Aus: Musik leben. Festgabe für Gunther Zimmerling zum 30. April 2012, zusammengestellt von Michael Kühne (vervielfältigte Fassung), S. 56-75

Die Kirchenkompositionen Reinhard Keisers (1674 – 1739)

Von Matthias Böhlert1

Einleitung

Reinhard Keiser, beherrschende Gestalt im Kulturbild des beginnenden 18. Jahrhunderts, Hauptkomponist der Hamburger Oper am Gänsemarkt von etwa 1696 bis 1718 (ca. 126 Opern) und berühmter Zeitgenosse von Bach, Händel und Telemann, ist in der Gegenwart nur Musikwissenschaftlern und einem kleinen Kreis von Musikliebhabern bekannt. Zu Lebzeiten mindestens ebenso gefeiert wie die drei genannten Meister und im Jahre 1773 noch sehr geschätzt (Scheibe nannte ihn das „vielleicht größte Originalgenie, das Deutschland jemals hervorgebracht hat“ und Hasse rühmte ihn als den größten Meister der Welt2), gerieten jedoch die meisten Werke nach seinem Tod in Vergessenheit. Während die Renaissance Bachs und Händels in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann und auch der in der Musikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts geringgeschätzte Telemann weitgehend rehabilitiert ist, halten Keisers Autographen und Drucke fast ausnahmslos einen ungestörten Dornröschenschlaf. Seine zentrale musikgeschichtliche Stellung und die Ausstrahlung auf das kompositorische Schaffen seiner Zeit sind bis heute nur ungenügend untersucht. Weiterhin wird er hauptsächlich im Spiegel seiner Zeitgenossen gesehen: Er findet als Opernkomponist Beachtung bei den Händelforschern, besonders im Zusammenhang mit Händels kurzer Hamburger Lebensperiode. Die Bachforschung würdigt Keisers Markus- Passion, die der Thomaskantor dreimal aufführte und deren Einfluss auf die Bachsche Matthäuspassion deutlich sichtbar ist. In der Beurteilung durch Musikschriftsteller und –wissenschaftler widerfuhr Keiser oft wenig Recht. Die künstlerische Führerstellung zu Lebzeiten wurde zwar

1 Diese Studie ist ein Teil der Examensarbeit zur kirchenmusikalischen A-Prüfung des Verfassers (Kirchenmusikschule Halle, 1984). Der letzte Absatz wurde aus heutiger Perspektive hinzugefügt. 2 Becker, Heinz: Artikel über R. Keiser in „Musik in Geschichte und Gegenwart“, Kassel, S. 797. 1 allgemein zugegeben, jedoch mit dem einschränkenden Hinweis auf die Oberflächlichkeit seiner Arbeitsweise und den unlauteren Lebenswandel. Schon Chrysander befestigte bestehende Vorurteile, wenn er Keiser kontrapunktische Fähigkeiten absprach, behauptete, seine „Sittlichkeit war gleich Null“ und das auch noch genau beschrieb mit den Worten, er sei „dem Luxus äußerst ergeben, brünstig verliebt, leichtsinnig und eitel gewesen“3. Die einzige Grundlage für diese Lebensbeschreibung bietet Mattheson4, dessen Überlieferung aber von Becker5 in Frage gestellt wird. Becker gesteht außerdem einem erfolgreichen Opernkomponisten weltmännisches Wesen zu. Trotz berechtigter Zweifel bleiben aber die Schriften Matthesons eine Fundgrube auch für die Keiserforschung6. Indem Becker auf die Stellung Keisers als Übergangsmeister und ersten Vertreter des „Stylus elegans“ hinweist, bezieht er auch Front gegenüber den sehr oft gefallenen Äußerungen zu den mangelhaften kontrapunktischen Leistungen des Komponisten und trägt zu einer Versachlichung der Auseinandersetzung bei.7 Wichtige Werkbesprechungen im Bereich der Kirchenmusik existieren in der älteren Literatur bei Winterfeld8, Reissmann9, Bittner10 und Schering11, Darstellungen grundsätzlicher Art geben der biographische Aufsatz von Voigt12 und die Dissertation über Keisers Kirchenkompositionen und weltliche Kantaten von Petzoldt13. In der Beurteilung als Kirchenkomponist ist Keiser bisher auf Grund des Vergleichs mit den Werken Bachs und Händels am schlechtesten weggekommen. Dass mit

3 a.a.O. S. 797. 4 Mattheson, Johann: „Grundlage einer Ehren-Pforte“, , 1740. (Abdruck anlässlich des 300. Geburtstages von R. Keiser im Händel-Jahrbuch 1974, Leipzig 1974. Seitenangaben in diesem Literaturverzeichnis beziehen sich im Folgenden immer auf diesen Neudruck.) 5 Becker, S. 797. 6 Neben der „Ehren-Pforte“ – siehe Anm. 3 – sind folgende Schriften Matthesons hier gemeint: a) „Das Neu-Eröffnete Orchestre ... m. beygefügten Anm. Herrn Capell-Meister Keisers“, Hamburg 1722 b) „Critica musica“, 1722. 7 Becker, S. 797. 8 Winterfeld, Carl v., Geschichte des evangelischen Kirchengesangs III, Leipzig 1847. 9 Reissmann, August, Allgemeine Geschichte der Musik, Bd. 3, Leipzig 1864. 10 Bitter, C. H., Beiträge zur Geschichte des Oratoriums, Berlin 1872. 11 Schering, Arnold, Geschichte des Oratoriums, Leipzig 1911. 12 Voigt, F. A., ‚R. Keiser‘ in „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft“ VI, 1890, S. 151 ff., Zusätze von F. Zelle, ebda. S. 588f. 13 Petzoldt, Richard, Die Kirchenkompositionen und weltlichen Kantaten Reinhard Keisers (1674 – 1739), Düsseldorf 1935. 2 Keiser der theatralische Stil erstmals (von der Oper) in die Kirchenmusik eindrang, gibt ihm aber auch hier eine wichtige historische Stellung.

