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Sonntag, 24. März 2019 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jan Brachmann

Bezaubernde Hörreise Ibn Battuta Le voyageur de l’Islam Hespèrion XXI Jordi Savall Alia Vox AVSA 9930A/B

Hemmungslose Schönheit Sergei Bortkiewicz Complete Piano Music Klaas Trapman (Klavier) Piano Classics PCL10163/1-6

Sergei Bortkiewicz - Vergleichsaufnahmen: Russian Piano Music, volume 12 Sergei Bortkiewicz. Alfonso Soldano (Klavier) divine art dda25142

Sergei Bortkiewicz [Ausgewählte Klavierwerke], Nadejda Vlaeva (Klavier) Hyperion CDA68118

Bewunderungswürdig Heimweh Schubert-Lieder Anna Lucia Richter (Sopran) Matthias Schorn (Klarinette) Gerold Huber (Klavier) Pentatone PTC 5186722

Sanftmütige Eleganz Blank Page New Impressions of Debussy Florian Dohrmann (Kontrabass) Joachim Staudt (Alt-Saxofon) Christoph Neuhaus (Gitarre) Lars Binder (Schlagzeug) mochermusic MOM-0026

Signet SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs…. heute mit Jan Brachmann am Mikrofon: Seien Sie herzlich willkommen! Um Klaviermusik von geradezu hemmungsloser Schönheit soll es gleich gehen: nämlich um das Werk von Sergei Bortkiewicz, das der niederländische Klaas Trapman auf sechs CDs eingespielt hat. Wir wollen diese Einspielung vergleichen mit Interpretationen von Alfonso Soldano und Nadejda Vlaeva. Und eingestimmt vom nostalgischen Ton dieser spätromantischen Miniaturen wenden wir uns dem Heimweh zu. So ist das neue Album der Sopranistin Anna Lucia Richter betitelt. Darauf singt sie, begleitet vom Pianisten Gerold Huber und vom Klarinettisten Matthias 2

Schorn, Musik von Franz Schubert. Florian Dohrmann, der langjährige Kontrabassist des David Orlowsky Trios, meldet sich mit einer neuen Formation zurück: Blank Page heißt sein Jazz-Quartett, das sich mit Musik von Claude Debussy beschäftigt hat. Doch zunächst geht es nach Abu Dhabi, ins größte der sieben Vereinigten Arabischen Emirate, mitten hinein in die gleichnamige Hauptstadt, ins monumentale Hotel Emirates Palace mit seinem Blattgold-Prunk und der Maximalausdehnung von einem Kilometer Gebäudelänge. Dort gab am 20. November 2014 das Ensemble Hespèrion XXI unter der Leitung des Gambisten Jordi Savall ein großes Konzert, bei dem der arabische Sänger Ahmed Al Saabri ein Lob auf Allah, den allmächtigen Gott, anstimmte:

Bismillah ir-Rahman (Ibn Battuta, CD 1), Track 2 1’00

Diese Lobpreisung Allahs steht am Anfang einer großen Hörreise, zu der uns Jordi Savall und Hespèrion XXI in ihrem neuesten CD-Buch Ibn Battuta mitnehmen. Vor dreizehn Jahren begann Savall mit seinem eigenen Label Alia Vox, auf eine ganz eigene Publikationsform zu setzen: Zumeist zwei CDs wurden jeweils kombiniert mit einem dicken Buch voller Bilder, Textkommentare, theologischer und kulturgeschichtlicher Essays in mehreren Sprachen. Es geht darum, Musik nicht nur als klingendes Kunstwerk zu begreifen, sondern als Teil einer sozialen Praxis: in kultischen Zusammenhängen und im Austausch zwischen verschiedenen Völkern und Religionen. Städten wie Jerusalem, und Venedig, Personen wie Christoph Columbus, dem Heiligen Franz Xaver oder Erasmus von Rotterdam sind solche Hör- und Lesebücher schon gewidmet worden. Dieses Mal steht Ibn Battuta, der Reisende des Islam im Mittelpunkt. Er wurde 1304 im marokkanischen Tanger geboren, unternahm mit einundzwanzig Jahren eine Pilgerfahrt nach Mekka, im heutigen Saudi Arabien, reiste weiter an den Persischen Golf, gelangte durch den heutigen Iran ans Schwarze Meer, auf die Krim und nach Bulgarien. In einer weiteren Reise lernte er Ostafrika kennen. Nach einem neuerlichen Aufenthalt in Mekka kam er über Indien bis nach China. Nach seiner Rückkehr im Jahr 1355 veranlasste der damalige Sultan von Marokko, dass die Reiseeindrücke des Ibn Battuta aufgezeichnet würden. Ob er selbst sie aufschrieb oder ob er einen Schreiber hatte, was an ihnen wahr, was Erfindung sei, kann nicht mehr leicht entschieden werden. Dennoch gelten diese Reiseerinnerungen als eine der detailreichsten Beschreibungen der bekannten Welt im vierzehnten Jahrhundert. Das Konzert, das Jordi Savall, angereichert mit Lesungen aus Ibn Battutas Buch, in Abu Dhabi vor arabischem Publikum gab, fand euphorische Aufnahme. Die Hörer fühlten, dass ihrem Kulturkreis geistige Wertschätzung entgegengebracht wurde. Man merkt es beim Hören dieses Mitschnitts anhand der Reaktionen im Konzertsaal nach einem weiteren islamischen Gebet, Sallatu Allah, das wiederum von dem Einheimischen Ahmed Al Saabri gesungen wird:

Sallatu Allah (Ibn Battuta, CD 1) Track 16 4’07

„Könnte ich doch den Segen eines Besuches des Propheten bei Gott genießen”, schloss dieses Gebet, gesungenen von Ahmed Al Saabri, begleitet vom Ensemble Hespèrion XXI, vom arabischen Publikum in Abu Dhabi mit lautstarker Dankbarkeit aufgenommen. Ich war im Januar dieses Jahres selbst in Abu Dhabi und traf dort die aus Tunesien stammende Informatikern Fedia Khalfallah, die als Sängerin und Spielerin auf dem Oud, der arabischen Laute, selbst Konzerte gibt. Sie lebt seit zwölf Jahren in Abu Dhabi und hatte dieses Konzert von Jordi Savall erlebt. Auch sie war begeistert, weil sie hier auf genaue Kenntnis traditioneller arabischer Musik stieß. Und sie sagte mir, sie habe durch das Konzert immens dazugelernt, denn Savall habe sie durch die Programmierung auf die Verwandtschaft der arabischen mit der türkischen Musik aufmerksam gemacht. Einen Makam aus dem Osmanischen Reich, der die Schlacht von Pelekanon zwischen den Türken und den Byzantinern illustrieren soll, hören wir jetzt. Verwandtschaft zur bereits gehörten arabischen Musik sind im Tonsystem und in der Rhythmik durchaus zu bemerken. Es spielt das Ensemble Hespèrion XXI.

Der makam-i Hüseyni Sakil-i Aga Riza (Ibn Battuta CD 1) Track 22 3’10

Ein osmanischer Makam, also eine Gattung arabischer Poesie, zugleich eine Tonleiter oder ein Pilgerort, hier vom Ensemble Hespèrion XXI dem frühen vierzehnten Jahrhundert zugeordnet. Um zu 3 beurteilen, wie authentisch Jordi Savall und sein Ensemble in den einzelnen Fällen sind, müsste man schon Musikethnologe sein und auch Spezialist in diesen Gattungen sehr alter Musik. Aber im Urteil der Musikerin Fedia Khalfallah, die ich in Abu Dhabi traf, lag viel aufrichtige Bewunderung. Faszinierend sind auf jeden Fall die Opulenz der Instrumente sowie die Phantasie und die Spielfreude der Interpreten in dieser Hörreise rund um den islamischen Wanderer Ibn Battuta. Fakten und Erfindung gehen hier wohl eine ähnlich mitreißende Verbindung ein wie in den Schilderungen von Ibn Battuta selbst. Bei der Stampitta Isabella, einem spätgotischen Stampftanz aus Italien, dürften Pierre Hamon, Michael Grébil und Pedro Estevan wohl noch am nächsten an gesicherten philologischen Kenntnissen über die Musik dieser Zeit sein. Aber ihr Spiel lädt nicht zum Seminar; es stößt uns mitten ins Leben.

Isabelle (Stampitta), (Ibn Battuta CD 2), Track 18 4’13

Eine Stampitta, gespielt von Pierre Hamon, Michael Grébil und Pedro Estevan. Sie illustriert in diesem Hörbuch den kurzen Aufenthalt von Ibn Battuta auf Sardinien. Die Essays und Kommentare in diesem Buch führen in verschiedene Gattungen arabischer Literatur ein, schildern politische Ereignisse aus der Lebenszeit und den Reisegegenden Ibn Battutas und geben eine Einschätzung, wie vielfaltsfähig die theologische Auslegung des Islam zu dieser Zeit gewesen war. In einem der letzten Stücke auf dieser ebenso bezaubernden wie bildenden Reise finden Musiker aus drei Kulturkreisen, dem europäischen, dem arabischen und dem chinesischen zusammen: Lingling Yu an der chinesischen Laute Pipa und Xin Liu an der Zither Zheng spielen zusammen mit Yurdal Tokcan am Oud und Jordi Savall an der Gambe das Stück Glücklich die Straße entlang spazierend aus Südostchina.

Xing jie (Ibn Battuta CD 2) Track 22 3‘59

Glücklich die Straße entlang spazierend hörten wir eben Lingling Yu an der chinesischen Laute Pipa und Xin Liu an der Zither Zheng zusammen mit Yurdal Tokcan am arabischen Oud und Jordi Savall an einer westeuropäischen Gambe mit Musik aus Südostchina. Wenn Sie alle Stationen dieser Reise von Ibn Battuta absolvieren wollen, dann nehmen Sie sich viel Zeit zum Hören der beiden CDs und zum Lesen des zweiundfünfzig Seiten starken deutschen Teils im dicken Begleitbuch, erschienen bei Alia Vox im Vertrieb von Harmonia Mundi.

Sie hören Treffpunkt Klassik – neue CDs im Programm von SWR2, heute mit Jan Brachmann am Mikrofon. Unfreiwillig viel gereist ist der Komponist und Pianist Sergei Bortkiewicz, dem die totalitären Verwüstungen des zwanzigsten Jahrhunderts übel mitgespielt haben. Am 28. Februar 1877 kam er als Sohn polnischer Gutsbesitzer im ostukrainischen Artjomowka, nicht weit von Charkow zur Welt, studierte Klavier und Komposition in Sankt Petersburg und , unterrichtete dann am Klindworth- Scharwenka-Konservatorium in , bis er und seine Frau Elisabeth 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs als russische Staatsbürger aus dem Deutschen Reich ausgewiesen wurden. Sie kehrten auf das Gut Artjomowka zurück, überlebten dort den Krieg, waren aber ihrer Habe und ihres Lebens nicht mehr sicher, als nach der Oktoberrevolution 1917 die Bolschewiki mit allen Adligen kurzen Prozess machten. Das Ehepaar Bortkiewicz musste fliehen und erreichte 1919 die Krim, die noch nicht in kommunistischer Hand war. Ein knappes Jahr konnten die Eheleute bei Freunden verbringen. Und in einer Atempause entstand in Jalta dieses Nocturne op. 24 Nr. 1, benannt nach Diana, der scheuen Göttin der Jagd. Mit ihm eröffnet der niederländische Pianist Klaas Trapman seine sechs CDs umfassende Einspielung der Klavierwerke von Bortkiewicz beim Label Piano Classics. Und dieses Nocturne ist wirklich eines der erlesensten Stücke des Komponisten, weil es dessen Ästhetik geradezu idealtypisch erfasst: Die verschwenderische Nostalgie, die melodische Großzügigkeit werden durch einen harmonisch unsicheren Anfang, den übermäßigen Dreiklang ces-es-g gewissermaßen in den Konjunktiv gesetzt. Was wir hören und erleben, ist zu schön. Es kann gar nicht wahr sein. Klaas Trapman mit Diana, dem Nocturne op. 24 Nr. 1 von Sergei Bortkiewicz:

Sergei Bortkiewicz: Nocturne op. 24 Nr. 1 (Trapman, CD 1), Track 1 4’31

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Überhaupt nicht nächtlich, sondern taghell: das Nocturne Diana op. 24 Nr. 1 von Sergei Bortkiewicz, Auftakt zu einer sechs CDs umfassenden Einspielung, der Klavierwerke jenes Komponisten, die zwar Complete Piano Music heißt, aber längst nicht alle Klavierwerke von Bortkiewicz umfasst. Denn wie er 1918 das Opfer des kommunistischen Klassenhasses wurde, so ging während seines Exils in Österreich ein Teil seines Werkes verloren als Folge des nationalsozialistischen Rassenhasses. Bortkiewicz’ jüdischer Verleger Anton Benjamin war 1938 enteignet worden. Weite Teile des Spätwerks, die schon gestochen, aber nicht veröffentlicht worden waren, verschwanden und tauchten erst 2012 wieder auf. Da war aber die „Gesamteinspielung” von Klaas Trapman schon abgeschlossen. Sie entstand zwischen 2002 und 2006 und gelangt leider erst jetzt auf den Markt, sicher auch angespornt durch den Erfolg jüngerer Pianisten mit Musik von Bortkiewicz, wie etwa Nadejda Vlaeva, die vor drei Jahren das verschollene Spätwerk erstmals auf CD aufnehmen konnte. Bortkiewicz ist nur vier Jahre jünger als Sergej Rachmaninow und fünf Jahre jünger als Alexander Skrjabin. Von beiden hat er hörbar viel übernommen und zugleich die romantische Klaviertradition von Frédéric Chopin und fortgesetzt. 1940 schrieb Bortkiewicz den kurzen Zyklus Lyrica Nova op. 59, der einige Neuerungen der Kunst des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in die handliche Form der Hausmusik übertrug. Der Zyklus ist nicht virtuos, aber musikalisch fein gearbeitet, ähnlich wie die Lyrischen Stücke von Edvard Grieg. Die erste Miniatur, Con moto affettuoso, verbindet den grazilen Klaviersatz der Sonatine von Maurice Ravel sowie die von den Impressionisten besonders geschätzte Pentatonik mit russischem Melos im Mittelteil. Klaas Trapman spielt uns diese wehmütigen Erinnerungen in b- Moll, gerahmt von hellster Kirschblütenlyrik in Fis-Dur:

Sergei Bortkiewicz: Lyrica Nova op. 59 Nr. 1 (Trapman, CD 24), Track 24 2’42

Recht unruhig, nervös, fast getrieben von Angst vor der Idylle und vor der Wehmut klingt dieses Eingangsstück der Lyrica Nova op. 59 von Sergei Bortkiewicz in der eben gehörten Einspielung mit Klaas Trapman. Keinerlei Scheu vor dem Gefühl kennt die Bulgarin Nadejda Vlaeva bei diesem Stück. Sie gleitet mit Ruhe, scheinbar beiläufig in diese Musik, gönnt sich vor der Wiederkehr des Eingangsteils eine lange Fermate und setzt dann bezaubernd zart ein.

Sergei Bortkiewicz: Lyrica Nova op. 59 Nr. 1 (Vlaeva), Track 9 3’21

Nadejda Vlaeva, die wir eben mit dem ersten Stück der Lyrica Nova op. 59 von Sergej Bortkiewicz hörten, kennt die Verklemmungen der Sentimentalitätsvermeidung nicht, dafür hat sie die Gabe des sinnierenden Verweilens. In einer dritten Aufnahme dieses Stücks wollen wir den Italiener Alfonso Soldano hören, der selbst sogar eine Biographie über Bortkiewicz verfasst hat und ein hörbar guter Kenner von dessen Musik ist. Soldano bringt zur zarten Furchtlosigkeit von Vlaeva noch den Sinn für harmonisch entscheidende Mittelstimmen mit, dazu ein flexibles, ganz sinngerechtes Verständnis für Dehnungen und Raffungen des Zeitmaßes. Er phrasiert lebhafter, zielgerichteter und gibt der Melodik dadurch die Bewegtheit lebendiger Rede, die mit der Vortragsanweisung Con moto affetuoso gemeint sein dürfte. Zum dritten Mal also die Nummer eins der Lyrica Nova von Sergei Bortkiewicz, jetzt gespielt von Alfonso Soldano.

Sergei Bortkiewicz: Lyrica Nova op. 59 Nr. 1 (Soldano), Track 1 3’50

Alfonso Soldano spielte Con moto affetuoso, die Nummer eins der Lyrica nova op. 59 von Sergei Bortkiewicz. Wir bleiben bei diesem Zyklus und kehren zurück zu Klaas Trapman. Er spielt die dritte Nummer daraus, Andantino, recht rasch und den Neunachteltakt in geradezu strengem Ebenmaß. Auf dem alterierten Quartenakkord des ersten Volltaktes, mit dem Bortkiewicz delikat an die kühnsten Würfe Alexander Skrjabins (ziemlich deutlich an den ersten Satz von dessen vierter Klaviersonate) anschließt, gestattet sich Trapman keine Dehnung. Die Wiederholung des Eingangsgedankens in der Umspielung von Sechzehnteln nimmt er mit einer Eile, dass man die Überlagerung des Neunachtel- durch einen versteckten Sechsvierteltakt gar nicht hört.

Sergei Bortkiewicz: Lyrica Nova op. 59 Nr. 1 (Trapman, CD 4), Track 26 2’24 5

Anders als Klaas Trapman, den wir eben mit dem dritten Stück aus der Ljyrica Nova op. 59 von Sergei Bortkiewicz hörten, nimmt sich Alfonso Soldano mehr Zeit für das Auskosten der harmonischen Delikatessen und der modulatorischen Weichenstellungen in dieser Miniatur. Auch die metrischen Überlagerungen, in denen ein besonderer Zauber des Schwebens liegt, sind besser hörbar, gleichfalls die häufige Imitation des Soprans durch den Tenor. Hier Alfonso Soldano mit dem Andantino aus Lyrica Nova op. 59 von Sergei Bortkiewicz:

Sergei Bortkiewicz: Lyrica Nova op. 59 Nr. 1 (Soldano), Track 24 2’42

Ein wenig aber ist Alfonso Soldano, den wir eben hörten, der Schwung verlorengegangen bei seiner Achtsamkeit für die Finessen von Harmonik, Metrik und Stimmführung in diesem Andantino aus Lyrica Nova op. 59 von Sergei Bortkiewicz. Klaas Trapman dachte in größeren Zusammenhängen. Offenbar haben wir es mit einem Grenzwertproblem pianistischer Gestaltung zu tun: Harmonisches Detail und großräumige Phrase stehen in Spannung zueinander. Am besten hat Nadejda Vlaeva diese Balance herstellen können. Sie überspielt kaum ein entscheidendes Detail, verliert aber auch den Schwung nicht. Hören wir auch sie noch einmal mit dem Andantino aus Lyrica Nova op. 59 von Sergei Bortkiewicz:

Sergei Bortkiewicz: Lyrica Nova op. 59 Nr. 1 (Vlaeva), Track 11 3’04

Das Andantino aus Lyrica Nova op. 59 von Sergei Bortkiewicz, gespielt von Nadejda Vlaeva. Wir könnten die komplette Sendezeit heute mit der Klaviermusik von Bortkiewicz zubringen. Die sechs CDs der Beinahe-Gesamtaufnahme durch Klaas Trapman enthalten lohnende Werke wie die Elegie Cis-Dur op. 46, die Préludes op. 33 und op. 40, die an die besten Werke des jungen Skrjabin anknüpfen, aber eine weitaus stärkere melodische Begabung verraten. Und es gibt zwei wunderbare Zyklen für Kinder, wovon Kindheit nach dem Roman von Lew Tolstoi, ebenso kunstvoll wie schlicht an das Kinderalbum von Tschaikowsky anschließt, mit dem es die Opuszahl 39 gemeinsam hat. Klaas Trapman ist ein Schüler des niederländischen Pianisten Hugo van Dalen, der zu den engsten und hilfreichsten Freunden von Sergei Bortkiewicz gehört hat. Niedergeschlagen hat sich eine gewisse Nonchalance des Spiels, ein geistreicher Konversationston, ein Understatement in Gefühlsfragen bei Trapman. Er liebt das virtuose Wagnis und die artikulatorische Pointierung. Am schönsten zeigt sich seine Begabung im dritten der Walzer op. 27 mit dem Titel La Viennoise – die Wienerin. Das Stück, in Cis-Dur, ist aberwitzig, wenn man – wie Trapman – den Pizzicato-Effekt, den gezupften Bass der linken Hand derart konsequent durchhalten will. Die Schlusssteigerung mit ihren vollen Akkorden reicht an den Schwierigkeitsgrad mancher Konzertetüden der russischen Tradition heran. Wien war der Endpunkt von Bortkiewicz’ Reise ins Exil, die ihn von Artjomowka über die Krim, das Schwarze Meer bis an den Sultanshof von Konstantinopel geführt hatte. Dieser Walzer, 1924, zwei Jahre nach dem Erreichen Wiens, führt Herkunftskultur und Ankunftskultur geradezu euphorisch zusammen, gewissermaßen als Synthese aus Alexander Skrjabin und Robert Stolz. Jetzt also La Viennoise op. 27 Nr. 3 von Sergei Bortkiewicz, gespielt von Klaas Trapman.

Sergei Bortkiewicz: Valse op. 27 Nr. 3 (Trapman, CD 4) Track 5 3’24

La Viennoise, der Walzer op. 27 Nr. 3 von Sergei Bortkiewicz, gespielt von Klaas Trapman, zu hören auf der vierten von sechs CDs mit Klaviermusik dieses Komponisten, erschienen bei Piano Classics.

Sie hören SWR2 Treffpunkt Klassik – neue CDs, heute mit Jan Brachmann am Mikrofon. Und wir bleiben in Wien: bei Franz Schubert. Heimweh, also ganz wie das Gefühl, das Bortkiewicz ein ganzes Leben lang begleitet hatte, heißt die CD der Sopranistin Anna Lucia Richter, auf der sie – begleitet von Gerold Huber am Klavier und Matthias Schorn an der Klarinette – ganz unterschiedliche Musik von Schubert festgehalten hat. Es sind einfache Strophenlieder dabei, durchkomponierte Balladen, eine Soloszene mit Koloraturarie und das einzige erhaltene Melodram Schuberts für Sprechstimme und Klavierbegleitung. Am Anfang steht das Nachtidyll An den Mond nach einem Gedicht von Johann 6

Wolfgang Goethe. Anna Lucia Richter und Gerold Huber nutzen die Form des einfachen Strophenliedes (das genaugenommen zwei Textstrophen zu je einer musikalischen Formeinheit zusammenfasst), um in jeder Strophe einen anderen Aspekt der musikalischen Gestaltung von Sprache herauszuarbeiten. Die ersten beiden Strophen zielen mit dem wundersam singenden Klavierbass der linken Hand und dem besonders strengen Legato des Singens auf die Stimmung von Milde, Linderung und Lösung seelischer Spannungen. Das zweite Strophenpaar malt mit kräftigen Konsonanten der Sängerin das Rauschen und Flüstern des Flusses. Im dritten Paar treten Grammatik und Prosodie hervor, wenn das Komma durch eine Zäsur gesetzt wird im Vers Selig, wer sich vor der Welt/Ohne Hass verschließt. Unmittelbar danach wird Sprache als erzählende Geste greifbar dadurch, dass Huber und Richter im Vers Einen Freund am Busen hält/Und mit ihm genießt auf dem Wort „hält” eben halten. Alles aber ist so fein und unaufdringlich, ganz und gar nicht demonstrativ gemacht, dass man es als völlig selbstverständlich empfindet. An den Mond, Goethe vertont von Schubert. Es singt Anna Lucia Richter, es spielt Gerold Huber am Klavier.

