Deutschland

JUSTIZ Der gejagte Jäger Einem Staatsanwalt, der einst zu den bekanntesten Verfolgern von NS-Verbrechern zählte, droht nun womöglich selbst eine Anklage. Er soll Akten manipuliert und Geld behalten haben, das er von Beschuldigten für die Einstellung ihrer Verfahren kassierte. Von Bruno Schrep

sche Konzentrationslager. Nur 2600 über- lebten, die anderen wurden vergast, er- schossen, zu Tode gefoltert. Das jüngste Opfer war zwei Jahre alt. Akribisch verfolgt Staatsanwalt Holtfort die einzelnen Befehlsstränge im besetzten Frankreich. Anhand von Originalakten stu- diert er zerfledderte Erlasse, prüft jeden Stempel, jeden Vermerk, vergleicht Unter- schriften, sortiert Hunderte verschiedener Aktenzeichen, prägt sich Dienstgrade und Beförderungen ein. Wer war wann wo stationiert? Wer hat diesen oder jenen Transport angeordnet? Wer besorgte die Fahrzeuge? Wer unter- schrieb den Marschbefehl? So vorbereitet, erkennt der Ermittler schnell, wenn ein Beschuldigter bei seinen Befragungen lügt, Erinnerungslücken vor- täuscht, Unwissen simuliert. „Erzählen Sie mir nicht, Sie waren in der fraglichen Zeit krank oder in Urlaub“, beginnt er oft seine Vernehmungen. „Ich kenne Ihre Akten.“

ULRICH BAATZ ULRICH Die über 100 Beschuldigten, die Holt- Beschuldigter Ex-Staatsanwalt Holtfort: „Die wollen mich vernichten“ fort im Lauf der Jahre wegen des Verdachts von NS-Verbrechen vernimmt, haben häu- as zeichnet einen wirklich guten einer von Erfolgen, Rückschlägen und fig Angst vor den Fragen dieses scheinbar Staatsanwalt aus? Der grauhaari- Schicksalsschlägen geprägten deutschen allwissenden Fahnders – darauf ist der Wge Herr, er heißt Rolf Holtfort Karriere. Staatsanwalt bis heute stolz. Den Kampf und wird im März nächsten Jahres 65, Die beginnt, als der junge Finanzbeam- um die Wahrheit hat er stets auch als in- denkt eine Weile nach. „Dass er die rich- te Rolf Holtfort es 1962 satt hat, täglich tellektuelle Herausforderung verstanden. tigen Fragen stellt“, antwortet er dann. über Bergen von Lohnsteuerakten zu brü- Hunderte Male hat Rolf Holtfort die rich- ten. Er holt das Abitur nach und schreibt tigen Fragen gestellt. Kurz, präzise, genau sich an der Uni für Jura ein. im richtigen Moment. Als Staatsanwalt hat Noch Student, besucht er, sooft er kann, er damit viele Beschuldigte in große Be- Prozesse gegen ehemalige Nazi-Schergen, drängnis oder gar ins Gefängnis gebracht. darunter ein Verfahren gegen frühere KZ- Holtfort war einer der bekanntesten Aufseher. Der angehende Jurist registriert Nazi-Jäger Deutschlands, gefürchtet, ge- empört, mit welcher Chuzpe sich die Be- achtet, manchmal bekämpft. Ohne ihn schuldigten herauszureden versuchen. Die wären einige berüchtigte NS-Täter, darun- Eindrücke lassen ihn nicht mehr los. ter , der so genannte „Schläch- Kaum bei der Staatsanwaltschaft, lässt ter von Lyon“, wahrscheinlich nie ver- er sich 1973 zur Zentralstelle für die urteilt worden. Verfolgung nationalsozialistischer Mas- Doch jetzt, nach fast 30 Dienstjahren, senverbrechen in Köln versetzen. Der muss der gewiefte Fragesteller selbst un- Krieg ist zwar fast 30 Jahre vorbei, in angenehme Fragen beantworten. Kollegen den Registraturen vieler Behörden schmo- beschuldigen ihn, Gelder veruntreut, Ak- ren jedoch noch immer Tausende unerle- ten manipuliert, ja sogar das Recht gebeugt digter NS-Akten – gleichsam als Symbol zu haben – viel Schlimmeres kann man mangelnder Kraft und mangelnden poli- einem Strafverfolger kaum vorwerfen. tischen Willens, eine verbrecherische, Die Antworten, die der Beamte Holtfort unangenehme Vergangenheit juristisch zu zu seiner Verteidigung gibt, haben seine bewältigen.

