Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 18/58

Deutscher

Stenografischer Bericht

58. Sitzung

Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 21: Gesetzes zur Änderung des Grundge- setzes (Artikel 91 b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Drucksache 18/2710 ...... 5383 A Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2014 b) Antrag der Abgeordneten , Drucksache 18/2665 ...... 5363 A Katja Dörner, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Iris Gleicke, Beauftragte der Bundesregierung NIS 90/DIE GRÜNEN: Kooperationsver- für die neuen Bundesländer ...... 5363 C bot kippen – Zusammenarbeit von Bund Dr. (DIE LINKE) ...... 5365 D und Ländern für bessere Bildung und Wissenschaft ermöglichen (CDU/CSU) ...... 5367 A Drucksache 18/2747 ...... 5383 B (BÜNDNIS 90/ Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin DIE GRÜNEN) ...... 5368 A BMBF ...... 5383 C Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/ Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5369 B DIE GRÜNEN) ...... 5384 B (SPD) ...... 5370 C Dr. (DIE LINKE) ...... 5386 A (DIE LINKE) ...... 5371 C (Peine) (SPD) ...... 5388 A (CDU/CSU) ...... 5372 D Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5390 A DIE GRÜNEN) ...... 5374 C (CDU/CSU) ...... 5391 C (SPD) ...... 5375 D (DIE LINKE) ...... 5393 B (CDU/CSU) ...... 5376 D Dr. (SPD) ...... 5394 B (SPD) ...... 5378 C Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 5379 B DIE GRÜNEN) ...... 5395 D (CDU/CSU) ...... 5380 C (CDU/CSU) ...... 5396 D Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/ René Röspel (SPD) ...... 5398 A DIE GRÜNEN) ...... 5381 D Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5399 C (CDU/CSU) ...... 5400 C Tagesordnungspunkt 22: Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) ...... 5401 B a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines … (SPD) ...... 5402 D II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Albert Rupprecht (CDU/CSU) ...... 5403 D (SPD) ...... 5415 A Hubertus Heil (Peine) (SPD) ...... 5404 B (DIE LINKE) ...... 5416 A Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU) ...... 5404 D (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 5417 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5405 D DIE GRÜNEN) ...... 5418 D (SPD) ...... 5420 A Tagesordnungspunkt 23: Dr. Stefan Heck (CDU/CSU) ...... 5420 D a) Antrag der Abgeordneten , , Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Ab- Tagesordnungspunkt 25: geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gesetzliche Deckelung und Veröffentli- Vereinbarte Debatte: Weltmädchentag – Bil- chung der Zinssätze für Dispo- und dung und Gesundheit von Mädchen als Vo- Überziehungskredite raussetzung für Entwicklung ...... 5422 A Drucksache 18/2741 ...... 5406 D Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU) . . . 5422 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucher- Annette Groth (DIE LINKE) ...... 5423 D schutz Michaela Engelmeier (SPD) ...... 5424 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren (BÜNDNIS 90/ Lay, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert DIE GRÜNEN) ...... 5426 A Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Begrenzung (CDU/CSU) ...... 5426 D und Vereinheitlichung der Zinssätze für Dispo- und Überziehungskredite (SPD) ...... 5428 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Renate Künast, Luise Tagesordnungspunkt 26: Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- NEN: Begrenzung von Dispositions- schusses für Wirtschaft und Energie zu dem und Überziehungszinsen Antrag der Abgeordneten , , (Köln), weiterer Drucksachen 18/807, 18/1342, 18/2777 . . 5406 D Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Fördermitteltrans- Caren Lay (DIE LINKE) ...... 5407 A parenz erhöhen (CDU/CSU) ...... 5408 B Drucksachen 18/980, 18/1676 ...... 5429 D Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ Andrea Wicklein (SPD) ...... 5430 A DIE GRÜNEN) ...... 5410 B (DIE LINKE) ...... 5431 A Dr. (SPD) ...... 5411 B Mark Hauptmann (CDU/CSU) ...... 5432 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 5412 B Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 5413 A DIE GRÜNEN) ...... 5433 B Dr. (SPD) ...... 5413 D (SPD) ...... 5434 C Hansjörg Durz (CDU/CSU) ...... 5435 D

Tagesordnungspunkt 24: Nächste Sitzung ...... 5437 D a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Europa – Vorreiter im Kampf ge- gen die Todesstrafe Anlage 1 Drucksache 18/2738 ...... 5414 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5439 A b) Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Anlage 2 Todesstrafe weltweit ächten Drucksache 18/2740 ...... 5414 D Amtliche Mitteilungen ...... 5440 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5363

(A) (C)

58. Sitzung

Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Iris Gleicke, Beauftragte der Bundesregierung für Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. die neuen Bundesländer: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit steht in begrüße Sie alle herzlich. diesem Jahr ganz im Zeichen der friedlichen Revolution in der DDR. Er würdigt die Verdienste der Bürgerrecht- Es gibt keine Änderungen der Tagesordnung oder an- ler und Demonstranten, die sich mutig gegen Diktatur dere aufregende amtliche Mitteilungen, sodass wir ohne und staatliche Willkür erhoben haben. Sie haben den jeden weiteren Verzug in unsere vereinbarte Tagesord- Grundstein für Freiheit und Demokratie in Ostdeutsch- nung eintreten können. land gelegt und die Einheit unseres Landes überhaupt Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: erst möglich gemacht. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem (B) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (D) gierung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der LINKEN) Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2014 Sie haben die Mauer eingerissen. Drucksache 18/2665 Ich weiß, wir sprechen häufig vom Fall der Mauer. Aber diese Mauer ist nicht von alleine umgefallen – im Überweisungsvorschlag: Gegenteil. Viele Menschen haben erfahren müssen, wie Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Innenausschuss brutal und unüberwindlich diese Mauer gewesen ist. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Nicht wenige von denen, die versucht haben, sie zu über- Ausschuss für Arbeit und Soziales winden, sind im Stacheldraht verblutet. Das alles dürfen Verteidigungsausschuss wir niemals vergessen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Ausschuss für Tourismus geordneten der LINKEN) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Wir dürfen auch niemals vergessen, wie unglaublich Haushaltsauschuss viel wir den Demokratie- und Freiheitsbewegungen im Ostblock zu verdanken haben: in Ungarn, in der Tsche- Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion choslowakei und in Polen. Viel zu verdanken haben wir Die Linke vor. einzelnen Menschen wie Michail Gorbatschow, dem ich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für von hier aus gute Besserung wünsche. Ich habe heute die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu Morgen gelesen, dass er im Krankenhaus liegt. Ich gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann können wir so denke an Willy Brandt, Helmut Kohl und Hans-Dietrich verfahren. Genscher. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Aber ihre Freiheit, meine sehr verehrten Damen und Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke. Herren, haben sich die Ostdeutschen selber erkämpft, mit einer Revolution, bei der kein einziger Schuss gefal- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten len ist und die wir deshalb voller Stolz als friedliche Re- der CDU/CSU) volution bezeichnen dürfen. 5364 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Beauftragte der Bundesregierung Iris Gleicke (A) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem tatur. Eine Diktatur ist nun einmal ein Unrechtsstaat. Das (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- gehört zu ihrem Wesen. geordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Dass es so friedlich bleiben würde, war damals keines- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael wegs abzusehen. Es gehörte vor 25 Jahren Mut dazu, auf Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die Linke hat die Straße zu gehen und zu demonstrieren, in Leipzig vergessen, zu klatschen!) und anderen Städten der DDR. Aber das sagt nur etwas über das System aus. Es sagt Ich kenne keinen, der damals keine Angst gehabt wenig bis nichts über die Menschen, die in diesem Sys- hätte. Denn die Bilder der brutalen Gewalt auf dem Platz tem gelebt haben. Deshalb finde ich, dass uns solche De- des Himmlischen Friedens im fernen Peking liefen in batten nicht weiterbringen. dieser Zeit quasi als Dauerschleife im DDR-Fernsehen. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- Man darf nicht vergessen, dass Stasi-Vizechef Mittig am Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 26. September 1989 die Chefs der MfS-Bezirksverwal- tungen zusammenrief und forderte, die „feindlich-oppo- Viel wichtiger ist es, die Erinnerung zu bewahren und sitionellen Zusammenschlüsse“ mit dem Ziel der Zer- die Opfer dieses Systems angemessen zu würdigen. Des- schlagung „operativ zu bearbeiten“. halb ist es mir so wichtig, dass die Bundesregierung ge- rade beschlossen hat, die Opferrenten zu erhöhen. Ich erinnere auch daran, dass Verteidigungsminister Keßler zum 40. Jahrestag der DDR vorsorglich die NVA (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie für den Einsatz in Ostberlin in Stellung brachte, auf bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Grundlage eines Honecker-Befehls „zur Verhinderung GRÜNEN und der LINKEN) von Provokationen unterschiedlicher Art“. Wir sind als Ostdeutsche und als Westdeutsche mit Die Angst war da. Sie war ganz real. Aber wir haben ganz unterschiedlichen Erfahrungen in die Einheit ge- sie überwunden. Dieser Mut und die Leidenschaft der gangen. Den Ostdeutschen hat das mehr abverlangt als friedlichen Revolutionäre werden in diesem Bericht ge- den Westdeutschen. Das hat etwas mit dem zu tun, was würdigt, und es wird das Leben der ganz großen Mehr- wir heute als Transformation beschreiben. Während die heit der Bürgerinnen und Bürger in der DDR gewürdigt, Westdeutschen ihr vertrautes Leben weiterführen konn- die ganz einfach versucht hat, ein anständiges Leben zu ten, brach über die Ostdeutschen nach 1990 eine totale führen. hat in diesem Zusammenhang Veränderung so gut wie aller Lebensbereiche herein: ein einmal vom richtigen Leben im falschen System gespro- vollständig neues Wirtschafts-, Rechts- und Gesell- schaftssystem, eine neue Verwaltung, Bildungsab- (B) chen. Das war ein Leben voller Widersprüche. Wir ha- (D) ben gewusst, dass in der Disko die Stasi immer mittanzt. schlüsse, um deren Anerkennung man sich kümmern Aber wir sind trotzdem gerne tanzen gegangen. Es gibt und teilweise kämpfen musste, Alteigentümer, die An- die schönen Geschichten vom Stolz auf die bestandene sprüche geltend machten. Es kamen die Treuhand und Prüfung, vom Kribbeln im Bauch beim ersten Kuss, von eine Phase der Deindustrialisierung, der Massenarbeits- der ersten Fahrt im eigenen Auto, vom Gartenhaus, in losigkeit und einer massiven Abwanderung. Ich kann dem man zumindest weitestgehend seine Ruhe hatte vor und will das alles hier nicht aufzählen. diesem alles wissen wollenden Staat. Aber ich will keine Tatsache ist, dass wir Ostdeutschen in den vergange- Ostalgie. Ich will, dass auch die anderen, die schlimmen nen fast 25 Jahren eine unglaubliche Anpassungsleistung Geschichten erzählt werden, die Geschichten vom klei- hinter uns gebracht haben. Für mich als Abgeordnete mit nen und großen Verrat, von Demütigung und Verfol- einem schönen Büro im Deutschen Bundestag war das gung, von Knast und Zwangsarbeit, vom Verlust gelieb- relativ leicht. Andere hatten und haben es da schwerer. ter Menschen durch Ausbürgerung und Flucht und Viele haben ihre Arbeit verloren und nie wieder eine ver- schlimmstenfalls durch den Tod. All diese Geschichten, nünftige und anständig bezahlte Arbeit gefunden. Wie- die schönen und die hässlichen, machen die irrsinnigen derum andere haben versucht, sich eine eigene Existenz Widersprüche dieser DDR-Gesellschaft deutlich. Aus all aufzubauen, und sind dabei zum Teil entsetzlich geschei- dem und noch viel mehr hat unser Leben bestanden. tert. Es gibt kaum einen Ostdeutschen, der so etwas nicht Roland Jahn hat völlig recht mit seiner Feststellung, dass aus der eigenen Familie oder aus dem Freundes- und niemand „nur Rebell oder nur Angepasster“ war. Das Bekanntenkreis kennt. Manchmal wird mit einem sehr gilt es zu begreifen, und das gilt es zu respektieren. verächtlichen Unterton von den Verlierern der Einheit (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem gesprochen. Ich finde das nicht nur dumm, sondern BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- schändlich. Auch sie gehören zu dieser Geschichte der geordneten der LINKEN) deutschen Einheit. Auch ihr Beitrag zählt. Sie haben zu- mindest Anspruch auf unseren Respekt. Angesichts dessen empfinde ich die aktuelle Debatte darüber, ob die DDR nun ein Unrechtsstaat war oder (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem nicht, schlicht und ergreifend als banal. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der LINKEN) ( [CDU/CSU]: Was ist das?) Meine Damen und Herren, in meinen Augen ist die Im Grunde ist es doch ganz einfach: Die DDR war eine Geschichte der deutschen Einheit keine reine Erfolgsge- Diktatur, übrigens eine ziemlich üble und spießige Dik- schichte. Trotzdem sage ich, dass ich sehr stolz auf das Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5365

Beauftragte der Bundesregierung Iris Gleicke (A) bin, was wir Ostdeutschen in den letzten 25 Jahren er- Es ist deshalb wirklich keine Übertreibung, wenn ich (C) reicht haben: ein mittlerweile wirklich gut ausgebautes feststelle: Die Neuordnung des Bund-Länder-Finanzaus- Verkehrsnetz, die Beseitigung der verheerenden Um- gleichs, die sich diese Koalition vorgenommen hat, ist weltschäden, sanierte und liebevoll restaurierte Innen- eine echte Schicksalsfrage nicht nur für Ostdeutschland, städte, eine verbesserte Wohn- und Lebensqualität sowie sondern für unser ganzes Land. eine moderne, mittelständisch geprägte Industrie- und Forschungslandschaft. Hinzu kommen Universitäten, (Beifall der Abg. Petra Crone [SPD]) deren Ruf so gut ist, dass immer mehr junge Menschen Ich bin mir sicher, dass wir diese Aufgabe gemeinsam aus dem Westen dort studieren wollen. Ohne die große meistern werden, weil wir alle wissen, worum es geht. Solidarität des Westens hätten wir das nie geschafft. Diese Solidarität wird geradezu entwertet von all den Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben Erbsenzählern, die uns immer wieder vorrechnen, wie auf dem Weg zur inneren Einheit große Fortschritte ge- viele Milliarden, Billionen oder Fantastilliarden Euro bis macht. Das Ziel erreicht haben wir noch nicht. Aus mei- jetzt schon im sogenannten Milliardengrab Aufbau Ost ner Sicht liegt das daran, dass dieser Weg nur über ge- verschwunden sind. genseitigen Respekt und gegenseitige Anerkennung beschritten werden kann. Das klingt so leicht und fällt Ich sage Ihnen hier sehr offen: Der Aufbau Ost ist doch vielen offenbar recht schwer. Die jungen Leute ma- noch längst nicht abgeschlossen. Auch nach 24 Jahren chen es uns vor mit ihrem unverkrampften Umgang mit- gibt es immer noch deutliche Unterschiede: eine Wirt- einander. Ich finde, auch das ist in diesem Jahr ein guter schaftskraft, die gerade mal zwei Drittel von der des Grund zum Feiern. Westens beträgt, ein viel geringeres Steueraufkommen der Länder und Kommunen sowie Löhne und Gehälter, Schönen Dank. die im Durchschnitt 20 Prozent unter denen im Westen liegen. Sie wissen, meine Damen und Herren, in man- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem chen Branchen haben wir eine Angleichung von 97 Pro- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zent erreicht, in anderen Branchen aber liegen wir bei 45 Prozent Unterschied. Hier wird eine ganz große Dis- Präsident Dr. Norbert Lammert: parität deutlich. Wir haben eine deutlich höhere Arbeits- Dietmar Bartsch ist der nächste Redner für die Frak- losigkeit und einen wirtschaftlichen Aufholprozess, der tion Die Linke. sich so sehr abgeschwächt hat, dass die Pessimisten be- haupten könnten, er sei zum Stillstand gekommen. (Beifall bei der LINKEN) Wir werden noch eine ganze Weile brauchen, um (B) (D) diese Unterschiede zu beseitigen. Beim Rentenrecht aber Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): ist es anders; denn wir werden das in Ost und West noch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau immer unterschiedliche Rentensystem in dieser Legisla- Gleicke, das ist der erste Jahresbericht zum Stand der turperiode endlich angleichen, damit es in dieser Frage Deutschen Einheit, den Sie vorstellen. Ich muss ganz ab 2019 keine Unterschiede mehr gibt. klar sagen: Im Vergleich zu anderen Politikfeldern, zum Beispiel der Steuerpolitik oder den ungleichen Einkom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mens- und Vermögensverhältnissen, bei denen von dem, der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE was die SPD als Opposition und im Wahlkampf gesagt LINKE]: Das steht aber nicht in Ihrem Koali- hat, nichts übrig geblieben ist, ist es hier anders. Dieser tionsvertrag!) Bericht trägt Ihre Handschrift. Er ist besser als der Ihrer Meine Damen und Herren, alle Wirtschaftsdaten be- Vorgänger. Dazu gehört auch nicht sehr viel, und das ist sagen, dass der Osten auch über das Jahr 2019 und damit auch nicht Ihr Maßstab, hoffe ich, aber das muss ich und über das Ende des Solidarpaktes hinaus eine verlässliche will ich klar anerkennen. Förderung braucht. Wenn diese nicht kommt, wenn wir (Heiterkeit bei der LINKEN) eine Verlängerung nicht hinkriegen, würgen wir den Mo- tor ab, der gerade erst richtig ins Laufen kommt. Dann Es ist auch gut – das will ich deutlich sagen –, dass waren alle bisherigen Anstrengungen für die Katz. Ich Sie in dem Bericht die 25 Jahre nach der friedlichen Re- bin deshalb wirklich froh darüber, dass unsere Bundes- volution würdigen. Das ist vernünftig. Auch hier haben kanzlerin, unser Vizekanzler, unser Bundesfinanzminis- Sie es eben noch einmal getan. Ich kann mich vielem, ter und unsere Bundesfamilienministerin dazu klare An- was Sie gesagt haben, durchaus anschließen. sagen gemacht haben. Danke schön. Die DDR ist an ihren ökonomischen, an ihren politi- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schen und an ihren demokratischen Defiziten geschei- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir halten tert. Das ist unbestritten. am Auftrag des Grundgesetzes zur Herstellung gleich- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) wertiger Lebensverhältnisse fest. Das gilt natürlich auch für die strukturschwachen westdeutschen Regionen. Es ist so, dass den Oppositionellen, allen, die friedlich Auch sie brauchen eine solche verlässliche Förderung. protestiert haben, Dank und auch dauerhafte Anerken- nung gebühren. Auch das will ich hier deutlich sagen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 5366 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Dr. Dietmar Bartsch (A) Ihr Mut war gut. Das hat selbstverständlich seinen Platz vor 25 Jahren. Da ist doch etwas nicht in Ordnung. Das (C) im Bericht zum Stand der Deutschen Einheit. Sie haben muss man weiterhin benennen. Da besteht ein eklatanter das umfangreich im Bericht und heute noch einmal dar- Widerspruch zwischen Ihrem konkreten Regierungshan- gestellt. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Dass die- deln und dem, was Sie hier beschrieben haben. ser Umbruch friedlich verlaufen ist, ist auch ein Ver- (Beifall bei der LINKEN) dienst der Sowjetunion. Auch die damaligen Eliten der DDR haben ihren Beitrag dazu geleistet, dass es fried- Sie haben das Beispiel der Rente genannt. Dazu muss lich geblieben ist. ich Ihnen ganz deutlich sagen: 25 Jahre nach der deut- schen Einheit beschließen Sie im Zusammenhang mit In dem Vierteljahrhundert ist viel erreicht worden. der Mütterrente, dass eine Mutter in Stuttgart für ihr Die Menschen in Ost und West, Gewerkschaften, Kir- Kind 2,22 Euro monatlich mehr bekommt als eine Mut- chen, Vereine, Verbände und im Übrigen alle demokrati- ter in Schwerin. Das ist völlig inakzeptabel. Frau schen Parteien haben an der Entwicklung mitgewirkt. Es Gleicke, da hätte ich mir von Ihnen gewünscht, dass Sie gibt gute Gründe – auch das will ich betonen –, das Er- laut und deutlich sagen, dass Sie das nicht akzeptieren. reichte zu würdigen und auch zu feiern, wie Sie gesagt Dass die Bundeskanzlerin das nicht macht – nun ja, aber haben. Es gibt deutliche Zugewinne an Freiheit, an Le- da muss die ostdeutsche Interessenvertreterin deutlich bensqualität, es ist auch bei der Modernisierung der In- sagen: 25 Jahre nach der deutschen Einheit wollen wir frastruktur vieles erreicht worden. Es ist im Übrigen gut, das nicht. Da gehört endlich Gleichheit hergestellt. wenn drei Viertel der ostdeutschen Bevölkerung sagen, die Wiedervereinigung sei insgesamt eher positiv zu be- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten urteilen. Ich sehe das ganz genauso. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber es ist schlichtweg falsch, wie Sie, die Bundesre- Bei der Überleitung der Bestandsrenten Ost ist ganz gierung, im Jahresbericht sagen, die Lebensqualität habe viel geleistet worden. Aber es bleiben aus unserer Sicht sich in den neuen und in den alten Ländern weitgehend weiterhin Ungerechtigkeiten und Rechtswidrigkeiten, angeglichen. Das ist nicht der Fall. Ich will auch sagen: und die gehören abgeschafft. Das werden Sie von uns In den 25 Jahren wäre natürlich viel mehr möglich ge- auch weiter hören. wesen. Es sind gravierende Fehler gemacht worden, zum Jetzt noch etwas, das wirklich skandalös ist. Vor we- Beispiel mit der Währungsunion, mit der Treuhand-Poli- nigen Tagen ist hier in Berlin am Leipziger Platz die tik, aber vor allen Dingen dadurch, dass Sie die Möglich- „Mall of Berlin“ eröffnet worden. In einer Berliner Zei- keiten, die Ressourcen der Menschen aus den neuen tung war zu lesen: Obwohl sie eine Stunde pro Woche Ländern viel zu wenig genutzt haben. Es war ideologi- länger arbeiten, erhalten die Angestellten – weil: Ost- (B) sche Borniertheit, die das verhindert hat, wodurch wir berliner Einzelhandel – in den Läden der neuen Mall (D) die Chancen, die darin gelegen haben, nicht realisiert ha- 5 Prozent weniger Urlaubs- und 10 Prozent weniger ben. Weihnachtsgeld als ihre Kollegen am benachbarten Pots- Das DIW fragt: Ist Westdeutschland tatsächlich in al- damer Platz. – 100 Meter Entfernung, und da gibt es len Aspekten das Ideal für Ostdeutschland gewesen? Na- wirklich diese Unterschiede? Das ist 25 Jahre nach Wie- türlich nicht, ist meine Antwort. derherstellung der deutschen Einheit doch völlig inak- zeptabel. Was können denn die Menschen dafür, die in (Beifall bei der LINKEN) 100 Meter Entfernung arbeiten? Mein Kollege Roland Claus hat immer gesagt: Der Auf- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. bau Ost als Nachbau West ist gescheitert. – Millionen Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Menschen im Osten haben nach der Wende Einzigartiges NEN]) geleistet. Auch das will ich unterstreichen. Sie haben da schlicht recht. Aber ihre Transformationserfahrungen Da ist „gleicher Lohn und gleiche Rente für gleichwer- – Sie schreiben, diese könnten heute bei der Bewälti- tige Arbeit“ 25 Jahre nach Wiederherstellung der deut- gung der globalen Herausforderungen notwendig sein – schen Einheit nicht erreicht. Das können wir alle zusam- wurden zu wenig genutzt. Diese Feststellung im Jahres- men doch nicht gut finden. Das können wir doch nicht bericht ist zumindest bisher folgenlos geblieben. akzeptieren. Das muss weiter deutlich gesagt werden. Sie sagen: Das Bruttoinlandsprodukt ist der zentrale Ich will allerdings deutlich sagen – Sie haben das am Maßstab. – Natürlich ist es der zentrale Maßstab. Wenn Rande erwähnt –, dass der Osten bei den zentralen Wirt- die Angleichung in den nächsten Jahren weiter so ver- schaftsdaten weiterhin deutlich dem Westen hinterher- läuft wie in den letzten 10 Jahren, werden wir erst in hinkt. Das ist ein ganz großes Problem. Schauen wir uns über 100 Jahren so weit sein, dass der Osten beim Brut- die Arbeitslosenquote an. Die ostdeutschen Länder tau- toinlandsprodukt das Westniveau erreicht hat. Das kön- chen erst ab Platz 10 auf den letzten Plätzen auf, beim nen wir allesamt doch nicht hinnehmen. Da muss doch Bruttoinlandsprodukt sind es die letzten Plätze, auf de- etwas geschehen. nen die ostdeutschen Länder auftauchen, auch bei der Steuerkraft liegen die ostdeutschen Länder ganz hinten. Deswegen darf es kein Weiter-so geben. Es muss ei- Bei den verfügbaren Einkommen, was die Menschen am nen Aktionsplan der Bundesregierung geben, um zum meisten interessiert, liegen die neuen Länder auf den Beispiel die Transformationserfahrungen der Ostdeut- letzten sechs Plätzen – und das 25 Jahre nach der deut- schen aufzunehmen. Was tun wir denn, um das zu verän- schen Einheit. Wir haben jetzt dieselbe Reihenfolge wie dern? Wir können doch diese Fakten nicht einfach hin- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. 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Dr. Dietmar Bartsch (A) nehmen. Das ist das Entscheidende. Deswegen müssen zynischer und billiger Versuch der Geschichtsumdeu- (C) Sie bei den aktuellen Auseinandersetzungen kämpfen, tung. zum Beispiel bei den Regionalmitteln. Da wird es doch so sein, dass der Osten hinten runterfällt. Deswegen (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja!) müssen Sie beim Länderfinanzausgleich darum kämp- Die Linke hat 2009 vor einem Gericht anerkannt, fen, dass die Mittel für die neuen Länder nicht immer Rechtsnachfolgerin der SED zu sein, und trägt in vollem weniger werden. Ja, es ist viel erreicht worden, ja, wir Umfang bis heute die Verantwortung für das Unrecht. können auch stolz sein, aber es darf kein Ausruhen ge- ben, meine Damen und Herren! Die Menschen in den (Beifall der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] neuen Ländern – das kann ich hier klar und deutlich sa- [CDU/CSU] – Dr. Dietmar Bartsch [DIE gen – werden sich da auf das Engagement der Linken LINKE]: Mussten wir nicht anerkennen!) wirklich verlassen können. Wir werden das immer wie- – Erstens. Wer schreit, hat unrecht. Bleiben Sie ruhig, der aufrufen, bis wirklich gleichwertige Lebensverhält- Herr Bartsch! nisse, wie es im Grundgesetz heißt, erreicht sind. (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ich bin Herzlichen Dank. ruhig!) (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Sie tragen als Partei die Verantwortung für dieses Unrecht. Sie sind die Kinder der PDS, die Enkel Präsident Dr. Norbert Lammert: der SED und damit der Unrechtsstaatspartei der DDR. Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt der Kollege Mark Hauptmann das Wort. (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Kind der Blockpartei CDU!) (Beifall bei der CDU/CSU) Aus dieser Verantwortung entlassen wir Sie nicht. Mark Hauptmann (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und LINKEN) Herren! Zum 25. Mal jährt sich der Fall der Mauer. Wir diskutieren den Jahresbericht der Bundesregierung zum Weil wir gerade in meiner Thüringer Heimat eine Stand der Deutschen Einheit 2014 heute zwischen zwei Wahl erlebt haben, nach der es vielfältige Gespräche historischen Terminen. Gestern, am 9. Oktober, vor gibt, ist mein Appell an die Kollegen von den Grünen 25 Jahren haben sich mutige Menschen in Leipzig ein und von der SPD: Denken Sie an die Symbolik Ihres Handelns! (B) Herz gefasst und mit Kerzen und Gebeten gegen eine (D) Diktatur gekämpft. In der Nacht vom 9. auf den 10. No- (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) vember wurden die Grenzübergänge zwischen Ost- und Westberlin geöffnet. Die Bilder von jubelnden Men- 25 Jahre nach der friedlichen Revolution mit den Stasis schen am Brandenburger Tor gingen in jener Nacht um von gestern über Staatssekretärsposten von morgen zu die Welt. Das Brandenburger Tor ist bis heute ein bedeu- verhandeln, ist ein Schlag ins Gesicht der Opferverbände tendes Symbol. Es wurde von einem Symbol der Teilung und der Bürgerrechtler in diesem Land. zu einem Symbol des Zusammenwachsens, und noch (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Dietmar immer trägt dieses Symbol überall in der Welt. Bartsch [DIE LINKE]: Opposition! Geht in Nicht alle sind jedoch im Zeitalter des Zusammen- die Opposition!) wachsens angekommen. Auch ein Vierteljahrhundert Der Jahrestag des Mauerfalls erinnert uns aber nicht nach dem Mauerfall wird der Versuch der Geschichts- nur an die Sehnsucht der Menschen nach politischer Ge- verklärung unternommen. Historiker, Politiker, Wissen- staltungsfreiheit, schaftler, alle sind sich in einem Punkt der Analyse ei- nig: Ein Staat, in dem keine freien Wahlen stattfinden (Dr. [DIE LINKE]: Noch billiger konnten, ein Staat, der die eigenen Bürger eingesperrt geht es nicht!) und diese bei der Suche nach Freiheit an der Mauer kalt- blütig erschossen hat, ein Staat, der Kinder aus den Fa- sondern auch an die einzigartige Aufbau- und Anpas- milien herausgerissen und in Kinderheime gesteckt hat, sungsleistung. Herr Bartsch hat eben das Glas als halb- ein Staat, der politische Häftlinge gefoltert und einge- leer bezeichnet. sperrt hat, ein Staat, der alle Parteien gleichgeschaltet und seine Macht auf die Exekutive, Judikative und Le- Präsident Dr. Norbert Lammert: gislative ausgedehnt hat, solch ein Staat war, ist und Herr Kollege Hauptmann, würden Sie zwischendurch bleibt ein Unrechtsstaat. eine Zwischenfrage der Kollegin Lazar gestatten? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Mark Hauptmann (CDU/CSU): GRÜNEN) Gern. Sehr geehrte Damen und Herren, vor diesem Hinter- grund sind die jüngsten Äußerungen, die wir von den Präsident Dr. Norbert Lammert: Linken gehört haben, geradezu Hohn und Spott und ein Bitte schön, Frau Lazar. 5368 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

(A) Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Vielen Dank. – Sie haben am Anfang Ihrer Rede den – kein weiterer Rechtfertigungsbedarf besteht, warum 9. Oktober in Leipzig angesprochen. Ich war damals bei sie nicht an parallel stattfindenden Veranstaltungen teil- den Montagsdemonstrationen dabei, und ich war auch nehmen können. gestern bei den Feierlichkeiten dabei. (Beifall bei der CDU/CSU) ( [CDU/CSU]: Wir hatten aber gestern Plenarsitzung! – Lachen bei der CDU/ Mark Hauptmann (CDU/CSU): CSU) Herzlichen Dank, Herr Präsident, für diese Klarstel- lung. – Ich habe leider den Grund für das Gelächter nicht ver- nommen, aber das interessiert mich jetzt auch nicht. Ich Ich bin kein Mitglied der Grünen. Sie kennen Ihre Ge- möchte nur diesen holzschnittartigen Bemerkungen et- schichte besser, als ich sie kenne. Aber nach meinem was entgegensetzen. Kenntnisstand der Geschichte der Bündnis-90-Bewe- gung weiß ich, dass sie aus einer Bürgerrechtsbewegung (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der entstanden ist. LINKEN) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einen wichtigen Anteil daran, dass es vor 25 Jahren in Natürlich! – Dr. Dietmar Bartsch [DIE Leipzig friedlich geblieben ist, hatte der „Aufruf der LINKE]: Anders als die CDU!) Leipziger Sechs“. Von den sechs waren drei Bezirksse- kretäre der SED in Leipzig. Das haben Sie ja gerade auch zu Recht angesprochen. Gerade mit Blick auf die Geschichte dieser Bürger- (Zuruf von der CDU/CSU: Ach!) rechtsbewegung ist es für mich und unsere Fraktion in keiner Weise verständlich, wie Sie heute mit den Akteu- Ich bin keine Befürworterin der ehemaligen SED und ren verhandeln können, die Sie damals auf der Straße be- war damals, wie gesagt, auch mit auf der Straße. Ich ver- kämpft haben. wahre mich aber dagegen, dass hier nach 25 Jahren so platt agiert wird. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Staatssekretärin Gleicke hat bereits angesprochen, dass im Jahresbericht die enorme Aufbau- und Anpas- Auch diese drei – damals SED-Funktionäre – haben eini- sungsleistung der Menschen in Ostdeutschland gewür- ges riskiert. Ich fand es zum Beispiel schade, dass sie digt wird. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich von 1999 gestern beim Festakt nicht dabei gewesen sind. (B) bis heute im Osten des Landes fast verdoppelt. Die Ar- (D) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wir hatten Ple- beitslosigkeit hat 2014 den niedrigsten Stand seit 1991 narsitzung hier! – Weitere Zurufe von der erreicht. In meiner Südthüringer Heimat beträgt die Ar- CDU/CSU) beitslosigkeit rund 5 Prozent und liegt damit unterhalb des Bundesdurchschnitts. So viel zu den wirtschaftlichen – Sie müssen sich hier nicht moralisch empören. Ich war Entwicklungen, Herr Bartsch. damals dabei, und Sie haben nicht das Recht, mich hier so zu verhöhnen. Trotzdem bleibt festzuhalten – auch das ist natürlich Teil der Wahrheit –, dass wir unser Ziel einer Anglei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, chung beider Landesteile noch nicht erreicht haben. Je bei der SPD und der LINKEN) nach Region bleibt der Osten Deutschlands in seiner Wirtschaftskraft um bis zu 30 Prozent hinter den west- Es geht darum, dass einfach klargestellt wird: Es gab deutschen Gebieten zurück, obwohl es dort auch heute auch mutige Leute, die damals in Funktion bei der SED schon wirtschaftsstarke Regionen und wirtschaftsstarke waren. Allein das möchte ich feststellen, und ich Städte gibt, die Flächenländer, aber auch Städte im Wes- möchte, dass Sie und Ihre Kollegen von der Union das ten der Republik deutlich überholt haben. bitte zur Kenntnis nehmen. Das Steueraufkommen pro Einwohner betrug 2013 im Danke. Osten rund 937 Euro, im Westen ungefähr das Doppelte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist daher in den neuen und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Ländern immer auch Strukturpolitik. Aufgrund der ge- der SPD) ringen Zahl von Ansiedlungen von Großunternehmen ist die Wirtschaftsstruktur hier sehr kleinteilig. Förder- instrumente für kleine und mittelständische Betriebe Präsident Dr. Norbert Lammert: sind von großer Bedeutung. Wir alle kennen Maßnah- Bevor der Kollege Hauptmann jetzt dazu Stellung men wie ZIM und wissen, welche Bedeutung diese ha- nimmt, möchte ich in aller Ruhe darauf hinweisen, dass ben. dann, wenn Mitglieder des Deutschen Bundestages an Plenarsitzungen desselben teilnehmen, – Wir sehen, dass der Anteil des Bereichs Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt der ostdeut- schen Flächenländer mit 2,5 Prozent über dem Durch- Mark Hauptmann (CDU/CSU): schnittswert der Europäischen Union liegt. Ausgezeich- So ist es. nete Forschung ist in der Zukunft aber auch auf Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5369

