1

Nachspiel 18.06.2006 Redakteur: Johannes Ostermann Autorin: Kai Adler

„Kicken im Heiligen Land – Fußball in Israel“

Israelische Nationalhymne unter Text in mexikanisches Lied hineingeblendet

Zum ersten und bislang einzigen Mal war Israel 1970 bei der Weltmeisterschaft in Mexiko mit dabei. Zwar schieden „Die Heiligen Elf“ – so der Spitzname des israelischen Teams - nach einer Niederlage gegen Uruguay bereits in der Vorrunde aus, doch zuvor hatte Israel zwei Unentschieden erzielt: ein 0:0 gegen Italien und ein 1:1 gegen Schweden. Das Tor gegen die Skandinavier blieb der bislang einzige WM-Treffer der Nivcheret, der israelischen Elf. Mordechai Spiegler, Torschütze von Mexiko, ist in Israel bis heute ein Held – und das nicht nur unter Vertretern seiner eigenen Generation.

O-Ton 1 (Mottale Spiegler) Nun, es war ein windiger Tag und ich hatte Glück, dass der Wind in die richtige Richtung wehte. Und so schoss ich mit meinem linken Fuß, genauso, wie ich es schon immer gelernt hatte. Und Gott und der Wind halfen mir dabei, den Ball ins Ziel zu bringen.

Atmo Strandpromenade

Auch in der israelischen Küstenstadt Netanjah weht heute ein sommerlicher Wind. Mordechai Spiegler, Mottale, wie er von allen hier genannt wird, sitzt in einem Café an der Strandpromenade vor einem Cappuccino. Insgesamt 32 Tore in 82 Länderspielen hat Mottale zu seinen Fußballerzeiten geschossen, bis heute ist er Israels Rekordtorschütze. Doch wirklich berühmt machte ihn jener Moment, als er 1970 in Toluca mit seinem Fuß den Ball unhaltbar in die linke obere Ecke des schwedischen Tors beförderte. mexikanische Musik

2

Die Bilder von damals zeigen ihn kurz nach dem Schuss: Das charakteristische, massive Kinn ist leicht nach rechts geschoben, ein Ausdruck ungläubigen Staunens liegt auf seinem Gesicht. Heute umspielt ein Lächeln die Mundwinkel.

O-Ton 2 (Mottale) Bist du wirklich den ganzen weiten Weg aus Deutschland gekommen, um mich danach zu fragen? (lacht) Wenn du nach Hause zurückkehrst, sag doch bitte, dass ich ein breites Lächeln auf meinem Gesicht hatte, als du mich auf Mexiko ansprachst. Nein wirklich, es beschämt mich ein wenig, noch immer darüber zu sprechen. Seither hat Israel keinen einzigen WM-Treffer mehr geschossen und ich muss somit noch immer meine Geschichte von einst erzählen! Ich wünschte, ich könnte über die Gegenwart sprechen, über Spieler wie Benayoun und so weiter und über deren Treffer.

Yossi Benayoun gilt als einer der wichtigsten Spieler der aktuellen israelischen Nationalmannschaft. Bereits als junger Fußballer hatte Benayoun die Nachwuchs- Scouts aus Europa begeistert, er zählt bis heute neben Spielern wie Avi Nimni und Idan Tal zu den Ideengebern und Fädenziehern auf dem Rasen. Sie spielten bereits in der Saison 1999/2000, als Richard Möller-Nielsen die Mannschaft trainierte. Unter dem Dänen hatte sich die israelische Nivcheret bereits an die europäische Fußballspitze herangetastet und gut verkauft, als sie bei der EM-Qualifikation zuhause Spanien in Schach hielt und Österreich sogar mit 5:0 besiegte. 2003 übernahm der Israeli Avraham Grant das Ruder und führte die Heilige Elf zur WM-Qualifikation.

Atmo Trillerpfeifen + Kick

O-Ton 3 (Grant) Wenn du vor den Spielen mit Leuten gesprochen hättest und ihnen gesagt hättest, was wir schaffen werden – es hätte uns niemand geglaubt. Die Erwartungen lagen weit unter dem, was wir dann tatsächlich erreicht haben. / Wir hatten viele Schwächen: mentale, körperliche, technische, aber wir hatten beschlossen, etwas Gutes aus der Situation herauszuholen. / Mit Frankreich, mit der Schweiz, mit Irland ein Unentschieden zu spielen! Das ist eine gute Entwicklung in so kurzer Zeit. / Wir sind stolz darauf.

Nicht nur für Grant, der unter anderem an der Sporthochschule Duisburg gelernt hat, wäre eine WM-Teilnahme in Deutschland von großer Bedeutung gewesen.

Atmo Strandpromenade

3

O-Ton 4 (Mottale Spiegler) Es war noch kein wirkliches Thema hierzulande, weil wir so beschäftigt waren mit der Frage, ob wir uns würden qualifizieren können. Doch, auch wenn darüber noch nicht öffentlich diskutiert wurde, irgendwo stand die Frage schon im Raum: Was würde es bedeuten, wenn Israel ausgerechnet in Deutschland mit dabei wäre? Ich selbst habe darüber nachgedacht und war schon drauf und dran, meinen Freund, den Kaiser, anzurufen und zu sagen: Wir kommen! Er, Kaiser Beckenbauer, hat so viel für den internationalen Fußball getan und ich kenne ihn sehr gut, ich wäre stolz gewesen, mit dabei zu sein. Es wäre doch toll, wenn Israel in einer Gruppe mit Deutschland gewesen wäre! Wenn man Träume hat – und ich habe Träume – dann ist dies einer davon.

Atmo weg

Eine Menge Pech war auch im Spiel und hatte mit dafür gesorgt, dass die israelische Mannschaft am Ende ausscheiden musste. Nur wenige Monate nach der verpatzten WM-Chance trat Nationalcoach Avraham Grant von seinem Amt zurück. Dennoch sieht er schon jetzt eine realistische Möglichkeit, dass Israel beim nächsten Mal, 2010, in Südafrika mit dabei sein wird.

Atmo Trillerpfiff + Kick

O-Ton 5 (Grant) Ich denke, wenn wir uns so weiter entwickeln, werden wir ein sehr gutes Team werden. Schon jetzt sind wir besser als manch anderes Team, das noch vor den Spielen besser als unseres aussah. Wir haben gelernt, mit unseren Problemen umzugehen. Ich denke, es ist hier nicht wie zum Beispiel in Deutschland: In Deutschland gibt es unzählige Spieler. In jeder Position kann man aus einem Pool von guten Spielern auswählen. In Israel kann es sein, dass man für eine bestimmte Position noch nicht mal einen Spieler zur Verfügung hat. Dann muss man sich erst einmal Spieler für die Position aufbauen. Und ich denke, darin haben wir einen fantastischen Job geleistet.

Musik Corinne Allal (hebräischer Pop) „Winziges Land“

Nicht einmal sieben Millionen Einwohner zählt das winzige Land. Als Markenzeichen des Fußballspiels made in Israel gelten die Lust am Angriffspiel und die Kreativität auf dem Rasen. Unter dem Dänen Möller-Nielsen, Grants Vorgänger, spielte man offensivorientiert und gewann damit auch viele Spiele. Doch die Schwäche im Mittelfeld und in der Abwehr kostete Erfolge. Anders als der Däne schwor Grant seine Mannschaft auf eine verstärkte Defensivtaktik ein, er setzte auf ein gut funktionierendes Spielerkollektiv und duldete 4 im Team keine Extrawürste. Eine neue Taktik – und eine gute, das jedenfalls meint auch Mordechai Spiegler.

O-Ton 6 (Mottale) Unser Geheimnis 1970 war, dass jeder Spieler wusste, wie er sein Talent in die gesamte Mannschaft einbringen konnte. Wir hatten einen wunderbaren Coach, Emanuel Schaffer, der an der Sporthochschule Köln studiert hatte und ein sehr guter Freund von Hennes Weisweiler war. Damals, vor 36 Jahren haben wir es geschafft. Seither aber hat jede neuen Kampagne eine Show von Stars präsentiert. Und ich frage mich dann immer wie „bekloppt“ (sagt das im O- Ton auf Deutsch) man sein muss, um nicht zu verstehen, dass man kein Mannschaftsspiel spielen kann, wenn jeder der Spieler nur zeigen will, wie toll er selbst ist. Das ist unser großer Fehler. Diesmal aber hat Coach Grant keine Starkampagne gestartet, sondern den Spielern beigebracht, sich ihrem Job und ihrer Nation verbunden zu fühlen. Und er hat gut mit den mittelprächtigen Spielern gearbeitet: Durchschnittliches Talent, ein großes Herz und kollektive Arbeit.

Dem größten Stern am israelischen Fußballerhimmel liegen Starallüren fern. Zwar ist der Wandel im großen Fußball - weg vom Teamgeist, hin zu einer Show der Stars und individueller Spielergrößen - ein globales Phänomen. Doch hat dies in Israel eine besondere Bedeutung, schließlich gelten Teamgeist und Kollektivgedanke hier nicht nur als sportliche Größen, sondern waren seit der Gründung Israels im Jahre 1948 zentral für den Aufbau des jungen Staates.

O-Ton 7 (Mottale) Diese wunderbare kollektive Atmosphäre in Israel gehört der Vergangenheit an, den 50ern, 60er, 70er Jahren. In den 90ern hat sich das verändert. Die Welt 2005, 2006 ist eine andere. Doch ich will jetzt keine Hörer damit langweilen, indem ich erzähle, wie schlecht die Welt heute geworden ist. Aber es ist nun einmal so: Wenn du heute einen Kibbuz besuchst, ist das nicht mehr dieselbe Art von Gemeinschaft wie 1949. Damals war er charakteristisch dafür, wie dieses Land erbaut wurde. Gemeinschaftlichkeit hat uns in so vielen Bereichen unseres Lebens hier geholfen. Und natürlich hat der Fußball auch mit dem alltäglichen Leben zu tun.

„Hatikva“ interpretiert von Giora Feidman

Die Anfänge des israelischen Fußballs reichen noch in die Zeit vor der Staatsgründung zurück - bis ins Jahr 1912. Im Gimnasia Herzlya, einer Schule in Jaffa, einer Art Vorort von Tel Aviv, kickten schon damals die ersten Teams. Nach 5

Ende des ersten Weltkrieges spielten jüdische, palästinensische und britische Mannschaften im damaligen Mandatsgebiet Palästina. 1928 wurde der Palästinensische Fußballbund gegründet und ein Jahr darauf in die FIFA aufgenommen. 1934 und ’38 nahm die Nationalmannschaft unter dem Namen Palästina Schrägstrich Eretz Israel an der Qualifikation zur Weltmeisterschaft teil. Beim ersten Länderspiel traf die Mannschaft auf Ägypten. Mit der Staatsgründung 1948 wurde auch die Israel Football Assosciation IFA ins Leben gerufen und in die FIFA aufgenommen. Das erste Spiel der jungen Nationalmannschaft fand im September ’48 statt – die Begegnung mit dem Team der USA ging 1:3 verloren. Seither hat der Fußball nicht nur innerhalb der israelischen Gesellschaft eine wichtige Rolle gespielt, auch die politische Lage lässt sich an manch einem Fußballereignis ablesen: Etwa 1956, als sich die Türkei, Sudan und Indonesien weigerten, gegen das Land zu spielen. Oder 1974, als Israel, bis dahin noch Mitglied des Asiatischen Fußballverbandes, ausgeschlossen wurde und die Ostblockstaaten die Aufnahme in die in die UEFA verweigerten. Erst seit 1994 ist Israel offizielles Mitglied der Europäischen Fußballverbandes. Doch so bedeutend der Fußball in Israel auch sein mag: Bei Gründung des jüdischen Staates war eine andere, längst nicht mehr populäre Sportart viel wichtiger - das Turnen. An der Spitze der zionistischen Sportbewegung von einst stand ausgerechnet ein ausgemachter Antisemit und Vorreiter der Nazibewegung:

O-Ton 8 (Moshe Zimmermann) Die zionistische Körperertüchtigung begann mit Turnvater Jahn, der ist der Prophet. Ohne das gewollt zu haben. Er wusste das nicht, er ist schon frühzeitig gestorben. Aber als die ersten jüdischen, beziehungsweise zionistischen Turnvereine entstanden sind, in Europa, in Deutschland, nahm man ganz offen Bezug auf Turnvater Jahn. Mit dem Hinweis darauf, genauso wie die Deutschen den Weg zum Nationalismus über das Turnen gefunden haben, so machen wir es eben auch jetzt, wenn wir unseren Nationalismus entstehen lassen wollen.

Moshe Zimmermann unterrichtet deutsche Geschichte an der Hebrew University von .

O-Ton 9 (Moshe Zimmermann) Man geht davon aus, dass eine enge Beziehung besteht, zwischen Sport oder „Körperertüchtigung“ und einer gesunden Nation. Und eine Nation, die erst am 6

Entstehen ist, wie die jüdische Nation, Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20ten Jahrhunderts, sucht nach Mitteln, das zu untermauern. Ein Mittel ist eben Sport, Turnen, Körperertüchtigung, all das, was mit dieser Körperkultur zu tun hat.

Atmo außen ruhig, ländlich

Zum Interview erscheint Zimmermann in Fußballkleidung. Er ist noch etwas verschwitzt, an den Schuhen hängt ein wenig Erde. Der Geschichtsdozent kommt direkt vom Fußballplatz, gerade noch hat er zusammen mit der Uni-Mannschaft gebolzt.

O-Ton 10 (Moshe Zimmermann) Klar spiele ich Fußball. Ich bin zwar 61 Jahre alt aber man toleriert mich noch immer auf dem Fußballfeld, da spiele ich mit.

Die Hebrew University, an der Zimmermann unterrichtet, liegt auf einer Anhöhe, von der aus sich weit über das Tal und auf Jerusalem blicken lässt. Das Campusgebäude jedoch ist durch mehrere Hochsicherheitsanlagen geschützt – auch hier hat es in der Vergangenheit bereits Terroranschläge gegeben.

Atmo Schritte, Gänge

In dem verwinkelten Gebäude hat Moshe Zimmermann sein Arbeitszimmer. Bücher zur deutschen Gegenwart und Vergangenheit stehen in den Regalen. Seine Eltern waren vor den Nazis aus Hamburg in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina geflüchtet, Moshe Zimmermann selbst wurde noch vor Staatsgründung Israels in Jerusalem geboren. Während seines Studiums jedoch kehrte er in die Heimatstadt seiner Eltern zurück und ist bis heute einem Relikt aus damaliger Zeit treu geblieben: Zimmermann ist HSV-Fan.

O-Ton 11 (Zimmermann) Das habe ich von meinem Vater geerbt. Mein Vater, der ein Hamburger war, bevor er auswandern musste, interessierte sich auch für Fußball und seine Mannschaft war damals der HSV. Der HSV spielte am Rothenbaum. Das war die Gegend, wo sowieso die meisten Hamburger Juden gelebt haben und da war die Verbindung eine ganz natürliche. Und als ich nach Hamburg kam, um meine Doktorarbeit zu schreiben, im Jahr 72, da hab ich mich an diese Tradition angeschlossen. Und seitdem bin ich HSV-Fan. Und in diesem Jahr fühlt man sich endlich mal wieder belohnt dafür, dass man HSV-Fan ist. 7

Atmo Falafelbude an der Straße

Kaum ein Falafelshop, kaum ein Lebensmittelgeschäft in Israel, das nicht mit einem Fernseher ausgestattet wäre, in dem zu fast jeder Tageszeit ein Sportereignis, übertragen wird - zumeist ein Fußballspiel. In der vergangenen Fußballsaison waren erstmals auch wöchentliche Zusammenfassungen und Live-Übertragungen von Bundesligaspielen zu sehen. Nur aus Spanien, von der italienischen Siera A sowie der englischen bekommen die israelischen Fans wöchentlich größere TV- Portionen angeboten. So kennt wohl jeder israelische Kicker Namen wie Kahn, Ballack, Bayern München oder Schalke 04 – Favorit der meisten hier dürften jedoch andere Ligen sein. Für seine Ästhetik jedenfalls ist der deutsche Fußball in Israel nicht gerade bekannt.

O-Ton 12 (Fan) Die Deutschen spielen immer Pass für Pass, sehr langsam, vom Anfang bis zum Ende. Ich denke, Beckenbauer zum Beispiel ist ein sehr cleverer Spieler. / Aber sie spielen Fußball wie aus dem Buch, ein sehr schlauer Fußball, aber eben genau wie aus dem Buch. Und ich glaube, das ist nichts für die Mentalität der Israelis. Es sollte schon etwas Besonders sein, etwas mit mehr Herz./ Fußball hat sich verändert. / Ich glaube, israelische Spieler sind eher auf der Seite von Brasilien – oder zumindest möchten sie da sein. Ich denke nicht, dass jemand wie die Deutschen spielen möchte, nein, tut mir leid.

Es fehlt wohl auch der direkte Kontakt zur Bundesliga. Denn im Gegensatz zu den englischen und spanischen Ligen, bei denen auch Israelis mit dabei sind, hat es seit mehr als 20 Jahren keinen israelischen Spieler mehr in deutschen Teams gegeben. Der erste Israeli in einer deutschen Liga, Shmuel Rosenthal, spielte bei Mönchengladbach, ’85 dann kam David Pizanti, der beim 1. FC Köln unter Vertrag stand.

O-Ton 13 (Zimmermann) Vor allem ist das ein Sprachproblem. Also wenn man eine Sprache lernt, dann eben eine Sprache, die nützlich ist oder die mehr oder weniger bekannt ist. Israelische Fußballspieler können Englisch selbstverständlich besser benutzen als Deutsch. Und in Spanien hat man auch eine bestimmte Nähe, weil es einen jüdischen Dialekt, Ladino, gibt, der eigentlich spanisch ist. Deshalb gibt es mehr Interesse für Spanien und England.

8

Vor der Naziherrschaft hatte es viele wichtige jüdische Spieler und Fußballgrößen in Deutschland gegeben – etwa Kurt Landauer, Manager von Bayern München, der nach der Machtübernahme der Nazis in die Schweiz fliehen musste, oder Walther Bensemann, Gründer und Herausgeber der Fußballzeitschrift „Kicker“.

O-Ton 14 (Zimmermann) Es gab früher zwei Nationalspieler, Hirsch und Fuchs. Hirsch wurde ermordet in Auschwitz und Fuchs wanderte aus. Eine Tradition gibt es, aber da anzuschließen ist sehr schwierig. / Also da ist tatsächlich dazwischen doch die Schoah.

Atmo Strandpromenade

Auch Mordechai Spiegler stammt ursprünglich aus Europa – genauer, aus Polen. Seiner Familie gelang es, Auschwitz zu entkommen. Gegen Ende der Naziherrschaft, Spiegler war damals noch ein Kleinkind, flohen die Eltern vor den Nazis über Deutschland und Frankreich nach Israel, das sie ein Jahr nach der Staatsgründung erreichten.

