation von Inhalten ­neuen, reinen E-Book-Unternehmen berei- verändern sich nicht nur die Formate, son- chert. So gründet beispielsweise das Ham- dern auch die Verfahren. Das Internet ermög- burger Medienhaus Edel unter dem Namen licht einer wachsenden Zahl von Autoren, Edel Ebooks einen ausschließlich digitalen Texte ohne die Unterstützung eines klassi- Buchverlag. Weitere Digitalverlage, die gera- schen Verlags zu veröffentlichen. In den USA de ihren Betrieb aufgenommen haben oder in erscheinen jährlich inzwischen ungefähr Kürze an den Start gehen, sind Frohmann in zehn Mal so viele E-Books im self publishing Berlin (eine Neugründung von Eriginals Ber- wie in den klassischen Verlagen. Für deutsche lin), Sobooks von Sascha Lobo und Chris- Selbstverleger bieten sich ebenfalls eine Rei- toph Kappes, Dotbooks von Beate Kuckertz he von Plattformen an, beispielsweise Epubli, und E-lectra in Wiesbaden. Die neuen Digi- Bookrix oder Kindle Direct Publishing. talverlage versuchen, auch im rein digitalen Publizieren die „klassischen“ Verlagstugen- Daneben gibt es eine Reihe von Verlagen, den zu bewahren. Dazu gehören unbedingt die das Internet selbst als Medium zur Aus- Qualitätskontrolle und der Anspruch, auch wahl von Manuskripten nutzen. Dabei wer- ästhetisch anspruchsvolle Publikationen he- den Texte online eingereicht und von einem rauszubringen – mit dem Unterschied, dass

14 APuZ 41–42/2012 diese im Internet teilweise anderen Gesetzen Jeff Gomez gehorchen müssen, etwa bei der Covergestal- tung. Besonderes Augenmerk wird auch der Innengestaltung, dem Layout und der Ty- Die erzählerische pografie gewidmet werden müssen, denn es müssen E-Books entstehen, die auf allen be- kannten Lesegeräten „funktionieren“ – vom Singularität:­ einfachsten E-Reader bis zum iPad 3 mit Re- tina Display. Geschichten erzählen

Fazit: Die neue Welt des Verlegens im digitalen Zeitalter

Digitalisierung, E-Book, E-Reader und die Essay Möglichkeiten des mobilen Internets schaf- fen eine vollkommen neue Umgebung für das Verlegen und den Vertrieb von Büchern, die ach meinen Begriffen war das musi- sich strukturell sehr stark von der klassischen Nkalische Genie der 1960er Jahre Pete Verlagspraxis unterscheidet. Die bekann- Towns­hend. Andere mögen, auf ihre Wei- ten Wertschöpfungsstufen im traditionellen se, die besseren Sän- Verlagsmodell – vom Autor über den Verlag ger, Songwriter, Mu- Jeff Gomez über den Zwischenbuchhandel und die Aus- siker oder Produzen- Geb. 1970; Roman- und lieferung zum Buchhändler – fallen entweder ten gewesen sein, aber Sachbuchautor; sein aktuelles weg oder werden verkürzt, an ihre Stelle tre- Towns­hend war der, Projekt „Beside Myself“ ist eine ten andere Verfahren der Manuskriptbewer- der alles konnte. Er interaktive Erzählung für das tung und -selektion, der digitalen Ausliefe- war ein Allroundge- iPad; 55 West 90th Street #2, rung und des Marketings (Online-Marketing nie: ein unglaubli- New York, NY 10024/USA. über Youtube, soziale Netzwerke wie Face- cher Performer und [email protected] book oder Twitter). Immer mehr Buchinte- ein kraftvoller Gitar- www.besidemyself.com ressenten, die elektronisch lesen, werden so rist; er konnte wun- direkt im Netz auf Neuerscheinungen auf- dervolle Songs schreiben und diese im Stu- merksam gemacht, können unmittelbar neue dio ­produzieren. Titel herunterladen und wenige Klicks später bereits lesen. Das Buch-Geschäft, oder bes- In den späten 1960er Jahren erlangte seine ser: E-Book-Business, wird damit auf eine Band The Who weltweiten Ruhm mit ihrer Weise beschleunigt, die im klassischen Ver- Rock­oper „Tommy“. Aber Townshend woll- lag und im stationären Sortimentsbuchhan- te sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. del nicht vorstellbar ist. Das nächste Projekt der Band, das ehrgeizige „Lifehouse“, war ein Science-Fiction-Spekta- Dennoch ist nicht damit zu rechnen, das kel, vor dem selbst die schon reichlich kom- in absehbarer Zeit alle Leser zu „E-Readern“ plizierte Story von „Tommy“ verblasste. Zu werden. Es wird, das zeigen auch die Er- dieser Zeit war es Townshends Anliegen, sein kenntnisse aus den USA, eine klassische und Publikum zu einem Teil seiner Musik wer- eine digitale Verlagswelt geben, die paral- den zu lassen. Neben der futuristischen Ge- lel existieren, sich aber in vielen Fällen auch schichte, in der es um die dystopische Vision überschneiden werden. Noch kann niemand einer Gesellschaft ging, in der Rock ’n’ Roll ernsthaft behaupten, dass in 50 Jahren nur nicht länger existiert, sollten einzelne Zu- noch digitale Bücher existieren. Die Retro- hörer in spezielle Outfits gesteckt werden, Bewegung bei Tonträgern – zurück von CD Lifesuits, die, der Geschichte nach, die Men- und MP3-Datei zum ­Vinyl – zeigt, dass nicht schen mit allem Nötigen versorgen sollten. jede Medienrevolution unumkehrbar ist. Am Ende, so der Plan, sollten sich sowohl die Band als auch ihre Fans in der Erfahrung ei- nes „universellen Akkords“ vereint finden.

Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Daniel ­Kiecol, Köln.

APuZ 41–42/2012 15 Es war starker Tobak, und das selbst für die gitalen Versionen von Büchern nichts weiter damalige Zeit. Und während Townshend da- als elektronische Faksimiles ihrer Vorgänger, rum kämpfte, alles am Laufen zu halten, ver- und die Teile eines Romans werden noch im- loren die anderen Bandmitglieder völlig den mer in den Begriffen ihrer physischen Gestalt Überblick. Niemand – wie es schien, auch er gedacht: Seite, Umschlag, Buch. selbst nicht – verstand, was in Petes Kopf vor- ging und wie das ganze Konzept umgesetzt Für seinen klassischen Roman „Fahrenheit werden sollte. 451“ erdachte Ray Bradbury eine landesweit ausgestrahlte Seifenoper, die von der Frau des Eine der größten Hürden dabei stellte die Protagonisten auf einem riesigen, eine gan- Technik dar. Ständig sah Townshend sich von ze Wand ihres Appartements einnehmen- den technischen Begrenzungen jener Zeit den Bildschirm gesehen wurde. Doch dieser ausgebremst. Der Klang und die Bilder, die er war zugleich eine Art durchlässiger Einweg- im Kopf hatte, waren damals technisch ein- spiegel; genau wie in George Orwells „1984“ fach nicht zu realisieren. Nachdem sie mona- sah man nicht nur in den Bildschirm, sondern telang um das Projekt gekämpft hatten, ga- der Bildschirm schaute zurück. In „Fahren- ben Townshend und die Band schließlich auf. heit 451“ wurden normale Bürger willkürlich Anstatt „Lifehouse“ fertigzustellen, wurden aus der Menge gegriffen, und man gab ihnen lediglich einige der vorgesehenen Songs ein- ein paar Sätze zu sprechen. So wurden sie, für gespielt und zusammen mit einigen anderen kurze Zeit, zu Stars in der Show. Das war eine Tracks, die nichts mit dem Projekt zu tun großartige Idee, aber selbst heute, 60 Jahre hatten, in ihr nächstes Album integriert, das später, ist es nur Fantasie. In einem digitalen „Who’s Next“ betitelt wurde. Roman aber ließe sich etwas ganz Ähnliches machen. Wenn der Leser einer literarischen Nahezu ein Jahrzehnt später, auf der 1978 App Zugangsrecht zu seinem Facebook-Kon- erschienenen Platte „Who are you“, fand sich to einräumte, könnte ihm eine auf ihn zuge- Townshends Song „Music Must Change“. schnittene Story angeboten werden, in die sei- Die erste Zeile des Songtextes könnte gut als ne Frau, seine Freunde, sein Arbeitsplatz und Kommentar zu „Lifehouse“ gesehen werden, seine nähere Wohnumgebung verwoben wä- der Vision, die er niemals imstande war, aus- ren. (Und das personalisiert bis hin zum Wet- zudrücken oder umzusetzen: „Deep in the ter: Die erste Zeile der Geschichte würde nur back of my mind is an unrealized sound.“ dann „Es war eine dunkle und stürmische Selbst Allroundgenies stoßen ab und zu an Nacht“ lauten, wenn es auch tatsächlich eine ihre Grenzen. solche war.) Eine Software könnte die Fotos des Lesers scannen, analysieren und auf die- ser Grundlage eine Beschreibung nicht nur Geschichten müssen sich ändern von ihm, sondern auch der ihm nahestehen- den Personen anfertigen, die im Text auftau- Heute sehen sich Autoren, im Unterschied zu chen würden. Der Leser würde im Wortsinne Townshend vor 40 Jahren, kaum noch tech- zum Star des Romans. nologischen Hindernissen gegenüber, die ihre Vorstellungskraft einschränken könnten. Mit Dabei ginge es nicht um die sogenannte unglaublich leistungsstarken und zugleich augmented reality, die erweiterte Realität; leichten Computern sowie Geräten, die über es wäre die Realität, zum Roman gemacht. hoch auflösende Bildschirme verfügen, mit Deine Realität. Die jahrhundertealte Tradi- atemberaubender Geschwindigkeit arbeiten tion des Realismus würde dem „Du-ismus“ und nicht nur Audiotracks, sondern auch Vi- weichen. Und warum auch nicht? Eine gan- deos in höchster Qualität abspielen können, ze Generation ist dabei, sich vom klassischen wären Autoren imstande, Geschichten zu er- Fernsehen zu verabschieden, denn schließ- zählen, welche die Kluft zwischen den unter- lich, wie es schon The Smiths sangen: „It says schiedlichen Kunstformen überbrücken und nothing to me about my life.“ Und wie könn- den Weg in Richtung einer neuen Leseerfah- te es auch? Es weiß ja nichts über dich. Wa- rung weisen könnten, in der alle Medien zu rum sollte man eine Fernsehsendung über das einem Zweck miteinander verschmelzen: um Leben eines anderen schauen, wenn das Stö- eine großartige Geschichte zu erzählen. Doch bern in Facebook doch erlaubt, sich zum Star dies geschieht nicht. Stattdessen sind die di- seiner eigenen Lebensgeschichte zu machen

16 APuZ 41–42/2012 (mit den Freunden als Nebendarstellern und le des Romans lesen wollen, sie können dem dem Internet als Ort)? Erzählstrang eines einzelnen Erzählers eben- so folgen wie alternativen Schlüssen, können Durch die gesamte Evolution der Sprache Charakteren (und auch mir) E-Mails direkt hindurch hat sich das geschriebene Wort ver- aus der Anwendung schicken oder können ändert und sich dabei allen neuen Formaten – da die gesamte Handlung des Romans zur angepasst, die erfunden wurden, um es zu gleichen Zeit abläuft – das iPad drehen und beherbergen. Tontafeln wichen Schriftrol- die drei Handlungsstränge parallel verfolgen. len, Schriftrollen wurden durch mit Holz- Doch so aufschlussreich und bahnbrechend deckeln zu Codices gebündelte Seiten er- mir all dies noch vor einigen Jahren erschien, setzt, und während dieses ganzen Prozesses als ich den Roman schrieb, so stelle ich heute, wurden immer wieder neue literarische For- nachdem ich die App weiterentwickelt habe, men geboren. Und nun, Jahrzehnte nachdem fest, wie viel mehr noch getan werden kann. tragbare Lesegeräte eingeführt wurden, sind Bildschirme noch immer bloß digitale Seiten. So wollte ich zum Beispiel eine Reihe von „Ostereiern“ in den Roman einbauen, einen Was wir brauchen, ist eine wirkliche erzähle- aus Videospielen bekannten Terminus, mit rische Singularität. ❙1 Zur Zeit sind Geschichten dem ein Inhalts- oder Handlungselement ge- auf Bildschirmen nichts weiter als genau das; meint ist, das im Spiel versteckt ist und vom wir haben ein flaches, rechteckiges Trägerme- Spieler eine bestimmte Aktion verlangt, um dium gegen ein anderes getauscht. Was ich mir es freizuschalten. Für „Beside Myself“ dachte für den Bildschirm wünsche, ist, dass er zum ich daran, den Lesern die Möglichkeit zu ge- Teil der Geschichte wird; und für die Techno- ben, durch die Drehung des „Covers“ der App logie und die Geschichte wünsche ich mir, dass in einer bestimmten Weise Zugang zu mei- sie miteinander verschmelzen. Townshend nem Tagebuch zu bekommen, das ich wäh- sang vor 30 Jahren, dass sich die Musik ändern rend des Schreibens der Geschichte führte; so müsse. Das Gleiche gilt für die Geschichten. würden sie meine Skizzen lesen können, die Beschreibungen der Charaktere, nicht ver- Ergreifen wir die Möglichkeiten wendetes Material und anderes mehr. der digitalen Ära Eine andere Idee war, in die App ein sozia- les Netzwerk zu integrieren, so dass man als In meinem 2007 veröffentlichten Buch „Print Leser die Möglichkeit hätte, in Echtzeit Kom- is Dead: Books in Our Digital Age“ drängte mentare mit anderen Lesern auszutauschen, ich Autoren, Leser und Verleger, sich den di- um derart eine Art weltweiten book club zu gitalen Inhalten zu öffnen und das Web als schaffen. Inspiration hierfür war die iPhone- Vertriebsmechanismus zu sehen und nicht als App Ocarina, mit der es möglich ist, Musik zu elektronische Nemesis. ❙2 In den folgenden Jah- erzeugen und die Grafik eines Globus so he- ren ist meine Begeisterung für digitale Innova- rumzuwirbeln, dass man sehen kann, wo auf tionen und für die Nutzung des Internets, um der Welt andere Menschen mit der App spie- Leser zu erreichen, nur noch mehr gewachsen. len und auch zu hören, was sie gerade spielen. Ich dachte auch darüber nach, Soundeffek- Mein neuestes Projekt „Beside Myself“ ist te ins Buch zu integrieren, und auch visuel- ein interaktiver Roman für das iPad, der sich le Elemente wie einen sich bei einer nächtli- durch mehrere Versionen eines Erzählers aus- chen Szene verdunkelnden Bildschirm. Man zeichnet, der in wechselnden Realitäten exis- könnte eine Story schreiben, deren Handlung tiert. ❙3 Die Leser können selbst bestimmen, sich über einen Abend hinzieht und bei der in welcher Reihenfolge sie die einzelnen Tei- sich der Bildschirm wie der Hintergrund in Hitchcocks „Cocktail für eine Leiche“ lang- ❙1 Mit der „erzählerischen Singularität“ wird auf die sam vom Tageslicht über die Dämmerung bis „technologische Singularität“ angespielt, eine The- zur nächtlichen Dunkelheit verändert. orie, die auf den Zeitpunkt verweist, an dem sich Technologien aus sich selbst heraus weiterentwickeln Letztlich verzichtete ich darauf, diese Opti- ­könnten. ❙2 Vgl. Jeff Gomez, Print is Dead: Books in Our Digi- onen weiterzuverfolgen, weil ich den Roman tal Age, New York 2007. dann doch mehr oder weniger als geradlini- ❙3 Vgl. online: www.besidemyself.com (12. 9.2012). ge Story konzipierte, innerhalb der die Nut-

APuZ 41–42/2012 17 zer aber die Ordnung einzelner Abschnitte dazugehörigen Fähigkeiten, die über das ganze nach ihren Wünschen ändern konnten. Mit Spektrum hinweg noch Mangelware sind: Nie- einer App lassen sich diese Übergänge nahe- mand weiß wirklich, was er tut. zu nahtlos bewerkstelligen, weshalb ich mit einem iPad-Entwickler arbeitete. Je tiefer ich Hinzu kommen so profan klingende Dinge aber in den Entwicklungsprozess einstieg, wie die Preisgestaltung, digitales Rechtema- desto deutlicher erkannte ich, wie unglaub- nagement, Rechtsfragen und Unsicherheiten lich groß das Potenzial ist, dass die Nutzung hinsichtlich der neuen Formate; all dies sorgt moderner Technologie für die Weiterentwick- für eine weitere Verschleppung der Entwick- lung des Geschichtenerzählens bietet. lung. Und doch denke ich, dass diese Pro- bleme durchaus zu bewältigen sind. Denken wir über die Backlist hinaus Es braucht einen neuen Namen Warum aber hat es die von mir beschriebenen Innovationen bisher noch nicht gegeben? Tat- Ein weiteres Problem besteht ironischerwei- sächlich wurden bereits eine Reihe sehr inte- se in der Sprache. Wie nennen wir diese neu- ressanter Apps herausgebracht, die auf litera- en Formen? Ist eine App, die ein Roman ist, risch interessierte Leser zielen. So war etwa ein „Buch“? Das kann nicht sein, da es ja kein die von Faber veröffentlichte App zu T. S. gedrucktes Artefakt ist. Auch diesen Roman Eliots „The Waste Land“ (dt.: „Das wüste eine App zu nennen, ist kaum hilfreich, da es – Land“) nicht nur ein Erfolg beim Publikum, selbst wenn es technisch korrekt sein mag – sondern rechnete sich auch in wirtschaftlicher Millionen anderer Apps gibt, bei denen es sich Hinsicht. Auch zu Shakespeares Sonetten hat nicht um einen Roman handelt (dass wir eine Faber jüngst eine App produziert. Und wenn digitale Edition von „Krieg und Frieden“ mit es sich dabei auch durchaus um bemerkens- dem gleichen Terminus belegen wie das Spiel werte Applikationen handelt, mit einer sehr „Angry Birds“, zeigt, dass beide unter einem guten Benutzeroberfläche und tollen Funkti- falschen Begriff firmieren). onen, so können wir uns nicht damit begnü- gen, die Backlist zu plündern. Alte Werke neu- Ich glaube, dass selbst das Wort „E-Book“ en Formaten anzupassen ist ein Schritt in die ein irreführender Begriff ist. Ein Buch ist et- richtige Richtung, doch kann darin nicht die was mit einer physischen, greifbaren Form Zukunft liegen. Es muss Originalstoff erdacht und E-Books sind virtuell, eine Reihe von werden, von Autoren, die sich der Möglichkei- Nullen und Einsen. Musik wurde ja auch ten des Digitalen bewusst sind – und das be- nicht das Label „E-CD“ oder „E-Schallplat- reits, bevor sie mit dem Schreiben beginnen; te“ aufgedrückt. Doch gibt es hier einen Un- sonst bleiben wir auf Verleger angewiesen, die terschied in den Kunstformen selbst. Musik sich erst danach Gedanken dazu machen. Und wird nach dem benannt, was es aus sich selbst nicht zuletzt sollten sich die Autoren all dieser heraus darstellt, während das Wort für Bücher Möglichkeiten auch zu bedienen wissen. immer mit seiner physischen Form verbunden war. Als es deshalb darum ging, einen Namen Etwas anderes, das bisher die digitale Inno- für die jeweiligen digitalen Versionen zu fin- vation behinderte, ist die Verwechslung der den, ging für die Musik bei der Übersetzung Rollen. Wer soll was tun? Wenn ein Schreiber nichts verloren (an „digitaler Musik“ klingt schreibt und ein Verleger verlegt, lässt dies eine nichts seltsam), während dies beim Buch an- Menge Lücken, die noch auszufüllen sind. In ei- ders aussah (die Idee eines „digitalen Buches“ nem Blogeintrag bei Nosy Crow, einem erfolg- ergibt wenig Sinn). Nicht, dass irgendjemand reichen britischen App-Entwickler für Kinder, direkt Schuld hieran trüge: Verleger, Agen- wird das Kreieren von Apps als „höchst kol- ten, Technologieunternehmen, wir alle haben laborativer Prozess“ beschrieben, als „techni- an der Geschichte mitgewirkt. Doch nun, ein scher Prozess“ und schließlich als „neuer Pro- Dutzend Jahre später, befinden wir uns in ei- zess“. ❙4 Wir haben hier Neuland betreten, mit ner Situation, in welcher der Name, den wir dem Kind gaben, immer weniger Sinn ergibt. ❙4 „Writing Children’s Apps“, Nosy Crow Blog, 9. 7. ​ 2012, online: http://nosycrow.com/blog/writing- Einen ähnlichen Moment gab es vor 100 Jah- childrens-apps (11. 9. 2012). ren, als Autos als „pferdelose Wagen“ betitelt

18 APuZ 41–42/2012 wurden. Wären sie weiterhin so genannt wor- Von solchen old terms, von alten Begriffen, den, hätte jeder, immer wenn der Name ge- ist zur Zeit auch das Publizieren belastet. Ro- fallen wäre, an ein Pferd gedacht und es wohl mane etwa stecken, was ihre Länge angeht, in auch vermisst. Dies ist genau das Problem mit einer Booleschen Sackgasse: Entweder es sind dem E-Book: Der Name selbst lädt dazu ein, es Romane oder es sind Erzählungen (wo aber mit einem Format zu vergleichen, dessen Ent- genau der Unterschied anzusetzen ist, bleibt wicklungsvorsprung um die 500 Jahre beträgt. unklar). Wann aber hat sich diese erstaunli- che Kunstform – eine, der es gelingt, Leser in Inkle Studio ist ein Start-up-Unternehmen die entferntesten Orte zu entführen und ihre aus Großbritannien, das „nicht-lineares Er- Vorstellungskraft grundlegend zu transfor- zählen zum Teil des Mainstreams“ machen mieren – zu einem Entweder-Oder-Szena- will. ❙5 Zu diesem Plan gehört es, dass sie eine rio gewandelt? Warum werden Autoren im großartige App für den „Frankenstein“ von Glauben gelassen, dass ihr Werk nur das eine Dave Morris produzierten, eine digitale „Um- oder andere sein kann? Die einzige Grenze in rüstung“ des Klassikers von Mary Shelley. Ein einem Roman sollte die Vision des Autoren Problem hatten sie jedoch dabei: Wie sollten sein, nicht die Seiten und das Cover. Irgend- sie es nennen? Selbst Inkle, die Firma, die es wo auf dem Weg hierher wurde – um einen produziert hatte, wusste keinen Rat: „Inter- Satz des Schriftstellers Samuel Butler zu um- aktive Fiktion? Kollaborative Adaption? Oder schreiben – der Autor zu einem bloßen Mit- einfach gutes, altes Buch?“ ❙6 (Die Ironie hieran tel des Buches, ein anderes Buch zu machen. besteht natürlich darin, dass auch das Monster in „Frankenstein“ keinen Namen hatte.) Kehrseiten der digitalen Welt? In seinem Buch „Die Information: Ge- schichte, Theorie, Flut“ listet James Gleick Könnte es Kehrseiten der weiteren Entwick- eine Reihe bahnbrechender und wichtiger lung elektronischer Texte geben und gar der neuer Ideen auf, vom Telegrafen bis zum erzählerischen Singularität, für ich plädiere? Quantencomputer. Bei der Beschreibung der Wird das Begriffsvermögen der Leser abneh- DNA erzählt Gleick die Geschichte des dä- men, wenn sie sich in Bücher auf ihren elektro- nischen Botanikers Wilhelm Johannsen, der nischen Geräten vertiefen? Einige Leute sind im Jahr 1910 das Wort „Gen“ erfand. ❙7 Der davon sicher überzeugt, und es handelt sich ja Grund dafür war, dass es schlicht kein an- auch um ein Argument, das gebraucht wird, deres Wort gab, das gepasst hätte. Johannsen seitdem es das E-Book gibt. In „Wer bin ich, und seine Kollegen mussten eine völlig neue wenn ich online bin … und was macht mein Terminologie erfinden, die ihre neuen Kon- Gehirn solange?“ beschreibt Nicholas Carr die zepte angemessen wiedergab. Der Versuch, Hoffnung in den 1980er Jahren, also zur Zeit, ein existierendes Wort zu neuer Bedeutung als die ersten PCs in unser Leben einzogen, zurechtzubiegen, würde den Sachverhalt ver- dass der Unterricht einmal mit digitalem Ma- komplizieren. Johannsen schrieb: „Old terms terial statt mit Papier vonstattenginge: „Viele are mostly compromised by their application Lehrer waren überzeugt, dass es das Lernen in antiquated or erroneous theories and sys- erleichtern würde, wenn man auf Bildschir- tems, from which they carry splinters of in- men dargestellte Texte mit Hyperlinks versah. adequate ideas, not always harmless to the Der Hypertext, so argumentierten sie, werde developing insight.“ ❙8 das kritische Denken der Schüler stärken, da er es ihnen ermögliche, zwischen verschiede- nen Ansichten hin und her zu wechseln.“❙9 ❙5 Online: www.inklestudios.com/about-us . (11. 9 ​ 2012). ❙6 „What’s in a Game“, Inkle Studios Blog, 31. 8. 2012, Im darauffolgenden Jahrzehnt aber zeigte online: www.inklestudios.com/archives/​948 . (11. 9 ​ eine Studie nach der anderen, dass das digitale 2012). Lesen eher zu einer Verminderung denn zu ei- ❙7 Vgl. James Gleick, Die Information: Geschichte, Theorie, Flut, München 2011, S. 287 f. (engl.: The In- formation: A History, a Theory, a Flood, New York ❙9 Nicholas Carr, Wer bin ich, wenn ich online bin … 2011). und was macht mein Gehirn solange? Wie das Inter- ❙8 Wilhelm Johannsen, The Genotype Conception of net unser Denken verändert, München 2010, S. 199 Heredity, in: The American Naturalist, 45 (1911) 531, (engl.: The Shallows: What the Internet is Doing to S. 132. Our Brains, New York 2010).

APuZ 41–42/2012 19 ner Stärkung des Verständnisses führte. Wäh- Und diese Abwägung gibt es bei allen Me- rend sie am Computer lasen, waren die Schüler dien. Ja, Musik klingt besser auf Vinyl als per unkonzentriert, behielten weniger Informati- MP3, doch habe ich online so viel einfacheren onen als diejenigen, die das gleiche Material Zugang zur Musik, als wenn ich es per Post in gedruckter Form lasen, und sie brauchten bestelle und manchmal Wochen auf die Lie- länger, um es zu lesen. Forscher, die dachten, ferung warten muss. Und man darf nicht ver- dass diese frühen Fehlversuche lediglich Aus- gessen, dass ja Vinyl selbst auch schon einen druck einer gewissen Lernkurve waren und Kompromiss darstellt; vor 200 Jahren konn- dass die Schüler (ganz zu schweigen von der ten die Menschen Musik nur hören, wenn sie restlichen Bevölkerung) schon bald eine „Hy- direkt live vor ihnen gespielt wurde. Ich bin pertext-Kompetenz“ entwickeln würden, und sicher, dass das aufregend war, habe aber kei- damit solche Herausforderungen und Defizi- nen Platz für einen Flügel in meinem Wohn- te überwinden würden, wurden eines Besse- zimmer. ren belehrt. Und heute, weit in der Internet- Ära, zeigt eine Studie nach der anderen, dass Das Gleiche gilt für Filme. Ich würde gern die Nutzer dem Computer mehr Aufmerk- jeden Film in einem großen Kino sehen, samkeit schenken als dem Text. Oder, wie es mit dem vollen Sound, aber das ist unmög- Carr ausdrückt: „Das Medium, das zur Dar- lich. Deshalb begnüge ich mich mit DVDs stellung der Worte verwendet wurde, ließ de- auf meinem Flachbildschirm und bin, wenn ren Bedeutung in den Hintergrund treten.“ ❙10 ich auf einem Langstreckenflug bin, zufrie- den mit dem Mini-Bildschirm auf der Rück- Auch wenn ich den Wert dieser Studien seite des Sitzes meines Vordermannes. Über- nicht per se in Abrede stellen will, so finde ich all gehen wir Kompromisse ein. Und auch sie dennoch nicht überzeugend genug, um ei- wenn ich zögere zu sagen, dass ich lieber nem Verzicht auf eine breit angelegte Nutzung eine wichtige aktuelle Nachricht falsch ver- elektronischer Texte das Wort zu reden. Und stehe, als sie komplett zu versäumen, denke dies vor allem deshalb, weil, auch wenn das ich, dass, wenn es um Geschichten geht, wir Lesen auf Papier besser sein mag als das auf dieses Risiko nicht eingehen können. Es geht dem Bildschirm (wenn es um das Verständnis nicht nur darum, ob wir die Buchseite dem des Textes geht), es sich dabei nicht um eine Bildschirm vorziehen; für Millionen würde Wahl handelt, die Menschen immer haben. es bedeuten, gar nichts mehr zu erhalten an- statt etwas. Ich lese an jedem Tag ein Dutzend Zeitungs- artikel, Reportagen, Interviews und Rezensi- onen. Ermöglicht wird dies durch das Internet Ist es schon zu spät? und meine verschiedenen elektronischen Ge- räte, die mit ihm verbunden sind; mit der Aus- In seinem Buch „Gadget: Warum die Zu- nahme der „New York Times“ und ein oder kunft uns noch braucht“ spricht Jaron Lanier zwei Magazinen, die ebenfalls New York im ausführlich über das Phänomen des „Lock- Titel tragen, nutze ich Publikationen, zu de- in-Effekts“ von Software. Damit meint er nen ich keinen Zugang hätte, würde ich sie als den Effekt, dass Nutzer sich so daran ge- physisch greifbare Exemplare abonnieren wol- wöhnen, dass ihre Software in einer ganz be- len. Das Lesen digitaler Inhalte macht meine stimmten Weise funktioniert – selbst wenn Welt unendlich viel größer, als wenn ich da- sie mit neuen Funktionalitäten viel besser rauf beschränkt wäre, alles nur in der Druck- arbeiten könnte – und sie damit in der Zeit fassung lesen zu können und dies gilt, denke „steckenbleibt“. Lanier schreibt: „Der Pro- ich, für die meisten Menschen. Und wenn ich zess des Lock-in gleicht einer Welle, die un- hierbei ein paar Prozent meines Verständnis- ablässig über das Regelwerk des Lebens hin- ses einbüßen sollte, weil ich es auf dem Bild- wegstreicht und die Vieldeutigkeit flexiblen schirm und nicht in gedruckter Form lese, soll Denkens abschleift, während immer mehr es mir recht sein. Wenn ich schließlich nur die Denkstrukturen sich zu einer dauerhaften Wahl habe, etwas elektronisch oder gar nicht Realität verfestigen.“ ❙11 zu lesen, entschiede ich mich immer für das elektronische Lesen. ❙11 Jaron Lanier, Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht, Berlin 2010, S. 21 (engl.: You Are Not a ❙10 Ebd., S. 202. Gadget. A manifesto, New York 2010).

20 APuZ 41–42/2012 Ich frage mich, ob es nicht genau das ist, Dominique Pleimling was auch mit der Literatur geschieht. Ist es schon zu spät? Ist der „Lock-in-Effekt“ nicht auch bei der Vorstellung darüber, was ein Buch oder ein Roman ist, in den Köpfen der Social Reading – Leser zu erkennen? Und ist es so nicht eine vergebliche Hoffnung, sie dazu zu bringen, Lesen im digitalen sich etwas Neuem zu öffnen? Falls ja, wäre es sehr schade, denn die Geschichte des Ro- mans ist eine der Innovation und des Wan- Zeitalter dels. Vom Briefroman bis zum Bewusstseins- strom hat sich die Form des Romans – über Hunderte von Jahren – entwickelt. Ist es so as Lesen von Büchern ist eine einsame abwegig, sich zu wünschen, dass sie sich ein DBeschäftigung. Es erfordert Muße, Ruhe weiteres Mal verändert? Oder ist es, wie ich und Zeit, was sich auch an den Metaphern es bereits andeutete, letztlich nur eine Frage zeigt, die gemeinhin der Terminologie, und wir brauchen lediglich mit Lesen in Verbin- Dominique Pleimling einen neuen Namen für den digitalen Ro- dung gebracht wer- M. A., geb. 1981; wissenschaft­ man-Hybrid, den ich anrege? den: Ich kann in ei- licher Mitarbeiter, Institut für nem Buch versinken, Buchwissenschaft, ­Johannes Oder sind tatsächlich wir es, die „stecken- mich darin vertie- Gutenberg-Uni­versität, geblieben“ sind? Wir lehnen es ab, unser fen, in die Geschich- 55099 Mainz. Denken zu ändern oder uns die Literatur als te eintauchen. Doch [email protected] etwas anderes vorzustellen, als das, was wir der solitäre Lesevor- http://twitter.com/d_pleimling kennengelernt haben. Sollte dies wirklich der gang wird zunehmend www.buchwissenschaft. Fall sein, wäre es nicht nur eine Schande, son- durch Möglichkeiten uni-mainz.de dern auch ein Versagen unserer kollektiven der Interaktion und Vorstellungskraft. Kommunikation aufgebrochen, wie sie das Internet bereitstellt. Was Werke wie die „Odyssee“, „Alice im Wunderland“ und „Gullivers Reisen“ so wun- Zwei Entwicklungen, die nicht nur die dervoll macht (und was sie über all die Jahre in Buchbranche, sondern alle Medienunter- unserem kollektiven Bewusstsein verbleiben nehmen erfasst haben, kulminieren bei die- ließ), ist, dass sie uns einladen, unsere Vorstel- sem Vorgang des vernetzten Lesens: die Di- lungskraft zu nutzen. Es sind Werke, in denen gitalisierung von Medieninhalten, in diesem wir selbst unseren Platz finden. Egal, wie viele Fall Bücher, und die Entstehung des social auf der Grundlage von Lewis Carrolls Klas- web, das es allen Internet-Nutzerinnen und siker basierende Real- oder Animationsfil- -Nutzern ermöglicht, content zu schaffen me gedreht werden, existiert Alice erst dann, und diesen mit anderen zu teilen, zusammen- wenn wir selbst sie in unseren Köpfen erschaf- zuarbeiten und in Netzwerken zu kommuni- fen, und nur dann wird ihre Reise in den Ka- zieren. Digitale Texte können öffentlich gele- ninchenbau auch zu unserer eigenen Reise. sen, kommentiert und diskutiert werden; das Lesen von Büchern wird zu einem sozialen Was wir jetzt brauchen, ist ein weiterer, Prozess, für den sich mittlerweile der Begriff und vielleicht letzter Schub für unsere Vor- social reading durchgesetzt hat. Unter social stellungskraft. Wir brauchen Autoren, wel- reading wird im Folgenden verstanden: Ein che die sich heute bietenden digitalen Mög- online geführter, intensiver und dauerhafter lichkeiten nutzen, um das Erzählen neu zu Austausch über Texte. Diese knappe Defini- erfinden; und wir brauchen Leser, die diese tion ermöglicht es, den Begriff von ähnlich Erfahrungen annehmen und sich zu eigen gelagerten Phänomenen abzugrenzen, wäh- machen. Die Alternative wäre eine Zukunft rend er für zukünftige technische Innovati- des „unrealized sound“, eine Welt, in der die onen offen bleibt. ❙1 Geschichten von Morgen tatsächlich die Ge- schichten von Gestern sind. ❙1 Vgl. Bob Stein, A Taxonomy of Social Reading: a proposal, online: http://futureofthebook.org/social- reading (6. 9. 2012).

APuZ 41–42/2012 21 Social reading in seiner heutigen Ausge- Durch die spezifische Foren- beziehungswei- staltung hat verschiedene analoge und digi- se Ordnerstruktur sind diese Einlassungen tale Verwandte: Die zwei wichtigsten sind auch später noch nachzuvollziehen und da- book clubs und Online-Communities. Ganz mit in persistenter Form vorhanden. ohne Internet und unter Ausschluss einer breiten Öffentlichkeit wird Literatur in Le- In diesen speziellen Leser-Communities sekreisen verhandelt – vor allem in den USA können die Nutzer darüber hinaus ihr indi- haben diese book clubs eine nicht zu unter- viduelles Leseverhalten dokumentieren, ihre schätzende Wirkung für die Rezeption von Markierungen, Annotationen und Zitate tei- Texten. Hier trifft sich eine bestimmte Grup- len und das Gelesene bewerten. Mit zehn pe von Menschen, um über ein Buch, das im Millionen Mitgliedern und 360 Millionen ka- besten Fall alle Teilnehmer gelesen haben, talogisierten Büchern ist die amerikanische zu diskutieren. ❙2 Diese Gespräche werden in Seite „goodreads.com“ die größte Plattform den seltensten Fällen dokumentiert und wei- für social reading. Neben den oben genannten terverbreitet, sie werden – ebenso wenig wie Funktionen wird Goodreads auch intensiv die beiläufigen Gespräche über Bücher beim für Gespräche über Bücher genutzt: So fin- Abendessen, auf einer Zugfahrt und in un- den sich alleine zum siebten Band von „Har- zähligen weiteren Alltagssituationen – nicht ry Potter“ knapp 350 verschiedene Themen, Teil eines breiteren Diskurses. die von den Leserinnen und Lesern zur Dis- kussion gestellt werden, und über 2200 topics, Im Internet finden Gespräche über Bücher in denen auf besagtes Buch Bezug genommen überall dort statt, wo Menschen miteinander wird. Die Beteiligung liegt zwischen einem in Kontakt treten: in Foren, Blogs, Sozialen und 500 Kommentaren zu dem jeweiligen Netzwerken und Ähnlichem. Der Austausch Punkt, die Bandbreite der Themen umfasst ist hier zumeist unstrukturierter als in Lese- vom Austausch über den Plot, die Verfil- kreisen und geht selten über ein bloßes Be- mung, die Autorin Joanne K. Rowling, Songs werten des Gelesenen hinaus. Er steht aber im zu Harry Potter bis hin zur sexuellen Orien- Gegensatz zu diesen meistens einer breiteren tierung des Zauberers Dumbledore und dem Gruppe von Menschen offen, die zudem ohne Online-Portal „potter­more.com“ jedes vor- Rücksicht auf Raum (also lokal ungebunden) stellbare Detail. und Zeit (es gibt keine konkreten Termine und Treffen) kommunizieren können. Auch Auch die deutsche Community Lovely bleiben die Äußerungen der Beteiligten er- Books bietet vergleichbare Funktionen an halten, sie werden sozusagen im Netz gespei- und bringt Buchliebhaber miteinander ins chert – wobei die mangelnde Struktur diese Gespräch. Diese Services sind für den Nut- theoretische Dauerhaftigkeit beziehungswei- zer zwar kostenlos, aber dahinter stecken se Persistenz wieder weitestgehend negiert. natürlich ausgefeilte Geschäftsmodelle: Ver- lage können Anzeigen schalten, um für ihre Novitäten zu werben, und darüber hinaus Lesen in der virtuellen Gemeinschaft auch Aktionen buchen, die zumeist mit dem gemeinsamen Lesen und Diskutieren eines Social reading in der oben genannten Defi- bestimmten Buches verbunden sind. In so- nition findet vielmehr in thematisch fokus- genannten Testleserunden tauschen sich Mit- sierten Foren und Communities statt. Diese glieder der Community, die ausgewählt be- eröffnen den Nutzern die Möglichkeit, auch ziehungsweise ausgelost wurden und ein tiefer gehend und über längere Zeit hinweg Gratisexemplar des Buches durch den Ver- über einen oder mehrere Texte zu sprechen. lag erhalten haben, über das Werk aus und schreiben abschließend eine Rezension. Der ❙2 Ein entfernter Vorläufer dieser Lesekreise wa- Verlag erhofft sich dadurch ein gewisses me- ren Lesegesellschaften und -kabinette, die sich im diales Grundrauschen, einen buzz, und bes- 18. Jahrhundert herausbildeten, um einem rasant ge- tenfalls die virale Verbreitung möglichst posi- wachsenen Kreis von Lesern Zugang zu günstiger Li- tiver Äußerungen über sein Buch. Die simple teratur zu ermöglichen und aufklärerische Ideen zu Kopierbarkeit von Inhalten ermöglicht es den verbreiten. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts war die Hochzeit der Lesegemeinschaften schon wieder vor- Lesern, ihre Meinungen auf verschiedenen über: günstigere Bücher und Periodika, Leihbüche- Portalen zu veröffentlichen und auf Ama- reien und auch Verbote forderten ihren Tribut. zon, Facebook, Twitter, in ihren Blogs und