Mark Hauptmann (A) gemeinnützige externe Industrieforschungseinrichtun- Bundespräsident Joachim Gauck hat gestern in seiner (C) gen angewiesen. Wir als Bundesregierung und als Koali- Rede im Leipziger Gewandhaus zutreffend bemerkt, tionsfraktionen stehen hinter INNO-KOM-Ost und ande- dass unsere Demokratie – ich zitiere – „ausgehöhlt wer- ren externen Industrieforschungsprogrammen, mit denen den und ausdörren kann, wenn die Bürger sie nicht mit wir dort eine Forschungslandschaft entwickeln wollen. Leben erfüllen.“ Die Bürgerdemokratie, wie sie 1989 er- kämpft wurde, ist teilweise nur noch rudimentär entwi- Für eine positive Weichenstellung ist es jedoch auch ckelt. Das muss sich ändern. vonnöten, dass wir für strukturschwächere Regionen ge- zielte Maßnahmen entwickeln, um diese Regionen vo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ranbringen zu können. Ich erinnere in diesem Zusam- menhang an den Passus im Koalitionsvertrag zum Das beste Mittel gegen Politikverdrossenheit, meine Da- Sanierungsbonus für den ländlichen Raum. Dieser Sa- men und Herren, heißt mehr Demokratie. Die niedrige nierungsbonus eröffnet die Möglichkeit, in struktur- Wahlbeteiligung bei den zurückliegenden Landtagswah- schwachen Regionen energetisch optimierten und barrie- len in Sachsen, Brandenburg und Thüringen mahnt, dass refreien Wohnraum zu schaffen. Das sorgt für Zuzug und neue demokratische Impulse dringend gebraucht wer- gleichzeitig dafür, dass diese strukturschwachen Regio- den, nen auch in Zukunft wachsen, gedeihen und blühen kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen. etwa durch einfachere Möglichkeiten der direkten Mit- Der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der bestimmung der Bürger an politischen Entscheidungen. Deutschen Einheit 2014 macht die positiven Entwick- Denn es bereitet mir fast körperliche Schmerzen, wenn lungen in den neuen Bundesländern und die Anpas- auf die Frage „Ist die Demokratie die beste Staatsform?“ sungsleistung der ostdeutschen Bürger in den vergange- in einer aktuellen Umfrage des Allensbacher Instituts im nen 25 Jahren sehr deutlich. Es gilt, dies zu würdigen Auftrag von mehreren ostdeutschen Tageszeitungen im und die weiteren Anstrengungen von Bürgern und Un- Osten nur 40 Prozent der Befragten mit Ja antworteten, ternehmen zu unterstützen. Wir sollten durch solche Pro- hingegen 74 Prozent im Westen. gramme wie den Sanierungsbonus dabei mithelfen, dass auch strukturschwache Regionen die Möglichkeit haben, Ich bin überzeugt, dass die weiteren Entwicklungs- sich weiterzuentwickeln. Wir sollten über Maßnahmen chancen für die neuen Bundesländer nicht nur davon ab- nachdenken, die die Weiterführung des Solidarpaktes hängen, wie stark Innovation, Forschung, Erfindergeist oder Förderungen zur Erhöhung von Innovationen und und mutiges Unternehmertum, sondern auch, wie sehr Investitionen auch in Zukunft ermöglichen. Dafür müs- der Einsatz für gelebte Demokratie und eine aktive Bür- sen wir Sorge tragen, damit dieser Transformationspro- gergesellschaft von uns allen unterstützt wird. (B) zess der neuen Bundesländer auch in der Zukunft fortge- (D) setzt wird. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Wir brauchen neue Formen der Zusammenarbeit und Vernetzung von Bürgern, Politik, Verwaltung und Unter- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nehmen. Gefordert sind neue Rahmenbedingungen, die neten der SPD) lokales Engagement befördern und nicht behindern, ge- rade in den Regionen außerhalb der urbanen Wachs- Präsident Dr. Norbert Lammert: tumskerne in Ostdeutschland. Es geht um die Aktivie- rung von Eigenverantwortung und Gründungswillen. Nächster Redner ist der Kollege Stephan Kühn für die Das Problem ist schließlich nicht das Fehlen von Grün- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. derförderung, sondern das Fehlen von Gründern, im ländlichen Raum insbesondere von Gründerinnen. Es Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- muss gelingen, durch Unternehmensgründungen im Ra- NEN): dius von Universitäten, Fachhochschulen und For- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- schungseinrichtungen gut ausgebildete Fachkräfte in der ren! Zehntausende Menschen hat der Wunsch nach Frei- Region zu halten und den Braindrain zu stoppen. Gerade heit und Demokratie vor 25 Jahren auf die Straße ge- die Fachhochschulen, die oft außerhalb der Zentren an- bracht. Am 9. Oktober 1989 hat es die SED-Führung gesiedelt sind, müssen stärker Motor für die regionale nicht gewagt, die Massendemonstration in Leipzig ge- Wirtschaftsentwicklung werden. Wir müssen neue Wege waltsam aufzulösen. Gestern haben Zehntausende Men- gehen, brauchen regional angepasste Konzepte und Lö- schen mit dem Lichtfest an den Tag der Entscheidung er- sungen nach dem Grundsatz: Bottom-up statt Top-down. innert. Man darf nicht vergessen: Die friedliche Offensichtlich ist doch: Das bisherige Konzept einer li- Revolution ist in der deutschen Geschichte eine Aus- nearen, nachholenden Modernisierung Ostdeutschlands nahme. Für uns ist der zentrale Impuls von 1989 die ist gescheitert. Die wirtschaftliche Angleichung ist er- Selbstermächtigung der Bürger zum politischen Han- lahmt. Damit das gelingt, müsste die ostdeutsche Wirt- deln. Der sich daraus ergebende Auftrag, mit aller Kraft schaft stärker und schneller wachsen als die westdeut- für die Stärkung der politischen Mitbestimmungsrechte sche, was sie aber nicht tut. der Bürger gegenüber staatlichen Institutionen einzutre- ten, besteht für uns unverändert fort. Nun hilft es auch wenig, regelmäßig die Kleinteilig- keit der ostdeutschen Wirtschaft und das Fehlen von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Konzernzentralen zu beklagen. Ebenso wenig hilft es 5370 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Stephan Kühn (Dresden) (A) aber auch, den bloßen Status quo zu beschreiben. Aber Fläche entwickelt werden können. Ich hoffe, dass dazu (C) genau das ist das Problem des Berichts zum Stand der von Ihnen Impulse kommen. Deutschen Einheit. Er liefert keine neuen Erkenntnisse und setzt keine neuen Impulse; Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

von dieser Kritik will ich das erste Kapitel, das die Präsident Dr. Norbert Lammert: Transformationsleistung der Ostdeutschen würdigt, aus- Wolfgang Tiefensee ist der nächste Redner für die nehmen. Trotz großer Erfolge in allen Bereichen haben SPD-Fraktion. wir auch 25 Jahre nach der friedlichen Revolution un- verändert große Herausforderungen in Ostdeutschland. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Franz Deshalb ist aus unserer Sicht ein Routinebericht einfach Josef Jung [CDU/CSU]) zu wenig. Wolfgang Tiefensee (SPD): Richtig ist der Ansatz, dass die Förderung nach Be- darfen und nicht mehr nach Himmelsrichtungen erfolgen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und muss. Die Förderprogramme für die ostdeutschen Bun- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich desländer nach und nach in ein gesamtdeutsches System stehe ganz unter dem Eindruck des 9. Oktober 1989. Die für strukturschwache Regionen zu überführen, ist rich- 25-Jahr-Feiern, liebe Monika Lazar, haben uns wieder tig. Dazu drei Zahlen: Das Steueraufkommen der ost- all die Ereignisse vor Augen geführt: eine Diktatur, eine deutschen Flächenländer lag im vergangenen Jahr bei ehern erscheinende Mauer, ein Regime, das nicht wei- 937 Euro pro Einwohner, in den westdeutschen Flächen- chen will – alles das stürzt plötzlich zusammen. ländern allerdings bei 1 817 Euro. Zudem erreichen die Ich finde es ermüdend, dass wir Jahr für Jahr über die kommunalen Steuereinnahmen in Ostdeutschland gerade Frage reden müssen, ob das nun ein Unrechtsstaat war einmal 58 Prozent des Westniveaus. Ich betone das so oder nicht. Herr Bartsch, kann man nicht einfach mal sa- ausführlich und deutlich, weil die Wirtschafts- und Steu- gen – und die Zeit hier nutzen –: „Es war ein Unrechts- erkraft in den ostdeutschen Bundesländern bei den ak- staat, wir bekennen uns dazu“? Die Transformationsleis- tuellen Verhandlungen zur Neugestaltung der Bund-Län- tung ist deshalb so hoch zu honorieren, weil zwei völlig der-Finanzbeziehungen nicht einfach ausgeklammert unterschiedliche Systeme zu transformieren waren. Das werden darf. ist das Hauptthema. Ich wünschte mir, dass Sie das end- lich anerkennen und dass wir dieses Kapitel schließen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN können. (B) sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD]) (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Mit Fokus auf den demografischen Wandel heißt es oft, Ostdeutschland sei das Labor für wirtschaftliche und Eine Diktatur hat einen Kitt, der sie zusammenhält: gesellschaftliche Transformationsprozesse und nehme Neben Repression ist das die Angst. Die Angst ist 1989 eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung neuer Lösungen überwunden worden. Ich möchte heute in meiner Rede ein. Zweifelsohne: Der demografische Wandel stellt die drei Aspekte in den Mittelpunkt stellen, die mir wichtig neuen Bundesländer vor besondere Herausforderungen. erscheinen, weil sie deutlich machen, was wir aus den Sie sind früher und fast flächendeckend betroffen. Wir Ereignissen des 9. Oktober bzw. aus dem Herbst 1989 brauchen daher eine Klärung, was die Sicherung der Da- mitnehmen können. seinsvorsorge vor allem in strukturschwachen ländlichen Das Erste ist: Mut gegen Ohnmacht. Es gibt auch in Räumen in den Kommunen konkret heißt. Erforderlich einer Demokratie Ohnmacht. Bundespräsident Gauck wäre eine Diskussion um soziale, kulturelle und wirt- hat gestern sehr schön gesagt: Es ist eine zum Teil selbst schaftliche Mindeststandards und innovative Lösungen. verschuldete Ohnmacht. – Lassen Sie uns den Bürgerin- Denn neue Ideen gibt es zahlreich, beispielsweise dazu, nen und Bürgern immer wieder erklären, dass man in ei- wie die Abwärtsspirale beim öffentlichen Nahverkehr im nem demokratischen System sein Schicksal, seine Ange- ländlichen Raum gestoppt werden kann. Mit dem Kom- legenheiten in die eigenen Hände nehmen muss. Das bibus zum Beispiel werden neben Personen auch Güter beginnt beim Engagement im Verein und endet damit, bewegt. Der Betrieb ist so wirtschaftlicher, zudem ver- dass man zur Wahl geht. Es ist nicht akzeptabel, dass wir netzt der Kombibus die regionalen Wirtschaftsakteure in Ostdeutschland und auch in Deutschland insgesamt miteinander. Da das Personenbeförderungsgesetz so et- eine solche Abstinenz bei Wahlen haben. Lassen Sie uns was nicht vorsieht, konnte das Projekt nur mit einer Aus- an die Bürgerinnen und Bürger appellieren: Seid nicht nahmegenehmigung starten. ohnmächtig, sondern engagiert euch! Wir brauchen eine Bundesregierung, die endlich er- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie kennt, dass die Neugestaltung der Daseinsvorsorge mit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE dem Ziel „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ nicht GRÜNEN) durch die Aneinanderreihung von geförderten Modell- projekten oder Pilotprojekten zu bewerkstelligen ist. Für Das Zweite, das aus dem 9. Oktober resultiert, ist die den kommenden Bericht wünsche ich mir, Frau Staatsse- Frage: Solidarität oder Abgrenzung? Wir Ostdeutsche kretärin, dass darin Vorschläge enthalten sein werden, sind ohne viele Vorbedingungen Teil der Europäischen wie über einzelne Initiativen hinaus Lösungen für die Union geworden. Westdeutschland und die Europäische Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. 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Wolfgang Tiefensee (A) Union haben uns mit namhaften Geldbeträgen unter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) stützt. Das hat uns die Chance gegeben, die eigenen Är- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE mel aufzukrempeln, um so weit zu kommen, wie wir GRÜNEN) jetzt sind. Das sind für mich die Botschaften des 9. Oktober Interessant ist, dass die Ostdeutschen zum Teil mit 1989. Lassen Sie uns mit dieser Kraft, mit diesem Stolz verschränkten Armen und relativ herablassend auf die des 9. Oktober 1989 diese Herausforderung gemeinsam schauen, denen es schlechter geht. Erinnern wir uns, wie angehen. das noch vor 1989 am Balaton war, als man nicht ins Ho- Vielen Dank. tel kam und keinen Platz im Restaurant bekam, weil man nicht mit D-Mark zahlte. Jetzt plötzlich sind wir auf der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sonnenseite. Wir haben nicht zuletzt mit Blick auf die der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vorläufer der friedlichen Revolution in der Tschechoslo- wakei, in Polen, in Ungarn und in der ehemaligen Sow- jetunion die Verpflichtung, mit denjenigen solidarisch zu Präsident Dr. Norbert Lammert: sein, denen es nicht so gut geht. Das Wort erhält nun der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Roland Claus (DIE LINKE): Frau Bundeskanzlerin, wir brauchen einen Kurswech- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht sel, vor allem auch einen Kurswechsel in der Mentalität; zu Beginn etwas zur Versöhnung: Ich habe in der De- dabei meine ich dieses Von-oben-herab-Agieren, das uns batte über den letzten Jahresbericht zum Stand der Deut- oftmals zu eigen ist. Wir brauchen einen Aufbau Süd. schen Einheit und in den Jahren zuvor häufig beklagt, Wir brauchen eine Solidarität, durch die wir die notwen- dass es im Bundestag eine unsichtbare ostdeutsche digen Kräfte bündeln. Das muss auf Augenhöhe gesche- Mehrheit bei dieser Frage gibt. Ich habe heute den Ein- hen und nicht von oben herab. Das ist wichtig. druck, dass sich das wesentlich gebessert hat. Wir erfah- ren wesentlich mehr Zuspruch bei diesem Thema. Ich Das Dritte, was ich sagen möchte, ist: Wir brauchen stelle mit Befriedigung fest: Es geht doch, links wirkt! auch eine Solidarität denjenigen gegenüber, die außer- halb Europas leben. Wir erinnern uns daran, wie es war, (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU) (B) als die Flüchtlinge nach Westdeutschland gekommen (D) sind. Wir brauchen eine Willkommenskultur. Das ist die Seitens der CDU ist uns gesagt worden: Wir entlassen zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts, die wir zu bewäl- Sie nicht aus Ihrer Verantwortung für die Geschichte. Da tigen haben. muss ich Ihnen antworten: Das ist ungeheuer anmaßend. Wir entscheiden noch immer selbst, wie wir uns dazu Einerseits müssen die Disparitäten, die es außerhalb verhalten. Und wir wollen nicht aus dieser Verantwor- unseres Erdteils gibt, in den Blick genommen werden. In tung entlassen werden. Das entscheiden aber nicht Sie. den nächsten Tagen fahre ich nach Bangladesch und Vietnam, um dort einmal mehr zu sehen: Was passiert da (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der mit unseren Wertschöpfungsketten? Wie können wir CDU/CSU) mehr Verantwortung dafür tragen, dass der Lebensstan- Ich habe nicht vergessen, wie ich mit 34 Jahren in dard auch außerhalb Deutschlands und außerhalb Euro- Halle Abend für Abend der Adressat für Protest und Kri- pas gehoben wird? tik von Tausenden Bürgerinnen und Bürgern war. Die unter solchen Schmerzen und Bitternissen gewonnenen Auf der anderen Seite haben wir uns mit der Frage zu Erkenntnisse bleiben für uns in der Erinnerung und sind beschäftigen, wie wir mit den Flüchtlingen umgehen, uns eine Mahnung. Wir haben auch nicht vergessen, dass wie wir mit denjenigen umgehen, die zu uns kommen unsere Vorgängerpartei nicht in der Lage war, sich selbst wollen, weil wir einen höheren Lebensstandard haben. geistig zu befreien, Das ist die zentrale Aufgabe. Wir können die Schotten dichtmachen. Das würde eine Weile gehen. Dann wür- (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Das sind Sie den wir uns aber verhalten wie früher der Junker, der um doch bis heute nicht!) seine Grundstücke einen Zaun gezogen hat; und die an- sondern eine Befreiung von außen nötig hatte. Diese Er- deren haben daran gerüttelt. Nein, wir brauchen einen kenntnisse haben uns geprägt, und die werden wir in Er- Plan, wie wir mit denjenigen umgehen, denen es drecki- innerung behalten. ger geht als uns. Auch das ist eine Botschaft des 9. Okto- ber 1989: Wir brauchen Solidarität auch denjenigen ge- (Beifall bei der LINKEN) genüber, die es schlechter haben als wir. Alle Kräfte Der Jahresbericht beginnt mit einem historischen müssen gebündelt werden, damit wir dieses Mensch- Rückblick. Das ist ebenso angemessen wie inzwischen heitsproblem im 21. Jahrhundert lösen. Ansonsten wird auch vielseitig verklärt. Wir hatten noch nie eine solche es auch für uns schwierig werden. Wir sind verpflichtet Flut von Umfragen dazu, wie man die deutsche Einheit dazu. interpretieren kann. In diesem Zusammenhang kann man 5372 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Roland Claus (A) die Frage stellen: Was ist eigentlich der Unterschied zwi- Anerkennung von Erziehungsleistungen – das ist ein (C) schen Gott und den Historikern? Die Antwort lautet: Skandal. Das wird Ihnen die Linke nie durchgehen las- Gott kann die Geschichte nicht mehr ändern. sen. (Heiterkeit bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Ich will mich deshalb an die Fakten halten. Wie be- Es gibt im Osten viele Ansätze für neue Entwick- werten Bürgerinnen und Bürger die deutsche Einheit? lungspfade in Sachen sozialökologischer Umbau, bei der Das ist in der Tat sehr interessant: Im Osten bewerten Förderung erneuerbarer Energien und beim Stadtumbau. 75 Prozent die deutsche Einheit positiv, im Westen sind All diese Erkenntnisse und all diese gewonnenen Erfah- das nur 48 Prozent. Das heißt, nicht einmal die Hälfte rungen – auch die gemachten Fehler – stellen ein Feld der Bürgerinnen und Bürger im Westen und Süden der dar, das völlig brachliegt und viel zu wenig für die ge- Republik bewertet die Einheit positiv. Nehmen wir die samtdeutsche Entwicklung genutzt wird. unter 30-Jährigen, also die Jahrgänge 85 und jünger: Im Osten bewerten 96 Prozent von ihnen die deutsche Ein- Präsident Dr. Norbert Lammert: heit positiv und im Westen 66 Prozent. Das sind Men- Herr Kollege. schen, die keinerlei Erfahrungen aus dem geteilten Deutschland haben. Hier reproduziert sich also ge- schichtliche Erfahrung auf eine interessante Weise. Aber Roland Claus (DIE LINKE): das muss uns doch auffordern, daraus etwas abzuleiten. Deshalb wünschen wir uns eins: dass der nächste Jah- Der Grund für diese unterschiedliche Einschätzung ist resbericht zum Stand der Deutschen Einheit in der Ana- natürlich, dass im Westen und Süden die Vereinigung lyse lobenswert für uns ist keine positiven Erfahrungen für die Menschen und ihren (Zuruf von der CDU/CSU: Für Sie mit Sicher- Lebensalltag gebracht hat. Das Einzige, das im Bewusst- heit nicht!) sein geblieben ist, ist, dass der Soli zu zahlen ist. Nichts oder fast gar nichts aus der DDR wurde für deutschland- und dass er in den Schlussfolgerungen endlich voran- tauglich erklärt. Das war ein Fehler. kommt und nicht bei dem stehen bleibt, was wir jetzt vorliegen haben. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Dietmar Bartsch ist hier bereits darauf eingegangen, dass der Jahresbericht in seiner Analyse wesentlich bes- ser, genauer und präziser geworden ist. Ja, das stimmt: Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Analyse ist besser. Aber leider ist das bei den Das Wort erhält nun der Kollege Peter Stein für die (B) (D) Schlussfolgerungen nicht der Fall. Deshalb lautet die CDU/CSU-Fraktion. Denksportaufgabe für uns weiterhin: Was lernen wir für (Beifall bei der CDU/CSU) ganz Deutschland aus dieser Entwicklung im Osten, aus diesen Umbrüchen, aus diesem Umgang mit der Trans- Peter Stein (CDU/CSU): formation? Wir haben das in unserem Entschließungsan- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- trag ausdrücklich deutlich gemacht und diese Transfor- ren! Am 9. Oktober 1989, also fast auf den Tag genau mationserfahrungen – wenn ich das übersetze –, also heute vor 25 Jahren, fand eine der denkwürdigsten Mon- persönlich gemachte Erfahrungen bei der Bewältigung tagsdemonstrationen in der DDR statt. Daran haben ges- gesellschaftlicher Umbrüche, hervorgehoben. tern 200 000 Menschen in Leipzig erinnert. Wie an je- Sie haben hier einen anderen Begriff benutzt und ge- dem anderen Montag zuvor fand damals in der Leipziger sagt: Wir haben bedeutende Anpassungsleistungen er- Nikolaikirche ein Friedensgebet statt. Dort sprachen bracht. – Das fanden Sie auch noch besonders prima. Ich Menschen offen über ihre Probleme, über ihre Situation kann nicht finden, dass Anpassung an ein System – wie in ihrer Heimat, der DDR, dort sprachen Menschen, die im Westen so auf Erden – die Lösung der Zukunftsauf- sich der SED-Diktatur widersetzten. Es war schon fast gaben ist. Wir müssen in dieser Situation neu denken routinemäßig so, dass auch an diesem Montag die Plätze und gerade das, was der Osten als Erfahrungsvorsprung in der Nikolaikirche schon ab Mittag von Genossen und neu einbringt, aufnehmen. Da ist „Anpassungsleistung“ Kandidaten der SED besetzt waren. für mich kein positiv besetzter Begriff. Doch irgendwie war an diesem Montag vieles anders. (Beifall bei der LINKEN) Es lag etwas in der Luft: Ängste und Sehnsüchte waren körperlich greifbar. Der Gedanke, dass die SED das Ich wünsche mir deshalb, dass wir über diese beson- Massaker am Platz des Himmlischen Friedens in Peking deren Erfahrungen, die im Osten für die ganze Republik gutgeheißen hatte, war in den Köpfen. Gerüchte machten gemacht wurden, noch weiter nachdenken und dass wir die Runde, Kampfgruppen standen bereit, und viele frag- zur Kenntnis nehmen, dass wir natürlich noch eine un- ten sich, ob die chinesische Lösung in Leipzig zur An- gleiche wirtschaftliche und Einkommensentwicklung wendung kommen würde. haben. Wir stagnieren bei zwei Dritteln. Wir erreichen bei den kommunalen Steuern im Osten nur 58 Prozent Rund 70 000 Menschen zogen über den Leipziger In- des Bundesniveaus. Der Knüller ist natürlich das, was nenstadtring und zeigten Mut zur Freiheit. Für viele war Sie sich bei der Mütterrente geleistet haben: 25 Jahre es bis heute die größte Form von Opposition und Wie- deutsche Einheit und dann noch immer eine ungleiche derstand in ihrem Leben. Erstmalig gab es das Gefühl ei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5373

Peter Stein (A) ner selbstgeschaffenen Freiheit. Dabei blieben sie fried- nen öligen Duft. Die Luft roch süßlich und war durch (C) lich ebenso wie die Sicherheitsorgane, die offensichtlich den Qualm der Kohleöfen braun geräuchert. Das hat sich vor dieser Menschenmenge kapitulierten. Örtliche Funk- alles geändert. In Sachsen-Anhalt sah ich herunterge- tionäre und Kommandeure hatten, anders als viele in der wirtschaftete Industrie und um sie herum kaputte Natur Führung der SED, Respekt vor den Demonstrierenden. und Umwelt. Die Lebenserwartung dort lag um bis zu Mit Kerzen und Gebeten, mit Worten wie „Keine Ge- 20 Jahre niedriger als im Westen. walt!“ und „Wir sind das Volk!“ wurde die SED-Diktatur Und heute? Die Infrastruktur ist modernisiert. Die schließlich in die Knie gezwungen. Und die Welt schaute Umwelt ist weitgehend wiederhergestellt. Das Bruttoin- im Fernsehen zu. landsprodukt hat sich mehr als verdoppelt. Die Wirt- Fernsehbilder gingen um die Welt und hatten Signal- schaftskraft ist beachtlich gewachsen, nicht zuletzt auch wirkung. Es folgten für die Menschen in den neuen Län- deshalb, weil viele Menschen in den neuen Ländern ihre dern Tage, Wochen und auch noch zwei Jahre der Ge- Chance über eine zweite und dritte Ausbildung nutzen fühle und Veränderungen. Für die Menschen in den mussten und genutzt haben. Die Abwanderung ist heute neuen Bundesländern änderte sich nämlich fast alles. weitgehend gestoppt. Viele, die in den 90er-Jahren ihre Aber auch für den Westen änderte sich eine Welt, und Heimat verlassen haben und in die alten Länder gegan- zwar zum Besseren. Daher geht an dieser Stelle mein gen sind, kehren wieder zurück. Sachsen-Anhalt, Meck- Dank an die Bundesregierung, die in der heute vorlie- lenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen er- genden Unterrichtung die Leistungen der Menschen in reichten im letzten Jahr bei den Zuzügen mit weit über den neuen und alten Ländern hervorhebt und würdigt. 20 Prozent bundesweit die höchsten Zuwachsraten. Denn auch für mich, der, wie viele wissen, in den alten Die Haushaltslage in den Kommunen hat sich verbes- Bundesländern geboren ist und nach Rostock ging, hat sert. Der Schuldenstand im Osten liegt oft merklich hin- sich vieles geändert. ter dem vergleichbarer westdeutscher Kommunen zu- Die Politik in der gesamten Republik ist bunter ge- rück. worden: Die Grünen hatten sich zu dem Zeitpunkt in den Auch der demografische Wandel soll uns hier kein alten Bundesländern etabliert. Im Osten kam eine neue Wasser in den Wein gießen, sondern er wird als Chance Kraft hinzu, die heute immer noch auf ihrem Weg in die und Herausforderung begriffen. Wir leben länger, wer- alte Richtung weitermarschiert. Mittlerweile gibt es den älter, bleiben auch länger gesund. Ich finde, das ist Koalitionen, die man sich vorher gar nicht hat vorstellen eine gute Sache, und wir sollten uns darüber freuen. können. Die aktuellen Gespräche in Thüringen deuten an, dass möglicherweise ein weiteres Farbenspiel hinzu- (Beifall der Abg. Andrea Wicklein [SPD]) kommt. Ich möchte an das erinnern, was gestern 200 000 (B) (D) Menschen in Leipzig damit auch zum Ausdruck ge- Andererseits müssen wir auch die wirtschaftliche bracht haben. Hier nehme ich Anlehnung an die Bibel Strukturstärke und -schwäche in den Regionen zur und schaue zu den Grünen, zu den Bündnis-90-Leuten: Kenntnis nehmen. Einige wachsen weiter, andere städti- sche und ländliche Regionen hingegen schrumpfen. Wir Bevor der Hahn dreimal gekräht hat, hast du mich brauchen nach wie vor mehr Industriearbeitsplätze und verraten. speziell in der ostdeutschen Industrie mehr Export. Und der Hahn hat für mich gestern in Leipzig gekräht. Der Strukturwandel hat zunächst mit aller Wucht, for- ciert durch die starke Abwanderung, in den Wendezeiten (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die jungen Länder getroffen, war aber auch im Ruhrge- NEN]: Was soll das jetzt?) biet bereits im Gange. Mittlerweile trifft dieser Wandel Ich bin heute 46 Jahre alt und feiere in diesen Tagen Regionen im Norden, im Süden, im Osten und im Wes- mein persönliches Bergfest. Ich bin 23 Jahre in den alten ten der Republik. Viele können mit diesem Prozess nicht Bundesländern groß geworden und jetzt seit 23 Jahren in aus eigener Kraft umgehen. Wir wollen und müssen hier Rostock. Wenn Sie mich fragen, als was ich mich fühle, gezielt unterstützen und helfen. Das ist eine Solidarauf- dann antworte ich: Ich fühle mich als Deutscher, als Eu- gabe, die weiterhin Bestand hat. Wir wollen und müssen ropäer und als Rostocker. Auf das, was die Menschen im gemeinsam Wege finden. Das können wir. Das zeigen vereinigten, freien und demokratischen Deutschland und die vorliegenden Unterrichtungen der letzten Jahre und vor allem in den vergangenen Jahren in Ost und West ge- auch dieses Jahres. meinsam vollbracht haben, bin ich stolz. Denn ich bin Hohes Potenzial sehe ich besonders in der Bildungs- ein Teil dessen. Und jeder von uns hier ist ein Teil dieses und Wissenschaftslandschaft in den neuen Ländern. Als geeinten Deutschlands, weil wir hier leben und Verant- Rostocker Abgeordneter fallen mir natürlich die Rosto- wortung tragen. cker Universität und die beiden anderen Hochschulen in Vor allem die Menschen in den neuen Ländern nutz- Rostock ein. In der Qualität der Forschungsergebnisse ten die Chancen, die sich mit der Wiedervereinigung er- stehen sie den Ergebnissen in anderen Regionen in geben haben, auch wenn sie dazu ihre Heimat verlassen nichts nach. Es soll immer noch westdeutsche Studien- mussten. Die Lebensqualität hat sich spürbar, fühlbar, anfänger geben, die Manschetten vor einem Studium in riechbar angeglichen. Wie sah es für mich aus, als ich den neuen Ländern haben und nur mit Vorbehalten dort- 1990/1991 nach Rostock kam und die Stadt nach der hin kommen. Aber da kann ich nur sagen: Schön dumm; Wende kennenlernte? Es war grau, teilweise ruinenhaft. denn die Erfahrungen in der Praxis sind: Die Universitä- Trabbis tuckerten über marode Straßen, hinterließen ei- ten und Hochschulen in Rostock, Greifswald, Jena oder 5374 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Peter Stein (A) Ilmenau sind nicht nur sehr modern, sondern auch die Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Betreuung ist klasse, und die Hörsäle sind nicht heillos Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- überfüllt. gen! Ich kann es irgendwie noch gar nicht glauben, dass es 25 Jahre her ist, dass das inzwischen so verdammt Die Studienbedingungen sind also sehr gut. Dann sind lange her ist, weil sich die Bilder aus dem Herbst 1989 auch die Möglichkeiten, seine Freizeit dort zu verbrin- – ich glaube, das geht allen so, die dabei waren; meine gen, sehr gut, in Rostock etwa die weißen Strände. Man Kollegin Lazar hat das heute Morgen schon zum Aus- kann nach dem Seminar mit dem Surfbrett an den Strand druck gebracht – so tief ins Gedächtnis eingebrannt ha- gehen. Das hat durchaus seinen Wert und wird auch gern ben. genutzt. Man kann auch mit einer Kiste Bier und der Freundin und dem Kubb-Spiel an den Stadthafen gehen Ich bin für diese Debatte anlässlich dieses Jubiläums und studentisches Leben erleben. Das macht eine Stadt sehr dankbar. Ich bin auch Ihnen, Frau Gleicke, sehr wie Rostock und auch andere Universitätsstädte so be- dankbar – ich komme darauf noch zurück –, weil dieses sonders. Jubiläum für unsere Gesellschaft eine riesengroße Chance ist, über die friedliche Revolution 1989 und vor Wissenschaft, Möglichkeiten und Wohlstand: Diese allem über das, was danach kam, offen zu reden und an- Erkenntnis hat auch im Osten besonders getragen. Der ders darüber zu reden, als das bisher der Fall gewesen Bund und die Länder tragen dieser Situation im Hoch- ist. Manchmal gab es dafür keine Gelegenheit. Haupt- schulpakt 2020 Rechnung, indem sie die Kapazitätser- sächlich lag das aber daran, dass manche Dinge einfach weiterung und -sicherung der Studienplätze im Osten unter den Teppich gekehrt worden sind, über die wir mit- fördern. Damit entlasten sie zugleich die Hochschulen in einander einmal sprechen sollten. den westdeutschen Ländern. Dafür stellt der Bund in den nächsten Jahren bis 2015 insgesamt 950 Millionen Euro Ich bin Ihnen – das hatte ich schon gesagt –, Frau bereit. Das ist ein sehr wesentlicher Beitrag zur weiteren Gleicke, sehr dankbar, dass Sie diesen Bericht zum ers- Entwicklung. ten Mal anders verfasst haben, dass zum ersten Mal in einem Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deut- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schen Einheit tatsächlich der Versuch unternommen neten der SPD) wird, zu erklären, was da vor 25 Jahren und in den 25 Jahren seitdem passiert ist. Die Zahl der Studienanfänger ist enorm gestiegen, näm- lich um das Dreifache. Das Studium ist weiterhin die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beste Grundlage für eine berufliche und materielle Si- und bei der SPD) cherheit. Wir brauchen in Ost und West jeden jungen (B) Menschen mit einer guten Ausbildung. Es ist das erste Mal, dass eine Bundesregierung in einem (D) Bericht zur Deutschen Einheit versucht – wir debattieren Willy Brandt hat gesagt: „Jetzt wächst zusammen, über dieses Thema hier nicht so oft –, eine Art politische was zusammengehört.“ Ich ergänze: Wenn ich als gebür- Zusammenfassung des bisherigen Geschehens zu geben. tiger Rheinländer, aus Rostock kommend, im Münchner Ich glaube, dass es Aufgabe der Politik ist, den Men- Hofbräuhaus bin, ein Hendl bestelle und mich eine säch- schen, den Bürgerinnen und Bürgern eine Einordnung sische Kellnerin fragt, ob ich es mit Mayo oder ohne ha- dieser Ereignisse zu ermöglichen, vor allem denjenigen, ben möchte, dann, so denke ich, ist die Einheit in unse- die nicht persönlich dabei gewesen sind. Ich glaube, das ren Köpfen angekommen. Wir sind ein Volk. Wir wurde in den Vorgängerberichten gar nicht versucht. Der verstehen uns. Mut und der Wille, das zu tun, waren in der Bundesre- gierung nicht vorhanden. Es ist Ihr persönliches Ver- Wenn wir es jetzt noch schaffen, die Menschen, die dienst, dies jetzt begonnen zu haben. Auf das, was ich aus anderen Regionen der Welt zu uns gekommen sind mir für den nächsten Bericht wünsche, komme ich gleich oder noch zu uns kommen, vernünftig zu integrieren, noch zu sprechen. Wir müssen aber endlich mit den ver- dann werden wir auch noch in 50 Jahren gemeinsam gut krampften Bemühungen aufhören, anhand von Statisti- zusammenleben und auf unsere Erfolgsgeschichte ken und Zahlen über verbauten Beton zu erklären, was Deutschland mit Stolz zurückblicken können. da passiert ist. Ich glaube, 25 Jahre danach ist es an der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Zeit, dies zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit gutem Willen und in Wahrnehmung der eigenen Ver- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der antwortung klappt das. Auch ich habe mich schließlich LINKEN) gerne „ossimiliert“, ohne dabei meine rheinische Natur aufzugeben. Ich bin Ihnen dankbar – ich weiß gar nicht, ob Ihnen das bewusst war –, dass Sie diesen Bericht unter den Ti- Herzlichen Dank. tel „Wir sind das Volk“ gestellt haben. „Wir sind das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Volk“ war der Ruf von 1989. Dankbar bin ich auch da- für, dass Sie aufgegriffen haben, was ein wesentlicher Bestandteil der Demonstrationen in der Anfangszeit ge- Präsident Dr. Norbert Lammert: wesen ist: „Wir bleiben hier“. Ein essenzieller Bestand- Nächste Rednerin ist die Kollegin Steffi Lemke für teil meiner persönlichen Biografie – ich bin 1989 in Un- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. garn gewesen, als die Botschaft geöffnet wurde, und bin Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5375