O-Ton 15 (Mottale) Ich werde über 50 Jahre in die Vergangenheit zurück gehen. Damals war ich zehn Jahre alt, im Jahr 1954, und es fand gerade die WM in der Schweiz statt. Ich war damals ein Kind in Netanjah. Als ich hörte, dass Deutschland die Weltmeisterschaft gewonnen hatte und die Ungarn verloren hatten, weinte ich. Weil ich es als Kind von Holocaustüberlebenden nicht ertragen konnte, dass Deutschland gewann und Ungarn verlor. Nun, ich war 10. Zwanzig Jahre später saß ich in Saint Tropez, bei einem Freund. Und Deutschland gewann die WM – im Spiel gegen Holland. Und ich bin vor Freude in die Luft gesprungen. Weil dieses Mal meine Freunde: Günter Netzer, Beckenbauer, Berti Vogts mitspielten.

Das israelisch-deutsche Verhältnis und die Rolle der Vergangenheit für den Sport wurde erst im Herbst wieder heftig diskutiert. Als der bis dahin amtierende Coach Avraham Grant sein Handtuch warf, war auf einmal - neben anderen Bewerbern - auch ein Deutscher als zukünftiger Trainer der Nationalmannschaft mit im Gespräch: Klaus Topmöller. Ein Deutscher als Trainer einer Auswahl des jüdischen Staates – eine delikate Angelegenheit, befanden hierzulande viele. Im Zuge der Diskussion hatte Toppmöller sogar seine Großmutter als Grund für seine Eignung mit ins Spiel gebracht. Diese, so hatte er in den Medien erzählt, habe während des Holocaust Juden in ihrem Keller versteckt und sie so vor der Vernichtung gerettet. 9

Ganz anders jedoch verlief die Toppmöller-Diskussion in Israel.

O-Töne 16

Fan 1 Es ist ausschließlich ein Sport-Thema, kein diplomatisches. Nichts ist darüber geschrieben worden, nur auf den Sportseiten wurde berichtet. Und dies auch nur aus fachlicher Sicht. Das war alles. / Es gab einen israelischen Coach im deutschen Basketball-Team, vor 15 Jahren. Also, da gibt’s keinen Unterschied. Heute mag es sogar noch etwas leichter sein als vor 15 Jahren. Aber einen deutschen Coach zu haben wäre für uns dasselbe wie ein dänischer Trainer. / Nein, es ist kein Thema. Ich denke, Deutschland ist in Israel kein Thema.

Fan2 (frei:) “Sorry to disappoint you.” Es wäre ein größeres Thema, wenn ein arabischer Trainer im Gespräch wäre, sogar wenn es ein israelischer Araber wäre. Aber nicht, wegen eines deutschen Coach, Deutschland befindet sich schließlich nicht in einem Konflikt mit Israel.

Fan 1 Das große Problem in Israel sind eher die inneren Angelegenheiten. Das israelisch-arabische Problem. Manchmal kann man das im Stadion beobachten.

Atmo Fußballstadion

Auf dem Rasen von Tel Aviv spielt an diesem Tag der örtliche Verein Maccabi gegen Hapoel Beni Sakhnin. Sakhnin kommt aus dem Norden Israels, der Gegend um Nazareth, in der viele arabische Israelis, eingebürgerte Palästinenser, leben. Auch unter den Spielern von Sakhnin befinden sich palästinensische Israelis, darunter einer der Fußballhoffnungen des Landes: Abbas Suan. Der Nationalspieler ist Kapitän von Sakhnin.

O-Ton 17 (Abbas Suan) Es ist ein Problem, wenn ich mich als Israeli bezeichne, ausschließlich als Israeli. Wenn man mich nach meiner Identität fragt, sage ich: Ich bin Araber, Palästinenser, der in Israel lebt. Ich tue hier meine Pflicht, ich gebe mein Bestes für die israelische Nationalmannschaft. Aber ich vergesse auch nicht, dass ich ein palästinensischer Araber in Israel bin. Ich habe viele Fans, israelische Araber, hier in Israel. Ich kenne auch viele Juden, die mit uns befreundet sind. Wir müssen in Frieden zusammenleben.

Atmo Schnellrestaurant

10

Das Interview nach dem Spiel gibt Abbas Suan in einem arabischen Schnellrestaurant unweit des Stadions. Es ist die Zeit des Ramadan, und Suan hat als gläubiger Muslim seit Sonnenaufgang nicht mehr gegessen oder getrunken. Nach dem Spiel nun ist endlich Fastenbrechen. Hungrig beißt Abbas Suan in Kartoffel- und Hühnchenscheiben, während er geduldig die Fragen beantwortet. In der Vergangenheit ist er wegen seiner arabischen Herkunft immer wieder von nationalistischen Fans attackiert und auf dem Fußballfeld verhöhnt worden. Sogar bei der internationalen Begegnung Israels mit Kroatien hatten heimische Fans ihn, einen der besten Spieler des israelischen Nationalteams, mit Affenlauten beleidigt. Wie geht Abbas Suan damit um?

O-Ton 18 (Abbas Suan) Für mich sind diese Fans – nun, es gibt ein paar davon in Israel. Aber 95 Prozent der Menschen hier lieben mich. Ich reise viel und ich kann das spüren. Ich fühle die Wärme und die Sympathie dieser 95 Prozent. Über die 5 anderen Prozent möchte ich gar nicht erst sprechen. Es ist ein großes Problem für Israel, nicht für mich persönlich.

Neben dem Fußball wirbt Abbas Suan für die Lotterie sowie für eine amerikanische Fast-Food-Kette. Allerdings werden die Plakate mit dem Konterfei des Fußballers ausschließlich in Gebieten plakatiert, in denen viele arabische Israelis leben. Abbas Suan ist jemand, der um Ausgleich bemüht ist. Wenn er über derlei Dinge spricht, dann deshalb, weil er vermitteln möchte. Rassismus und Ausgrenzung hätten, so Suan, nichts mit Sport zu tun. Er selbst möchte sich von den Angriffen aus manch einer Zuschauerreihe auch nicht weiter beeindrucken lassen.

O-Ton 19 (Abbas Suan) Es ist ein großes Problem für die Fußballföderation, für die Spieler, für die jüdischen Spieler, die mit mir zusammen spielen. Sie fühlen sich unwohl, wenn solche Reaktionen kommen. Nach dem Spiel gegen Kroatien sind sie zu mir gekommen und haben mir gesagt, dass sie so etwas ablehnen, dass sie darauf reagieren wollen und so weiter. Nach diesem Vorfall habe ich in dem Spiel gegen Irland ein Tor geschossen und meine Mitspieler kamen zu mir und sagten: Du hast dich zu all den Beleidigungen zwar nicht im Radio geäußert, du hast dich nicht im Fernsehen zu Wort gemeldet, aber du hast es diesen Fans auf dem Rasen eine Antwort gegeben. Und das ist gut so.

Atmo Schnellrestaurant weg

11

Fußball und Politik lassen sich nicht nur in Israel kaum trennen. Hier jedoch hat beides in besonderer Weise miteinander zu tun. Moshe Zimmermann.

O-Ton 20 (Zimmermann) Der Fußball hatte in Israel oder in der zionistischen Gesellschaft eine enge Beziehung zur Politik. Die Fußballmannschaften gehörten zu drei Dachorganisationen, die von politischen Parteien organisiert wurden. Die Arbeiterbewegung hatte ihre Fußballmannschaften. Die hießen alle Hapoel. Das heißt der Arbeiter. Der Arbeiter in Tel Aviv, in Jerusalem, in und so weiter. Die Nationalisten haben ihre Mannschaften gehabt unter der Dachorganisation Beitar. Und die Liberalen oder bürgerlichen Parteien haben ihre Mannschaften gehabt, Maccabi.

Schon seit den Anfängen hatte es immer wieder Spannungen und handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen den Hapoel/Arbeiter-Mannschaften und den nationalistischen Beitar-Fans gegeben. Sportliche Begegnungen waren zugleich auch politische – und das gilt bis heute. Auch wenn die Dachorganisationen der Vereine längst privatisiert wurden.

Atmo Schnellrestaurant

Im Schnellrestaurant von Tel Aviv werden die Teller abgeräumt, die Hühnchenscheiben und der Salat sind aufgegessen. Ob das Interview nun beendet sei, erkundigt sich Abbas Suan. Er wolle heute Abend noch nach Jerusalem fahren, um morgen früh bei Sonnenaufgang in der Moschee zu beten. Es scheint, als sei ihm dies wichtiger als alles andere.

O-Ton 21 (Suan) Religion bedeutet alles für mich. Zuerst kommt die Religion, dann die Familie und danach der Fußball. Das ist mein Leben. Ich denke, dass ich ohne meine Religion kein guter Spieler sein könnte.

Und dann fügt er noch etwas hinzu, dass nun doch nicht allein den Fußball betrifft.

O-Ton 22 (Suan) Ich denke, wenn man sich dafür entscheidet, wirklich Frieden zu schließen, ist das möglich. Ich weiß nicht genau, wie, aber ich bin sicher, wenn man will, wird es gehen.

Atmo Jerusalem Muezzinrufe

12

Seit Jahren überschattet der Nahostkonflikt in Israel auch den Fußball. Als mit Beginn der zweiten Intifada Selbstmordattentäter ins Land gespült wurden, verhängte die UEFA aus Sicherheitsgründen ein Verbot internationaler Begegnungen. Von 2001 bis 2004 war die Heilige Elf das einzige Nationalteam ohne Heimspiele. Alle Begegnungen mussten andernorts ausgetragen werden – in Zypern, Rumänien oder Italien. Erst seit Sommer vergangenen Jahres darf im Heiligen Land wieder international gespielt werden. Viele heimische Fans und auch mancher Aktive hielten derlei Vorsichtsmaßnahmen für übertrieben, allerdings ist man die permanente Bedrohung in Israel gewohnt. Der Gedanke, dass israelische Sportler bei der Fußball-WM in Deutschland Ziel für Terrorattentate hätten sein können, weckt bei vielen Israelis Erinnerungen an die Ereignisse von 1972, die Olympischen Spiele von München.

O-Ton 23 (Mottale Spiegler) Fast wären wir auch mit der Fußballnationalmannschaft dabei gewesen. Doch Gott sei Dank – so kann man sagen – haben wir die Spiele in Rangung verloren. Ansonsten wären wir in München dabei gewesen und hätten mit dem Olympischen Team zusammengewohnt. Dieses Trauma, dass das auf deutschem Boden passierte, dort, wo man ein so wichtiger Teil der Europäischen Gemeinschaft ist. / Aber das kann mittlerweile überall auf der Welt passieren und ich hoffe nur, dass diese Bedrohung irgendwann einmal Vergangenheit sein wird und unser Kinder und Enkel nicht mit einer solchen Bedrohung aufwachsen müssen.

Musik für Absage

______

Verwendete Musik (GEMA) (Interpret, Titel CD / Titel verwendetes Stück, Komponist Länge, Plattenfirma, Labelcode, Länge)

1.) Alex Jacobowitz, „Tree of Life“/„Hatikva“, Imber Naphtali/ Herz, Schwarz Records, LC-Nr: 006670, (0’10) 2.) Rancho Grande, “The Sound of Folk Musik – Mexiko”/ “Alla En El”, Komp. Unbekannt, LC-Nr:06350 (0’17) 3.) Corinne Allal, „The Collection“ / Titel 6, Allal, NMC Music Ltd., LC-Nr:20281-2, (0’15)Giora Feidman, “The Soul Chai – Die Seele lebt” / “Hatikva”, Imber Naphtali/Herz, “Pläne”, LC-Nr:00972, (0’45)

13