22 APuZ 41–42/2012 anderswo zu posten – diese Netzwerkeffekte alle anderen Nutzer der Plattform sichtbar, macht sich der Verlag zunutze, die Commu- sie können wahlweise ein- und ausgeblendet nity dient hierbei sozusagen als Katalysator. und natürlich auch in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter geteilt werden. Im Im Idealfall bringt dies für alle Beteiligten Unterschied zu den oben genannten Com- Vorteile mit sich, indem der Leser Gleichge- munities ist hier also ein synchroner Aus- sinnte findet und sich mit diesen austauscht, tausch über das Gelesene möglich – direkt der Verlag einen kommunikativen Raum für nach dem Lesen eines Satzes oder eines be- das zu bewerbende Buch öffnet und der Be- stimmten Abschnitts können Anmerkungen treiber der Community (im Falle von Lovely verfasst oder die Notizen anderer Leser kom- Books die Verlagsgruppe Georg von Holtz- mentiert werden. Theoretisch ermöglicht Re- brinck, zu der unter anderem der Rowohlt admill also Diskussionen anhand konkre- und der S. Fischer Verlag gehören) für das ter Textstellen, das gemeinsame diskursive Vermitteln der Leser, die Bereitstellung der Durchdringen von Literatur auf Wort- und Plattform und die Moderation der Testle- Satzebene. In der Praxis sind diese intensiven serunden durch einen Community-Manager Gespräche aber noch die Ausnahme. entlohnt wird. Wie ein Ausschöpfen der aus den techni- Weitere Formen der Monetarisierung sind schen Gegebenheiten resultierenden kom- denkbar: E-Books können mit unterschied- munikativen Möglichkeiten aussehen könn- lichen Preismodellen verkauft werden – als te, hat Bob Stein – Gründer des New Yorker ganz normale Textvariante, mit einer einge- Institute for the Future of the Book – anhand bauten „Standleitung“ zum Autor, der Fra- von Doris Lessings Buch „The Golden Note- gen beantwortet, ❙3 oder mit exklusiven Le- book“ demonstriert: Der komplette Text ist serunden, bei denen der Autor mittels eines im Browser abrufbar und wurde von Novem- Videostreams zu einem bestimmten Termin ber 2008 bis Februar 2009 von sieben Jour- sozusagen aus dem E-Book heraus mit dem nalistinnen, Kritikerinnen und Autorinnen Leser oder einem book club kommuniziert. gemeinsam gelesen. ❙4 Die Anmerkungen der Leserinnen wurden dabei neben den einzel- Die beschriebenen Netzwerke übertragen nen Seiten angezeigt und beziehen sich direkt das analoge Phänomen der Lesekreise und auf diese. Es entspannen sich Diskussionen book clubs in die digitale Welt mit ihren sämt- zum gerade Gelesenen, die bis zu 20 Kom- lichen Möglichkeiten, allen voran die Unab- mentare pro Seite umfassen und beispielswei- hängigkeit von zeitlichen und räumlichen Be- se Lessings Darstellung von Männer-Stereo- grenzungen. Ein wirklich neuartiges Lesen typen thematisieren. Konkrete Textstellen und Sprechen über das Gelesene stellen sie al- werden diskursiv erfahrbar und die neu ent- lerdings nicht dar. stehenden Texte, sogenannte Paratexte, ❙5 tre- ten mit dem eigentlichen literarischen Text in eine dauerhafte Verbindung – sie sind auch Bücher in Browsern heute noch online. Für den geneigten Le- ser verändern sie die Rezeption, regen zum Spannender sind innovative Formen des soci- weiteren Nachdenken, zur Zustimmung al reading, die den Lesevorgang mit der Dis- oder zur Ablehnung an. Sie erweitern, um kussion über Literatur verschmelzen. Das mit dem Philosophen Paul Ricœur zu spre- Berliner Start-up-Unternehmen Readmill chen, die Welt des Textes und die des Lesers antwortet auf die Frage „Why make a book ­gleichermaßen. digital and not make it shareable?“ mit einer interaktiven Leseoberfläche als App, die das Auch der Autor des diskutierten Werkes einfache Markieren von bestimmten Textpas- kann sich über die Reaktionen auf seinen Text sagen erlaubt. Diese Markierungen sind für informieren oder sich sogar aktiv an dem Ge- spräch beteiligen – hier eröffnet social reading

❙3 Siehe etwa die Leser-Autor-Interaktion bei Sascha Lobos „Strohfeuer“; vgl. Marcel Weiss, Knappes Gut ❙4 Vgl. online: http://thegoldennotebook.org . (6. 9 ​ bei E-Books. Sascha Lobos Buchfrage, 11. 10. 2010, 2012). online: www.neunetz.com/​2010/​10/​11/knappes-gut- ❙5 Vgl. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom bei-e-books-sascha-lobos-buchfrage/ (6. 9. 2012). Beiwerk des Buches, Frankfurt/M. 2001.

APuZ 41–42/2012 23 eine direkte Verbindung zwischen Verfasser terarischer Vorlieben und Abneigungen, die und Leser. All diese neu entstehenden Para- alle einem Zweck dienen: der besseren Kennt- texte bereichern das Buch, sie zeigen vielfälti- nis des Kunden, einer genaueren Vorstel- ge Interpretationen auf, dokumentieren seine lung der anvisierten Zielgruppen und damit individuell-subjektive Rezeption, geben dem schlussendlich passgenaueren Angeboten und Autor (oder auch dem Lektor) auch nach Er- Werbung, die den Umsatz ankurbeln sollen. scheinen des Buches eine St­ imme. Big data ist hier das Schlagwort, der gläser- ne Leser die Voraussetzung. Die Erkenntnis, Die Frage nach der Qualität dieser Dis- dass lange Sachbücher selten zu Ende gelesen kussionen und dem Grad der Beteiligung werden, hat bereits zu neuen Produkten wie ist müßig, das Internet ist keine eigenstän- etwa den nook snaps geführt – in Deutschland dige Sphäre, die anderen Regeln folgt als die verlegen unter anderem Suhrkamp (Editi- „Offline-Welt“ (vielmehr verschwimmen die on Suhrkamp Digital) oder Campus (Keyno- Grenzen zwischen ihnen). Ebenso wie sich te) Mini-E-Books zu verschiedenen aktuellen im „echten Leben“ nur relativ wenige Men- Themen wie Fukushima, der Occupy-Bewe- schen in Literaturkreisen intensiv mit Bü- gung oder der ­Euro-Krise. chern auseinandersetzen, wird dies auch im Virtuellen nur eine Minderheit von Lesern Inwieweit die entstehenden Datenber- tun. Durch die Unabhängigkeit von Zeit und ge aber wirklich die Buchwelt umkrempeln, Raum ermöglicht das Internet aber gerade für ist schwer abzusehen. Gerade Amazon, der sie die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden Buchhandelsgigant, der zunehmend auch als und mit diesen zu kommunizieren. Da die- Verlag agiert, könnte über die Häufung be- ser Austausch zumeist öffentlich stattfindet, stimmter Suchbegriffe oder markierter Stel- kann die „schweigende Mehrheit“ bei Bedarf len ein verstärktes Interesse an bestimmten und ad hoc Diskussionen zu bestimmten Bü- Themen registrieren und Bücher dazu lancie- chern verfolgen. ren – vor allem im Sachbuch- und Ratgeber- bereich liegt dies im Bereich des Vorstellba- ren. Dies geht einher mit dem Phänomen der Gläserner Leser mass customization, die es dem Nutzer er- möglicht, Bücher online zu kreieren und zu Doch nicht alles ist schön in dieser neuen Bü- bestellen – hierzulande beispielsweise vom cherwelt. Große Verlage und Buchhändler Münchner Verlag Gräfe & Unzer oder auch beobachten die Leser ebenfalls mit Interesse von Dr. Oetker realisiert, die individualisier- und verstehen social reading auf eine etwas te Kochbücher drucken. ❙7 andere Weise. Während man gemütlich mit dem E-Book-Reader ein Buch liest, schau- Die Möglichkeiten für die Belletristik sind en einem diese Unternehmen über die Schul- allerdings eingeschränkt: Dass ein literari- ter – und zeichnen alles auf: „Your E-Book Is scher Autor sein Buch überarbeitet, weil im Reading You“, wie das „Wall Street Journal“ sechsten Kapitel 67,9 Prozent der Leser ei- treffenderweise schrieb. ❙6 Die Daten geben nige Seiten überspringen, scheint eher un- ein genaues Abbild des individuellen Lese- wahrscheinlich. In Bezug auf Klassiker kün- verhaltens wieder und lassen in der Summe digte Jonathan Galassi, Verleger von Farrar, bestimmte Trends und Tendenzen erken- Straus & Giroux, bereits an: „We’re not going nen: Wie lange braucht der durchschnittliche to shorten ‚War and Peace‘ because someone Leser für „Shades of Grey“, welche Kapitel didn’t finish it.“ ❙8 überspringt er in „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“, welche Begriffe sucht er beson- Spannender als die entstehenden Möglich- ders häufig im Spanien-Reiseführer? keiten für Schriftsteller sind eher die neu- en Geschäftsmodelle der Datensammler, die Mit diesen und weiteren Informationen ent- mit dem stark wachsenden Segment der ohne stehen ganze Leserbiografien, Landkarten li- Verlag publizierenden Autoren, self publisher genannt, Geld verdienen wollen. So erfährt ❙6 Alexandra Alter, Your E-Book Is Reading You, 19. 12. 2012, online: http://online.wsj.com/article/SB ❙7 Vgl. online: www.küchengötter.de; www.oetker- 10001424052702304870304577490950051438304.html select.de (10. 9. ​2012). (6. 9. 2012). ❙8 Zit. nach: A. Alter (Anm. 6).

24 APuZ 41–42/2012 der interessierte Autor/Verleger bei Hip­type, Die Erfahrungen mit sozialen Netz- dem amerikanischen Anbieter von data-dri- werken, die immer stärkere Nutzung von ven publishing, dass der durchschnittliche Cloud-Diensten (Datenspeicherung im In- Bestseller 375 Seiten umfasst, eine weibliche ternet) und die soziale Anreicherung von Hauptfigur hat, ein romantisches Sujet be- Google-Suchergebnissen lassen einen Pro- handelt und 3,99 US-Dollar kostet. ❙9 Für in- teststurm gegen die Nutzung der gesammel- dividuelle Datenanalysen berechnet Hiptype ten Daten durch Buchhändler und Verleger ab 20 US-Dollar im Monat. unwahrscheinlich erscheinen. Wenn ohne- hin schon private Fotos in Facebook auftau- Die Leser bekommen einen Ausschnitt der chen, die Sicherung wichtiger Dokumente gesammelten Daten zu sehen. Die beliebtes- in Dropbox ❙13 geschieht, Bankgeschäfte on- ten Markierungen von Nutzern des Amazon- line getätigt werden und cookies persönliche Lesegeräts Kindle werden bei Amazon in an- Bewegungsprofile im Internet aufzeichnen, onymisierter Form angezeigt. So kann man wird die Überwachung des eigenen Lese- besonders wichtige oder eindrückliche (so- verhaltens eher keinen allzu großen Unmut fern man der Schwarmintelligenz vertraut) ­hervorrufen. Zitate finden und sich diese auch während der Lektüre auf seinem E-Reader anzeigen lassen. Vielmehr rückt vor allem ein anderes Ele- Diese Option stellt aber ein bloßes Gimmick ment, das den Konsum von E-Books regu- dar und dient nicht der Diskussion und des liert, immer mehr in den Mittelpunkt der Austauschs wie etwa bei Readmill, vielmehr Kritik: der Kopierschutz. Eigentlich soll trägt das „frisch gekaufte Buch (…) schon die das sogenannte Digital Rights Management Spuren früherer Leser, so wie schlecht behan- (DRM) die illegale Verbreitung von virtuel- delte Bände aus der Bibliothek“. ❙10 19 der 25 len Gütern mittels Tauschbörsen und ähnli- häufigsten Markierungen stammen dabei aus chen Angeboten verhindern – unerwünschte der „Tribute von Panem“-Trilogie, während Nebeneffekte sind aber die erschwerte Nut- die Bibel das Buch mit den meisten virtuellen zung durch technisch weniger versierte Nut- Unterstreichungen ist. ❙11 zer und auch die Einschränkung von Com- munity-basierten Social-reading-Angeboten. Auch der kanadische Amazon-Konkurrent Offene Plattformen wie Readmill können nur Kobo bietet ähnliche Möglichkeiten, legt mit einem E-Book ohne DRM sinnvoll ge- aber einen stärkeren Schwerpunkt auf Ver- nutzt werden – kopiergeschützte Bücher sind netzung und Interaktion mit seinen Angebo- hingegen in ihrem jeweiligen Apple-, Ama- ten Reading Life und Kobo Pulse. Darüber zon- oder Adobe-Ökosystem gefangen. Hier hinaus wird das Lesen durch Spielelemente steht ein Austarierungsprozess zwischen der angereichert (gamification): Für durchlesene berechtigten Sorge der Rechteinhaber vor Pi- Nächte, möglichst viele abgeschlossene Lek- raterie und den Interessen der Leser erst am türen oder auch das Lesen zur Frühstücks- Anfang. ❙14 zeit wird man mit virtuellen Abzeichen be- lohnt und kann sich so mit seinen Freunden messen. ❙12 Social Reading in Wissenschaft und Bildung ❙9 Vgl. online: www.hiptype.com/infographic (6. 9. ​ 2012). Communities wie Lovely Books und Good- ❙10 Jörg Häntzschel, Was einen anspringt. Amazon reads, Plattformen und dazugehörende Le- liest mit, 28. 10. 2010, online: www.sueddeutsche. se-Apps wie Readmill und die eher subkutan de/kultur/amazon-liest-mit-was-einen-anspringt-​ 1.1017099 (6. 9. 2012). ❙11 Vgl. online: https://kindle.amazon.com/most_ ❙13 Ein Webdienst, der die Synchronisation von Da- popular; https://kindle.amazon.com/most_popular/ teien zwischen verschiedenen Rechnern und Nutzern books_by_popular_highlights_all_time (6. 9. 2012). sowie eine Online-Datensicherung ermöglicht. ❙12 Kobo bietet auch eine besonders umfangreiche ❙14 In letzter Zeit ist ein Wandel hin zu offenen Erfassung der eigenen Lesebiografie mittels diver- E-Book-Formaten festzustellen, eine Entwicklung, ser farbenfroh designter Statistiken und Diagramme die an die Musikindustrie Anfang der 2000er Jah- an. Vgl. Charlie Sorrel, Kobo update adds social fea- re erinnert. Vgl. Cylus Farivar, Tor Books to release tures, nerd-friendly stats, 10. 12. 2010, online: www. only DRM-free e-books, 25. 4. 2012, online: http:// wired.com/gadgetlab/​2010/​12/kobo-update-adds- arstechnica.com/business/​2012/​04/tor-books-to- social-features-nerd-friendly-stats/ (6. 9. 2012). release-only-drm-free-e-books/ (6. 9. 2012).

APuZ 41–42/2012 25 verlaufende Protokollierung von Millionen Austausch kann durch geeignete Plattformen weltweiter Lesevorgänge: Egal wie social rea- mit mehrsprachigen Texten von social read- ding auch immer ausgestaltet ist, sowohl die ing profitieren und neue Einblicke in die un- freiwillig veröffentlichten als auch die von terschiedlichen Rezeptionstraditionen er- Unternehmen aufgezeichneten Daten bieten möglichen. Wissenschaftlern reiches Material. Mit kom- munikationssoziologischem Blick kann das Rezeptionsverhalten einer großen Anzahl Zukunft des Lesens von Lesern untersucht werden, Literatur- wissenschaftlern bieten sich neue Einblicke Angesichts der zunehmenden Digitalisie- in Leser-Leser- und Autor-Leser-Interak- rung unseres Lebens stellt sich allerdings tionen und – eine langfristige Archivierung eine viel globalere Frage: Ist die Zeit des Le- und Kompatibilität der Daten vorausgesetzt – sens vorbei, wie etwa Nicholas Carr mut- auch für Historiker und Kulturwissenschaft- maßt? Sie wäre dann ein äußerst kurzes In- ler eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten. termezzo in der Geschichte der Menschheit gewesen – von der „Leserevolution“ im aus- Ähnlich den mittelalterlichen Margina- gehenden 18. Jahrhundert, die das individu- lien und den mit Bleistift an den Rand ge- elle, leise Lesen unterschiedlichster Texte schriebenen Notizen können in der Rück- einläutete, bis zum Anfang des 21. Jahrhun- schau intellektuelle Biografien einzelner derts – und uns stünde die Wiederkehr der Personen oder Personengruppen gezeich- Vergangenheit bevor, in der nur eine ausge- net werden. Insgesamt gesehen erlaubt social wählte Minderheit diese Kulturtechnik be- reading nie dagewesene Einblicke in Lese- herrschte. Die Hochphase der Literatur, der prozesse – und das sogar unter Umgehung Belletristik, wäre dann – Leser und Auto- von bisherigen methodischen Schwierigkei- ren stehen schließlich in einer Wechselbe- ten. Klassischerweise wird das Leseverhal- ziehung – ebenfalls vorbei: „Bücher und ten mit Fragebögen ermittelt, wobei aber Bücherlesen (steuern) auf ihren kulturellen neben den oft kleinen Stichprobengrößen Lebensabend zu.“ ❙16 Auch die Thesen des auch das Problem der sozialen Erwünscht- Hirnforschers Manfred Spitzer gehen in eine heit auftritt, die Antworten also verfälscht ähnliche Richtung und warnen vor der dro- werden, um den Befragten in einem mög- henden „digitalen Demenz“. ❙17 lichst positiven Licht zu zeigen. Vor allem bei den mehr oder weniger kontinuierlich Interessanterweise legt gerade der Er- und zumeist unbemerkten Datensammlun- folg von social reading eine optimistische- gen durch Amazon und Co. sind beide Pro- re Zukunftsperspektive für das Lesen nahe: bleme der empirischen Forschung weitestge- Schließlich müssen die Bücher, über die ge- hend ausgeschlossen. Die Anonymisierung rade in Chats, Foren, Sozialen Netzwerken der Daten muss hierbei natürlich unter allen oder Plattformen gesprochen wird, auch ir- Umständen gewährt sein. gendwann gelesen worden sein (Bücher übri- gens, die – wie ein Blick auf die Bestsellerliste Auch im Bildungsbereich besitzt social verrät – nicht unbedingt immer dünner wer- reading großes Potenzial. Schülerinnen und den). Im Zeitalter der Digitalisierung wird Schüler sowie Studierende können Texte Lesen wieder sozialer und nähert sich damit auch jenseits von Klassen- und Seminarräu- der Situation vor der Leserevolution nur in- men diskutieren, wahlweise mit oder ohne Einbindung des Lehrers/Dozenten. Die Möglichkeit, bestimmte Textstellen in den son et al., Impact on Performance and Process by a Social Annotation System: A Social Reading Expe- Marginalien zu diskutieren und die Markie- riment, in: Dylan D. Schmorrow/Ivy V. Esta­brooke/ rungen und Notizen der Lerngruppe anzei- Marc Grootjen (eds.), Foundations of Augmented gen zu lassen, führt unter Umständen zu fo- Cognition. Neuroergonomics and Operational Neu- kussierterem Arbeiten. ❙15 Der interkulturelle roscience, Heidelberg 2009, S. 270–278. ❙16 Nicholas Carr, Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange? Wie das Inter- ❙15 Vgl. Jennifer Pearson et al., Co-Reading: Investi- net unser Denken verändert, München 2010, S. 177. gating Collaborative Group Reading, in: Proceedings ❙17 Vgl. Manfred Spitzer, Digitale Demenz. Wie wir of the 12th ACM/IEEE-CS Joint Conference on Di- uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, gital Libraries, New York 2012, S. 325–334; Les Nel- München 2012.

26 APuZ 41–42/2012 sofern an, als dass Texte wieder zunehmend Thomas Carl Schwoerer gemeinschaftlich rezipiert werden – damals durch das Vorlesen in Gruppen, heute durch „Bücher mit Internetanschluss“. Social read- Das Urheberrecht ing greift also in die Vergangenheit zurück und verbindet sie mit dem noch recht jungen Phänomen des stillen Lesens. Statt eines Kul- und die Zukunft turpessimismus – der in ähnlicher Form übri- gens auch jene oben erwähnte Leserevolution begleitete und vor den negativen Auswirkun- des Verlegens gen massenhafter Lektüre warnte – wäre ein offener Umgang mit den neuen Möglichkei- ten, aber auch den Herausforderungen für Essay die Kulturtechnik des Lesens gewinnbrin- gender und im Sinne einer wachsenden Kom- elten war das Verlegen von Büchern so in- petenz im Umgang mit digitalen Medien Stensiv in der Diskussion, primär ausgelöst ­förder­licher. durch die Kontroverse um das Urheberrecht: Der Romanautor und Gerade die oben erwähnte gelungene Ver- Musiker Sven Regener Thomas Carl Schwoerer bindung von Offline und Online bringt die fand mit einer Wutre- Dipl.-Volkswirt, geb. 1957; Potenziale von social reading auf den Punkt. de im Radio viel Be- seit 17 Jahren Verleger Die individuelle, stille Lektüre von Büchern achtung, „Tatort“-Au- des Campus Verlags. verbindet sich mit den reichen Interaktions- toren kritisierten die www.campus.de möglichkeiten des Internets und schafft so „Umsonstkultur“, im kommunikative Räume für den Text. Diese „Handelsblatt“ kamen Kreativschaffende im wirken wiederum zurück auf den Leser, den Rahmen der Aktion „Mein Kopf gehört mir“ Autor und vielleicht auch auf die Gespräche zu Wort. ❙1 Diese Akteure machten deutlich, in book clubs und Lesekreisen. Um mit der dass ein starkes Urheberrecht die Vorausset- amerikanischen Schriftstellerin Toni Mor- zung für die Entfaltung jeglicher Kultur ist, rison zu sprechen: „Reading is solitary, but denn diese ist ohne Autoren, ❙2 die vom Ver- that’s not its only life. It should have a talking kauf ihrer Texte leben können, nicht denkbar. life, a discourse that follows.“ ❙18 Zur Stärkung des Bewusstseins für das Ur- heberrecht fordern Autoren und die Buch- branche, dass Anbieter von Internetzugängen (Provider) daran mitwirken, ❙3 ihren Kunden zuallererst Warnhinweise zu schicken, wenn diese sich raubkopierte Inhalte illegal her- unterladen. Nach anerkannten Studien wür- den bis zu 70 Prozent der Nutzer ihr Verhal- ten daraufhin ändern, ❙4 und die Anzahl der

❙1 Vgl. Thomas Wilking, Ein Thema für die große Bühne, in: Buchreport Magazin, September 2012, S. 8. ❙2 Hier und im Folgenden erwähne ich nur die Ver- lagsbranche, pars pro toto für andere Medien. ❙3 Ihre Mitwirkung ist angemessen im Lichte des Traffics, von dem sie profitieren und der maßgeblich von illegaler Nutzung generiert wird. ❙4 Vgl. Kölner Forschungsstelle für Medienrecht, Vergleichende Studie über Modelle zur Versendung von Warnhinweisen durch Internet-Zugangsanbieter an Nutzer bei Urheberrechtsverletzungen im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Techno- ❙18 In Oprah Winfreys Sendung „Oprah’s Book logie, Januar 2012, online: www.bmwi.de/BMWi/ Club“ vom 6. März 1998. Redaktion/PDF/Publikationen/Technologie-und- Innovation/warnhinweise-lang,property=pdf,bereich =bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf (17. 9. 2012).

APuZ 41–42/2012 27 – umstrittenen – Abmahnungen könnte radi- zögere die dringende Novellierung des Urhe- kal verringert werden. Wäre das Zensur und berrechts. ❙7 In einem sehr lesenswerten Inter- eine Bedrohung der Meinungsfreiheit? Nein. view hat der Verleger Enno Lenze, welcher der Niemandem wäre verboten, einen Text her- Piratenpartei angehört, seine Zustimmung zu unterzuladen – er müsste nur dafür zahlen, Verwarnungen signalisiert, „wenn der Traf- sofern es sich nicht um eine reine Informa- fic nichtflächendeckend (Hervorhebung T. C. tion handelte, ohne besondere Verarbeitung Sch.) überwacht und persönliche Daten ge- und Gestaltung. speichert werden. Wenn das nach einem ver- einbarten und transparenten Modell abläuft, Nach einer weiteren Studie finden Maß- könnte es eine Lösung sein.“ ❙8 nahmen gegen Urheberrechtsverletzer zu- nehmend Zustimmung in der Bevölkerung. ❙5 Zur Durchsetzung des Urheberrechts las- Die meisten Menschen halten es für angemes- sen Verlage wie Campus schon heute monat- sen, Anbieter von urheberrechtswidrigen In- lich EDV-gestützt prüfen, ob die Inhalte ih- halten mit Bußgeldern zu belegen. Fast drei rer Autoren unerlaubt verwendet werden. Viertel der Bevölkerung halten einen Warn- Schon mehrfach ist es vorgekommen, dass hinweis des Providers vor rechtlichen Sank- sich beispielsweise Berater auf ihren Web- tionen für sinnvoll. Und 57 Prozent der Be- seiten mit langen Auszügen aus den Büchern völkerung glauben an die Wirksamkeit von von Campus-Autoren geschmückt haben – Warnhinweisen. ohne Hinweis auf Buch und Verlag.

Warnhinweise wären wichtig, um das Ur- ACTA hätte ebenfalls der Durchsetzung heberrecht durchzusetzen. Und das ist bit- des Urheberrechts gedient und war ein Ver- ter nötig. Vergangenen Dezember kündigte trag, der den 37 Unterzeichnerstaaten Min- die erfolgreiche spanische Autorin Lucia Et- deststandards für die Bekämpfung von xebarria an, das Schreiben aufzugeben, weil Raubkopierern auferlegte. Artikel 33 hät- zu viele Raubkopien ihrer Bücher herunter- te es ermöglicht, den Diebstahl geistigen Ei- geladen werden, an denen sie nichts verdient. gentums durch organisierte Kriminalität in- Ihr und ihrer Familie wird dadurch die Le- ternational zu verfolgen. Nach heutigem bensgrundlage entzogen. Bedroht es nicht Recht musste eine Gruppe deutscher und in- die Meinungsfreiheit, wenn sich Kreativität ternationaler Verlage für die Schließung der nicht mehr lohnt, weil Gesetze nicht einge- Plattformen „library.nu“ und „ifile.it“ ei- halten werden, und damit Bücher nicht mehr nen sechsstelligen Eurobetrag aufwenden, erscheinen können? Von der Freigabe von um selbst Beweise zu sichern und einstweili- Buchinhalten profitieren primär große Wirt- ge Verfügungen zu hinterlegen, deren Über- schaftskonglomerate und Raubkopierer, dazu setzung und Zustellung alleine acht Wochen unten mehr im Zusammenhang mit ACTA gedauert hat. Zuvor hatten „library.nu“ und (Anti-Counterfeiting Trade Agreement). „ifile.it“ in wenigen Monaten einen sieben- stelligen Eurobetrag auf Kosten von Auto- Das Urheberrecht mittels Warnhinweisen ren und Verlagen eingenommen, indem sie durchzusetzen, ist politisch umstritten. Di- über 400 000 E-Books illegal zum kostenlo- verse Politiker haben ihre Ablehnung eines sen Download angeboten und damit Werbe- Warnhinweismodells bekundet, „sofern die- einnahmen generiert haben. ❙9 ses den Anfang rechtlicher Schritte darstellt“ – im Gegensatz zu einem unverbindlichen Vor- Wegen solcher Fälle bedarf es dringend ei- warnverfahren. ❙6 Kulturstaatsminister Bernd ner Verbesserung der internationalen straf- Neumann fordert hingegen die Einführung rechtlichen Zusammenarbeit beim Schutz eines Warnhinweismodells und übt scharfe Kritik an der Justizministerin: Die FDP ver- ❙7 Vgl. Plädoyer für Warnhinweis, in: Börsenblatt. Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel, ❙5 Vgl. Gesellschaft für Konsumforschung, Studie Nr. 34 vom 23. 8. 2012, S. 7. zur Digitalen Content-Nutzung (DCN-Studie) 2012, ❙8 Zit. nach: Piraten kompromissbereit beim Urhe- Nürnberg 2012. berrecht, in: BuchMarkt Juli 2012, S. 34 ❙6 So die Formulierung von Justizministerin Sabine ❙9 Vgl. die Aussage von Gottfried Honnefelder in: Leutheusser-Schnarrenberger im Interview mit Tho- Eine Atempause, aber Geschichte wird gemacht, mas Darnstädt/Holger Stark, Noch mal nachdenken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom in: Der Spiegel, Nr. 24 vom 11. 6. 2012, S. 27. 24. 2. 2012, S. 37.

28 APuZ 41–42/2012 von geistigem Eigentum, wie sie Artikel 33 gatellgrenze gäbe: Bis zu drei Brötchen darf des ACTA-Abkommens vorgesehen hät- ich ohne zu zahlen mitnehmen, womit die te. Am deutschen Urheberrecht würde sich Zukunft des Bäckers besiegelt wäre. durch solche völkerrechtlichen Verträge nichts ändern – aber sie würden Urhebern Auch zwei Vorschläge der Piratenfrakti- und ihren Verwertungspartnern in der EU on Berlin in ihrem Entwurf zur Änderung bei der Durchsetzung ihrer Rechte gegen or- des Urheberrechtsgesetzes vom 4. Septem- ganisierte Kriminelle entscheidend helfen. ber 2012 helfen nicht weiter. Dass Werke erst dann geschützt werden sollen, wenn sie das Ist die Kulturflatrate eine Alternative zum „Durchschnittsschaffen überragen“, ist eine bisherigen Urheberrecht? Die Netzpolitiker denkbar schwammige Kategorisierung. Und von Bündnis 90/Die Grünen, die weitgehend wenn ein Urheber ein eingeräumtes Nut- als einzige für eine Kulturflatrate eintreten, zungsrecht nach fünf Jahren zurückrufen stehen in der Pflicht darzulegen, wie diese könnte, würde man ihm die Möglichkeit rau- etwa, wie vorgeschlagen, mit der Verwer- ben, für einen längeren Zeitraum als fünf Jah- tungsgesellschaft (VG) Wort funktionieren re mit einem Verwertungspartner zu kontra- könnte. Campus erhält jährlich 70 000 Euro hieren und sich dafür entsprechend besser von der VG Wort. Auf welchem Weg soll honorieren zu lassen. Schon heute ist jeder diese Gesellschaft finanziell so ausgestattet Urheber frei, Vertragslaufzeiten zu begren- werden, dass der gesamte Verlagsumsatz, der zen. Bei dieser Möglichkeit flexibler vertrag- das Hundertvierzigfache dieser 70 000 Euro licher Regelungen durch die Marktteilneh- beträgt, daraus gespeist würde? Und wie sähe mer – aus der in unserem Verlag nicht selten eine Kulturflatrate aus, die nicht primär Mas- eine siebenjährige Vertragsdauer resultiert – senpublikationen zugute käme? Bücher von sollte es bleiben. Eine gesetzliche Begren- Campus haben wegen ihrer Qualität Laden- zung würde den Urhebern bei der Durchset- preise von teilweise über 20 Euro. Wie fin- zung ihrer individuellen Vorstellungen nicht det das bei einer Kulturflatrate Berücksich- nutzen, sondern schaden. tigung? Wer entscheidet über die richtige Verteilung der Mittel im Vergleich zu Erlö- Der einzige sinnvolle Gegenstand einer No- sen, die Taschenbücher unter zehn Euro, aber vellierung des Urheberrechts ist die soziale mit höheren Absatzzahlen erzielen? Und, Kommunikation im Netz in bestimmten, ge- ganz grundsätzlich: Wo bleibt bei einer Kul- nau zu definierenden Bereichen; so etwa „der turflatrate der marktwirtschaftliche Mecha- Literaturfan, der zwei Seiten aus einem Ro- nismus, mit eigenen Büchern erfolgsabhängig man auf seine Facebook-Seite stellt, um den Geld zu verdienen, aus seinen Fehlern zu ler- Text mit seiner Community zu ­diskutieren“. ❙11 nen – und gegen die Konkurrenz zu bestehen (das, was Joseph Schumpeter „schöpferische Zerstörung“ nannte)? Digitales Angebot

Die Unterscheidung zwischen kommerzi- Neben Warnhinweisen und einer verbesser- ellem und nichtkommerziellem Kopieren ❙10 ten internationalen Zusammenarbeit ist die hilft ebenfalls nicht weiter. Für einen Au- dritte, gleichwertige Stärkung des Urheber- tor, der von seinem Schreiben lebt, gibt es rechts das Angebot legaler, kundenfreundli- kein nichtkommerzielles Kopieren. Mit je- cher Alternativen zum Raubkopierunwesen, der Kopie entsteht für ihn ein kommerzieller möglichst ohne Kopierschutz. Schaden. Auch eine Bagatellgrenze ist nicht hilfreich, etwa die Erlaubnis, bis zu zehn ver- Campus etwa hat sich als einer der ersten botene Downloads bereitzustellen, ohne dass Verlage vertraglich die elektronischen Rech- Sanktionen drohen. Das wäre, wie es der Jus- te von seinen Autoren übertragen lassen. tiziar des Börsenvereins, Christian Sprang, Mittlerweile erscheinen, sofern es die indi- ausdrückte, als wenn es beim Bäcker eine Ba- viduelle Rechtelage zulässt, fast alle seiner Neuerscheinungen als E-Books. Diese wer- ❙10 Vgl. Antrag D-02 des Bundesvorstands „Mehr Demokratie ist die Lösung“, zur 33. Ordentlichen ❙11 Alexander Skipis, Brauchen wir Korrekturen?, Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die 16. 5. 2012, online: www.boersenblatt.net/​529849/ Grünen vom 25. bis 27. 11. 2011. (19. 9. 2012).

APuZ 41–42/2012 29 den schon bald zehn Prozent seines Umsat- Die Politik könnte die Digitalisierung zes ausmachen. In den USA sind es bereits und den elektronischen Markt stark för- bis zu 50 Prozent, allerdings bei dickleibigen dern, wenn sie auch für diesen den ermäßig- Krimis, die man weder mit sich herumtragen ten Mehrwertsteuersatz einführen würde. ❙12 noch aufbewahren möchte. Für Sachbücher Steuersätze sollten sich am Inhalt und nicht scheint das Plateau bei etwa 20 Prozent Um- am Vermittlungsweg orientieren – letzteres satzanteil erreicht – Ausnahmen bestätigen ist nicht einsichtig. die Regel. Im Wissenschaftsbetrieb ist auch open ac- In Deutschland entwickelt sich der B2C- cess ein Thema, also der offene Zugang zu Markt (business-to-consumer, der Verkauf wissenschaftlichen Publikationen. Darüber einzelner E-Books an Leser) stark seit Auf- sprechen derzeit Wissenschaftsverleger und kommen der E-Reader im Jahr 2009, vor al- Wissenschaftsorganisationen auf Einladung lem durch den Markteintritt der internatio- der Bundesministerin für Bildung und For- nalen Konzerne Apple 2010 und Amazon schung, Annette Schavan, miteinander. Diese 2011. Dieser Markt erweitert sich durch den Arbeitsgruppe hat sich vor einiger Zeit in Trend zu multifunktionalen Smartphones zwei Unterarbeitsgruppen aufgeteilt, deren und Tablets. Auch der Umsatz mit E-Rea- eine das Thema golden open access (also die dern verzeichnet hohe Wachstumsraten: öffentlich zugängliche Publikation von An- Die fünf Millionen Euro bis Frühjahr 2012 fang an) behandelt, während die zweite sich dürften sich bis zum Jahresende verdop- mit der Zweitveröffentlichung von Zeitschrif- peln. Marktführer ist derzeit der Kindle von tenbeiträgen und Sammelwerken in staatli- ­Amazon. chen Open-access-Repositorien nach Ablauf eines Embargozeitraums seit der Veröffent- Verlage, die hier reüssieren wollen, verfü- lichung (green open access) auseinandersetzt. gen über eine gute vertriebliche Infrastruktur und werden attraktive E-Books mit kunden- Während es in der Arbeitsgruppe zum gol- freundlichen Serviceleistungen auf den großen den open access gute Fortschritte und durch- Plattformen platzieren. Viele Verlage bieten gängig konstruktive Gespräche gegeben hat, mittlerweile über das Angebot des gedruckten sind die Diskussionen zum green open access Buches als E-Book hinaus Formate an, welche von grundsätzlichen Meinungsverschieden- die (produktions-)technischen Möglichkeiten heiten geprägt. Denn die Wissenschaftsorga- digitaler Formate verstärkt nutzen, etwa, wie nisationen wollen weder über den Sinn von die Campus Keynotes, kurze Debattenbei- staatlichen Open-access-Repositorien disku- träge in rein digitaler Form, welche die Lücke tieren noch über das Ob einer zwingenden füllen zwischen dem gedruckten Buch – um- gesetzlichen Regelung, mit der Beiträge zu fassend, aber produktionsbedingt langsamer – Zeitschriften und Sammelwerken nach Ab- und dem Zeitungs-, Magazin- oder Blogarti- lauf eines bestimmten Embargozeitraums kel – schnell, doch meist nur an der Oberfläche von staatlichen Bildungseinrichtungen frei kratzend. Dieses Format kommt offenbar an. zugänglich ins Internet gestellt werden dür- So waren zwei der Campus Keynotes nach ih- fen, sondern nur über das Wie. Ihnen schwebt rem Erscheinen mehrere Tage unter den Top 10 ein Modell vor, in dem die Service- und Pu- der Amazon-E-Book-Verkäufe, nämlich „Der blikationsleistungen der Verlage nicht ent- Ausweg aus der Krise“ von Wirtschaftsnobel- lohnt werden. preisträger Paul Krugman und „Euro-Tsuna- mi“ von Patrick Bernau, Wirtschaftsredakteur Dagegen haben die Wissenschaftsverleger der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. in den Gesprächen bislang – mit Hinweis auf die im Frühjahr veröffentlichte große PEER- Für den B2B-Markt (business-to-business), Studie der EU ❙13 – den Sinn der geplanten Re- den Verkauf von Inhalten an Firmen und Bi- bliotheken, wird es künftig darauf ankom- ❙12 Derzeit gilt stattdessen der Steuersatz von 19 Pro- men, vorhandenen content lösungsorientiert zent für E-Books und physische wie digitale Hörbü- anzubieten und die Autorenmarken zu nut- cher, der ermäßigte von sieben Prozent hingegen nur für gedruckte Bücher. zen für Produkte, die über den content hin- ❙13 Vgl. Jenny Fry et al., PEER Behavioural Research: ausgehen, beispielsweise für die Entwicklung Authors and Users vis-à-vis Journals and Repositories. von Weiterbildungs­programmen. Loughborough University, August 2011, online: www.