Steffi Lemke (A) danach zurückgefahren – ist, dass wir damals in der An- sprechen. Ansprechen muss man auch den damals ge- (C) fangszeit versucht haben, das Land, in dem wir geboren scheiterten Versuch der Bürgerrechtler, eine gemeinsame wurden, zu reformieren und zu verändern. Dass die deut- Verfassung für diese beiden Staaten zu erreichen, die sche Einheit ein Glücksfall für uns alle gewesen ist, steht sich zusammengeschlossen oder vereinigt hatten bzw. lange vor der Klammer, außer bei ein paar Ewiggestri- bei denen der eine an den anderen angeschlossen wurde. gen. Dass aber eine Bundesregierung in einem Bericht Ich glaube, wir können in diesem Jahr nicht über zur Deutschen Einheit schreibt, dass der Impuls für die 25 Jahre friedliche Revolution reden, ohne zu themati- deutsche Einheit gewesen ist, die DDR zu reformieren, sieren, dass wir heute mit Geheimdiensten konfrontiert ist für mich wirklich ein Fortschritt in dieser Debatte. sind – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wenn man versucht, 25 Jahre später zu erklären, was Frau Kollegin. 1989 passiert ist, dann muss man, da manchmal so lo- ckig und flockig der Eindruck erweckt wird, irgendje- Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mand hat halt demonstriert, betonen: Es sind Zehntau- – ich komme zum Ende, Herr Präsident – und mit ei- sende unter Lebensgefahr auf die Straße gegangen, und nem Spähskandal, der inzwischen selbst die Bundes- zwar in der Anfangszeit nicht, weil sie die D-Mark woll- kanzlerin zu Vergleichen mit der Stasi herausgefordert ten, sondern weil sie Freiheit, Demokratie und Selbstbe- hat. Auch die damit verbundene Aufgabe müssen wir an- stimmung wollten. Das war der Impuls 1989. packen und bewältigen, wenn wir das Erbe der friedli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen Revolution nicht verschenken wollen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Danke. LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Jeder Versuch, das heute 14-, 16- oder 18-Jährigen zu bei der SPD und der LINKEN) erklären, muss fehlschlagen, wenn man das nicht auch mit dem Ruf „Wir bleiben hier“ verbindet. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich fand den Schlagabtausch heute Morgen zwar ei- Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Daniela nerseits bedrückend, denke aber, dass die Debatte insge- Kolbe das Wort. samt vorankommt. Wenn man nicht begreift, dass auch (Beifall bei der SPD) SED-Funktionäre, Stasimitglieder und Armeeangehörige (B) einen Anteil daran hatten, und zwar einen wirklich rele- (D) vanten Anteil, dass das im Jahr 1989 friedlich abgegan- Daniela Kolbe (SPD): gen ist, dann muss jeder Erklärungsversuch für die fried- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liche Revolution scheitern. Kollegen! Sehr geehrte Ostbeauftragte der Bundesregie- rung, liebe Iris Gleicke! Ich gratuliere Ihnen ganz herz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, lich zu dem ersten von Ihnen verantworteten Bericht bei der SPD und der LINKEN) zum Stand der Deutschen Einheit. Es ist im 25. Jahr nach Auf beiden Seiten der Demonstrationsfelder haben sich der friedlichen Revolution ein besonderer, und er setzt teilweise Freunde gegenübergestanden. Das waren teil- mit der Würdigung der Bürgerrechtsbewegung und der weise Familienangehörige. Das waren Freunde, die man Lebensleistung der Ostdeutschen die richtigen Zeichen. ein paar Tage zuvor am Wochenende getroffen hatte. Wir Ich finde, Frau Lemke hat es gerade sehr eindrücklich waren uns ziemlich sicher, dass es Tausende in diesen deutlich gemacht. Staatsorganen gab, die niemals auf uns geschossen hät- 70 000 Menschen protestierten gestern vor 25 Jahren ten. Aber ob es genug sind, das wussten wir nicht, als in meiner Heimatstadt Leipzig gegen das SED-Regime, wir da rausgegangen sind. so viele wie bis dahin noch an keinem der vorangegan- Ich frage mich andererseits, Frau Gleicke: Warum erst genen Montage. Insbesondere die Initiatoren taten dies jetzt? Warum ist das Anerkennen der ostdeutschen Bio- unter massiven persönlichen Risiken. Viele, wenn nicht grafien in einem solchen Bericht zur Deutschen Einheit alle sind mit riesengroßer Angst dorthin gegangen. Ich erst jetzt möglich? Wie weit könnten wir in unserem ge- war damals neun Jahre alt; ich war nicht dabei. Aber ich sellschaftlichen Diskurs zum Zusammenwachsen sein, bin noch heute beeindruckt und eigentlich sogar erschro- wenn das früher möglich gewesen wäre? cken angesichts dessen, was diese Bürgerrechtler auf sich und ihre Familien genommen haben, welche Risi- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ken sie persönlich eingegangen sind, nicht wissend, ob SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LIN- sie erfolgreich sein würden, nicht wissend, was daraus KEN) resultieren würde. Ich will zwei Punkte ansprechen, die im Bericht ein- Wir wissen heute, dass sie erfolgreich waren, und der fach fehlen; das empfinde ich als äußerst mangelhaft. 9. Oktober 1989 ist bis heute der Tag der friedlichen Re- Das ist einmal das offene Thematisieren von Dingen, die volution. Es ist das Wunder jener Tage des Herbstes schiefgelaufen sind. Das Stichwort „Treuhand“ fiel 1989, dass diese Revolution friedlich begonnen hat und heute schon einmal. Das muss man aus meiner Sicht an- auch friedlich geendet ist. Dieses Wunder gibt der Revo- 5376 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Daniela Kolbe (A) lution bis heute ihren Namen. Dass der friedliche Verlauf hungen nicht vergessen. Wir sollten nicht mit dem Hin- (C) etwas Besonderes war, zeigt sich für mich ganz stark an tern einreißen, was wir und meine Elterngeneration den aktuellen Umstürzen, die wir in der Ukraine und in aufgebaut haben. anderen Teilen der Welt sehen. Ich werbe dafür, dass ein breiter Konsens aller Bun- Ursächlich für den Fall der Mauer war das Eintreten desländer zustande kommt und wir uns, statt auf Ellen- der Demonstrierenden gegen das SED-Regime. Die bogenföderalismus und auf Steuer- und Sozialwettlauf Mauer wurde vom Osten her eingedrückt. Diese Leis- zu setzen, an unserem Verfassungsgebot orientieren, tung der Menschen in Abrede zu stellen, wäre töricht gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland und auch geschichtsvergessen. Das erste Loch in der – unabhängig von der Himmelsrichtung – herzustellen. Mauer setzte aber – das hat der frühere Bürgerrechtler (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Thomas Krüger ganz treffend formuliert – Willy Brandt der LINKEN) mit seiner Ost- und Friedenspolitik. Der Blick in den Bericht verrät, was man auch spürt: (Beifall bei der SPD) Im Osten geht die Arbeitslosigkeit seit 2005 spürbar zu- Es ist auch richtig, dass die DDR nicht nur politisch rück. Das ist toll und wichtig. Denn wir alle miteinander am Ende war, sondern auch ökonomisch. wissen, was Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit Ende der 90er-Jahre in ganzen Landstrichen angerichtet (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Der haben. Gleichzeitig sehen wir aber auch da noch eine Sozialismus, genau genommen!) große Herausforderung. Es gibt immer noch 1 Million Ich kann selber noch erinnern, wie es in der DDR ausge- Menschen in Deutschland, die langzeitarbeitslos sind. sehen und gerochen hat. Aus diesem heruntergewirt- Die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich und erweist schafteten Staat ist innerhalb von 25 Jahren eine Region sich als hartnäckig. Das ist kein ostdeutsches Problem. geworden, die ökonomisch im Mittelfeld Europas spielt. Wir sehen die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit auch Die KfW sprach vor kurzem vom neuen Wirtschafts- in vielen anderen Regionen, insbesondere bei Ungelern- wunder. Ich gebe zu, dass ich diese euphemistische Be- ten und bei über 55-Jährigen. Viele Programme, die schreibung nicht teile, denn dafür sind zu viele Men- diese Menschen betreffen, sind in der Vergangenheit ge- schen in diesem Prozess gescheitert. Gleichwohl zeigt kürzt worden oder laufen aus. Ich bin ganz klar der Mei- es, was durch den Optimismus und die Tatkraft der Ost- nung: Wir brauchen für diese Langzeitarbeitslosen wie- deutschen gemeinsam mit der historisch beispiellosen der mehr Vermittlungsmöglichkeiten. Wir brauchen Solidarität der Westdeutschen zuwege gebracht werden einen sozialen Arbeitsmarkt nicht nur für Ostdeutsch- konnte. land, sondern überall dort, wo Langzeitarbeitslosigkeit (B) Thema ist. Die Papiere liegen auf dem Tisch. Ein solches (D) Das alles hat zu einer beachtlichen Aufbauleistung Programm würde insbesondere der Generation helfen, geführt. Die neuen Länder liegen kaufkraftbereinigt die ganz stark von den Transformationen insbesondere beim Pro-Kopf-Einkommen ungefähr auf der Höhe in den neuen Bundesländern betroffen war. Italiens. Die Investitionsentwicklung ist dynamisch, und in manchen Bereichen steht der Osten besser da als die Lassen Sie uns deshalb diese und andere verbleibende westdeutschen Bundesländer. Ich nenne als Beispiele die Herausforderungen gemeinsam annehmen. Das wird ei- Kinderbetreuungssituation oder auch die Erwerbsbeteili- nen Beitrag zur Vollendung der inneren Einheit leisten. gung von Frauen. Frauen arbeiten in Ostdeutschland Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. häufiger und mehr Stunden als in Westdeutschland. Nicht zu vergessen ist, finde ich, dass viele dieser Er- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie folge aufgrund des Engagements, der Tatkraft und auch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE der Flexibilität der Ostdeutschen zustande gekommen GRÜNEN) sind. Möglich wurden sie aber nur durch die gesamtdeut- sche Solidarität. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nächste Rednerin ist die Kollegin Jana Schimke für der CDU/CSU) die CDU/CSU-Fraktion. Ich finde es aber realitätsfern, zu glauben, dass der (Beifall bei der CDU/CSU) Prozess abgeschlossen ist. Die Ostländer sind immer noch schwach, wenn es um die Steuereinnahmen geht. Jana Schimke (CDU/CSU): Wir haben ganz wenige Sitze von großen Unternehmen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe in den neuen Bundesländern. Die Steuerkraft der ost- Gäste auf den Besuchertribünen! Die Wiedervereinigung deutschen Bundesländer beträgt gerade einmal 62 Pro- zählt zu den glücklichsten Momenten unserer deutschen zent der Steuerkraft der finanzschwachen westdeutschen Geschichte. Deshalb haben diese Tage, an denen wir uns Bundesländer. an jene Menschen in der damaligen DDR erinnern, die für demokratische Grundrechte auf die Straße gingen, Wir müssen daher diese strukturschwachen Regionen auch nach 25 Jahren nichts an Faszination verloren. auch über 2019 hinaus weiter unterstützen, nicht nach Himmelsrichtungen, sondern am jeweiligen Bedarf Wir können stolz darauf sein, was wir gemeinsam für orientiert. Das dürfen wir auch in den aktuell stattfinden- unser Land und insbesondere auch für Ostdeutschland den Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzbezie- geschaffen haben. Der Traum der Menschen von Demo- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5377

Jana Schimke (A) kratie und Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, einem Auch wird es künftig darum gehen, die Stärken der (C) selbstbestimmten Leben, zu dem wohlgemerkt auch die neuen Länder herauszustellen, positive Beispiele zu be- freie Berufswahl oder auch die Schaffung von Eigentum nennen und neue Perspektiven zu schaffen; denn es gibt zählt, hat sich erfüllt. Der Aufbau Ost als gesamtgesell- auch Erfolgsgeschichten. Denken Sie an die Spitzen- schaftlicher solidarischer Kraftakt hat Erhebliches ge- position einiger südlicher ostdeutscher Bundesländer bei leistet. Fährt man heute durch die neuen Bundesländer, der Bildungspolitik. Oder denken Sie an das Bundes- trifft man auf eine moderne Infrastruktur, auf sanierte In- land, das in Deutschland die geringste Pro-Kopf-Ver- nenstädte oder neue Universitäten, die sich sehen lassen schuldung hat. Das ist nämlich Sachsen. können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eine besondere Leistung der deutschen Einheit war ohne Frage auch die Übertragung der sozialen Siche- Die Region um Berlin zählt aber – das möchte ich als rungssysteme, von der Rente bis zur Arbeitslosenver- Brandenburger Abgeordnete auch gesagt haben; dazu sicherung. Damit meine ich nicht nur die Übertragung gehört auch mein Wahlkreis – zu den dynamischsten in von Beitragsmodalitäten und von Leistungen. In der ganz Deutschland; darauf hat kürzlich sogar die OECD Rentenversicherung werden bis heute in den neuen Bun- verwiesen. Ein wahrlicher Standortfaktor sowohl für die desländern die Renten mit dem Hochwertungsfaktor auf- Wirtschaft als auch für die Menschen, die in den neuen gewertet. Alles andere hätte nach klassischer Berech- Bundesländern leben, sind aber auch die guten Rahmen- nung die Renten im Osten ins Bodenlose fallen lassen. bedingungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Be- Da es aber gerade in der Rentenversicherung darum ruf. Dabei handelt es sich nicht etwa um einen Neben- geht, Lebensleistung anzuerkennen und abzubilden, ha- effekt. Die gute Kitastruktur zählt zu den Hauptgründen, ben sich die Mütter und Väter der deutschen Einheit zu warum sich die Menschen heute entscheiden, entweder diesem solidarischen Kraftakt entschieden. Dafür gilt ih- in der Region zu bleiben oder sogar zurückzukehren. nen unser aller Dank. Aus Sicht der Unternehmen macht sich vor allem eines bemerkbar: Frauen sind in den neuen Ländern öfter und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) auch länger erwerbstätig. Das zahlt sich natürlich später auch bei der Rente aus. Dennoch – das ist heute bereits mehrfach angeklun- gen – darf man natürlich nicht dem Glauben unter- Ich habe jetzt viel über Herausforderungen, Fakten liegen, die Lebensverhältnisse in Ost und West seien und Zahlen gesprochen. Es mag sein, dass einigen die vollständig angeglichen. Woran liegt das? 40 Jahre Plan- Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer und die An- wirtschaft haben ihre Spuren hinterlassen. Das spüren gleichung an die Altbundesländer, gerade was die wirt- wir noch heute. Deshalb bleibt es bis heute eine der schaftliche Stärke angeht, nicht schnell genug geht. Ich (B) wichtigsten Aufgaben des Aufbaus Ost, hier noch stär- stehe allerdings nicht hier, um in diesen Tenor einzu- (D) ker aufzuholen. Der aktuelle Bericht zum Stand der stimmen. Wir haben in den letzten 25 Jahren vieles gut Deutschen Einheit macht genau dies deutlich. So fehlt es gemacht und gut gemeistert. Erinnern Sie sich daran, in den neuen Ländern trotz enormer Investitionen insge- welche Herkulesaufgabe die deutsche Einheit für uns samt noch immer an jener Stärke, die es gerade braucht, alle war und noch immer ist! Die Wendezeit war eine der um mitzuhalten. Das zeigt sich beim Bruttoinlandspro- prägendsten Erfahrungen meiner eigenen Kindheit und dukt, beim Steueraufkommen oder bei den Löhnen und Jugend. Diese Zeit hat mich damals zur Politik gebracht. Gehältern; die Kolleginnen und Kollegen haben dazu be- Ich habe ihr später meine Ausbildung und meinen Beruf reits viel gesagt. Die Kennzahlen verweisen aber auch gewidmet. Trotz aller Unsicherheiten und allem Neuen, auf eine noch junge, klein- und mittelständische Wirt- was die Zeit mit sich brachte, begleitete meine Familie schaft in den neuen Bundesländern. So sind die meisten und mich immer eines: die überwältigende Freude da- Unternehmen bei uns in Ostdeutschland höchstens rüber, endlich frei zu sein in all seinen Entscheidungen, 25 Jahre alt. Industrielle Strukturen oder eine krisener- sowie das tiefe Vertrauen und der Glaube an die eigenen probte Firmengeschichte von 100 Jahren und mehr gibt Fähigkeiten. Damals hieß es: Wer sich anstrengt, der es eher selten. wird auch belohnt. – Diese Worte sind für mich Sinnbild dessen, was die friedliche Revolution 1989 auch ermög- 40 Jahre DDR zeigen sich auch bei der persönlichen lichte: Leistungsgerechtigkeit, Meinungsfreiheit und Ei- Situation der Menschen in den neuen Bundesländern. So genverantwortung. ist das Vermögen privater Haushalte in Ostdeutschland heute noch immer halb so hoch wie das in Westdeutsch- Deshalb gibt es auch Dinge, die mich heutzutage land. Obwohl in beiden Landesteilen der Immobilienbe- nachdenklich werden lassen. Wenn wir vom Mauerfall sitz die wichtigste Vermögensform ist – wir selbst bauen und von der Wiedervereinigung sprechen, haben wir si- unsere Altersvorsorge darauf auf –, lebt nur ein knappes cherlich immer wieder jene Menschen vor Augen, die Drittel der ostdeutschen Haushalte heute im selbst ge- sich in der damaligen DDR unter großen persönlichen nutzten Wohneigentum. Gemessen an den Schwierigkei- Opfern gegen das SED-Regime aufgelehnt und die ten vor 1990, Eigentum aufzubauen, überraschen diese Mauer zum Einsturz gebracht haben. Viele davon haben Werte natürlich nicht. Sie zeigen aber auch, dass ein ihr Leben aufs Spiel gesetzt und es mitunter auch verlo- Vierteljahrhundert manchmal nicht genügt, die Spuren ren. Die Menschen in der damaligen DDR haben weder von 40 Jahren zu überwinden. Unser Handeln sollte des- ihren Leib noch ihr Leben geschont, um einen System- halb darauf ausgerichtet sein, diese Unterschiede durch wechsel herbeizuführen. Sie haben für Demokratie, freie eine kluge Politik weiter abzubauen. Meinungsäußerung, politische Mitgestaltung und ein 5378 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Jana Schimke (A) selbstbestimmtes Leben gekämpft. Erst der Mauerfall Jana Schimke (CDU/CSU): (C) und die deutsche Wiedervereinigung haben das alles Ich bin sofort fertig. – Es geht darum, meine Damen möglich gemacht. und Herren, dass wir diese Leistung wieder mehr hono- rieren und unsere Politik daran ausrichten. Es ist noch gar nicht so lange her, da fanden in Deutschland Europa- und Kommunalwahlen statt. Erst Deswegen haben der Tag der Deutschen Einheit und kürzlich brachten wir die Landtagswahlen in Branden- die Erinnerung an die Geschehnisse dieser Tage für mich burg, Sachsen und Thüringen hinter uns. Die Wahlbetei- bis heute nichts an Faszination, an Begeisterung, aber ligung – da möchte ich auf den Punkt kommen – war er- auch an Demut verloren. schreckend gering. Sie lag mitunter bei weniger als Vielen Dank. 50 Prozent. Bei den Landtagswahlen in meinem Heimat- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) land Brandenburg haben weniger als die Hälfte aller Wählerinnen und Wähler von ihrem Wahlrecht Ge- brauch gemacht. Das, wofür die Ostdeutschen 1989 auf Präsident Dr. Norbert Lammert: die Straße gegangen sind – die Teilnahme an freien Wah- Sabine Poschmann ist die nächste Rednerin für die len, die Möglichkeit, selbst wählen zu gehen und mitzu- SPD-Fraktion. entscheiden –, wird nun immer weniger wahrgenommen. (Beifall bei der SPD) Ich frage: Wo ist in unserer Gesellschaft der Wunsch nach politischer Mitbestimmung geblieben? Uns als De- Sabine Poschmann (SPD): mokraten muss diese Entwicklung beunruhigen; denn Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und von einer niedrigen Wahlbeteiligung profitieren ledig- Kollegen! Mein achtjähriger Sohn fragte mich in der lich die politischen Ränder. letzten Woche: Mama, was ist eigentlich der Tag der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deutschen Einheit? An dieser Stelle wird einem be- neten der SPD) wusst: Unseren Kindern – zumal den jungen – ist der Gedanke an ein geteiltes Deutschland schon völlig Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir die Entwick- fremd. In ihren Köpfen hat nie eine Mauer gestanden. lung, welche die ostdeutschen Bundesländer im letzten 25 Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir, haben Vierteljahrhundert genommen haben, nicht zerreden und Menschen in Deutschland vieles erreicht und die Le- madig machen. Unsere Aufgabe als Politiker wird es bensverhältnisse teilweise angeglichen. Wir dürfen nun aber künftig immer wieder sein, darzulegen und vor Au- nicht zulassen, dass wir durch einen Streit ums Geld gen zu führen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, neue Mauern in unseren Köpfen aufrichten. (B) (D) seine Meinung frei zu äußern, frei wählen zu gehen und (Beifall bei der SPD) über sein Leben selbst und eigenverantwortlich zu be- stimmen. Ein Blick in die übrige Welt, meine Damen Wir dürfen nicht zulassen, dass Ost- und Westdeutsch- und Herren, genügt dafür. land in einer sogenannten Gerechtigkeitsdebatte gegen- einander ausgespielt werden. Sie ahnen es: Ich rede über (Beifall bei der CDU/CSU) die Fortentwicklung des Solidarpakts II, der 2019 endet. Aber es gibt auch Städte und Regionen in Ostdeutsch- Wir sollten die Menschen immer wieder daran erin- land, denen es schlecht geht. Genauso gibt es solche in nern, was Unfreiheit bedeutet und wie wichtig gerade Westdeutschland. Hamburg und München sind trendy, die Wahlbeteiligung für den Erhalt unserer Freiheit und während die hochverschuldeten Städte im Ruhrgebiet Demokratie ist. Das Argument „Mit meiner Stimme mit Nothaushalten hantieren und nicht mehr wissen, wie kann ich ja eh nichts bewirken“ zählt nicht. Jeder kann sie Schulen, Straßen, Schwimmbäder und Bibliotheken sich einbringen, ob in einer Partei, einer Bürgerinitiative bezahlen sollen. Ihre Infrastruktur zerfällt im wahrsten oder einem Verein. Es kommt aber darauf an, mitzuma- Sinne des Wortes. chen. Das Mindeste, was man für sein Land tun kann, ist, wählen zu gehen und damit ein ureigenes Bürger- Dabei hat das Ruhrgebiet viel erreicht. Aus einer von recht, aber auch eine Bürgerpflicht wahrzunehmen. Kohle und Stahl geprägten Industrieregion ist eine For- schungslandschaft geworden, ein innovativer Wirtschafts- In Gesprächen mit den Menschen in meinem Wahl- raum, der für junge Hightechfirmen ebenso attraktiv ist kreis merke ich sehr oft, dass es ein sehr feines Gespür wie für moderne Logistikbetriebe. Noch 1970 waren für Gerechtigkeit gibt. Damit meine ich nicht Vertei- 60 Prozent aller Beschäftigten im produzierenden Ge- lungsgerechtigkeit, Gleichmacherei, sondern Leistungs- werbe tätig und 40 Prozent im Dienstleistungssektor. Das gerechtigkeit. Es ist ein Vertrauen in ein Gerechtigkeits- hat sich komplett gedreht. Ich finde, die Region hat eine empfinden, das nicht sofort an staatliche Umverteilung große Leistung vollbracht. denkt, sondern an diejenigen, die sich anstrengen, selber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ihr Schicksal in die Hand nehmen und ihren Beitrag in der CDU/CSU) unserer Gesellschaft leisten. Leider müssen wir jetzt feststellen, dass der Struktur- wandel an Fahrt verloren hat. Die Arbeitslosenquote im Präsident Dr. Norbert Lammert: Ruhrgebiet liegt bei 10,7 Prozent, der Bundesdurchschnitt Frau Kollegin. bei 6,5 Prozent. Viele Städte ächzen unter horrenden So- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5379

Sabine Poschmann (A) ziallasten. Meine Heimatstadt beispielsweise hatten ein ungutes Gefühl, aber die Freude überwog. (C) kann ihren Verpflichtungen aus den Einheitslasten nur Schließlich kamen wir zum Brandenburger Tor und noch nachkommen, weil sie seit dem Jahr 2000 dafür mussten dort über das Monstrum Mauer klettern, um zu- Kredite aufnimmt. Wenn der Solidarpakt 2019 ausgelau- rück in den Westteil zu gelangen. fen ist, hat Dortmund die Hälfte seiner Zahlungen, rund 370 Millionen Euro, über Kredite finanziert. In der Nacht des 9. November war noch völlig unge- wiss, wohin die Reise gehen würde. Aber kurz darauf In anderen Städten des Ruhrgebietes ist die Lage noch war klar: Der Geist der Freiheit hat sich durchgesetzt, dramatischer. Oberhausen beispielsweise hat einen Not- und das Rad der Geschichte ließ sich nicht mehr zurück- haushalt und 2 Milliarden Euro Schulden, mehr als die drehen. So habe ich in der Nacht des 9. November eine gesamte Infrastruktur der Stadt wert ist. Dennoch hat Sternstunde der deutschen Geschichte live miterleben Oberhausen in den vergangenen 20 Jahren 263 Millio- dürfen. Die Bilder und diese Zeit bewegen mich noch nen Euro in den Solidarpakt eingespeist, ebenfalls über heute sehr. Kredite. Die Arbeitslosenquote in Jena lag im August bei 7,2 Prozent; das ist fast westdeutscher Schnitt. In Aber, meine Damen und Herren, eine ganze Genera- Oberhausen lag sie bei 12 Prozent; das ist ostdeutscher tion von Deutschen kennt schon aufgrund ihres Lebens- Schnitt. alters den real existierenden Sozialismus, das umfas- sende staatliche Unterdrückungs- und Unrechtssystem Wer soll nun wen fördern? Die Antwort ist: Wir brau- nur aus den Geschichtsbüchern. 25 Jahre nach dem Ende chen kein Fördersystem, das zwischen Ostdeutschland der SED-Diktatur verblasst auch in der Erlebnisgenera- und Westdeutschland unterscheidet. Wir brauchen ein tion bei vielen die Erinnerung an den Todesstreifen, an Fördersystem, das strukturschwachen Städten und Re- die Staatssicherheit, an die sozialistische Mangelwirt- gionen in ganz Deutschland auf die Beine hilft, und das schaft, an Zwangsarbeit und Zwangsadoptionen. in gleichem Maße. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Umso wichtiger ist deshalb eine authentische Gedenk- der CDU/CSU und des Abg. und Erinnerungskultur. Wir müssen ein Bewusstsein dafür [DIE LINKE]) schaffen, dass Werte wie Freiheit und Demokratie, die uns so viel bedeuten, eben nicht selbstverständlich sind, und Es geht nicht um die Frage Jena oder Dortmund, Bre- wir müssen verhindern, dass Ewiggestrige immer wieder men oder Brandenburg, es geht um die Frage, wie wir durch abstruse Aufmärsche Geschichte umschreiben die Lebensbedingungen und die Bildungschancen aller oder Geschichtsklitterung betreiben wollen. Meine Da- Menschen in Deutschland verbessern, unabhängig da- men und Herren, das dürfen wir nicht durchgehen lassen. von, wo sie leben. (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Herzlichen Dank. Deshalb ist es gut, dass der Jahresbericht der Bundes- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten regierung zum Stand der Deutschen Einheit 2014 an der CDU/CSU) herausgehobener Stelle die historischen Leistungen der Bürgerrechtler in der damaligen DDR würdigt, die so Präsident Dr. Norbert Lammert: couragiert für Freiheit, für Demokratie und Menschen- Nun hat Kai Wegner für die CDU/CSU-Fraktion das rechte auf die Straße gegangen sind. Wort. Aber der Weg zur Wiedervereinigung nach dem Fall (Beifall bei der CDU/CSU) der Mauer war alles andere als zwangsläufig. Es be- durfte schon der zupackenden Art, in der Kanzler Kai Wegner (CDU/CSU): Helmut Kohl den wehenden Mantel der Geschichte er- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und griff und auf die Einheit der beiden deutschen Teilstaa- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr ten drängte. Für diese historischen Verdienste um die dankbar, zum Stand der deutschen Einheit reden zu dür- Wiedervereinigung, für die zupackende Art, dafür, dass fen, exakt 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. er dieses klares Ziel im Blick hatte, gebührt Helmut Als Berliner bin ich in Spandau gewissermaßen im Kohl, dem Kanzler der Einheit, unser aller Dank. Schatten dieser Mauer aufgewachsen, dem Symbol der deutschen Teilung. Niemals werde ich den 9. November (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. 1989 vergessen, jene wunderbare, kalte Novembernacht, Wolfgang Tiefensee [SPD]) als Hunderttausende Deutsche von Ost nach West bran- Die Angleichung der Lebensverhältnisse erwies sich deten, die Kontrollpunkte an der Berliner Mauer über- als ein komplizierter und langwieriger Prozess. Immer- rannten, sich wildfremde Menschen in die Arme fielen hin ging es um die Harmonisierung zweier Gesell- und eine vorweggenommene Wiedervereinigung gerade schafts- und Wirtschaftssysteme, die sich mehr als hier in Berlin feierten. 40 Jahre lang wie Feuer und Wasser gegenüberstanden. Als damals 17-Jähriger konnte ich zusammen mit Vor diesem Hintergrund ist Beachtliches erreicht wor- Freunden am Grenzübergang Invalidenstraße erstmals den: Eine abgeschirmte sozialistische Planwirtschaft den Ostteil meiner Heimatstadt Berlin besuchen. Wir wurde in die bewährte soziale Marktwirtschaft über- gingen über die Friedrichstraße, sahen Truppen aufmar- führt. Die verheerende Umweltverschmutzung wurde schieren, wir erblickten Wasserwerfer, Gewehre. Wir beseitigt. In weiten Teilen der neuen Länder ist moderne 5380 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Kai Wegner (A) Infrastruktur vorhanden. Die Wohnsituation wurde Deutschlands in Frieden und Freiheit als Geschenk be- (C) durchgreifend verbessert. trachten, über das wir uns nicht nur am 3. Oktober, son- dern an jedem Tag des Jahres von Herzen freuen sollten. Auch die wirtschaftliche Entwicklung, liebe Kolle- ginnen und Kollegen, kann sich sehen lassen. Die neuen Wenn wir heute viel über die Bürgerrechtler des Länder haben ihre Wirtschaftsleistung seit 1991 verdop- Herbstes 1989 gesprochen haben, sie gewürdigt haben, pelt. Sie gehören heute schon zum Mittelfeld Europas dann, finde ich, sollten wir an diesem Tag die Männer und stehen erheblich besser da als alle anderen ehemals und Frauen des 17. Juni nicht vergessen. sozialistischen Staaten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Die Arbeitslosigkeit ist in den neuen Ländern heute Wolfgang Tiefensee [SPD]) auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Arbeitslosigkeit zwischen Rü- Die Männer und Frauen des 17. Juni haben den Anfang gen und dem Fichtelberg trotzdem noch immer deutlich gemacht, die Männer und Frauen des 17. Juni sind auf- höher ist als in den alten Ländern. Wo es keine Perspek- gestanden mit Mut. Sie wurden niedergeknüppelt, er- tiven auf Arbeit gibt, zieht die Jugend weg, und ganze mordet. Das, was die Männer und Frauen des 17. Juni Landstriche drohen zu veröden. Deshalb müssen wir die begonnen haben, wurde am 9. November 1989 endlich Wachstumsdynamik, die Innovationskraft und die Inter- erreicht und umgesetzt. Deswegen dürfen wir auch diese nationalisierung der Wirtschaft in den neuen Ländern Männer und Frauen nicht vergessen. weiter stärken. Hier haben wir weitere Herausforderun- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. gen zu bewältigen, aber wir können mit Stolz auf das bli- cken, was wir bis heute erreicht haben, meine Damen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und Herren. Die Berliner Mauer als Symbol der deutschen Teilung Präsident Dr. Norbert Lammert: ist vor 25 Jahren gefallen. An ihre Stelle sind heute das Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Reichstagsgebäude und das Brandenburger Tor als Zei- Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion. chen der deutschen Einheit getreten. Aus Berlin, der Frontstadt des Kalten Krieges, wurde die Hauptstadt ei- (Beifall bei der CDU/CSU) nes geeinten Deutschlands, das mit sich im Reinen ist, das mit seinen Nachbarn im Frieden lebt, das weltoffen Arnold Vaatz (CDU/CSU): und tolerant ist. Die über Jahrzehnte geteilte Stadt ist zu- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsi- sammengewachsen. National wie international ist Berlin dent! Ich möchte erst einmal etwas zur Einordnung die- (B) heute die anerkannte Hauptstadt Deutschlands. ses Ereignisses sagen, das wir in den letzten Tagen ge- (D) feiert haben, insbesondere gestern. Wenn Sie in der Als politisches und kulturelles Zentrum ist Berlin zu- Geschichte unseres Landes zurückblättern – Sie können dem die Visitenkarte unseres Landes. Damit hat Berlin 50 Jahre nehmen, Sie können 100 Jahre nehmen, Sie eine dienende Funktion für ganz Deutschland, meine können 500 Jahre nehmen – und ein Ereignis suchen, das Damen und Herren. Diese dienende Funktion als politi- eine ähnliche Dimension wie dieses hatte, werden Sie sches und kulturelles Zentrum Deutschlands gilt es wei- bei der ganzen Aktion nichts finden. ter zu stärken; denn eine gute Entwicklung Berlins steht sinnbildlich für eine gute Entwicklung Deutschlands. (Zuruf von der LINKEN: Gutenberg-Bibel!) Vor über 20 Jahren führte der Deutsche Bundestag die Sie werden aus dem ganz einfachen Grund nichts finden, Hauptstadtdebatte. Damals ging es darum, dass Berlin weil eine Reihe von Parametern bei zweifellos ganz we- wieder Hauptstadt Deutschlands wird. Meine Damen sentlichen Dingen in unserer Geschichte nicht erfüllt wa- und Herren, ich wünsche mir eine zweite Hauptstadtde- ren, nämlich erstens: Es ist bei einem Befreiungsversuch batte – nicht mehr über das Ob, sondern über das Wie kein Tropfen Blut geflossen. – Das ist ganz wesentlich. der Berliner Hauptstadtfunktion. Wie kann Berlin seiner dienenden Funktion für ganz Deutschland noch besser Zweitens. Der Befreiungsversuch war anders als bei- gerecht werden? Wie kann die ganze Republik noch stär- spielsweise in der Revolution 1848 erfolgreich. Er hatte ker von ihrer Hauptstadt profitieren? Was kann Berlin Erfolg. als Hauptstadt für ganz Deutschland leisten? – Meine Drittens. Die Dimension hat alles bisher Dagewesene Damen und Herren, ich glaube, es lohnt sich, darüber zu gesprengt. Sie hat nicht nur Europa verändert, sie hat Be- diskutieren, deutung für die ganze Welt gehabt. (Zuruf von der CDU/CSU: Flughafen zum Meine Damen und Herren, das ist die Einordnung, Beispiel!) das ist die Dimension, über die wir hier reden. es lohnt sich, darüber zu streiten, offen und über die Par- teigrenzen hinweg. Denn ich bin mir ganz sicher: Berlin Herr Bundestagspräsident, es ist richtig gewesen, was ist bereit, noch mehr Verantwortung für unser gesamtes Sie zur Präsenz gestern am Tag in Leipzig gesagt haben. wiedervereinigtes Land zu übernehmen. Es wäre aber wahrscheinlich auch nicht falsch gewesen, wenn wir den gestrigen Plenartag hätten ausfallen lassen Meine Damen und Herren, nach der wechselvollen können und nach Leipzig gefahren wären. Das hätten Geschichte des 20. Jahrhunderts sollten wir die Einheit wir als Deutscher Bundestag vermutlich überlebt. 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Arnold Vaatz (A) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- digt, damit Sie immer mit Häme und Spott auf die Dinge (C) wie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN eingehen konnten, die noch nicht erreicht waren. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist jetzt aber Küchenpsychologie!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Vaatz, ich teile sofort Ihre Einschät- Das ist Ihre wirkliche Rolle. zung, dass der Bundestag das überlebt hätte. Mir ist aber (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Dietmar ein entsprechender Antrag nicht erinnerlich. Bartsch [DIE LINKE]: Unsinn! Sagen Sie das (Heiterkeit bei der LINKEN und beim BÜND- den Oberbürgermeistern von Leipzig!) NIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall der Abg. Meine Damen und Herren, ich bin im Übrigen wie Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Helmut Kohl auch der Auffassung, Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die sächsische Staatskanzlei hat uns (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Auf- nicht eingeladen!) passen! Frau Honecker ruft!) dass es damals nicht der Freundlichkeit und der Güte der Arnold Vaatz (CDU/CSU): Sowjetführung zu verdanken war, dass sie uns gewähren Das weiß ich. Sie haben dem zweiten Satz, den ich ließ, sondern in erster Linie ihrer Schwäche. Anderer- dazu sagen wollte – das war ein Wort zur Selbstkritik –, seits ist es aber auch so – das hat auch Helmut Kohl am vorgegriffen. Mir ist es auch nicht eingefallen. Also 19. Dezember vor der Frauenkirche in Dresden ganz Schwamm drüber. Es war aber keine Glanzleistung, deutlich gesagt –: Ohne den unbedingten Willen zur Ge- meine Damen und Herren. Das müssen wir schon einmal waltlosigkeit und ohne die Tatsache, dass wir damals zugeben. Rachegelüste und Ähnliches im Keim erstickt haben – wir wollten uns ja nicht an jemandem rächen, sondern (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aus dieser Situation heraus –, wäre die ganze Sache ver- NEN]: Die sächsische Staatskanzlei hätte uns mutlich nicht friedlich geblieben. Wenn sie nicht fried- einladen müssen, Herr Vaatz!) lich geblieben wäre, dann wäre, glaube ich, eine deut- Jetzt hat sich bei den Vorrednern so viel ereignet, dass sche Wiedervereinigung nicht gelungen; das muss ganz ich mein Manuskript praktisch wegschmeißen kann. klar sein. Als Erstes: Herr Bartsch, Sie haben mit großem Pa- (Beifall bei der CDU/CSU) thos eingeklagt, dass es noch keine gleichen Lebensver- Jetzt gehe ich einmal kurz auf das ein, was Frau Lazar (B) hältnisse zwischen Ost und West gibt, obwohl das in der und Frau Lemke gesagt haben. Wissen Sie, das Problem (D) Verfassung festgeschrieben ist. ist folgendes: Sicher haben damals eine Reihe von SED- (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Gleich- Leuten eingelenkt und ihre Genossen gemahnt, dass sie wertig!) ihre Waffen nicht auspacken sollen; (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Festschreibung in der Verfassung allein nutzt nichts, NEN]: Das gehört doch mit dazu!) denn es bedarf dazu gewisser Grundlagen. Wissen Sie, wir hätten diese gleichen Lebensverhältnisse zwischen aber dafür, dass ein Mensch oder eine Partei nicht mor- Ost und West schon längst, wenn es keine SED und det oder nicht morden lässt, muss man ihm bzw. ihr nicht keine DDR gegeben hätte. danken, sondern das ist selbstverständlich. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf vom (Beifall bei der CDU/CSU) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Geht es noch Und man muss sich meiner Meinung nach vor Menschen kleiner? – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: in Acht nehmen, die Dank dafür einfordern, dass sie Die Blockparteien waren besser?) nicht gemordet haben. Ohne SED und DDR würden sich diese ungleichen Le- bensverhältnisse nicht so exakt an der ehemaligen Präsident Dr. Norbert Lammert: deutsch-deutschen Grenze festmachen. Herr Kollege Vaatz, darf die Kollegin Lemke dazu Herr Bartsch, wir hätten sie möglicherweise schneller, eine Zwischenfrage stellen? wenn Sie die 25 Jahre von damals bis heute nicht dazu genutzt hätten, alles zu unternehmen, um möglichst viel Arnold Vaatz (CDU/CSU): von den alten Strukturen der DDR zu konservieren, die Selbstverständlich. alten Besitzstände fortzuschreiben und uns ausschließ- lich auf konsumtive Ziele auszurichten. Das ist das Pro- Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): blem. Herr Vaatz, können Sie zur Kenntnis nehmen, dass (Beifall bei der CDU/CSU) das überhaupt nicht der Gedanke ist, den ich hier geäu- ßert habe, dass es nicht darum geht, irgendjemandem zu Sie haben den Wiederaufbau nach Kräften verhindert. danken, dass er nicht gemordet hat? Ich finde die Unter- Sie haben gewünscht, dass sich dieses neue Staatswesen stellung, die Sie damit aussprechen, absurd. Was ich be- durch Überforderung so stark wie möglich selber schä- schrieben habe, ist, dass wir Politiker 25 Jahre nach der 5382 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Steffi Lemke (A) friedlichen Revolution die Aufgabe haben, den Men- Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine Sa- (C) schen Einordnungen und Erklärungen anzubieten und che nennen, die bei den vielen Erfolgsmeldungen ein vor allem zur deutschen Einheit beizutragen, indem wir Stück weit untergegangen ist. Es gibt viele Statistiken. zur Versöhnung aufrufen. Die sind toll und zeigen den Aufwuchs von damals. Es gibt eine Kurve, die hat einen ganz besonderen Knick im Ich habe bei mir zu Hause eine Kollegin, die wegen Jahre 1990. Das sagt sehr viel. Wissen Sie, welche ihres Mannes entlassen worden ist. Sie hat gerade im Kurve das ist? Das ist die Kurve der durchschnittlichen Kommunalparlament darum gebeten, die Stasiüberprü- Lebenserwartung. Wenn man es hochrechnet, beträgt der fungen zu beenden. Diese Frau hat unter dem Regime und dem Unrechtsstaat DDR wirklich schwer gelitten, Anstieg der Lebenserwartung bei Männern 45 Prozent. aber sie sagte, sie wolle verzeihen. Das kann jeder nur Die Lebenserwartung von 65-jährigen Männern ist von individuell tun. Das ist etwas, was wir hier im Deutschen ursprünglich 12 Jahren auf 17,5 Jahre, also um 45 Pro- Bundestag nicht tun können. Aber was wir tun können, zent, angestiegen. Auf diese Weise kann man sagen: ist, die Feierlichkeiten in diesem und im nächsten Jahr Wenn man dies über alle Generationen hochrechnet, so wirklich zur deutschen Einheit zu nutzen und die Debat- sind nach der deutschen Wiedervereinigung den Ost- ten, die von beiden Seiten mit schnittfestem Schaum vor deutschen ungefähr eine Milliarde neue Lebensjahre ge- dem Mund geführt werden und die heute Gott sei Dank schenkt worden. Das ist eine ungeheure Sache. nur leise angeklungen sind, nach 25 Jahren zu beenden. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN – Sönke Rix [SPD]: der SPD) Das liegt an den Bananen!) Das Ganze geht einher mit einer Stagnation – das kön- Arnold Vaatz (CDU/CSU): nen Sie alle überprüfen –, die von 1980 bis 1989 im Os- Da es ja eine Frage war: Frau Lemke, wenn meine ten angehalten hat. In dieser Zeit gab es keine Steigerung Äußerungen bei Ihnen diese Klarstellung bewirkt haben, der Lebenserwartung. Ich finde das ganz wichtig, denn dann waren sie sehr sinnvoll. ohne gesteigerte Lebenserwartung sind die anderen gro- ßen Segnungen überhaupt nicht genießbar. Wenn man tot (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ist, ist einem der Lebensstandard egal. Ein weiterer Punkt, der meines Erachtens ganz wich- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der tig ist: Herr Claus, Sie haben vorhin ebenfalls mit großer SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Selbstverständlichkeit erklärt, ob Sie aus der Verantwor- Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ohne tung für das, was in der DDR im Namen der SED ange- (B) Sozialismus lebt man länger!) (D) richtet wurde, entlassen würden, würden Sie bestimmen. Das ist ein Irrtum. Das bestimmen nicht Sie, sondern das Einen Punkt muss ich noch erwähnen. Wir haben ei- bestimmt die Geschichte, und das bestimmt das deutsche nen gewaltigen Aufwuchs – ich glaube, hier ziehen wir Volk in Gestalt seiner Wähler. mit der Entwicklung in Westdeutschland sehr stark (Beifall bei der CDU/CSU – Manfred Grund gleich – im Bereich der Forschung. Dafür möchte ich [CDU/CSU]: Und die Opfer!) Frau Professor Dr. Wanka ganz herzlich danken. Ich habe gehört, dass Ihre Mutter heute in Rosenfeld bei – Und die Opfer. Auch das muss ich noch sagen. Torgau der Debatte zuschaut. Vielleicht freut sie sich über das Lob genauso wie Sie. Meine Damen und Herren, ich bin, wie gesagt, nicht der Meinung, dass wir das damals der Freude und der (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Güte der Sowjetführung zu verdanken hatten, sondern eher ihrer Schwäche. Ich glaube auch heute nicht einen Ich finde das ganz toll. Augenblick daran, dass unser Befreiungsversuch ge- glückt wäre, wenn in Moskau damals eine Kraft vom Präsident Dr. Norbert Lammert: Kaliber der heutigen russischen Führung das Sagen ge- Lieber Kollege Vaatz, da Sie die Redezeit schon über- habt hätte. Das muss gesagt werden. schritten haben, wird es jetzt für Grußadressen an viele (Beifall bei der CDU/CSU) sinnvolle Richtungen nicht mehr reichen. Wenn ich mich an die Jahre 1989 und zuvor erinnere, (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Beifall bei dann muss ich sagen: Alle Menschen, die in einer ähnli- Abgeordneten der SPD) chen Lage waren wie wir damals, verdienen heute un- sere Solidarität und unsere Unterstützung. Insofern Arnold Vaatz (CDU/CSU): stimme ich Herrn Tiefensee hundertprozentig zu, dass Ich will Ihre Toleranzschwelle nicht überstrapazieren, wir diese Aufgabe haben, und zwar egal, ob die Leute in Nordkorea, in Kuba oder in der Ukraine leben. Wenn wir aber wenigstens sagen, dass wir im Bereich der For- diese Aufgabe nicht annehmen, dann haben wir einen schung einen ganz tollen Ritt hingelegt haben. Ich großen Teil dessen, was wir 1989 erkämpft haben, heute nehme an, dass das auch in Zukunft so weitergeht. Un- verspielt. Das darf nicht sein. sere Unterstützung als Fraktion haben Sie jedenfalls. Wenn es so weitergeht, dann machen wir aus unserem (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Kapital, das wir im Kopf haben, tatsächlich früher oder Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5383

Arnold Vaatz (A) später etwas, was wir in Händen und auf dem Konto ha- Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung (C) ben. und Forschung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Hoch- Vielen Dank. schulbereich gibt es so viele Kooperationen zwischen (Beifall bei der CDU/CSU) Bund und Ländern wie noch nie seit Bestehen der Bun- desrepublik Deutschland. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja!) Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord- Das war nur möglich, weil 2006 das Grundgesetz geän- nungspunkt. dert wurde, Es fügt sich aufs Schönste, dass sich Frau Ministerin (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Eben!) Wanka beim nächsten Tagesordnungspunkt prompt für die Grüße bedanken kann. weil 2006 in unser Grundgesetz aufgenommen wurde, dass auch Kooperationen in Vorhaben der Wissenschaft Vorher sollten wir aber der interfraktionell vereinbar- und Forschung einschließlich Vorhaben der Lehre mög- ten Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2665 lich sind. an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse fol- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gen. Darf ich dazu Ihr Einvernehmen feststellen? – Das der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: ist offenkundig der Fall. Da beklatschen wir uns selbst! – Hubertus Heil Der Entschließungsantrag auf Drucksache 18/2751 [Peine] [SPD]: Das waren harte Verhandlun- soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind gen!) Sie auch damit einverstanden? – Es besteht kein Zweifel Nun haben wir heute unter anderem einen Antrag der über den weiteren Verfahrensgang dieses Textes. Dann Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorliegen. Sie schrei- ist das einvernehmlich so beschlossen. ben in ihrem Antrag: Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: Im Jahr 2006 hat die letzte Große Koalition das Ko- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- operationsverbot im Grundgesetz verankert. Die gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich damals derung des Grundgesetzes (Artikel 91 b) dieser fatalen Weichenstellung widersetzt … (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drucksache 18/2710 (B) (D) Überweisungsvorschlag: Falsch! All die großen Pakte, die wir verabschiedet ha- Ausschuss für Bildung, Forschung und ben, zum Beispiel der Hochschulpakt, wären ohne Technikfolgenabschätzung (f) Grundgesetzänderung nicht möglich gewesen. Der Qua- Innenausschuss litätspakt Lehre wäre nicht möglich ohne die Grundge- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz setzänderung. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es Gehring, Katja Dörner, Ekin Deligöz, weiterer geht um das Kooperationsverbot Bildung!) Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Die Qualitätsoffensive Lehrerbildung wäre nicht mög- lich ohne die Grundgesetzänderung. Kooperationsverbot kippen – Zusammenar- beit von Bund und Ländern für bessere Bil- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dung und Wissenschaft ermöglichen NEN]: Warum heben Sie es dann auf, wenn al- les so richtig war?) Drucksache 18/2747 Weil wir eben über den Bericht zum Stand der Deut- Überweisungsvorschlag: schen Einheit gesprochen haben: Der Hochschulpakt Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) 2020 ist eine riesige Solidarleistung der westdeutschen Innenausschuss Bundesländer und der Bundesregierung für die neuen Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Bundesländer. Wir, seitens des Bundes, haben seit sei- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nem Inkrafttreten für jeden Studenten Geld gezahlt. In Haushaltsauschuss den alten Bundesländern musste das kofinanziert wer- Für die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt den, in den neuen nicht; das war entscheidend, damit die sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 96 Mi- Kapazitäten dort nicht abgebaut werden. nuten vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch, Man kann noch eine Zahl zum Bericht zum Stand der also können wir so verfahren. Deutschen Einheit hinzufügen. In dem Bericht steht, Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der dass im letzten Jahr zum ersten Mal weniger junge Men- Bundesministerin Frau Professor Wanka. schen aus den neuen Bundesländern zum Studieren ab- gewandert sind, als aus den alten Bundesländern zuge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wandert sind. Das wäre ohne den Hochschulpakt nie neten der SPD) passiert. Dafür brauchten wir die Grundgesetzänderung. 5384 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) Warum man stolz ist, dass man dagegen war, das ver- Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung (C) stehe ich überhaupt nicht. und Forschung: Ich habe gerade angesetzt, um das zu erklären. Ich (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu habe gerade gesagt: Wenn man das Grundgesetz jetzt än- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben gar dert, muss man sich das gut überlegen. Es gibt gute nichts verstanden!) Gründe, warum wir das Grundgesetz ändern. Es geht Lassen Sie mich einen weiteren Satz aus dem Antrag nicht darum, etwas zu korrigieren oder zurückzunehmen, der Grünen zitieren: sondern darum, das, was wir 2006 begonnen haben, fort- zuführen. Der Nachteil der 2006 vorgenommenen In der Wissenschaft soll die Kooperation wieder in Grundgesetzänderung, die Bund und Ländern auch in die Entscheidungsbefugnis von Bund und Ländern der Lehre eine Zusammenarbeit erlaubt – in der For- gelegt werden … schung ist das eh möglich –, ist, dass die Erlaubnis zeit- Die Situation, die wir durch die Grundgesetzänderung lich befristet ist, also diese Zusammenarbeit nur tempo- geschaffen haben, gab es in der Bundesrepublik rär möglich ist und nicht institutionell verankert ist. Deutschland vorher noch nie, ganz eindeutig. Genau das wird jetzt aber festgeschrieben. Es geht also keineswegs um eine Korrektur, um ein Zurücknehmen, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt!) (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Weiterent- Ich bin es einfach leid, diese trivialen Tatsachen jedes wicklung!) Mal zu erläutern. Ich habe es mal auf einer Seite zusam- mengefasst: Grundgesetz vor 2006, seit 2006, unser Ge- um das Reparieren eines Fehlers, sondern es geht um das setzesvorschlag. Fortführen des Prozesses. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ich war dabei! Ich weiß, wie es war!) Oliver Kaczmarek [SPD]) Diese Seite kann man sich bei mir abholen. Es bedarf Warum ist uns das so wichtig? Warum wollen wir un- keiner großen Kommentare. Es ist ganz simpel und ver- bedingt, dass der Hochschulpakt nicht nur 10 oder ständlich. 15 Jahre läuft? Warum wollen wir die Zusammenarbeit institutionell verankern? Weil die Hochschulen das (Beifall bei der CDU/CSU) Herzstück des Wissenschaftssystems sind. Wenn unsere Nun ändert man das Grundgesetz nicht alle Tage. Nation ihren Wohlstand halten will, dann müssen wir im Man überlegt sich gut: Ist diese Änderung notwendig? Bereich von Forschung und Innovationen gut sein. Über- (B) Brauchen wir das? An dieser Stelle wird deutlich: Wir legungen zu diesem Herzstück des Wissenschaftssys- (D) brauchen das, und zwar nicht, um etwas zu reparieren, tems sollte nicht nur jedes Bundesland für sich anstellen, sondern um etwas, was gut war, wesentlich besser zu sondern wir müssen auch in diesem Bereich langfristige machen. Strategien entwickeln können, wie sie ja im außeruniver- sitären Bereich bereits möglich sind. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Frau Wanka, darf der Kollege Mutlu eine Zwischen- wie des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) frage stellen? Wir müssen überlegen können: Welche besonderen Qua- lifikationen brauchen wir beispielsweise für das Projekt Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung Industrie 4.0? Es geht nicht darum, dass der Bund ent- und Forschung: scheidet, ob etwas in Kiel oder in München angesiedelt Ja. wird, aber man muss über gemeinsame Zielstellungen nachdenken und Wege finden, um die Ziele zu erreichen. Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Ministerin, ich habe Ihrer Rede von Anfang an Dadurch wird auch die Kooperation der Universitäten sehr genau zugehört. und Hochschulen mit den außeruniversitären Einrichtun- gen, die schon heute möglich ist, sehr viel einfacher. (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist gut Wenn diese Kooperationen viel unkomplizierter sind, so!) schneiden wir auch in allen Rankings besser ab. Dann haben wir in gewisser Art und Weise vergleichbare, ähn- Sie haben aufgezählt, wie toll das alles war und was Sie liche Rahmenbedingungen für die außeruniversitären mit der Grundgesetzänderung in Bezug auf das Koopera- Einrichtungen und für die Hochschulen. tionsverbot alles erreicht haben. In dem Gesetzentwurf steht: Einstimmigkeit. Es wird Ich schließe daran meine Frage an: Wenn die Grund- gesagt, dass das Prinzip der Einstimmigkeit stört, dass gesetzänderung von 2006, die wir beklagt haben – das das so nicht sein sollte. In dem Gesetzentwurf geht es haben Sie richtig zitiert –, richtig war, warum sehen Sie nun nicht darum, das föderale Prinzip, gemäß dem die dann jetzt überhaupt eine weitere Änderung des Grund- Länder zuständig sind, zu streichen. Immer wenn das fö- gesetzes hinsichtlich des Hochschulbereichs vor? derale Prinzip gilt, benötigen wir ja Einstimmigkeit, (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist ja eine auch in der Ministerpräsidentenrunde. Die vorgesehene Steilvorlage, die Frage!) Grundgesetzänderung ist eindeutig: Wir wollen nicht, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5385

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) dass alle Länder bei jeder Kleinigkeit zustimmen müs- DIE GRÜNEN]: Sie hat gesagt, das ist Erpres- (C) sen, sondern wir wollen, dass sie mitentscheiden, wenn sung, was Sie machen!) im Schwerpunkt die Hochschulen betroffen sind. Das und Frau Dreyer als Ministerpräsidentin von Rheinland- heißt, bei Vereinbarungen zwischen einer Hochschule Pfalz gesprochen. Keine einzige dieser Frauen hat ge- und einer außeruniversitären Einrichtung müssen nicht sagt: Wir wollen die Grundgesetzänderung auch für den alle Bundesländer gefragt werden. Wenn es aber um Schulbereich. grundlegende Sachen geht, zum Beispiel um das Profes- sorinnen-Programm, von dem 180 Hochschulen betrof- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hört! Hört! – fen sind, oder um die Förderung des wissenschaftlichen Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Nein, das Nachwuchses an Hochschulen, dann brauchen wir die ist falsch!) Einstimmigkeit. Diese Einstimmigkeit haben wir 2006 aufgenommen; und sie steht da auch, weil wir das vom Es war eindeutig. Sie haben gesagt: Wir wollen, dass wir Grundgesetz her mussten. auf der Basis dessen, was geht – es geht eine Menge –, Sozialgesetzbuch und anderes, zusammenarbeiten, um Ich denke, gleich wird in einigen Redebeiträgen mehr die großen Probleme der Zukunft zu lösen. oder wenig höflich gesagt werden: Das ist ja schön. Der (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aber das ist ja Wissenschaftsbereich ist der Anfang. Wir wollen diese schon etwas anderes, als was Sie sagen!) Möglichkeiten auch im Bereich Schule, Wahrscheinlich bin ich da als ehemalige Landesministe- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Genau!) rin ein bisschen sensibler. Ich verstehe, dass man sich zwar nicht auf die Schnelle, aber das ist der nächste nicht so gerne etwas vorschreiben lässt und man keine Schritt. – Ich sage an der Stelle immer gerne: Schauen Beglückungen aus dem Bundestag bekommen will, die Sie doch einmal nach Baden-Württemberg. Der Minis- man selbst nicht will und über die man vorab keine Dis- terpräsident von Baden-Württemberg sagt – das hat er kussion geführt hat. mir auch im persönlichen Gespräch immer wieder bestä- (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring tigt –: Im Bereich der Schule gibt es das auf keinen Fall; [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie reagie- das geht den Bund nichts an. ren Sie denn auf die Stellungnahme des Bun- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In München desrates?) und in Stuttgart! – Gegenruf des Abg. Kai Deswegen fand ich diese Bundesratsdiskussion sehr er- Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr staunlich. Ich hätte den einen oder anderen Zwischenton Seehofer ist dafür!) erwartet. Dem war aber nicht so. (B) (D) Der Ministerpräsident von Hessen sieht das genauso. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sie woll- Meine Argumentation war immer: ten ihn nicht hören, Frau Kollegin!) (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Es ist erst Wir brauchen – das ist ganz eindeutig; das sieht der einmal die Frage, ob wir das wollen!) Bund auch so – bei den großen Herausforderungen, ob nun Inklusion oder anderes, eine Gemeinsamkeit, wir Es gibt diesbezüglich keine einheitliche Meinung der brauchen gemeinsam abgestimmtes Handeln, aber nicht Bundesländer, zwingend eine Grundgesetzänderung. Diese ist nicht (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sind Sie notwendig. Wir wollen auch, dass die Kompetenzen in denn dafür?) diesen Bereichen bei den Ländern bleiben. und solange es die nicht gibt, braucht man gar nicht da- Wir haben jetzt ein Gesamtpaket. Das Paket enthält rüber zu reden. die Grundgesetzänderung, über die wir jetzt diskutieren, und – darum ging es hier gestern – die BAföG-Novelle (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring mit der Entlastung um 1,2 Milliarden Euro. Dass beide [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen zusammenhängen, ist nicht sachfremd, sondern ist das eine Zweidrittelmehrheit! Die können Sie her- Ergebnis von Verhandlungen. Im Ergebnis dieser Ver- beiführen! Wie wäre es mit Überzeugungsar- handlungen waren die Länder und der Bund der Mei- beit?) nung, dass es eine gute Situation ist, dass es eine Win- – Herr Gehring, wenn Sie so freundlich wären, mich re- win-Situation ist. Vorgestellt haben wir dies auf einer den zu lassen. Pressekonferenz. Von den Wissenschaftsministern war zum Beispiel Frau Ahnen dabei und hat das Ergebnis Es kommt noch besser: Wir haben vor kurzem im sehr gelobt. Sie hat sich sehr über die Möglichkeiten ge- Bundesrat über die BAföG-Novelle, über die wir hier freut, die man jetzt in den Ländern hat. gestern debattiert haben, und über die Grundgesetzände- rung diskutiert. In dieser Diskussion – das ist nachzule- Ich bin auch trotz aller Schwierigkeiten, die uns das sen – haben Annegret Kramp-Karrenbauer aus dem macht, der Meinung, dass es richtig ist, dass die Verant- Saarland, Frau Puttrich aus Hessen, Frau Löhrmann, die wortung dafür, wie man mit den frei werdenden BAföG- Vizeministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, Mitteln umgeht, bei den Ländern liegt und dass man von Land zu Land verschiedene Entscheidungen treffen (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kann. Denn die Situation in den Bundesländern ist unter- Tolle Frau! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/ schiedlich. Manche haben in den letzten Jahren ganz viel 5386 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) in die Hochschulen investiert und Schwierigkeiten im die energetische Sanierung, damit man im Schulbau (C) Schulbereich, bei anderen ist es umgekehrt. Deswegen überhaupt etwas machen konnte. glaube ich – ich erwarte und erhoffe dies –, dass die Mit- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: So war es! tel entsprechend verantwortungsbewusst eingesetzt wer- Ja!) den. Auch die Pakte muss man wahrscheinlich in diese Reihe Ich denke, das Gesamtpaket, das wir jetzt haben, ist stellen. Das nennt man Umwegsfinanzierung. Diese Um- gut. Der Bund stellt in der genannten Größenordnung wegsfinanzierung macht die Durchschaubarkeit der Mittel für die Studierenden zur Verfügung. Wir haben Finanzströme und der Zuständigkeiten überhaupt nicht eine BAföG-Novelle, bei der es nicht nur um Entlastung leichter, sondern eher verworrener. geht, sondern in der auch die gestern besprochenen Dinge für die Studierenden enthalten sind. Und wir ha- (Beifall bei der LINKEN) ben diese Grundgesetzänderung. All das wird aus meiner Ein Ziel der Föderalismusreform 2006 war auch, Sicht weit über diesen Tag und über diese Legislaturpe- mehr auf Wettbewerb zu setzen. Die Kooperation von riode hinaus wirken. Gerade mit der Grundgesetzände- Bund und Ländern in der Bildung wurde weitgehend rung wird vieles möglich gemacht und wird der Födera- aufgekündigt. Dabei darf man nicht nur auf die Hoch- lismus insgesamt moderner und zukunftsfähiger. schulen zielen, sondern man muss eben auch auf den Darüber freue ich mich. Rest der Bildungsaufgaben schauen. Liebe Kolleginnen Danke schön. und Kollegen, man kann ja auf allen möglichen Gebieten einen Wettbewerb ausrufen, aber doch nicht bei der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Frage eines besseren Bildungszugangs. Wer Bildung zum Gegenstand von Wettbewerb macht, vergrößert Un- Vizepräsidentin : gleichheiten und schafft nicht mehr Gerechtigkeit. Als nächste Rednerin hat die Kollegin Rosemarie (Beifall bei der LINKEN) Hein das Wort. Das kann niemand wollen, dem gleiche Bildungschan- (Beifall bei der LINKEN) cen in ganz Deutschland wichtig sind.

Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Nach der Grundgesetzänderung von 2006 wurden den Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ländern jährlich etwa 1 Milliarde Euro für die übertra- Liebe Gäste! Die Ministerin hat eine von vielen hier im genen Aufgaben zur Verfügung gestellt. Wir finden sie Haus sehr lange erwartete Änderung des Grundgesetzes bis heute in unseren Haushalten. Die haben aber nicht (B) heute im Bundestag vorgestellt. Frau Ministerin, Ihre gereicht. Nun reifte seit einigen Jahren, und zwar sehr (D) Argumentation verwundert mich schon etwas. Aber auch langsam, in einigen Ländern die Einsicht, dass man hier ich will erst einmal darauf zurückblicken, warum wir ein Stück zurück müsse. Deshalb liegt jetzt die Forde- überhaupt in dieser Situation sind. rung nach einer Lockerung des Verbotes vor. Deshalb haben wir jetzt diese Grundgesetzänderung auf dem Vor acht Jahren, im Jahre 2006, war im Rahmen der Tisch, aber eben nur für eine bessere Finanzierung im Föderalismusreform beschlossen worden, die Aufgaben Hochschulbereich. Das ist nicht viel. Das ist nicht ein- von Bund und Ländern klarer voneinander zu trennen. mal der Spatz in der Hand. Darum können wir das auch Die Länder übernahmen damals auf eigenen Wunsch un- nicht gutheißen. ter anderem fast gänzlich die Zuständigkeit im Bereich Bildung. Eine gemeinsame Finanzierung von wichtigen (Beifall bei der LINKEN – Dr. Ernst Dieter Aufgaben war nahezu nicht mehr möglich, auch wenn Rossmann [SPD]: Na, na, na! Die Hochschu- die Ministerin heute etwas anderes sagt. Ziel dieser Re- len als Spatz zu bezeichnen!) form war, „komplizierte Mischfinanzierungen“ zurück- Dass sich aber die Länder in dieser Sache nun über- zudrängen und damit „Blockademöglichkeiten“, so haupt bewegt haben – das war ja nicht so einfach –, liegt stand es im entsprechenden Entschließungsantrag, zwi- an den klammen Kassen der Länder und Kommunen. schen Bund und Ländern zu vermeiden. Das klingt erst Nachdem der Bund 2009 auch noch eine Schulden- einmal ganz logisch, aber zumindest im Bereich der Bil- bremse eingeführt hat, ist das noch schlimmer geworden. dung ist das gründlich nach hinten losgegangen. Denn Die Aussichten, Bildung aus eigener Kraft finanzieren mit dem Verbot gemeinsamer Finanzierungen wurden zu können, sind immer mehr geschwunden. Da helfen die notwendigen Finanzierungsaufgaben in der Bildung eben die gegenseitigen Eifersüchteleien zwischen Bay- in vorher nie gekanntem Maße blockiert und eben nicht ern und Hamburg und Bremen und Mecklenburg-Vor- erleichtert. pommern und Berlin nicht weiter. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zudem haben die Strategen von Bund und Ländern Es ist also das Gegenteil von dem eingetreten, was be- offensichtlich sehr unterschätzt – sie haben sich dabei absichtigt war. Darum wurden zahlreiche Hilfs- kräftig verzockt –, wie groß die Aufgabe, die vor uns programme erfunden, zum Beispiel die Lernförderung steht, eigentlich ist, was beispielsweise die wachsenden innerhalb des Bildungs- und Teilhabepaketes, die Be- Studierendenzahlen betrifft. Die sind schneller gewach- rufseinstiegsbegleitung, die Bildungsketten oder auch sen, als man das vorhergesehen hatte. Das ist ja erfreu- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5387

Dr. Rosemarie Hein (A) lich, aber man hat damit nicht gerechnet. Das gilt ge- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das müssen (C) nauso für viele andere wichtige Herausforderungen, die die Länder bezahlen! Können die Länder doch es derzeit im Bildungsbereich gibt. machen! Verbietet keiner!) Doch mit der Grundgesetzänderung, die uns heute überall mehr und besser ausgebildete Lehrkräfte und vorliegt, werden die notwendigen Aufgaben der Bil- überall eine bessere Weiterbildung usf. Und ich glaube, dungsfinanzierung in den kommenden Jahren nicht zu Sie haben keine Ahnung, was das kostet. stemmen sein, weder inhaltlich noch finanziell. Nun sol- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten len 1,17 Milliarden Euro mit der vollständigen BAföG- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Übernahme durch den Bund an die Länder gegeben wer- den, und zwar jährlich. Doch das Geld ist noch nicht ein- Wenn Sie das nämlich alles mit den 1,17 Milliar- mal in den Kassen, da ist es schon verbraucht. Nicht nur den Euro bezahlen wollen, dann wird das eine ziemliche die Ministerin und die Kolleginnen und Kollegen der Hungerkur. Koalition haben ganz eigene und durchaus nicht überein- stimmende Vorstellungen davon, wie denn das Geld ein- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das haben gesetzt werden sollte. wir nie erzählt!) ( [Havelland] [DIE LINKE]: Das betrifft sowohl den riesigen Investitionsstau, den es Das ist das Problem!) gibt, als auch die regelmäßige auskömmliche Finanzie- rung aller Bildungsbereiche. Die einen rechnen damit, dass es nur dem Hochschulbe- Natürlich weiß ich, dass einige Länder Angst um ihre reich zugutekommt, die anderen wollen eine Aufteilung Zuständigkeiten haben und mauern. Doch die Länder zwischen Schule und Hochschule. Und die Ministerin müssen endlich über den Tellerrand ihrer Landeszustän- hat eben gesagt, die Länder sollen selbst entscheiden, digkeit hinausschauen wie sie das halten. (Beifall bei der LINKEN) (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Die Debatte war gestern, Frau Hein!) und Bildung als Gemeinschaftsaufgabe begreifen. – Ich habe Ihnen doch gestern schon gesagt, dass die (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Tun sie verbundene Debatte von Ihnen ausgerufen wurde. Und doch auch!) wir machen das jetzt auch so. Das nimmt ihnen doch nicht die Verantwortung. Das (B) (Beifall bei der LINKEN – Tankred schafft ihnen mehr Spielräume. Ich verstehe überhaupt (D) Schipanski [CDU/CSU]: Bleiben Sie schön nicht, warum ausgerechnet an dieser Stelle, also bei beim Thema!) schulischer Bildung, bei frühkindlicher Bildung, bei Weiterbildung, die Länder derartig mauern. – Mache ich! (Beifall bei der LINKEN) So will eben Niedersachsen die frühkindliche Bildung Statt Wettbewerb brauchen wir Best Practice. Davon stärker ausbauen, Thüringen die Grundschullehrkräfte können alle profitieren. Darum haben wir in unserem besser bezahlen, Rheinland-Pfalz in die Inklusion inves- Antrag, der Ihnen seit Februar dieses Jahres vorliegt, die tieren, Sachsen-Anhalt mehr Lehrkräfte einstellen und Einführung einer solchen Gemeinschaftsaufgabe gefor- den Hochschulen das Geld zurückgeben, das sie sonst dert. Dabei werden wir bleiben. für die Haushaltssanierung erbringen müssten. Das Geld ist also fest verplant. Und manchmal fließt es eben ein- Wir werden das vielleicht noch nicht jetzt, auch ange- fach in die Haushaltssanierung, und sei es über den Um- sichts der Kürze des parlamentarischen Verfahrens von weg der Hochschul- und Personaletats. nur einem Monat, hinbekommen. Die Debatte, das weiß ich, hat viel länger gedauert. Es wird vielleicht noch eine Ich kann jedoch jedes Land verstehen, das angesichts Weile dauern. Das Thema wird aber wiederkommen. der in Aussicht stehenden Finanzspritze jetzt sagt: Ja, Aber jetzt ist zu befürchten – auch das kann man im Pro- wir wollen diese Grundgesetzänderung. – Sie brauchen tokoll des Bundesrates nachlesen –, dass sich einige das Geld nämlich dringend. Und darum waren die kriti- Länder mit der Miniänderung zufriedengeben und glau- schen Anmerkungen im Bundesrat auch nur leise, aber ben, das Problem sei damit erledigt. Das Problem ist da- sie waren durchaus hörbar. Und man kann auch diese mit nicht erledigt. Wir bekommen das wieder auf den nachlesen, wenn man das gerne möchte. Tisch. Wir werden die Quittung für unser Handeln be- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten kommen, und dann reden wir wieder über die Gemein- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schaftsaufgabe Bildung. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen nämlich überall besser ausfinanzierte Hochschulen. Wir brauchen überall sanierte Schulen und Kitas. Wir brauchen überall Schulsozialarbeit, überall Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Inklusion. Wir brauchen überall eine bessere Kinderbe- Als nächster Redner hat der Kollege Hubertus Heil treuung, das Wort. 5388 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mithalten zu können, in der außeruniversitären und eben (C) der CDU/CSU) in der Hochschulforschung gemeinsam ansetzen können, ohne sich dabei zu verrenken. Hubertus Heil (Peine) (SPD): (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann mir nicht helfen, aber es scheint ein Ich glaube, dass diese Form von Kooperation, die wir Zufall zu sein, dass in solchen Debatten immer Frau mit der vorgeschlagenen Grundgesetzänderung ermögli- Bulmahn als Vizepräsidentin amtiert. chen, auch im Interesse der Beschäftigten an den Hoch- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der schulen ist, nicht nur der Professorinnen und Professo- CDU/CSU – Albert Rupprecht [CDU/CSU]: ren, sondern auch derjenigen, die im wissenschaftlichen Sie passt auf Sie auf!) Mittelbau arbeiten; darauf komme ich noch. Diese Men- schen erleben ja oft, dass diese Form von Kurzatmigkeit Sie hat in diesen Debatten durchaus schon das Wort er- und Projektitis dazu führt, dass ihr Arbeitsleben ziemlich griffen und hat dieses Haus – sie hat in vielem auch recht ungeregelt und befristet ist, wenn Sie verstehen, was ich gehabt – vor manchem Irrtum bewahren wollen. Darauf meine. Wir werden in dieser Legislaturperiode über das komme ich später noch zu sprechen. Wissenschaftszeitvertragsgesetz noch einmal zu reden haben. Wir haben uns vorgenommen, das zu ändern. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Aber sie kann jetzt nicht mehr reden!) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden heute über etwas anderes. Vielleicht reden Wir haben schon etwas vorgelegt!) wir einmal über die einheitliche Auffassung dieses Par- Aber genauso wichtig ist es, dass wir die Möglichkeit laments darüber, dass es zumindest richtig ist, neue von Kooperationen schaffen, damit Aufstiegsmöglich- Möglichkeiten der Kooperation im Bereich der Wissen- keiten und Karrierewege für gut ausgebildete Menschen, schaft und der Hochschulen in diesem Land zu schaffen; die wir an den Hochschulen dauerhaft halten wollen, das bestreitet doch niemand ernsthaft. möglich sind. Deshalb ist es ein guter Schritt, dass wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diese Grundgesetzänderung gemeinsam auf den Weg ge- der CDU/CSU) bracht haben. Frau Ministerin Wanka, Sie haben voll- kommen recht: Mit der Formulierung, die wir gemein- Man kann darüber streiten, ob wir mehr Möglichkei- sam für Artikel 91 b Grundgesetz gefunden haben, ten brauchen – Sie kennen unsere Auffassung dazu, dazu schaffen wir erstmals für den Wissenschaftsbereich dau- sage ich gleich etwas –, aber wir sind uns einig, dass das erhafte, verlässliche und institutionelle Fördermöglich- (B) ein wesentlicher Schritt ist. Jetzt kann man das als klei- keiten für die Hochschulen. Das ist unbestritten. Das gab (D) nen oder großen Spatz klassifizieren, was auch immer, es früher nicht, das ist ein großer Fortschritt. Frau Hein; es geht hier aber nicht um die Kategorie. (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das ist (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ein Zaunkönig!) Gleichwohl gibt es in der Koalition – das ist doch gar Vielmehr müssen wir der deutschen Öffentlichkeit klar- keine Frage – einen Dissens, den wir aber miteinander machen, warum es gerade in dieser Phase – da hat Frau aushalten. Es geht darum – das wissen Sie –, dass wir Wanka vollkommen recht – notwendig ist, dass wir jen- uns als Sozialdemokraten durchaus gewünscht hätten, seits der Klimmzüge von Projektitis eine dauerhafte das Kooperationsverbot im Bereich der Bildung insge- Form von Zusammenarbeit für die Hochschullandschaft, samt aufzubrechen. Das leugnet niemand hier, das leug- das Herzstück des Wissenschaftssystems in unserem net auch niemand im Bundesrat. Das ist die Position Land, auf den Weg bringen. meiner Partei und auch vieler in der Union; das wissen wir. Dafür gibt es ein paar Gründe. Wir haben erlebt – das haben wir in den vergangenen Jahren mit den Hoch- Frau Wanka, Sie haben vorhin darauf hingewiesen, schulpakten unterstützt –, dass es weiterhin einen großen dass im Bundesrat Ministerpräsidentinnen – kluge Run auf die Hochschulen gibt. Die Zahl der Studieren- Frauen – gesprochen haben, mit denen auch wir spre- den ist massiv gestiegen; das war politisch gewollt. Ich chen, die persönlich der Meinung sind, dass die Sache sage – das hat gestern auch mein Fraktionsvorsitzender mit dem Kooperationsverbot im Bereich der Bildung erklärt –: Wir wollen nicht, dass die universitäre Ausbil- insgesamt abgeschafft gehört. Da kann man sich immer dung gegen die berufliche Erstausbildung ausgespielt wechselseitig vorhalten, wer in der eigenen Partei noch wird. Aber diese Welle an Studierenden muss von den nicht so weit ist; das kennen die Grünen auch; man muss Hochschulen in Deutschland verkraftet werden. Deshalb nur einmal nach Stuttgart gucken. ist es wichtig, dass Bund und Länder gemeinsam dauer- haft, nicht nur in Projekten, zusammenwirken können. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Wir brauchen eine Stärkung des Hochschulsystems NEN – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE und der Wissenschaft, auch in Bezug auf die Forschung. GRÜNEN]: Eine Zweidrittelmehrheit ist zu Wir sind wunderbar aufgestellt, was die außeruniversi- schaffen!) täre Forschung in Deutschland betrifft. Aber Bund und Länder müssen in den nächsten Jahren, um international Das alles hilft uns nichts. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5389

Hubertus Heil (Peine) (A) Wir müssen jetzt den Schritt gehen, den wir gemein- tatsächlich den Stellenwert zu geben, der ihm zukommt. (C) sam mit einer Mehrheit im Bundestag und Bundesrat ge- Das wäre nicht möglich, wenn wir nur die Möglichkeit hen können. Es wäre vollkommen falsch, aufgrund die- für befristete Projekte hätten. Wir haben durch die ses Dissenses, weil einige noch nicht so weit sind, die Grundfinanzierung die Möglichkeit, Perspektiven für Wissenschaft in Geiselhaft zu nehmen. Das Gesamtpaket den wissenschaftlichen Nachwuchs zu schaffen. Die stimmt. Möglichkeit besteht, wir öffnen diese Wege. Ich gebe gleichwohl zu: Wir müssen als Koalition noch daran ar- Frau Hein, die Verknüpfung ist vollkommen in Ord- beiten, diese Wege zu gehen. nung, dass wir in dieser Woche zugleich darüber reden, dass wir die Länder entlasten, um Spielräume zu schaf- Das betrifft auch die Fortsetzung der Exzellenzinitia- fen, dass wir das BAföG verbessern und dass wir Mög- tive. Wir können mit den neuen Möglichkeiten Pla- lichkeiten für den Hochschulbereich schaffen. Das zeigt nungssicherheit schaffen, weil wir Ressourcen im Wis- die Handlungsfähigkeit dieser Koalition auf Basis der senschaftssystem verbessern und von kurzfristigen Möglichkeiten, die die Mehrheiten in Bundestag und Wettbewerben tatsächlich zu dauerhaften Perspektiven Bundesrat hergeben. Das ist im Interesse von Bildung im Sinne von Exzellenz in Breite und Spitze kommen. und Forschung in diesem Land. Deshalb ist es ein guter Auch das ist etwas, was diese Koalition sich vorgenom- Schritt. men hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schließlich können wir die immer wichtiger wer- der CDU/CSU) dende Kooperation im Bereich der Forschung zwischen außeruniversitären und universitären Forschungseinrich- Ich sage trotzdem noch einmal: Wir wünschen uns für tungen einfacher und besser gestalten, als das mit vielen die Zukunft mehr, und wir werben auch dafür. Frau Klimmzügen in der Vergangenheit der Fall war. Es Bulmahn – das darf ich einmal erwähnen – hat damals spricht viel dafür, dass wir diese Wege gehen und auch im Rahmen der Föderalismusreform auf einiges hinge- nutzen. Deshalb handelt es sich um eine gute Grundge- wiesen. Ich bin der Meinung, dass wir zukünftig einen setzänderung. Irrtum aus der Föderalismusreform für den Bereich der Bildung korrigieren müssen: Das ist das Kooperations- Ich habe den Eindruck, meine Damen und Herren, verbot für den Bildungsbereich und für den Schulbe- dass wir sehr stolz sein können auf das, was unser Wis- reich. Wir müssen um Mehrheiten werben. Denn da hat senschaftssystem heute schon liefert. Wir dürfen nicht mein früherer Fraktionsvorsitzender und heutiger Au- zulassen, dass es kaputtgeredet wird. Nehmen wir ein- ßenminister vollkommen recht gehabt. Das Koopera- mal die Verleihung des Nobelpreises im Bereich der tionsverbot im Bereich der Bildung, sagte Frank-Walter Chemie an einen Deutschen, der sowohl für ein Max- (B) Steinmeier am 16. Mai 2013 in diesem Hohen Haus, ist Planck-Institut arbeitet, also im außeruniversitären Be- (D) (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reich unterstützt wird, als auch – natürlich – Hochschul- NEN]: Blödsinn! – Özcan Mutlu [BÜND- professor ist. Das zeigt, dass wir international gar nicht NIS 90/DIE GRÜNEN]: Murks!) schlecht aufgestellt sind. – ich zitiere – „ein in Verfassungsrecht gegossener Irr- Es gibt dennoch neue Herausforderungen. Das Para- tum, der beseitigt werden muss.“ Wir bleiben dabei: Es digma in der Wissenschaft dieser Tage und Jahre scheint ist unsere Aufgabe, das miteinander hinzubekommen. Kooperation zu sein: Kooperation zwischen Disziplinen, Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vielen Bereichen und zwischen Bundesländern. Das des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der muss dann aber auch in der Politik zwischen Bund und Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]) Ländern gelten. Deshalb ermöglichen wir das. Lassen Sie es uns trotz des Dissenses, den es in der Was die Zukunft und unseren Wunsch, den ich vorhin Koalition gibt, darüber reden, was im Hochschulbereich formuliert habe, betrifft, weiter Überzeugungsarbeit für mit der Änderung des Artikel 91 b möglich sein wird. die Änderung des Grundgesetzes auch im Bereich der Damit zeigen wir, dass wir trotz verschiedener Meinun- Bildung zu leisten, so gilt etwas, was wir aus der Wis- gen an der einen oder anderen Stelle doch tun, was mög- senschaft kennen: Die Zukunft ist offen. lich ist. Ich möchte hierbei Folgendes ansprechen: Mit dem Weg der dauerhaften Kooperation von Bund und (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Der Satz Ländern in unserem Wissenschaftssystem, den wir heute ist gut!) eröffnen, haben wir die Chance, in den nächsten Jahren Es ist nicht so, dass alles festgeschrieben ist. Es ist daher Chancengleichheit, Innovation, Wertschöpfung, auch gut – auch das ist eine Erkenntnis der Wissenschaft –, Beschäftigung zu fördern, und zwar gemeinsam in den dass Menschen lernende Wesen sind. nächsten Jahren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Michael Das betrifft – ich habe es vorhin angesprochen – Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Im günstigsten Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs: Fall!) weniger Befristung, mehr Möglichkeiten für Karriere- wege, dauerhafte und verlässliche Maßnahmen, um Per- Sie sind übrigens auch in der Lage, Irrtümer einzugeste- sonalinitiativen auf den Weg zu bringen, um Juniorpro- hen. Ich habe es vorhin gesagt: Wir räumen ein, dass wir fessoren zu unterstützen und um dem Mittelbau an dem Irrtum von 2006, den Frank-Walter Steinmeier 5390 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Hubertus Heil (Peine) (A) im Nachhinein beschrieben hat, mitbeteiligt waren – in Rupprecht [CDU/CSU]: Überhaupt nicht! (C) guter Absicht. Denken Sie an Ihre Ministerpräsidenten!) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Auf Merkels So vernünftig es natürlich ist, dass Bund und Länder im Bekenntnis warten wir noch!) Bereich der Hochschulen zukünftig wieder zusammenar- beiten können, so absurd ist es doch, dass diese Zusam- Wir sollten es schaffen, es miteinander hinzubekommen, menarbeit im Schulbereich weiter verboten bleiben soll. das zu ändern. Heute ist nicht der Tag, darüber zu reden, Deshalb ganz klar unser Appell an SPD und an Union: wann das möglich ist. Die Überzeugungsarbeit dauert an; ich habe es vorhin beschrieben. (Oliver Kaczmarek [SPD]: Bringen Sie uns Hessen! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und Lassen Sie uns heute im Interesse des Wissenschafts- Stuttgart!) standortes Deutschland, der Hochschulen in diesem Land die Möglichkeiten nutzen. Lassen Sie uns das tun, Korrigieren Sie den Fehler, und zwar ganz! was heute möglich ist. Die Studierenden werden es uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Zukunft danken; die Menschen, die an Hochschulen und bei der LINKEN – Tankred Schipanski arbeiten, werden es uns danken; dieses Land wird es uns [CDU/CSU]: Da gibt es nichts zu korrigieren, danken, dass wir die Wissenschaft an den Hochschulen Frau Dörner!) in diesem Land zukunftsfähig gemacht haben. Dazu ist die Grundgesetzänderung ein ganz wesentlicher Schritt. Wir alle wollen die besten Bildungsmöglichkeiten für unsere Kinder. Wir wollen, dass alle Kinder, alle Jugend- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. lichen in diesem Land ihre Potenziale wirklich voll aus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schöpfen können. Wir wollen gute Bildungsinstitutio- der CDU/CSU) nen, von der Kita über die Schule und die Hochschule bis zur Weiterbildung. Ich bin davon überzeugt: Wir Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: werden das nur schaffen und können es überhaupt nur schaffen, wenn alle gemeinsam daran arbeiten und auch Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katja Dörner zusammenarbeiten: Bund, Länder und Kommunen. Sie das Wort. sind gemeinsam in der Pflicht. Sie müssen aber auch an einem Strang ziehen können. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kollegen! Die letzte Große Koalition hat einen Es geht um die Zukunft unserer Kinder. Deshalb ist (B) schweren Fehler gemacht. Der eine Teil hat es offen- das Festhalten am Kooperationsverbot in der Bildung ein (D) sichtlich eingesehen, der andere Teil leider noch nicht. Fehler. Da habe tatsächlich auch ich ein Zitat von Frank- Das ist sehr schade. Walter Steinmeier, der das schön ausgedrückt hat. (Zuruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein kluger [SPD]) Mann!) Das Kooperationsverbot ins Grundgesetz zu schreiben, Er hat nämlich nicht nur gesagt, dass es Unsinn ist, son- war ein schwerer Fehler. Frau Ministerin, 2006 wurde dern er hat auch gesagt, dass es Blödsinn ist. Beides ist nicht die Zusammenarbeit ermöglicht, sondern 2006 richtig, und deshalb sollte das Kooperationsverbot kom- wurde die Tür dazu weitestgehend zugeschlagen; sie ist plett abgeschafft werden. nur einen ganz kleinen Spalt offen gelassen worden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) und bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn eine Bun- Das war ein schwerer Fehler, und diesen schweren Feh- desregierung und ein Deutscher Bundestag zusagen, sich ler muss man korrigieren, und zwar vollständig. für die Schulen engagieren zu wollen, ein Ganztags- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schulprogramm auflegen zu wollen, und bei der LINKEN) (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das wollen wir aber gar nicht! Das steht nirgendwo! Der Vorschlag im Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt, Schauen Sie mal in den Koalitionsvertrag!) ist leider nur eine halbherzige Korrektur, und deshalb reicht er uns nicht. sich dafür engagieren zu wollen, dass es mit der Inklu- sion weitergeht, dass die Inklusion in den Schulen Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich bin wirklich schneller vorankommt, enttäuscht, dass Union und SPD die riesige Chance, die sie haben, nicht nutzen. Sie haben eine 80-Prozent- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Können die Mehrheit im Deutschen Bundestag, und sie haben die Länder machen!) Unterstützung der Opposition dafür, das unsinnige Ko- das dann aber nicht geht, weil man sich selber eine operationsverbot vollständig zu kippen. Mauer namens Kooperationsverbot vor die Nase gestellt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat, dann fasst sich doch eigentlich jeder normale sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Albert Mensch an den Kopf und denkt: Das darf doch wohl Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5391

Katja Dörner (A) nicht wahr sein. – Deshalb sind wir dafür, diesen Zu- (Beifall bei der CDU/CSU) (C) stand zu beenden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Albert Rupprecht (CDU/CSU): und bei der LINKEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Hein, wenn man Ihrer Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist schon ge- Rede zuhört und wenn man auch noch glauben würde, sagt worden: Das weiß nicht nur die große Mehrheit hier was Sie sagen, dann bekäme man Depressionen. Für De- im Bundestag – auch wenn die Mehrheit dem am Ende pressionen gibt es aber überhaupt keinen Anlass. Wo ste- wahrscheinlich nicht zustimmen wird –, sondern das hen wir im Jahr 2014? Noch einmal kurz zum Status wissen auch viele in den Bundesländern. Gerade deshalb quo: Wir sind nicht nur Fußballweltmeister, sondern finde ich die schon angesprochene Kopplung zwischen auch Nobelpreisträger. der BAföG-Novelle und der Grundgesetzänderung, die wir heute besprechen, extrem ärgerlich und auch unfair. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber nicht mehr Papst!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski Ich sage das in aller Ernsthaftigkeit. [CDU/CSU]: Lächerlich!) Natürlich ist das in erster Linie eine herausragende Der Bund übernimmt die Kosten für das BAföG nur, Leistung des Wissenschaftlers Stefan Hell. Aber würde wenn die Länder dieser Grundgesetzänderung zustim- derselbe Wissenschaftler im Senegal, in Ägypten oder men. Die nordrhein-westfälische Schulministerin hat das anderswo arbeiten, wo er nicht die institutionellen Rah- als Erpressung bezeichnet, menbedingungen hätte, die er in Deutschland hat, dann wäre das nicht möglich gewesen. Das gehört zur Wahr- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sie hat heit dazu. wahrscheinlich kein Jura studiert und weiß nicht, was Erpressung ist!) Wo stehen wir? Alle anerkannten Innovationsindizes sagen: Deutschland steht weltweit auf Platz zwei, drei und es ist eine Erpressung. Diese Bezeichnung dafür ist oder vier, und das bei 194 Staaten. Ich glaube, darauf absolut richtig. Wir erwarten von der Bundesregierung, können wir stolz sein, meine Damen und Herren. dass das Junktim zwischen diesen beiden Gesetzge- bungsverfahren aufgehoben wird, damit beide Reform- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. vorhaben einen sinnvollen und sachlichen Beratungspro- Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Özcan zess durchlaufen können. Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gu- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN cken Sie sich mal die PISA-Studie an! Dann (D) und bei der LINKEN) haben Sie es auf einen Blick!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute Wir sind für die Wissenschaft wieder hochattraktiv. In über eine Grundgesetzänderung. Es ist schon gesagt der Max-Planck-Gesellschaft kommen 86 Prozent der worden: Das machen wir nicht alle Tage, und das ist Postdocs aus dem Ausland. 31 Prozent der Max-Planck- auch richtig so. Man sollte nicht am Grundgesetz herum- Direktoren kommen ebenfalls aus dem Ausland. Stefan stückeln, sondern man sollte es unmittelbar und direkt Hell – ich habe ihn eben schon erwähnt – hat einen Ruf richtig machen. Ich möchte unseren Kollegen Herrn nach Harvard bekommen. Er hat abgelehnt und ist lieber Rossmann zitieren, der in einem Beitrag in der FR sehr in Deutschland im Max-Planck-Institut geblieben. gut formuliert hat: „Nach zwei Schritten zurück muss Das alles sind Aussagen, die zeigen, dass der Wissen- mehr drin sein als ein Schritt nach vorn.“ Ich finde, man schaftsstandort Deutschland weltweit vorne liegt und kann das kaum besser sagen. hochattraktiv ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und bei der LINKEN sowie des Abg. René Röspel [SPD] – Tankred Schipanski [CDU/ All das wäre überhaupt nicht möglich gewesen, hätten CSU]: Applaus von der falschen Seite, Herr wir vonseiten des Bundes in den letzten Jahren nicht Rossmann!) massiv Gas gegeben. Man muss aber auch bereit sein, diese Schritte zu gehen. Das alles sagt den Nichtfachleuten wenig. Dahinter Wir sind es, und wir hoffen, dass sich im Gesetzge- verstecken sich aber Riesenpakete mit Milliardenvolu- bungsverfahren auch bei Ihnen noch die Bereitschaft mina in historischen Dimensionen wie das Wissen- dazu zeigt. schaftsfreiheitsgesetz beispielsweise – ein historischer Schritt für die Wissenschaftsszene –, Humboldt-Profes- Vielen Dank. suren, die Hightech-Strategie, der Spitzencluster-Wett- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bewerb, der Pakt für Forschung und Innovation, die Ex- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) zellenzinitiative usw. usw. All das sind Maßnahmen, die wir vonseiten des Bun- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: des in den letzten Jahren angestoßen haben. Das zeigt Als nächster Redner hat der Kollege Albert sich auch in den Finanzen, die wir in der Haushaltsde- Rupprecht das Wort. batte noch einmal ausführlich diskutieren werden. Wir 5392 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Albert Rupprecht (A) haben in den zehn Jahren von 2005 bis 2015 im Haushalt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) für Forschung und Bildung einen Anstieg um 101 Pro- neten der SPD) zent und damit eine Verdoppelung erzielt. Wenn wir Artikel 91 b unserer Verfassung ändern, de- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- finieren wir genau, was wir wollen. Wir wollen nicht, neten der SPD) dass jeder für alles zuständig ist. Der Bund hat Expertise und Kompetenz, wenn es um die überregionale Bedeu- Letzte Frage: Wieso brauchen wir eine Verfassungs- tung von Bereichen, um internationale Wettbewerbs- änderung? Wir brauchen sie aus zwei Gründen. Der Kol- fähigkeit und exzellente wissenschaftliche Leistungen lege Heil hat es angesprochen. Der erste Punkt ist: Die geht. Wenn wir die Expertise und die Kompetenz in der Pakete, die ich eben genannt hatte, sind teilweise zeitlich Krebsforschung an den verschiedenen Standorten befristet. Die Verfassung erlaubt uns nur die zeitliche Deutschlands in den Deutschen Zentren der Gesund- Befristung. Nach den von uns gemachten Erfahrungen heitsforschung zusammenführen wollen, dann macht es wollen wir sie in dauerhafte wettbewerbliche Anreiz- Sinn, dass sich der Bund engagiert; denn dadurch er- strukturen überführen. Denn wir wollen Nachhaltigkeit. möglichen wir Exzellenz und weltweite Spitzenleistun- gen. Es macht aber keinen Sinn, dass der Bund entschei- Wir wollen nicht, dass die Wissenschaft es sich be- det, ob die Universität in Freiburg oder die Universität in quem macht. Wir wollen aber auch weg von der Pro- Regensburg ausgebaut wird. Das ist nicht unsere Auf- jekteritis. Wir brauchen vielmehr langfristig nachhaltige gabe, und darf auch nicht unsere Aufgabe werden. Die wettbewerbliche Anreizstrukturen. Wir brauchen die Weiterentwicklung der Hochschulen ist Länderaufgabe, Verfassungsänderung, um genau das, was wir aufgebaut weil das vor Ort, also dezentral, wesentlich besser ent- haben, auch nachhaltig leben zu können. schieden werden kann. Es gibt einen zweiten Grund: die Besonderheit des (Beifall bei der CDU/CSU) deutschen Systems. Wir haben universitäre und außer- Das Gleiche gilt für die Schulbildung. Schule gelingt, universitäre Forschung. Mit Blick auf die Schanghai- wenn sie dezentral und subsidiär organisiert wird. Die Rankings sage ich in aller Deutlichkeit: Wir sind bei den Lehrer vor Ort wissen am besten, wie gute Schule funk- Hochschulen nirgendwo auf absoluten Spitzenplätzen. tioniert. Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass es eine Ver- Das hängt auch mit der deutschen Besonderheit zusam- besserung für das Land darstellt, wenn wir von Berlin men. Würden wir die Max-Planck-Gesellschaft mit da- aus steuern, weil nur wir angeblich wissen, wie gute zuzählen oder würde beispielsweise die LMU in Mün- Schulen funktionieren? Das würde in keiner Weise eine chen gemeinsam mit der Max-Planck-Gesellschaft Verbesserung darstellen. bewertet werden, dann hätten sie sehr wohl einen Spit- (B) zenplatz. Eine solche Zusammenarbeit ist bis dato außer- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) ordentlich schwierig und nur mithilfe hochkomplizierter NEN]: Wir wollen Kooperation und nicht von Rechtskonstruktionen möglich, weil die Hochschulen oben diktieren!) auf Dauer vom Land und die außeruniversitären Hoch- Ich nenne ein konkretes Beispiel: Der Antrag der Grünen schuleinrichtungen von Land und Bund finanziert wer- beinhaltet den Ausbau der Ganztagsschulbetreuung. den. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Danke SES 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu schön für das Beispiel!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gutes Pro- gramm!) Deswegen ist es in der Tat keine Petitesse, sondern ein Meilenstein für die Wissenschaftsarchitektur in diesem Die Situation in meinem Bundesland Bayern sieht wie Land, dass in Zukunft eine solche Zusammenarbeit auf folgt aus: Es gibt eine klare politische Aussage, dass die Dauer möglich sein wird. Ganztagsschulbetreuung bedarfsgerecht ausgebaut wird. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das gibt es in fast allen Ländern!) neten der SPD) Jede Kommune und jede Schule, die Bedarf hat, wird Zum Begriff der Kooperation. Wir wollen Koopera- finanziert. Es wird in keiner Weise am Geld scheitern. tion, und wir leben Kooperation. Wir wollen aber eine Aber es ist ein riesiger Unterschied, ob ich in München bestimmte Art von Kooperation. Wir wollen, dass ge- oder in meinem Heimatort, einer ländlichen Dorfge- meinsame Ziele formuliert werden, dass Aufgaben zuge- meinde im Oberpfälzer Wald, einen solchen Ausbau vor- wiesen werden und dass Verantwortung übernommen nehme; denn die Strukturen und damit auch der Bedarf wird. Jeder soll die Verantwortung für den Bereich über- sind vollkommen unterschiedlich. Ich frage seit Mona- nehmen, den er gut beherrscht. Was wir nicht wollen, ist ten: Was ist der Mehrwert, wenn der Bund die Rolle des Kooperation, bei der jeder für alles zuständig ist, was Landes übernimmt? Das hat überhaupt keinen Mehr- dazu führt, dass am Schluss keiner mehr etwas macht. wert. Das Ergebnis ist dann, dass die Vertreter unserer Par- teien bei Herrn Jauch und Frau Illner sitzen und sagen: (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die anderen sind verantwortlich. – Eine solche Koopera- NEN]: Das hat auch keiner gesagt! – tion führt dazu, dass die Schuld immer anderen zuge- Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Das soll er schoben wird. Genau das braucht die Bevölkerung nicht. doch gar nicht!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5393

Albert Rupprecht (A) Die Länder können den Bedarf wesentlich besser ermit- Möglichkeit, eine einheitliche Bildungspolitik und glei- (C) teln. Genau das macht Bayern. Deswegen empfehle ich che Chancen im Bundesgebiet zu gewährleisten. Er dringend, nicht über Kooperationsverbot oder Koopera- stellte fest, dass Bildungschancen und Bildungswege in tionsgebot zu schwadronieren, sondern nach konkreten Deutschland stark davon abhängen, wo man geboren ist, Lösungen zu suchen. welches Schulsystem vor Ort existiert und wie zahlungs- kräftig gerade das jeweilige Bundesland ist. Da hätten (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu bei allen – sogar bei Ihnen von der Union – alle Alarm- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann fangen glocken läuten müssen. Sie mal an!) (Beifall bei der LINKEN) Lieber Kollege Gehring, dem Antrag Ihrer Fraktion fehlt jegliche Glaubwürdigkeit. Wenn Sie in der Regie- Stattdessen sind acht Jahre vergangen. Was ist in die- rung wären, hätten Sie null Chancen, Ihren Antrag um- ser Zeit passiert? Der Wettbewerbsföderalismus unter zusetzen; den Ländern wurde weiter verschärft. Als Krönung ha- ben Sie das Kooperationsverbot eingeführt, das Verbot (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der Bil- NEN]: Das ist doch Blödsinn!) dung, in der Kultur und auch in anderen Bereichen. Das denn Ihre Basis, Ihre Landesvertreter und insbesondere Fazit dieser Entwicklung ist ausgewiesenermaßen mise- Ihr Ministerpräsident aus Baden-Württemberg würden rabel. Trotzdem weigert sich die Regierung, eine wirkli- keinen Zentimeter mit Ihnen mitgehen. che Korrektur vorzunehmen. Für die allgemeine Bil- dung, für die Schulen und Kitas wollen Sie weiterhin (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu keine Verantwortung übernehmen. Lediglich für die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Baden-Würt- Hochschulen soll eine Finanzierung durch den Bund er- temberg ist nicht der Nabel der Welt!) möglicht werden, aber nur – und jetzt kommen die Ein- Abschließend: Es gab noch nie so viel Kooperation. schränkungen – in Fällen überregionaler Bedeutung und 60 Prozent der in den Haushalt des BMBF eingestellten nur dann, wenn alle Bundesländer zustimmen. Ein einzi- Mittel fließen in Kooperationsprojekte. Die Behauptung, ges Bundesland – ich weiß gar nicht, warum ich jetzt auf es gebe keine Kooperation, ist daher falsch. Die Zahl der Bayern komme – Kooperationsprojekte ist in den letzten Jahren drama- (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Weil es so tisch angewachsen. schön ist!) (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Drama- kann hier alles blockieren! tisch, Sie sagen es!) (B) „Besser als gar nichts“ ist doch jetzt im Kern die Ar- (D) Es gibt also Kooperation. Aber sie muss dort stattfinden, gumentation der SPD. wo sie sachlich begründbar und vernünftig ist, also dort, wo es um Exzellenz und internationale Wettbewerbsfä- (René Röspel [SPD]: Das stimmt! – Rainer higkeit geht. Die Länder haben die Aufgabe, dort, wo es Spiering [SPD]: Damit haben wir Deutschland um Subsidiarität, Dezentralität und die Nähe zum Men- zum Erfolg gebracht!) schen geht, die Probleme zu lösen. In diesem Sinne wer- Ich glaube, Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass den wir gemeinsam mit der Regierung Artikel 91 b unse- Sie sich da etwas schönreden; denn der Verdacht, dass es rer Verfassung ändern. Damit sind wir auf einem guten mit dieser Grundgesetzänderung gerade nicht um die Weg. Stärkung der Grundfinanzierung aller Hochschulen geht, Danke schön. sondern dass damit eigentlich nur die Lieblingskinder und Eliteprojekte der Regierung gepampert werden sol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- len, liegt sehr nahe! neten der SPD) (Beifall bei der LINKEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Lesen Sie doch mal die Be- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: gründung des Gesetzes!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächste Redne- rin hat die Kollegin Nicole Gohlke das Wort. Herr Rupprecht hat es doch gerade bestätigt. Er hat ge- rade genau beschrieben, worin er die Kompetenz des (Beifall bei der LINKEN) Bundes sieht: im internationalen Wettbewerb und in Ex- zellenz. Er hat es gesagt! Nicole Gohlke (DIE LINKE): (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Schauen Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Kolleginnen und Sie in die Gesetzesbegründung!) Kollegen! Vor acht Jahren – auch ich hole aus – hatte die Bundesrepublik Besuch von Vernor Muñoz, dem dama- Die Exzellenzinitiative läuft 2017 aus, und es ist doch ligen UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bil- auffällig, dass genau jetzt die Konservativen auf einmal dung. Das Ergebnis seines Abschlussberichtes war eine ihr Interesse an einer Lockerung des Kooperationsverbotes Ohrfeige. Er kritisierte scharf die mangelnde Chancen- nur für den Hochschulbereich entdecken. Dass das, was gleichheit und die zunehmende Verlagerung von Bil- die Regierung hier vorlegt, nicht genug ist, sagen Ihnen so- dungszuständigkeiten auf die Länderebene; denn da- gar Akteure und Institutionen, bei denen es mir wirklich durch, so Muñoz, verliere der Bund zunehmend die schwerfällt, sie zu zitieren. Auch die Bertelsmann-Stif- 5394 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Nicole Gohlke (A) tung, die Robert-Bosch-Stiftung und die Telekom-Stif- im Grundgesetz verankern. Ohne das keine Hochschul- (C) tung haben kürzlich das Verantwortungswirrwarr in der paktprogramme, keine Exzellenzinitiative, keine bessere Bildung bemängelt und kommen zu dem Schluss, dass Lehrerbildung und keine Initiativen für bessere Lehre an der Bildungsföderalismus in Deutschland unter systemi- den Hochschulen. – All das wäre nicht gegangen, wenn schen Blockaden leidet und die Lockerung des Koopera- wir dies damals nicht – wir freuen uns, dass Sie erpresse- tionsverbotes für Einzelfälle im Hochschulbereich nicht rische Sozialdemokraten anerkennen – ermöglicht hät- ausreichend ist. Genau das ist es: Bei diesem Gesetzent- ten. wurf geht es nur um Einzelfälle und eben nicht um die Breite. Deswegen ist dieser Entwurf auch nicht der Spatz (Beifall bei der SPD) in der Hand, ein Schritt in die richtige Richtung oder et- Wenn wir die Kette vom separativen Föderalismus was Ähnliches. Vielmehr ist es zu wenig und eine fal- über die stärkere Staatlichkeit hin zur Aufgabenteilung sche Entscheidung, sich nur um Elite und Exzellenz in verfolgen, dann sehen wir, dass wir jetzt in eine Phase der Hochschule zu kümmern und den Rest außen vor zu treten, in der wir mehr Kooperation brauchen. Das merkt lassen. man an allen Beiträgen. Wir brauchen mehr Kooperation (Beifall bei der LINKEN) in Bezug auf das Zusammenwirken der staatlichen Ebe- nen – Bund und Länder –, aber auch mehr Kooperation Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, falls es in Bezug auf das Zusammenwirken der Institutionen, die Ihnen im internen Koalitionsstreit, der Sie derzeit ein in einem bestimmten Bereich aktiv sind; hier geht es um bisschen umtreibt, gerade entfallen sein sollte: Sie regie- den Hochschulbereich. ren gerade. Dann tun Sie das aber auch, und nehmen Sie Ihre Aufgaben wahr! Zum Beispiel wäre es Ihre Auf- Ich will deshalb das aufnehmen, was auch Kollege gabe, sich um die Herstellung gleichwertiger Lebensver- Rupprecht angesprochen hat. Verfassungsänderungen hältnisse im gesamten Bundesgebiet zu kümmern, und sind nicht auf den Moment bezogen. Das haben wir mit nicht, aus ideologischer Verbohrtheit den Wettbewerb der nachgeschobenen Verfassungsänderung und dem unter den Bundesländern wichtiger zu nehmen als gute Katastrophenartikel 104 b gemacht, als wir das Kon- Bildung von der Kita bis zur Hochschule. junkturprogramm anders administrieren wollten und das auch für den Bereich Bildung und Hochschulen nutzbar Vielen Dank. machen wollten. (Beifall bei der LINKEN) Zu einer Verfassungsänderung muss Weitsicht gehö- ren. Die Weitsicht bezieht sich darauf, dass – anders als Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: vielleicht noch 1949; die Perspektive ist jetzt 2049 – in (B) Als nächster Redner hat der Kollege Ernst Dieter der Wissens- und Bildungsgesellschaft sowie der Öko- (D) Rossmann das Wort. nomie der Zukunft der Bildungs- und Hochschulbereich eine ganz zentrale Rolle spielen wird. Was zentral ist, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten muss zentral mit anderen verantwortlich gestaltet wer- der CDU/CSU) den können, und zwar verlässlich und nachhaltig. Des- halb ist es eine gute Entwicklung, dass im Koalitionsver- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): trag steht, dass der Bund auch in die Grundfinanzierung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! einsteigen können soll. Das wird erst durch diese Verfas- Frau Wanka hat eine historische Rückbetrachtung vorge- sungsänderung ermöglicht. Es ist auch gut, dass wir uns nommen. Ich will sie so aufnehmen: 1949, zu Beginn der auf neue Formen der Wissenschaftsarchitektur einstel- heutigen deutschen Demokratie, gab es nach dem Totali- len. tarismus so etwas wie einen starken – auch separativen – Föderalismus. Dann gab es die erste Große Koalition. Man muss nicht gleich eine Abscheu vor Exzellenz- Man hatte – auch bedingt durch gesellschaftliche, öko- initiativen zeigen und Abwehrreflexe mobilisieren. Auch nomische und politische Erfordernisse – bemerkt, dass Sie von der Linken haben doch bestimmte Vorstellungen der Staat gestärkt werden muss. Es war 1969 eine große über Modernisierung, Innovation, Wertschöpfung, Pro- Reformleistung der damaligen Großen Koalition, im duktivität und die Gestaltung verbesserter Lebensbedin- Rahmen einer staatsorientierten Bildungsreform so et- gungen. Deshalb sollten Sie diese Initiativen nicht nur was wie Hochschulbau, Hochschulsonderprogramme, negativ sehen. Wir brauchen eine veränderte Wissen- Bildungsplanung und Bund-Länder-Programme mit nach schaftsarchitektur. vorne zu bringen. Dies war ein Modernisierungs- bzw. Es ist doch absurd, wenn sich in Karlsruhe die außer- Innovationsschub. Dann hat es einen Rückschlag gege- universitäre Forschungseinrichtung und die Universität ben, und zwar mit der nächsten Großen Koalition und förmlich verrenken müssen, um eine Kooperation ab- der geteilten Föderalismusreform, die durchaus einige schließen zu können. Das ist keine Frage von rechts oder Vorteile hatte, wenn wir an die Sicherheitsarchitektur links, sondern diese Absurdität sehen wir doch alle. denken, aber in Sachen Bildung brüchig wurde. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Einige kennen die Historie, aber ich möchte es noch des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE einmal erklären, Frau Wanka. Es war gut, dass die SPD- GRÜNEN]) Bildungspolitiker ihre Fraktion real erpresst haben und Peter Struck am Ende sagte: Um das Gesamtwerk durch- Es ist absurd, dass wir in Berlin exzellente For- zubringen, müssen wir die Vorhaben der Wissenschaft schungseinrichtungen, zum Beispiel die Charité, haben, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5395

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) die mit anderen Einrichtungen, die ebenfalls brillante sources-Entwicklungen nur in einzelnen Bundesländern (C) Forschung betreiben, nicht zusammenkommen können. gibt? Kann es nicht notwendig werden, ganz bewusst in An dieser Stelle Kooperation ermöglichen zu können, ist Bezug auf Schule einen zentralen Bundesimpuls zu set- genauso wichtig, wie darüber nachzudenken, wie eine zen, weil damit die Entwicklung schneller käme und ef- zukünftige Profilierung und Entwicklung im Hochschul- fizienter wäre, weil sie damit auch in größerer Homoge- system selber aussehen soll. nität käme, gerade bei diesem neuen Medium? Darüber werden wir noch diskutieren. Es hat einmal jemand ausgerechnet, dass wir in Eu- ropa in einigen Jahrzehnten – das ist gar nicht mehr so Bisher müssen wir darüber noch unter den Restriktio- lange hin – gerade einmal 5 Prozent der Weltbevölke- nen einer Verfassungsbeschränkung, eines Kooperations- rung ausmachen. Wenn wir in Deutschland innerhalb verbots in der Verfassung diskutieren, müssen an eine dieser 5 Prozent ein Profil entwickeln wollen, dann müs- solche Frage mit einem Tabu im Kopf herangehen, statt sen wir ein Zusammenwirken von Wissenschaft und sozusagen mit offenem Visier auf die zugehen zu kön- Forschung und eine Kooperation von Bund und Ländern nen, die auch an dieser Frage arbeiten und etwas zusam- gewährleisten. Es darf nicht sein, dass der Bund nur ak- menbringen wollen. zidentell oder kurzfristig eingreift. Das ist der Grund, weshalb wir das Kooperationsver- Das sind Begründungen, die man annehmen kann, bot als unzureichend, als kurzsichtig ansehen und wes- aber nicht annehmen muss; aber diese sollten die Grund- halb es im Bundesrat – Frau Wanka, wir haben die De- lage für Verfassungsänderungen sein, die über den Tag batte sehr genau nachgelesen – sehr wohl auch andere hinaus reichen, die Perspektiven ermöglichen sollen. Positionen, klare Positionen, aus sozialdemokratisch und Wir glauben, dass dies eine gute Verfassungsänderung rot-grün regierten Ländern gegeben hat. Ich habe Frau für den Bereich Hochschule, Wissenschaft und Lehre ist. Löhrmann so verstanden, dass sie sich nicht daran ver- kämpfen will – „verkämpfen“ hieße: wir machen gar (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nichts mit; wir anerkennen nicht einmal das, was jetzt Es ist eine Verfassungsänderung, die Spielräume ermög- seitens der Bundesregierung vorgeschlagen wird –, aber licht und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, die wir bis- weiter kämpfen will. her nicht hatten. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da es an dieser Stelle eine breite Zustimmung auch Jetzt hört die Ministerin wieder nicht zu!) von der CDU/CSU gibt, starte ich noch einmal einen Das macht eine Differenz, die man auch in der politi- Versuch in einem anderen Bereich. Mir kommt nicht aus schen Auseinandersetzung souverän respektieren sollte. dem Sinn, was mir einmal eine gute Freundin gesagt hat: (B) Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, musst du es halt Nachdem ich vorhin ein bisschen flapsig zitiert habe, (D) zum zweiten Mal versuchen. – Ich versuche es jetzt noch will ich jetzt mit Goethe enden – ihn hat auch Malu einmal, Sie auch Dreyer im Bundesrat zitiert –: „Nicht Kunst und Wissen- (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schaft allein, Geduld will bei dem Werke sein.“ Also: SES 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu Unterstützung, Beifall hoffentlich für den einen großen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie zur Ver- Schritt, nämlich dafür, dass wir für die Hochschulen, für nunft zu bringen? Das klappt nicht!) die Wissenschaft in jedweder Hinsicht kooperationsfä- hig werden, und Hoffnung auf und Streiten seitens der für die Bildung zu motivieren, zumal man weiß, dass es Linken, der SPD, der Grünen und all der einsichtigen auch bei Ihnen einige gibt, die durchaus in diese Rich- Kollegen bei CDU und CSU für den nächsten großen tung weiterdenken wollen. Schritt! Wo ist eigentlich die Plausibilität, wenn wir als Ge- Danke schön. samtstaat in New York die UN-Behindertenrechtskon- vention unterzeichnen, zu Hause aber diesen Impuls (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht aufnehmen können, sondern mit kleinster Münze der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE darauf achten müssen, wo der Bund im Schlüsselsystem GRÜNEN) Schule Inklusion fördern darf? Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Ein Nächstes. Wo ist die Plausibilität, wenn wir im Als nächster Redner hat der Kollege Kai Gehring das Bildungs- und Teilhabepaket eine große Anstrengung Wort. unternehmen, um Bildungsarmut zu bekämpfen, wäh- rend alle wissen, dass vieles besser wäre, wenn man (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Jetzt erklär strukturell schulische Institutionen unterstützt hätte, die mal, was dein Ministerpräsident sagt!) viel mehr Wirksamkeit entfalten, wenn man dabei nicht Umwege hätte gehen müssen? Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auf die Zukunft gerichtet: Da wir wissen, wie sehr in Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Hochschulbildung, aber auch in der Schulbildung die Die Große Koalition vergibt mit ihrer Vorlage heute die Digitalisierung zunimmt, ist es dann am Ende plausibel, historische Chance, aus einer Verbotsverfassung eine Er- dass wir eine Zusammenarbeit von der Verfassung her möglichungsverfassung für bessere Wissenschaft und förmlich ausschließen, sodass es Open-Educational-Re- Bildung zu machen. 5396 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Kai Gehring (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Offensive für wissenschaftlichen Nachwuchs und plan- (C) des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) bare Wissenschaftskarrieren. Die GroKo hat 2006 gegen grünen Widerstand das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Problem „Kooperationsverbot“ in die Verfassung ge- Leider fehlt der Großen Koalition die gemeinsame schrieben. 2014 will sie es nur zur Hälfte lösen. Mehr Idee, was sie denn überhaupt mit den neuen Koopera- Kooperation in der Wissenschaft, das ist gut. Bildung tionsmöglichkeiten in der Wissenschaft anfangen will. bleibt leider außen vor, das ist schlecht. Sie machen da- Weder für Spitzenforschung mit internationaler Strahl- mit nur halbe Sachen. kraft noch für regionale Strukturpolitik, also weder für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Spitze noch für Breite, haben Sie zusätzliches Geld zur Verfügung. Bildlich gesprochen: Frau Wanka kriegt zum Gute Hochschulen stehen immer auf dem Fundament 1. Januar 2015 ein neues Rennrad, aber Herr Schäuble guter Kitas und Schulen. Es bleibt schlichtweg nicht schließt es im Fahrradkeller ein. nachvollziehbar, dass wichtige bildungspolitische Im- pulse und Verbesserungen wie eine neue Bund-Länder- (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Stimmt doch Ganztagsschulinitiative ausgeschlossen bleiben sollen. überhaupt nicht! Sie haben keine Ahnung von Das wollen wir mit unserem Antrag ändern. den Zahlen!) Als Irrweg hat die SPD im Bundestagswahlkampf das Von Kooperation, die auf dem Papier steht, hat niemand Kooperationsverbot bezeichnet – das stimmt –; heute etwas, nicht die Studierenden, nicht die Wissenschaftler verteidigen und kritisieren Sie den Koalitionskompro- und auch nicht die Hochschulen. miss zugleich. Ich sage: Liebe CDU/CSU, als guter Ko- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN alitionspartner sollten Sie die SPD erlösen. Geben Sie sowie der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE als Union im Bund und in den Ländern den Widerstand LINKE]) gegen mehr Kooperation in der Bildung auf! Sonst ist das 7-Prozent-Ziel nicht zu schaffen. Wir wollen, dass der Bund dauerhaft Forschung und Lehre an Hochschulen mit unterstützen und verbessern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie kann. Daher ist eine Öffnung der Verfassung für Wissen- des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) schaft überfällig. Eine Grundgesetzänderung muss guten Lösungen den Die Beratung der Verfassungsänderung ist mit dieser Weg bereiten. Ich sage: Ja, der Vorschlag von Ministerin Debatte in die entscheidende Phase getreten. Wir Grünen Wanka ist für die Wissenschaft besser als der alte Vor- im Bundestag reichen der Großen Koalition die Hand. (B) schlag von Ministerin Schavan. An uns scheitert ein großer Wurf nicht. Denn zusammen (D) können wir aus der Verbotsverfassung endlich eine Er- (Beifall der Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann möglichungsverfassung machen, die einer Bildungsre- [SPD] und René Röspel [SPD]) publik einen klugen Rahmen setzt. Der Artikel 91 b Aber das geplante Einstimmigkeitsprinzip, wonach alle kann mehr. 16 Länder zustimmen müssen, steht einer neuen Koope- Gesellschaftlich herbeigesehnt werden die vollstän- rationskultur entgegen. dige Aufhebung des Kooperationsverbots und eine tief- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!) greifende Modernisierung unseres Bildungsföderalismus jedenfalls schon lange. Deshalb sollten wir das auch tun. Statt Blockade und Vetomöglichkeiten in unser Grund- Unsere Geduld ist am Ende. Wir wollen mehr Fortschritt gesetz zu schreiben, sollten die Verfahrensregeln der Ge- für Bildung und Wissenschaft. meinsamen Wissenschaftskonferenz überlassen bleiben. Es wäre falsch, mit dem Einstimmigkeitsprinzip innova- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tive Entscheidungen zu verzögern. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Als nächste Rednerin hat die Kollegin Patricia Lips Hochschulen und Forschungseinrichtungen brauchen das Wort. neue, dauerhafte und gemeinschaftliche Wege in der Fi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nanzierung – dazu sind hier schon viele Beispiele ge- neten der SPD) nannt worden –, sonst platzen die Universitäten und Fachhochschulen aus allen Nähten. Denn auch in den nächsten Jahren und im nächsten Jahrzehnt hält der Stu- Patricia Lips (CDU/CSU): dierendenboom an. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die BAföG-Novelle, die wir gestern debattiert haben, Die zeitlich befristeten Wissenschaftspakte – Hoch- vor allen Dingen auch hinsichtlich der künftig alleinigen schulpakt, Pakt für Forschung und Innovation, Exzel- Zuständigkeit des Bundes, wie auch die Änderung des lenzinitiative; auch der Qualitätspakt Lehre – schaffen Grundgesetzes für eine bessere Zusammenarbeit mit den eben keine dauerhafte Finanzierungs- und Planungssi- Hochschulen sind, auch schon für sich allein genommen, cherheit, vor allem nicht für das wissenschaftliche Per- von großer Bedeutung. Beides zusammengenommen sonal, das endlich gute Karrierewege statt Befristungs- entwickelt jedoch ganz neue Möglichkeiten für unser na- unwesen braucht. Es bedarf in unserem Land einer tionales Bildungssystem, aber auch – das wurde deutlich Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5397

Patricia Lips (A) und ist uns mindestens ebenso wichtig – für die interna- Ich möchte als Beispiel auch an das gemeinsame Pro- (C) tionale Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. gramm „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ zur Verbes- serung der Lehramtsausbildung erinnern und nicht zu- Lassen Sie mich an dieser Stelle eines ergänzen, weil letzt auch an die finanziellen Freiräume, die durch die es gestern ein bisschen kritisch anklang: Hier werden Komplettübernahme des BAföG durch den Bund bei den zeitgleich zwei Projekte umgesetzt, die vor allem den Ländern entstehen. jungen Menschen in unserem Land zugutekommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Mehr als 50 Prozent eines Geburtenjahrgangs begin- nen heute ein Hochschulstudium – Tendenz steigend. Mit Interesse haben wir zur Kenntnis genommen, dass je Die Schere zwischen den Förderungen im außeruniversi- nach Bundesland ein Großteil des Geldes nicht nur in die tären Bereich und der Hochschulen geht systematisch Hochschulen, sondern wiederum auch in Kitas fließt, immer weiter auseinander. Wir wissen das. aber auch in viele Bereiche der Schulen. Bereits seit Jahren steht deshalb zu Recht die Forde- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung im Raum, genau an dieser Stelle mehr zu tun. Das NEN]: Da müssen Sie sich entscheiden! Einer- geschah ja auch schon. Es wurden bereits mehrfach die seits kritisieren und andererseits loben!) gemeinsamen Projekte wie Exzellenzinitiative, Hoch- – Ich möchte jetzt keine Bewertung im Detail vorneh- schulpakt, Qualitätspakt Lehre und Professorinnen-Pro- men, Herr Mutlu. Sie haben nachher noch Zeit, darauf zu gramm erwähnt. Sie haben diesen Aufwuchs zunächst antworten. – Aber das kommt doch nicht von ungefähr. gezielt, aber halt auch begrenzt, erfolgreich begleiten Das ist doch jetzt erst möglich geworden: eine verbes- können. Dennoch müssen wir die Frage beantworten: serte Finanzierung des Bildungssystems mit knapp Reicht dieses Engagement unter den bisherigen Mög- 1,2 Milliarden Euro jährlich, über diese Legislaturpe- lichkeiten aus, um heute und in Zukunft im europäischen riode hinaus, aber insgesamt in Länderzuständigkeit. und internationalen Wettbewerb dauerhaft zu bestehen? Ich gebe Ihnen ja recht: Eine Grundgesetzänderung (Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] macht man nicht einfach so, so lapidar. Aber die Antwort [SPD]) auf diese Frage lautet: Nein. Ich wollte mit diesen Beispielen nur zeigen: Wir leisten Es bedarf einer Weiterentwicklung. Deshalb streben also bereits einen erheblichen Beitrag über unsere ei- wir – dagegen kann ja niemand etwas einwenden – eine gentliche Zuständigkeit hinaus. Erweiterung planbarer und verlässlicher Gestaltungs- möglichkeiten für Hochschulen und Forschungseinrich- Bei allen Forderungen nach einem Mehr an Finanzie- tungen an. Dies gilt auch für junge Wissenschaftlerinnen rung: Wir wissen um die Unterschiedlichkeit und Diffe- (B) (D) und Wissenschaftler. Damit ist eine Verbesserung der renziertheit in den Zielsetzungen der Länder. Am Ende Leistungsfähigkeit und am Ende auch – das wurde heute kann es nicht das Ziel sein, dass der eine das Ziel der noch nicht erwähnt; aber ich sage dies ausdrücklich – ein Reise bestimmt und der andere vielleicht nur und für im- tatsächlicher Mehrwert für das Wissenschaftssystem mer die Reisekosten übernimmt. verbunden. Es ist und kann nicht unser Ziel sein, dass Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstver- ein stetiger Einsatz des Bundes an dieser Stelle künftig ständlich ist Bildung auch eine gemeinschaftliche Auf- zum Ausfall von Anteilen des einen oder anderen Lan- gabe; aber jeder an seiner Stelle. Da wird uns hier und des führt. heute auch kein Kultusminister widersprechen. Im Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) genteil: Wir stehen zur Kulturhoheit der Länder und zur föderalen Kompetenzzuordnung. Die Basis, um zu diesem Mehrwert zu kommen, stellt die geplante Grundgesetzänderung dar. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. René Röspel [SPD]) Lassen Sie mich noch einmal auf das Stichwort „Ko- operationsverbot“ zurückkommen. Man gewinnt ja in Dies gilt im Übrigen auch für den heutigen Gesetzent- manchen Diskussionen wirklich den Eindruck, dass in wurf, der die Überregionalität von Projekten betont und unserem Bildungssystem ein Stoppschild zwischen in bestimmten Fällen die Zustimmung aller Länder er- Bund und Ländern steht, fordert; der Kollege Rupprecht hat es ja angesprochen. Deutschland ist ein großes Land mit teilweise völlig un- (Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- terschiedlichen Regionen und damit verbundenen He- NEN]: Ist es auch!) rausforderungen. Dies gilt für viele Bereiche, auch für den weiten Raum der Bildung, vor allen Dingen aber für das es aber so nicht gibt. Es wurden bereits einige Bei- den Bereich der frühkindlichen und schulischen Bil- spiele wie die Projekte im Hochschulbereich genannt. dung. Aus gutem Grund liegen deshalb die Zuständig- Aber ich möchte doch auch noch die Milliarden erwäh- keiten der Länder gerade dort, wo sie sich besser ausken- nen, die inzwischen seitens des Bundes unabhängig von nen, Entscheidungen treffen können und im Übrigen Mittelaufstockungen für Betriebskosten, Sondervermö- auch wollen. gen und vielem anderen mehr in die frühkindliche Bil- dung, in Kitas und Krippen geflossen sind. Kolleginnen und Kollegen, die BAföG-Novelle und die vorgelegte Grundgesetzänderung gehören zusam- (Beifall bei der CDU/CSU) men. Sie bieten die Chance, eine Strahlkraft in alle Bil- Das ist ein nicht unerheblicher Anteil. dungsbereiche hinein zu entfalten, nach innen wie nach 5398 Deutscher Bundestag – 18. 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Patricia Lips (A) außen. Sie bieten darüber hinaus Wissenschaft und For- Analphabeten sind. Die Stadt steht vor der Herausforde- (C) schung ganz neue und verlässliche Perspektiven. Inso- rung, diese Kinder zu integrieren, Schulklassen zu bilden fern ist es eine gute Situation für alle Beteiligten: für den und Lehrer dafür abzustellen. Das klappt mit dem Land Bund und die Länder, für die Hochschulen und For- zusammen. Aber ich finde, dies ist nicht allein die Auf- schungseinrichtungen und vor allem für junge Men- gabe von Land und Kommune, dies zu regeln – das ballt schen, die unser Land mit einer guten Ausbildung nach sich im Ruhrgebiet –, sondern der Bund hat hier auch vorne bringen. eine Aufgabe. Deswegen ist diese klare Trennung nicht so einfach. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der SPD) In den Ländern gibt es nicht nur unterschiedliche Be- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: lastungen, sondern auch unterschiedliche Verfahrens- Als nächster Redner hat der Kollege René Röspel das weisen. Weil ich gerne nach Bayern in den Urlaub fahre, Wort. vergleiche ich immer NRW und Bayern. NRW unter- nimmt besondere Anstrengungen, Menschen zum Abitur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu führen. Die Quote der Studienberechtigten ist fast der CDU/CSU) doppelt so hoch wie in Bayern. Das liegt nicht an der Qualität bayerischer Schüler, aber vielleicht an der Be- René Röspel (SPD): sonderheit, dass man in NRW sagt: Wir wollen mehr Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Menschen zum Abitur bringen. Das ist eine besondere Herren! Eine Vorbemerkung außerhalb des Themas sei Leistung des Landes. Das spiegelt sich auch in der Zahl mir gestattet. Ich finde es richtig, dass auch ein Abgeord- der Studierenden pro Einwohner wider. Das habe ich neter die Möglichkeit haben muss, seinen Vaterpflichten beim letzten Mal schon gesagt. In NRW liegt sie deutlich nachzukommen. Deswegen bin ich gerne kurzfristig für höher als in Bayern oder Sachsen. Das heißt, in NRW eingesprungen, der jetzt bei seinem kran- studieren mehr Menschen. Das ist auch gut so. Dann ken Kind zu Hause ist. Wir wünschen gute Besserung an aber zu sagen: „Seht als Land zu, wie ihr das hinbe- dieser Stelle. kommt“, ist zu kurz gedacht und dient nicht der Sache. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geordneten der LINKEN) (B) Jetzt aber zum Thema. Ich bin sehr froh über diesen Ich will ein weiteres, sehr eindringliches Beispiel (D) Gesetzentwurf, weil ich glaube, dass wir damit im Be- nennen, das uns gestern Morgen beim Forschungsfrüh- reich der Hochschulen einen guten und wichtigen Schritt stück der Helmholtz-Gemeinschaft vorgestellt wurde: weiterkommen und weil dieser Gesetzentwurf auch an- „Das Haus der kleinen Forscher“, eine Stiftung mit Mit- erkennt, dass die Länder unterschiedliche Voraussetzun- teln aus der Helmholtz-Gemeinschaft und privaten Trä- gen und unterschiedliche Bedingungen haben. In den gern, die mehr Mathematik, Informatik und Naturwis- Debatten hört man häufig, dass alle Länder gleich seien senschaften in die Kindergärten bringen wollen. Der und gefälligst die Aufgaben in ihrem Bereich überneh- Geschäftsführer hat einen total engagierten, begeisterten men sollen. Das hat man nicht nur bei der Debatte über und begeisternden Vortrag gehalten. Man merkte, dass er den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit lange Zeit in Ulm bei Manfred Spitzer, einem Neurowis- heute gemerkt. Das würde vielleicht klappen, wenn die senschaftler, war, der seit Jahren – wissenschaftlich be- Bundesländer alle gleich wären, so als wenn man die Sa- legt – sagt, wie wichtig es ist, im frühkindlichen Bereich hara als Wüste in Quadrate aufteilen würde. Dann mit Bildung anzufangen. Der alte Spruch „Was Häns- könnte man sagen, dass dort die Voraussetzungen alle chen nicht gelernt hat, lernt Hans nimmermehr“ gilt ei- gleich sind. Das kann funktionieren. gentlich auch, wenngleich nicht in dieser Rigidität. Es ist im realen Leben aber nicht so. Vielmehr – das Der Geschäftsführer hat gesagt, dass er die Vision hat, klang auch gerade bei Patricia Lips an – spielt es eine dass er in 30 Jahren auf der Tagung der Nobelpreisträger Rolle, welche Regionen in einem Bundesland sind. sein wird und dort zwei Nobelpreisträger – am besten Große Unterschiede bestehen zwischen Großstädten und Deutsche – nebeneinander sitzen, die sagen: Mensch, du ländlichen Regionen. Wenn ich aus meiner Großstadt im warst auch im „Haus der kleinen Forscher“ und hast im Wahlkreis in Richtung ländliche Region gehe, dann ver- Kindergarten dieses Interesse für Naturwissenschaften ändert sich viel: die Arbeitslosenquote, die Zahl der So- entdeckt. – Das ist genau der richtige Weg. Der Weg zialhilfeempfänger und der Alleinerziehenden sinkt. Al- zum Nobelpreis fängt im Kindergarten an und nicht erst les wird anders, in der Regel besser. Deswegen kommt in der Hochschule. gerade Großstädten eine besondere Bedeutung zu. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meiner Stadt Hagen. DIE GRÜNEN) Wir haben zu Beginn des Schuljahres 260 Flüchtlings- kinder ganz schnell in Auffangklassen aufnehmen müs- Daher ist die Trennung – der Bund ist nur für Hochschu- sen. Es waren Kinder, die häufig gar nicht die deutsche len zuständig, alles andere müssen Länder und Kommu- Sprache beherrschen, manchmal nur teilweise, mitunter nen übernehmen – zu kurzsichtig. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5399

René Röspel (A) (Beifall der Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) [SPD] und Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE Frau Präsidentin! Gestatten Sie mir vorweg einen GRÜNEN]) Satz zur Rede von Frau Lips. Liebe Frau Lips, es kann Der Bildungsforscher, der gestern dabei war, hat zwei einfach nicht angehen, dass Sie sich heute hierhin stellen und sagen: „Schaut doch! Viele Gelder aus der BAföG- Punkte der Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte he- Reform gehen auch in die frühkindliche Bildung.“ Bei rausgehoben und gelobt: der gestrigen BAföG-Debatte haben etliche Ihrer Kolle- Der erste Punkt war das Ganztagsschulprogramm, das gen das Land Niedersachsen dafür kritisiert, dass es ge- die rot-grüne Bundesregierung 2003 auf den Weg ge- nau das getan hat. Das ist ein bisschen billig. bracht hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und bei der SPD – Dr. [CDU/ DIE GRÜNEN) CSU]: Das hat sie nicht gesagt!) Ich erinnere mich daran, dass vom rechten Block des – Ja, ja, natürlich. Lesen Sie das im Protokoll nach. Hauses die Zwischenrufe kamen: Einheitsschule, Ver- wahranstalt. Es gab große Proteste. Das hat sich alles ge- Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Wie heißt legt. es doch so schön? Man erntet, was man sät. Natürlich vorausgesetzt, dass man etwas ernten will. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Man sollte auch zuhören!) In meinem Wahlkreis gibt es 54 Ganztagsgrundschulen. Alle wissen, wie gut es ist, eine vernünftige Ausstattung Wenn ich mir Ihre Bildungspolitik und die Reden heute zu haben, Räume, in denen sich Kinder wohlfühlen, in vergegenwärtige, dann habe ich da so meine Zweifel. Sie denen sie auch den Nachmittag verbringen können. Aber säen – um beim Bild des Landwirts zu bleiben – entwe- das Problem ist – Edelgard Bulmahn hat das früher ange- der überhaupt nicht oder nur spärlich; und wenn Sie et- sprochen –, die Pädagogik darf nicht vom Bund bezahlt was säen, dann lassen Sie die eine Hälfte des Ackers un- werden. Und das verstehen die Menschen überhaupt berührt. – Dieses Bild ist symptomatisch für Ihre nicht. Zu sagen, für Nachmittagsunterricht sind wiede- Bildungspolitik, die wider besseres Wissen am Koopera- rum die Länder zuständig, das geht an der Lebenswirk- tionsverbot in der allgemeinen Bildung festhält. lichkeit der Menschen vorbei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zum zweiten Beispiel, das gelobt wurde: Bei der Stif- (B) tung „Haus der kleinen Forscher“ geht es darum, früh Aber damit nicht genug: Zwischenzeitlich ist es so (D) anzufangen, in Kindern ein Interesse für bestimmte The- – wir haben es in mehreren Debatten gehört –, dass Sie men zu wecken. Das Programm soll nun – glücklicher- sich gut 13 Jahre nach dem ersten PISA-Schock gegen- weise unterstützt durch das BMBF – auf Grundschulen seitig auf die Schulter klopfen, weil wir inzwischen im ausgeweitet werden. Aber sie dürfen nur nachmittags in PISA-Vergleich durchschnittliche Werte erreicht haben. die Ganztagsgrundschulen, weil ihre Arbeit durch Bun- Aber ein Bildungssystem darf sich nicht nur mit Durch- desmittel finanziert wird. Deshalb dürfen sie ihre Arbeit schnitt begnügen. Durchschnitt ist für uns nicht genug. nicht mit der der Lehrer koordinieren und schon vormit- Durchschnitt ist Stagnation, und Stagnation ist kein Er- tags tätig werden. folg. Deshalb muss das Kooperationsverbot abgeschafft werden. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Kooperationsverbot!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Das ist so weit an der Lebenswirklichkeit vorbei – das Albert Rupprecht [CDU/CSU]: An uns liegt es kann man den Menschen draußen nicht erklären. nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das hat uns auch die jüngste OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ eindrücklich gezeigt: geringste Bil- Wir sollten uns davor hüten, Politik zu machen, die an dungsmobilität, weiterhin bestimmt der Geldbeutel der der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbeigeht. Eltern darüber, wie erfolgreich die Bildung ist oder eben Deswegen muss der nächste Schritt sein, die Möglich- nicht, Bildungsinvestitionen unterhalb des OECD- keit zu schaffen, dass der Bund den Ländern in Bil- Durchschnitts. Liebe Kollegen, das ist doch keine Er- dungsfragen Angebote machen und auch Finanzhilfe ge- folgsstory! Das ist kein Grund, sich auf die Schulter zu ben kann. klopfen. Vielen Dank. Wir Grüne waren und sind nach wie vor für Ganztags- schulen. Ganztagsschulen sind aus unserer Sicht Orte, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Kreativität und Innovationsfähigkeit befördern, weil der CDU/CSU) sie an den Potenzialen der Kinder und der Jugendlichen ansetzen. Gerade weil sie das tun, können sie zu mehr Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Chancen-, Teilhabe- und Leistungsgerechtigkeit, also Als nächster Redner hat der Kollege Özcan Mutlu das – das sage ich in Richtung der SPD – zu mehr Bildungs- Wort. gerechtigkeit beitragen. 5400 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Özcan Mutlu (A) (René Röspel [SPD]: Das brauchen Sie nicht in un- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Niedersachsen (C) sere Richtung zu sagen! Wir wissen das!) ich, NRW Löhrmann! Aus Berlin kann man das schon mal verwechseln! Eben schön hier Deshalb bin ich mit Ihnen einer Meinung: Das Ganztags- in Brandenburg, Özcan!) schulprogramm der rot-grünen Regierung – an dieser Stelle ein Dank an die Präsidentin, die damals in einer – Gut. anderen Funktion war – ist eine Erfolgsstory, unsere ge- Frau Löhrmann hat gesagt: Wir müssen wegkommen meinsame Erfolgsstory, von einem Denken in Zuständigkeiten und hinkommen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einem Denken in Verantwortlichkeiten. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und die sollten wir auch fortsetzen. Ich appelliere an die- Sie hat recht. Deshalb sage ich: Das, was Sie hier prakti- ser Stelle an Sie, Herr Kollege Heil. Wenden Sie das zieren, ist organisierte Verantwortungslosigkeit. Das Fest- Struck’sche Gesetz an: Kein Gesetz verlässt den Bundes- halten an dem Kooperationsverbot ist verantwortungs- tag, wie es hineinkommt. – Stimmen Sie unserem Antrag los. Nutzen Sie die Chance: Nehmen Sie unseren Antrag zu. an, korrigieren Sie die Fehler aus der FödKom II. Lassen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sie uns gemeinsam etwas für die Bildung unserer Kinder Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wenn wir mit und Jugendlichen tun und nicht nur für die universitäre Rot-Grün eine Zweidrittelmehrheit hätten, Bildung. Das ist wichtig. wäre es schon durch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weil immer noch am Kooperationsverbot festgehalten wird, können wir nicht mehr in Ganztagsschulen inves- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: tieren. Das gilt insbesondere für das Bildungssystem, das Als nächster Redner hat der Kollege Tankred zu einem inklusiven Bildungssystem weiterentwickelt Schipanski das Wort. werden soll. Auch diesbezüglich treten wir auf der Stelle. Ich kann nur das wiederholen, was ein Kollege (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vorhin gesagt hat: Es kann doch nicht sein, dass wir die neten der SPD) UN-Behindertenrechtskonvention ratifizieren – das ha- ben wir vor fünf Jahren hier getan – und in diesem Punkt Tankred Schipanski (CDU/CSU): aber immer noch auf der Stelle treten. Wir können als Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bund doch nicht sagen: „Das liegt im Zuständigkeitsbe- Das ist heute eine lebhafte Debatte. Wir würden uns na- (B) reich der Länder; Stichwort ‚Länderhoheit‘“, während türlich ein bisschen mehr Sachlichkeit wünschen. Herr (D) die Länder wiederum sagen: „Barrierefreie Schulen sind Mutlu, das wäre fein. Ich hoffe, Frau Meiritz von Spiegel Aufgabe der Kommunen“, und die Kommunen wiederum Online schaut zu. Sie hat neulich kritisiert, die Debatten sagen: „Wer bestellt, der zahlt.“ – Das Ergebnis ist: Bei seien nicht mehr lebhaft und die Geschäftsordnung sei so der Inklusion herrscht Stillstand. Das können wir uns schwierig. Ich muss sagen: Die Debatte heute ist alles nicht leisten. andere als langweilig. Das macht Spaß. Unsere Ministe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rin hat in ihrer Rede von einem Gesamtpaket gespro- sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. chen. Die Grünen dagegen sprechen von einer Junktims- Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]) klausel, von Erpressung. Dieses Problem müssen wir angehen. Auch deshalb ge- (Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ hört dieses Kooperationsverbot abgeschafft. DIE GRÜNEN]) An dieser Stelle würde ich gerne Frau Sylvia Meine Damen und Herren, dies ist ein Festtag für die Löhrmann, die derzeitige KMK-Präsidentin, zitieren, Bundesländer. Das ist eine Festtagswoche für die Bun- weil ihr Name und das Land Niedersachsen hier öfter ge- desländer: Gestern gab es eine Milliardenentlastung beim nannt worden sind. BAföG, und heute schaffen wir die rechtlichen Grundla- gen, damit sich der Bund dauerhaft und nicht nur tempo- (Sven Volmering [CDU/CSU]: Die kommt aus rär an den Kosten für die Hochschulen beteiligen kann. NRW!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. – NRW. Habe ich nicht NRW gesagt? Entschuldigung, Oliver Kaczmarek [SPD] – Zuruf von der ich habe mich versprochen. CDU/CSU: Halleluja!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nord- Das ist wie Ostern und Weihnachten zusammen. Da rhein-Westfalen! – Albert Rupprecht [CDU/ kann man überhaupt nicht von Erpressung sprechen. CSU]: Oder aus der Schweiz vielleicht? Wer Das, was Sie hier machen, ist ganz schlechter politischer ist denn das eigentlich?) Stil. – Nordrhein-Westfalen. Liebe Kollegen, ich meinte Wenn ich nach links, auf die Bundesratsbank, blicke, Nordrhein-Westfalen. Ruhig Blut! Da ich nur noch ein bin ich aber bitter enttäuscht. Ich möchte unseren Bun- paar Sekunden Redezeit habe, bin ich irgendwie unter desländern bei der zweiten und dritten Lesung eine Druck. zweite Chance geben. Ich möchte aber sagen: Ein Wort Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5401

Tankred Schipanski (A) des Dankes ist bei so viel Engagement des Bundes für den wir seit 2010 diskutieren, den wir 2011 auf dem (C) unsere Bildungsrepublik Deutschland mehr als ange- Bundesparteitag der CDU faktisch ein Stückchen voran- bracht. gebracht haben, den alle Wissenschaftsorganisationen seit langem gefordert haben und der einen breiten gesell- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Lisa schaftlichen Konsens aufgreift. Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Es hat etwas lange gedauert; da hat Herr Gehring Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: durchaus recht. Man kann aber ohne Goethe sagen: Gut Ding will Weile haben. Wir haben nun einen Formulie- Herr Kollege Schipanski, lassen Sie eine Zwischen- rungsvorschlag gefunden, der auch den Bundesrat zu- frage des Kollegen Rossmann zu? friedenstellt. Erinnern wir uns an die letzte Legislaturpe- riode: Da haben wir einen Änderungsantrag eingebracht, Tankred Schipanski (CDU/CSU): der im Bundesrat aufgehalten, blockiert wurde. Wir Eine Zwischenfrage? – Aber gerne. brauchen für eine Verfassungsänderung eine Zweidrittel- mehrheit bei Bundesrat und Bundestag. Von daher freue Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): ich mich, dass der Bundesrat jetzt zustimmt. Herr Kollege Schipanski, ich möchte es so in eine Das KIT in Karlsruhe wurde angesprochen. Wir ha- Frage kleiden: Haben Sie Verständnis dafür, dass die ben dort mittlerweile Erfahrungen gesammelt, wie Ko- Kultusministerkonferenz langfristig zu planen ist, sodass operationen zwischen Unis und außeruniversitären Ein- sie sich mit den manchmal kurzfristig festgelegten Ta- richtungen laufen können. Ich finde sehr spannend, was gesordnungen des Bundestages nicht so leicht vereinba- die Fraunhofer-Gesellschaft gegenwärtig vorschlägt: re- ren lässt? Aktuell findet eine Kultusministerkonferenz gionale Leistungszentren, wo sich um die Universitäten statt, an der CDU-Minister, SPD-Minister und andere herum ein Konzept zur Zusammenarbeit entwickelt. Ich Minister teilnehmen. denke, das ist mit Blick auf Artikel 91 b Grundgesetz ein interessanter Vorschlag. Für uns ist wichtig, dass Hoch- (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Es gibt auch schulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen Mitarbeiter!) auf Augenhöhe verhandeln. Wir sollten deshalb die Erwartung bzw. den Wunsch aus- (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann drücken, dass, wenn Weihnachten ist, wenn wir diesen [SPD]) Gesetzentwurf verabschieden, die Bundesratsbank be- setzt ist. Dieser Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes macht es erstmals möglich, dass sich der (B) Tankred Schipanski (CDU/CSU): Bund institutionell engagiert. Für uns ist klar, dass wir (D) Lieber Kollege Rossmann, Sie haben es schon gehört: das Geld nicht mit der Gießkanne verteilen, sondern dass wir dies – genau so, wie es im Gesetzentwurf steht – an Den Landesregierungen gehören nicht nur Kultusminis- gewissen Kriterien festmachen. Die überregionale Be- ter an. Es gibt auch Bevollmächtigte beim Bund, die re- deutung wurde angesprochen. Es geht um Ausstrah- gelmäßig an den Sitzungen teilnehmen, wenn wir über lungskraft. Dies muss nicht international sein, sondern innere Sicherheit und Ähnliches sprechen. Von daher kann auch national sein. Wir wollen – auch das steht in hätte ich die Anwesenheit von Ländervertretern als an- der Gesetzesbegründung – mit dieser Verfassungsände- gemessen empfunden. Ich habe gesagt: In der zweiten rung Exzellenz in Breite und in Spitze verbessern. und dritten Lesung wird es sicherlich die Möglichkeit geben, das Engagement des Bundes seitens des Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter rates zu würdigen. Rossmann [SPD]: Breite und Spitze!) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: – So ist es, Breite und Spitze. Wo ist eigentlich die Kanzlerin? Wie steht die Die vorgeschlagene Verfassungsänderung löst keines- Kanzlerin eigentlich zum Kooperationsver- falls nur die Hälfte des Problems, wie es von den Grünen bot?) formuliert wird. Das klare Bekenntnis von Politik und Wissenschaft (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: lautet: Die Hochschulen sind das Herzstück unseres Ein Drittel oder ein Viertel!) Wissenschaftssystems. Dieses Herzstück lag bis dato in der alleinigen Verantwortung der Bundesländer. Diese Es ist auch nicht nur der kleine Finger einer Hand, son- nehmen aus gesamtstaatlicher Sicht ihre Verantwortung dern wir strecken den Bundesländern die ganze Hand nicht vollumfänglich wahr. Daher hilft der Bund seit vie- entgegen, len Jahren mit ganz besonderen Konstruktionen. Die Pakte, die durch die Grundgesetzänderung von 2006 er- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wir haben möglicht wurden, sind bereits angesprochen worden. zwei Hände!) Aber auch diese Pakte haben ihre rechtlichen Grenzen um unsere Kooperationskultur zu vertiefen. erreicht. Wir wollen – das wurde mehrfach angespro- chen – die Auseinanderentwicklung von außeruniversitä- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ren Forschungseinrichtungen und Hochschulen aufhalten. Das glauben aber nur Sie! – Kai Gehring Daher liegt heute dieser Gesetzentwurf zur Verfassungs- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man braucht änderung vor. Es ist ein historischer Gesetzentwurf, über beide Hände!) 5402 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Tankred Schipanski (A) Wir modernisieren den Föderalismus, der in sich selbst bunden sind föderale Finanzbeziehungen. Wir haben, (C) bereits ein Kooperationsgebot enthält. Daher ist die oft lieber Herr Röspel, auch einen Länderfinanzausgleich, verwendete Vokabel Kooperationsverbot hier falsch. der für genau diese Chancengleichheit in den einzelnen Bundesländern sorgen soll. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Der war gut!) (Zuruf des Abg. René Röspel [SPD]) Wenn man den Populismus hinsichtlich des Schulbe- Die Bundesländer müssen lernen, dass der Bund keine reichs in dieser Debatte hört, muss man sagen, dass jedes zu melkende Kuh ist, die ausgleicht, wenn man in den Bundesland bereits jetzt die Möglichkeit hat, einheitli- Landeshaushalten falsche Schwerpunkte setzt. che Schulbücher und einheitliche Lehrpläne einzufüh- ren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin – aber es gab Ich dachte, Sie sind gegen Einheitsschulen! – ja die Zwischenfrage, ohne dass die Uhr gestoppt Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wurde –: Es geht nicht um Einheitlichkeit!) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Die mel- Jedes Bundesland hat die Möglichkeit, Sozialpädagogen kende Kuh!) einzustellen, digitale Bildungsangebote zu etablieren, Dem Bund liegt das Gesamtwohl sehr am Herzen. Daher Ganztagsschulen und Horte einzuführen sowie Inklusion freuen wir uns auf diese Beratungen. Wir geben den zu betreiben. Dafür bedarf es keiner Grundgesetzände- Hochschulen mehr Planungssicherheit. Es geht um Inno- rung. vationskraft, um die Leistungsfähigkeit unseres Bildungs- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rosemarie systems. Von daher: Stimmen Sie, liebe Damen und Her- Hein [DIE LINKE]: In welchem Land leben ren der Opposition, diesem Gesetzentwurf zu. Sie denn?) Vielen Dank. Leider machen die Bundesländer das nicht; aber das ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht unsere Aufgabe. neten der SPD) Die Länder haben darüber hinaus die Möglichkeit, sich über ihre Landesgrenzen hinweg zu verständigen, Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: welche Standards, welche Prüfungen gelten und welche Als nächster Redner hat der Kollege Oliver Bücher in Gesamtdeutschland verwendet werden sollen. Kaczmarek das Wort. (B) Auch dazu bedarf es keiner Grundgesetzänderung. Ich (D) verweise auf die Homepage der Kultusministerkonfe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten renz, die ja gerade tagt: Es gibt knapp 150 Vereinbarun- der CDU/CSU) gen zu gemeinsamen Bildungsstandards, Aufgabenpools, Zentralprüfungen und der Anerkennung von Abschlüs- Oliver Kaczmarek (SPD): sen. Das sind 150 Vereinbarungen für mehr Vergleich- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! barkeit und Einheitlichkeit im deutschen Schulwesen. Ob das jetzt die ganze Hand, der kleine Finger, ein Drit- Ich appelliere, diese Vereinbarungen nunmehr in einen tel oder wie auch immer ist, ich will es mal so formulie- verbindlichen Staatsvertrag zwischen den Ländern auf- ren: Zur Kooperation im gesamten Bildungsbereich ist zunehmen. Somit hätten wir mehr Transparenz, mehr das heute der erste wichtige Schritt. Der Süden der Re- Verbindlichkeit, und wir könnten dem Eindruck eines publik – es ist ja nicht nur Herr Kretschmann zu über- Wirrwarrs, der hier entsteht, ein ganzes Stück entgegen- zeugen, sondern Herr Spaenle auch noch – braucht noch treten. ein bisschen Zeit auf dem Weg der Erkenntnis. Die räu- men wir denen auch ein. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist wichtig, dass wir mit dieser geplanten Grundge- Klar ist: Die Defizite in der Zusammenarbeit der Bun- setzänderung auch etwas anfangen. Das ist ja hier bereits desländer untereinander können nicht mit einer Verfas- in einigen Beiträgen deutlich geworden. sungsänderung behoben werden. Das muss unser Koali- tionspartner anerkennen. Liebe Frau Gohlke, das hat (Beifall bei der SPD) auch nichts mit Ideologie zu tun. Es stehen einige Entscheidungen an. Der Blick in den (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Nein!) Koalitionsvertrag hilft, um zu sehen, was auf der Agenda steht: Hochschulpakt, Exzellenzinitiative, Pakt für For- Eine Grundgesetzänderung im Bereich der Schule schung und Innovation, Qualitätspakt Lehre – das sind wird nicht dazu führen, dass es in den Schulen plötzlich Elemente, die das Wissenschaftssystem strukturell be- iPads regnet oder Schulen renoviert werden. einflusst und die internationale Sichtbarkeit Deutsch- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: lands als Wissenschaftsstandort nach vorne gebracht ha- Es regnet rein in die Schulen, das ist das Pro- ben. Diesen Impuls wollen wir inhaltlich und strategisch blem! Weil der Bund kein Geld geben darf!) nachhaltig aufgreifen, weiterentwickeln. Das ist die He- rausforderung für diese Wahlperiode. Wir haben eine klare, ausgewogene und funktionale Aufgabenverteilung in unserem Bundesstaat. Damit ver- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5403

Oliver Kaczmarek (A) Darüber hinaus haben wir vereinbart, die Grundfinan- Föderalismusverständnis – haben diese Entscheidung an (C) zierung der Hochschulen zu verbessern – das steht im der Stelle zu akzeptieren. Koalitionsvertrag –, die akademische und berufliche Bil- dung besser miteinander zu verzahnen sowie planbare Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, dass die und verlässliche Karrierewege in der Wissenschaft zu Bundesländer mit der BAföG-Entlastung nicht richtig schaffen. Deswegen mein Appell an dieser Stelle: Der umgehen können. Gestern ist hier Nordrhein-Westfalen Bund muss seinen Gestaltungsraum, der ihm neu eröff- genannt worden. Ich finde, man muss damit redlich um- net wird, umfassend sehen. Exzellenz, damit auch die in- gehen. ternationale Sichtbarkeit des Wissenschaftsstandortes, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – und die Breitenförderung sind für uns untrennbar mit- Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Die können einander verbunden. Das müssen wir konzeptionell un- überhaupt nicht mit Geld umgehen!) termauern. An der Stelle ein Hinweis: Allein für die Ausfinanzie- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tankred rung des Hochschulpaktes II – dieses Bundesland trägt Schipanski [CDU/CSU]) allein die Hälfte des Aufwuchses, den die KMK jetzt noch einmal oben draufgelegt hat, weil dort so viele Meine Damen und Herren, Kooperation bedeutet, Leute studieren – werden zwischen 2015 und 2020 dass mindestens zwei gleichrangige Partner auf Augen- 2,4 Milliarden Euro mehr aufgewendet. Die BAföG-Ent- höhe miteinander kooperieren. Deswegen möchte ich lastung – ich sage dies nur, weil es ganz wichtig ist; ohne gerne zwei Anmerkungen zum Föderalismus machen. dem wäre es nämlich gar nicht möglich, in den Hoch- Die erste ist: Der natürliche Kooperationspartner des schulpakt weiter zu investieren, auch was den Hoch- Bundes – das ist doch banal – in der Bildungspolitik, in schulpakt III angeht – wird in dem gleichen Zeitraum der Wissenschaftspolitik sind die Länder. Unser Födera- 1,7 Milliarden Euro betragen. Das ist also ein wichtiger lismusverständnis unterstreicht auch vor diesem Hinter- Beitrag zur Entlastung der Länder. Aber wir sollten nicht grund in Zukunft die grundsätzliche Zuständigkeit der so tun, als wenn die mit dem Geld nicht umgehen könn- Länder für die Wissenschaft. ten. Sie investieren genau in diesen Zweck, nämlich in die Verbesserung der Studienbedingungen und der Wis- (Beifall bei der SPD) senschaft. Das belegt auch ein Blick in die Zahlen. Die Gesamtaus- (Beifall bei der SPD) gaben – ich habe es bereits an diesem Platz gesagt, möchte es aber wiederholen – für die Hochschulen tra- Deshalb komme ich zu der Schlussfolgerung: Wer gen die Länder zu etwa zwei Dritteln, und der Bund Kooperationen will, der braucht auch eine Kultur der (D) (B) leistet einen wichtigen Beitrag von – gesteigert – etwa Kooperation. einem Achtel. Wir sollten bei unseren Debatten im Deut- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen Bundestag nicht den Eindruck erwecken, als wäre DIE GRÜNEN) es genau umgekehrt. Die Länder haben die Grundzustän- digkeit, und das wird auch so bleiben. Und die leisten Die drei Hochschulpakte sind ein gutes Beispiel für ge- damit auch eine ganze Menge. lungene Kooperation; andere Beispiele sind hier schon angesprochen worden. Aber von diesem Platz soll mir (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des bitte keiner erzählen, dass diejenigen, mit denen wir ko- Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- operieren wollen und müssen, zur Kooperation gar nicht NEN]) in der Lage oder willens sind. Das entspricht nicht den Eine zweite Anmerkung zum Föderalismus: Die Auf- Tatsachen. Wir sollten im Interesse des Parlaments eine hebung des Kooperationsverbotes bedeutet eben nicht andere Tonart einschlagen. die Aufhebung des Subsidiaritätsprinzips. Alles das, was in den Ländern entschieden werden soll und muss, muss Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: auch dort entschieden werden. Herr Kaczmarek, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rupprecht? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Oliver Kaczmarek (SPD): Und wir haben auch die Aufgabe, das zu respektieren. Ja, gerne. Das betrifft beispielsweise auch die Entscheidung der Niedersächsischen Landesregierung, in die frühkindli- che Bildung zu investieren. Albert Rupprecht (CDU/CSU): Eine Frage zu stellen, nachdem ich heute schon reden (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Da gibt es konnte, ist fast schon unfair, aber diese Sache brennt mir eine Vereinbarung!) auf den Nägeln. Das ist doch eine Entscheidung – ich lasse jetzt mal bei- Sie sprechen von einer Kooperationskultur. Ich glaube, seite, dass es weltexklusiv ist, wenn einige hier behaup- zur Kooperation gehört Vertrauen. Es ist doch so: Wir ha- ten, vorschulische Bildung habe nichts mit schulischer ben aus unserem Haushalt 1,17 Milliarden Euro bereit- Bildung zu tun –, die der Landtag getroffen hat, weil es gestellt, um 35 Prozent der von den Ländern zu tragen- offensichtlich einen Bedarf gibt. Und wir – das ist unser den BAföG-Kosten zu übernehmen. Wir schultern 5404 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Albert Rupprecht (A) diesen Kraftakt. Es gibt eine Vereinbarung zwischen den schule und Schule sieht? Das macht Niedersachsen im (C) Vertretern von Bund und Ländern, dass diese freiwer- Übrigen auch. denden Mittel Schulen und Hochschulen zugutekom- (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Genau das men. Wenige Tage später sagt der Ministerpräsident von macht es nicht!) Niedersachsen: Diese Vereinbarung interessiert uns nicht, wir investieren das Geld da, wo wir wollen. – Ich Schwerpunkt heißt aber auch: Man kann bei Bedarf möchte ernsthaft die Frage stellen, ob das vertrauensför- davon abweichen. Da die Vorgängerregierung – das war dernd ist. eine schwarz-gelbe – zu wenig im Bereich von Kitas ge- macht hat, gehört das Geld in den Kitabereich. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt so nicht! Das ist nach der Vereinbarung ausdrück- Der Bildungsbegriff ist umfassend. Die Verwendung lich möglich! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ der Mittel auf diese Weise ist rechtlich möglich. Das ist DIE GRÜNEN]: Sehen Sie sich die Vereinba- keine falsche Verwendung der Mittel, was der Fall wäre, rung genau an! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ wenn das Geld beispielsweise in den Ausbau von Park- DIE GRÜNEN]: Kennen Sie die Vereinba- buchten gesteckt würde. Das Geld geht in Niedersachsen rung?) eins zu eins in die Bildung: in Schule, Hochschule und Kita. Könnten Sie den Kollegen einfach bitten, dass er Ich bitte um Verständnis: Zur Kooperation, zur Zusam- das zur Kenntnis nimmt? menarbeit gehört Vertrauen. Vertrauen heißt, Vereinba- rungen einzuhalten. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Oliver Kaczmarek (SPD): NEN) Vertrauen heißt, dass wir darauf vertrauen, dass die Länder verantwortungsvoll mit dem Geld umgehen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Soweit dies in Form einer Frage geschieht, wird den (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Anforderungen Rechnung getragen, liebe Kolleginnen Wir werden nur dann dagegen protestieren, wenn wir und Kollegen. Grund zu der Annahme haben, dass das nicht der Fall ist. Ich sage noch einmal: Die Annahme, dass die vorschuli- Oliver Kaczmarek (SPD): sche Bildung nichts mit der schulischen Bildung zu tun Herr Kollege Heil, ich bedanke mich für den Hinweis habe, teile ich nicht. Deswegen können wir es einer Lan- und werde Ihre Worte bei geeigneter Gelegenheit in ei- desregierung, die einen offensichtlichen Bedarf auf- nem Gespräch übermitteln. (B) greift, nicht vorwerfen – das wäre absurd –, dass sie in (D) frühkindliche Bildung investiert. Das halte ich für kei- (Heiterkeit) nen Beitrag zu einer Kooperationskultur. Ich will zum Schluss kommen. Ich glaube, wir sollten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verhindern, dass Kooperationen in Zukunft eine Sache der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE – mit Verlaub, Frau Ministerin – der Staatssekretäre und GRÜNEN) Minister auf der Verwaltungsebene werden. Wir sollten ein Interesse daran haben, dass das Parlament bei zu- künftigen Kooperationen deutlich mehr mitarbeitet. Des- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: wegen brauchen wir inhaltliche Debatten, um diesen Herr Kaczmarek, es gibt den Wunsch nach einer großzügigen Rahmen, den wir geschaffen haben, voll zweiten Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen auszunutzen. Wenn das der Kerngehalt und das Wesen Hubertus Heil. der Debatten für die Zukunft sind, dann bin ich da sehr zuversichtlich. Oliver Kaczmarek (SPD): Vielen Dank. Gern, natürlich. (Beifall bei der SPD) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Es ist unge- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: wöhnlich, sich hier zu Wort zu melden; denn wir beide, Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin Herr Rupprecht und ich, haben in der Debatte bereits ge- Dinges-Dierig das Wort. sprochen. Aber als Niedersachse fühle ich mich doch he- (Beifall bei der CDU/CSU) rausgefordert, etwas dazu zu sagen. Herr Kaczmarek, könnten Sie dem Kollegen Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU): Rupprecht, unserem geschätzten Koalitionspartner, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unter dem Eindruck der gerade geführten Debatte will ( [CDU/CSU]: Betonung auf ich Ihnen Folgendes sagen: Ich war vorgestern, am Mitt- „geschätzt“!) wochabend, in Bad Honnef und habe dort an einem Tref- bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine Vereinba- fen von über 300 Wissenschaftlerinnen und Wissen- rung zwischen Bund und Ländern gibt, die die Verwen- schaftlern, Funktionären unserer Hochschulen, aber auch dung der Mittel schwerpunktmäßig im Bereich Hoch- außeruniversitärer Forschungseinrichtungen teilgenom- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5405

Alexandra Dinges-Dierig (A) men, bei dem es zu einer sehr heftigen Diskussion kam. Wege zu ringen und dann voneinander zu lernen. Auch (C) Sie war deshalb heftig, weil die Wissenschaftlerinnen das haben wir immer getan. und Wissenschaftler nicht wussten, dass ein Vertreter der Ich weiß, wie schwierig es ist, nach draußen verständ- Politik im Raum war. Ich war zwar anwesend, irgendwo lich zu machen, warum es eigentlich sinnvoller ist, dass zwischendrin, aber ansonsten waren sie unter sich. Sie mehrere Länder eine Verantwortung haben, als dass der haben dann über die Politik hergezogen und gefordert, Bund sagt: Da soll es langgehen. – Das ist sehr schwie- dass die Politik das einmal zur Kenntnis nehmen sollte. rig. Wenn man vor Ort mit den Bürgerinnen und Bürgern (Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist aber nor- spricht – hier greife ich ein Stück weit auf meine Zeit vor mal!) meiner Mitgliedschaft im Bundestag zurück –, muss man ihnen deutlich machen, dass nicht allein der Wech- Auf der einen Seite war es amüsant. Auf der anderen sel der Schule wegen eines Umzugs von einem Bundes- Seite denke ich: Das, was wir hier heute abgeliefert ha- land in ein anderes ein Problem ist, sondern dass jeder ben, ging ein Stück in diese Richtung. Ich habe das Ge- Wechsel einer Schule, auch innerhalb eines Bundeslan- fühl, dass wir uns vielleicht doch ein bisschen zu viel mit des, nicht unerhebliche Probleme mit sich bringt. Das uns selber, der Verteilung von Kompetenzen und Verant- liegt daran, dass die handelnden Personen vor Ort die wortlichkeiten zwischen Bund und Ländern und nicht so Qualität bestimmen. Die Schulen kennen ihre Kinder vor sehr mit dem Kern, nämlich der Zukunft unserer Gesell- Ort, und auch die Universitäten und Fachhochschulen schaft und dem Beitrag der Wissenschaft dazu, beschäf- wissen, mit welchen Studierenden sie es zu tun haben tigen. An dieser Stelle sollten wir die Emotionen hier im und mit welchem Lehrpersonal die größten Chancen be- Saal ein bisschen runterfahren und sagen: Unser Wissen- stehen, das Beste aus ihnen herauszuholen. Deshalb un- schaftssystem, wie wir es heute haben, übt international terstütze ich die föderale Grundordnung hundertprozen- unglaubliche Anziehungskraft aus. tig. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU) Sie üben jetzt das Politiker-Bashing, das Sie selber kritisieren! Unglaublich!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Auch Stefan Hell, der bekanntermaßen gerade den Frau Dinges-Dierig, lassen Sie eine Zwischenfrage Nobelpreis erhalten hat, hat das vor zwei Tagen gesagt. des Kollegen Gehring zu? Die Wissenschaftslandschaft in Deutschland wird inter- national nun ganz anders wahrgenommen. Das ist natür- Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU): lich ein Verdienst von Bund und Ländern, die einen ge- Ja, gerne. (B) wissen Rahmen gesetzt haben. In allererster Linie ist es (D) aber ein Verdienst der Wissenschaft selber. Deshalb möchte ich an der Stelle einfach einmal Danke an die Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wissenschaft sagen. Nachdem wir eben Zeuge öffentlicher Verhandlungen innerhalb der Koalition über die Interpretation einer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bund-Länder-Vereinbarung in Bezug auf das Bildungs- neten der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ und Wissenschaftspaket wurden und Sie für die Unions- DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt eine Botschaft!) fraktion gerade ausgeführt haben, dass Sie unseren Fö- deralismus sinnvoll finden und die Entscheidungen der Wir wissen natürlich auch, dass wir nicht stehen blei- Länder achten, möchte ich Sie fragen: Achtet denn die ben dürfen. Deshalb diskutieren wir ja auch und fragen Unionsfraktion die Handlungsfreiheit der 16 Bundeslän- uns: Wie könnte es denn weitergehen? Was haben wir der, die auf der Basis der gemeinsamen Vereinbarung für Erkenntnisse aus den letzten Jahren und Jahrzehnten zum 6-plus-3-Milliarden-Paket jetzt 16 individuelle Bil- gewonnen? Wir lagen weit zurück. Herr Rossmann, ich dungs- und Wissenschaftspakete schnüren und genau glaube, Sie haben Ihre Ausführungen mit einer Rückbe- von dieser Freiheit, die die Vereinbarung lässt, Gebrauch trachtung auf das Jahr 1969 angefangen. machen? Es wäre am Ende einer solchen Debatte sicher- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: 1949!) lich eine spannende und wichtige Klarstellung gegen- über den Ländern, die, wie Sie gerade betont haben, im – 1949 sogar. Entschuldigung. – Wo wollen wir denn Rahmen der Bund-Länder-Vereinbarung Handlungsfrei- nun eigentlich hin, und welche Rolle spielt denn jetzt der heit haben und diese jetzt 16-mal ausüben. Artikel 91 b Grundgesetz in dieser ganzen Ausführung? (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU): Ja, da bin aber gespannt, was Sie uns erzäh- Herr Gehring, ich sage hier ganz deutlich, dass ich die len!) Entscheidungen der Länder respektiere, sofern sie sich an Vereinbarungen, und zwar Vereinbarungen im Sinne Ich möchte vorab an dieser Stelle betonen: Ich selber des ehrbaren Kaufmanns – nicht im Sinne eines Staats- bin überzeugt vom Föderalismus. Föderalismus bedeutet vertrags –, halten. für mich auch die Achtung der Entscheidungen derjeni- gen, die Verantwortung tragen. Das sind in dem Fall die (Beifall bei der CDU/CSU – Länder, die hier heute leider nicht vertreten sind; darüber [SPD]: Das war keine schlechte Antwort! – haben wir aber schon gesprochen. Föderalismus bedeu- Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Die Frage tet aber auch: Wir haben eine Chance, um die besten war gut und die Antwort auch!) 5406 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Alexandra Dinges-Dierig (A) Meine Damen und Herren, die grundlegende Verant- Exzellente Forschung schafft auch exzellente Lehre; (C) wortung für die Hochschulen haben die Länder, und das das ist ganz wichtig. Exzellente Forschung und exzel- wird und soll auch so bleiben; das hatte ich eben ausge- lente Lehre motivieren junge Menschen, diesen Weg zu führt. Es stellt sich aber jetzt die Frage, in welchen Wis- gehen. Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir hier senschaftsbereichen wir durch eine Veränderung des weitermachen. Nur dort haben wir die gut ausgebildeten Artikels 91 b Grundgesetz noch mehr und stärker koope- Köpfe, die wir morgen brauchen, in Ergänzung zu unse- rieren können als bisher. Was bringt uns das für Vorteile? rem hervorragenden Berufsbildungssystem. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ich sage ganz klar: Wenn wir auf die Herausforderun- Die Änderung des Artikels 91 b Grundgesetz wird uns gen der Zukunft eine Antwort haben wollen und wenn – davon bin ich fest überzeugt – die für die Hochschulen wir dabei Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit und damit für die Gesellschaft entscheidenden Zukunfts- – das Thema hatten wir neulich im Ausschuss – berück- fragen im gemeinsamen Ringen besser beantworten las- sichtigen wollen, das heißt, wenn wir der Gesellschaft sen. Deshalb begrüße ich die neue Formulierung für den von morgen etwas hinterlassen wollen, worauf sie auf- Hochschulbereich sehr. Ich bin auch fest davon über- bauen kann, dann brauchen wir einerseits eine verlässli- zeugt, dass die deutsche Forschungslandschaft das ge- che Grundfinanzierung durch die Länder und andererseits nauso sieht wie wir. eine stetige Zusammenarbeit von Bund und Ländern in ausgewählten Bereichen. Das halte ich für sehr wichtig. Vielen Dank. Deshalb appelliere ich ganz deutlich an die Länder, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und nicht – das be- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) fürchte ich ein bisschen – zu denken, sie könnten aufgrund der erweiterten Bund-Länder-Zusammenarbeit vielleicht Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: an der einen oder anderen Stelle bei der Grundfinanzie- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe diese rung sparen. Das darf nicht passieren. Die Zusammenar- wirklich spannende Debatte. Es ist doch sehr schön, beit bedeutet ein Plus und kein Substitut. wenn man feststellt, dass Entscheidungen, die manchmal hoch strittig durchgesetzt werden mussten, anschließend (Beifall bei der CDU/CSU) von vielen für gut gehalten werden. Ich möchte noch einmal auf die Tagung zurückkom- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen men. Es ging dort schwerpunktmäßig um die Exzellenz- auf den Drucksachen 18/2710 und 18/2747 an die in der initiative und deren Zukunft. Ich glaube, es ist wichtig, Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. einmal zu erkennen, was durch die Kooperation eigent- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann lich erreicht worden ist. Deshalb ärgere ich mich immer sind die Überweisungen so beschlossen. (B) über den Begriff „Kooperationsverbot“; Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und b auf: (D) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Aber der stimmt!) Lay, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE denn das gab es ja gar nicht. Gesetzliche Deckelung und Veröffentlichung (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der Zinssätze für Dispo- und Überziehungs- Das ist 2006 eingeführt worden!) kredite Die Kooperation der vergangenen Jahre hat zu einem Drucksache 18/2741 Paradigmenwechsel im Wissenschaftsbereich geführt. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Wir haben eine Dynamik im Wissenschaftsbereich, die Finanzausschuss uns niemand vorausgesagt hat. Kanada und die USA ha- ben vor 15 Jahren noch nicht einmal mit dem linken b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Auge geblinzelt, wenn es um den Wissenschaftsstandort richts des Ausschusses für Recht und Verbrau- Deutschland ging. Heute lädt Kanada Deutschland ein, cherschutz (6. Ausschuss) um uns zu fragen: Wie macht ihr das eigentlich? Was – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay, habt ihr in den letzten zehn Jahren gemacht? Ihr seid Dr. Dietmar Bartsch, , weite- ganz oben. – Kanada wird demnächst sogar unsere Ex- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE zellenzinitiative in den wichtigen Linien übernehmen. LINKE (Beifall bei der CDU/CSU) Begrenzung und Vereinheitlichung der Zinssätze für Dispo- und Überziehungs- Wir haben in diesem Bereich drei ganz wichtige kredite Punkte: Wir haben die Nachwuchsförderung – ohne die besten Köpfe geht es nicht –, wir haben die Kooperation – zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole zwischen den Wissenschaftseinrichtungen, und zwar Maisch, Renate Künast, , sowohl zwischen Hochschulen und außeruniversitären weiterer Abgeordneter und der Fraktion Einrichtungen als auch zwischen Hochschulen und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fachhochschulen, und wir haben veränderte Hochschul- Begrenzung von Dispositions- und Über- strukturen. Genau da können wir jetzt Entwicklungen ziehungszinsen verstetigen, und dazu leisten wir mit der Änderung des Artikels 91 b unseren Beitrag. Drucksachen 18/807, 18/1342, 18/2777 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5407

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Ich weise noch einmal darauf hin, dass nach einer in- Unser Vorschlag ist eine Deckelung auf 5 Prozent- (C) terfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache 38 Mi- punkte über dem Leitzins der Europäischen Zentralbank. nuten vorgesehen sind, und frage die Kolleginnen und Daran würden die Banken immer noch genug verdienen, Kollegen, ob es dazu Widerspruch gibt. – Das ist nicht aber bei fairen Preisen für die Verbraucherinnen und der Fall. Dann ist das so beschlossen. Verbraucher. Die Kolleginnen und Kollegen haben inzwischen ihre Deswegen möchte ich mich gerne im zweiten Teil Plätze eingenommen. Dann kann ich die Aussprache er- meiner Rede mit Ihren Einwänden beschäftigen, die si- öffnen. Ich erteile als erster Rednerin der Kollegin Caren cherlich gleich kommen werden. Erstens wird mit Hin- Lay das Wort. weis darauf, dass man keine Preisvorschriften machen kann, infrage gestellt, ob man überhaupt eine gesetzliche (Beifall bei der LINKEN) Deckelung einführen kann. Ja, meine Damen und Her- ren, das kann man. Eine vergleichbare gesetzliche Vor- Caren Lay (DIE LINKE): schrift gibt es bereits bei den Verzugszinsen. Daran ha- ben wir uns orientiert. Der Deckel liegt ebenfalls bei Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und 5 Prozentpunkten. Deswegen sagen wir: Was beim Ver- Herren! Zum wiederholten Male beschäftigt sich das zugszins gesetzlich möglich ist, das muss auch beim Hohe Haus mit einem Antrag der Linken, der zum Ge- Dispo möglich sein. genstand hat, dass Dispozinsen endlich gedeckelt wer- den sollen. Ich sage bewusst: zum wiederholten Male. (Beifall bei der LINKEN) Die CDU/CSU-Fraktion war in der Ausschusssitzung Zweitens wird gerne auf den Markt verwiesen und ge- diese Woche so freundlich, das nachzurechnen. In der sagt, man solle die Verbraucherinnen und Verbraucher Tat, der erste linke Antrag zu diesem Thema wurde nicht bevormunden; das könne der Markt regeln, und je- schon vor fünf Jahren eingebracht. Das wurde uns nicht der könne sich doch eine andere Bank suchen. Davon nur vorgerechnet, sondern auch ein Stück weit vorge- abgesehen, dass die Höhe des Dispozinses nicht das ein- worfen. Diesen Vorwurf kann ich aber nicht verstehen. zige Kriterium bei der Auswahl der Bank ist – es geht Denn an dem Problem hat sich nichts geändert. Ich darf schließlich auch um ein gutes Filialnetz oder eine wohn- Ihnen versprechen, dass die Linke dort, wo Probleme be- ortnahe Beratungsmöglichkeit –, empfehle ich Ihnen, stehen, dranbleiben wird und wir das Thema Deckelung diesen Test in Ihrem eigenen Wahlkreis durchzuführen. der Dispozinsen immer wieder auf die Tagesordnung Ich habe das gemacht und mir den Landkreis Bautzen setzen werden. angesehen. Sie finden keine Filialbank, die einen Dispo- (Beifall bei der LINKEN) zins von unter 10 Prozent anbietet. Deswegen ist dieses (B) Argument eine Illusion. Es läuft ins Leere. (D) Das Problem ist in der Tat seit langem bekannt. Die (Beifall bei der LINKEN) Dispozinsen sind viel zu hoch. Wir haben nach wie vor die Situation, dass sich die Banken ihr Geld zu einem Das verschärft sich mit Blick darauf, welche Klientel historisch niedrigen Leitzins bei der Europäischen Zen- zum Großteil betroffen ist. Das sind diejenigen Men- tralbank leihen können. Dort liegt der Leitzins gerade schen, die keine andere Chance haben, die vielleicht kei- einmal bei 0,05 Prozent. Aber sie verleihen es weiter zu nen Ratenkredit kriegen oder aus einer ökonomischen einem durchschnittlichen Dispozinssatz von 10,65 Pro- Notlage heraus gezwungen sind, einen Dispokredit auf- zent. Dazwischen liegt eine Spanne von über 10 Prozent- zunehmen. Wenn jemand schon knietief im Dispo steckt, punkten, wodurch sich die Banken auf Kosten der Ver- ist es illusorisch, zu sagen: Such dir doch eine andere braucherinnen und Verbraucher bereichern. Das ist zu Bank! – Bei welcher anderen Bank kann man in dieser viel. Das ist kein fairer Preis, und das können wir als Situation ein Konto eröffnen? Diese Argumentation ist Linke nicht akzeptieren. nicht tragfähig. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) In der Analyse bestand zumindest am Ende der letz- Das, was im Koalitionsvertrag steht, und das, was ten Legislaturperiode kurz vor dem Wahlkampf in die- vonseiten des Ministers angekündigt wurde, nämlich sem Hohen Haus Einigkeit. Ich bin sehr gespannt, ob wir dass man Transparenz herstellt und dafür sorgen will, uns wenigstens noch in der Analyse einig sind. Bisher dass die Banken ausweisen, wie hoch die Dispozinsen bestand die Differenz in der Frage, wie wir mit dem Pro- sind, kann man durchaus machen. Aber solange keine blem umgehen. Insbesondere die CDU/CSU, aber auch niedrigeren Dispozinsen angeboten werden, wird das ins die FDP haben die Position vertreten, noch einmal mit Leere laufen. Deswegen sagen wir: Transparenz ist gut, den Banken zu reden. Die Ministerin hat damals die aber eine gesetzliche Regelung ist besser. Banken zu Kamingesprächen eingeladen und es ansons- (Beifall bei der LINKEN) ten bei freundlichen Appellen belassen. Alle diese freundlichen Appelle haben nichts genützt. Deswegen Das dritte und letzte Gegenargument, auf das ich ein- sagen wir: Die Politik muss endlich handeln. Wir brau- gehen möchte, lautet, die Banken brauchten die Einnah- chen einen gesetzlichen Deckel für die Dispozinsen. men aus den hohen Dispozinsen wegen der hohen Kos- ten des Verwaltungsaufwands und wegen des hohen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Ausfallrisikos. Der Verwaltungsaufwand der Banken bei neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einem Dispokredit kann nicht höher sein als der bei ei- 5408 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Caren Lay (A) nem Ratenkredit. Zum Ausfallrisiko hat das Ministerium wollten. Die Banken haben sich bewegt, und das ganz (C) selbst eine Studie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist: ohne staatlichen Eingriff. Das Ausfallrisiko bei Dispokrediten ist mit 0,3 Prozent (Beifall bei der CDU/CSU) lächerlich gering. – Diese Gegenargumentation ist also nichts anderes als eine Schutzbehauptung. Diese können Das belegt auch die aktuelle Studie der Stiftung wir nicht akzeptieren. Warentest. Rund drei Viertel der über 100 Banken, die noch im letzten Jahr besonders hohe Zinssätze gefordert (Beifall bei der LINKEN) haben, sind günstiger geworden. Ich kann an dieser Wenn Sie sich von der CDU/CSU, wie ich vermute, Stelle nur sagen: Schade, dass sich Grüne und Linke heute wieder gegen eine gesetzliche Deckelung des Dis- nicht darüber freuen können. Aber ich sage auch ganz pozinses aussprechen, dann sollten Sie den Menschen deutlich: Wir sind hier noch nicht am Ende der Entwick- reinen Wein einschenken. Die Stiftung Warentest hat be- lung. Liebe Banken, es ist noch viel Luft nach oben. rechnet, dass die Banken mit jedem Prozentpunkt, den Nicht jeder in der Branche scheint den Pfiff gehört zu sie bei den Dispozinsen ansetzen, 380 Millionen Euro im haben. In Deckung zu gehen, den Kopf einzuziehen mit Jahr verdienen. Das heißt, wenn der Deutsche Bundestag der Vorstellung: „Der Sturm wird schon an uns vorüber- einen gesetzlichen Deckel beschließen würde, entginge ziehen; die Politik beruhigt sich schon wieder“, das ist den Banken ein Milliardengeschäft. Es ist aber ein Ge- zu kurz gedacht. Das werden wir nicht akzeptieren. schäft, das unfair ist und auf Kosten der Verbraucherin- Unsere Erwartungen an die Bankenbranche sind klar: nen und Verbraucher geht. Deswegen sagen wir: Schen- Gehen Sie mit Ihren Kunden fair um! – Erst wenn die ken Sie den Menschen reinen Wein ein! Wenn Sie das große Mehrheit der Kunden die Höhe der Dispozinsen nicht wollen, dann knicken Sie vor der Bankenlobby ein. für angemessen hält, sind wir, aber auch Sie von den Das machen wir nicht mit. Banken, zufrieden und am Ziel. Vorher werden die öf- (Beifall bei der LINKEN) fentlichen Debatten und auch die politische Diskussion – das garantiere ich – nicht enden. Deshalb sei noch ein- In den Bundesländern gibt es Druck. Beispielsweise mal ganz klar gesagt: Wir erwarten ein Austarieren der im Saarland, im Heimatland des Verbraucherministers Interessen der beiden Beteiligten, der Banken und der – er ist offenbar nicht anwesend; aber vielleicht kann Kunden. Aber wir wollen, wenn irgend möglich, keinen man ihm das mit auf den Weg geben –, hat ein entspre- staatlichen Eingriff. Denn die Nachteile, die ein staatlich chendes Bürgerbegehren der Linken die erste Stufe des verordneter Deckel für die Verbraucher hätte, liegen auf Volksbegehrens erreicht. Das ist ein Erfolg und sollte Ih- der Hand: nen ein Signal sein, endlich tätig zu werden. Der erste Nachteil. Wenn wir staatlich bestimmen, (B) (D) (Beifall bei der LINKEN) welche Höhe für einen Dispozinssatz vertretbar ist, wer- Ich komme zum Schluss. Ein weiteres Argument für den sich alle Banken an diese Höhe halten. Nehmen wir unser Anliegen ist: Die Verbraucherschutzministerkon- an, er liegt, wie Sie gefordert haben, bei 7 Prozent. Wa- ferenz hat auf Vorschlag des rot-rot regierten Branden- rum sollte eine Bank dann noch billigere Zinssätze an- burg eine gesetzliche Deckelung der Dispozinsen gefor- bieten? Warum sollte eine Bank, die heute Zinssätze von dert. Ich kann nur sagen: Das ist eine richtige Forderung. 4 oder 5 Prozent anbietet – es gibt sogar Banken, die Folgen Sie diesem Beispiel! Setzen Sie diese Forderung 2 Prozent oder einen Zinssatz von null anbieten –, den der Verbraucherschutzministerkonferenz um! Zinssatz dann nicht auf 7 Prozent erhöhen? Heute bieten Banken niedrigere Zinsen an, weil sie sich einen Wettbe- Vielen Dank. werbsvorteil erhoffen. Kommt der Deckel, wird jede (Beifall bei der LINKEN) Bank sofort sagen: 7 Prozent gilt allgemein als fair, also halten wir uns daran. Mehr verlangt keiner von uns. Wa- rum sollten wir mehr tun? – Das kann doch nur zulasten Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: der Verbraucher gehen. Deswegen sind wir dagegen. Als nächste Rednerin hat die Kollegin Mechthild Heil das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich gebe Ihnen einen zweiten Aspekt zu bedenken: neten der SPD) Wenn wir das zulassen, scheren wir wieder alle Banken über einen Kamm. Wir wissen aber natürlich alle – ich habe das schon mehrmals gesagt –, dass die Banken Mechthild Heil (CDU/CSU): nicht gleich sind. Man kann eine Direktbank nicht mit Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- einer Filialbank vergleichen. In Bezug auf die Bereitstel- nen und Kollegen! „Und sie bewegen sich doch“ – mit lung der Infrastruktur ist eine Filialbank natürlich kom- dieser positiven Nachricht beginnt der Artikel über die plett anders aufgestellt als eine Direktbank. Sie hat des- Dispozinssätze in der Oktoberausgabe der Zeitschrift halb auch andere Kosten zu tragen. Ein Dispodeckel Finanztest. Gemeint sind die Banken, die dem politi- kann dem nicht gerecht werden. schen und dem öffentlichen Druck nachgegeben haben – das gebe ich zu – und ihre Dispozinssätze gesenkt ha- Ich komme zu einem zweiten Nachteil für die Ver- ben. Seitdem wir über die Höhe der Dispozinssätze spre- braucher, den Sie mit Ihrem Dispodeckel aushecken. Die chen, werden sie von Monat zu Monat gesenkt, und das Höhe des Zinssatzes spiegelt auch immer das Ausfallri- ist auch gut so. Das ist genau das, was wir erreichen siko wider. Für manche Kunden würde der von Ihnen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5409

Mechthild Heil (A) vorgeschlagene Deckel bedeuten, dass sie keinen Dispo- ten in dieser schönen grün-roten Welt geschützt“. In ei- (C) kredit mehr erhalten. Sie hätten dann in einem Monat, in ner Welt ohne Selbstbestimmung will ich nicht leben. dem das Geld vielleicht ganz knapp ist, keine Möglich- Deshalb sagen wir auch ein ganz klares Nein zu Ihren keit, in den Dispo zu gehen und ihr Konto zu überziehen. Forderungen. In der Sachverständigenanhörung zu diesem Thema Einmal abgesehen von diesen ideologischen und – auch Sie waren da anwesend – wurde vonseiten der manchmal vielleicht auch populistischen Zielen, Schuldnerberatung zwar auch der Wunsch geäußert, dass die Banken dem einen oder anderen Schuldner zum Ei- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- genschutz keinen Dispo einräumen mögen. Das ist aber NEN]: Sie sind doch die Partei des Populis- etwas komplett anderes. So etwas wäre eine Überein- mus!) kunft zwischen der Bank und dem Kunden, der sich in frage ich: Was wollen Sie denn eigentlich mit diesem Begleitung eines Schuldnerberaters befindet – also quasi Deckel erreichen? Wenn es Ihnen darum geht, dem Ver- eine Selbstverpflichtung. Das wäre auch absolut sinn- braucher zu günstigen Konditionen zu verhelfen, ist Ihr voll. Dagegen haben wir überhaupt nichts. Was aber für Antrag eigentlich überflüssig. diesen speziellen Einzelfall sinnvoll ist, taugt noch lange nicht als Prinzip für die Kunden, welche hier und da ein- Es gibt schon Banken, deren Zinssätze unter 5 Pro- mal einen Dispo beanspruchen wollen. Ein Dispo nur für zent liegen. Sie sehen: Der Wettbewerb funktioniert. Sie Reiche kann doch wohl nicht im Sinne der Opposition haben eben erwähnt, es sei sehr kompliziert, eine Bank – der Linken und der Grünen – sein! zu wechseln. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntags- zeitung, eine Zeitung, die zu lesen ich nur jedem emp- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fehlen kann, stand ein wunderbarer Artikel einer Journa- NEN]: Sie schwadronieren da wieder mal was listin, die versucht hat, die Bank zu wechseln. Ich rate zusammen!) jedem: Kaufen Sie sich die Zeitung – sie ist letzten Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, den die Sonntag erschienen –, lesen Sie den Artikel, und dann Schuldnerberater in die Diskussion einbringen. Ein nied- werden Sie sehen, dass dieser Artikel keinen Anspruch riger Dispozinssatz – wie Sie ihn fordern – kann auch auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Es ist ein einzel- verführerisch sein und die Verschuldung verstärken. Als ner Bericht einer einzelnen Journalistin. Banken angekündigt haben, den höheren Zinssatz abzu- Wenn es Ihnen darum geht, die Menschen mit dem schaffen, haben einige Schuldnerberater aufgeheult, damit Dispodeckel vor Überschuldung zu schützen, dann set- werde eine Hürde auf dem Weg zur weiteren Überschul- zen Sie komplett an der falschen Stelle an. dung abgeschafft. Frau Künast, das ist die Argumentation (B) der Schuldnerberater, nicht meine. Die Schuldnerberater (Caren Lay [DIE LINKE]: Wir wollen faire (D) befürchten, dass die Schuldner nach dem Motto „Mir Preise!) fehlt Geld; dann gehe ich halt zur Bank, wo ich einen Sie wollen ein Symptom bekämpfen, ignorieren aber die Dispo habe und Geld bekomme“ handeln. Diese Ent- Ursachen. Der Dispozinssatz ist nicht die Ursache für wicklung wollen wir von der CDU/CSU – ich hoffe, das Verschuldung. Der Dispokredit ist ein flexibles Produkt, gilt auch für die SPD – nicht befeuern. das nicht dazu gedacht oder geeignet ist, dauerhaft in Ich komme zum dritten Nachteil, den der Deckel Anspruch genommen zu werden. hätte. Der Dispozins ist nur eine von mehreren Preis- Deswegen finde ich den Vergleich des Präsidenten komponenten bei einem Girokonto. Wenn wir ihn de- des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes Georg ckeln – also auch die Kosten für die Verbraucher an die- Fahrenschon sehr treffend. Er sagte: Der Dispokredit ist ser Stelle deckeln –, kann das nur zu einer Verlagerung vergleichbar mit einem Taxi. Ein Taxi ist kurzfristig ab- der Gebühren führen. Die Banken werden sich ihr Geld rufbar, der Kunde ist flexibel, und er kann jederzeit aus- irgendwo anders holen. Vielleicht werden dann die Kon- steigen. Wenn er allerdings zum Beispiel von Berlin toführungsgebühren erhöht. Vielleicht werden sie über- nach München fahren möchte, dann sollte er sich nach haupt erst eingeführt. Oder sonstige Dienstleistungen einer anderen Fahrgelegenheit umsehen. – zum Beispiel Buchungen und TAN-Erstellungen – würden kostenpflichtig. So ist es eben auch beim Dispokredit. Er ist geeignet, um flexibel Engpässe auszugleichen, aber nicht, um dau- ( [Heidelberg] [SPD]: Solch ein erhaft genutzt zu werden. Wenn das aber passiert, macht Misstrauen gegen die Banken!) es wenig Sinn, am Produkt herumzuschrauben, sondern Auch das ist nicht im Sinne der Verbraucher, und unterm man muss stattdessen die Ursachen für die Überschul- Strich wäre es für sie auch teurer. dung angehen. Deshalb werden wir die Banken ver- pflichten, Kunden, die erheblich oder dauerhaft ihr Es könnte natürlich sein, dass Sie von den Linken und Konto überziehen, über Umschuldungsmöglichkeiten von den Grünen auch diese Kosten deckeln wollen. Was mit besseren Konditionen zu beraten. wäre dann Ihr nächster Schritt? Würden Sie immer wei- ter auf dem Weg der Regulierung durch den Staat gehen? Ich halte es auch für völlig inakzeptabel, wenn Ban- „Durch den Staat“ ist eigentlich falsch formuliert; denn ken ihre Zinssätze nicht transparent machen. Es gibt die Linken und die Grünen wissen selbst immer besser, heute zwar schon weitreichende Informationsverpflich- was für den Einzelnen gut ist nach der Devise „Wenn der tungen – die Konditionen müssen veröffentlicht werden –, Verbraucher nicht mehr entscheiden kann, ist er am bes- aber ich frage mich wirklich: Warum findet man sie bei 5410 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Mechthild Heil (A) manchen Banken nicht im Internet? Ist das kunden- gen werden, ein Onlinekonto bei der Deutschen Skat- (C) freundlich? Da kann ich nur sagen: Das ist es nicht. Wa- bank zu eröffnen. rum muss man bei manchen Banken bis in die letzte Das heißt, die guten Bedingungen, die niedrigen Zin- Ecke der Filiale gehen, um den Aushang zu finden, auf sen sind nur einer bestimmten Gruppe von Verbrauche- dem die Konditionen stehen? Ist das kundenfreundlich? rinnen und Verbrauchern überhaupt zugänglich. Ein gro- Auch da muss ich sagen: Natürlich ist das nicht kunden- ßer Teil der Verbraucherinnen und Verbraucher wird freundlich. Warum gelingt es dem einen oder anderen immer noch abgezockt mit Zinssätzen, die deutlich im Journalisten überhaupt nicht, die Zinssätze herauszufin- zweistelligen Bereich über dem Leitzins liegen. Wenn den? Das ist sicherlich nicht in Ordnung. Da muss sich sie in die geduldete Überziehung kommen, dann wird es etwas ändern. Das ist in erster Linie eine Sache der Auf- noch schlimmer; dann grenzt das teilweise an Wucher. sicht. Wenn sich das nicht ändert, dann müssen wir als Politiker – das garantiere ich – da herangehen. Hier, muss ich sagen, finde ich es nicht staatsinterven- tionistisch oder sonst irgendwie schlimm, einen gesetzli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen Deckel zu fordern. Ein solcher Deckel in Abhän- neten der SPD) gigkeit von einem Leitzins wäre die sauberste Lösung Aber, ehrlich gesagt, so weit muss es nicht kommen. gewesen. Das hat die SPD im Wahlkampf noch so ver- Deshalb mein Appell an die Banken: Es kann auch an- treten. Aber wir müssen feststellen: Es gibt derzeit keine ders funktionieren. Die vergangenen Monate haben es politische Mehrheit für eine solche saubere und vernünf- gezeigt. Viele Banken haben ihre Zinssätze für die ein- tige Lösung. Das finde ich sehr ärgerlich, aber bei man- geräumten Überziehungen gesenkt und für die darüber chen Dingen braucht es ein bisschen Zeit, bis die Er- hinausgehende eingeräumte Überziehung abgeschafft. kenntnisse auch bei den großen Parteien eingesickert Diesem guten Beispiel müssen einfach noch mehr Ban- sind oder aber die Mehrheiten so sind, dass man Ver- ken folgen. Aber ein rot-grüner Deckel ist einfach der braucherschutz betreiben kann. falsche Weg. Er ist nicht zum Vorteil der Verbraucher. Was hier schon deutlich wird: Unsere beharrliche Kri- Wir lehnen deshalb Ihre Forderungen ab. tik und auch die Möglichkeit einer politischen Mehrheit Vielen Dank. für mehr Regulierung haben im Markt schon etwas be- wegt. Wenige Banken – aber immerhin: einige – haben (Beifall bei der CDU/CSU) sich bewegt und haben die unseligen Strafzinsen bei der geduldeten Überziehung abgeschafft. Vizepräsidentin : Was besonders erfreulich ist: Auch die Regierung hat Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- sich bewegt, zumindest laut Bild am Sonntag. Da sagt (B) (D) nen spricht jetzt Nicole Maisch. der Minister:

Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da bislang alle Mahnungen seitens der Bundesre- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gierung nichts geholfen haben, werden wir jetzt ein Liebe Kollegin Heil, Sie haben sich gefragt, warum so Gesetz auf den Weg bringen, viel in den Banken schiefläuft, warum man bis in die – ein Gesetz! – letzte Ecke der Filialbank gehen muss, um die Konditio- nen zu erfahren, und warum das nicht alles im Internet das die Banken verpflichtet, ihre Dispozinssätze auf steht. Das kann ich Ihnen sagen: weil die Union seit Jah- ihrer Internetseite zu veröffentlichen. ren bei Fehlverhalten der Banken vorsichtig anmahnt, Hier haben wir einen kleinen Streit zwischen Schwarz dass sich etwas ändern sollte, aber im gleichen Atemzug und Rot. Frau Heil sagt: Es muss nicht zu einem Gesetz so wie Sie verspricht, dass es so schlimm dann doch kommen. Der Minister sagt: Es wird ein Gesetz geben, nicht kommen wird und den Banken die Regulierungen ein Transparenzgesetz für Dispozinsen. – Hier muss man erspart bleiben. der SPD mit auf den Weg geben: Die BamS ist nicht mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Gesetzblatt zu verwechseln. Sie sollten nicht anfan- sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE)] gen, „herumzuaignern“ und PR statt Politik zu machen, sondern dieses Transparenzgesetz, das Sie uns verspro- So verhallen natürlich gut gemeinte Appelle im Nir- chen haben, hier im Deutschen Bundestag auch vorle- gendwo. So kann man finanziellen Verbraucherschutz gen. nicht machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie In der Anhörung wurde deutlich: Der Markt für der Abg. Caren Lay [DIE LINKE]) Dispo- und Überziehungszinsen funktioniert nicht gut. Ich fände es schön, wenn die Menschen, die knietief Es gibt keinen funktionierenden Wettbewerb. Die Kolle- im Dispo stecken und informiert werden, dann auch da- gin Caren Lay hat gesagt, dass sie sich in ihrem Wahl- rüber informiert würden, was die roten Zahlen auf dem kreis auf die Suche nach einer Filialbank mit günstigen Kontoauszug denn gerade in Euro und Cent bedeuten. Dispozinsen gemacht hat. Auch ich habe das getan. Die findet man nicht. Sie haben zwar gesagt, dass es Ange- Darüber hinaus hat Herr Maas versprochen, die Kre- bote von Banken von 4 Prozent gibt – die gibt es sicher –, ditinstitute zu verpflichten, Kunden, die den Dispo dau- aber ich glaube nicht, dass Sie die letzte Rentnerin auf erhaft nutzen, einen Weg aus der Dispofalle aufzuzeigen. dem Land in Ihrem oder meinem Wahlkreis dazu brin- Es geht also um ein Anrecht auf ein Beratungsgespräch. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5411

Nicole Maisch (A) Das finde ich gut. Ich finde es grundsätzlich gut, wenn Es ist angekündigt – dafür bin ich dem Bundesjustiz- (C) man zum Beispiel ein Angebot für einen günstigen Ra- ministerium sehr dankbar –, dass noch in diesem Jahr ein tenkredit bekommt. Allerdings wünsche ich mir, dass die Gesetzentwurf vorgelegt wird, mit dem wir zwei wesent- Verbraucher dann nicht mit einer Hausratversicherung liche Ursachen der Schuldenspirale beseitigen wollen: oder so etwas nach Hause gehen, wenn sie eigentlich nur Eine Ursache ist die fehlende Transparenz. In der An- einen günstigen Kredit brauchen. Man muss also durch- hörung war es hochinteressant, zu hören, dass ein Sach- aus die Gefahren sehen, die in einer solchen Beratungs- verständiger den prägnanten Begriff des Transparenzver- pflicht der Bank bestehen. sagens verwendet hat. Wir wollen deshalb die Banken Das Europäische Parlament hat im April dieses Jahres verpflichten, ihre Dispozinsen und die Überziehungszin- eine Richtlinie angenommen, mit der verschiedene ver- sen transparenter zu machen. Denn viele Kundinnen und braucherrelevante Aspekte im Bereich der Kontoführung Kunden schließen die Verträge ab, ohne genau zu wis- geregelt werden. Da sollen Kontogebühren transparenter sen, wie hoch die Zinsen sind. Die Schwierigkeiten, das werden. Der Kontowechsel, über den wir hier auch herauszubekommen, wurden von Vorrednern schon schon gesprochen haben, soll vereinfacht werden. Und beschrieben. Deswegen wollen wir die Banken verpflich- – besonders wichtig –: Jeder Mensch soll ein Konto ha- ten, ihre Zinsen im Internet zu veröffentlichen und insofern ben, das Girokonto für jedermann; auch der Minister hat für Transparenz zu sorgen, damit sich die Verbraucherin- es in Interviews bereits mehrfach versprochen. nen und Verbraucher entweder auf den Internetseiten der Banken oder auf den Seiten der Vergleichsportale infor- Ich fände es gut, wenn Sie diese Richtlinie jetzt zeit- mieren können. Das ist eine ganz wichtige Maßnahme, nah umsetzen würden und alle Aspekte, die sie umfasst, weil wir dadurch das Transparenzversagen beseitigen auch hier regeln würden. Sie als SPD haben sich ent- können. schieden, es beim finanziellen Verbraucherschutz ein bisschen kleiner zu machen. Ich finde, zumindest diese (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kleinen Dinge, die Sie versprochen haben, sollten Sie der CDU/CSU) jetzt auch angehen. Ich bin mir ganz sicher: Beim Thema Zweitens wollen wir den Verbraucherinnen und Ver- Dispozins hören und sehen wir uns wieder. Dies war si- brauchern helfen, indem wir die Beratungspflichten der cher nicht die letzte Debatte darüber. Banken erweitern. Die betroffenen überschuldeten Ver- braucher sind ja oft geschäftsunerfahren und kennen sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Kreditverträgen und Zinshöhen nicht genau aus. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Allzu oft haben sie auch zeitgleich soziale Probleme durch Krankheiten, Arbeitslosigkeit. Genau diese Men- (B) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: schen brauchen die kompetente Beratung, weil sie allein (D) Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Johannes nicht aus der Schuldenspirale herauskommen. Deswegen Fechner, SPD-Fraktion. ist es unser Ziel, die Banken gesetzlich zu verpflichten, Wege aus der Dispofalle aufzuzeigen, indem sie ganz (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) konkret Alternativangebote, angepasst an die jeweilige Situation, vorlegen. Das ist der entscheidende Punkt: Die Banken sind verpflichtet, über günstigere Alternativan- Dr. Johannes Fechner (SPD): gebote ganz genau zu informieren, um so dem Kunden Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den Weg aus der Dispofalle aufzuzeigen. Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Die Zahl der über- schuldeten Menschen in Deutschland ist leider nach wie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vor viel zu hoch. Nach Auskunft der Schufa sind immer der CDU/CSU) noch rund 6,5 Millionen Menschen überschuldet. Hinter Die Kritik daran, die wir oft gehört haben, dass dies dieser hohen Zahl stecken Einzelschicksale, Menschen, für die Banken einen hohen zusätzlichen Verwaltungs- die nicht aus eigener Kraft die Schuldenspirale verlassen aufwand bedeuten würde, hat sich aus meiner Sicht in können, in die sie oft unverschuldet geraten sind, und die der Anhörung gerade nicht bestätigt. Einige Banken be- ihre Kredite eben nicht mehr aus eigener Kraft bedienen raten ja schon sehr umfangreich und machen das, was können. wir beabsichtigen, schon heute. Da haben die Vertreter in Es ist nicht so, dass jetzt alle Banken ihre Zinsen ge- der Anhörung ausdrücklich bestätigt, dass dadurch unter senkt hätten. Es ist auch nicht so, dass Betroffene aus dem Strich keine nennenswerten Mehrkosten entstehen. diesem Personenkreis von sich aus in der Lage wären, in Einen Satz möchte ich natürlich auch zur beantragten jedem Fall der Schuldenspirale zu entrinnen. Gerade gesetzlichen Deckelung der Dispozinsen sagen. Das ist deswegen ist es unsere Pflicht als Politik, diesen Men- für die SPD nach wie vor eine sinnvolle und gute Idee. schen zu helfen, und genau das tun wir, indem wir als Dass es in der Praxis funktioniert, zeigen sehr viele Ban- SPD schon im Koalitionsvertrag durchgesetzt haben, ken, die schon heute auf diese Überziehungszinsen ver- dass wir die Banken zu mehr Transparenz und vor allem zichten. zu deutlich weitergehenden Beratungen verpflichten wollen. Ich bin deshalb nach wie vor der Meinung, dass un- sere Idee, eine Deckelung bei 8 Prozentpunkten über (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem Basiszinssatz gesetzlich festzulegen, richtig ist. Ich der CDU/CSU) bedauere ausdrücklich – ich will kein Geheimnis daraus 5412 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Dr. Johannes Fechner (A) machen –, dass da aufseiten der Union keine Bereit- gene Bankverbindung in die Hände zu nehmen und dort- (C) schaft besteht, obwohl auf der Verbraucherministerkon- hin zu tragen, wo es niedrigere Zinsen gibt. Das ist ferenz – da waren auch Ihre Parteifreunde – ausdrücklich wahre Verbrauchermacht. Das steckt im Wesentlichen gesagt wurde, dass das eine sinnvolle Maßnahme wäre. hinter unseren Überlegungen. Leider sind wir hier in der Großen Koalition nicht zu ei- ner Einigung gekommen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Aber weiter Wenn die Verbraucher stärker aufgeklärt werden, auf daran arbeiten können Sie doch trotzdem!) die Höhe der Dispozinsen zu achten, wenn der Konto- wechsel erleichtert wird und wenn auch die Banken ge- Dennoch will ich am Ende meiner Rede festhalten: setzlich verpflichtet sind, auf Alternativen wie Raten- Wir werden einige ganz deutliche Verbesserungen für kredite und andere Möglichkeiten der Umschuldung die Verbraucherinnen und Verbraucher beschließen, wir hinzuweisen, dann ist das wesentlich wirksamer als ein werden für mehr Transparenz sorgen, und wir werden Zinsdeckel, der die sonstigen Möglichkeiten des Ver- die Banken verpflichten, die Kundinnen und Kunden, brauchers beschneidet und dazu führen wird, dass in die Verbraucherinnen und Verbraucher besser zu bera- vielen Fällen ein Dispokredit teurer oder nicht mehr ge- ten. Also Sie sehen – so viel auch zu den Oppositionsan- währt wird. Das ist nicht das, was wir unter verbraucher- trägen –: Wir handeln. freundlicher Politik verstehen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Binding NEN]: Nein, Sie kündigen an!) [Heidelberg] [SPD]: Das glauben Sie aber Ihre Handlungsaufforderungen in Ihren Anträgen sind nicht wirklich!) deshalb aus meiner Sicht schlicht nicht erforderlich. Meine Damen und Herren, wir sollten uns aber auch Vielen Dank. mit der Frage beschäftigen, weshalb hohe Dispozinsen zu einem Problem in diesem Land geworden sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zum einen liegt das an der finanziellen Bildung als Teil des Allgemeinwissens. Ich glaube, hier haben wir in Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Deutschland etwas Nachholbedarf, auch an den Schulen, Vielen Dank. – Für die CDU/CSU spricht jetzt wo die Sozialisation in Bezug auf finanzielle Beziehun- Dr. Volker Ullrich. gen, Dispokredite oder Ausgabeverhalten dazu führen könnte, dieses Problem zu minimieren. (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Zum anderen müssen wir auch über die Dauerver- schuldung mancher Menschen in Deutschland sprechen. Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Ja, es ist so, dass viele Menschen in Deutschland in zu- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nehmendem Maße von dem betroffen sind, was man Herren! Dispo- und Überziehungszinsen sind auf einem eine negative Sparquote nennt. Das Einkommen, das sie hohen Niveau. In vielen Fällen sind sie schlichtweg zu beziehen, reicht nicht, um ihr Leben zu bestreiten. Ge- hoch. Wir haben Verständnis für viele Verbraucher, die rade im Hinblick auf diesen Punkt hat die Große Koali- diesen Umstand als richtiges Ärgernis und in manchen tion gehandelt. Die Einführung eines gesetzlichen Min- Fällen auch als existenzielles Problem betrachten. destlohns ist nämlich nichts anderes als ein Instrument, Das Wissen um die aktuell niedrigen Zinsen und der um die Kaufkraft zu stärken und damit auch wieder mehr Blick auf den eigenen Kontoauszug vermitteln sicherlich Geld in die Geldbörsen der Menschen zu bringen. kein schönes Gefühl. Eine gesetzliche Deckelung der (Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dispozinsen ist durchaus eine mögliche Lösung, sie ist NEN]: Das war ja das Herzensprojekt der aber bei weitem nicht die wirksamste und die beste. Das Union!) Problem liegt darin, dass wir hier einen Umstand haben, den die Ökonomen als Informationsasymmetrie bezeich- Das ist ein Erfolg, und das ist viel wirksamer als ein Dis- nen oder auch als ein Auseinanderfallen zwischen dem, podeckel. was die Banken tun, und dem, was die Verbraucher wis- sen. Wenn sie ein Konto eröffnen, dann denken sie gar (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nicht sofort an die Dispozinsen, sondern erst dann, wenn der Umstand eintritt, dass sie einen Dispo in Anspruch Meine Damen und Herren, wir sind überzeugt, dass nehmen, beschäftigen sie sich mit dieser Frage. Des die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen, dass die Stär- Weiteren haben wir den Umstand, dass es ihnen, wenn kung der Einnahmen der Menschen und dass eine höhere sie bei einer Bank gelandet sind, die hohe Dispozinsen Flexibilität und Transparenz viel wirksamer sind als das anbietet, nicht einfach gemacht wird, das Konto zu alleinige Einführen eines Dispodeckels. Wir sind für tat- wechseln. Das fängt mit der 22-stelligen neuen Konto- sächliche Lösungen und nicht für Scheingefechte. nummer an und endet bei den Daueraufträgen und ande- Herzlichen Dank. ren Unannehmlichkeiten. Vor diesem Hintergrund ist der tatsächliche und wahre Hebel zu mehr Verbraucher- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- macht die Möglichkeit, das Konto zu wechseln, seine ei- neten der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5413

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: müssen zunächst einmal die Banken zu Transparenz (C) Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Dennis zwingen. Wir müssen sie zumindest zwingen, ihre Dis- Rohde das Wort. posätze in das Internet zu stellen, damit man sich nicht nur selbst gezielt informieren kann, sondern damit zum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beispiel Vergleichsportale auflisten können, welche Bank der CDU/CSU) welchen Disposatz nimmt, damit hohe Dispozinsen wie- der zu dem werden, was sie eigentlich sein sollten, näm- Dennis Rohde (SPD): lich nichts anderes als ein Wettbewerbsnachteil, meine Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sehr geehrten Damen und Herren. Kollegen! Wenn man sich die Entwicklung auf dem Für die SPD-Fraktion möchte ich aber auch deutlich Zinsmarkt in den letzten Jahren einmal genauer an- machen: Wenn die Maßnahmen nicht greifen und wenn schaut, dann kann man mit Blick auf die Dispozinsen ei- wir in ein, zwei Jahren feststellen, dass die Dispozinsen gentlich nur von einem Marktversagen sprechen. Auf nicht gesunken sind, dann werden wir wieder eine Dis- der einen Seite erleben wir, dass der EZB-Leitzins und kussion über die gesetzliche Deckelung von Dispozinsen der Euribor stetig unter 1 Prozent verharren. Für das führen müssen. Für uns ist klar: Es darf keine übermä- Guthaben auf seinem Konto bekommt man kaum noch ßige Bereicherung zulasten von überschuldeten Men- Zinsen. Die Zinsen bei Verbraucherkrediten, aber auch schen geben. Das gehört sich nicht. bei Immobilienkrediten sind seit langem im Keller. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite haben die we- (Beifall bei der SPD) nigsten Banken ihre Dispozinsen wirklich spürbar ge- Machen wir uns nichts vor: Die Debatte, die wir hier senkt. Der Durchschnitt liegt immer noch – das konnte führen, ist auch eine Gerechtigkeitsdebatte. Hohe Zinsen man jüngst in der Zeitschrift Finanztest nachlesen – bei sind für viele Menschen gefühlt ungerecht. Deshalb ist 10,65 Prozent. Es gibt nicht wenige Banken, die immer die Forderung, hier einzugreifen, nicht nur richtig, son- noch Dispozinsen in Höhe von 13 oder 14 Prozent erhe- dern auch populär. Ich habe schon, als wir das erste Mal ben. Wir müssen festhalten: Der Markt reguliert sich über die Anträge debattiert haben, gesagt, dass wir auch derzeit nicht selbst. Es gibt keinen funktionierenden den Blick auf die überschuldeten Menschen legen müs- Wettbewerb bei den Dispozinsen. sen, auf diejenigen, für die Dispozinsen vielleicht ein un- Es stellt sich die Frage, warum das so ist. Da kann ich angenehmes Symptom, aber längst nicht die Ursache jedem nur empfehlen, einmal zu seiner Verbraucherzen- sind, weil die Ursache bei ihnen wesentlich tiefer sitzt. trale zu gehen und sich schildern zu lassen, wie sie an Wir müssen Menschen helfen, einen Weg aus der Schul- ihre Zahlen kommt, wenn sie Erhebungen macht. Das ist denfalle zu finden. Deshalb ist das, was Johannes (B) schon spannend. Sie schildert einem nicht nur, dass man Fechner vorhin angekündigt hat, genau richtig. Diese (D) die Zahlen bei vielen Banken nicht im Internet findet, Menschen müssen gezielte Beratungsangebote bekom- sondern auch, dass man bei vielen Banken, selbst wenn men. Wir müssen auch die Banken in die Pflicht neh- man gezielt telefonisch nachfragt, keine Auskunft be- men. Wenn sie feststellen, dass sich seit langer Zeit je- kommt. Man wird aufgefordert, in die Filiale zu kom- mand im Dispo befindet, dann kann man das nicht men. Selbst dort findet man den Aushang nur in der letz- ignorieren. Wir müssen die Banken verpflichten, eine ten Ecke. Beratung anzubieten und eine für die Situation passende Lösung zu erarbeiten. Das muss auch Verpflichtung der Zusammenfassend kann man sagen: Wir finden einen Banken sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. vollkommen intransparenten Markt vor. Marktmechanis- men können gar nicht greifen, weil es überhaupt keine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten funktionierende Vergleichbarkeit gibt. Boshaft ausge- der CDU/CSU) drückt könnte man von einer gezielten Verschleierung Frau Maisch, ich gebe Ihnen recht, die Debatte ist sprechen. nicht beendet, sie fängt gerade erst an. Unsere Gesetz- (Beifall bei der SPD) entwürfe werden kommen. Wir sind wirklich guten Mu- tes, dass wir Regelungen auf den Weg bringen werden, So weit zur Analyse. die die Dispozinsen endlich nach unten korrigieren. Aber die Frage ist doch: Welche Antwort geben wir Vielen Dank. darauf, welche Antwort gibt die Politik darauf? Für uns (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist klar: Es muss mit der Politik des guten Zuredens der CDU/CSU) Schluss sein, wie sie zuletzt bemüht hat. Warme Worte allein haben nicht geholfen, und sie wer- den auch in Zukunft nicht helfen. Für uns als Koalition Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ist aber auch klar: Eine gesetzliche Deckelung kann und Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist darf nur Ultima Ratio sein. Sie kann und darf nur die der Kollege Dr. Carsten Sieling, SPD-Fraktion. letzte Lösung sein. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Gibt es Instrumente, um den Wettbewerb wieder zu fördern Dr. Carsten Sieling (SPD): und das Marktversagen zu beseitigen? Der Vorschlag, den Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und der Bundesjustizminister gemacht hat, ist richtig. Wir Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss 5414 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Dr. Carsten Sieling (A) der heutigen Debatte möchte ich noch einmal darauf hin- die Dispozinsen und machen sie transparent. Zweitens. (C) weisen, dass wir das Problem der Zinssätze für Dispo- Wir wollen ein Girokonto für jedermann. Drittens. Wir und Überziehungskredite heute zum x-ten Mal diskutie- sorgen für die Einführung eines Finanzmarktwächters. ren. Ich erinnere mich an Debatten in der letzten Legisla- All das sind gute Signale. Seit die SPD wieder das turperiode. Das Problem wurde immer wieder herausge- Verbraucherschutzministerium innehat, spielt Verbrau- arbeitet. Passiert ist gar nichts. cherschutzpolitik in unserem Land wieder eine Rolle. Jetzt – das ist der wichtige Punkt – handeln wir end- (Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Die hat schon lich. Wir haben endlich eine Regierung, die das Problem vorher eine Rolle gespielt!) erkannt hat und seine Lösung in ihr Programm aufge- nommen hat. Wir werden für Transparenz sorgen und Das ist die beste Nachricht zum Wochenende; alles Gute. das Thema aus den dunklen Ecken der Banken herausho- Vielen Dank. len. Für alle wird deutlich werden, was sie zahlen müs- sen. Wir lassen denen Hilfe zugutekommen, die sie brau- (Beifall bei der SPD) chen. Mit diesen Forderungen sind wir als SPD in die Regierung gegangen. Bundesminister wird Vizepräsidentin Ulla Schmidt: sie umsetzen. Das ist eine gute Nachricht zum Wochen- Vielen Dank. – Angesichts all der guten Wünsche ende. kann am Wochenende ja nichts mehr passieren. (Beifall bei der SPD – Dr. Volker Ullrich [CDU/ (Heiterkeit) CSU]: Wir werden es umsetzen!) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird – Sie werden es umsetzen. Dazu möchte ich hier festhal- Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/2741 an ten: Im Koalitionsvertrag steht, dass wir die Banken ver- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- pflichten werden. Verpflichten kann man in Deutschland schlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für nur mit einem Gesetz. Deshalb brauchen wir an dieser Recht und Verbraucherschutz liegen soll. Sind Sie damit Stelle ein richtiges Gesetz und keine schwammigen Re- einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die gelungen. Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 23 b. Wir kommen zur Abstim- (Beifall bei der SPD) mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wir müssen aber auch beobachten, dass der Markt Recht und Verbraucherschutz auf Drucksache 18/2777. dort sehr verkrustet ist. Meine Vorredner haben das an- Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- gesprochen. Wir haben es mit einer Betonwand zu tun, schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- (B) die seit der Finanzkrise 2008, 2009 aufgebaut wurde. Ich tion Die Linke auf Drucksache 18/807 mit dem Titel (D) glaube aber, dass unsere Maßnahmen helfen werden, „Begrenzung und Vereinheitlichung der Zinssätze für dass sich Banken am Markt bewegen werden. Aber wir Dispo- und Überziehungskredite“. Wer stimmt für diese könnten auch mit der Situation konfrontiert werden – das Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ist eventuell zu befürchten –, dass die Zinssätze starr enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den bleiben. Stimmen der Fraktionen CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Deshalb bin ich sehr dafür, dass die Entwicklung be- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. obachtet wird. Aber ich sage auch klar und deutlich: Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- Wenn sich zeigt – und damit müssen wir rechnen, so die lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Einschätzung der SPD –, dass die Maßnahmen nicht aus- nen auf Drucksache 18/1342 mit dem Titel „Begrenzung reichen, dann müssen wir eben eine gesetzliche Ober- von Dispositions- und Überziehungszinsen“. Wer stimmt grenze einführen. für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ich möchte hier nicht das Argument hören, eine sol- Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den che Grenze würde dazu führen, dass der Markt nicht Stimmen der Fraktionen CDU/CSU und SPD gegen die mehr funktioniert. Das Gegenteil ist richtig: Die Akteure Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- werden sich weiterhin auf dem Markt tummeln, aber zu haltung der Fraktion Die Linke angenommen. vertretbaren Dispozinsen, die deutlich niedriger und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf: wieder an den Leitzins gekoppelt sind. Sollte das Pro- blem bestehen bleiben, dann werden wir uns von der a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ SPD verstärkt für eine gesetzliche Beschränkung von CSU und SPD Dispozinsen einsetzen. Das ist der richtige Weg. Europa – Vorreiter im Kampf gegen die To- desstrafe (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Drucksache 18/2738 GRÜNEN) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen, Groth, Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, weiterer dass wir uns im finanziellen Verbraucherschutz nicht nur Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE um die Dispozinsen kümmern. Wir werden noch weitere Todesstrafe weltweit ächten Maßnahmen ergreifen. Einige weitere Themen sind be- reits angesprochen worden. Erstens. Wir beschränken Drucksache 18/2740 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5415

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Beleidigung nicht nur nicht wiedergutmacht, son- (C) die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- dern durch eine neue Schmach verschärft. nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das ist das, was Albert Camus dazu schreibt. Ich Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege finde, viel eindrücklicher kann man nicht beschreiben, Frank Schwabe, SPD-Fraktion. worum es bei dem Thema geht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU]) Frank Schwabe (SPD): Zweifellos – das ist das Positive – ist die Todesstrafe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! weltweit auf dem Rückzug. Die Zahl der Länder mit To- Ich glaube, es ist klar: Man kann eine solche menschen- desstrafe ist deutlich abnehmend. Knapp 100 haben sie rechtspolitische Debatte nicht beginnen, ohne Malala mittlerweile abgeschafft, weitere 36 praktizieren sie nicht Yousafzai und Kailash Satyarthi zur Verleihung des Frie- mehr, und in der Generalversammlung der Vereinten Na- densnobelpreises zu gratulieren. tionen gibt es eine klare Mehrheit, die sich gegen die (Beifall im ganzen Hause) Todesstrafe ausgesprochen hat. Umso bitterer ist, dass über 90 Prozent der Hinrichtungen durch fünf Länder in Ich komme zu einem unerquicklicheren Thema, zum der Welt vollzogen werden: China, Iran, Saudi-Arabien, Kampf gegen die Todesstrafe. Ich will mit Erlaubnis der Pakistan und leider auch die USA. Ich will es ausdrück- Präsidentin ein bisschen länger zitieren. Albert Camus lich sagen, auch in Anwesenheit von Ministerpräsident schrieb in seinem wirklich sehr eindringlichen Text Der Li aus China: Wir haben große Achtung vor China, aber Ruf nach dem Henker – ich glaube, bis heute gibt es für es ist in der Tat eine Schande – anders kann ich das nicht dieses Thema keinen besseren und eindringlicheren benennen –, dass China an der Spitze der Zahl der Hin- Text; ich empfehle jedem, den Text zu lesen, auch wenn richtungen weltweit steht. Das werden wir immer wieder das nicht ganz leicht ist –: benennen. Ich bin davon überzeugt, dass andere das bei den Gesprächen in diesen Tagen auch benennen werden. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde ein Mörder wegen eines ungewöhnlich scheußlichen Verbre- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem chens (er hatte eine ganze Bauernfamilie, Eltern BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Kinder, umgebracht) in Algier zum Tode verur- teilt. Es handelte sich um einen Landarbeiter, der in Ich habe die positive Entwicklung geschildert. Umso (B) einer Art Blutrausch getötet hatte, dessen Fall je- mehr erzürnt es mich und andere, dass es kürzlich eine (D) doch durch den Umstand erschwert wurde, daß er Veränderung der Position auf den Malediven gab. 60 Jahre seine Opfer außerdem bestahl. Der Prozeß erregte lang währte ein Moratorium gegen die Todesstrafe. Die- großes Aufsehen. Die Öffentlichkeit war der Mei- ses wurde mittlerweile aufgegeben. Sogar Kinder und nung, daß für ein solches Ungeheuer selbst die Ent- Jugendliche sind auf den Malediven mittlerweile von der hauptung eine zu milde Strafe sei. Todesstrafe bedroht. Dies war auch, wie mir versichert wurde, die An- Damit das, was ich jetzt noch sage, nicht falsch ver- sicht meines Vaters, den insbesondere die Ermor- standen wird: Die Todesstrafe ist falsch und ein Verbre- dung der Kinder empört hatte. Jedenfalls gehört zu chen, egal wie und an wem sie vollzogen wird. Beson- dem wenigen, das ich von ihm weiß, die Tatsache, ders abscheulich ist sie allerdings, wenn Menschen dabei daß er zum erstenmal in seinem Leben beschloß, ei- ermordet werden – wie soll man das anders benennen? –, ner Hinrichtung beizuwohnen. Er stand mitten in die unschuldig sind. Auf Spiegel Online konnte man erst der Nacht auf, um sich mit vielen anderen Leuten gestern den Fall von Manuel Velez nachlesen, der zum zusammen ans andere Ende der Stadt auf den Richt- Glück nach neun Jahren aus der Todeszelle entlassen platz zu begeben. Was er an jenem Morgen sah, er- wurde, weil klar geworden ist: Er kann den Mord, der zählte er keinem Menschen. Meine Mutter berichtet ihm zur Last gelegt wurde, gar nicht verübt haben. Be- nur, daß er mit verstörtem Gesicht überstürzt nach sonders abscheulich ist die Todesstrafe auch, wenn sie Hause kam, sich ohne ein Wort der Erklärung einen an psychisch Kranken vollzogen wird. Deswegen ist es Augenblick auf sein Bett legte und sich plötzlich er- gut, dass genau diese Fälle in diesem Jahr im Mittel- brach. Er hatte eben die Wirklichkeit entdeckt, die punkt der Kampagne zum Welttag gegen die Todesstrafe sich hinter den hochtrabenden, bemäntelnden Re- der Menschenrechtsorganisationen stehen. densarten verbarg. Zwei Staaten muss ich am Ende meiner Rede beson- Wenn die Vollstreckung des Rechts dem ehrbaren ders – in Anführungsstrichen – würdigen. Der eine ist Bürger, zu dessen Schutz es da ist, nur Übelkeit be- der letzte Staat in Europa, der die Todesstrafe vollzieht, reitet, kann schwerlich behauptet werden, sie sei weswegen er nicht Mitglied des Europarates sein kann: dazu angetan, ihrer eigentlichen Aufgabe getreu Weißrussland. Auch das ist eine Schande. Es gibt eine mehr Frieden und Ordnung in das Gemeinwesen zu gute Situation in Europa, wir haben an der Stelle welt- bringen. Es wird im Gegenteil deutlich, daß sie ge- weit eine Vorbildfunktion, aber diese wird leider von nauso empörend ist wie das Verbrechen und daß Weißrussland ein Stück weit unterminiert. Das muss sich dieser weitere Mord die der Gesellschaft zugefügte dringend ändern. 5416 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Frank Schwabe (A) Ich will auch noch einmal die USA und auch Japan Von den USA fordern wir, als ersten Schritt ein Morato- (C) nennen. Genau deshalb, weil wir in vielen Fragen ge- rium für die Todesstrafe zu erlassen und dann in allen meinsame Werte haben, auch was die Menschenrechte US-Bundesstaaten die Todesstrafe zu verbieten. Wir betrifft, ist es besonders betrüblich, dass die USA und müssen den Verantwortlichen in den USA deutlich zu auch Japan die Todesstrafe vollziehen. Wie gut wäre es verstehen geben, dass eine Regierung, die diese Form für die Welt, welchen Vorbildcharakter würde es haben, der barbarischen Justiz im eigenen Land anwendet, in- wenn die Vereinigten Staaten von Amerika endlich die ternational nicht glaubwürdig für die Durchsetzung von Todesstrafe abschaffen würden! Ich denke, das müssen Menschenrechten eintreten kann. wir bei unseren Gesprächen immer wieder deutlich ma- chen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Vielen Dank. GRÜNEN) (Beifall im ganzen Hause) Es ist einfach ein Skandal, dass wir Waffen und Aus- rüstungen für Militärs und Polizeieinheiten in Länder Vizepräsidentin Ulla Schmidt: liefern, die noch immer die Todesstrafe verhängen und durchführen. Die jüngste Entscheidung der Bundesregie- Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Annette Groth, rung, erneut Waffen nach Saudi-Arabien zu liefern, ist Fraktion Die Linke. einfach empörend und darf nicht sein. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Annette Groth (DIE LINKE): In Saudi-Arabien werden Menschen brutalst hingerich- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tet. Das Abhacken von Händen oder das Amputieren von Am heutigen Internationalen Tag gegen die Todesstrafe Gliedmaßen sind dort gängige Strafen. müsste ein Aufschrei mit der Forderung durch die Welt gehen: Verbietet endlich diese barbarische Strafe und Saudi-Arabien wird auch seit längerem verdächtigt, ächtet Regierungen und Verantwortliche, die die Verhän- am Aufbau der Mörderbanden des sogenannten Islami- gung der Todesstrafe zulassen und die Tötung von Men- schen Staates mit Geld und Waffen beteiligt gewesen zu schen anordnen! Wir dürfen nicht mehr schweigen, sein. Saudi-Arabien gehört neben dem Iran und dem Irak wenn wir Regierungsvertreterinnen und Regierungsver- zu den drei Ländern, die fast 80 Prozent aller Hinrich- treter treffen, in deren Ländern die Todesstrafe immer tungen außerhalb Chinas durchführen. Ich fordere von noch nicht abgeschafft ist. der Bundesregierung einen sofortigen Waffen- und Aus- (B) rüstungsstopp für die saudischen Militärs und Polizeiein- (D) Leider hat die Zahl der Hinrichtungen im Jahre 2013 heiten. Das ist doch das Mindeste, das man erwarten wieder deutlich zugenommen. Das ist eine Schande. kann. Schon lange fordert die Linke ein Verbot der Todes- strafe; denn sie ist grausam und in keiner Weise zu recht- (Beifall bei der LINKEN) fertigen. Ich kann – Frank Schwabe geht es wahrschein- Die Ermordung von Menschen durch Staaten und Re- lich genauso – nicht begreifen, dass Staaten wie die USA gierungen ohne Gerichtsurteil nimmt zu. Mit den soge- noch immer die Todesstrafe anwenden. Ich erwarte von nannten gezielten Tötungen hat sich eine neue Form der der Bundesregierung, dass sie sich auch gegenüber den Ermordung von Menschen ohne jegliche gerichtliche Vereinigten Staaten deutlicher als bisher zu der brutalen Prüfung durchgesetzt. Diese Form der Todesstrafe ohne Ermordung von Verurteilten äußert. Mit 79 Todesurtei- Richter durch Spezialkommandos des Militärs oder mit len wurden im Jahr 2013 in den USA mehr Todesurteile bewaffneten Drohnen wird auch von engen NATO-Ver- verhängt als im Jahr zuvor, 2012. Die in jüngster Zeit bündeten Deutschlands praktiziert. durchgeführten Hinrichtungen mit der Giftspritze in den Wir Linke fordern von der Bundesregierung, dass sie USA haben zu weltweiter Empörung geführt. Es ist diese völkerrechtswidrigen Exekutionen, denen insbe- barbarisch, Menschen mit der Todesspritze zu quälen sondere zahlreiche Zivilisten zum Opfer fallen, ächtet und erst nach langem Leiden qualvoll sterben zu lassen. und dies auch gegenüber Staaten wie den USA oder Is- Auch wenn 150 von 193 Staaten die Todesstrafe ab- rael, einem der Hauptdrohnenproduzenten, deutlich zum geschafft haben, leben noch immer zwei Drittel aller Ausdruck bringt. Menschen in Ländern, die Todesurteile verhängen. In (Beifall bei der LINKEN) diesen Staaten werden jedes Jahr mehrere Tausend Men- schen zum Tode verurteilt und viele Tausend hingerich- Ich fordere die Bundesregierung auf, im Rahmen der tet. Das ist doch eine Schande für uns alle. UN die Einführung eines Registers anzuregen, in dem alle Todesurteile und deren Begründung erfasst werden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Dieses Register kann Grundlage für eine juristische Auf- neten der SPD) arbeitung dieser Fälle werden. Allein für China geht Amnesty International von Von den deutschen Botschaften fordere ich, dass sie mehreren Tausend Hinrichtungen jährlich aus. In 22 wei- bei Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe teren Ländern, darunter Saudi-Arabien, