4. Internationaler Kongress F. Psychotherapie Und Seelsorge

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4. Internationaler Kongress F. Psychotherapie Und Seelsorge

G r u n d k u r s S e e l s o r g e

4. Internationaler Kongress f. Psychotherapie und Seelsorge, Marburg, 28. Mai bis 1. Juni 2003, Willy Weber, Dietzhölztal

1. Thema: Seelsorge – Um wen oder was kümmert sich die Seelsorge? Eine theologische Orientierung zum „Objekt“ der Seelsorge

1.1. Die theologisch-verdächtigen Quellen des Begriffs

1.1.1. „Seelsorge“ – ursprünglich kein biblischer, sondern heidnischer Begriff

Wer in einer Bibel-Konkordanz das Wort Seelsorge finden will, sucht vergeblich. „Seelsorge“ ist kein biblischer Begriff. Ist die Sache selber etwa auch unbiblisch? Jesus scheint vor Seelsorge zu warnen: „Sorgt nicht um eure Seele (psyche)... nach dem allen trachten die Heiden...“ (Mt.6,25.32) In der griechischen Antike hingegen wird Seelsorge hoch geschätzt. Plato (427-347) verwendet den Begriff erstmals in verbaler Form in den Apologien des Sokrates. Den zitiert er so: „Bester Mann! Als ein Athener, aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre; für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, dass sie sich aufs Beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken?“ (bei Christian Möller, Geschichte der Seelsorge, Bd.1, Seite 9).

„Sokrates wird seinen Mitbürgern dadurch lästig, dass er sie dazu anhält, für ihre eigene Seele zu sorgen“ (Möller,9) Wörtl.: „Denn nichts anderes tue ich, als dass ich herumgehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und das Vermögen zuvor, noch überall so sehr zu sorgen als für die Seele, dass diese aufs Beste gedeihe“ (Zitat, Möller, S.9) Das sokratische. „Gnothi seauton!“, das wir auch in der Seelsorge gelegentlich anmahnen, ist eigentlich ein heidnisches Unternehmen im Gegensatz zur neutestamentlichen Christuserkenntnis. Für Plato ist Sokrates der „technikos peri psyches therapeias“ = der Fachmann für Seelsorge. Und ein Leben ist nur lebenswert, wenn es in der Sorge um die Seele gelebt wird.

Plato geht in seiner Schrift „Gesetze“ noch weiter: Ein Teil der Staatskunst müsse in einer Psychologie der Seelenpflege bestehen, die durchaus religiös bestimmt ist. Seelsorge müsse gesetzlich verankert sein. „Wer nicht an die Fürsorge der Götter glaube, komme in den gelinderen Fällen für mindestens fünf Jahre in ein Besserungshaus und bekomme dort allein von solchen Menschen Besuch, die mit ihm zur Zurechtweisung und zum Heil seiner Seele umgehen“ (Möller, S.10). Seelsorge ist Bürgerpflicht.

Plato entwickelt und systematisiert das diesem Geist entsprechende Menschenbild als trichotome Anthropologie: Geist, Seele, Leib. Dabei unterscheidet er bei der Seele drei Ebenen: Die obere beschreibt die „vernünftige“ Seite der Seele (logistikon = verständig, vernünftig), die mittlere Ebene bildet die gemüt- und gefühlvolle Seite (thymoeides = mutig, wild), die untere stellt die willentliche und zugleich begierige Seite (epithymetikon = begierig) der Seele dar. Grundk.S., S.2/2

Die vernünftige Seite der Seele korrespondiert am stärksten mit dem reinen Sein des ewigen Geistes, während die willentlich-begehrliche Seite eher der materiellen Scheinwelt verhaftet bleibt. Seelsorge zielt auf die Stärkung dieser höheren Ebene, auf die Hinwendung zum reinen Geist. Sie ruft zur Flucht vor der irdischen Sinneswelt der Triebe und der Materie, zu der auch der Körper gehört (Soma= Sema). Die Seele hat nämlich Anteil am göttlichen Sein, ist darum unsterblich. Sie ist aber auch der Kampfplatz zwischen Geist und Materie. Darum gilt es, sich von allem Triebhaft- und Vergänglichen zu reinigen und in stetigem Prozess das Leben zu durchgeisten, es auf den göttlichen Geist auszurichten.

1.1.2. Zwischenüberlegung: Liegt auf der Seelsorge ein heidnischer Schatten?

Die griechische Philosoph und Psychologie hatten ausdrücklich religiöse Züge. Man könnte gegenfragen, ob die Seelsorge auf Grund dieser Herkunft einen griechisch-philosophischen Grundzug mitbekommen hat. Wir tun uns zum Beispiel schwer genug, die „Unsterblichkeit der Seele“ theologisch zu verarbeiten. Und die Seele gewinnt auch in einer christlichen Anthropologie leicht Übergewicht gegenüber der Leiblichkeit, als sei die Seele doch das Höhere und das Eigentliche des Menschen, das Gottesorgan.

Nicht zuletzt der pietististische Frömmigkeit haftet der Verdacht der Leibfeindlichkeit an. Mein Vater erzählte von einem frommen Bauern, der auf Stroh schlief und ziemlich ungepflegt aussah. Darauf angesprochen habe er geantwortet: „Soll ich meinen Leib, der mir so sehr zur Sünde wird, auch noch pflegen?“ Eine Zuspitzung dieser Denkart zeigt sich in der Skepsis allem gegenüber, was dem Bereich der Sexualität angehört.

In der Antike wurden die philosophischen Hauslehrer, wenn sie Christen wurden, vielfach zu Hausseelsorgern. Es scheint, als habe sich einiges an griechischer Denkart in den christlichen Glauben herüber retten können. Die sogenannte Gnosis in der Frühzeit der Kirche ist ein solches Beispiel. Und dem pietistischen Heiligungsstreben wird manchmal der Vorwurf gemacht, eine prozesshafte Aufwärtsentwicklung der Seele zur Vollkommenheit anzustreben, ähnlich dem Seelsorgebemühen der griechischen Antike. Zumindest ist hier Wachsamkeit geboten.

1.2. Das Seelsorgeverständnis der Bibel

1.2.1. „nephesch“ im AT

„Nephesch“, das ist eines der meist erforschten Wörter des AT. Es steht 755 mal da, wo es im Deutschen „Seele“ heißt. In der griechischen Übersetzung des AT, der „Septuaginta“ (LXX) steht für „nephesch“ 600 mal „psyche“. H.W.Wolff hat im §2 seiner Anthropologie des AT, (Chr.Kaiser-Verlag) „nephesch“ als Kennwort für den bedürftigen Menschen berschrieben, der aufs Leben aus ist. Grundk.S., S.3/3

„Nephesch“ hat total kreatürlichen Charakter und viele Bedeutung: Hals, Kehle, Begehren, Leben, Person, ist Pronomen für den Menschen selber. Der Mensch ist Kreatur, eine vitale und manchmal arme Kreatur, der Schlucker und Hungerlappen. „Die Seele ist das unstillbare Organ, in das immer nachgeschüttet werden muß“ (M. Seitz).

Der Mensch ist der schlechthin Bedürftige, hungrig und durstig, begehrend und begehrlich. Nicht immer wissend, wonach er dürstet. Der Glaubende erkennt: „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott“ Ps.42,3. Irdisch ist der Mensch, Kreatur, ganz Leib, Leibseele. Darin zeigt sich unter anderem das von Karl Heim so genannte „brüderliche Solidaritätsverhältnis zwischen Mensch und Tier“ Nicht zufällig bekommt der Mensch keinen eigenen Schöpfungstag. Er teilt ihn mit den übrigen Landtieren. In 1. Mose 2,7 heißt es: „… und so wurde d. Men. eine ‚nephesch chaja’ = „ein lebendiges Wesen“. Diese Wendung wird auch für die Tiere gebraucht. Der Men bekommt nicht eine „lebendige Seele“, er wird es. Er wird eine Seele von Mensch.

„Die Seele ist des Menschen Wesen, nicht sein Besitz“ (W.H.Smidt, Ev.Theol. `64). Für diesen Menschen zeichnet Gott verantwortlich. Seine Sorge für und um den Menschen ist demnach wesentlich Leibsorge, jedenfalls „ganzheitlich.“ Gottes Odem macht den Men lebendig. Christian Möller folgert:“ Seele ist derjenige Teil von Gott, der in uns atmet und den wir am Ende unseres Lebens Gott zurückzugeben haben indem wir ihn zu Gott hin aushauchen“ (11). „...nimmst du ihren Odem weg, so vergehen sie und werden wieder Staub“ Ps.104,29.

Entsprechend versteht sich Seelsorge im AT als eine Art „Atemhilfe“ (Möller,11), Hilfe zum Klagen und Loben, Hilfe, wieder in den „Atemrhythmus Gottes“ (12) zu kommen. „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Halleluja!“ Ps.150,6. Schlussvers des Psalters und Ausdruck seelischer Gesundheit: Der Mensch, der Gott lobt, ist in guter Beziehung zu Gott und in gutem Gleichgewicht mit sich. Seelsoge ist ein Relationsbegriff, zielt auf die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen und auf eine gute Art, mit sich selber und den Dingen umzugehen. Wer Gott lobt, der ist gesund, auch wenn er krank sein sollte.

Auf den ersten Blättern der Bibel erfahren wir, wie Gottes Seelsorge konkret wird. Außer dem Lebensodem schenkt er seinen Menschen den Lebensraum, das Paradies. Stellt ihm den Lebenspartner zur Seite und sorgt für die Lebensmittel. Er beauftragt den Menschen mit einer Lebensaufgabe, mutet ihm Verantwortung zu und schenkt ihm die Freiheit, Gott zu lieben oder auch nicht. Als der Mensch seine Gottesbeziehung zerbricht, zerbricht auch sein Leben. Aber Gott bricht seine Beziehung zum Menschen nicht ab:

Er kleidet die Nackten mit Tierfellen, deckt schonend ihre Blöße zu und lässt - wie in weitem Vorgriff auf den stellvertretenden Tod des Opferlammes Jesus – Tiere sterben, um des Menschen Schuld vorläufig zuzudecken. Gott bleibt seinen Menschen treu. Später rettet er sein Volk aus Ägypten, führt es durch Schilfmeer und Wüste, versorgt es mit Wasser und Manna, hilft kämpfen und siegen, straft die Sünde der Einzelnen und der Gemeinde und führt sie schließlich trotz allem ins ihnen zugeschworene Land. Grundk.S., S.4/4

Das alles lässt sich als Seelsorge verstehen. Der Mensch ist unteilbar, und Gott zeichnet verantwortlich für den Menschen mit allen seinen Bedürfnissen. Wo Schuld geschieht, handelt der Priester seelsorgerlich, indem er dem Menschen wieder zu einem guten Gewissen und zur Versöhnung mit Gott und den Menschen verhilft. Übringens nimmt der Priester auch ärztliche Funktionen wahr, ist zuständige Gesundheitsbehörde. Und er ist auch Lehrer, Prediger des Willens Gottes (Mal.2,7: „...des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren...“) Ein Dienst, der später bei den Propheten angesiedelt wird. „Nephesch“ ist also ganz kreatürlich und die Sorge um die „Seele“ ganz leiblich, diesseitig irdisch. Hier in der Welt soll das Leben gelingen und im Gotteslob münden.

1.2.2. „Nephesch“ im NT

a) In den Evangelien

Zu Mt.6,25 Leben (psyche) und Leib (soma) sind auswechselbar. „Psyche“ meint konkrete Leiblichkeit (Bauch) – wie „nephesch“

Zu Mk.8,35ff: „Jeder Gewinn ist nutzlos, wenn dafür mit dem Leben bezahlt wird“ (Eberh.,34) Möller: „Ich kann an meinem eigenen Atem geradezu ersticken, wenn ich ihn um jeden Preis erhalten will.“ Hier deutet sich eine spannende Wandlung bzw. Erweiterung des atl. Nephesch-Begriffs an: „Psyche“ bleibt wie „nephesch“ konkretes leibhaftes Leben. Aber der Tod kann die Psyche/Nephesch nicht töten. Das ist eine wichtige Wahrheit und großer Trost angesichts eines drohenden Martyriums.

Zu Mt.10,28: Das Überleben der Psyche bedeutet nicht schon „Unsterblichkeit der Seele“, sondern dass das Leben, die Existenz des Menschen nicht nur am Leib hängt. Das ist ein auffälliger Unterschied zum Nephesch-Begriff des AT. Die Seele überlebt den Leib! Das ist neu und dem atl. Denken fremd. “Psyche“ und „Soma“ treten auseinander, in Gegensatz zueinander –anders als in Mt.6,25. Der Mensch kann den Leib (soma) töten, Gott kann Leib und Seele (soma und psyche) verderben. Das Menschenbild des NT bekommt einen dualistischen Zug.

Zu Jh.12,25:

„Psyche“ bleibt leibhaftige Lebendigkeit – in diesem wie im ewigen Leben, wie in Mk.8,35ff. Aber die irdische „Psyche“ will um der himmlischen willen gehasst werden. „Von der Freiheit zu Höherem bis zur Welt- und Leibfeindlichkeit ist der Weg nicht weit“ (Eberh.38) Zugleich klingt hier Auferstehungshoffnung an, die im AT kaum zu finden ist, nur andeutungsweise, etwa Hiob 19,25ff. Seelsorge als Anleitung zum „Hassen“ der Leib-Seele? Das ewige Leben relativiert drastisch das irdisch-leibliche. Grundk.S., S.5/5 b) In den Briefen, besonders bei Paulus:

Paulus lebt und denkt in einer vom Griechentum geprägten Umwelt mit der Notwendigkeit, sich für die zeitgenössischen Hörer verständlich auszudrücken und zugleich die Verkündigungsinhalte zu wahren. Paulus scheint – wegen der philosophischen Füllung – zum Psyche-Begriff auf Distanz zu gehen., verwendet stärker „pneuma“, ein Wort, das allerdings schon in den Evangelien vorkommt, z.B. im . Magnifikat, Lk.1,46f: „Meine Seele (psyche) erhebt... und mein Geist (pneuma; hebräisch: ruchi) freut sich...“

Aus der griechischen Philosophie greift er die trichotomische Anthropologie auf, die Unterscheidung zwischen Geist = pneuma, Seele = psyche und Leib = soma, klassisch in 1.Thess.5,23: „Er aber, der Gott d. Friedens...“ Vermutlich haben wir Paulus aber nicht schon verstanden, wenn wir versuchen, die drei Begriffe inhaltlich so zu füllen, etwa: „Gott ist Geist“/pneuma“ (Jh.423f). Das pneuma Gottes gibt unserem pneuma die Gewissheit, Gottes Kinder zu sein“ (Rm.8,16). Pneuma als Art Kommunikationsorgan des Glaubens

Entsprechend wäre psyche zu deuten als „innerer Mittelpunkt unseres Lebens, den der Geist bewegt und mit Erkenntnis und Willen ausstattet und der seinerseits wieder den Leib bewegt“. So formuliert A.Schlatter. Und der Leib wäre der minderwertig- vergängliche Anteil des Menschen. Mir scheint, dass Gerh. Friedrich in seiner Auslegung (NTD, 14.Aufl.’76) näher dran ist, wenn er argumentiert, Paulus wolle nicht den Menschen im Sinne trichotomischer hellenistischer Anthropologie beschreiben, sondern mit den damals gängigen Begriffen des Menschen Ganzheit beschreiben und betonen. Paulus halte eine Plädoyer für die Einheit und Ganzheit der menschlichen Person.