30 APuZ 41–42/2012 positorien insgesamt infrage gestellt und ihr die Frage auf: Welche Funktion haben heute Gefährdungspotenzial für das Geschäftsmo- noch Verlage? Zuvörderst besteht sie in einer dell von Subskriptionszeitschriften hervor- intensiven Betreuung rund um die Entste- gehoben. Entsprechend haben sie freiwillige, hung und Vermarktung eines Buches. Hilf- auf Lizenzierung durch die Verlage basieren- reich ist dafür, wenn Verlagsmarken über eine de Modelle empfohlen. Über die Möglichkei- gewisse Strahlkraft verfügen (wie Diogenes ten, diese auszugestalten, wollen sie mit den in der Belletristik oder Campus als Sach- Vertretern der Wissenschaftsorganisationen buch- und Wissenschaftsverlag), welche die ­sprechen. Stärke der jeweiligen Autorenmarke ergänzt. In einigen Fällen werden Verlage außerdem gut beraten sein, das gedruckte Buch so an- Strukturelle Veränderungen sprechend auszustatten, dass man es nicht nur aus inhaltlichen Gründen, sondern auch Wie der Zeitungsmarkt spürt der Buchmarkt als schönen und wertigen Gegenstand auf- die strukturellen Veränderungen durch die bewahren oder verschenken, jedenfalls Be- Ausbreitung von Smartphones, Tablets und kannten empfehlen möchte – lieber noch als die sozialen Netzwerke. Außerdem füh- die elektronische Version. len er und die Sachbuchverlage den Paradig- menwechsel des vergangenen Jahres: Bis zum Nicht zuletzt übernehmen Verlage über die Reaktorunglück in Fukushima, stellte Zeit- Bandbreite ihrer jeweiligen Programme ein Chefredakteur Giovanni di Lorenzo fest, viel höheres kommerzielles Risiko, als dies „galt das eherne Gesetz, dass bei dramatischen den meisten Einzelautoren jemals möglich Ereignissen besonders viele Zeitungen gekauft wäre. Sie können wirtschaftliche Rückschlä- werden. Dem ist seither nicht mehr so. (…) ge besser als diese verkraften. Nach dem Reaktorunfall war jede noch so gut geschriebene Seite Drei zum Zeitpunkt ihres Das wird schon daran augenfällig, dass nur Erscheinens bereits überholt. (…) (W)eder mit ein Bruchteil der verlegten Bücher, ob von dem arabischen Frühling, noch mit der Euro- Campus oder anderen Verlagen, am hart um- krise oder dem Libyen-Krieg konnte Print am kämpften Markt reüssiert. Dies bleibt auch Kiosk einen Blumentopf gewinnen.“ ❙14 nach der zunehmenden Verlagerung von Print- zu E-Books so, deren Erfolg sich nicht Der Buchmarkt ist gerade in diesem Jahr da- leichter prognostizieren lässt. Oder wie John von geprägt, dass eine relevante Anzahl von Maynard Keynes schon 1935 im „New States- Buchhandlungen, auch großer Filialketten, man“ schrieb: „Publishing is a gambling busi- schließt. Der Handel leidet unter einer Ver- ness, kept alive by occasional windfalls.“ lagerung der Umsätze in Richtung Versand- buchhandel im Internet, vor allem ­Amazon. Wie langweilig wäre es auch, es mit lau- ter sicheren Bänken zu tun zu haben – um Amazon tritt zunehmend auch als Verleger wie viel schöner sind dagegen die oft über- von Büchern auf. ❙15 Umso mehr drängt sich raschenden Erfolgserlebnisse! Gerade dieses Spekulative am Verlagsgeschäft macht es so peerproject.eu/fileadmin/media/reports/PEER_D4_ reizvoll, wenn auch anstrengend. Dazu trägt final_report_29SEPT11.pdf (19. 9. 2012). Im Übrigen der spannende Umgang mit den irrationalen hat der Bundestagsabgeordnete Günter Krings darge- Seiten bei, die Autoren gelegentlich zeigen stellt, weshalb der grüne Weg mit einer Beschneidung müssen: Verlagsleute beeindruckt, wie sich der Urheberrechte des akademischen Mittelbaus ein- Autorinnen und Autoren für die Verbreitung hergehen kann und weshalb die Deutsche Forschungs- einer Idee engagieren, selbst wenn es sie viel gemeinschaft aus pekuniären Interessen und nicht we- gen eines freieren Zugangs zu Informationen dafür Mühe kostet und wenig Lohn einspielt – und eintritt: Günter Krings, Darauf wird sich die Politik wie sie jenen vertrauen, die sie auf diesem nicht einlassen!, in: FAZ vom 26. 10. 2011. Weg begleiten und diesem Vertrauen wiede- ❙14 Giovanni di Lorenzo im Interview mit Ulrike Si- rum gerecht werden. Zu dieser Zusammenar- mon, Wir dürfen uns nicht anbiedern, in: Frankfurter beit zwischen Autor und Verlag wird es noch Rundschau vom 4. 4. 2012, S. 35. lange kommen. ❙15 Vgl. Maximilian Probst/Kilian Trotier, Gigant ohne Geist, in: Die Zeit, Nr. 35 vom 23. 8. 2012, S. 39 ff., online: www.zeit.de/​2012/​35/Verlag-Buch- haendler-Amazon (20. 1. 2012).

APuZ 41–42/2012 31 Anne Lauber-Rönsberg Ein Urheberrecht entsteht nach Paragraf 2 Absatz 2 des deutschen Urheberrechtsge- setzes (UrhG) an „persönlichen geistigen Raubkopierer und Schöpfungen“, also kreativen Leistungen, die ein Mindestmaß an Originalität aufwei- sen und sich von der Masse des Alltäglichen Content-Mafia: abheben. ❙4 Hierunter können Werke aller Art fallen wie belletristische Texte und Sachbü- cher, Musikwerke, Skulpturen, Gemälde, Fo- Die Debatte um tografien, Filme, aber auch Computerpro- gramme und bestimmte Datenbanken.

das Urheberrecht Das Urheberrecht schützt den Urheber in seinen „geistigen und persönlichen Bezie- ir sind die Urheber!“ Mit diesen Wor- hungen zum Werk“ und soll ihm zugleich Wten riefen im Mai 2012 100 bekann- eine „angemessene Vergütung“ sichern (Pa- te Autorinnen und Autoren, Künstlerinnen ragraf 11 UrhG). Zu diesem Zweck wei- und Künstler dazu sen die Paragrafen 15–23 UrhG dem Urhe- Anne Lauber-Rönsberg auf, den Schutz ihrer ber das ausschließliche Recht zu, sein Werk Dr. iur., LL.M. (Edinburgh), geb. Werke durch das Ur- in der Öffentlichkeit zu verwerten. Es ist 1974; Habilitandin am Institut heberrecht zu stär- grundsätzlich verboten, ein Werk ohne Ein- für Geistiges Eigentum, Wettbe­ ken und den heuti- willigung des Urhebers, etwa ohne Lizenz, werbs- und Medienrecht, Juris­ gen Bedingungen des zu vervielfältigen oder im Internet zur Ver- tische Fakultät der TU Dresden, schnellen und mas- fügung zu stellen. Grundsätzlich verstoßen Bergstraße 53, 01062 Dresden. senhaften Zugangs zu auch Nutzungshandlungen ohne kommerzi- [email protected] den Produkten geis- ellen Hintergrund gegen das Urheberrecht, tiger Arbeit anzupas- beispielsweise die Veröffentlichung einer sen. ❙1 „Wir sind die Bürgerinnen und Bür- selbst eingespielten Cover-Version des Lieb- ger!“ hielten ihnen mehr als 7000 Netz-Nut- lingslieds bei Youtube. Ergänzt wird der zer entgegen und plädierten für eine Reform Schutz durch das Urheberpersönlichkeits- und Annäherung des Urheberrechts „an ge- recht (Paragrafen 12–14 UrhG), welches das sellschaftliche Realitäten“. ❙2 Die Proteste ge- Recht des Urhebers zur Entscheidung über gen das im Juli 2012 vom Europäischen Par- die (Erst-)Veröffentlichung seiner Werke, das lament abgelehnte internationale Handelsab- Recht auf Anerkennung der Urheberschaft kommen ACTA (Anti-Counterfeiting Trade und einen Schutz gegen Entstellungen des Agreement) brachten europaweit zigtausend Werkes umfasst. Demonstranten auf die Straße. Wohl noch nie zuvor befand sich das Urheberrecht derartig Flankierend statuiert das Urheberrechts- in der öffentlichen Diskussion – und in einer gesetz auch Schutzrechte für sogenannte solchen Legitimationskrise. Werkvermittler beziehungsweise Verwerter, welche die Werke der Urheber künstlerisch oder technisch-organisatorisch aufbereiten Aktuelle Rechtslage und publizieren. Hiervon profitieren unter anderem Sänger, Musiker und Schauspie- Die Verleihung von Ausschließlichkeitsrech- ler (sogenannte ausübende Künstler, Para- ten durch das Urheberrecht wird zum einen graf 73 UrhG), Filmproduzenten (Filmher- damit gerechtfertigt, dass derjenige, der eine kreative Leistung erbringt, als Schöpfer ge- ❙1 Vgl. online: www.wir-sind-die-urheber.de (29. 8. ​ schützt und zugleich in die Lage versetzt 2012). werden soll, sein Werk materiell zu verwer- ❙2 Vgl. online: www.wir-sind-die-buerger.de (29. 8. ​ ten. Nach utilitaristisch geprägten Begrün- 2012). 3 dungsansätzen soll das Urheberrecht zudem ❙ Vgl. Ulrich Loewenheim, Einleitung, in: Gerhard einen Anreiz für weiteres kreatives Schaffen Schricker/Ulrich Loewenheim (Hrsg.), Urheber- recht, München 20104, Randnummer (Rn.) 8 ff. geben, um im Interesse der Allgemeinheit das ❙4 Vgl. Ulrich Loewenheim, Kommentierung zu § 2 kulturelle und wissenschaftliche Leben zu UrhG, in: G. Schricker/U. Loewenheim (Anm. 3), fördern. ❙3 Rn. 26.

32 APuZ 41–42/2012 steller, Paragraf 94 UrhG) und Musiklabels zes zu künstlerischen, wissenschaftlichen (Tonträgerhersteller, Paragraf 85 UrhG). oder pädagogischen Zwecken genutzt werden Von einigen Kritikern wird die These ver- können. So endet das Urheberrecht 70 Jahre treten, dass die als „Content-Mafia“ titulier- nach dem Tod des Urhebers. Das Werk kann ten Verwerter durch die neuen technischen dann von jedermann ohne Lizenz und Zah- Möglichkeiten des Internets weitgehend lung einer Vergütung genutzt werden (Para- überflüssig würden, da die Kreativen die graf 64 UrhG) – eine Rechtslage, die in Bezug Präsentation und Vermarktung ihrer Wer- auf körperliche Eigentumsgegenstände wie ke nun selbst besorgen könnten. In einigen Immobilien undenkbar wäre. Vor dem Hin- Bereichen wird die Expertise der Verwerter, tergrund der Kommunikationsfreiheit er- etwa ein gutes Lektorat oder PR-Erfahrung, fasst das Urheberrecht darüber hinaus nicht sicherlich weiterhin für die Kreativen hilf- den Inhalt eines Werkes, also nicht die da- reich sein. Es bleibt abzuwarten, in welchem rin enthaltenen Informationen und Lehrmei- Ausmaß Urheber zukünftig die Verwertung nungen, sondern nur die Darstellung als sol- ihrer Werke selbst in die Hand nehmen und che, etwa Gliederung und Ausdrucksweise, ob darüber hinaus neue Internetakteure wie sofern diese über die allgemein üblichen fach- beispielsweise Amazon, die bisher auf die lichen Gepflogenheiten hinausgehen. ❙7 Das Distribution von Inhalten beschränkt wa- Urheberrecht monopolisiert damit grund- ren, durch die Produktion eigener Inhalte in sätzlich keine Informationen. Paragraf 24 die traditionellen Domänen der Verwerter UrhG gestattet die Nutzung von Werken eindringen werden. zur Schaffung selbstständiger künstlerischer Werke. Die Paragrafen 44a–63a UrhG enthal- Es ist allgemein anerkannt, dass im Urhe- ten weitere Schrankenregelungen, beispiels- berrecht eine Tripolarität der Interessen be- weise das Zitatrecht (Paragraf 51 UrhG) und steht und nicht nur die Interessen der Kre- das Privileg zur Vervielfältigung für private ativen und Verwerter, sondern auch die Zwecke (Paragraf 53 Absatz 1 UrhG). Diese Interessen der Nutzer beziehungsweise der gestatten die Nutzung von Werken ohne Li- Allgemeinheit zu berücksichtigen sind. ❙5 zenz, erfordern aber teilweise die Zahlung ei- Dabei ist zu bedenken, dass verschiedene ner Vergütung an den Rechtsinhaber. Nutzergruppen unterschiedliche Bedürf- nisse haben, je nachdem ob es sich um „pas- Schon immer galt, dass das Urheberrecht siv-konsumierende Nutzer“ oder „kreative wie kaum ein anderes Rechtsgebiet von den Nutzer“, sogenannte Prosumenten, wie zum technischen Entwicklungen beeinflusst wird. Beispiel Künstler handelt, die ein Werk als Seine Entwicklung begann mit Gutenbergs Inspirationsquelle für eigenes Schaffen nut- Erfindung der Druckerpresse, die das Be- zen. Wie der Gesetzgeber schon Anfang der dürfnis nach einem Schutz der Verleger vor 1960er Jahre betonte, sind kreative Leistun- unbefugten Nachdrucken weckte. ❙8 Neu ist gen „Mitteilungsgut“, also nach ihrer Ver- allerdings die Dynamik, die von den techni- öffentlichung auf Kommunikation an die schen Entwicklungen ausgeht. Dies sind ei- Allgemeinheit ausgelegt. ❙6 Zudem ist zu be- nerseits die digitalen Speichertechnologien, rücksichtigen, dass Werke in der Regel auf die ein einfaches und kostengünstiges Dupli- überliefertem Kulturgut aufbauen. Aus al- zieren des Inhalts ohne Qualitätsverlust er- ledem folgt, dass der rechtliche Rahmen so möglichen, und andererseits neue Übermitt- ausgestaltet sein muss, dass er zugunsten der lungstechnologien wie das Internet. Diese Nutzer die Rezeption von veröffentlichten Entwicklungen bringen neue Verwertungs- Werken und in gewissen Grenzen auch ihre möglichkeiten wie Download-Angebote, weitere „Verarbeitung“ zulässt. E-Books und Online-Datenbanken mit sich,

Daher begrenzt das Urheberrechtsgesetz ❙7 Vgl. Horst-Peter Götting, Der Schutz wissen- das geistige Eigentum des Urhebers, damit schaftlicher Werke, in: Ulrich Loewenheim, Urhe- Werke trotz ihres urheberrechtlichen Schut- berrecht im Informationszeitalter. Festschrift für Wilhelm Nordemann, München 2004, S. 7 f. ❙8 Vgl. Hannes Siegrist, Geschichte des geistigen Ei- ❙5 Vgl. U. Loewenheim, Einleitung (Anm. 3), Rn. 12. gentums und der Urheberrechte, in: Jeanette Hof- ❙6 Vgl. Amtliche Begründung zum Entwurf des Ur- mann (Hrsg.), Wissen und Eigentum. Geschichte, heberrechtsgesetzes, Bundestags-Drucksache IV/270, Recht und Ökonomie stoffloser Güter, Bonn 2006, S. 79. S. 64, S. 68.

APuZ 41–42/2012 33 führen aber auch zu einem Kontrollverlust te Verbraucher, deren Befugnisse sie doch re- der Rechtsinhaber. gelt, kaum mehr verständlich sein dürfte. ❙9

Konflikte zwischen den Kritikpunkte aus Sicht der Nutzer betroffenen Interessengruppen So komplex, wie die betroffenen Interessen- Die aktuelle Debatte dreht sich im Kern da- gruppen sind, so vielfältig sind auch die be- rum, wie umfangreich die Rechte der Ur- mängelten Defizite. Von Nutzerseite wird heber ausgestaltet sein müssen, damit das kritisiert, dass das Urheberrecht zu einsei- Urheberrecht seine Anreiz- und Belohnungs- tig die Interessen der Rechtsinhaber, insbe- funktion optimal erfüllen kann, und in wel- sondere der Verwerter, berücksichtige und chem Ausmaß das Urheberrecht zugunsten selbst Nutzungshandlungen ohne kommer- der Nutzer eingeschränkt werden sollte. Da- ziellen Hintergrund verbiete, wie beispiels- bei ist es sicherlich nicht zutreffend, dass ein weise die Veröffentlichung einer selbst ein- besonders starkes Urheberrecht zwangsläu- gespielten Cover-Version im Internet. Da die fig zu mehr Kreativität und Innovation führt. heutigen technischen Rahmenbedingungen Während ein zu starker Schutz neuem kreati- zu einer Verlagerung von Vervielfältigungs- vem Schaffen im Wege steht und damit zu In- und Kommunikationsvorgängen aus dem ge- novationsblockaden führt, übt ein zu schwa- werblichen in den privaten Bereich führten, cher Schutz eine zu geringe Anreizfunktion ist es jedoch grundsätzlich sachgerecht, dass aus. Die zentrale Frage ist also, wie im ge- das Urheberrecht auch diese Nutzungsvor- samtgesellschaftlichen Interesse ein ausge- gänge erfasst – jedenfalls soweit hierdurch wogenes Verhältnis zwischen Rechtsinhaber- die Verwertungschancen der Rechtsinha- und Nutzerinteressen erreicht wird. ber beeinträchtigt werden, wie zum Beispiel durch die Veröffentlichung einer mit dem Die Diskussion ist auch deswegen so kom- Original vergleichbaren Aufnahme. Diskus- plex und kontrovers, weil urheberrechtliche sionswürdig ist es meiner Einschätzung nach Regelungen eine Vielzahl von Interessen- hingegen, ob das Urheberrecht bearbeitete gruppen betreffen. Zu der oben beschriebe- Versionen, die nicht in Konkurrenz zu dem nen tripolaren Interessenlage der Kreativen, Originalwerk treten und damit den Verwer- der Rechteverwerter und der Rezipienten tungschancen der Rechtsinhaber grundsätz- sind im digitalen Zeitalter noch weitere Ak- lich nicht schaden, gestatten sollte. teure hinzugetreten wie Suchmaschinenbe- treiber, Internetserviceprovider und Webhos- Darüber hinaus wird eingewandt, dass ter. Dabei können einzelne Akteure durchaus das Urheberrecht eine kreative Nutzung von mehreren Interessengruppen angehören. So Werken verhindere, etwa die Erstellung neu- haben beispielsweise Wissenschaftler in der er Medieninhalte im Rahmen von Parodien, Regel einerseits als „Produzenten“ urheber- samplings oder mashups durch die Kombina- rechtlich geschützter Werke ein Interesse an tion bereits bestehender Inhalte. Gemäß Pa- einem relativ starken Schutz ihrer Werke; ragraf 24 UrhG ist die Veröffentlichung eines andererseits sind sie als Nutzer auf den Zu- bearbeiteten oder verfremdeten Werkes nur gang zu den Werken ihrer Kollegen angewie- zulässig, sofern die künstlerische Verarbei- sen. Diese Komplexität der zu berücksichti- tung ein solches Ausmaß erreicht hat, dass ein genden Interessen und die beharrliche Arbeit eigenständiges neues Werk entstanden ist und durchsetzungsstarker Lobbygruppen führt die prägenden Merkmale des ursprünglichen dazu, dass die gesetzgeberischen Reformen Werkes verblasst sind. ❙10 Zusätzliche Grenzen im Bereich des Urheberrechts im vergange- bestehen durch die flankierenden Schutzrech- nen Jahrzehnt immer langwieriger wurden te der Verwerter, da nach der Rechtsprechung und häufig zu komplizierten und detailbela- des Bundesgerichtshofs nicht einmal kleinste denen Regelungen führten. Ein Negativbei- spiel ist die 2003 und 2008 reformierte Rege- ❙9 lung zu Vervielfältigungen zum privaten und Vgl. Thomas Dreier, Kommentierung zu § 53 UrhG, in: Thomas Dreier/Gernot Schulze, Urheber- sonstigen eigenen Gebrauch in Paragraf 53 rechtsgesetz, München 20083, Rn. 4. UrhG, die einen Grad an Komplexität und ❙10 Vgl. Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 11. 3. ​ Differenzierung erreicht hat, der für priva- 1993, Az. I ZR 264/91 – Asterix-Persiflagen.

34 APuZ 41–42/2012 Teile von bestehendem Tonträger- oder Film- UrhG). Wenn Rechtsinhaber in diesen Fäl- material ohne Zustimmung der Rechtsinha- len legitimerweise ihre Rechte verteidigen, ber verwendet werden dürfen, wenn sie selbst geschieht dies in der Regel durch eine soge- erzeugt werden können. ❙11 nannte Abmahnung, durch die der jeweilige Verletzer dazu aufgefordert wird, derartige Ein weiterer Kritikpunkt sind die von ei- Rechtsverletzungen zukünftig zu unterlas- nigen Verwertern eingesetzten technischen sen und im Falle der Zuwiderhandlung eine Maßnahmen, wie etwa die bei DVDs übli- Vertragsstrafe zu zahlen. Zudem muss der chen Kopierschutzmechanismen. Zwar hat Verletzer die Anwaltskosten des Rechtsinha- die mangelnde Verbraucherakzeptanz dazu bers sowie einen eventuellen Schadensersatz geführt, dass in einigen Bereichen größten- zahlen. Dieses allgemein übliche Vorgehen teils auf den Einsatz technischer Schutz- wurde in den vergangenen Jahren gerade in maßnahmen verzichtet wird. In anderen Be- Filesharing-Fällen jedoch durch überzogene reichen, zum Beispiel bei E-Books, ist ihre Streitwerte und Gebührenforderungen dazu Verwendung zur Absicherung der jeweiligen missbraucht, überhöhte Kosten geltend zu Nutzungsbedingungen hingegen weitgehend machen. Der Gesetzgeber hat durch den 2008 üblich. Indem Paragraf 95a Absatz 1 UrhG eingeführten Paragrafen 97a UrhG versucht, die Umgehung dieser Kopierschutzmecha- diesen Missständen durch die Deckelung der nismen verbietet und Paragraf 108b Absatz 1 Anwaltsgebühren auf 100 Euro in einfach ge- UrhG sogar bis zu ein Jahr Freiheitsstrafe an- lagerten Fällen mit einer nur unerheblichen droht, wenn die Tat nicht ausschließlich zum Rechtsverletzung außerhalb des geschäftli- privaten Gebrauch erfolgt, wird hierdurch chen Verkehrs einen Riegel vorzuschieben. ein zweites Schutzregime neben dem eigent- lichen Schutz des Werkes durch das Urheber- Auch seitens der deutschen Wissenschafts- recht geschaffen. Es ist nicht nur für Laien organisationen wie der Deutschen For- schwer verständlich, dass dieses Verbot zur schungsgemeinschaft, der Fraunhofer-Gesell- Umgehung von Kopierschutzmechanismen schaft und der Max-Planck-Gesellschaft wird sogar dann gilt, wenn der Nutzer eigentlich eine Reform des Urheberrechts gefordert. ❙12 dazu berechtigt wäre, eine Vervielfältigung Als Folge der seit Mitte der 1990er Jahre ex- anzufertigen, beispielsweise für Zwecke des trem gestiegenen Preise für wissenschaftliche Schulunterrichts oder im Rahmen des Pri- Zeitschriften in den technischen, naturwis- vatkopieprivilegs. Der zur Wahrung der senschaftlichen und medizinischen Fachbe- Nutzer­inte­res­sen eingeführte Paragraf 95b reichen, der sogenannten journal crisis, wird UrhG, der den zur Vervielfältigung berech- der Zugang zu wissenschaftlicher Fachlitera- tigten Nutzern das Recht gibt, von dem je- tur zunehmend schwierig. Aus diesem Grund weiligen Rechtsinhaber die „notwendigen“ fordern die Wissenschaftsorganisationen die Mittel zu fordern, um doch noch die benötig- Einführung eines Zweitverwertungsrechts ten Vervielfältigungen herzustellen, ist mei- für Urheber von wissenschaftlichen Beiträ- ner Meinung nach zu kompliziert, um in der gen, die überwiegend im Rahmen einer mit Praxis größere Bedeutung zu erlangen. öffentlichen Mitteln finanzierten Lehr- und Forschungstätigkeit entstanden sind. Hier- Ein weiteres Problem ist die zum Teil miss- durch würde dem Verfasser ermöglicht, den bräuchliche Rechtsdurchsetzung durch mas- von ihm verfassten Beitrag nach einer ange- senhafte Abmahnverfahren. Wie bereits messenen Frist nach Veröffentlichung durch dargestellt, dürfen Werke nicht ohne Zu- einen Verlag in einer wissenschaftlichen Zeit- stimmung der Rechtsinhaber im Internet schrift zum Abruf auf der Internetseite sei- zur Verfügung gestellt werden (Paragraf 19a ner akademischen Institution oder einem UrhG). Daher ist es unzulässig, zum Bei- Open-access-Server bereitzustellen. Ein wei- spiel Musik oder Filme in Filesharing-Netz- terer Konfliktpunkt zwischen den Wissen- werke einzustellen. Werke, die aus einer of- schaftsorganisationen und den Verlagen sind fensichtlich rechtswidrigen Quelle stammen, die Schranken zugunsten von Forschung und dürfen selbst zu privaten Zwecken nicht he- Lehre (Paragrafen 52a, 52b UrhG), die es ge- runtergeladen werden (Paragraf 53 Absatz 1 ❙12 Vgl. online: www.mpg.de/225737/Neuregelung_​ ❙11 Vgl. BGH, Urteil vom 20. 11. 2008, Az. I ZR des_Urheberrechts_Anliegen__Dokument_im_ 112/06 – Metall auf Metall, Rn. 23. Volltext_.pdf (29. 8. 2012).

APuZ 41–42/2012 35 statten, Werke ohne Zustimmung der Verlage der kontrovers diskutierte Paragraf 101 Ab- zum Zweck der Forschung und Lehre – zu- satz 2 UrhG eine entsprechende Auskunfts- gangsbeschränkt für die jeweiligen Forscher, pflicht des jeweiligen Internetserviceproviders Studenten beziehungsweise Schüler – ins In- nach richterlicher Anordnung. Eine weiter- ternet einzustellen. Streitpunkte sind unter gehende Überwachung des Internetverkehrs anderem, in welchem Umfang Werke ins In- wäre dagegen aus datenschutzrechtlichen ternet eingestellt werden dürfen, ob die gesetz- Gründen meiner Einschätzung nach abzu- liche Nutzungserlaubnis auch dann gelten soll, lehnen. Auch eine Verschärfung der Sanktio- wenn die Verlage selbst ein entsprechendes nen im Falle von Urheberrechtsverletzungen Online-Angebot aufgebaut haben, und welche durch die Sperrung des Internetzugangs ein- Vergütung die Verlage im Gegenzug erhalten. zelner Nutzer bei dreimaliger Verletzung nach dem Three-strikes-and-you-are-out-Modell erscheint im Hinblick auf die durch Artikel 5 Kritikpunkte aus Sicht der Urheber Absatz 1 GG garantierte Informationsfrei- und Verwerter heit nicht durchsetzbar. Damit bleibt das aus Verwertersicht zentrale Problem ungelöst, wie Seitens der Rechtsinhaber wird häufig ein eine effektive Durchsetzung legitimer Rechts- mangelndes Unrechtsbewusstsein der Nut- positionen bei gleichzeitiger Wahrung der zer beklagt. Ein Beispiel hierfür ist die teil- Nutzerinteressen erreicht werden kann. weise von Nutzerseite geäußerte These, dass dem Rechtsinhaber durch eine Urheber- Auch wenn Kreative und Verwerter häu- rechtsverletzung – anders als dem Opfer ei- fig die gleichen Interessen verfolgen, kann es nes Ladendiebstahls – nichts genommen wer- zwischen diesen beiden Gruppen ebenfalls zu de. Dem ist entgegenzuhalten, dass dennoch Interessenkonflikten kommen, etwa bei der bei beiden Konstellationen in Eigentums- Aufteilung der Tantiemen. Um dem im Re- rechte eingegriffen wird. Und zumindest in gelfall bestehenden strukturellen Ungleichge- den Fällen, in denen der Rechtsverletzer das wicht zwischen dem einzelnen Kreativen und Werk andernfalls gegen Entgelt erworben den geschäftserfahrenen Verwertern entge- hätte, ist dem Rechtsinhaber auch ein wirt- genzuwirken, statuiert das Urheberrechtsge- schaftlicher Schaden entstanden. setz seit 2002 einen Anspruch des Urhebers auf angemessene Vergütung. Der Bundesge- Die Digitalisierung hat den Rechtsinha- richtshof hat auf dieser Grundlage in den ver- bern neue Verwertungsmöglichkeiten eröff- gangenen Jahren insbesondere die Rechte von net, gibt den Rezipienten zugleich aber auch Übersetzern gestärkt. ❙13 Außerhalb dieses Be- mehr Nutzungsmöglichkeiten. Es bleibt eine reichs sind diese Regelungen bisher jedoch – Herausforderung für die Verwerter, Ge- wohl auch aufgrund der faktischen Machtver- schäftsmodelle zu entwickeln, welche die hältnisse – von begrenzter Relevanz geblieben. Umsatzeinbrüche bei physischen Werkexem- plaren – durch illegale Filesharing-Aktivitä- ten gleichermaßen wie durch legale Privatko- Aktuelle Gesetzesvorhaben pien – kompensieren. Zur Anpassung an die neuen technischen Ge- Zudem erschwert die Digitalisierung die gebenheiten sind in den vergangenen Jahren beim geistigen Eigentum naturgemäß schon zahlreiche Reformen des Urheberrechts er- problematische Durchsetzung der Rechtsposi- folgt. Nach dem „Ersten Korb“ 2003 ❙14 und tionen. So kann sich ein Host Provider durch seit Verabschiedung des „Zweiten Korbs“ die Verwendung eines Servers in einem Staat, 2008 ❙15 wird über eine weitere Reform, den der es mit dem Schutz von Urheberrechten „Dritten Korb“, diskutiert. Von den ursprüng- nicht so genau nimmt, faktisch dem Zugriff der Rechtsinhaber und der deutschen Strafverfol- ❙13 Vgl. BGH, Urteil vom 7. 10. 2009, Az. I ZR 38/07 – gungsbehörden entziehen. Weitere Probleme Talking to Addison. 14 ergeben sich daraus, dass Urheberrechtsverlet- ❙ Vgl. Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in zungen im Internet zumeist anonym begangen der Informationsgesellschaft vom 10. 9. 2003, Bun- desgesetzblatt (BGBl.) 2003 I, S. 1774. werden und daher zur Rechtswahrnehmung ❙15 Vgl. Zweites Gesetz zur Regelung des Urheber- zunächst einmal die Identität des Verletzers rechts in der Informationsgesellschaft vom 26. 10. ​ aufgedeckt werden muss. Nunmehr statuiert 2007, BGBl. 2007 I, S. 2513.

36 APuZ 41–42/2012 lichen Forderungen, dass dieser die „Belan- beispielsweise hinsichtlich der damit ein- ge von Bildung, Wissenschaft und Forschung hergehenden Einschränkung der Meinungs- in der Wissens- und Informationsgesell- und Informationsfreiheit und hinsichtlich schaft“ umsetzen sollte, ❙16 ist der Gesetzgeber des Verhältnisses zwischen dem Leistungs- wohl mittlerweile abgerückt. Gegenstand der schutzrecht und dem Urheberrecht der be- nächsten Gesetzesänderung wird nach derzei- troffenen Journalisten auslösen. Fraglich ist tigem Diskussionsstand nur ein neues Leis- überdies, ob eine solche Regelung nicht auch tungsschutzrecht für Presseverleger sein. ❙17 kontraproduktive Folgen haben könnte, falls die Suchmaschinen-Betreiber die Verlagssei- Anders als Tonträger- und Filmherstel- ten auch im Rahmen der Suchfunktion nicht ler verfügen Buch- und Zeitungsverleger mehr berücksichtigen würden. trotz entsprechender Forderungen seit dem 19. Jahrhundert bislang über kein eigenstän- diges Schutzrecht. Die Rahmenbedingun- Alternative Regelungsmodelle gen haben sich jedoch dadurch geändert, dass Suchmaschinenbetreiber und andere Nach- Angesichts der kontroversen Debatte drängt richten-Aggregatoren mittlerweile kurze Zu- sich die Frage auf, welche alternativen Kon- sammenfassungen von Zeitungsartikeln auf zepte zur Verfügung stehen. Die Abschaf- ihre Internetseite aufnehmen und diese mit fung des Urheberrechts wäre sicherlich kei- den Originalartikeln auf den Seiten der Pres- ne wünschenswerte Option, da es weiterhin severleger verlinken, um die Attraktivität ih- sinnvoll ist, um den Kreativen und Werkver- rer Dienstleistungen zu erhöhen. Für die- mittlern die Verwertung geistiger Leistungen sen Zugriff auf ihre Leistungen erhalten die ermöglichen, um im gesamtgesellschaftlichen Presseverleger keine Vergütung, wenn diese Interesse einen Anreiz zu künstlerischem sogenannten snippets zu kurz sind, um in und wissenschaftlichem Schaffen zu geben den Schutzbereich des Urheberrechts zu fal- und um die legitimen Zugangsinteressen der len. Auch das Verlinken der snippets mit dem Nutzer, auch gegenüber den Verwertern, zu Originalartikel greift nicht in das Urheber- sichern. recht der Verlage ein. Mit Skepsis ist meiner Meinung nach auch Der am 29. August 2012 vom Bundeska- dem theoretisch bestechenden Vorschlag zu binett angenommene Gesetzesentwurf sieht begegnen, angesichts der Unkontrollierbar- vor, die öffentliche Zugänglichmachung von keit im digitalen Umfeld den Zugang zu Wer- Presserzeugnissen im Internet durch gewerb- ken im Internet für nicht-kommerzielle Zwe- liche Anbieter von Suchmaschinen und Nach- cke ohne Zustimmung der Rechtsinhaber zu richten-Aggregatoren innerhalb des ersten gestatten und als Ausgleich eine gesetzliche Jahres nach ihrer Veröffentlichung ohne Zu- Vergütung im Sinne einer pauschalen Kultur- stimmung der Rechtsinhaber zu verbieten. ❙18 flatrate für Breitband-Internetzugänge vorzu- Anders als vorherige Entwürfe dürfte der sehen. Auf diesem Modell beruht seit Inkraft- derzeitige Vorschlag damit Blogger, die ih- treten des Urheberrechtsgesetzes im Jahr 1966 ren Blog zu nicht-kommerziellen Zwecken das Privatkopie-Privileg: Da Rechtsinhaber es betreiben, nicht betreffen. Dennoch wird die faktisch nicht verhindern können, dass Nut- Vorlage sicherlich noch einige Diskussionen zer für ihren privaten Gebrauch Kopien an- fertigen, hat der Gesetzgeber die private Ver- ❙16 Beschluss des Bundesrates vom 21. 9. 2007, Bun- vielfältigung in Paragraf 53 Absatz 1 UrhG desrats-Drucksache 582/07 (Beschluss). erlaubt und den Rechtsinhabern stattdessen ❙17 Zudem wird derzeit ein Referentenentwurf vom einen Vergütungsanspruch eingeräumt (Para- 27. Juli 2012 zur Umsetzung der europäischen Richt- linie 2011/77/EU über die Schutzdauer des Urheber- grafen 54 ff. UrhG). Die pauschalierte Vergü- rechts und bestimmter verwandter Schutzrechte in tung wird nicht direkt von den Nutzern ge- deutsches Recht diskutiert, durch den die Schutzdau- zahlt, da auch dies faktisch nicht durchsetzbar er für Musikkompositionen mit Text harmonisiert wäre, sondern von denjenigen, die Verviel- und die Schutzdauer von Rechten ausübender Künst- fältigungsgeräte wie DVD-Brenner und Fo- ler und Tonträgerherstellern von 50 auf 70 Jahre ver- tokopiergeräte beziehungsweise Speicherme- längert werden soll. ❙18 Vgl. online: www.irights.info/userfiles/​3_%20 dien wie DVDs und Festplatten herstellen Referentenentwurf-LSR-Kabinettsfassung_Scan.pdf oder mit ihnen handeln. Üblicherweise legen (29. 8. 2012). die Hersteller beziehungsweise Händler von

APuZ 41–42/2012 37 Vervielfältigungsgeräten und Speichermedi- aufgezählten Nutzerbefugnisse im Urheber- en diese Vergütung über den Kaufpreis mit- rechtsgesetz möglich ist. ❙20 Zu überlegen wäre telbar auf die Endverbraucher um, was vom allerdings, wie der mit dieser Flexibilität ein- Gesetzgeber auch beabsichtigt ist. Die Vergü- hergehenden Rechtsunsicherheit entgegenge- tung wird von den Verwertungsgesellschaften wirkt werden könnte. Derzeit steht diesem eingezogen und an die Kreativen und Verwer- Vorschlag jedoch das geltende EU-Recht ent- ter ausgeschüttet. In dem begrenzten Bereich gegen, so dass eine entsprechende Reform in der Privatkopie funktioniert dieses pauscha- naher Zukunft unwahrscheinlich ist. le Vergütungssystem befriedigend; es hat aber zweifellos auch Defizite. So spiegelt die pau- Während die erörterten Reformvorschlä- schalierte Vergütung zum Beispiel nicht das ge einer Kulturflatrate und einer Fair-use- Ausmaß der tatsächlichen Nutzung urheber- Regelung auf eine gesetzliche Beschränkung rechtlicher Werke durch den einzelnen Nut- des Urheberrechts abzielen, können Kreative zer wider. Zudem zehren die Verwaltungskos- schon jetzt auf freiwilliger Basis die Nutzung ten der Verwertungsgesellschaften, die sich ihrer Werke ermöglichen, indem sie diese mit etwa acht bis 14 Prozent noch in einem an- Open-content-Lizenzen unterstellen. Ein be- gemessenen Rahmen bewegen, einen Teil der kanntes Beispiel sind die von der gemeinnüt- Vergütung auf. zige Organisation Creative Commons veröf- fentlichten Standard-Lizenzverträge, die für Diese Defizite sprechen gegen eine Auswei- beliebige Werkarten anwendbar sind und vom tung des pauschalierten Vergütungssystems Urheber festgelegte Nutzungen gestatten. ❙21 auf den gesamten Internetbereich. Denn pro- Es wäre wünschenswert, diese Ansätze wei- blematisch wäre unter anderem, wie hoch eine ter zu fördern. solche Kulturflatrate sein dürfte, um noch so- zialverträglich zu sein, welche Instanz mit der Zusammenfassend lässt sich feststellen, Festsetzung der Vergütungssätze betraut wer- dass ein umfassender Befreiungsschlag zur den sollte, nach welchem Schlüssel die Ein- Beendigung der kontroversen Urheberrechts- nahmen ausgeschüttet werden und welche Debatte nicht in Sicht ist. Daher wird es wohl Verwaltungskosten dieses System verursachen auch in Zukunft nur punktuelle Reformen würde. Sehr fraglich wäre überdies, ob ein sol- des bestehenden Systems geben können, die ches System auf allgemeine Akzeptanz stoßen durch eine sachliche Aufklärungs- und Über- würde, da alle Inhaber von Breitbandzugän- zeugungsarbeit unterstützt werden sollten. gen die Vergütung unabhängig davon zahlen Kampagnen wie diejenige der Filmindustrie müssten, in welchem Maße sie fremde Werke unter dem Slogan „Raubkopierer sind Ver- ohne Lizenz des Rechtsinhabers nutzen. Pro- brecher“ dürften einer konstruktiven Lösung blematisch ist auch, ob eine solche Begren- dagegen wenig förderlich sein. ❙22 Es bleibt zung der Kontroll­ mög­ lich­ kei­ ten­ der Urheber zu hoffen, dass alle Beteiligten in der weite- mit dem deutschen Verfassungsrecht kompa- ren Diskussion verbal abrüsten und durch ein tibel wäre. Zudem wäre eine Kulturflatrate konstruktives Zusammenwirken eine ausge- jedenfalls nach derzeitigem Stand wohl nicht wogene Balance zwischen Schutzrechten und mit dem europäischen Recht vereinbar. ❙19 Freiheiten im digitalen Umfeld erreichen.

Zum Teil wird vorgeschlagen, in Anleh- nung an das US-amerikanische copyright law ❙20 Siehe vertiefend Axel Metzger, Urheberrechts- eine Fair-use-Schranke einzuführen, die eine schranken in der Wissensgesellschaft: „Fair Use“ „angemessene Nutzung“ von Werken ohne oder enge Einzeltatbestände?, in: Matthias Leistner Zustimmung des Rechtsinhabers gestattet. (Hrsg.), Europäische Perspektiven des Geistigen Ei- gentums, Tübingen 2010, S. 118. Die Fair-use-Klausel bietet den Vorteil, dass ❙21 Vgl. online: http://de.creativecommons.org (29. 8. ​ die Rechtsprechung flexibler auf neue Tech- 2012). nologien reagieren könnte als dies nach der- ❙22 Sie ist überdies ungenau, da vorsätzliche Urheber- zeitiger Rechtslage aufgrund der abschließend rechtsverletzungen zwar mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren bewehrt sind (Paragraf 106 UrhG), jedoch keine Verbrechen im Sinne einer besonders schwer- ❙19 Vgl. Maximilian Haedicke, Patente und Piraten. wiegenden Straftat darstellen. Vgl. Paragraf 12 Ab- Geistiges Eigentum in der Krise, München 2011, satz 1 des Strafgesetzbuchs. S. 82 ff.; Anne Lauber-Rönsberg, Urheberrecht und Privatgebrauch, Baden-Baden 2011, S. 362 ff.

38 APuZ 41–42/2012 Jeanette Hofmann · Christian Katzenbach · risch und konzeptionell in den Blick genom- Merlin Münch men und hinterfragt haben. So hat etwa die Literaturwissenschaft den Begriff des origina- len Werks ❙3 wie auch den des Autors ❙4 proble- Kulturgütermärkte matisiert. Die Rechts- und Sozialwissenschaf- ten haben sich kritisch mit dem Konzept des geistigen Eigentums auseinandergesetzt, ❙5 und im Schatten des die Wirtschaftswissenschaften schließlich ha- ben auf die Ineffizienz und Konzentration der Urheberrechts – zur Informationsgütermärkte hingewiesen. ❙6 In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit Pluralität praktizier- der Frage nach der Bedeutung des Urheber- rechts für den Handel mit kulturellen Werken. ter Regelungsformen Die dem Urheberrecht und den Reform-De- batten zugrunde liegende Annahme ist hier, dass staatlich garantierte Ausschlussrechte für ie Digitalisierung hat eine heftige Dis- den Handel mit Informationsgütern notwen- Dkussion über das Urheberrecht ausgelöst. dig sind, weil Musik, Literatur oder Film an- Diese Diskussion wird überwiegend norma- dernfalls nicht im gewünschten Umfang ge- tiv geführt. Meist geht schaffen werden und es in der Folge zu einem Jeanette Hofmann es dabei um rechtli- Marktversagen kommt. ❙7 Aus diesem Grund Dr. rer. pol.; Politikwissen­ che Grundsätze oder wird dem Urheberrecht im Allgemeinen eine schaftlerin am Wissen­ die allgemeine (Zah­ marktschaffende Rolle zugeschrieben. Ge- schaftszentrum Berlin für lungs-)Moral und nur gen diese Annahme spricht allerdings, dass Sozialforschung; Direktorin am selten um die konkre- Alexander von Humboldt Institut te Praxis der Produk- ❙1 Für einen Überblick vgl. Ingrid Schneider, Das für Internet und Gesellschaft, tion und Vermark- Europäische Patentsystem. Wandel von Governance Bebelplatz 1, 10099 Berlin. tung von Kulturgü- durch Parlamente und Zivilgesellschaft, Frank­ [email protected] furt/M.–New York 2010. tern. Tatsächlich ha- ❙2 Die folgenden Ausführungen sind Überlegungen ben wir relativ wenig und erste Ergebnisse aus dem auf mehrere Jahre an- Christian Katzenbach systematisches Wissen gelegten Projekt „Koordination der Allokation von M. A.; Studium der Kommunika­ darüber, wie das Ur- Kulturgüter“ am Alexander von Humboldt Institut tionswissenschaft, Informatik heberrecht praktisch für Internet und Gesellschaft, online: www.hiig.de/ und Philosophie; wissenschaft­ wirkt. Im Unterschied forschung/internet-policy-regulierung/koordination- licher Mitarbeiter am Alexander der-allokation-von-kulturgutern/ (17. 9. 2012). zum Patentrecht, des- ❙3 Vgl. Martha Woodmansee, The Genius and the von Humboldt Institut für Inter­ sen Annahmen und Copyright: Economic and Legal Conditions of the net und Gesellschaft (s. o.). Effekte vielfach unter- Emergence of the ‚Author‘, in: Eighteenth-Century [email protected] sucht worden sind, ❙1 Studies, 17 (1984) 4, S. 425–448. 4 steckt die sozialwis- ❙ Vgl. Mark Rose, Authors and Owners: The Inven- Merlin Münch tion of Copyright, Harvard 1993. senschaftliche For- ❙5 Master in European Studies of Vgl. Bruce G. Carruthers/Laura Ariovich, The So- schung zum Urhe- ciology of Property Rights, in: Annual Review of Science and Technology; wissen­ berrecht noch in den Sociology, 30 (2004), S. 23–46; Thomas Dreier, Ver- schaftlicher Mitarbeiter am Ale­ Kinderschuhen. Eine dichtungen und unscharfe Ränder. Propertisierungs- xander von Humboldt Institut für sinnvolle Reaktion tendenzen im nationalen und internationalen Recht Internet und Gesellschaft (s. o.). auf die polarisierende des geistigen Eigentums, in: Comparativ. Leipziger [email protected] Debatte um das Urhe- Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, 16 (2006) 5–6, S. 172–201. berrecht könnte des- ❙6 Vgl. Peter Drahos, The Regulation of Public halb darin bestehen, mehr Klarheit über seine Goods, in: Journal of International Economic Law, 7 Wirkungsweise zu gewinnen und so weitere (2004) 2, S. 321–339; Paul A. David/Dominique Foray, Reformüberlegungen auf eine breitere empi- Economic Fundamentals of the Knowledge Society, rische Grundlage zu stellen. ❙2 in: Policy Futures in Education, 1 (2003) 1, S. 20–49. ❙7 Vgl. Kenneth J. Arrow, Economic Welfare and the Allocation of Resources for Invention, in: Universi- Eine solche Betrachtung kann anknüpfen ties-National Bureau (ed.), The Rate and Direction an eine Reihe von Studien, welche die grund- of Inventive Activity: Economic and Social Factors, legenden Annahmen des Urheberrechts empi- Princeton 1962, S. 609–626.

APuZ 41–42/2012 39 zum einen nicht alle relevanten Kulturgüter Stattdessen werden Fragen der Autorschaft urheberrechtlich geschützt sind und zum an- und des Eigentums sowie Rechtetransfers deren, dass einige Kulturgütermärkte durch und die Ahndung von Verstößen auf Basis ei- beträchtliche rechtliche Unsicherheit gekenn- nes über die Zeit entstandenen Systems sozi- zeichnet sind, weil die Anwendbarkeit gesetz- aler Normen reguliert. ❙9 licher Ausschlussrechte auf die jeweiligen kre- ativen Leistungen umstritten ist. Das formelle Recht spielt im Comedy-Be- reich vor allem deshalb keine Rolle, weil die Für eine empirische Untersuchung der Be- grundlegenden Kategorien und Annahmen deutung gesetzlicher Rechte für die Zirkula- des Urheberrechts in zentralen Dimensio- tion von Kulturgütern sind diese Märkte „im nen nicht mit den Praktiken und Normen der Schatten“ des Rechts besonders instruktiv. Künstler übereinstimmen. Der erste Aspekt Denn diese machen eine Pluralität und Hete- betrifft die essenzielle Frage nach dem Gegen- rogenität möglicher Regelungsarrangements stand der normativen Ansprüche. Das Urhe- sichtbar, die durch die Fokussierung der gän- berrecht schützt Werke, keine Ideen. Es ist bei gigen Diskussion auf das Urheberrecht häu- einem Witz aber primär die Idee, aus der sich fig verdeckt wird. die Komik ergibt. Diese Idee kann auf sehr un- terschiedliche Art und Weise zum Ausdruck Im Folgenden werden wir deshalb einige gebracht werden, so dass das Urheberrecht Beispiele für Märkte vorstellen, in denen Kul- dem Komiker kaum dabei hilft, einen Origi- turgüter gehandelt werden, die nicht oder nur nalitätsanspruch auf sein Material zu erheben. sehr schwach durch das Urheberrecht reguliert Zudem testen Comedians ihre Witze meist werden. Im Einzelnen handelt es sich dabei um zunächst am Publikum, und entwickeln sie die Zirkulation von Witzen unter Stand-up- daraufhin kontinuierlich weiter. Einem Kon- Comedians, Kopien und Nachahmungen von kurrent bieten sich so oft Gelegenheiten, das japanischen Comics durch Amateurzeichner, Material für sein eigenes Programm zu über- den Handel von Fernsehformaten und die Ent- nehmen. Ausgehend von diesem Problem, das wicklung von Computerspielen. eigenständige Schaffen und somit die Origina- lität eines Witzes nachzuweisen, hat sich unter den Comedians eine Norm durchgesetzt, die Stand-up-Comedy: sich nicht nur auf den Schutz des Ausdrucks Ideenschutz und Total Buyout einer Idee, sondern auch auf die Idee an sich bezieht. Die Grenze zwischen akzeptierter Spätestens seit der deutsche Komiker Ma- Inspiration und unzulässigem Plagiat wird im rio Barth im Spätsommer 2008 das Berli- informellen Regelungssystem interessanter- ner Olympiastadion mit 70 000 Zuschauern weise damit wesentlich enger gezogen als im füllte, ist klar, dass Stand-up-Comedy zur Urheberrecht, selbst recht allgemeine Ideen kommerziell massentauglichen Unterhal- sind hier geschützt. Auch bezüglich der Dau- tungsform herangewachsen ist. Aufstiegs- er ist die Regel der Comedians strikter als das möglichkeiten sind jedoch rar, Auftritte und Recht. Während urheberrechtliche Ansprü- Spielzeiten hart umkämpft, und die Konkur- che nach einer bestimmten Zeit erlöschen (in renz ist stets bemüht, einen Schritt voraus zu Deutschland sind es 70 Jahre nach dem Tod sein. Das wichtigste Mittel im Kampf um das des Urhebers), ist unter Comedians die Auf- Rampenlicht ist gleichzeitig auch das höchste nahme fremder Ideen ins eigene Repertoire Gut eines jeden Komikers – der Witz. Inte- niemals zulässig. ❙10 ressant ist daher, dass der Schutz von und der Handel mit Gütern in der Comedy-Branche Das informelle Normensystem reguliert gänzlich ohne das Urheberrecht auskommt, auch den Handel mit Witzen. Dabei kom- obwohl dieses formell durchaus auf Witze men die in der Regel mündlich abgeschlosse- oder ein ganzes Programm anwendbar ist. ❙8 nen Angaben diese Option. Vgl. Dotan Oliar/Christo- pher J. Sprigman, There’s No Free Laugh (Anymore): ❙8 Nach US-amerikanischem Recht ist es beispielswei- The Emergence of Intellectual Property Norms and the se möglich, Witze und Programme mithilfe des soge- Transformation of Stand-Up Comedy, in: Virginia Law nannten Copyright Registration System zu registrieren Review, 94 (2008) 8, S. 1787–1867, hier: S. 1800. und somit rechtlich abzusichern. Jedoch nutzt nur ein ❙9 Vgl. ebd. verschwindend geringer Teil der Comedians nach eige- ❙10 Vgl. ebd., S. 1823 f.

40 APuZ 41–42/2012 nen Transaktionen meist einem total buy-out zeitig ein kapitalstarker Markt entstanden ist, gleich, indem der Verkäufer sämtliche Rech- sind japanische Comics und ihre Adaptionen. te an seinem Material abtritt und sich dazu Mangas stellen mit einem Marktanteil von verpflichtet, das verkaufte Material ab dem knapp 22 Prozent der insgesamt pro Jahr ver- Zeitpunkt der Transaktion nicht mehr zu öffentlichten Printmedien und einem jährli- verwenden. Gleichzeitig verzichtet der Ur- chen Gesamtumsatz von etwa 4,2 Milliarden heber ebenfalls auf jeglichen Anspruch auf US-Dollar einen beträchtlichen Wirtschafts- Anerkennung für das Schaffen des Materials: faktor in Japan dar. Rund um die Hefte und „(When I buy a joke,) it’s mine, lock, stock Bücher ist eine milliardenschwere Industrie and barrel. He can’t perform them and my (…) entstanden, die mit Filmen und Fernsehseri- oral agreement with my writers is you can’t en bis hin zu Videospielen und Sammelkarten even tell anybody that you wrote the joke.“ ❙11 den Bedarf einer stets wachsenden, interna- tionalen Fangemeinde deckt. ❙13 Die Durchsetzung und Sanktionierung die- ser informellen Normen erfolgt an erster Stelle Im Kontext der hier aufgeworfenen Fra- durch persönliche Konfrontation. Sollte sich gen zur Zirkulation von Kulturgütern ist es der Konflikt nicht durch eine Aussprache lö- von besonderem Interesse, dass auf Basis des sen lassen, kann es zu einer Reihe unterschied- Manga-Marktes ein zweiter Markt entstan- licher Sanktionen kommen. Ausgrenzung aus den ist, der im Wesentlichen auf der nicht li- der Community, Verweigerung der Zusam- zenzierten Nutzung von Manga-Geschichten menarbeit, üble Nachrede oder in manchen, und -Charakteren basiert. So genannte Do- eher seltenen Fällen, körperliche Gewalt sind jinshis – sinngemäß „Zeitschrift für Gleich- die Maßnahmen, die auf einen Verstoß gegen gesinnte“ – sind von Amateurzeichnern auf die Anti-Plagiatsnorm folgen können. ❙12 Eigeninitiative herausgegebene Mangas, die Charaktere und Handlungsstränge bekann- Diese Aspekte zeigen, dass sich unter Stand- ter Mangas aufgreifen und nach ihren eigenen up-Comedians ein Normensystem heraus- Vorstellungen weiterentwickeln. ❙14 Es mag gebildet hat, das die Zirkulation von Witzen verwundern, dass eine enorm kapitalstarke informell reguliert und bei Verstößen auch Branche, die rund um fiktionale Geschichten sanktioniert. Interessanterweise ist das in- und Charaktere lukrative Verwertungsket- formelle Regelungssystem der Comedians in ten aufbaut, nicht auf die strikte Durchset- vielen Aspekten weitreichender und strenger zung von Immaterialgüterrechten setzt. Tat- als das formelle Urheberrecht. Dies reflektiert sächlich herrscht aber das Anmoku no ryokai, die Tatsache, dass es sich hier um Produzen- ein „Unausgesprochenes Übereinkommen“, tennormen handelt, die kein Interesse an Zu- zwischen den Verlagen und Künstlern einer- gänglichkeit und Nutzbarkeit haben. seits und den Amateurzeichnern anderer- seits. ❙15 Die zentrale Regel dieses informel- len Regelungsrahmens bezieht sich auf die Dojinshis: Unausgesprochene Grenzziehung zwischen Plagiat und Adapti- Übereinkommen und geregelte on. Ein Dojinshi darf nie eine bloße Kopie des Originals darstellen, sondern muss stets als Regelverletzung eine Art Parodie erkennbar werden. Um die- ser Forderung nachzukommen, entwickeln Ein weiterer Bereich, in dem die Zirkulati- die Zeichner eigene Stilelemente, die sie als on von Kulturgütern wesentlich durch nicht- individuelle Künstler erkennbar machen und rechtliche Regeln gerahmt wird, und gleich- ihr Werk eindeutig vom Original abgren- zen. Dojinshis verstehen sich in diesem Sin- ❙11 Ebd., S. 1828. ne also als Neuinterpretationen, aber auch als ❙12 So kam es beispielsweise zu Handgreiflichkeiten, nachdem der amerikanische Komödiant George Lo- ❙13 Vgl. Daniel H. Pink, Japan, Ink: Inside the Man- pez seinen Kollegen Carlos Mencia mit dem Vorwurf ga Industrial Complex, 22. 10. 2007, online: www. konfrontierte, 13 Minuten seines Materials gestohlen wired.com/techbiz/media/magazine/​15-11/ff_ und umformuliert zu haben. Der Vorfall hatte zur manga?currentPage=all (17. 9. 2012). Konsequenz, dass Mencia von weiteren Kollegen öf- ❙14 Vgl. Hye-Kyun Lee, Between fan culture and co- fentlich des Diebstahls bezichtigt wurde und zuneh- pyright infringement: manga scanlation, in: Media, mend Comedians gemeinsame Auftritte mit ihm ver- Culture & Society, 36 (2009), S. 1011–1022. weigerten. Vgl. D. Oliar/Ch. F. Sprigman (Anm. 8). ❙15 Vgl. D. H. Pink (Anm. 13).

APuZ 41–42/2012 41 Hommage an das Original, weshalb ein be- ativität und Innovation in der Branche. Die stimmter Grad der Imitation unausweichlich informellen Regeln wiederum scheinen vor ist und somit geduldet wird. Darüber hinaus allem deshalb erfolgreich zu sein, weil die hat die Imitation von Charakteren, beispiels- Akteure gewillt sind, im Dialog zu bleiben. ❙19 weise religiöser Figuren und Figuren aus volkstümlichen Märchen, aber auch bekann- Im Ergebnis zeigt sich, dass in diesem ter Sportler und Schauspieler, in der Welt der Feld Urheber und Verwerter bewusst auf die Mangas eine lange Tradition. Das Verständ- Durchsetzung partieller Nutzungs- und Ver- nis von Urheberschaft weicht in der Manga- wertungsrechte verzichten, da sie von den Gemeinschaft so deutlich von der westlichen nachgelagerten Märkten auch profitieren. ❙20 Idee des individuellen Urhebers ab. ❙16 Gleichzeitig ziehen informelle Regeln durch- aus Grenzen zwischen tolerierter Nachah- Abseits der eher ideellen Aspekte ergibt sich mung und illegitimem Plagiat. Das Einhalten das Einverständnis zwischen Autoren, Verle- dieser Regeln garantiert den Dojinshi-Zeich- gern, Verwertern und Amateuren aus einer nern die fortwährende Toleranz der Verlage. Reihe ökonomischer Überlegungen. So er- kennen zunehmend viele Verleger das Poten- zial der Amateurcomics, das Verhältnis von Fernsehformate: Format-Bibeln Produzent und Konsument neu zu definieren und Fliegende Produzenten und darüber hinaus zu einem höheren Maß an Identifikation mit dem „Produkt“ zu verhel- Ein weiterer Markt, der sich unter den Bedin- fen. Ähnlich der Open-source-Community gungen rechtlicher Unsicherheit entwickelt im Softwarebereich verstehen sich Mitglieder hat, ist der nationale und internationale Han- der Dojinshi-Community als „Prosumen- del von Fernsehformaten. Casting-Shows ten“ ❙17 – ein Nutzertypus der gleichzeitig pro- wie „Deutschland sucht den Superstar“, Re- duziert und konsumiert und sich somit maß- ality-Formate wie „Bauer sucht Frau“ oder geblich an der Formgebung eines bestimmten „Dschungel-Camp“, Kochsendungen und Produkts beteiligt. Diese neue Form der Aus- Daily Soaps machen seit den späten 1990er einandersetzung mit den Comics ermöglicht Jahren einen bedeutenden Anteil des Fern- Verlegern so Zugriff auf ein stetig wachsen- sehprogramms aus. Das ökonomisch Interes- des Reservoir potenzieller Nachwuchstalente. sante an TV-Formaten ist, dass sie auf Basis Anhand der meistimitierten Mangas lässt sich einer Idee ganze Ketten von Vervielfältigun- zudem feststellen, in welche Richtung sich der gen und Vermarktungen aufbauen. Jedes For- Trend innerhalb der Szene bewegt. Entspre- mat verfügt über eine Grundstruktur, die in chend früh können die Verlage auf solche Im- der seriellen Produktion sowie der Anpas- pulse reagieren und versuchen, den Markt in sung für andere Märkte leicht variiert wird. ❙21 die entsprechende Richtung zu leiten. Parado- Ein TV-Programm zu „formatieren“ heißt xerweise sind also Bewegungen im „Kopien- demnach, es „in eine exportierbare Handels- Markt“ wegweisend für Trends im eigentli- ware zu verwandeln“. ❙22 chen Manga-Markt. ❙18 Für einzelne Elemente eines TV-Formats Wie erste Gespräche verdeutlichen, ist den können durchaus eine Reihe von Schutzrech- Akteuren der Branche die Ambivalenz der Situation durchaus bewusst. Einerseits soll- ❙19 Interview mit dem Vorsitzenden des Vereins ten in ihren Augen Verfügungsrechte der Ur- Animmex auf der Connichi 2012, Kassel, 8. 9. 2012. 20 heber geschützt werden, andererseits sichere ❙ „Indeed, there is evidence, that the manga indus- gerade das „Nicht-so-genau-nehmen“ Kre- try and the dojinshi markets do not merely coexist; rather, they appear to provide benefits to each other.“ S. K. Mehra (Anm. 16), S. 8. ❙16 Vgl. Salil K. Mehra, Copyright and Comics in Ja- ❙21 Vgl. etwa die Definition von Dominik Koch- pan: Does Law Explain Why All the Cartoons My Gombert, Fernsehformate und Formatfernsehen. Kid Watches are Japanese Imports?, in: Rutgers Law TV-Angebotsentwicklung in Deutschland zwischen Review, 55 (2002), S. 1–65. Programmgeschichte und Marketingstrategie, Mün- ❙17 Vgl. Macimilian Probst/Kilian Trotier, Lernt zu chen 2005, S. 29 ff. teilen! Bevor es zu spät ist, in: Die Zeit, Nr. 12 vom ❙22 Gerd Hallenberger, Fernsehformate und Inter- 15. 3. 2012, online: www.zeit.de/​2012/​12/Urheber- nationaler Formathandel, in: Hans-Bredow-Insti- rechtsdebatte (17. 9. 2012). tut (Hrsg.), Internationales Handbuch Medien 2009, ❙18 Vgl. S. K. Mehra (Anm. 16). S. 155.

42 APuZ 41–42/2012 ten geltend gemacht werden: Urheberrech- einem Schlüsselmarkt schon einmal erfolg- te, Markenrechte, der Schutz vor unlauterem reich realisiert wurde. ❙26 Wettbewerb oder der Schutz von Betriebs- geheimnissen. Einen übergreifenden rechtli- Auch die internationalen Distributions- chen Schutz für TV-Formate gibt es jedoch ketten werden zum Schutz von TV-Forma- weder in Deutschland noch in anderen Län- ten eingesetzt. Nachahmer haben es unter dern, auch weil die Format-Idee an sich nicht Umständen schwer, ihre Produkte zu ver- schutzfähig ist. ❙23 Das Dilemma besteht nun treiben und weitere Geschäftsbeziehungen darin, dass sich TV-Formate erst verkaufen aufzubauen. ❙27 Ob es überhaupt klare Krite- lassen, wenn sie sich bereits auf einem Markt rien für die Grenzziehung zwischen akzep- bewiesen haben und die Idee folglich öffent- tierter Adaption und illegitimer Kopie gibt, lich ist. Im Ergebnis könne sich, so der Me- ist eine offene Frage, die sich nur durch em- dienwissenschaftler Gerd Hallenberger, „ein pirische Forschung klären lässt. Interessant Fernsehunternehmen kaum juristisch dage- ist immerhin, dass die Idee eines umfassen- gen wehren, wenn ein Konkurrent ein Plagi- den rechtlichen Formatschutzes in der Pra- at eines angekauften Formats auf den Markt xis auf Skepsis stößt, weil eine stärkere Ko- bringt“. ❙24 difizierung des Erlaubten und Unerlaubten nachteilige Auswirkungen für die Innovati- Praktisch bewältigt wird diese rechtliche onspraktiken der Branche mit sich bringen Unsicherheit durch personen- und organisa- könnte. tionsbezogenes Know-how, marktliche Stra- tegien und – wie im Bereich Stand-up-Come- dy und Dojinshis – informelle Konventionen Computer- und Videospiele: und Normen. Die für den Formathandel zen- Copycats und Innovationen trale Konvention besteht darin, „so zu tun, als ob es einen umfassenden juristischen For- Die Computer – und Videospielbranche ist seit matschutz“ ❙25 gäbe: Statt sich ungeschützte ihren Anfängen in der Hackerkultur der frü- Ideen einfach anzueignen und weiterzuent- hen 1970er Jahre ❙28 zu einer der weltweit um- wickeln, erwerben Produzenten und Sender satzstärksten Unterhaltungsindustrien heran­ teure Lizenzen für internationaler Formate. gewachsen und liegt mit einem im Jahr 2010 Kernelement dieser Lizenzen ist das in der auf 65 Milliarden US-Dollar geschätzten „Format-Bibel“ beschriebene Know-how, weltweiten Umsatz nur noch knapp hinter der ergänzt durch das implizite Wissen von er- Filmindustrie. ❙29 Computerspiele sind „Hy­ fahrenen Mitarbeitern, den flying producers. brid ­werke“ (Till Kreutzer), die aus verschie- Mit der Formatlizenz kaufen TV-Sender also denen Werktypen wie dem Programmcode nicht nur eine kopierbare Idee, sondern ein und Video- und Audioelementen bestehen, als Marke konzipiertes Erfolgsrezept, das auf deren Nutzung jeweils spezifischen Schutz- rechten unterliegen. Dazu gehören unter an- ❙23 Vgl. Sukhpreet Singh/Martin Kretschmer, Strate- derem das Urheber-, das Patent- und das Mar- gic Behaviour in the International Exploitation of TV kenrecht, aber auch das Wettbewerbsrecht. ❙30 Formats – A Case Study of the Idols Format, in: Koos Obwohl also die einzelnen Komponenten ei- Zwaan/Joost de Bruin (eds.), Adapting Idols: Au- thenticity, Identity and Performance in a Global Te- levision Format, Farnham 2012. Für eine Übersicht ❙26 Vgl. ebd.; Andrea Esser, Formatiertes Fernsehen: über rechtliche Schutzmöglichkeiten vgl. F­RAPA Die Bedeutung von Formaten für Fernsehsender und (ed.), FRAPA Report 2011 – Protecting Format Produktionsmärkte, in: Media Perspektiven, (2010) Rights, Köln 2011; Frank Lobigs et al., Mehr Rechts- 11, S. 502–514. schutz für TV-Formate? Eine medienökonomische ❙27 Vgl. S. Singh/M. Kretschmer (Anm. 23). und medienrechtliche Untersuchung, in: Medien & ❙28 Vgl. Steven Levy, Hackers: heroes of the computer Kommunikationswissenschaft, 53 (2005) 1, S. 93– revolution, London 1994. 129, hier: S. 100 ff. Das Leiturteil in Deutschland hat ❙29 Vgl. Tom Chatfield, Videogames now outperform der Bundesgerichtshof (BGH) 2003 gesprochen, in- Hollywood movies, in: The Observer vom 27. 9. 2009, dem ein urheberrechtlicher Schutz von Fernsehfor- online: www.guardian.co.uk/technology/gamesblog/​ maten deutlich verneint wird: Ein Konzept stelle kein 2009/sep/ ​27/videogames-hollywood (11. 9. 2012). schutzfähiges Werk dar, zudem sei eine nachahmende ❙30 Vgl. Volker Grassmuck, Branchenportrait Games, Nutzung keine Urheberrechtsverletzung (BGH, ZR in: Wolfgang Coy/ders. (Hrsg.), Arbeit 2.0. Eine Un- 176/01, 26. 6. 2003). tersuchung zu urheberrechtlicher Erwerbsarbeit in ❙24 G. Hallenberger (Anm. 22), S. 157. fünf Schlüsselbranchen, Abschlussbericht, Berlin 2009, ❙25 Ebd., S. 157. S. 103 ff.

APuZ 41–42/2012 43 nes Videospiels geschützt sind, gilt das nicht Ähnliche Beobachtungen lassen sich mit für die zentrale Idee, die ihm zugrunde liegt. Blick auf das Verhältnis zwischen Produzen- ten und Fangemeinde machen. Das Äquiva- In diesem Sinne steht die Spieleindustrie lent zu Dojinshis bilden die mods, von Nut- vor einem ähnlichen Problem wie die Produ- zern programmierte, auf dem Originalcode zenten von TV-Shows: Sobald die Idee für ein aufbauende Versionen von Spielen, die zwi- Spiel bekannt wird, besteht die Gefahr von schen Fans geteilt werden. Ein kommerziel- copycats, also der Imitation und Weiterent- ler Vertrieb verstößt unter moddern gegen die wicklung schon vorliegender Spiele. Entspre- Etikette. Die von der Fangemeinde entwickel- chend gruppieren sich Innovationen in diesem ten mods reichen von leicht abgewandelten Markt jeweils um bestimmte Genres von Spie- Versionen über Importe aus anderen Spielen len, wie etwa die derzeit populären Bauernhof- bis zu kompletten Neuentwicklungen. Nach simulationen. „Farm­Ville“, das erfolgreichste anfänglichen Klagen gegen dieses Treiben be- dieser Spiele, war denn auch keineswegs das gann die Branche das kreative Potenzial der erste seiner Art; es war bloß massenmarkt- „wildernden“ Fangemeinde ❙33 anzuerkennen tauglicher als Konkurrenten wie „My Farm“ und in Maßen zu unterstützen. Obwohl bei- oder „Farm Town“, wie Brian Reynolds, De- de Seiten von dieser Form der Koprodukti- signchef von „FarmVille“-Hersteller Zynga, on profitieren, scheint das Verhältnis häufig der für seine Imitationsstrategien vielfach kri- spannungsgeladen und durch konfligierende tisiert worden ist, freimütig zugibt. ❙31 „Farm- Nutzungsansprüche geprägt zu sein. ❙34 Trotz Ville“ und sein Nachfolger „Frontier­Ville“ der Schwierigkeiten, Ausschlussrechte gegen- hätten viele Neuerungen hervorgebracht, über Konkurrenten und Nutzern geltend zu die wiederum von Wettbewerbern, etwa in machen, gilt die Gamesbranche als ein hoch- „Castleville“ aufgegriffen worden seien. Er- innovativer Wachstumsbereich. folgreich im Spielemarkt, so Reynolds, seien die Produzenten, die Imitation und Innovati- on miteinander kombinierten. Fazit: Pluralität von Regelungsformen

Das Kopieren erfolgreicher Spiele, so auch Die hier vorgenommene Betrachtung von der Games-Experte Kyle Orland, ❙32 sei prak- Kulturgütermärkten im Schatten des Rechts tisch so alt wie die Branche selbst. Allerdings hat gezeigt, dass schwache oder fehlen- hat das notorische copycatting seine Gren- de Schutzrechte nicht notwendigerweise zu zen, wie der Protest einzelner Studios und Marktversagen führen. Der Grund dafür be- die Klagen gegen Zynga und andere zeigen. steht darin, dass die Abwesenheit beziehungs- Der Gerichtsprozess, so Orland, löse die Fra- weise Ineffektivität von (Urheber-)Rechten ge, was denn ein originäres Spiel genau aus- nicht gleichbedeutend mit dem Fehlen von mache aus dem nebulös moralischen Kon- Regeln ist. Vielmehr sind unter den Bedin- text der Branche, und überantworte sie dem gungen rechtlicher Unsicherheit Normen und rechtlichen Raum von Schuld und Unschuld. Konventionen entstanden, die in der Grauzo- Allerdings mit unsicheren Erfolgsaussich- ne zwischen Imitation und Innovation die für ten, weil die Ähnlichkeit von Charakteren, die Beteiligten mehr oder minder verlässli- Narrativen und Features für sich genommen chen Grenzen zwischen Erlaubtem und Un- kaum als Urheberrechtsverletzung gewertet erlaubtem ziehen und damit zugleich Märkte werde. Obwohl einzelne Spielelemente also für Kulturgüter stabilisieren. schutzfähig sind, erweist sich die Durchset- zung dieser Rechte als problematisch. Wie das Beispiel Stand-up-Comedy illus- triert, können soziale Normen dort, wo das ❙31 Vgl. Interview Kris Graft mit Brian Reynolds, in: Gamasutra 2012: Talking Copycats with Zynga’s De- ❙33 Vgl. Sarah Coleman/Nick Dyer-Witheford, Play- sign Chef, 31. 1. 2012, online: www.gamasutra.com/ ing on the Digital Commons: Collectivities, Capital view/feature/​135054/talking_copycats_with_zyn- and Contestation in Videogame Culture, in: Media, gas_.php (17. 9. 2012). Culture & Society, 29 (2007) 6, S. 941. ❙32 Vgl. Kyle Orland, Game makers face uphill batt- ❙34 Vgl. Reina Y. Arakji/Karl Reiner Lang, Digital le proving copyright infringement in court, 6. 2. ​ Consumer Networks and Producer-Consumer Col- 2012, online: http://arstechnica.com/gaming/​2012/​ laboration: Innovation and Product Development in 02/game-makers-face-uphill-battle-proving-copy- the Video Game Industry, in: Journal of Management right-infringement-in-court/ (17. 9. 2012). Information Systems, 24 (2007) 2, S. 195–219.

44 APuZ 41–42/2012 Urheberrecht nicht greift, dieses unter Um- ziehungsweise Innovationsstrategien aus als ständen ersetzen. Ähnliche Befunde liegen das Urheberrecht, das auf einheitliche Re- für die Haute Cuisine, für Zaubertricks und geln zielen muss. Im Unterschied zum Urhe- mit Einschränkungen für die Mode vor. ❙35 So- berrecht verfolgen informelle Normen ande- ziale Normen können das Urheberrecht aber rerseits nicht das Ziel, eine Balance zwischen auch modifizieren, indem sie Schutzrech- den Interessen von Öffentlichkeit und Kul- te reduzieren oder ausdehnen. Das Beispiel turschaffenden herzustellen. Dem Anspruch Stand-up-Comedy ist in diesem Zusammen- eines Interessenausgleichs werden soziale hang besonders instruktiv, weil die „mora- Normen daher in vielen Fällen nicht gerecht. lische Ökonomie“ der Comedians auch die Nutzung fremder Ideen sanktioniert und Abschließend lässt sich festhalten, dass die damit die für das Urheberrecht grundlegen- populäre Vorstellung eines Marktversagens de Unterscheidung zwischen freien Ideen ohne ein starkes Urheberrecht die Bedeu- und ihrem schutzfähigen Ausdruck aufhebt. tung gesetzlicher Schutzrechte wahrschein- Auch kennen die Konventionen der Co- lich übergeneralisiert. Die Beispiele zeigen, medians weder Schrankenregelungen noch dass soziale Normen unter Umständen, über Schutzfristen und gehen daher deutlich über die wir zugegebenermaßen bisher zu wenig die gesetzlichen Ausschlussrechte hinaus. wissen, eine ähnliche funktionale Wirkung Gesellschaftliche, informelle Normen müs- entfalten wie gesetzliche Normen. ❙36 Weiter- sen also keineswegs immer „weicher“ sein als hin zeigt sich, dass der partielle Verzicht auf gesetzliche Regelungen. gesetzliche Ausschlussrechte den Marktwert bestimmter Kulturgüter sogar steigern kann. Dojinshis und mods können dagegen als to- Das Beispiel TV-Formate legt schließlich lerierte Urheberrechtsüberschreitungen ver- nahe, dass – unter innovationsstrategischen standen werden. Manga-Produzenten und Gesichtspunkten besehen – einer uneindeu- Spieleentwickler verzichten bewusst auf ein- tigen Rechtslage sogar manchmal der Vorzug zelne Rechte und profitieren von den nachge- gegenüber einem klaren Rechtsrahmen gege- lagerten Märkten und Aktivitäten der jewei- ben werden kann. ligen Fangemeinde. Allerdings gibt es auch zwischen Produzenten und Amateuren in- Während die aktuelle Auseinanderset- formelle Regeln, die darauf zielen, Grenzen zung über das Urheberrecht dazu verleitet, zwischen tolerierter Nachahmung, Modifi- gesetzlichen Normen die zentrale Bedeu- kation und sanktioniertem Plagiat zu ziehen. tung für die Entwicklung von Kulturgüter- märkten zuzuschreiben, lässt die hier skiz- Gemeinsam scheint diesen Regeln im zierte empirische Perspektive eine Vielzahl Schatten des Urheberrechts zu sein, dass sie von Praktiken und Normen sichtbar werden, die spezifischen Produktionsbedingungen die ebenfalls Märkte koordinieren und Ori- und Eigenarten von kreativen Gütern reflek- ginalitäts- beziehungsweise Verwertungsan- tieren. In diesem Sinne zeichnen sich infor- sprüche von Urhebern regeln. Damit ist die melle Schutznormen nicht nur durch größe- noch im Entstehen begriffene Forschung zur re Flexibilität, sondern wohl auch durch eine Pluralität von Regulierungsformen und ih- höhere Sensibilität für ihre Auswirkungen rer Bedeutung für die Funktionsweise von auf die branchentypischen Produktions- be- Kulturgütermärkten nicht nur von akademi- schem Interesse. Wenn es stimmt, dass soziale Normen und Praktiken wesentlich zur Han- 35 ❙ Vgl. Emmanuelle Fauchart/Ernst von Hippel, delbarkeit von Kulturgütern und zur Kons- Norms-Based Intellectual Property Systems: The titution ihrer Märkten beitragen, so ist dies Case of French Chefs, in: Organization Science, 19 (2008) 2, S. 187–201; Jacob Loshin, Secrets Revealed: sowohl für wirtschaftliche als auch für regu- Protecting Magicians’ Intellectual Property without lierungspolitische Strategien hoch relevant. Law, in: Law and Magic. A Collection of Essays, Durham 2010, S. 123–142; Susan Scafidi, Intellectu- al Property and Fashion Design, in: Peter Yu (ed.), Intellectual Property and Information Wealth, West- ❙36 Vgl. dazu auch Mark F. Schultz, Copynorms: Co- port 2006, S. 115–31; Kal Raustiala/Christopher J. pyright Law and Social Norms, in: P. Yu (Anm. 35), Sprigman, The Piracy Paradox: Innovation and Intel- S. 201–25. lectual Property in Fashion Design, in: Virginia Law Review, 92 (2006), S. 1687–1777.

APuZ 41–42/2012 45 Politisch, aktuell und digital

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Manfred Liebel · Philip Meade · Iven Saadi Die Veröffentlichungen Brauchen Kinder ein Recht zu arbeiten? in Aus Politik und Zeitgeschichte Kindheitskonzepte und Kinderarbeit stellen keine Meinungsäußerung der Herausgeberin dar; sie dienen Martina Hahn der Unterrichtung und Urteilsbildung. Fairer Handel? Süße Schokolade aus bitteren Bohnen ISSN 0479-611 X Zukunft des Publizierens APuZ 41–42/2012

Petra van Cronenburg 3–8 In der dunklen Höhle. Zur Zukunft des Buches Etwas kopflos tappen wir derzeit wie in einer dunklen Höhle zwischen E-Books und Papierbüchern umher und streiten, wo Geschichten stattfinden sollen: drau- ßen zum Anfassen oder als flüchtige Projektion auf der Höhlenwand.

Michael Roesler-Graichen 8–15 Digitales Publizieren: Stand und Perspektiven Der Anteil an digitalen Publikationen im deutschen Buchmarkt wächst. Nicht nur die Formate ändern sich: Mit den neuen technischen Möglichkeiten wird eine neue Umgebung für das Verlegen und den Vertrieb von Büchern geschaffen.

Jeff Gomez 15–21 Geschichten erzählen im digitalen Zeitalter E-Books sind ungeachtet der vielfältigen Möglichkeiten zu digitaler Erweiterung und Interaktion fast immer noch bloße Faksimiles des gedruckten Buches. Wir brauchen neue Begriffe, vor allem aber eine Weiterentwicklung des Geschichtenerzählens.

Dominique Pleimling 21–27 Social Reading – Lesen im digitalen Zeitalter Die Kulturtechnik Lesen verändert sich unter den Bedingungen des Internets. Wäh- rend Leser, Autoren und Verlage sich immer stärker vernetzen, entstehen für Ama- zon und Co. ganz neue Möglichkeiten der Überwachung und Datensammlung.

Thomas Carl Schwoerer 27–31 Das Urheberrecht und die Zukunft des Verlegens Ein starkes Urheberrecht ist die Voraussetzung für die Entfaltung von Kultur. Autoren müssen vom Verkauf ihrer Texte leben können. Die vertrauensvolle Zu- sammenarbeit zwischen Verlagen und Autoren wird noch lange Bestand haben.

Anne Lauber-Rönsberg 32–38 Raubkopierer und Content-Mafia: Die Debatte um das Urheberrecht Der Beitrag diskutiert Kritikpunkte der betroffenen Interessengruppen in der ge- genwärtigen Debatte, aktuelle Reformvorhaben wie das Leistungsschutzrecht für Presseverleger und alternative Regelungsmodelle wie die Kulturflatrate.

Jeanette Hofmann · Christian Katzenbach · Merlin Münch 39–45 Kulturgütermärkte im Schatten des Urheberrechts Die Diskussion um das Urheberrecht wird überwiegend normativ geführt, selten geht es um die Praxis. Mit einem Blick auf Märkte „im Schatten“ des Urheberrechts werden Pluralität und Heterogenität möglicher Regelungsarrangements sichtbar.