Die vorliegende Arbeit möchte versuchen, Interesse für Keisers Kirchenkompositionen zu wecken. Ein Teil von ihnen besitzt den Wert, um innerhalb von Gottesdiensten und Kirchenmusiken aufgeführt zu werden. Die wenigen erhaltenen Instrumentalwerke eignen sich ebenfalls für eine solche Wiederbelebung. Außerdem sollen die Arbeit Petzoldts von 1935 und die neueren Erkenntnisse im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten zusammengefasst werden.

Biographischer Abriss

Reinhard Keiser wurde am 12. Januar 1674 in Teuchern bei Weißenfels getauft. Sein Vater, Gottfried Keiser (Lebensdaten unbekannt, gest. nach 1712), lebte seit 1671 als Organist in Teuchern. Nach Mattheson soll er „ein guter Componist“ gewesen sein14. Die Mutter war eine Tochter des verarmten Junkers von Etzdorff, Agnes Dorothee (get. 25. Oktober 1657, gest. 09. Dezember 1732). Zwischen 1674 und 1675 verließ der Vater die Familie mit unbekanntem Ziel. Vermutlich sah er seinen Sohn nicht wieder, so dass eine musikalische Unterweisung des Jungen durch Gottfried Keiser nicht angenommen werden kann. Eventuelle Lehrer könnten aber die in Teuchern wirkenden Kantoren Christian Schiefferdecker und Gottfried Weber gewesen sein. Ab 1685 war Keiser Thomasschüler in Leipzig unter . Neben diesem mag ihn auch beeinflusst haben, Anhaltspunkte gibt es dafür nicht. Wann Keisers Leipziger Aufenthalt endete, ist unbekannt. Auch sind der Zeitpunkt für die Anstellung am braunschweigischen Hof und der Anlass dafür bisher ungeklärt. Vermutlich war die Oper „Basilius“ sein Erstlingswerk, das zwischen 1692 und 1694 in Braunschweig herauskam. 1694 wurde er als Nachfolger Johann Sigmund Kussers zum „Cammer-Componisten“ ernannt und erhielt das Kapellmeisteramt.

Etwa 1695 trat Keiser in den Hamburger Wirkungskreis ein. Sehr schnell gelang ihm der Sprung in die vorderste Reihe der dramatischen Komponisten, er sicherte sich außerdem den Hauptteil der gespielten Opern. Jeweils vier Novitäten entstanden 1698 und 1699, 25 Opern wenigstens zwischen 1707 und 1718! Neben der Bühnen- tätigkeit wirkte er 1700 und 1701 als Kapellmeister der vom kaiserlichen Gesandten

14 Mattheson, S. 70. 3 von Eckgh ins Leben gerufenen Winterkonzerte, die zu den hervorstechendsten künstlerischen Ereignissen der Hansestadt gehörten und auf denen sich Keiser „mehr als ein Cavalier, denn als Musicus“ aufgeführt haben soll15. In diese Zeit fällt Händels Hamburger Aufenthalt. Dass sich Keiser durch das Werk Händels in seiner Vormachtstellung als Opernkomponist gefährdet gesehen haben soll, dass es zwischen beiden sogar zu Misshelligkeiten gekommen wäre, sind unbewiesene Vermutungen. Dagegen spricht sogar sehr eindeutig, dass Händel auf seine Italienfahrt eine Abschrift von Keisers „Octavia“ mitnahm, um daraus Gewinn zu ziehen. Vergeblich war Keisers Bemühen um diese Zeit, das Patronat einer fürstlichen Persönlichkeit zu erlangen sowie vom dänischen König in den Adelsstand erhoben zu werden. Am 03. Januar 1712 vermählte sich Keiser mit Barbara Oldenburg, der Tochter des Ratsmusikers Hieronymus Oldenburg, einer bekannten Sängerin. Es entstanden nun auch geistliche Werke, darunter 1713 die erste Vertonung der berühmten Passionsdichtung von B. H. Brockes. Besonders aus dieser Zeit ist die Freundschaft zu bezeugt. Mehrmals musizierten sie gemeinsam auf dem sogenannten „Niedern-Baum-Hause“, so beispielsweise 1716 „mit verschiedenen Chören und fremden Instrumenten“16. Vom Sommer 1719 bis November 1720 ist seine Anwesenheit in Stuttgart nachweisbar. Vergeblich leitete er eine Anzahl musikalischer Veranstaltungen, umsonst widmete er dem Herzog eigene Kompositionen: Die Bewerbung um die Stelle des Hofkapellmeisters scheiterte an der Vorliebe des Fürsten für italienische Musik und Musiker. Im August 1721 traf Keiser wieder in Hamburg ein und musste sehen, dass inzwischen Telemann dem Hamburger Musikleben den Stempel aufdrückte. Auf mehreren Reisen nach Kopenhagen versuchte Keiser, Verbindung mit dem dänischen Hof aufzunehmen. Er erreichte lediglich die Verleihung eines Kapellmeister-Titels. Die Fehlschläge in Stuttgart und Kopenhagen bewogen ihn wohl, sich wieder stärker dem Hamburger Musikleben anzuschließen: Es entstanden neue Opern. 1728 erfolgte die Berufung zum Canonicus minor und Cantor cathedralis am Hamburger Dom als Nachfolger Matthesons. Dieser letzte Einschnitt in seinem

15 a.a.O. S. 76. 16 a.a.O. S. 73. 4 Leben ist „das sichtbare Zeichen einer inneren Resignation des für die Oper Geborenen“17. Eine Fülle von Kirchenkompositionen entstand. In den letzten Lebensjahren zog sich Keiser aus der Öffentlichkeit zurück. Zeitweilig wohnte er bei seiner Tochter, einer bekannten Bühnensängerin, in Kopenhagen. Er starb am 12. September 1739 in Hamburg.