Paulus hält inhaltlich am ganzheitlichen Menschenbild des AT und NT fest. Besonders nachdrücklich in dem apologetischen Kapitel 1.Kor.15, 35ff. Es stehen sich gegenüber ein „soma psychikon“ = „natürlicher Leib“ und ein „soma pneumatikon“ = „geistlicher Leib“. Man beachte die für griechische Ohren unmögliche Kombination von „soma“/Leib und „pneumatikon“/geistlich. Beide schließen sich für einen Griechen gegenseitig aus. „... Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes“ (Friedr. Christ. Ötinger, 1702-1782). Der Leib wir nicht vom Heil aus- sondern ins Heil eingeschlossen.

Allerdings wird der Mensch mit der in Jesus Christus verankerten Hoffnung auf die leibliche Auferstehung der Toten ewigkeitsorientiert. Eberh.: „Die Soteriologie relativiert den sterblichen Leib“. Wir können auch sagen: Die Eschatologie relativiert das Irdische. Des Christen Heimat ist der Himmel, seine Zukunft bei Gott. Darum lauten die seelsorglichen Mahnungen: „Trachtet nach dem, was droben ist...“/ „Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist...“/ „Die Leiden dieser Zeit stehen in keinem Verhältnis zu der zukünftigen Herrlichkeit.“ Verfolgung wird zum Impuls der Umwertung alles Lebens. Das ewige Leben zu ergreifen wird zum Leitmotiv der Seelsorge, dem alles nur Irdische nachgeordnet erscheinen muß. Grundk.S., S.6/6

1. 3. Die Seele und die Sorge um sie – Versuch einer biblischen Deutung

1.3.1. Seelsorge behält den ganzen Menschen im Blick

Was im AT augenfällig begegnet, wird im NT nicht aufgegeben. Dafür steht Jesus selber: Matthäus z.B. umschreibt sein Wirken mit den typischen Sätzen: „Und Jesus zog umher..., lehrte... und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und Gebrechen im Volk.“ Er kümmert sich um die kranken Leiber wie um die verlorenen Seelen. Er bringt den Menschen das Heil und sorgt sich um ihr Wohl: Er speist die Hungrigen nicht nur mit einer langen Predigt ab, sondern sättigt sie mit Brot und Fisch. Er stillt den Sturm und weckt Tote auf. Seine Seelsorge ist „ganzheitlich“

Mit diesem Programm schickt er auch seine Jünger los. Und sie machen es wie der Meister. Paulus ebenso. Er heilt und weckt Tote auf. Das göttliche Heil und das menschliche Wohl sind beide Ausdruck des anbrechenden Gottesreiches. Gott sorgt sich um beides. Wir sprechen in der Mission von den beiden Händen Christi: Verkündigung und sozialdiakonischer Dienst. Die Erlösung exkommuniziert die Schöpfung nicht, sie schließt sie ein.

Für Paulus, der so sehr auf kritische Distanz zu jeder Werkfrömmigkeit geht, schreibt den Galatern (5,6), es zähle nur der Glaube, der durch die Liebe tätig sei. Jakobus geißelt eine vergeistigte Seelsorge, die sich an äußerlich-leiblicher Not vorbeimogelt, als Scheinseelsorge: Jak.2, 14-17! Sozusagen ein seelsorglicher Witz. Auch das NT hält am Menschen als einer Leibseele fest.

Der Leib ist eben nicht gut-griechisch das Seelengefängnis, der Leib das Grab. Im Gegenteil: Er ist „Tempel des HG“ (1.Kor.6,19), hoch geadelt und gewürdigt als Gottes Schöpfung, die auf Neuschöpfung angelegt wird. Der Leib wird zum Ort der Gottesgegenwart, zum Instrument des Glaubens. Glaube will leiblich werden. Entsprechend ist ntl. Seelsorge auch leiblich orientiert, praktisch bis in die Anweisungen für den Umgang mit Sexualität, mit Geld und Staat.

1.3.2. Seelsorge ist Reich-Gottes-zentriert

Aber die Prioritäten verschieben sich im NT deutlich gegenüber dem AT. Mit dem Kreuz Christi gewinnt auch in der ntl. Seelsorge die Vertikale an Bedeutung. Sie weist vor allem nach „oben“, die Ewigkeit ist in die Zeit eingebrochen. Das gekommene und kommende Reich Gottes wird zum Focus der Seelsorge. In ihr spiegelt sich die neue Hoffnung, die in Jesus Gestalt angenommen hat: Unsere Welt ist vorläufig, sie ist sündenkrank und wird sterben. Alle Zukunft und Hoffnung hängen an dem Messias Jesus, der den Seinen eine neue und vollkommene Welt erschließt, von der die Briefe des NT nicht müde werden zu schwärmen. Grundk.S., S.7/7

Aber es stoßen konsequenterweise die Mächte aufeinander: Die Ankunft Jesu Christi provoziert das Böse und den Bösen. Es beginnt die große endzeitliche Auseinandersetzung zwischen Himmel und Hölle, Tod und Leben, Gott und Satan. Es kommt damit das Schwert, von dem Jesus sagt, es trenne Verwandte und Freunde, es scheide Glaube von Unglaube, Gemeinde von der Welt.

Diese Feindschaft bekommt die Gemeinde zu spüren – bis hin zum Martyrium. Sie soll aber in diesem Kampf bestehen, das Ziel erreichen, die Herrlichkeit, der gegenüber alle Leiden dieser Welt „nicht ins Gewicht fallen“ (Rm.8,18). Hinter diesem Ziel treten viele ansonsten wichtige Lebensthemen zurück. Seelsorge betont das Wesentliche: Die Teilhabe am Reich Gottes. Die Themen der Seelsorge verdichten sich: „... trachtet nach dem, das droben ist...“ (Kol.3,2)

Bei Johannes klingt es schon wie weltflüchtig oder gar weltfeindlich: „Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist....“(1.Jh.215ff) und will doch verstanden werden als den unbedingten Verweis aufs Eigentliche. Die Seelsorge konzentriert sich und richtet den Menschen aus auf das Ziel Gottes aus, auf das zukünftige Paradies, für das das erste nur ein schwaches Gleichnis sein konnte.

Der Mensch wird im Gang der Offenbarungsgeschichte differenziert: Er ist nicht nur die Leibseele, die mit dem Tod endet. Seine Persönlichkeit und Identität bleiben gewahrt über den leiblichen Tod hinaus, der irdische Körper ist der vorläufige, der geistliche-unsterbliche der zukünftige. So hat sich der Seelenbegriff mit der Offenbarungsgeschichte mitgewandelt, geweitet, differenziert. Und auf dieses gewandelte Dasein des Menschen antwortet die Seelsorge jeweils adäquat. Und bei aller Jenseitsausrichtung verweist die ntl. Botschaft zugleich immer neu auf Konkretion des Glaubens im Alltäglichen, in Ehe und Familie, in Beruf und Gesellschaft. Denn das ewige Leben will sich im irdischen abbilden, das Jenseitige im Diesseitigen bewähren. Das Leben im kratürlichen Leib entscheidet den neunen Leib. Grundk.S., S.8/1

2.Thema: Seelsorge – ein Gang durch ihre Geschichte Verständnisse und Missverständnisse von Seelsorge

Einleitung: 1. Wir haben bereits entdeckt, dass wir es bei dem Wort Seelsorge mit einem vielschichtigen Begriff zu tun haben. H.Wulf (Wege zur Seelsorge, Neuk., S.15) schreibt: „Mir scheint, dass keine andere Disziplin der Praktischen Theologie mit einem solchen Mangel bei der Bezeichnung behaftet ist.“ Und Ed. Thurneysen klagt ebenfalls: „Dies Wort ist wohl kein glücklich geprägtes; aber wer weiß ein besseres?“

2. Dabei bezieht sich der Vorbehalt nicht nur auf das Wort „Seele“, das wir bereits angeschaut haben, sondern auch auf den 2. Begriff des Kompositums: „Sorge“, „cura“ im Lateinischen. Es kann Fürsorge – Besorgung, aber auch Aufsicht, Obhut, sogar Kommando bedeuten. Weshalb man statt Seelsorge auch von Seelenführung gesprochen hat.

3. „Cura“ für „Seelsorge“ ist umstritten vor allem wegen des dirigistischen Beigeschmacks: Die Seele solle unter Kuratel gestellt werden, beaufsichtigt und kirchlich manipuliert. Die Geschichte der Seelsorge ist ein immer neues Ringen um ihr Wesen. Im übrigen werden wir sehen, dass die Seelsorge zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Ausprägungen zeigt.

4.Chr.Möller (Gesch.I,15):“ Die Bibel hat so viele seelsorgliche Seiten, dass die Geschichte der Seelsorge als eine Geschichte der Auslegung biblischer Seelsorge gesehen werden kann. Jede Zeit entfaltet einen oder mehrere biblische Aspekte der ‚Besorgnis des Leibes Christi in seinen Gliedern’“. Das heißt: Die Seelsorge wendet den Menschen jeweils die Seite zu, die zur Zeit gefragt und nötig ist. Ich orientiere mich an der Einteilung von Jürgen Ziemers Seelsorgelehre (UTB/Vandh.&Rupr. Göttingen 2000):

2.1. Seelsorge zur Zeit der alten Kirche

1. Die altkirchliche Seelsorge behält in so fern den ganzen Menschen im Blick, als sie sich auch um den Leib kümmert. Dafür steht der Bericht aus Apg.6, über die Einsetzung der sogenannten Almosenpfleger. Alte Berichte sagen außerdem, dass Diakone Krankenbesuche machen, der Kranken fürbittend im Gottesdienst gedenken und konsekriertes (geweihtes) Brot nach dem Gemeindeabendmahl in die Häuser von Kranken tragen. Die im Gottesdienst zusammengelegten Gaben werden mit den Armen geteilt. Seelsorge ist eng mit Diakonie verbunden, Seelsorge ist diakonisch, Diakonie seelsorglich. Grundk.S., S.9/2

2. Aber die alte Kirche gerät zunehmend unter Druck, besonders durch den sich formenden Kaiserkult. Nun geht es vor allem darum, sich nicht verführen zu lassen, nicht zu sündigen, weshalb Ziemer die Seelsorge dieser Zeit unter das Thema stellt: „Kampf gegen die Sünde“. Es gilt, dem Herrn treu zu bleiben, koste es, was es wolle. Das gibt der Seelsorge diese Zuspitzung, von der wir bereits gesprochen haben. Das verdichtete Thema der Seelsorge heißt „der Seelen Seligkeit“ (1.Ptr.1,9) und die Frage: Wie geht die Gemeinde mit Abgefallenen um?

2.2. Seelsorge im Mittelalter

1. Mit der konstantinischen Wende und dem Mailänder Toleranzedikt (313) endet die Christenverfolgung. Das Christentum entwickelt sich zur Staatsreligion, der Spieß wird umgedreht. Mit der Freiheit des Glaubens droht aber zugleich sein Verfall, Verweltlichung. Unter diesem Eindruck wandert die Seelsorge aus der Kirche aus in die Wüste. Es ist die Zeit der sogenannten Wüstenväter, die asketisch und schweigend radikale Nachfolge und Hingabe leben wollen. Wer Seelsorge sucht, muß zu ihnen in die Wüste gehen, um ihre „Apophthegma“, die kurzen, prägnanten, herausgeschleuderten Lebensworte und Weisungen zu empfangen.

2. Die Mönche als Seelsorger geben zunehmend das monastische Dasein der heiligen Isolation auf und sammeln sich in den Klöstern, um dort, möglichst in der Nähe der Städte, beispielhaft urgemeindliches Leben zu gestalten. So entwickeln sich die Klöster zu Seelsorgezentren – und zu Krankenhäusern. In meiner niederrheinischen Heimat kann „Kloster“ noch für Krankenhaus stehen. Der Abt ist zugleich der erfahrene Arzt, Bischöfe treiben medizinische Studien, bauen Krankenhäuser, Heime für Verarmte und Hospize.

3. Zunehmend beanspruchen die Priester die Seelsorge als ihr Privileg, Seelsorge bekommt ein Gefälle, erfährt eine soteriologische Engführung. Seelsorge verdichtet sich zur Einzel-Seelorge, wird zur Beichte und Bußübung. Seelsorge als „Bußzucht“ Glaubenserziehung und Glaubenskontrolle. Die Seele wird also unter „Kuratel“ gestellt, die „cura animarum“ zum Instrument der Kirchenzucht. Eberh.,S.70: „Die „Seele“ selbst weiß nicht von sich aus, was gut für sie ist, sondern der ‚Kurat(or)’ bzw. das ‚Kuratorium“ = d. Aufsichtsbehörde“. Die Kirche wird das Subjekt, der Mensch das Objekt der Seelsorge.

4. Beim IV.Laterankonzil (Rom, 1215) wird die jährliche Beichte zur Christenpflicht. Kirchlicher Ungehorsam wird bestraft, weltliche Behörden helfen, Kirchenstrafen zu vollziehen. Beichte ist folglich das Schlüsselwort für diese Epoche. Seelsorge als Beichte wird zum Machtinstrument der Kirche. Der Höhepunkt dieser ungesunden Entwicklung: Die Ablasspraxis, die dann die Reformation provozierte. Grundk.S., S.10/3

2.3. Seelsorge in der Zeit der Reformation

1. Neben der Predigt ist es die Seelsorge, die für Martin Luther Kirche zur Kirche macht. Predigen und Seelsorge üben sind die wichtigsten Aufgaben eines Pastors. Der eigentliche Ort der Seelsorge ist die Heilige Schrift selber. Denn da redet Christus zu den Menschen. Die Seelsorge wird aus dem Gefängnis des Beichtzwanges befreit, sie ist nicht mehr Mittel zur Disziplinierung, sondern „Trostamt“, der rechte Weg „zu einem fröhlichen Herzen und guten Gewissen“. Das Heil entscheidet sich nicht mehr am Verhältnis des Menschen zur Kirche, sondern zu Christus.

2. Luther selbst riskiert Gesundheit und Leben gegen den Rat seines Kurfürsten, indem er sich im Pestjahr 1527 um die Menschen in Wittenberg kümmert – nach dem Motto: Wenn das Nachbarhaus brennt, kannst du nicht fliehen. Luthers Seelsorge ist konkret, schließt alle Lebensbereiche ein und entbindet die Seelsorge von der Fixierung auf den Klerus: Seelsorge ist jedes Christen Recht und Pflicht. Einer ist des andern Priester und Bischof. Aber aufkommende Schwärmerei und die Mühe, das Evangelium wirklich umzusetzen, werden zur Gefährdung der gerade gewonnen Freiheit.

3. Joachim Ziemer kennzeichnet die Seelsorge der Reformation zu Recht als „Trost“. Einen anderen Zug gewinnt sie bei den anderen Reformatoren Zwingli, Bucer, Calvin. Bei ihnen bestimmt sich die Seelosrge als „Hirtendienst“: Die Verunsicherung des Glaubens und der moralische Verfall der Gesellschaft rufen nach Neuordnung. Buße wird zum Schlüssel der „Besserung“, Kirche muß strukturiert werden in überschaubare und kontrollierbare Gruppen, Hausbesuche sollen die Umsetzung des Glaubens überwachen. „...kurz, es muß gewachet und gewehret werden“ (Schütz,19).

4. Seelsorge nimmt die Gestalt der Kirchenzucht an, zu deren Durchsetzung der Staat als „Gottes Dienerin“ herbeigerufen wird: Trinkern und Spielern droht Geldstrafe, Ungehorsamen Landesverweis. Seelsorge bekommt den Geschmack einer Bespitzelung, einer kirchlichen „Stasi“. „Denunziation wird Christenpflicht“ (Schütz,17). Vieles versteht sich als Reaktion auf die Verwilderung der Gesellschaft und auf Verirrungen des Glaubens in Folge des 30jährigen Krieges.

5. Nur ein Beispiel: Bei einer Kirchenvisitation 1627 bei Nürnberg hören die Visitatoren die Gemeinde das „Vater unser“ so beten: „Vater unser ein Himmel, gib uns unser Schuld, führ uns ein Versuchung, los uns ein dem Übel, gelitten pontius latus odeer geponziget, pelatiget, bekreuziget ist unbegraben etc...“ (bei Ernst Bezzel. Frei zum Eingeständnis, Stuttgart 1982, S.137f).

6. Die Seelsorge verelendete mehr und mehr, missriet zur Massenabfertigung in unruhigem Kirchenraum, der keine Diskretion bot, die Menschen wurden ausgefragt. Sie hatten den sogen. „Beichtpfennig“ zu zahlen, denn die Pastoren waren arme Schlucker. Wer sich nicht konform verhielt, musste auf die „Sünderbank“, die sich bis 1710 nachweisen lässt oder an den öffentlichen Pranger auf dem Kirchplatz – zu öffentlichem Spott preisgegeben. Ein Trauerfall der nachreformatorischen Seelsorgegeschichte. Grundk.S., S.11/4

2.4. Seelsorge zur Zeit der Aufklärung und im Pietismus

1. Dieser unwürdige Umgang mit Seelsorge und Menschen konnte sich nur solange halten, wie die Menschen es sich gefallen ließen. Die Wende kam mit der Aufklärung. Der Mensch erwachte zu Selbstbewusstsein und Mündigkeit. Der Protest gegen diese unwürdige Form von Seelsorge regt sich zunehmen in der Kirche selber. Bekannt wurde der sogenannte „Berliner Beichtstreit“, 1697-99, angeführt von dem Pfr. Johann Kaspar Schade mit der Forderung, die Privatbeichte zugunsten einer Allgemeinen Beichte abzuschaffen.

2. Die Beichtstühle wurden verspottet als „Satansstuhl, Feuerpfuhl“ „Der Beicht- Stank-, Zank- u. Marterstuhl wirft Pfaffen und Affen in den Schwefelpfuhl“ (Bezz.171). 1780 lässt ein Pfarrer den Fußboden aus der Sakristei reisen, um keine Beichte hören zu können. Allerdings: Am Abend nach der Beerdigung hat der Pöbel das Grab des Pfr. Schade geschändet! Und Goethe schreibt an Voß: „Die Ohrenbeichte hätte den Menschen nie genommen werden sollen.“

3. Phil Jakob Spener (1635-1705), Vater des Pietismus, hat anfänglich Berufungen abgelehnt, wenn sie die Aufgabe zur Seelsorge einschlossen. Die Seelsorge innerhalb des Pietismus setzt im Unterschied zu den Reformatoren wie Bucer nicht auf die Besserung der Unfrommen, sondern auf die Förderung der Frommen, die dann ihrerseits wie eine Sauerteig in der Kirche wirken mögen. Zunächst in, dann neben der Kirche gewinnt die Seelsorge des Pietismus den Charakter der „Erbauung“, so J.Ziemer. Der Sr. ist nicht der geistliche Kontrolleur, sondern der „Seelenführer“

4. Begnadete Seelsorger dieser Bewegung, der wir auch unsere Herkunft verdanken, sind u.a. der Niederrheiner Gerh. Tersteegen (1697-1769) und Nikolaus Ludwig, Graf von Zinsendorf (1700-1760), der in Herrnhut eine differenzierte Seelsorgestruktur aufbaute, die sogenannte „Chorordnung“, bzw. „Banden“, eine Art Wohngemeinschaften oder Hauskreisen von höchstens 8. Mitgliedern mit je einem „Bandenführer“, jeweils nach Geschlecht, Alter und Stand getrennt. Die Mitarbeiter wurden in Seelsorge geschult, wobei auffällt, wie vorsichtig Zinzendorf vorzugehen wünscht: „Man macht Schaden, wenn man ihnen zur Unzeit den Heiland predigt“ (Schütz, 43).

5. In der Gesellschaft, auch der kirchlichen, degenerierte die Seelsorge im übrigen mehr und mehr zum Instrument von „Bildung und Lebenshilfe“, so Ziemer. Die Kirche wird von dem zeitgenössischen Theologen und Philosophen Ernst Troeltsch als das „organisatorische Rückgrat der notwendig religiösen Gemeinschaft“ gedeutet. Der Pfarrer war geschätzt als Lehrer in Schulklassen, als gebildetes Mitglied der höheren Volksschichten, als Hüter von Moral und nationaler Tradition. Als Seelsorger hingegen lieferte er Stoff für Karikaturen. Er hatte sich erübrigt. „Mit der Seelsorge schien es zu Ende zu sein, das Wort hatte keinen verlässlichen Klang mehr. Ärzte, Psychologen, Funktionäre der Parteien oder anderer Interessenverbände schienen auf dem besten Weg zu sein, der Kirche dieses Gebiet ihrer Tätigkeit zu entwinden“ (Wulf, 23). Das hat auch der Pietismus nicht verhindern können. Grundk.S., S.12/5

2.5. Seelsorge in der Neuzeit

2.5.1. Die Wende mit der sogen. „Dialektischen Theologie“

1. Mit dem verlorenen ersten Weltkrieg zerbrachen viele Ideale des sogenannten „Kulturprotestantismus“. Die Zeit war reif für eine Wende – auch in der Theologie. Die ist verbunden mit dem Begriff „Dialektische Theologie“ und dem Namen von Karl Barth, und für die Seelsorge mit dem von Eduard Thurneysen, beide Schweizer. Der 1919 erschienene „Römerbrief.“, 2. Aufl. von K.Barth wirkte wie ein Sprengsatz, der die verklebten Denkmuster zerriss: Himmel und Erde, Kultur und Glaube, Kirche und Gesellschaft, Gott und Mensch.

2. Gott ist nicht der Verfügbare und der Mensch nicht der fromme, anständige, möglichst noch deutsche gebildete Kulturträger. Er ist Sünder, weit weg vom Heiligen Gott, der sich – wie im Widerspruch zu sich selbst - dennoch dem Menschen gnädig zuwendet und hineinredet in die menschliche Existenz. Dialektische Theologie ist Wort-Gottes-Theologie. Ziel der Seelsorge ist nicht Stabilisierung des religiösen Menschen, sondern der „Friedensschluss“ Gottes mit dem Menschen, zwischen dem Sünder und dem heiligen Gott.

3. Für den Lutheraner Hans Asmussen beginnt folglich Seelsorge erst, wenn der Pfarrer zu reden beginnt, nicht schon, wenn der Seelsorgesuchende seinen. Kummer beschreibt. E.Thurneys. schrieb das Seelsorge-Standartwerk dieser Richtung: „Die Lehre von der Seelsorge“ 1946, an dem keiner vorbei kommt, der sich ernsthaft mit der Seelsorge befasst. In dieser Seelsorge wird - mit dem Bild des Kreuzes ausgedrückt - der vertikale Balken hoch aufgerichtet, der Querbalken der Horizontalen gerät eher kurz. Für einen pietistisch geprägten Christen ist die Lektüre solcher Theologen wie Barth und Thurneysen ein heilsames Korrektiv zur eigenen Frömmigkeit..

2.5.2. Die pastoral-psychologisch orientierte Seelsorgebewegung

1. Aber die Geschichte der Seelsorge blieb auch da nicht stehen, sondern geriet ihrerseits wiederum in die Kritik: Sie sei zu abstrakt, zu weit weg vom Menschlichen. Was den Menschen betreffe, verschwinde zu sehr im Kleingedruckten, und der Mensch und seine Themen würden verkürzt und eingeengt, wenn die Seelsorge ihn nur unter dem Blickwinkel der Sünde und des Sünders ansehe. Wobei diejenigen, die z.B. Thurneysen als Seelsorger erlebt haben, ihn als unbedingt zugewandt, einfühlsam und menschennah beschreiben, wie Thurneysen auch der Überzeugung war, ein guter Seelsorger sei immer auch ein guter Psychologe. Grundk.S., S.13/6

2. In den zwanziger Jahren entstand in den USA eine neue Konzeption von Seelsorge aus der Betroffenheit eines Theologen namens Boisen, der als Patient in einer Psychiatrie die Hilflosigkeit und das Ungenügen einer Seelsorge erlebte, die sich zwar ans Wort Gottes hielt, ihm aber in seiner seelischen Not nicht nahe kam. Gesundet begann er mit dem, was dann als Clinical Pastoral Training, später als Clinical Pastoral Education bekannt wurde und über Holland nach Deutschland kam. Hier bot sich ein fruchtbaren Boden für die Grundidee, humanwissenschaftliche Erkenntnisse für die Seelsorge zu nutzen. Daraus entwickelte sich die sogenannte Pastoralpsychologie.

3. Die wurde auch deshalb gerne aufgenommen, weil die Kirchen leerer wurden. Zu viele Menschen gingen an den Pastoraten und Sakristeien vorbei in die Praxen der Psychotherapeuten. Die Predigten schienen nicht mehr zu überzeugen weil zu viele Prediger selber nicht den Glauben hatten, der die Menschen helfen, trösten und heilen sollte. In der Einsicht, dass die Kirchen unter der Hand das Feld der Seelsorge weltlichen Disziplinen überlassen hatten und wohl auch aus der Verlegenheit eigener Glaubensarmut, erhoffte man sich aus der Kooperation mit der Psychologie einen neuen Zugang zum Menschen.

4. Das hatte viel für sich und löste eine breite Bewegung aus, die u.a. 1972 in Deutschland zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) führte. Deren eine Sektion ist die Klinische Seelsorgeausbildung (KSA), in der ich selber ausbilde. Es gab seitens der Gläubigen viele berechtige kritische Anfragen und Vorwürfe: Jetzt werde die menschliche Mitteilung zum heiligen Text, der in der Seelsorge auszulegen sei, die empathische Kommunikation werde zum Sakrament und der Mensch zum Mittelpunkt der Seelsorge, die völlig anthropozentrisch missgedeutet werde

5. „Im Menschen offenbar sich das Göttliche, das Innere des Menschen gewinnt ‚Offenbarungsqualität’“ (Tacke,49) Woran zu viel wahr ist und manches inzwischen bußfertig eingesehen. Aber es wurde hier auch viel an Terrain zurückgewonnen, das leichtfertig verspielt wurde. Und jedenfalls entbrannte ein Streit um die Seelsorge, die auch im evangelikalen Lager heftig geführt wurde. Bücher wie „Psychonautik Stopp!“ von Horst-Klaus Hoffmann und „Gruppenpsychotechnik“ von Horst W. Beck z.B. riefen zum Kampf.

6. Die Gemeinde Jesu Christi verkaufe ihr Erstgeburtsrecht gegen ein Linsengericht der Psychologie. J.A.Adams mit seinen Büchern präsentierte eine „biblische Seelsorge“. Wobei der Kundige allerdings schnell erkennen konnte, dass die Praxis seiner Seelsorge stark von der Verhaltenstherapie geprägt war, wie Adams selber durch den Verhaltenstherapeuten Mowrer. Diese Auseinandersetzungen waren wohl nötig, bis sich allmählich so etwas wie eine kritische Kooperation zwischen Theologie und Psychologie abzeichnete, dieser schmale Weg zwischen Heiligem Geist und Menschenweisheit. Grundk.S., S.14/7

7. Im evangelikalen Raum hat sicherlich Prof. Michael Dieterich dazu beigetragen, die Auseinandersetzung zu entschärfen zugunsten der Menschen, denen geholfen werden soll. Es scheint an der Seelsorgefront inzwischen ruhiger geworden zu sein. Der Dialog hat den Streit allmählich abgelöst, alle Seiten sehen deutlicher, dass keiner die ganze Wahrheit für sich alleine hat und dass einer vom andern lernen kann. Wobei die Grenzen nicht zu verwischen sind, wenn der Dialog ehrlich und fruchtbar bleiben soll.

2.5.3. Anmerkungen zur aktuellen Situation

1. Die Geschichte geht weiter. Schon gibt es Stimmen, die das Ende der pastoralpsychologischen Seelsorgebewegung für gekommen sehen. Auch dieses Konzept, dass sich ja vor allem dem seelisch Leidenden zuwendet – und in der Tat ist der Bedarf riesig, immer noch –ist vielleicht zu statisch, wenn alle Seelsorge jene Tiefe der persönlichen Einfühlung bekommen muß und das therapeutische Element fast immer mitschwingen soll. Die Definition von Dietrich Stollberg, Marburg, Seelsorge sei „Psychotherapie im kirchlichen Kontext“, will nicht mehr so voll geglaubt werden. Das Leben sei so bunt und die Situationen oft so klein und alltäglich, dass es oft schon genüge, das freundliche Wort zur rechten Zeit zu finden, die kurze Ermutigung „zwischen Tür und Angel“.

2. Es kommt das Wort „Alltags-Seelsorge“ auf, das Mitgehen der Seelsorge durch die Höhen und Tiefen des Alltäglichen, die geistliche Geländegängigkeit des Seelsorgers, der seine Gemeindeglieder begleitet und ein gutes Wort für sie hat. Es muß nicht immer groß und tief sein. Nicht nur Seelsorge als Gespräch, sondern auch Gespräch als Seelsorge – in Nähe und Wertschätzung, nicht methoden- sondern menschenorientiert. Flexibel muß sie sein, beweglich, entsprechend dem ständigen Szenenwechsel des Men.

3. Und vom Glauben getragen. Denn Seelsosrge hilft nicht genug, wenn sie leben hilft, sie muß z.B. auch leiden und sterben helfen, muß den Horizont des Ewigen im Blick haben und auf ihn verweisen, muß die Brücke vom Zeitlichen zum Ewigen aufzeigen und sie gehen helfen. Seelsorge ist beides: Lebenshilfe und Glaubenshilfe und möchte dem Menschen darin dienen, dass er in einer guten Beziehung zu Gott, zu den Menschen und zu sich und seiner Welt verantwortlich leben kann vor Gott. Der hält immer noch zum Menschen und ruft ihn an als sein verantwortliches Gegenüber. Grundk.S.,S.15/1

3.Thema: Seelsorge – heilsames Handeln Christi in der Gemeinde und durch die Gemeinde – Die Gemeinde als Basis, Raum und Ziel der Seelsorge

Einleitung: 1. Seelsorge als Element der „missio dei“

1. Seelsorge ist ein Element der großen „missio dei“, der Sendung Jesus Christi, die er seinen Jüngern überträgt mit den Worten: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch...“ mit einer geradezu seelsorglichen Zuspitzung bei Johannes: „Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen, ...“ (Jh.20,21-23).

2. Seelsorge ist also Auftrag. Im Auftrag ist zugleich die Verheißung mitgegeben: Dass nämlich er selber, der auferstandene Herr mit und in den Jüngern handeln wird und durch seinen Geist mitten unter ihnen und in ihrem Dienst wirkt.

3. Die Gemeinde ist der Leib Christi, in ihr lebt und leibt der Herr selber, ihr dienend und sich ihrer bedienend – auch in der Seelsorge. So geht alle Seelsorge von der Gemeinde aus und führt zu ihr zurück. Die Gemeinde ist der von Christus und seinem Geist gestiftete heilige Ort, wo er selber den Menschen nahe kommt, um sie zu segnen.