Berufskollegen bislang nicht überzeugt. Der neue Mann wühlt sich in einen spe- JO SCHWARTZ Die Bonner Staatsanwaltschaft bereitet ge- ziellen Komplex hinein: die Verschleppung Belastungszeuge O. gen ihn eine Anklage vor – bitteres Ende von 73853 Juden aus Frankreich in deut- „Froh, dass der Mist aus der Welt war“

44 der spiegel 31/2002 SÜDDEUTSCHER VERLAG (L.); VERLAG SÜDDEUTSCHER BILDERDIENST / ULLSTEIN DPA Juden-Deportation in Frankreich (1941), NS-Kriegsverbrecher-Prozess in Köln*: „Vor einem kleinen Staatsanwalt fürchten“

„Da waren richtige Kaliber dabei“, sagt geworden, zu engagiert, kle Mission: Erkenntnisse Holtfort heute. „Akademiker, Doktoren, zu übereifrig – vielleicht über die Beteiligung von Wissenschaftler“ – und Juristen, die es in aber auch zu erfolgreich. Franzosen an Nazi-Ver- der Hierarchie weiter gebracht hatten als Zudem scheinen Nazi- brechen trüben das schö- ihr Befrager. „Da spürt man dann, wie sich Verfahren nicht mehr so ne Bild einer im Wider- ein Vorsitzender Richter vor einem kleinen recht in die Zeit zu pas- stand gegen Hitler geein- Staatsanwalt zu fürchten beginnt.“ sen: Prozesse platzen, da ten Nation und sind des- Als 1980 in Köln die ehemaligen SS-Leu- Beschuldigte zuvor ster- halb nur bedingt er- te , Ernst Heinrichsohn und ben oder mittendrin ver- wünscht. Herbert Martin Hagen wegen Beihilfe zum handlungsunfähig wer- Morgens, kurz vor sei- Mord an den aus Frankreich verschleppten den. Weil sich viele Zeu- ner geplanten Aussage, Juden zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt gen nach Jahrzehnten wird ein Zettel unter werden, ist das Rolf Holtforts größter Er- nicht mehr so genau er- Holtforts Hotelzimmertür folg. Er hat die Anklage vorbereitet und innern können oder wol- durchgeschoben: „Vichy verfasst, er hat im Prozess zum richtigen len, werden auch immer ist am Leben. Keine deut- Zeitpunkt die richtigen Fragen gestellt. wieder Angeklagte frei- schen Zeugen. Wenn Sie Nur noch einmal, im Juli 1987, erlebt der gesprochen – was schon reden, ist das der Tod.“ Ermittler einen ähnlichen Triumph: Da mal Argwohn im In- und Holtfort reist in Panik

