Der „Zitterbahnhof“ in Remagen Die Kontrollen bei den Hamsterfahrten nach Kriegsende sorgen für Wut und Verzweiflung

Olaf Goebel

er nicht hungern will, muss hamstern. So Dramatische Szenen Wlautete für viele Menschen nach 1945 der Verzweifelt ringt eine Frau die Hände, zwei Überlebenskampf. Schon während des Krieges kleine Kinder weinen und der Vater versucht, waren die Städter auf das Land gefahren, um den Hilfspolizisten den Rucksack und Taschen Nahrungsmittel einzutauschen. Das Hamstern wieder abzunehmen. Eine Szene, die sich tag- war zwar verboten, wie auch später während täglich am „Zitterbahnhof“ in Remagen ab- der alliierten Besatzungszeit, aber die Lebens- spielt. Als die Amerikaner abrücken und im mittel waren so knapp, dass den hungernden Juli 1945 die französische Besatzungszone Menschen - sofern sie noch etwas zum Tauschen entsteht, wird in Rolandswerth die Grenze zur besaßen - nichts anderes übrig blieb. Doch oft britischen Zone gezogen. Noch heute verläuft räumten ihnen Grenzer und Hilfspolizisten bei dort die Landesgrenze zu Nordrhein-Westfa- strengen Kontrollen die Rucksäcke leer. len.

166 u Heimatjahrbuch Kreis 2017 An diesem Schlag- baum auf der Reichs- straße 9 (heute B 9) wurde der Grenzver- kehr zwischen der französischen und englischen Besat- zungszone (NRW) kontrolliert. Für den Festumzug, das Foto entstand vermutlich 1946 in Rolands- werth, blieb die Schranke offen.

Schon im Zug sind die Kontrollen der Franzo- die Bevölkerung fast unerfüllbare Auflagen. sen und deutschen Hilfspolizisten gefürchtet. Lebensmittel, Häuser, Wohnungen oder Fahr- In Remagen aber lernen die Menschen, die zeuge werden beschlagnahmt.“ entweder aus dem Kreis Ahrweiler und an- grenzenden Regionen in die britische Zone, die Nachkriegsalltag in Rolandswerth begann, oder umgekehrt von Martin Hens weiter in seinem Beitrag: „Die dort gekommen sind, buchstäblich das Zit- landwirtschaftlichen Betriebe des Kreises - tern. Gegen Kleidung, Wertgegenstände oder weiler konnten bis zum Jahresende 1945 die Schmuck haben sie Lebensmittel eingetauscht Kreisbevölkerung nur zu 50 Prozent mit er- und werden nun am Bahnhof gefilzt. zeugten Lebensmitteln versorgen. Mit Beginn Es sind Leute, die sich auf der Grafschaft, in des Jahres 1946 wurden in allen Besatzungs- der Eifel oder dem Hunsrück ein paar Kartof- zonen die Lebensmittelrationen drastisch ge- feln oder Mehl eingetauscht haben, schreibt kürzt. Ungezählte Nichtselbstversorger zogen 1996 der mittlerweile verstorbene Martin Hens über Land, um bei der Landbevölkerung Ge- aus Müllenbach in einem Beitrag für das Hei- genstände, die nicht unbedingt zum Überleben matjahrbuch des Kreises Ahrweiler: „Die Per- gebraucht wurden, gegen Nahrungsmittel ein- sonenzüge auf der Rheinstrecke glichen Bie- zutauschen. Gruppenweise kamen Sinziger und nenschwärmen. Auf den Dächern, Trittbrettern Remagener, von Hunger und Unterernährung und Plattformen zwischen den Waggons fuhren geplagt, ohne Tauschobjekte in die Dörfer rund hungernde Menschen, meist Frauen mit Kin- um und Nürburg. Sie kamen zu Fuß dern und ältere Leute. In der gesamten Zone oder mit klapprigen Fahrrädern und bettelten stellte man unweigerlich fest, dass die Fran- um eine bäuerliche Mahlzeit, ein Ei oder etwas zosen die Zügel erheblich straffer angezogen Brot.“ hatten als vorher die Amerikaner. Wer glaubte, Autorin Dorothee Bender schildert in ihrer nach dem Einzug der Franzosen würde sich die Analyse „Zeitaufnahme: Die Not der Menschen allgemeine Wirtschaftslage bessern, wurde ge- im Kreise Ahrweiler“ im 1987 herausgegebenen waltig enttäuscht. Statt den erhofften Erleich- „Studienbuch Landkreis Ahrweiler“ das dama- terungen gab es insbesondere für die zivilen lige Leben der Menschen am Rande des Exis- Verwaltungen erhebliche Belastungen und für tenzminimums. Von den 67000 Menschen,

Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 2017 u 167 Ein völlig überfüllter Zug auf Gleis 1 im „Zitterbahnhof“ Remagen wartet auf freie Fahrt in Richtung .

die 1945 im Kreis Ahrweiler leben und deren Manfred Dahm (Bergisch-Gladbach) hat 2001 Zahl in den folgenden Jahren durch Flücht- in der Rhein-Zeitung über seine Fahrten als linge und Heimkehrer noch steigt, sind nur Jugendlicher zu den bei Weiler lebenden Groß- 14 000 Selbstversorger. Die Bevölkerung erhält eltern berichtet: „Bis zur Währungsreform 1948 Lebensmittelkarten und Bezugsscheine, ohne erhielt die Brohltal-Eisenbahn zusätzlich Passa- die es in der folgenden Zeit noch nicht einmal giere, die so genannten Hamsterer. Sie taten das, einen halben Liter Milch oder einen Kochtopf indem sie sich – oft schweren Herzens – von zu kaufen gibt oder geben darf. Im September Teppichen, Bildern oder anderen Gegenständen 1947 wird seitens der Verwaltung berichtet, trennten, um diese gegen Brot, Kartoffeln oder dass die Unterernährung bereits weite Kreise Fleisch einzutauschen. Für Geld war in dieser der Bevölkerung erfasst…“ Zeit so gut wie nichts zu bekommen. Mit dem Mit der Not der Menschen werden auch kräftig in aller Regel kargen Ertrag an ertauschten oder Geschäfte gemacht. So klagt der Schulchronist erbettelten Lebensmitteln mussten die Hams- der Katholischen Volksschule Oedingen: „In terer auf dem Rückweg ab Kriegsende durch dieser Zeit versündigt sich mancher Bauer und die Zonengrenze bei Remagen – französische Landwirt an der Gemeinschaft des Volkes. Sie Besatzungszone/englische Besatzungszone. Re- geben ihre Erzeugnisse nicht mehr für Geld ab. magen wurde zur damaligen Zeit ,Zitterbahn- Man bringt ihnen ja alles, was sie bedürfen, ins hof‘ genannt. Das französische Militär, aber Haus. Neben Textilwaren, Schuhwaren sind es besonders die deutschen Hilfspolizisten, in aller besonders Rauchwaren, für die der Bauer seine Regel Handlanger der Besatzungsmächte, nah- Erzeugnisse verhamstert. Mancher Bauer geht men den Leuten oft das Gehamsterte wieder ab.“ achtlos an der Not seiner Mitmenschen vorbei. Die Schwarzschlachtungen und Schiebungen Zeitzeugenbericht von Heinz Kleebach nehmen immer mehr zu. Kurz nach der Ernte ist Eine Hamsterfahrt hat Heinz Kleebach aus Re- im Kreis Ahrweiler kein Mehl mehr in den Müh- magen als Kind besonders in Erinnerung. Der len. Die Bauern erfüllen in keiner Weise mehr 82-Jährige gehört mit seinem Vetter Franz (14) ihre Ablieferungspflicht. Da steigt die Not.“ als knapp 13-Jähriger im September 1946 zu Erst ab April 1948 entspannt sich mit dem ame- einem Hamsterer-Quartett, bei dem die beiden rikanischen Wiederaufbauprogramm, dem so Onkel Philipp und Fritz das Kommando haben. genannten Marschall-Plan, die Ernährungslage Beide sind als junge Soldaten bereits aus der in den westlichen Besatzungszonen. Und am 21. Gefangenschaft entlassen. Mit einem Schwung Juni 1948 tritt die Währungsreform in Kraft. Bettwäsche machen sich die Vier mit dem Zug

168 u Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 2017 auf in die Nähe von Kleve am Niederrhein. Sie Heinz Kleebach hat auch erlebt, dass die von haben Glück und kommen ungeschoren über den Franzosen eingesetzten Hilfspolizisten die Kontrollstelle der Zonengrenze. Mit fünf nicht selten mit zweierlei Maß bei ihren Be- Zentnern Kartoffeln, die von den Familien in schlagnahmungen gemessen haben. So war Remagen bereits sehnlichst erwartet werden, das Quartier der Kontrolleure gegenüber dem geht’s in überfüllten Waggons auf die Rück- Bahnhof Remagen im Café Mainzer (später Café fahrt. Die Kartoffelbeute wird auf dem schma- Rügen). Im rückwärtigen Teil des Gebäudes war len Flur der Reichsbahn-Holzklasse deponiert, das Lager mit der „Beute“. Remagener wussten die Jungs decken Mäntel darüber und legen dies und so ging auch mal ein Teil der Lebens- sich darauf. In Köln ist es schon dunkel und mittel wieder zurück an die Besitzer, wenn sie die Vier hoffen, den Grenzern ein Schnippchen die Polizisten kannten. zu schlagen. Kurz vor der französischen Zone verlässt eine Reihe von Schmugglern der Mut und sie steigen aus. Den Kleebachs winkt das Quellen: - Wolfgang Gückelhorn: Kriegsende und dann…? - Der Kreis Ahrweiler Glück. In Remagen haben die Hilfspolizisten an 1944 bis 1946. Aachen 2015 diesem Abend wohl was Besseres zu tun, die - Dorothee Bender: Zeitaufnahme: Die Not der Menschen im Kreise Ahr- weiler. In: Studienbuch Landkeis Ahrweiler 1987. Kartoffeln landen ohne Verlust im Haus Nr. 2 - Martin Hens: Französische Besatzungstruppen im Kreis Ahrweiler in der in der Straße „Am Sportplatz“. frühen Nachkriegszeit. In: Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler 1996.

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