Franz Schubert: An den Mond, Track 1 3’17

Die ganze Vielfalt dessen, was Sprache im Lied ausmacht – Versform, Stimmung, Lautmalerei, Grammatik, Prosodie und Erzählung – ist hier, in diesem Lied An den Mond von Franz Schubert durch die Sopranistin Anna Lucia Richter und den Pianisten Gerold Huber erfasst worden. Und zwar vorbildlich, dabei ohne didaktische Verklemmungen. Auf dieser wirklich bewunderungswürdigen CD stellt Anna Lucia Richter in Balladen wie Der Zwerg ihre Begabung unter Beweis, sich vokal als multiple Persönlichkeit darzustellen. Ein durch Rührseligkeit arg in Mitleidenschaft gezogenes Stück wie Schuberts Ave Maria klingt bei ihr und Huber leicht und geradlinig, ohne darüber kalt zu werden. Doch der Höhepunkt dieses Albums ist gewiss Der Hirt auf dem Felsen, formal eine romantische Szene und Arie für Sopran, Klavier und Klarinette, entstanden im Oktober 1828, nur einen Monat vor Schuberts Tod. Die Textzeilen In tiefem Gram verzehr ich mich, mir ist die Freude hin, auf Erden mir die Hoffnung wich, ich hier so einsam bin, dürfen wohl etwas von Schuberts eigener damaliger Verfasstheit wiedergeben, der damals schon schwerkrank war. Doch nur einen Tag vor seinem Tod soll er trotzig ausgerufen haben „Verdiene ich denn keinen Platz über der Erde?”. Und so endet Der Hirt auf dem Felsen auch mit der Zuversicht, dass der Frühling kommen werde. Anna Lucia Richter zeigt hier alles, was sie kann: Vom samtenen Lyrismus des Anfangs, dem weichen An- und Abschwellenlassen der Stimme bis zur jubilierenden Koloratur, die nirgends in eisige Brillanz umschlägt. Dazu hat sie mit Gerold Huber einen achtsamen Pianisten an ihrer Seite, der Stimmungsumschläge in Sekundenbruchteilen herzustellen weiß, und mit Matthias Schorn einen Klarinettisten, der atemberaubend ansatzlos aus der Stille den Ton hervortreten und ihn dorthin wieder zurückkehren lassen kann, dass es mir gar nicht anders möglich ist, als ihnen dieses herrliche Stück in voller Länge von zwölf Minuten und sechsundzwanzig Sekunden vorzuspielen: Franz Schubert, Der Hirt auf dem Felsen mit Anna Lucia Richter (Sopran), Matthias Schorn (Klarinette) und Gerold Huber (Klavier).

Franz Schubert: Der Hirt auf dem Felsen, Track 15 12‘26

Franz Schubert, Der Hirt auf dem Felsen mit Anna Lucia Richter (Sopran), Matthias Schorn (Klarinette) und Gerold Huber (Klavier), zu hören auf der CD Heimweh, erschienen beim Label Pentatone.

Sie hören SWR2 Treffpunkt Klassik – neue CDs, mit Jan Brachmann am Mikrofon. Zu guter Letzt etwas völlig anderes: Musik von Claude Debussy in modernen Jazz-Arrangements. Das Quartett Blank Page beschert uns New Impressions of Debussy, erschienen bei mochermusic. Florian Dohrmann – viele Jahre Kontrabassist des David Orlowsky Trios, das sich gerade vom Publikum verabschiedet – hat die zauberhafte Klavierminiatur La fille aux cheveux de lin (Das Mädchen mit den flachsblonden Haaren) aus dem ersten Band der Préludes bearbeitet und mit sanftmütiger Eleganz den Jazz, der in seiner Harmonik Debussy unendlich viel zu verdanken hat, auf dessen Quelle zurückbezogen. Träumerische Musik in stets neuen Paarungen innerhalb der Quartett-Konstellation ist 7 dabei entstanden. Und das Neue dieser Impressionen will das Ohr eher streicheln als erschrecken. Es spielen Florian Dohrmann (Kontrabass), Joachim Staudt (Alt-Saxofon), Christoph Neuhaus (Gitarre) und Lars Binder (Schlagzeug).

Blank Page: La fille aux cheveux de lin Track 8 6’01

Das Mädchen mit den flachsblonden Haaren, Musik von Claude Debussy, für das Blank Page Quartett arrangiert von Florian Dohrmann, hörten wir eben und vielleicht sogar einen menschenfreundlichen Sommerwind, der durch diese flachsblonden Haare fuhr. Damit ging Treffpunkt Klassik – neue CDs in SWR2 für heute zu Ende. Sie können das Manuskript der Sendung wie immer im Internet auf unserer Homepage SWR2.de nachlesen und alles noch eine Woche lang nachhören. Bevor hier gleich die Programmtipps folgen, verabschiedet sich am Mikrofon, mit Dank fürs Zuhören, Jan Brachmann.