2. Jesus als Seelsorger

1. Jesus selber ist der Seelsorger, in dem Gott selber menschfreundlich und sich erbarmend in unsere Welt gekommen ist. Er ist mehr als ein Vorbild für Seelsorge. Er vollzieht sie uns zu gut und er vollzieht sie immer noch, wenn wir uns seelsorglich mühen. Er ist der eigentlich Handelnde in der Seelsorge. Wir sind seine Helfershelfer, die ein bisschen mittun dürfen und erstaunlicherweise manchmal gebraucht werden.

2. Ein typisches Bild für Jesus als Seelsorger ist das des guten Hirten, der sogar bereit ist, die 99 Schafe im Pferch zu lassen, um das eine verlorene, vielleicht bockige Schaf zu suchen. Er zerreißt sich Kleider und Haut; aber er gibt nicht auf, bis er findet. Und dann legt er das Verlorene behutsam auf die Schulter und trägt es heim – und ruft die Leute herbei: „Ich habe mein Schaf wieder!“ (Luk.15,6).

3. Er rührt – gegen alle Warnung und Gesundheitsvorschrift - die Aussätzigen an und heilt sie. Er vergibt die Sünden und richtet die gebeugte Frau auf. Wir haben schon gesagt: Er kümmert sich um den Menschen mit allen seinen Bedürfnissen, um Leib und Seele, um Brot und Schmerz. In ihm kommt der Himmel auf die Erde. Das sollen die Leute erfahren. Und sie erleben es und preisen Gott. Grundk.S., S.16/2

4. Aber er schenkt den Menschen auch dieses Ziel und richtet sie darauf aus: Das gekommene und kommende Reicht Gottes. Darum weist er die Bitte, im Erbstreit zu schlichten, brüsk zurück: „Wer hat mich zum Richter und Erbschlichter über euch gesetzt?“(Lk.12,14). Was ist ein Stück Land oder eine Geldsumme im Vergleich zum Himmelreich!? „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes...“ (Mt.6,33).

5. Manchen interessiert, welche Seelsorgemethode Jesus hatte. Aber da ergibt sich ein so buntes Bild, wie das Leben bunt ist. Die Seelsorgemethode Jesu ist so vielfältig, wie die Menschen und ihre jeweilige Situation unterschiedlich sind. Wenn man ein System finden willen, liegt es vermutlich in dieser immer neuen kreativen Zuwendung Jesu zu den Menschen, so wie es diese Menschen im Augenblick brauchen.

6. Ein theologisch-dialektischer Seelsorger, der auf eine Wort-Gottes- Zentrierung aus ist, mag vielleicht besonders die Szene aus Jh.3, das Gespräch Jesu mit dem Schriftgelehrten Nikodemus. Der hat kaum sein Kompliment anbringen können, als Jesus ihm schon das Wort abschneidet: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde ...“. Fertig ab! Keine Einfühlung, kein Drumherum, sondern geradeheraus und zielgerichtet auf den Kopf zugesprochen: „Es sei denn...“ Es geht ums Zentrum, um Umkehr.

7. Aber man lese nur das nächste Kapitel, Jh.4, die Begegnung Jesu mit der samaritanischen Frau. Da redet Jesus so vorsichtig und so wenig direktiv, dass man an Roger’s klientzentrierte Gesprächsführung erinnert wird. Petrus kann er einmal einen „Fels“ nennen, auf den er baut, und sechs Verse später einen Satan, den er von sich weist. (Mt.16.17.23) Der jeweilige Kairos entscheidet über die Art und Weise der Seelsorge Jesu. Der Heilige Geist wirkt in jeder Situation neu und eigen und immer so, dass Gottes guter Wille jetzt und hier geschehe.

3.1. Die „cura animarum generalis“ – die Basisseelsorge in der Gemeinde

1. Die Gemeinde als Leib Christi, ausgestattet mit dem Heiligen Geist, ist der Ort in der Welt, an dem Gott seinen Menschen besonders begegnet. Darum ist die Gemeinde ein heilsamer Ort, der Ort der Seelsorge. Wenn die Gemeinde zusammenkommt, gemeinsam Gottesdienst feiert und ihrem Herrn dient, entfaltet sie heilsame Kräfte, die auf den einzelnen übergehen und die auch den berühren, der dem Glauben noch fremd ist. Vorausgesetzt die Gemeinde gibt dem Geist Jesu Christi den Raum, der ihm gehört. Grundk. Seels., 17/3

2. Es bedarf für diese Wirkung nicht besonderer Veranstaltungen, etwa Heilungsgottesdienste und besondere Segenshandlungen, die beide ihr Recht haben und genutzt werden können. Aber Basisseelsorge, das, was in der Kirchengeschicht die „cura animarum generalis“ genannt wurde, schreibt dem sogenannten normalen gesunden Gemeindeleben heilsame Wirkung zu: Der Predigt, dem Abendmahl, dem gemeinsamen Singen und Beten, dem Austausch über die Bibel, dem gemeinsamen Leben und Dienen.

3. Der lutherische Begründer der Neuendettelsauer Mission und Diakonie, Wilhelm Löhe (1808-1872) hat leidenschaftlich für diese „ordentlichen“ und „uralten“ Mittel der Seelsorge geworben und gekämpft. „Die einfache Regel ist: Gebrauche die alten Mittel in alter Weise und bleibe im Lehren, Lernen und Erfahren, in Anfechtung und Gebet, auf dass du zum Seelsorger reifest“ (b. Thurn., Lehre, 18f). Er selber hat durch Fürbitte stark seelsorglich gewirkt.

4. Für Löhe war die Beichte das Zentrum der Seelsorge und er behielt der von ihm sogenannten „Privat-Seelsorge“ gegenüber immer eine Skepsis. Er nennt es eine „große Torheit“, „wenn man verkennt, dass Predigt, Katechese und Liturgie das Beste in der Seelsorge tun“ (Thurn.15). Wo solche Seelsorge gepflegt werde, habe auch die „Privatseelsorge“ ihr Recht und ihren Segen. Sie müsse eingebettet und getragen sein von solcher allgemeinen Seelsorge.

5. Ich halte das für eine wichtige Lektion in Sachen Seelsorge. Und wir tun unendlich viel Gutes für die Menschen in der Gemeinde und außerhalb, wenn wir dies Wesentliche der Seelsorge in den Gemeinde pflegen: Durch text- und lebensnahe Predigten voll Evangelium, durch sorgsam und mit Liebe vorbereitete Gottesdienste und Abendmahlsfeiern, durch die Pflege der Gemeinschaft und des Gebets in der Gemeinde und in Hauskreisen und durch eine menschlich-geistlichen Kultur, bestimmt von gegenseitigem Respekt, gegenseitiger Aufmerksamkeit und Aufrichtigkeit.

6. Wo das geschieht, geschieht Seelsorge, ohne das darüber geredet wird. Wo das nicht geschieht, vermag die Seelsorge nicht auszugleichen, was an geistlicher Substanz ungenutzt bleibt. Zu dieser Basisseelsorge gehören die vielen Ermutigungen und Anweisung etwa in den ntl. Briefen. Ich erinnere an Gal.6,2 „Einer trage des andern Last,...“ „Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er von Gott empfangen hat ... (1.Petr.4,10) Besonders Jk5, 16 „Bekennt einander eure Sünden und betet füreinander...“

7. Jeder soll und darf dem andern ein Christus werden, ein Helfer zu Trost und zum Heilwerden. „Der Christus im Herzen des Bruders ist stärker als der Christus im eigenen Herzen“, sagt Bonhoeffer. Und Jakobus setzt den Gewinn gegenseitiger Seelsorge so hoch, dass er sich offenbar keine Sorgen darüber macht, dass ja bei einer „Seelsorgerei“ jedes an jedem auch vieles durcheinander laufen könnte. Wir sollten also ausdrücklich dazu ermutigen und anleiten und die Risiken nicht zum Veto des Ganzen machen. Grundk. Seels., S.18/4 8. Diese „cura generalis“ ist ein hohes Kapital der Gemeinde und ein ungemein überzeugendes Angebot an die Menschen außerhalb, die das so selten erleben: Persönliche Wärme und Respekt, echtes Interesse und Anteilnahme, Offenheit ohne Bloßstellung, Zuwendung ohne Berechnung. Wir investieren gut, wenn wir dafür Sorge tragen, dass es geistlich und heilig in der Gemeinde zugehe, denn dann geht’s auch menschlich zu. „Christ werden heißt Mensch werden“ (Bonhoeffer.).

3.2. „Die cura animarum spezialis“ – der Seelsorgedienst an den einzelnen in besonderer Situation.

Einleitung: Diese „spezielle“ Seelsorge, eingebettet in eine „allgemeine Seelsorge“ wird immer da nötig, wo es um den einzelnen in einer bestimmten Lebenssituation geht, in der Seelsorge erbeten oder angeboten wird. Diese Seelsorge kann – je nach Bedürftigkeit – unterschiedlich gefüllt sein: Sie kann zum Glauben rufen, zur Umkehr, den Zweifler ermutigen, der Verirrten zurechtweisen, die Trauernden trösten und den Sünder von seinem Verhalten überführen.

Sie kann im äußersten Fall zur Gemeindezucht werden, die aber ihrem Wesen nach immer zur Gemeinde, zu Christus hinzieht und erzieht. Sie ist keine „Rausschmiss-Seelsorge“ Entsprechend finden sich unterschiedliche Worte im NT für das seelsorgliche Handeln: Trösten (prakalein), was auch ermahnen heißen kann. Zurechtweisen (nouthetein), für Jay E. Adams das Schlüsselwort der Seelsorge, „elengchein“, jemanden überführen, „paideuein“, erziehen. Die „cura spezialis“ wird z.B. in folgenden Situationen aktuell:

3.2.1. Beichte

1.Über ihren Segen und ihre Degeneration haben wir bereits geredet. Die gesamte Entwicklung hat jedenfalls dazu beigetragen, dass die Beicht m.E. ein seltenes Ereignis geworden ist. Das hat unterschiedliche Gründe. Das Beichten scheint schwierig geworden zu sein, weil nicht mehr allgemein klar ist, was denn zu beichten sei, was Schuld ist, was Sünde meint. Abgesehen von den Spätfolgen des Beichtstreites gibt es keine allgemein gültigen Maßstäbe mehr, die für eine Gesellschaft verbindlichen Charakter haben und das Gewissen beeinflussen.

2.Die 10-Gebote als klassischer Beichtspiegel sind zum Diskussionsstoff verkommen, die Gewissenprägung hat sich gewandelt. Die Menschen haben zwar viele Probleme, die sie in die Seelsorge führen (oder in die Therapie), aber nicht unbedingt Sündenbewusstsein. Sie gestehen wohl Fehler ein, aber ohne darin schon eine zu bekennende Schuld zu sehen. Es kann allerdings geschehen, dass im Verlauf der seelsorglichen Begleitung Schuld als solche erkannt und benannt wird – und zur Beichte wird. Grundkurs Seels., Seite 19/5

3.Das heißt: Wir unterscheiden inzwischen eine „intentionale“ von einer „funktionalen“ Beichte. Die „intentionale Beichte“, die direkt als solche begehrt wird, begegnet relativ selten. Aber unter der Hand wird die Problemseelsorge möglicher- und oft nötigerweise zur Schuldverarbeitung. So bekommt das Seelsorgegespräch einen Beichtcharakter, „funktioniert“ als Beichte, auch wenn es nicht immer so benannt wird: Der Mensch ordnet sein Leben vor Gott und wo möglich vor Menschen und sucht Frieden bei Gott. Und manchmal gelingt es, diesen Vorgang in eine Beichte zu überführen.

4.Wir sollten in der Seelsorge wach für dieses tief verankerte Bedürfnis nach Entschuldung und Vergebung, nach dem Friedensschluss mit und vor Gott sein. Wir ermutigen, sich der Schuld und dem Gekreuzigten zu stellen. Denn darin ist die Seelsorge konkurrenzlos: Dass sie zur Vergebung einladen und sie im Namen Jesu zusprechen darf, dass sie in der Sackgasse die Türe zeigen kann, die Gott dem Sünder auftut. Beichte im Sinne Luthers als Trostamt, als Weg zu einem guten und freien Gewissen, das ist eine himmlische Gabe an uns Menschen. Wir suchen immer neu gute Worte und Formen, dieses Geschenk weiter zu geben.

3.2.2. Kasualien:

1. Die „cura specialsis“ wird nicht zuletzt konkret bei den sogenannten „Kasualien“. Kasualien beschreiben die Wechselfälle des Lebens von Geburt bis Tod, die den einzelnen Menschen betreffen, beglücken, erschüttern, anrühren. Als solche „Kasus“ beschreiben wir z.B. die Taufe oder Segnung von Kleinkindern, je nach theologisch-kirchlicher Überzeugung, die Konfirmation oder den Abschluss der Glaubensunterweisung im freikirchlichen Raum, Hochzeiten von „grün“ bis „golden“.

2. Aber auch Kranken- und Heilungsgebet der Ältesten, Trauerfälle, Beerdigung, Bestattung. Auch die Glaubenstaufe ist eine solche Kasualie, weil hier der einzelne betroffen ist im Unterschied zum Abendmahl, das die Gemeinde gemeinsam feiert und darum nicht zu den Kasualien zählt. In der pietistischen Tradition hatten die Kasualien es nicht leicht, weil im Verdacht, sakramental überhöht und schließlich zur Lüge zu missraten, weil der Mensch sich auf eine heilige Handlung verlässt und nicht auf Gott. Grundk.S., S.20/6

3. Dessen eingedenk gilt zu sehen, wie sehr der Mensch gerade in solchen „Wechselfällen des Lebens“ seelsorgebedürftig und für die Seelsorge ansprechbar ist. Denn hier erfasst ihn das Leben direkt, mit Glück und Leid und jedenfalls existentiell. Die Lebenssituation wird zur Krise, das Leben muß neu bedacht, geordnet und ausgerichtet werden. Dabei ist der einzelne in seiner Betroffenheit oft überfordert und dankbar für Beistand und Begleitung.

4. Dem Seelsorge fordert das eine besondere Behutsamkeit und Empathie ab, das Einfühlungsvermögen, das sich dicht an den betroffenen Menschen heranwagt und zugleich die behutsame Distanz wahrt, die Keuschheit, die nötig ist, damit der Mensch sich nicht überfahren und vor lauter Zuwendung erstickt fühlt. Gerade bei Kasualien muß die Seelsorge achtsam sein, weil der Mensch so anfällig und beeinflussbar ist. Seelsorge kann zum seelischen Missbrauch entarten, wenn der Betroffene zur Abhängigkeit verführt wird, statt ihn zu eigener Lebenstüchtigkeit anzuleiten.

5. Aber die Kasualien bieten auch diese große Chance: Dem zur Zeit besonders Bedürftigen Begleitung zu bieten und ihm darin die Möglichkeit zu erschließen, in dieser besonderen Zeit durch Freude und vielleicht auch durch Leid im Glauben zu wachsen und als Mensch zu reifen. Die Gemeinde kann in dieser Zeit in einem vorher nicht gekannten Maß zur Heimat und Basis werden. Und die Beziehung zwischen Seelsorger und Seelsorgebedürftigen kann sich sehr vertiefen und ein Vertrauen stiften, das für lange Zeit positiv nachwirkt.

6. Die Kasualien bieten der Gemeinde auch eine eigene missionarische Möglichkeit. Wenn nämlich Nichtchristen im Umfeld der Gemeinde in solchen Lebenssituationen geistlichen Beistand suchen, z.B. für eine Beerdigung in der Familie oder auch bei Trauungen. Außerdem nehmen in der Regel nichtchristliche Verwandte an Familienfeiern von Christen teil und erleben deren Kasual-Gottesdienste mit. Meine Erfahrung ist, dass wir durch Hochzeiten und Beerdigungen nicht unbedingt Nichtchristen zum Glauben führen, sie aber durch Verkündigung und gottesdienstliche Handlungen sehr wohl ansprechen können.

7.Die Meinung über die Gemeinde und über den Glauben der christlichen Verwandtschaft werden oft nachhaltig positiv beeinflusst. Aber auch da gilt es, mit der Goldwaage zu arbeiten. Die Kasualie darf nicht zu einer angriffigen Evangelisation entarten nach dem Motto: Der Herr hat sie in meine Hand gegeben. So missrät manche Beerdigungsansprache zur peinlichen Höllendrohung und die Absicht wird ins Gegenteil verkehrt. Kasualien sind missionarische Möglicheiten. Der Missbrauch hebt auch hier den rechten Gebrauch nicht auf. Grundk.S., S.21/7

3.2.3. Die pastoral-psychologische Seelsorge

1.In den letzten Jahrzehnten hat sich der Seelsorge eine neue Thematik aufgedrängt, der sich die Gemeinde manchmal kaum gewachsen fühlt. Wir reden von dem sich immer noch vergrößernden Bereich seelischer Leiden, von den Beziehungsstörungen, denen so viele Ehen zum Opfer fallen, von der mangelnden Konfliktfähigkeit, die bis in die Gemeindeleitungen hinein reicht..

2.Zwar hat es das immer schon gegeben; aber es trat nicht so deutlich hervor. Eine Kultur des Individualismus und eine Leistungsgesellschaft sind zwei wesentliche Faktoren dieser Entwicklung. Das haben wir inzwischen gemerkt: Die sogenannte „herkömmliche“ Seelsorge, die ganz und ausschließlich auf den ermutigenden und ermahnenden Zuspruch des Wortes Gottes und auf das Gebet setzt, greift anscheinend nicht immer. Das hat viele erschüttert und wirft eine Unmenge geistlich-existentieller Fragen auf: Hat denn das Wort und hat das Gebet seine Wirkkraft verloren? Müssen wir vor der Psychotherapie kapitulieren und sie um Hilfe bitten. Wir werden Noch darüber zu reden haben.

3.Wie auch immer unsere Antworten ausfallen: Wir können die unter solche modernen Räuber Gefallenen nicht einfach liegen lassen und wie Priester und Levit im Gleichnis vorbeigehen und wegschauen. Die hier notwendige Seelsorge ist nicht mit der allgemeinen „cura animarum“ zu bewältigen, sie ist auch keine Kasualseelsorge. Sie muß wie der barmherzige Samariter damals neue Wege gehen und Hilfe wagen. Wir können den Menschen nicht vorschreiben, bis wohin sie sich verlieren können, damit wir ihnen noch beikommen. Wir müssen sie da aufsuchen, wo sie sind. Jesus hat das verlorene Schaf nicht da gesucht wo er es sich wünschte, sondern wo es sich befand.

4.Konrad Adenauer soll gesagt haben:„Wir müssen die Menschen nehmen wie sie sind; andere haben wir nicht.“ Also machen wir uns schlau und studieren ein wenig bei den Psychologen und den Kommunikationsforschern und schauen, wie die Psychotherapeuten mit den Leuten umgehen und ob auch von ihnen etwas zu lernen wäre. Und hüten uns zugleich vor der Illusion, sie ersetzen zu können. Manchmal müssen wir Gemeindeglieder an sie verweisen. Und halten bei allem im Glauben fest, dass Jesus immer noch gerne und wunderbar hilft – mit uns und ohne uns. Einfach so.

Grundk.S., S.22/8

5.Es wäre ja schon unendlich viel gewonnen, wenn wir die Belasteten und Gestörten, die Schwachen und Krisengeschüttelten nicht heimlich oder auch offen als halbgläubig abwerteten, sondern sie trügen und ertrügen, sie mit guten Ratschlägen und frommen Parolen verschonten und für sie glaubten und hofften, auch ohne es ihnen zu sagen. Es wäre ja schon eine erste heilsame Erfahrung, wenn sich die Leidenden nicht auch noch für ihre Probleme rechtfertigen müssten, sondern die Gerechtfertigten vor Gott sein dürfen, die sie trotz allem sind. Da wäre ja schon ein Stück Erlösung nahe.

6.Ein gesundes und geistlich-menschliches Gemeindeleben erweist sich auch hier als verheißungsvolle Basis und als Schutzraum zur Genesung. Als Raum, wo ich sein darf, der ich bin, Mensch sein darf mit anderen Menschen, nichts leisten muß, um zu gefallen, sondern bringen darf, was ich hab und bin, mich zumuten, mich trauen. Gott gebe uns Gemeinden als angstfreie Lebensräume, wo die Menschenwürde noch unantastbar ist und der einzelne, in letztem Respekt vor seinem Schöpfer, Hochachtung erfährt. Jene geerdete Rechtfertigung des Sünders, die den Schwachen leben lässt. Und das alles aus Gnade.

3.3. Seelsorge als diakonisches Handeln

1. Abschließend muß noch eine Gestalt der Gemeindeseelsorge benannt sein: Seelsorge als Diakonie. Nicht von ungefähr hat das Gleichnis vom barmherzigen Samariter vorhin Seelsorge veranschaulicht. Aber in dieser wunderbaren Geschichte wird alle Seelsorge Tat, Wundbehandlung, Krankenpflege, Körpereinsatz – und Finanzhilfe. Seelsorge und Diakonie sind Geschwister, vielleicht sogar eineiige Zwillinge, schwer von einander zu unterscheiden. Weshalb schon in der Frühzeit der Kirche Seelsorge und Krankenpflege in der Hand des Bischofs lagen.

2. Mit sarkastischem Spott karikiert Jakobus in seinem Brief (Kap.2,14-17) eine Seelsorge, die sich nur auf Worte zurückzieht, auf Segensworte und sich doch nur aus der Verantwortung stielt. Wen friert, helfen keine warmen Worte, wen hungert, nicht das Bibelwort. „Geh hin und tu!“ sagt Jesus dem Pharisäer und meint auch uns. Es gibt nicht nur in der katholischen Theologie einen Vorbehalt gegenüber dem Karitativem, weil der Christ da immer schon Gefahr laufe, zwei Herren zu dienen. Auch in unserer Tradition gibt es die Scheu, die Verhältnisse anzugehen und sie so gut es geht zu verändern.

Grundk.S., S.23/9

3. Das Evangelium ist immer auch sozial, menschenfreundlich wie der menschenfreundliche Gott. Und die barmherzige Tat der Liebe, die auch ein hoffnungsvolles Signal für das anbrechende Gottesreich ist, reicht über den Rand der Gemeinde hinaus und wendet sich dem Weltelend zu, wo immer es begegnet.

4. Wo Erweckung geschah, entstand meist beides: Missionsgesellschaft und diakonisches Werk. Ich erlebe uns häufig sozial-scheu und wenig mutig. Wir können nicht überall jedem helfen. Das wissen wir, das verlangt auch niemand. Aber vielleicht genügt es, uns gemeinsam in der Umwelt umzuschauen, in der wir als Christen und Gemeinden leben. Wenn wir aufmerksam beten, Gott möge uns zeigen, wo und wie wir ein wenig Gutes tun können an der Volksseele, wird er gewiss erhören. Das sage ich als einen kleinen Anstoß – auch für meine eigene träge Seele. Grundkurs Seelsorge, Seite 24/1

4.Thema: Zum Profil des Seelsorgers Auftrag und Begabung zu heiligem Dienstag

Vorab: Ich bitte um Nachsicht, wenn ich vom Seelsorger spreche und die Seelsorgerin nicht eigens erwähne. Ich meine sie aber jedes Mal mit, denn Seelsorge ist nicht nur Männersache. Aber sprachlich ist es eine Hilfe, nur die maskuline Wendung benutzen zu dürfen.

Einleitung: Der Seelsorger – nur eine Randfigur des Geschehens?

1. In seiner „Lehre von der Seelsorge“ weist Eduard Thurneysen dem Seelsorger das letzte Kapitel zu, § 16. Der Seelsorger, und widmet ihm acht Seiten. Der Seelsorger – der Letzte, oder auch das Letzte? Es könne in der Seelsorge nicht um den Seelsorger gehen, nicht um seine Person, als sei sie von Bedeutung, als bestimme sie das Geschehen. Mitte und Subjekt der Seelsorge ist Gott selber, der durch sein Wort am Menschen heilsam handelt. Der Seelsorger ist zwar „Träger und Überbringer der Botschaft“ (S.298), der aber hinter seinem Herrn und seinem Auftrag – bitte schön! – zurück zu treten hat.

2. Der Seelsorger ist nicht der eigentlich Handelnde. Es geht ihm eher so, wie Karl Barth es einmal in anderem Zusammenhang beschreibt, dass einer beim Besteigen eines Kirchturms zufällig das Glockenseil berührt. Und siehe da, er löst einen Ton aus! Solch Unwichtignehmen des Seelsorgers ist keine Diskriminierung. Es hat auch etwas Befreiendes, sich zugestehen zu dürfen: Auf mich kommt es – Gott sei Dank! – nicht an. Seelsorge ist Gottes Sache, und es kann ihr nichts besseres geschehen.

3. Nun will auch Thurneysen aus seiner Zeit heraus verstanden werden und seine Seelsorge als Einspruch gegen eine Anthropozentrik, die den Menschen in die Mitte stellt und sich selbst um ihr heilsames Proprium betrügt. Unsere Zeit könnte allerdings leicht als Rückfall in menschen-mittige Seelsorge verstanden werden, die den Rückruf zu dem Gott der Mitte alles Lebens neu braucht. Dennoch muß der Seelsorger in Blick genommen werden. Er ist auch nicht nur „Werkzeug“ in der Seelsorge, ein Ding also, tot und mechanisch. Der Seelsorger ist der wichtigste Mitarbeiter Gottes im Seelsorgegeschehen und muß als solcher thematisiert werden.

4.1. Der Seelsorger – ein Versuch, ihn „biblisch“ zu verstehen.

4.1.1. Spurensuche in der Heiligen Schrift

1. Im AT wird die Seelsorge in der kleinsten Gemeinschaft der Familie im Wesentlichen dem Vater zugeordnet. In der größeren sozialen Einheit des Dorfes oder Stammes sind es wiederum die Ältesten. Die Priester nahmen insofern Seelsorge wahr, als sie den Menschen durch den Opferkult halfen, ein gutes Gewissen vor Gott zu gewinnen und göttliche Wegweisung vermittelten. Später waren es die Propheten, die nicht nur zurück- und vorausschauend Zeit und Ereignisse kündeten und deuteten, sondern auch Lehrer und Berater waren. Nathan erleben wir als Berater und auch Seelsorger am Königshof. Grundkurs Seels., Seite 25/2

2. Im NT gibt es nicht den Seelsorger als festes Amt wie wir es etwa von Hirten und Lehrern kennen. Eher scheinen seelsorgliche Begabungen bei einzelnen vorzuliegen, die zwar nicht zu einem Amt führen, wohl aber zum Dienst befähigen und berufen. Um Seelsorge scheint es z.B. in der Liste der Gnadengaben bei Paulus, Röm.12,8 zu gehen, wo es heißt: „Ist jemandem Ermahnung gegeben, so ermahne er.“ Der hier verwendete Begriff „parakalein“ ist typisch für den Bereich der Seelsorge und meint sowohl den tröstliche Zuspruch wie auch die aufrufende Mahnung. Der Apostel Barnabas besaß wohl eine auffällige Seelsorgebegabung, dass man ihm den Beinamen „Sohn des Trostes“ („Sohn der Paraklese“) gab (Apg. 4,36).

3. Aber auch im NT scheint die Prophetie, wohl mehr noch als im AT, im Dienst der Seelsorge gestanden zu haben. Der vom Geist gewirkte Spruch, die Weisung an die Gemeinde, das Bild oder Wort des Bruders, der Schwester erwiesen sich vermutlich häufig als seelsorgliche Antwort auf Lebensfragen der Gemeinde oder einzelner Glieder. Die erschütternde Szene in der Urgemeinde, Apg.5, in der Petrus den Betrug des Paares Hannanias und Saphiras aufdeckt, ist deutlich ein prophetisches Geschehen: Der Geist Jesu Christi zeigt Petrus, was in den Herzen ist und wie Gott darauf antworten wird.

4. Seelsorge ist kaum denkbar ohne das prophetische Element. Denn wenn weder der Seelsorgesuchende noch der Seelsorger recht wissen, worum es geht und wohin es gehen kann und soll, ist Seelsorge auf diesen gnädigen Durchblick angewiesen, der verdichtet dem Propheten eignet. In ihm wirkt der Geist, der aber nicht nur ihn, sondern die ganze Gemeinde „in alle Wahrheit leiten“ wird (Joh.16,13). So scheinen die parakletische Begabung und der prophetische Durchblick als wesentliche Ausstattungen zu ntl. Seelsorge, auf die wir auch heute angewiesen sind.

4.1.2. Jeder Christ ein Seelsorger?

1. Wir haben schon gesehen, wie sehr das NT zur Seelsorge jedes an jeden aufruft, indem einer des andern Last und des Lebens Freud und Leid mitträgt, einer dem andern mit seinen Gaben dient und sich, wo nötig, dem andern in den Weg stellt, wenn der in die Irre zu gehen droht. Und diese Seelsorge ist, wie wir sahen, nicht personal veramtet, meint: nicht einzelnen Geist- und Gabenträgern vorbehalten, sondern die Verantwortung jedes für jeden.

2. Die Reformation hat diese schöne Wahrheit vom allgemeinen Priestertum der Glaubenden neu entdeckt und betont, wenngleich in der Folge selber schlecht bewahrt. Der Pietismus hat diese Erkenntnis neu aufgegriffen und umgesetzt. Und wir müssen es immer neu entdecken, damit der Dienst der ganzen Gemeinde vor der Monopolisierung bewahrt bleibt, die alle geistlichen Aufgaben von Belang Pastoren und Ältesten zuschiebt – und sie hoffnungslos überfordert. Insofern gilt der Satz: Jeder Christ ein Seelsorger. Denn jeder von ihnen sollte zu einem guten Wort, zu einer freundlichen Geste und guten Tat fähig sein und anderen gut tun können, wie er sich selber gut ist. Grundkurs Seels., Seite 26/3

3. Zugleich ist aber auch Bescheidenheit geboten bei solchen Sprüchen: Jeder Christ ein Missionar, ein Evangelist und was nicht alles. Freilich sollte jeder Christ einem Nichtchristen sagen können, wie er sich zu Jesus kehren kann. Aber das macht ihn nicht schon zu einem Evangelisten und Missionar. Dafür gibt es eigene Charismen. So soll und kann auch jeder jedem hilfreich beistehen, ohne dass ihn das schon als Seelsorger auszeichnet. Zu der Grundbegabung aller tritt eben die Spezialbegabung einzelner für bestimmte Dienste. Das gilt auch für die Seelsorge.

4. Ob sie bei wem vorhanden ist, gilt es jeweils zu entdecken. Wie? Manche werden dadurch auf eine Seelsorgebegabung aufmerksam, dass Menschen ihren Rat und ihre Begleitung in Lebensfragen erbitten und ihnen bestätigen: Du hast eine gute Art für den seelsorglichen Umgang mit Menschen. Es kann sein, dass jemand seinerseits in solchen Begleitungen anderer eine große Befriedigung erlebt. Es macht ihm Freude, anderen zu helfen durch Zuhören und Gespräch. Auf diesem Weg kann er möglicherweise ein Charisma, eine Geistbegabung entdecken, durchs Tun und Ausprobieren. Und es darf auch Spaß machen.

5. Ob es ich aber um eine geistliche Begabung handelt, das sollte nicht nur die betreffende Person alleine für sich entscheiden, auch nicht nur mit solchen, die bei ihr Hilfe suchen und finden. Denn Geistesgaben gehören der Gemeinde, sind ihr zu gemeinsamen Dienst gegeben und müssen von ihr verantwortet und begleitet werden. Darum gehört zur Berufung zum Dienst immer auch die Stimme der Gemeinde und ihrer Leitung. Der praktische Theologe spricht von der „vocatio interna“ und der „vocatio externa“, der „inneren Berufung“, die als Gewissheit im Menschen wächst und lebt, und der „äußeren Berufung“, die als Bestätigung von der Gemeinde hinzutreten muß. Beides soll in eine Balance kommen.

6. Eduard Thurneysen rät zu doppelter Vorsicht, wenn jemand sich zur Seelsorge berufen glaube. Denn nicht das sei eigentlich das Kriterium, dass sich jemand diese Aufgabe zutraue, sondern dass er sich für sie unfähig halte und vor ihr zurückscheue. Wer es dann dennoch wage, tue es, indem er seine ganze Hoffnung und sein Vertrauen auf den Gott setze, der den Untauglichen dennoch tüchtig machen kann. Denn Seelsorge kann auch zum Tummelplatz der Eitelkeit und der Machtspiele werden, der Wichtigtuerei und Anbiederung. Darum lebe jeder, der Seelsorge übt, inmitten der Gemeinde und suche sich selber immer neu die Spiegelung seines Dienstes und seiner eigenen Person.

4.1.3. Seelsorge als Naturbegabung?

1. Ich habe viele Bewerbungen gelesen, in denen gelegentlich auf die seelsorgliche Begabung von Bewerbern hingewiesen wird. Er oder sie hätten viele seelsorgliche Kontakte, würde stark darin stark beansprucht. Sie hätten geradezu eine natürliche Begabung zur Seelsorge. Ich gestehe, dass ich solche Anerkennungen zunehmend kritisch gelesen habe. Denn Seelsorge liegt uns nicht im Blut. Sie ist kein Naturell. Was wir „im Blut“ haben können, ist ein hohes Einfühlungsvermögen und eine warme Ausstrahlung, die Menschen anzieht und uns vertrauenswürdig erscheinen lässt. Das aber beschreibt noch kein Charisma und keine Seelsorgequalität. Grundkurs Seels., Seite 27/4

2. Man soll die Menschen nicht gleich verdächtigen; aber hinsehen müssen wir schon, ob sich hinter der sogenannten natürliche Seelsorgebegabung nicht ein „hilfloser Helfer“ verbirgt, der natürlich oft schnell und voreilig herbeigerufen wird, den es aber doch gibt und der sich oftmals dadurch verrät, dass er andern so gerne helfen möchte. Es ist auffällig, dass viele, die in sozialen, therapeutischen, also menschennahen Berufen arbeiten, selber an einem Defizit an Zuwendung und eigener Wertschätzung leiden und gelitten haben.

3. Es gehört häufig zu deren Lebensmuster, dass sie es gelernt haben, für sich selber nichts zu verlangen und zu brauchen, aber anderen alles Gute gönnen und tun. Das heißt, der Dienst an anderen meint dann oft nicht den andern, sondern ist die Ersatzhandlung für die Zuwendung, die man oder frau selber suchen. Wenn ich es schon nicht wert bin, dass man mich liebt und sich um mich kümmert, will ich es wenigstens andern geben. Wenn die dann glücklich sind, bin ich es auch ein Stückchen. So holt sich der Mensch über den Umweg des Dienstes an anderen seine Zuwendung, die er zu erbitten sich nicht traut.

4. Wolfgang Schmidbauer spricht in seinem Buch „Die hilflosen Helfer“ von Menschen, die sich hinter der Fassade hingebenden Dienstes selbst als hungrige Kinder entpuppen, die selber nicht satt geworden sind und versuchen, es ein bisschen zu werden, indem sie andere füttern. Natürlich sind unsere Motive auch die in der Seelsorge nicht immer rein. Und es darf uns auch gut tun, wenn wir andern gut tun konnten. Es ist in Ordnung, wenn wir nicht nur geben, sondern auch bekommen. Gerade in der Seelsorge werden wir auch „zurück gefüttert“

5. Wenn wir’s merken, ist die Gefahr schon fast gebannt. Das Problem des „hilflosen Helfer“ besteht darin, dass er das nicht merkt, auch nicht merken mag, weil er solchen „Egoismus“ verwerflich nennen müßte. Im Klartext aber heißt das: Er darf sich nicht eingestehen, dass er auch etwas und vor allem für sich sucht, indem er sich um den andern sorgt, dass er nur dienend etwas für sich bekommen kann. Wo ein solches System nicht aufgedeckt wird, geschieht nicht wirklich Seelsorge. Denn ein solcher Seelsorger braucht den Seelsorgebedürftigen für sich, ohne es zu merken. Er benutzt ihn für sich und ist nicht wirklich frei für ihn.

6. Und er wird den Seelsorgepartner nicht zur Selbständigkeit führen können. Dadurch würde er ihn verlieren. Es kann eine symbiotische Bindung entstehen, die eine geistliche und menschliche Reifung behindert. Wenn diese oft tief verborgenen Motive ans Licht kommen und bearbeitet werden können, dann kann eine solch defizitäre Eigenerfahrung, der bewusst angenommen eigene Mangel eine Verstehensbrücke zu andern werden. Dann kann sich eine unheile Biographie geradezu als Qualifikation erweisen. Denn solche Menschen können dann oft in einer geklärten Weise andere verstehen – und wirklich sie meinen. Grundk. S., S. 28/5

7. Es ist wie mit den fünf Broten und zwei Fischen im Evangelium. Von ihnen konnten die Tausenden nicht satt werden. Aber nachdem die Jünger das Wenige in die Hände Jesu gelegt hatten, er es brach und Gott – o Wunder! - dafür dankte, reichte es für alle. Und auch die Jünger wurden mit satt. Sogenannte natürliche Seelsorgebegabungen können dann sogar zu geistlichen Gaben werden, weil Jesus sie wundersam brauchbar machen kann, wenn wir sie ihm ausliefern. Vielleicht in einem nicht schmerzlosen Prozess, der sich aber für die Betroffenen selber und für andere als großen Gewinn erweisen kann.

4.1.4. Charisma und Training

1. Wen Gott mit der parakletischen Gabe, der Seelsorge, betraut hat, ist möglicherweise ein „begnadeter“ Seelsorger. Ihm fällt leicht, worum andere sich in Begegnungen mühen müssen. Aber auch Charismen sind nicht einfach mit ständiger Frische zur Verfügung. Auch sie wollen kultiviert, gepflegt und trainiert werden. Es gibt gewiss ein großes Potential an Gnadengaben in den Gemeinden, die vor sich hin dämmern oder auch verrotten, weil sie nicht aktiviert werden. Entweder lässt man ihnen nicht den Wirkraum, oder die Träger sind einfach träge.

2. Zweimal mahnt Paulus seinen jüngeren Mitarbeiter Timotheus, darauf zu achten: „Lass nicht außer acht die Gabe in dir, die dir gegeben ist durch Weissagung mit Handauflegung der Ältesten“ (1.Tim.4,14). Paulus gebraucht im Griechischen das Wort „vernachlässigen“. Was nützen Handauflegung und Prophetie, wenn die Gabe nicht trainiert wird? Sie ist wie ein Muskel, der nur durch Übung stark wird. Im zweiten Brief mahnt der Apostel: „dass du erweckst die Gabe Gottes, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände“ (2.Tim.16). Paulus spricht hier vom „Anfachen“, Gaben sind wie ein Feuer, das brennen will und nicht unter der Asche verglüht. Es muß der Wind der Praxis hineinwehen, damit ein begabter Mensch selber entzündet, andere entzünden kann.

3. Umgekehrt gibt es viele Mitarbeiter in den Gemeinden, auch Pastoren und Älteste, die zwar zu diesem Dienst berufen, nicht aber mit einer Seelsorgebegabung ausgestattet wurden. Aber zumindest ein Pastor muß auch Seelsorge üben, es sei seine Gabe oder nicht. Er muß nicht am Ende ein begnadeter Seelsorger werden; aber wo die Geistesgabe fehlt, kann der Mensch doch einiges üben, was ihm und anderen hilft, diesen Dienst zu tun. Man kann Geistesgabe nicht antrainieren, wohl aber versuchen, seine geistlichen und menschlichen Möglichkeiten auszuweiten. Grundk. S., S. 29/6

4.2. Lernbares in der Seelsorge und für sie

4.2.1. Umgang mit Gott

1. Der schon häufiger erwähnte Eduard Thurneysen schloss seinen derzeit epochemachenden Aufsatz „Rechtfertigung und Seelsorge“ mit dem Satz: „Seelsorge ist Beten“. Und von Wilhelm Löhe wissen wir, dass er wesentlich seelsorglich auf seine Gemeinde eingewirkt hat durch Fürbitte. Ein Seelsorger muß auch ein Beter sein, einer, der mit Gott im Gespräch ist – auch über die Menschen, denen er helfen soll und will. Denn Seelsorge macht auch abhängig von Gott, weil wir zu oft an unsere Grenzen stoßen.

2. Ich gestehe, dass ich das Beten vor einem Seelsorgegespräch manchmal in der Geschäftigkeit des Alltags vergesse. Aber im Laufe des Gesprächs kommt mir manchmal die Erinnerung ans Beten wie ein Alarmsignal, das mich wach ruft. Es ist schön, manche Erfahrung und manches Können zu sammeln; aber es ist realistisch, dass alle Kunst nicht reicht, dem Menschen wirklich zu dienen. Darum ist Seelsorge Beten, und manchmal erinnert sie uns an diese Wahrheit. Das bedeutet nicht, dass ich „automatisch“ zu Beginn oder am Schluss eines Gesprächs mit den Menschen bete. Das Gebet ist keine TÜV-Plakette, die die Geistlichkeit eines Gesprächs garantiert. Das Gebet muß passen. Und häufig erfrage ich die Bereitschaft meines Gegenübers.

3. Ein Seelsorger muß nicht nur betend mit Gott im Gespräch bleiben, sondern auch bibellesend. Die Heilige Schrift ist und bleibt das beste Lehrbuch über den Mensche, das Leben und die Seelsorge. Darum sollten wir in diesem Buch zu Hause sein. Thurneysen ermutigt, ein „Schriftgelehrter“ zu werden. Auch hier bedeutet das nicht, in jedem Seelsorgegespräch die Bibel zitieren zu müssen – „zur Zeit und zur Unzeit“ - , sondern die ganze Seelsorge unter die Verheißung und Weisung der Schrift gestellt zu wissen. Und manchmal gibt es Bibelworte oder biblische Szenen und Geschichten, die wie für die aktuelle Seelsorgesituation geschaffen sind, die das Lebensthema des Menschen beschreiben und tragen.

4. Und der Seelsorger sollte ein Mensch sein, der seine eigene Seele in Sorge nimmt und nehmen lässt. Das heißt: Er soll selber Seelsorge suchen, einen Seelsorger haben, dem er sich ungeschminkt zunuten darf, die Wunden zeigen, die Defizite und die Sünden bekennen. Mit dem er auch seine Seelsorge möglicherweise anschauen kann, wenn denn beides geht. Manchmal ist es besser, die seelsorgliche und die fach-supervisorische Begleitung zu trennen. Jedenfalls sollte der Seelsorger denen, die zu ihm kommen, darin mutig vorangehen, dass auch er den nicht immer leichten Gang zum Seelsorger wagt. Die Menschen, die zu uns kommen, haben ein Gespür dafür, ob wir selber tun, wozu wir sie aufrufen. Grundkurs Seels., Seite 30/7

5. Ehepartner können nur zu geringem Teil die Last der Seelsorge mittragen. Sie sind uns zu nahe, und außerdem verbietet die Schweigepflicht jede inhaltliche Mitteilung. Seelsorger können sehr einsame Vögel werden, wenn sie sich nicht bewusst und energisch auf den Weg der Seelsorge an der eigenen Seele machen. Die Regel lautet: Du kannst den andern nur so weit führen, wie du selber gekommen bist. Es gibt den gesunden Egoismus, für sich selber zu sorgen. Das sollten wir uns wert sein – und es dient – überraschenderweise – auch den andern.

4.2.2. Selbstwahrnehmung

1. Ist das wert zu üben? Rudolf Bohren mahnt: „Zum Wesen des Heidentums gehört die Beschäftigung mit sich selbst. Die Inschrift am Apollotempel zu Delphi gibt hierzu das Motto: „gnothi seauton“, „Nosce te ipsum“, „Erkenne dich selbst“ (In der Tiefe der Zisterne, München 1990). Christuserkenntnis heißt die Einladung des NT. In der Begegnung mit ihm erfahre ich auch mich – gnädig gehalten. Und doch kommt der Christ, also auch der Seelsorger, nicht umhin, gelegentlich in den Spiegel der Selbsterkenntnis zu schauen und sich mit sich selbst zu konfrontieren oder sich freundlich zu begegnen.

2. „So habt nun acht auf euch selbst und auf die Herde...“, mahnt Paulus die Ältesten von Ephesus und wählt diese Reihenfolge (Apg.20,28). Der Kirchenvater Augustinus (354-430) hat in seinen Bekenntnissen Selbstbeobachtung geübt und seine inneren Erfahrungen beschrieben und das als geistliche Übung empfohlen. Bedauerlicherweise hat die kirchliche Seelsorge sie der Psychologie abgetreten. „ Erforscht euch selbst, ob ihr im Glauben steht, prüft euch selbst...“, schreibt Paulus den Korinthern (II,13,5) „Ein jeder aber prüfe sein eigen Werk“ (Gal.6,4).

3. „Du kannst dir selbst nicht ausweichen“, sagt Bonhoeffer. Der Weg zwischen fruchtloser Selbstfixierung und frommer Nabelschau einerseits und der notwendigen Selbstprüfung andererseits ist schmal aber ohne Alternative. Denn in der Seelsorge konfrontieren uns die Menschen mit unseren eigenen Lebensthemen. Wenn wir die nicht angehen, bilden sie Blockaden in der Seelsorge. Ich erinnere an die Gedanken unter dem Punkt Seelsorge als Naturbegabung (4.1.3.) um deutlich zu machen, wie nötig es ist, meine Motivation zur Seelsorge und die Art, wie ich mit Themen und Menschen umgehe, zu bemerken.

4. Die Regel lautet: Ohne Selbstwahrnehmung keine Fremdwahrnehmung. Zur Selbstwahrnehmung hilft mir unverzichtbar auch die Rückmeldung anderer, die mich und meine Arbeit kennen und beobachten, die ich fragen und bitten kann um ehrliche und konstruktive Rückmeldung. Wohl niemand sehnt sich nach kritischem Feedback, aber sie ist eine Quelle eigenen Wachsens und Reifens. Zu viele Seelsorge haben sich an diesem Prozess vorbeiargumentiert und mancher hat es teuer bezahlt, indem er ohne Vorwarnung in die eigenen Löcher und Fallen gestolpert ist. Mancher ist dabei für die Seelsorge unbrauchbar geworden. Es ist nicht schlimm, Wunden und Lücken zu haben. Aber man muß sich drum kümmern. Grundkurs Seels., Seite 31/8

4.2.3. Fremdwahrnehmung

1. Das positive Ziel der Selbstwahrnehmung ist die Schärfung der Fremdwahrnehmung. Denn nun bin ich weniger in Gefahr, meine eigenen unerledigten Themen in den anderen zu projizieren und ihn damit zu verkennen. Ich kann mich ihm aufmerksam zuwenden. Und das vor allem braucht der Mensch, der in die Seelsorge kommt. Wie man Fremdwahrnehmung üben kann? Nun, manche betreiben das als Hobby, setzen sich in Straßen-Cafes und gucken die Leute an, wie sie sich kleiden und geben, wie sie reden und schauen.

2. Was die Menschen denken und fühlen, was sie umtreibt, ängstet und beglückt führen uns auch gute Romane und Filme vor. Oder auch die Schlager. Hoch aktuell wird es aber immer in der Begegnung mit einem Menschen in der Seelsorge selber. Da gilt es nun, mit allen Sinnen wahrzunehmen in der unvoreingenommenen Offenheit und Bereitschaft, zunächst nichts anderes zu wollen als zu hören und zu verstehen, ...“ Zuhörer sein zu wollen, geduldiger, angespannter, aufmerksamer, wacher und verstehender Zuhörer und nichts anderes sonst“(E.Thurn., Die Lehre, S.111).

3. Das Hörorgan ist das wichtigste in der Seelsorge. Sprüche 18,13: „Wer antwortet, ehe er hört, dem ist’s Torheit und Schande.“ Dietr. Bonhoeffer beklagt in seinem Band „Gemeinsames Leben“, dass besonders Prediger sich schwer tun mit dem Zuhören, als sei die Zeit für sie zu schade, wo sie doch so viel Hilfreiches zu sagen hätten. Wörtlich: „Sie vergessen, dass Zuhören ein größerer Dienst sein kann als Reden... Wer aber seinem Bruder nicht mehr zuhören kann, der wird auch bald Gott nicht mehr zuhören, sondern er wird auch vor Gott immer nur reden. Hier fängt der Tod des geistlichen Lebens an, und zuletzt bleibt nur noch das geistliche Geschwätz... Wer nicht lange und geduldig zuhören kann, der wird am Andern immer vorbeireden und es selbst schließlich nicht mehr merken.“(S. 83).

4.Und die Augen sind beteiligt: Was sagt mir mein Gegenüber ohne Worte, was sagen die Augen, die Mimik, die Körperhaltung. Wie sitzt er da, wie wirkt das alles auf mich? Und mit welchem Vokabular und mit welchem Tonfall spricht er? Was teilt er mir mit dem allen, vielleicht auch trotz seiner Worte mit? Das alles wird das Gespräch bestimmen. Jemand hat den Beginn eines Seelsorgegesprächs mit dem Umfahren einer Insel verglichen. Man kann natürlich gleich volle Kraft voraus auf die Steilküste halten. Sinnvoller wäre es, sie erst einmal zu umfahren, um den eventuellen Landesteg zu entdecken. Thurneysen spricht dabei von einem doppelten Hören: Ich höre sehr aufmerksam, was mir da gesagt wird, und zugleich horche ich betend auf Gott, was das alles besagen soll. Grundkurs Seels., Seite 32/9

4.2.4. Sachkenntnis

1. Aus- und Fortbildung hat auch die Seelsorge erfasst – und manchen verunsichert. Ob denn Seelsorge jetzt machbar geworden sei. Durchaus nicht. Aber so wenig Charisma und Training gegeneinander stehen, so auch Gottvertrauen und Wissen in der Seelsorge. Es gibt Predigthilfen, und alle finden das in Ordnung. Auch Seelsorgeschulung ist in Ordnung, wenn das Wissen in Dienst gestellt wird. Andernfalls „bläht es auf“, meint Paulus (1.Kor.8,1). Die Schulungsangebote wie die Literatur erscheinen unübersehbar. Auch hier kann man nicht alles essen, was auf der Speisekarte steht.

2. Wir brauchen Information über die Konzepte und können sie bekommen. Und da kein Seelsorgebuch und –konzept das allein richtige ist, muß man auch Wahlfreiheit lassen. Nicht jedes ist für jeden gleich gut und richtig. Aber wenn jemand zu mir kommt und eine Schuld beichtet, ich ihm die Vergebung zuspreche und er kommt nach wenigen Tagen wieder, um die selbe Sache wieder zu besprechen, muß ich hellhörig werden, ob es denn hier wirklich um Schuld und Vergebung oder um anderes geht. Dazu ist ein Grundwissen für die Seelsorge nötig.

3. Solche Schulungen können vor Ort oder auch überörtlich geschehen. In meinem Gemeindebereich wurde ein „Netzwerk Seelsorge“ installiert, in dem Frauen und Männer, die sich für Seelsorge zur Verfügung halten, geschult werden unter anderem durch regelmäßige Supervisionsgruppen, in denen eigene oder fremde Lebens- und Seelsorgefragen bearbeitet werden. Darüber hinaus machen andere Anleihen bei psychotherapeutischen Schulen. Wenn das mit Vorsicht und Bescheidenheit geschieht und nicht zur Kurpfuscherei missrät, kann auch das ein Gewinn sein. Es geht ja darum, den Menschen zu helfen mit allem, was dient.

4. Ich will nicht verschweigen, dass die Gefahr das Halbwissens besonders lauert, wo viel Seelsorgeausbildung angeboten wird. Es werden, so fürchte ich, zu schnell zu viele auf die Menschheit losgelassen, weil sie einen Abschluss gemacht haben, ohne aber die innere Reife und Geklärtheit mitzubringen, die nötig wäre. Nicht alle sind ein Segen. Besonders dann, wenn wie unkritisch und mit großem Sendungsbewusstsein daherkommen. Auch deshalb ist wichtig, das die Gemeinden ein waches Auge für die Seelsorge haben und schulen, damit Seelsorge sei, was sie sein will: Glaubenshilfe als Lebenshilfe, Ermutigung, selbstverantwortlich vor Gott das Leben und Zusammenleben zu gestalten.

Grundkurs Seels., Seite 33/10

4.2.5. Seelsorglicher Habitus

1. Damit meine ich nicht Gehabe, nur Äußerlichkeit, sondern die gereifte, gewachsene Persönlichkeit, die nicht fertig ist, sondern in diesem Entwicklungsprozess bleibt. Denn auch der Seelsorger ist immer im Werden. Wer „fix“ = lateinisch „fest“ und „fertig“ ist, also „fix und fertig“, ist auch schon am Ende. Habitus weist in die Richtung des biblischen Begriffs „vollkommen“, der aber nicht das meint, was wir gemeinhin darunter verstehen. Vollkommenheit meint die Ganzheit, das Echte und Kongruente der Person. Meint die Summe der Einzelteile, das ganze Bild aus vielen Puzzleteilen.

2. Es meint für die Person des Seelsorgers das Ganze, was sich aus den unterschiedlichen Elementen ergibt: Aus meiner Christusbeziehung, aus meiner Erfahrung, meint mein Wissen und die Ausbildung, schließt mein Gewordensein, meine Biographie mit ihren Licht- und Schattenseiten ein, meine Art, alles, was ich bin. Und das alles zusammen bildet meine unvollkommene Persönlichkeit, die ich Christus und den Menschen zur Verfügung stelle in der Hoffnung, dass Gott etwas draus macht – o Wunder!

3. Es liegt ein großer Trost darin, dass ich selber noch lernen, unfertig sein darf. Und das mein Unfertigsein die Seelsorge nicht behindert, sondern sogar fördern kann. Der amerikanische Pastoralpsychologe, Howard Clinebell, hat in seinem Buch Wachsen und Hoffen,(München 1982 im 1. Band, S.68) geschrieben: „Unser Schmerz und unser unvollendetes Wachstum sind entweder ein Brücke oder eine Barriere zu dem Schmerz und dem unvollendeten Wachstum anderer Menschen: Wenn wir es wagen, in unserem eigenen Schmerz und unseren Wachstumskämpfen verletzlich zu sein, können diese zu einer Brücke des Verstehens werden, zu einem einfühlsamen Bindeglied zu dem Schmerz und den Wachstumsbedürfnissen anderer. Ihr wertvollster Vorzug ist Ihre authentische, unvollkommene Persönlichkeit. Menschen, deren Wachsen durch nichtauthentische Beziehungen eingeschränkt ist, brauchen vor allem Ihre Gegenwart und Zuwendung, so wie Sie sind, mit Ihren Unvollkommenheiten, damit die Bedürfnisse nach eigenem Wachstum in ihnen erwachen.“

4. Das lässt hoffen – für uns und die Menschen, denen unsere Seelsorge gelten soll. Und das sei zum Schluß noch als ein Wesensmerkmal evangelischer Seelsorge genannt: Die Hoffnung. Noch einmal Thurneysen: „Seelsorge ist Seelsorge, die in Hoffnung geschieht, oder sie ist nicht Seelsorge.“ Und: „Es geht eine geheimnisvolle, aber reale Ausstrahlung aus von einem für den anderen hoffenden Menschen“ (Seels. i. Vollzug, Zürich 1968, S.58 u. 59). Grundkurs Seels., Seite 34/1

5. Thema: Seelsorge und/oder Psychotherapie Überlegungen zu einer kritischen Kooperation

5.1. Der Verlust ursprünglicher Einheit

1. Die Seelsorge ist älter als die Psychotherapie und neben ihr hatte Psychotherapie keinen Raum. Alle Fragen des Glaubens und des Lebens wurden von der Kirche bearbeitet und beantwortet. Es war wie noch heute in Primitivkulturen: Der Medizinmann ist zuständig für Gesundheit und Religion, für Leib und Seele. So begegnet es schon im AT: Der Priester fungiert als Seelsorger im Opferritual und als Gesundheitsbehörde etwa bei der Feststellung von Aussatz, als richterliche Instanz bei Verdacht des Ehebruchs (Fluchtrank, 4.Mose 5,11ff) und als Losverwalter in Entscheidungssituationen.

2. Auch die ntl. Gemeinde nimmt sich – wie ihr Herr – der Leibes- und Seelennot an, der Krankheit und der Anfechtung. Es gab für den Bereich heutiger Psychotherapie offenbar keinen Bedarf. So ist es insgesamt in der Kirchengeschichte geblieben. Martin Luther riskierte sein Leben nicht nur in der Reformation der Kirche, sonder auch in der Wittenberger Pestzeit, manche seiner Seelsorgebriefe haben therapeutischen Charakter. „Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts gehöre es zu den Pflichten des Pfarrers, alle neuen Gesetzte und Verordnungen von der Kanzel zu verlesen und ihren Inhalt der Gemeinde zu erklären...

3. Die Menschen waren es gewohnt, mit jeder Frage zum Pfarrer zu gehen....Bei jedem Krankheitsfall, bei jeder materiellen Not, bei jeder religiösen oder sittlichen Gefahr war er zur Stelle...“ (H.Wulf, Pfarrer, wie lange noch, Neukirchen,1971,S.21). Er schlichtete den Ehestreit und half dem Dorfschulzen, die Papiere für die Behörden zu erstellen. Das ganze private und öffentliche Leben wurde kirchlich begeleitet und gesteuert. In der Konsequenz der Aufklärung büßte die Kirche ihre Monopolstellung ein, die Wissenschaft emanzipierte sich von der „ancilla theologiae“, von der Magd zur freien „domina“, zur Herrin, die sich jede Bevormundung verbat.

4. Die so verunsicherte Kirche trat ganze Bereiche an die neu entstehenden Disziplinen ab. An die Medizin, die Soziologie und die Psychologie und zog sich auf das ihr Eigene zurück, auf die Seele als eine Art Glaubens- und Gottesorgan und auf die Vertikale der Gottesbeziehung. Der ursprünglich eine Kontinent menschlicher Existenz driftete auseinander – nicht nur fachlich, sondern auch ideologisch. Denn die neu entstehenden Disziplinen, die sich ihr Eigenrecht erstritten hatten, entwickelten in Frontstellung zum Sündersein des Menschen in der Theologie religionskritisch ein aufgeklärtes, humanistisches Menschenbild, das bis heute in aller Regel die Systeme prägt. In der Praxis heißt dass: Der moderne Mensch geht an der Sakristei vorbei in die Sprechstunde des Psychotherapeuten Grundkurs Seels., Seite 35/2

5.2. Der Versuch. Getrenntes wieder zu verbinden

1. Der Gebietsverlust blieb eine Kränkung für die Kirche. Es blieb auch die Ahnung, der Mensch könne doch nicht zerteilt und aufgeteilt werden auf weltliche und geistliche Bereiche. Er bleibt doch das gemeinsame „Objekt“ sowohl der Psychotherapie wie der Seelsorge. Und zu sehr wirken Leib und Seele, Gesellschaft und Privatleben aufeinander ein. So fehlte es zunehmend nicht an Versuchen, verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Zu nennen ist hier der schweizerische Pfarrer und Therapeut Oscar Pfister (1873-1956) zu nennen, der in Anlehnung an Siegmund Freud eine „analytische Seelsorge“ entwickelte.

2. Die bereits erwähnte pastoralpsychologische Bewegung, die von den USA über Holland vor einem halben Jahrhundert auch Deutschland erreichte, hat dieses Bemühen konsequent aufgegriffen und den Kontakt zur Psychotherapie forciert. Um in einem Bild von Manfred Seitz zu reden: Die Seelsorge warf sich der Psychotherapie an den Hals, die darüber gar nicht so glücklich war und der Seelsorge vorwarf, ihre Defizite nun psychotherapeutisch ausgleichen zu wollen. So kann man im „Informationsdienst Nr. 46“ der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) vom 13. November 1975 über eine Tagung der Katholischen Akademie in Bayern lesen:

3. Prof. Dr. Paul Matussek, Leiter der Forschungsstelle für Psychopathologie und Psychotherapie habe die katholische Seelsorge als „unecht, wirkungslos und unglaubwürdig“ bezeichnet. „Die Priester ... flüchten sich in die Psychologie, wenn sie selbst keinen Glauben mehr haben...Die Menschen erwarteten sich von den Seelsorgern nicht alle möglichen psychologischen Techniken von Beratung bis zu Atemübungen (statt einer Predigt), sondern das ‚Heil’. Wörtlich: „Viele Priester sind selbst ohne Heil, weil ihnen die existentielle Begegnung mit Jesus fehlt.“ Bußruf des Psychologen an die Theologen!

4. Evangelischerseits stand es ja nicht besser. Das brennende Interesse an der Psychologie korrespondierte mit einem Substanzverlust in der Theologie. Sind die Menschen nicht mehr mit der Predigt zu halten, weil die wegen unglaubwürdiger Prediger nicht überzeugt, kann man sie vielleicht therapeutisch, pastoralpsychologisch wiedergewinnen. Schon Oscar Pfister galt theologisch als liberal und die therapeutischen Konzepte in der evangelischen Kirche wurden im Wesentlichen von liberalen und nicht etwa von evangelikalen Theologen entwickelt. Zu den Spannungen und Auseinandersetzungen sei im übrigen an den zweiten Vortrag erinnert. Grundkurs Seels., Seite 36/3

5.3. Theologische Reflexionen zum Verhältnis von Seelsorge und Psychotherapie

5.3.1. Praktisch-theologische Überlegung

1. Die Einsicht, dass der Mensch ein Ganzes ist, dass Leib und Seele aufeinander einwirken und ein guter Seelsorger nach Eduard Thurneysen immer auch ein guter Psychologe sein müsse, drängt – über allen Ideologiestreit hinaus – auf menschenfreundliche Lösungen. Also auch auf eine irgend geartete Kooperation von Seelsorge und Therapie. Denn beiden geht es um den Menschen, wenngleich unter unterschiedlichen Gesichtspunkten. Geht es in der Seelsorge um das Seelenheil, kümmert sich die Therapie um die Heilung der Seele. Aber auch da korrespondiert beides miteinander, so wahr Gott der Heiland für Leib und Seele ist.

2. Beides in Kongruenz zu bringen, geht aber nicht, dagegen würde sich die Psychotherapie deutlich verwahren. Also muß man zubilligen, dass Seelsorge und Therapie ihr je eigenes Proprium haben, oder im Bild von den konzentrischen Kreisen ihren je eigenen Mittelpunkt mit ihrem je eigenen Menschenbild. Dass es aber eine nicht statische Schnittmenge beider Kreise gibt, wo sich beides begegnet und überlappt. Wo beide voneinander profitieren könnten und jedenfalls die Seelsorge Elemente der Therapie zu integrieren versucht.

3. Eduard Thurneysen, der selber die Idee hatte, eine christliche Psychologie zu entwickeln, wurde darin von seinem Freund Karl Barth gehindert. Schließlich gebe es auch keine christliche Zoologie. So sprach Thurneysen nur noch von einem christlichen Gebrauch der Psychologie und findet die Formel: Von der Psychologie könne die Seelsorge wohl die „Menschenerkenntnis“ lernen, das Wissen über das seelische Gefüge, das „Menschenverständnis“ hingegen, also die Deutung, wer und was der Mensch vor Gott sei, müsse der Theologie vorbehalten bleiben und jede Übergriffigkeit seitens der Psychologie in Sachen Menschenbild sei zurückzuweisen.

4. Michael Dieterich hat später das Dach-Haus-Modell vorgeschlagen: Die Psychologische Arbeit sei zunächst einmal Forschung, Beobachtung und Beschreibung, bilde also das Mauerwerk. Das Bedürfnis, dem allen auch eine ideologische Deutung zu geben, sei sekundär, das anschließend aufgesetzte Dach. Das könne man aber wieder herunternehmen und die Materialien psychologischer Forschung unter das Dach der Seelsorge nehmen. Einerseits in seiner Einfachheit einleuchtend bleibt aber die Frage, ob denn nicht auch schon Fundament und Mauerwerk den Geist atmen, der auch die Dachform bestimme. Ob diese einfache Unterscheidung also sachgemäß sei.

Grundlurs Seels., Seite 37/4

5.3.2. Theoloisch-systematische Übverlegungen

1. Einen anderen Weg, das Unvereinbare aber doch Zusammengehörende zu verbinden, bietet in gewagter Steilheit der Vergleich mit der Christologie, konkret mit dem christologischen Streit um seine beiden Naturen, wie er dann 451 nach Chr. in Chalkedon entschieden wurde Da heißt es von Jesus Christus: „ Derselbe ist vollkommen in der Gottheit und derselbe ist vollkommen in der Menschheit, zugleich wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch aus Vernunftseele und Leib, mit dem Vater wesenseins der Gottheit nach und zugleich mit uns wesenseins der Menschheit nach... unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungesondert ...“ (A.M:Ritter, Alte Kirche, Neukirchen 1977,S.221).

2. So könnte auch das Miteinander von Seelsorge und Psychotherapie gedeutet werden als zwei Aspekte desselben Geschehens, wobei jede Seite ihr eigenes Proprium wahrte. Das „Unvermischt“ stünde dann für das je eigenen von Seelsorge und Therapie, wobei jede Seite das Andersein des andern respektiert und die spezifische Kompetenz beachtet ohne jede Übergriffigkeit. Es wäre für den Seelsorger keine Kapitulation, wenn er Menschen an den Therapeuten überwiese und der Therapeut möglicherweise ein Gleiches täte.

3. Das „Ungetrennt“ stünde dann für das Zueinandergewiesensein und das Aufeinanderangewiesensein beider Seiten. Denn der Menschen soll ja nicht nur Heil, sondern möglichst auch Heilung erfahren, nicht nur seelische Gesundheit, sondern auch Frieden mit Gott. So bliebe der Therapeut sich selber treu, wenn er bei einer Schuldproblematik dem Seelsorger das Feld überließe. Allerdings kommt im christologischen Paradox das Götliche und Menschliche geheimnivoll in der Person Jesu Christi wirklich zusammen. Ob das im Mit- und Nebeneinander von Seelsorge und Therapie auch gelingen kann? Die kritische Kooperation ist auch schon viel.

4. Rolf Sons demonstriert das Verhältnis beider an der sogenannten „Zwei -Reiche-Lehre“ Martin Luthers, mit der die Reformation das Verhältnis von Staat und Kirche zu klären versuchte. Luther ging es nicht um ein Gegeneinander beider Seiten, nicht einmal um ein Nebeneinander. „In Luthers Lehre von den zwei Reichen geht es weder um eine absolute Trennung der beiden, noch um eine mögliche Vermischung, sondern um eine komplementäre Einheit der Herrschaft Gottes in Schöpfung und Erlösung“ (Heinz-Horst Schrey bei Sons, Seelsorge, Stuttgart 1995, S.181). Grundkurs Seels., Seite 38/5

5. Gott wendet sich seiner Schöpfung zu als Erhalter und Erlöser. Zwei Aspekte der einen Wirklichkeit. „Die Seelsorge als einer Lebensäußerung der Kirche wäre in dieser Perspektive dem ‚geistlichen Regiment’, die Psychotherapie als einem säkularen Dienst am Menschen dem ‚weltlichen Regiment“ zuzuordnen“ (Sons, S.182). So blieben Seelsorge und Psychotherapie auch in diesem Konzept unterschieden, aber nicht getrennt. „In der Seelsorge findet Gottes ‚eigentliches’ Werk durch den Zuspruch des Evangeliums statt. In der Psychotherapie wirkt Gott auf ‚uneigentliche’ Weise nach der Weise des Gesetzes“ (Sons, S.186), was die Therapie nicht abwerten soll, sondern lediglich ihren innerweltlichen Dienstbereich beschreibt.

6. Das Mühen um theologischen Paradigmen zeigt die Spannung und zugleich die unverzichtbare Kooperation beider Seiten in einer Gesellschaft mit vielen seelisch Gestörten und Erkrankten. Die Spannung, die unterschiedlichen Menschenbilder werden nicht aufgehoben und können auch nicht kurzgeschlossen werden. Aber in der Bescheidenheit, dass niemand die ganze Wahrheit alleine hat, können beide Seiten einander sehr helfen, von einander lernen und gemeinsam dem Menschen besser dienen. Denn um den muß es gehen. Wie gut ihm geholfen wird, bleibt entscheidendes Kriterium für beide Seiten.

5.3.3. Das Apostolikum als Hilfe in der Begegnung mit psychotherapeutischen Konzepten

1. In der Begegnung mit therapeutischen Konzepten und beim Versuch, sie zu sichten, hilft mir gelegentlich das Apostolikum als Entscheidungshilfe. Im 1. Artikel von der Schöpfung bekennen wir den „Schöpfer des Himmels und der Erde“. Darin eingeschlossen ist der Schöpferauftrag an den Menschen, sich die Erde untertan zu machen, sie zu beherrschen. Dieser Auftrag gilt nicht nur dem Volk Gottes, sondern allen Menschen und schließt auch alle Forschung im Medizinischen und Psychologischen ein.

2. Darum sind ihre Ergebnisse zunächst zu begrüßen als Ausdruck dieses Auftrags. Sie sind nicht von vornherein schlecht. Sie sind aber auch nicht von vornherein gut. Denn alles Schaffen des Menschen nach dem „Sündenfall“ ist doppelgesichtig. Hat Antlitz und Fratze, sein Gutes, sein Sündiges. In jedem Fall ist es aber zunächst anzunehmen und zu beschauen als etwas, das mich auch auf Gottes Spur zu führen vermag. Jede Vorabverurteilung entspricht m.E. nicht dem Willen Gottes. Darum begegnen wir auch den Forschungsergebnissen der Humanwissenschaft in fragender Offenheit. Grundkurs Seels., Seite 39/6

3. Ich muß aber einen zweiten Schritt machen, der mich in den zweiten Artikel von der Schuld und Erlösung führt. Konkret: Ich muß die Systeme und Konzepte unter das Kreuz Christi zitieren, unabhängig davon, ob sie das mögen. Ich muß sie befragen nach ihrem Menschenbild und den sich draus ergebenden Folgerungen. Gerade die Frage des Menschenbild ist für die Seelsorge entscheidend. „Sage mir, was für ein Menschenbild du hast, und ich sage dir, was für ein Seelsorger du bist“ (Thurneysen). Wobei wir vom Humanismus lernen können, dass der Sünder trotzdem ein wertvoller Mensch bleibt und nicht verächtlich wird. Dass er eine Menge Positives bewirken kann, auch wenn ihm das nicht das Heil verschafft.

4. Ich muß also die Systeme dem Taufwasser überantworten und schauen, was überlebt, was dem Glauben dienstbar gemacht werden und der Seelsorge helfen kann. Ich werde an einigen Stellen Widerspruch anmelden, an anderen differenzieren und vielleicht manche Schatz heben, der zwar nicht die Theologie gehoben hat, den sie aber dankbar übernimmt. Wir sollten nicht zu stolz sein, uns auch von „weltlicher“ Seite unterrichten zu lassen, schließlich ist diese Welt Gottes Welt.

5. Was ich nun wie von den geprüften Erkenntnissen übernehme, ist eine Frage, die ich dem Bereich des Heiligen Geistes zuordne, dem 3. Artikel also und der Verheißung Jesu, sein Geist werde uns in alle Wahrheit leiten Das ist der individuelle und kreative Prozess des Fragens und Probierens, der für jeden wieder anders aussehen mag. Denn was ich wie möglicherweise als Anregung und Erweiterung benutze, hängt auch von mir ab, von meiner Art und Geschichte und auch von meiner Theologie. Ich z.B. habe mir einiges abgelauscht bei der Gesprächspsychotherapie, bei der Transaktionsanalyse und der Gestalt- bzw. Integrativen Psychotherapie, weil mir da selber geholfen wurde und sich mir in meiner Arbeit als hilfreich erwiesen hat. Dass ich das, was ich tue, immer neu theologisch bedenke und vor Gott und der Gemeinde verantworte, erachte ich als Pflicht für einen Seelsorger.

5.4. Für das Wort „Alltagsseelsorge“

1. Weil es in diesem Vortrag vorrangig um die Begegnung mit der Psychotherapie ging, will ich abschließend daran erinnern, dass Seelsorge sich nicht von der Therapie fixieren lassen sollte. Die manchmal und problematischer Weise sogenannte „therapeutische“ Seelsorge ist auch ein Produkt unserer Zeit und nimmt ein typisches Phänomen auf, nicht aber alles. Vielleicht reden wir in zwanzig Jahren über anderes. Wenn Seelsorge den Menschen immer unter psychologischem Aspekt anschaut, muß sie aufpassen, dass sie sich nicht überanstrengt und die einfachen Dinge übersieht.

Grundkurs Seels., S. 39/7

2. „Alltagsseelsorge“ als ein neu entdecktes Wort meint eben die vielen unauffälligen, bunten Szenen und Details, aus denen sich ein Leben zusammen setzt: Das Gespräch über den Gartenzaun und zwischen Tür und Angel, das Vorbeischauen und die schlichte – und hoffentlich ehrlich gemeinte – Frage: Wie geht’s? Der Händedruck und die kleine Handreichung im Supermark und im Gemeindehaus, der freundliche Blick und das hingereichte Liederbuch. Eben jene Kleinigkeiten, von denen wir manchmal irrigerweise meinen, sie seien nicht der Rede wert. Aus denen sich aber das Mosaik eines Lebens zusammenfügt.

3. Ich möchte dieser Schlichtheit das Wort reden, der Art von Seelsorge, die allen möglich ist und allen wohl tut. Für die man vorher weder Rollenspiele noch Gesprächsübungen absolvieren muß, wo das warme Herz und ein gesunder Menschenverstand schon eine Menge einbringen und die Bitte um das wache Auge und das hörende Ohr häufig schon genügen. So sehr wir auch spezialisierte Seelsorger brauchen, soviel mehr brauchen wir die schlichten Männer und Frauen, die es immer wieder wagen, den andern anzusprechen und ihm ein Stück Wegbegleitung anbieten.

4. Menschen, die für Menschen und – wo gewünscht – auch mit ihnen beten, die nicht alles wissen müssen, sondern vielleicht nur zusagen können: Ich denk an dich, ich bete dafür - und es dann auch tun. Es gibt in manchen Gemeinden allergische Reaktionen auf alles, was in der Seelsorge nach Psychologie riecht – oft zu Unrecht und aus Bequemlichkeit. Aber es gibt auch bei vielen das gesunde Gespür dafür, dass der Weg zum Herzen des andern kurz sein kann, wenn man denn selber Herz hat - und zeigt. Und dieses Herz nahe bei Gott ist. Grundk.S., S 41/8

Literaturverzeichnis:

Jay E. Adams, Befreiende Seelsorge, Gießen 1972 Hans Asmussen, Die Seelsorge, München 1935 Rudolf Bohren, In der Tiefe der Zisterne, München 1990 Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, Gütersloh 1993 Howard Clinebell, Wachsen und Hoffen, Bd. 1-2, München 1982 Michael Dieterich, Psychologie contra Seelsorge, Stuttgart 1984 Hermann Eberhardt, Praktische Seelsorge-Theologie, Bielefeld 1990 H.Faber/E.van der Schoot, Praktikum des seelsorgerlichen Gesprächs, Göttingen 1974 Christian Möller (Hg), Geschichte der Seelsorge, Bd. 1-3, Göttingen 1994-96 Dorothea Rahm u.a., Einführung in die Integrative Therapie, Paderborn 1993 Werner Schütz, Seelsorge, Gütersloh, 1977 Rolf Sons, Seelsorge zwischen Bibel und Psychotherapie, Stuttgart 1995 Ian Stewart/Vann Joines, Die Transaktionsanalyse, Freiburg 1990 Helmut Tacke, Glaubenshilfe als Lebenshilfe, Neukirchen 1975 Reinhard u. Anne-Marie Tausch, Gesprächspsychotherapie, Göttingen 1990 Eduard Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge, 2. Aufl., Zürich 1957 d.o., Seelsorge im Vollzug, Zürich 1968 d.o., Rechtfertigung und Seelsorge, in: F.Wintzer (Hg), Seelsorge, München 1978 Hans Walter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments. Gütersloh 1973 Paul Tournier, Echtes und falsches Schuldgefühl, Stuttgart 1959 Hans Wulf, Wege zur Seelsorge, Neukirchen 1970 d.o., Pfarrer, wie lange noch?, Neukirchen 1971 Jürgen Ziemer, Seelsorgelehre, Göttingen 2000

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