wird in Lyon der ehemalige Gestapo-Chef Ausland auslöst. AFP zurück nach Deutschland. Barbie, der sich über 30 Jahre lang in Bo- Staatsanwalt Holtfort, Angeklagter Barbie (1987) Als er zwei Wochen livien versteckt hatte, wegen Verbrechen ab 1985 nur mehr zustän- Leugnen bis zuletzt danach erneut nach Bor- gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger dig für ganz normale deaux fliegen will, wo Pa- Haft verurteilt. straffällig gewordene Jugendliche mit den pon später wegen Beihilfe zu Verbrechen Bis zuletzt bestreitet der frühere SS-Of- Anfangsbuchstaben R, S und Sch, hält es gegen die Menschlichkeit zu zehn Jahren fizier Barbie, 1944 befohlen zu haben, dass kaum aus, dass er nicht mehr Verbrechen Haft verurteilt wird, hindert Holtfort eine ein jüdisches Kinderheim in -Ain von historischer Dimension aufklären soll, Schreckensbotschaft: Sohn Christian, 26 geräumt und die 44 dort lebenden Mädchen sondern sich jetzt um Schwarzfahrer, La- Jahre alt, Uni-Assistent in Kaiserslautern, und Jungen in ein KZ verschleppt werden den- und Fahrraddiebe kümmern muss. ist mit seinem Mountainbike auf abschüs- sollten. Aktenkenner Holtfort, in Lyon als Die Degradierung macht ihn krank, er siger Strecke schwer gestürzt. Er stirbt zwei Zeuge geladen, weist jedoch nach, dass es bekommt Herzattacken. Kollegen und Vor- Tage danach an Schädelverletzungen. sich bei dem von Barbie unterschriebenen gesetzte verärgert er mit Vorträgen und In- Vater Holtfort, vom Tod des Sohnes Dokument nicht um eine Fälschung han- terviews, in denen er die seiner Ansicht schwer getroffen, glaubt bis heute nicht an delt, wie die Verteidigung behauptet, son- nach zu lasche Verfolgung von NS-Tätern einen Unfall. Anhänger von Papon, dem dern um ein echtes Schriftstück. durch die Justiz anprangert. Abfinden kann der Europäische Gerichtshof für Men- Der israelische Botschafter gratuliert, er sich mit seiner Versetzung nicht. schenrechte vorigen Donnerstag die Chan- auch aus Frankreich kommt viel Lob. Doch Der Prozess gegen den französischen ce auf eine Neuauflage seines Prozesses die Karriere des ehrgeizigen Staatsanwalts Ex-Politiker in Bordeaux, eröffnete, hätten das Fahrrad des Sohnes hat zu diesem Zeitpunkt längst einen Knick. zu dem er 1998 als Zeuge geladen wird, manipuliert, um seine, Holtforts, belasten- Schon Anfang 1985 ist er zu seinem Chef soll Holtforts letzter großer Auftritt als de Aussage zu verhindern, glaubt Holtfort. zitiert worden: „Sie werden zur Jugend- Nazi-Jäger werden. Papon, ein Funktionär Tatsache ist, dass sich am Mountainbike abteilung versetzt.“ „Warum?“ „Die Zen- des mit den Nazis kollaborierenden Vichy- des Sohnes während der Fahrt das Vorder- tralstelle hat keine Arbeit mehr für Sie.“ Regimes, half von 1942 bis 1944, Juden rad löste. Wie ein Gutachter später feststellt, „Aber das ist doch lächerlich.“ „Ich kann nach Auschwitz zu deportieren. Mit Hilfe waren sowohl Vorder- als auch Hinterrad es nicht ändern. Anordnung vom General- des deutschen Staatsanwalts soll dem Fran- nicht ordnungsgemäß befestigt. Es ist je- staatsanwalt.“ zosen mehr als 50 Jahre danach nach- doch nicht endgültig zu klären, ob der jun- Vergebens verweist Holtfort auf unerle- gewiesen werden, dass er wusste, was die ge Holtfort, der das Rad kurz zuvor gekauft digte Fälle, auf schwebende Verfahren wie Juden dort erwartete. Für Holtfort eine hei- und zusammengebaut hat, den Montage- das gegen den flüchtigen SS-Führer Alois fehler selbst verursachte oder ob sich Drit- Brunner, auf nicht abgeschlossene Verneh- te an dem Rad zu schaffen gemacht haben. * Nach der Urteilsverkündung gegen Kurt Lischka, Ernst mungen. Der NS-Fahnder ist, glaubt er Heinrichsohn und Herbert Martin Hagen am 11. Februar Ob und wann einschneidende Ereignis- selbst, seinen Vorgesetzten zu eigenmächtig 1980. se im Leben eines Menschen auch be-

der spiegel 31/2002 45 Deutschland stimmte, für Dritte unbegreifliche Hand- Der junge Mann, der sich nach einem lungsweisen auslösen, ist hinterher oft Dorffest mit Polizisten geprügelt hatte, schwer festzustellen. Meistens wissen es dann ganz kleinlaut zur Vorladung er- die Betroffenen selbst nicht. schien, wird von Holtfort vor die Wahl ge- Das Datum, an dem aus dem angesehe- stellt: „Wollen Sie lieber eine Arbeitsauf- nen Staatsanwalt Rolf Holtfort der Be- lage oder eine Geldbuße?“ Erleichtert zahlt schuldigte Holtfort wird, erfasst mit Ak- der Jugendliche 200 Mark, die er sich von tenzeichen und einem ersten Protokoll, seiner Mutter pumpt. steht hingegen genau fest: Es ist der 24. Was hat Holtfort mit dem Geld gemacht? Oktober 2000. „Keine Mark hab ich für mich verbraucht“, An diesem Tag wendet sich die Mutter sagt er unter Tränen, „nicht mal einen Pfen- einer jungen Ladendiebin an die Kölner nig.“ Der alte Nazi-Jäger, inzwischen bei Polizei: Ihre Tochter solle heute, damit ihr Kürzung der Bezüge in den Ruhestand ver- Strafverfahren eingestellt werde, dem setzt, fühlt sich einer Verfolgungsjagd seiner Staatsanwalt Holtfort 100 Mark aushändi- ehemaligen Kollegen ausgesetzt. „Die wol- gen. Bar und ohne Quittung. Von zwei len mich wohl vernichten.“ Freundinnen der Tochter sei genau das Das unkorrekte Abkassieren der Ju- Gleiche verlangt worden. Ob das denn so gendlichen gibt Holtfort durchaus zu. Doch in Ordnung sei? die Beträge, so seine Version, habe er je- Die Aussage der Frau löst enorme Hek- weils an karitative Vereine überwiesen, tik aus: Holtforts Büro wird von mehreren anonym allerdings und ohne die Belege Kripo-Beamten durchsucht, er selbst kurz aufzuheben. Insgesamt, schätzen die Er- darauf vom Dienst suspendiert. Die Polizei mittler, dürften das zwischen 10000 und 20000 Mark gewesen sein. Ein- mal, auf dem Kölner Wallrafplatz, sei er auch von einer armselig aussehenden Frau mit mehreren kleinen Kindern um Geld ange- gangen worden, erzählt Holtfort. Aus Mitleid habe er ihr mehrere hundert Mark geschenkt. Glaubhaft? Unglaubwürdig? Die Bonner Staatsanwaltschaft hat die Aussagen gar nicht erst zu überprüfen versucht. „Wenn mir ein Beschuldigter erzählt, er habe seine Beute in der Sahara

AFP / DPA versteckt, suche ich ja auch nicht Zeuge Holtfort (r.) in Lyon*: „Richtige Kaliber“ in der Wüste“, sagt Oberstaats- anwalt Fred Apostel vielsagend. filzt im Auftrag der Bonner Staatsanwalt- Selbst wenn Holtforts Angaben stim- schaft Tausende Akten, die Holtfort in den men, bleiben Rätsel. Warum agiert ein Er- vergangenen Jahren bearbeitet hat, ver- mittler, der als pingelig gilt, als detailbe- hört Hunderte Jugendliche, die mit ihm sessener Perfektionist, so lax an Vorschrif- Kontakt hatten, viele davon stundenlang. ten vorbei, immer wieder, jahrelang? Aus „Ein Aufwand wie bei einem Kapital- Protest gegen eine Justiz, die ihm zu lasch verbrechen“, konstatiert Holtforts Vertei- im Umgang mit den Verbrechen des Drit- diger Christian Richter II, der argwöhnt, ten Reiches vorkommt? Aus Wut gegen sei- hier solle womöglich auch ein eckiger, wi- ne Versetzung von 1985? Oder hat er ein- derspenstiger Staatsdiener für unbotmäßi- fach nur Geld gebraucht, das er ausgeben ges Verhalten abgestraft werden. Allerdings konnte, ohne sich – vor wem auch immer – das Rechercheergebnis der Fahnder kann – dafür rechtfertigen zu müssen? auch der Verteidiger nicht bestreiten: In Erklären kann – oder will – der Jurist all über 50 Fällen hat Holtfort von jungen De- das selbst nicht. „Es war ein ganz großer linquenten – Kaufhausdieben, Verkehrs- Fehler“, räumt er nur ein. sündern, Haschischrauchern – Bares kas- Dass er deshalb auf eine Anklagebank siert, mal 100, mal 200, mal 300 Mark, sel- soll, wie die Staatsanwaltschaft plant, will ten mehr. Im Gegenzug stellt er die Ver- sein Verteidiger unbedingt verhindern. Der fahren ein. „Ohne Auflage“, schreibt der Anwalt kämpft darum, dass das Verfahren Staatsanwalt in die Akten – was somit nicht wegen des schlechten Gesundheitszustan- stimmt. des seines Mandanten eingestellt wird, dass Den Jugendlichen ist das egal: „Ich war notfalls auch Holtforts große Verdienste als doch heilfroh, dass dieser Mist aus der Welt Nazi-Verfolger berücksichtigt werden. war“, erinnert sich Michael O., heute 19, Andernfalls, glaubt der Verteidiger, dro- damals 17 Jahre alt. he dem seit langem schwer herzkranken Juristen, der täglich viele Tabletten schlucken muss, sogar der Tod. „Ein Pro- * Am 19. Mai 1987 mit dem Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Alfred zess“, so Anwalt Richter, „wäre für Herrn Streim. Holtfort lebensgefährdend.“ ™

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