Reinhard Keisers Kirchenkompositionen 1. Passionen

„Keiser hat sich als erster deutscher Komponist der sogenannten ‚theatralischen Kirchenmusik‘ zugewandt.“18 Das neue Passionsoratorium löste sich vom „starren Festhalten am reinen Schriftwort“ und lockerte es durch „freie lyrische Einschübe“ auf19. Dadurch wurde der frühere gottesdienstliche Ort verlassen und überwiegend außergottesdienstliche Erbauungsmusik komponiert. Die Entwicklung vollzog sich schließlich bis zur Umdichtung der ganzen Leidensgeschichte. Christian Friedrich Hunold ging diesen Schritt als erster mit seiner 1704 für Keiser geschriebenen Passionsdichtung: „Der blutige und sterbende Jesus“. Um Hunolds radikale Neuerungen entbrannte ein heftiger Meinungsstreit, besonders hitzig von den orthodoxen Theologen geführt. Von diesen Vorgängen gewarnt, ging beispielsweise Brockes einen Weg des Kompromisses. Brockes entschied sich für folgende Synthese aus Altem und Neuem: Der Evangelist bleibt erhalten, aber er singt nicht das überlieferte Schriftwort, sondern eine gereimte Versdichtung. Auch Kirchenlieder werden bei Brockes integriert. Die berühmte, in der Öffentlichkeit mit Leidenschaft gelesene Dichtung „Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus“ diente zur Vorlage für die bekannten Vertonungen Händels und Telemanns. Aber auch Mattheson, Fasch, Stölzel und andere versuchten sich mit unterschiedlichem Erfolg daran. Bach nahm Teile des Werkes in die Johannes-Passion auf. Indes war es Keiser, der sich 1713 als erster an den Stoff des Hamburger Ratsherrn und Poeten Barthold Hinrich Brockes heranwagte. Die Dichtung hat mitunter stark opernhafte Züge. Obwohl sie sprachlich abstößt, z. T. durch geschmacklose Bilder und krasse Affekte unser Kopfschütteln hervorruft, war

17 Becker, S. 793. 18 Petzoldt, S. 10. 19 a.a.O. S. 10. 5 ihre Wirkung auf Musiker und Publikum wegen der Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit der Formen groß. Keiser soll an dieser Stelle selbst von Brockes‘ Verdiensten sprechen und uns durch seine Worte gleichzeitig deutlicher vor Augen treten: „Denn/ was auch immer ein Musicus für glückliche Gedancken haben mag/ so vermögen ihn doch schöne/ auserlesene/ klingende und reine Verse/ wie diese hier sind/ gantz unvermerkt zu animieren/ daß er sich gleichsam übersteigt/ und etwas ungemeines hervorbringt ...“20 Bei seiner Besprechung der Keiserschen Brockes-Passion führt Petzoldt recht umfangreiche Vergleiche mit den Werken von Telemann, Händel, Mattheson und Stölzel durch. Die vorliegende Arbeit möchte nur die wichtigsten Erkenntnisse des Autors zitieren, im Übrigen aber auf den entsprechenden Abschnitt in der Dissertation verweisen.21 Keisers Einleitungschor „Mich vom Stricke meiner Sünden zu entbinden“ beginnt nach wenigen Orchestertakten und ist sogleich „ein prächtiges Muster“ für die Chortechnik des Komponisten: Die Deutlichkeit des Textwortes wird erreicht „durch eine Art Deklamationsstil in der Themenbildung, der meist nur einen geringen Ton- umfang benutzt und größere Sprünge vermeidet.“22 Keisers Imitationen sind einfacher, alles ist kürzer als etwa bei Bach, er vermeidet schwierige polyphone Künste, denen er sich nicht gewachsen weiß (Notenbeispiel 1). Andererseits verwirklicht er so Forderungen des neuen Stils. Ein Vergleich mit Bach oder Händel ist eben nicht ohne weiteres möglich! Die nach kurzem Evangelistenrezitativ einsetzende Abendmahlsszene ist in der Anlage bei Keiser, Mattheson und Stölzel sehr ähnlich; Petzoldt vermutet „traditionelle Formeln“23. Die ersten Christusworte „Das ist mein Leib, kommt, nehmet, esset“ sind jeweils arios verarbeitet, bis an der Stelle „auf daß ihr meiner nicht vergesset“ eine rezitativische Wendung folgt. Interessant ist Petzoldts Vergleich von Händels und Keisers „Rezitativlinie“: Letztere sei „ungleich zackiger, barocker, bachischer“24 (Notenbeispiel 2). Leider behält Keiser die Streicherbegleitung der Christus-Worte nicht konsequent im ganzen Stück bei wie Bach, es scheint bloßes Abwechslungs-bedürfnis vorzuliegen.

20 a.a.O. S. 17. 21 a.a.O. S. 17ff. 22 a.a.O. S. 19. 23 a.a.O. S. 20f. 24 a.a.O. S. 21. 6 „Die zwischen beiden Abendmahlsszenen liegende Arie ‚Der Gott, den alle Himmelskreise...‘ ist bei Keiser in der für ihn so charakteristischen Form der nur vom Generalbass begleiteten, von volkstümlicher Melodik erfüllten Arie gehalten.“25 Der folgende Choral „Ach wie hungert mein Gemüte“ ist (im etwas unpassenden 6/4-Takt) einfach akkordisch gesetzt, die Instrumente gehen mit den Singstimmen (Notenbeispiel 3). Einen besonders schönen Beweis seiner Instrumentationskunst gibt Keiser ein paar Stücke weiter, nämlich in der nächsten Christus-Arie: Die Singstimme wird durch Flöte (oder Oboe), Laute und Violoncello pizzicato begleitet. In Keisers Volkschören treten folgende Merkmale häufig auf: Über respondierenden Rufen der verschiedenen Stimmgattungen rauscht eine erregte Sechszehntel-Figur der Streicher; die Orchesterbegleitung ist bewegt und selbständig. Die rhythmisch äußerst belebten Turbae-Stücke gehören zu den überzeugendsten Teilen der Keiserschen Brockes-Passion. Ähnlich starke Leistungen vollbringt der Komponist in den lyrischen Arien, vor allem in kleinen, liedmäßigen Formen, die nur von wenigen Instrumenten, häufig nur vom Cembalo begleitet werden. „Mit besonderer Liebe sind die betrachtenden Arien der ‚Tochter Zion‘ gearbeitet, die Keisers etwas einseitiger Neigung zum Anmutigen und Zarten am meisten entgegenkommen und für die er häufig mit feinem Empfinden den 6/8- oder 12/8-Takt wählt.“26 Die Basslinien in diesen Arien sind sorgfältig ausgefeilt (Notenbeispiel 4). Als weiteres Beispiel zu Keisers Brockes-Vertonung soll der Anfang eines Rezitativs gebracht werden; auch hier gehören die Rezitative wie meistens bei Keiser zu seinen besten Arbeiten. Eine wirkungsvolle Auflockerung gelingt ihm durch Tonmalerei (Notenbeispiel 5). Wenn Petzoldt27 die Urteile von Chrysander, Winterfeld, Bitter und Kretzschmar über das Werk bewertet und mit seiner eigenen Überzeugung vergleicht, ergibt sich die fast einmütige positive Beurteilung der Keiserschen Rezitative. Die Wirkung der Chöre wird von ihm entschieden günstiger beurteilt, als von allen anderen vor ihm. Im Einzelnen heißt es: „Gerade im ‚sinnlich packenden Effekt‘ (Bitter) der Keiserschen Chöre erblicke ich das noch heute mitreißende Element. ... Es soll nicht geleugnet werden, dass Keisers Chortechnik einfach, vielleicht zu einfach und einfältig ist, nie kann man aber übersehen, dass auch ihr

25 a.a.O. S. 21. 26 a.a.O. S. 26. 27 a.a.O. S. 27ff. 7 eine wohltuende Gleichheit des Stils eigen ist, und dass besonders die turbae in ihrer Art vollendete Leistungen darstellen.“28 Über die Choralbearbeitungen führt Petzoldt aus: „Keiser teilt anscheinend mit Mattheson die Meinung, dass der Choral nur ein notwendiges Übel zwecks Besänftigung der orthodoxen Geistlichkeit sei und nur eine ganz untergeordnete Rolle gegenüber dem rauschenden Glanz und der Mannigfaltigkeit der Figuralmusik spielen könne.“29

Die Markus-Passion ist bis heute das am meisten beachtete und bekannteste geistliche Werk Reinhard Keisers. Zahlreiche Aufführungen in der Gegenwart beweisen diese Tatsache ebenso wie es die Quellensituation des Werkes tut: Partitur und Stimmen stammen aus J. S. Bachs Nachlass. In die Partitur trug Bach eigenhändig den Text ein. Die Stimmen sind z.T. ganz von seiner Hand geschrieben. Ein Teil von ihnen muss schon in der Weimarer Zeit entstanden sein, der Rest in Leipzig; beide Male wurde das Stück aufgeführt. Den Vergleich der Stimmen mit der Partitur stellt als erster Petzoldt an und bemerkt dabei zahlreiche Differenzen. Er vermutet, dass Bach oder (in seinem Auftrag) einer seiner Schüler Teile des Werkes überarbeitete.30 Erst 40 Jahre später führt Glöckner die Untersuchung weiter31. Er kommt zu dem Schluss, dass Bach diese Passion wahrscheinlich 1713 und 1726 zur Aufführung brachte, wobei für das zweite Mal eine Teilung in „Vor“ und „Nach der Predigt“ entsprechend der Leipziger Gottesdienstordnung notwendig wurde. Erhebliche Divergenzen zwischen den Weimarer und Leipziger Stimmen (sie betreffen einzelne Choralsätze) begründet Glöckner so: „Melodiefassungen zu gleichen Textstrophen waren lokal häufig unterschiedlich, und Abweichungen gab es auch zwischen Weimar und Leipzig. Offensichtlich musste Bach den Austausch vornehmen, um die Choralsätze den in Leipzig üblichen Melodiefassungen anzugleichen“32. Notenbeispiel 6 gibt den Anfang des Chorals „O hilf Christe, Gottes Sohn“ wieder, und zwar in einem recht simplen Satz, wie er auch sonst für Keisers Choralbehandlung typisch ist. Die in der anderen Quelle vorliegende zweite Fassung (Notenbeispiel 7) könnte von Bach oder einem Schüler für die Wiederaufführung

28 a.a.O. S. 28f. 29 a.a.O. S. 25. 30 a.a.O. S. 30f. 31 Glöckner, Andreas, ‚Johann Sebastian Bachs Aufführungen zeitgenössischer Passionsmusiken‘, Bach- Jahrbuch 1977, Berlin 1978, S. 75ff. 32 a.a.O. S. 78f. 8 ausgesetzt worden sein. Auch die Bearbeitung einer anderen Melodie „So gehst du nun, mein Jesus, hin“ wird aus Bachs Umkreis stammen. Alle weiteren Abweichungen (sie treten zwischen den Stimmen und der Partitur auf) erfasst Glöckner in einer Übersicht am Ende seiner Abhandlung33. Er sucht nach Erklärungen und stellt folgende Hypothesen auf: 1. Reinhard Keiser schuf zwei Fassungen der Passion. 2. Er schuf nur eine Fassung; beide Abschriften (nämlich Partitur und Stimmen) sind unterschiedliche Bearbeitungen des verschollenen Originals. 3. Die Partitur ist mit Keisers Markus-Passion weitgehend identisch, die Stimmenkopien Bachs jedoch eine Überarbeitung.

Am wahrscheinlichsten findet Glöckner die dritte Hypothese. Petzoldt und er bemerken in den Stimmen für Keiser untypische Stilmerkmale: a) die Art der Bassführung sowie die für Bach typische Fassung der Choralmelodie in dem Choral „Wann ich einmal soll scheiden“ (Notenbeispiel 8), b) die Bassführung und der Formaufbau der Continuo-Arie „Will dich die Angst betreten“ (Notenbeispiel 9) und c) die Sinfonia mit ihrem chromatischen Fugenthema (Nr. 46 der Hänssler-Ausgabe).

Glöckner fasst zusammen: „Somit trifft für Bachs Abschrift ... zu, was anderwärts mehrfach zu beobachten bzw. nachzuweisen ist: Bachs Kopien zeitgenössischer Kompositionen sind nur in den seltensten Fällen notengetreue Wiedergaben der Vorlagen. In fast allen Abschriften lassen sich Zusätze und Verbesserungen von seiner Hand nachweisen.“34 In Bachs Besitz befand sich außerdem die Cembalo-Stimme eines -Pasticcios, bestehend aus Teilen der Markus-Passion von Keiser und der Händelschen Brockes- Passion. Ob Glöckners Ansicht, diese Stimme belege eine späte Aufführung Bachs (um 1747/48) 35, oder die vorsichtigere Einschätzung Baselts, jene könne auch nur zu Studienzwecken angefertigt worden sein, zutrifft, ist wohl nicht zu beweisen.36 Eindeutiger als die Art und Weise, wie Bach die Passion seines Kollegen bearbeitete, ist jedoch ihre Vorbildwirkung auf die Komposition seiner Matthäus-Passion.

33 a.a.O. S. 109ff. 34 a.a.O. S. 89. 35 a.a.O. S. 89ff. 36 Baselt, Bernd, ‚Händel und Bach: Zur Frage der Passionen‘ in „J. S. Bach und G. F. Händel – zwei führende musikalische Repräsentanten der Aufklärungsepoche“, Bericht über das wissenschaftliche Kolloquium der 24. Händelfestspiele der DDR, Halle 1976, S. 62. 9 Natürlich ist bei Keiser alles in kleinsten Ausmaßen, oft nur in Andeutungen vorgebildet. Insbesondere wirkten aber Keisers Rezitativstil und die Formulierung seiner Arien mit obligaten Instrumenten auf Bachs Passion ein. Manche Parallelen zwischen beiden Werken sind nicht zu übersehen.

2. Oratorien

„Seit dem er nun 1728. auf Weihnacht, nach mir, Canonicus minor und Cantor cathedralis geworden, hat er gleichfalls viele ausbündige Oratorien im Dom erschallen lassen...“37 Von Reinhard Keisers Oratorien ist nur ein einziges für die Nachwelt erhalten. Da es lange vor seiner Berufung als Kantor an den Hamburger Dom entstanden ist38, sind alle Werke, auf die sich Matthesons Zitat bezieht, für immer verloren gegangen. Johann Ulrich König ist wieder der Textdichter, und das Lexikon der Hamburgischen Schriftsteller gibt über den genauen Titel des Werkes Auskunft: „Die durch Großmuth und Glauben Triumphirende Unschuld, oder der Siegende David. Geistl. Sing-Gedicht. Musik von Keiser. Hamburg. J. U. Gennagel o. J. 2 Bogen und Hamburg. R. L. Stromer. o. J. 2 ½ Bogen.“39 In freier Dichtung behandelt der Text des „Siegenden David“ das bekannte alttestamentliche Geschehen. Als handelnde Personen treten David, Goliath, Saul und seine Söhne auf. Dazu kommen die Chöre der Israeliten und Philister. Betrachtende Allegoriefiguren (die „Gott liebende“, „andächtige“ und „gläubige Seele“) ziehen an geeigneten Stellen Vergleiche zwischen der Handlung des Alten Testaments und dem Leben Christi. Petzoldt zitiert als Beispiel den Text eines Rezitativs: „Hast du, mein Heiland, nicht auch so gesiegt, als dich in irrer Nacht die große Schar bekriegt? Sind deine Feinde nicht mit Spieß und Stangen auch dazumal nach dir bewaffnet ausgegangen? Warfst du mit unbewehrter Hand die ganze Schar nicht schimpflich in den Sand?...“40

37 Mattheson, S. 74. 38 Petzoldt, S. 32. 39 a.a.O. S. 33. 40 a.a.O. S. 33. 10 Die Handlung ist ohne Erzähler rein dramatisch geführt: Sie beginnt mit der Not der Israeliten in der Bedrängnis durch die Philister, beschreibt den Kampf Davids gegen Goliath und bricht ab, wenn Saul den Speer nach David geworfen hat, ohne ihn zu treffen. Die sechste Strophe des Liedes „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ beschließt das Werk. Diese Handlung und der barocke Bilderreichtum der Sprache Königs kommen dem Komponisten entgegen. Das Hauptgewicht der Musik fällt auf die zahlreichen Arien. Von den insgesamt 17 Arien sind 14 als da-capo-Arien gearbeitet. Die Charakterisierung der handelnden Personen ist leider schwach. Zum Teil liegt der Fehler in der Dichtung, andererseits lässt sich Keiser ein wichtiges Mittel der Abtönung entgehen. David singt ebenso wie Goliath Bass, der König Saul erhält eine Tenorpartie!

An dieser Stelle soll Keisers Bemühen um eine abwechslungsreiche Instrumentation gewürdigt werden. Selbstverständlich baut sich die Orchesterbesetzung auf dem Streicherfundament mit Generalbass auf. Öfters werden die Arien unisono begleitet, teils von sämtlichen Streichern, teils von Violinen und Oboen im Einklang. (Die Arien „Sind meiner Seele tiefe Wunden“ aus der Brockes-Passion enthält die Anweisung: „Violette unisone“.) Weniger Arien als in der Brockes-Passion werden im „Siegenden David“ mit Cembalo solo akkompagniert; es handelt sich um ein älteres Stilmittel, von dem sich Keiser im Laufe der Zeit löst (demnach muss der „David“ nach 1713 entstanden sein!). Andere auffällige Instrumentationen im David-Oratorium sind: - Solovioline, begleitet von vier Solo-Geigen und vier Oboen; - Querflöten-Solo, begleitet von „tutti li violini, violette e violoncelli piccicati, oboi con sordini“; - „2 chalumeaux, spinetto di campanelle e liuto unisoni“.41 Auch Keisers Opern kennen ungewöhnliche Kombinationen, die dem Komponisten ein beliebtes Mittel dramatischer Akzentuierung sind: - fünf Fagotte (in Octavia); - drei Chalumeaux (in Croesus); - fünf Flöten (in Orpheus). Oft erhalten die Instrumente keine eigenen Systeme, sondern sind in ihrer Disposition lediglich aus den beigefügten Überschriften erkennbar:

41 a.a.O. S. 37. 11 „Arie con tutti li stromenti; Aria con tutti li Unisoni; Aria con tutte le Violette; Aria con Flauti Violette all ottave bassa; Violette e Flauti dolce all’ottava alta usw.“42 Becker weist darauf hin, dass für Keiser die zumeist eigenständige Führung des Instrumental-Parts gegenüber den Singstimmen bemerkenswert ist, wodurch er sich deutlich von den Zeitgenossen abhebt.43 „Die Tutti-Besetzung für die Begleitung der Chöre ist gewöhnlich Oboen, Violinen, die Violoncelli mit den Fagotten, ‚violone grosse‘ und Cembalo. Bei den festlichen D- Dur-Chören treten dann noch 3 Trompeten und Pauke hinzu.“44

Zurück zum „Siegenden David“: Chöre, namentlich Doppelchöre der feindlichen Völker, kann man hauptsächlich im ersten Teil finden. Ebenso wie die Einzelpersonen sind die Völker nicht eindeutig charakterisiert, eigentliche Achtstimmigkeit ist nicht anzutreffen, die bekannte kurzrhythmische Deklamationsweise herrscht vor. Die Handlung liegt in den Secco-Rezitativen; diese gehören auch im „David“ zu den hervorragendsten Teilen (Notenbeispiel 10). Ein sehr schönes Siciliano-Thema der „andächtigen Seele“ (Tenor) und der Beginn des Chorals „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ ergänzen die Notenbeispiele zum besprochenen Werk (Beispiele 11 und 12).

3. Kleinere geistliche Stücke

„Wenn ein Stück geeignet ist, Keisers Artung als Kirchenkomponist eindeutig vor Augen zu führen, so ist es sein ‚Te Deum‘ in D-Dur.“45 Petzoldt bezeichnet es als ungewöhnlich einheitliches und reifes Werk und vermutet als Anlass seiner Entstehung die Feier eines Sieges oder Friedensschlusses. Diese Art der Komposition kam Keisers Temperament außerordentlich entgegen: „Schmetternde Trompetenfanfaren respondieren mit Violinpassagen, der Chor hält sich anfangs in den homophonen Dreiklangsmotiven der Trompeten, geht dann mehr und mehr aus sich heraus, einzelne Stimmen geraten in Bewegung, in Koloratur, während die

42 Becker, S. 798. 43 a.a.O. S. 798. 44 Petzoldt, S. 37. 45 Petzoldt, S. 37. 12 andern durch gleichmäßige Deklamation das Gleichgewicht des Satzes aufrecht erhalten.46 Eine „Missa brevis“ zeigt Keiser als Komponisten ernsterer Kirchenmusik. Die Instrumentation geschieht nach Bräuchen des 17. Jahrhunderts: Die zweite Violine geht mit dem Sopran, die erste verstärkt den Alt in der höheren Oktave. Die zwei „Sanctus“ sind stilistisch äußerst verschieden. Während das in G-Dur stehende in seiner festlichen Bewegtheit und mit selbständiger Orchesterbegleitung den Typ der durch das „Te deum“ charakterisierten Musik repräsentiert, gibt sich das B-Dur-Stück wesentlich einfacher und durchschnittlicher.

4. Kantaten 4.1. Von Petzoldt besprochene Kantaten

Eine Aufführung von besonders gelungenen Teilen der Markus- oder der Brockes- Passion ist sicher zu empfehlen (wenn man sich nicht sogar für eine ganzheitliche Wiedergabe beider Werke entschließt). Noch mehr bietet es sich aber an, eine der zahlreichen geistlichen Kantaten oder eines der kürzeren Stücke ans Licht zu ziehen.

Zum Begriff „Kantate“ schreibt Petzoldt: „Die Gattungsbezeichnung ‚Kantate‘ kann ... nur bedingt auf den Inhalt ... angewendet werden, denn Keiser bezeichnet sie selbst mitunter als ‚motetto‘. Stilistisch könnte man auch die Mehrzahl der Stücke dieser Gattung zusprechen, andererseits teilt sie die Verwendung des Rezitativs der Kantate zu. Eine scharfe Grenze lässt sich eben kaum ziehen, am besten bezeichnet man diese Stücke als ‚geistliche Konzerte‘.“47 Zu erwähnen ist zunächst die Erntedankfest-Kantate „Das Fest der Erndte“. Das von einem unbekannten Poeten stammende Werk zieht als allegorische Gestalten heran: die Andacht, die Glückseligkeit, die Hoffnung, die Dankbarkeit. Von der sehr einfachen Choralbehandlung abgesehen, hat das Stück bedeutendes Niveau. Ein schönes Motiv hält das Ganze rondoartig zusammen (Notenbeispiel 13), „die Arie ‚Ehret den Schöpfer‘ (Bass-Solo mit Flöten, Trompeten, Streichern und Generalbass) erinnert geradezu an Bach“48 (Notenbeispiel 14).

46 a.a.O. S. 38. 47 a.a.O. S. 40. 48 a.a.O. S. 40. 13 Die überwiegende Zahl der von Petzoldt besprochenen Kirchenkantaten befindet sich in zwei Sammelbänden (einem Autographenband und einer Abschriften- sammlung), die im Besitz der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ sind. Eine genaue Untersuchung dieser Vorlagen und Besprechung der einzelnen Werke wäre noch erforderlich, da sich Petzoldt ihnen nur summarisch zuwendet. Der Komponist ist in diesen Stücken bestrebt, eine äußere Abrundung und Einheitlichkeit dieser teils für den Chor, teils für Soli geschriebenen Stücke zu erreichen: Die neun Strophen des Liedes „Ich kann nicht mehr ertragen diesen Jammer“ werden in der gleichnamigen Kantate umschichtig auf die beiden Solostimmen Sopran und Bass unter gleichzeitigem Wechsel der Begleitung verteilt. Erst die letzte Strophe ist als Duo beider Stimmen mit sämtlichen Instrumenten gearbeitet. Andere Mittel der Vereinheitlichung sind die Schaffung eines Rahmens (indem Anfang und Ende einer Kantate ähnlich gestaltet werden) oder der Einsatz der Imitationspraxis. Die Sologesänge entsprechen den schon bekannten Typen. Die Melodik ist allerdings oft schlichter, gibt sich deklamatorisch. Tonmalereien (auf Worte wie „Blitz“ und „Rache“) und sinnfällige Chromatik sind ebenso erwähnenswert wie die z.T. wieder prachtvolle Rezitativgestaltung. „Musikalisch ganz unbedeutend“ nennt Petzoldt die „Brautmesse einer gläubigen Seele mit Christo“49.

4.2. Eine bisher nicht erfasste Kantate Keisers?

In der Sammlung der „Sächsischen Landesbibliothek Dresden“ befindet sich eine Handschrift aus dem 18. Jahrhundert, die Keiser zugeschrieben wird. Es handelt sich um die Weihnachtskantate „Gelobet seyst du, Jesu Christ“, die Signatur ist Mus. 2202-E-500. Das Titelblatt ist überschrieben mit „Gelobet seyst du“ und trägt oben rechts den Vermerk „Keiser“, geschrieben von derselben Hand. Das Material besteht aus einer Partitur (40 Seiten, wobei ein leeres Notenblatt an den Schluss des 1. Teils der Kantate geheftet ist, das die Zählung berücksichtigt) sowie 23 Seiten Stimmen für Vokalisten und Instrumente. Instrumentiert ist das Stück voll und prächtig mit drei Trompeten, Pauken zwei Oboen, Streichern und Generalbass, Chor (z. T. doppelchörig) und vier Solisten.

49 a.a.O. S. 40. 14 Besetzung und Stil haben Ähnlichkeit mit jenem Typ festlicher Kirchenmusik, wie sie Keiser auch in seinem Sanctus G-Dur komponiert.

Übersicht über Aufteilung und Inhalt des dreiteiligen Stückes: Erster Teil 1. Choral „Gelobet seyst du, Jesu Christ“ D-Dur, 3 Tr., Pauken, 2 (1. Strophe des Liedes, c.f. im Sopran) Ob. („col Canto“ bzw. „col Alto“), Streicher 2. Chor „Sey willkommen tausendmahl“ 1. Teil: V., Va., SB; 2. Teil: Tutti (Chor: doppelchörig) 3. Recitativ „So ist nunmehr das Heil der Welt“ SB 4. Aria vivace „Israel, freue dich“ 6/8, 2 Ob., 2 V., Va., S, „Fondamento“; zwischendurch Chor (doppelchörig bzw. getrennt unisono) 5. Recitativ „Erstarr, verfinsterte Natur“ B 6. Aria „Heller Glantz vons Vaters Licht“2 Ob., 2 V., B; 6/4, A-Dur („Choral repetat. ab initio. … Das ewge Licht“)

Zweiter Teil 7. (Arioso) „Wer kann dieses recht erwägen“ V. unisono, AT, „Fondamento“; Allabreve, h-Moll 8. Choral „Er kömt aus seines Vaters Schooß“ Tutti, Allabreve, D-Dur 9. Recitativ „O allerliebstes Kind“ A 10. Aria (con affetto) „Weicht, ihr Schätze dieser Erden“ Ob., A 11. Recitativ „Ist dis der Ort“ TSB Arioso „…die unsern Heiland schließet ein“ TS 12. Terzetto „Es klopft noch unsre volle Brust“ 3 Ob., 2 V., STB; 3/4, C-Dur, da capo 13. Recitativ „Ja, was noch mehr“ T

15 14. Chorus „Großer Gott“ 2 V., Va. „con Hautbois“, Chor 1 und 2 („Il fine della Parte 2.“)

Dritter Teil 15. (Choral) „In dulci jubilo“ (1. Strophe des Liedes) 3 Tr., Pauken, 2 Ob., 2 V., Va., SATB 16. Recitativ „Gott hat mein Fleisch an sich 2 V., Va., T genommen“ (Choral) „O Jesu parvule“ 3 „Bassons“, T; 6/4 17. (Recitativ) „Und will der Tod mir meine Augen 2 V., Va., A brechen“ 18. poco allegro „Was schadet mir der Tod“ V. unis., 2 Vc., A; 12/8, A-Dur, da capo („Choral ab initio repet. Ubi sunt gaudia“) 19. Chorus „O frohe Nacht” 2 V., Va., SATB; D-Dur, Allabreve 20. „Komme dann, erwehlte Seele“ Tr., Ob., V., TB; 3/4 21. Recitativ „So laßt uns denn des Herren STB Guth besingen“ 22. (Choral) „Lobt Gott, ihr Christen allzugleich“ Tutti „Heut schleußt er wieder auf die Tür“ (2 Strophen des Liedes) („Soli Deo Gloria“)50

Bereits aus dieser Aufstellung scheint mir ersichtlich zu werden, dass auch in dieser Kantate eine recht große Vielfalt der Instrumentation zu finden ist und dass auch andere Merkmale Keiserscher Kirchenmusik wieder auftreten. (Ich erinnere an das Typische „festlicher Kirchenmusik“, wie es Petzoldt feststellte!) Natürlich sind das noch keine Beweise für die Echtheit der Komposition, aber Anhaltspunkte, die mir deutlich auf Keiser hinzuweisen scheinen. Entsprechend einer Mitteilung der „Sächsischen Landesbibliothek“ an mich stammt das gesamte Aufführungsmaterial zu der Kantate „Gelobet seyst du“ aus der ehemaligen Fürstenschule zu Grimma/Sachsen und wurde mit deren gesamten Noten-bestand um 1965 in die „Sächsische Landesbibliothek“ übernommen. In dem

50 Von der „Sächsischen Landesbibliothek“ wurde mir freundlicherweise ein Mikrofilm zur Verfügung gestellt. Eingeklammerte Formbezeichnungen sind von mir ergänzt. Die Orthographie des Textes folgt der Vorlage. 16 an mich gerichteten Brief vermutet Frau Ortrun Landmann, dass diese Noten zu Lebzeiten Keisers geschrieben und auch benutzt worden sind.

Diese Kantate ist meines Wissens bisher nirgends erwähnt und beschrieben. Krummacher, der das Inventarfragment Grimma beschreibt, erwähnt sie mit keinem Wort. (Er sagt zu dieser Sammlung: „Die Sammlung Grimma ist die drittgrößte aller erhaltenen Sammlungen, in Mitteldeutschland die größte. Ihre Mss. haben als sorgfältige Gebrauchshss. (in Stimmen, selten in Partituren) besonderen Wert und sind reich an Daten, Angaben zu Aufführungen, Gattungen und de-tempore- Bestimmung. ... Um 1680 hörten die Einkäufe von Druckwerken auf. Gleichzeitig begann Jacobi mit der Sammlung seines Hss.-Repertoires. ... Entsprechend der bis 1721 reichenden Entstehungszeit enthält Sammlung Grimma schon einige madrigalische Kantaten. Ihre sehr kleine Zahl lässt aber auf eine bewußt konservative Haltung des Sammlers schließen.“51 Eine endgültige Identifizierung des Werkes müsste noch vorgenommen werden.

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Nachtrag nach 28 Jahren:

Inzwischen wurde das Aufführungsmaterial unter dem Titel „Reinhard Keiser: Dialogus von der Geburt Christi“ beim Carus Verlag gedruckt (CV 10.386). Auch auf CD ist das Werk seit einigen Jahren erhältlich. Zwei Pressestimmen zu diesen Veröffentlichungen: „Musica Sacra“ rezensierte im September/Oktober 2010: „Das lohnende Weihnachtsoratorium galt lange als verschollen und liegt nun in einer sorgfältigen, von Christine Blanken betreuten Edition wieder vor.“ Und „Kirchenmusik im Bistum Limburg“ schrieb in 1/2009: „Weder in der inhaltlichen Tiefe noch in der musikalischen Abwechslung steht Keiser mit dem Dialogus von der Geburt Christi seinen Zeitgenossen nach. Sein Markenzeichen, die

51 Krummacher, Friedhelm, „Die Überlieferung der Choralbearbeitungen in der frühen evangelischen Kantate“, Berlin 1965, S. 194f. – Nicht identisch ist die Kantate wohl mit einer oft zitierten und nicht von Keiser komponierten Weihnachtskantate. F. J. Fétis schreibt über letztere in seiner „Biographie universelle des Musiciens“, Paris 1863, Bd. 5, S. 7: „Les compositions de Keiser qui ont été publiées sont: ... 9° (weiter übersetzt:) Weihnachts-cantate für zwei Soprane, 2 Violinen, Viola und Bass, in Partitur, Hamburg (ohne Datum).“ Nicht allein, dass die Besetzung hier völlig anders ist, es handelt sich auch um einen Druck, während die Grimmaische Kantate in einer Handschrift vorliegt. 17 meisterhafte, farblich feinsinnige und gekonnt eingesetzte Instrumentierung, kommt in diesem Werk voll zur Geltung.“

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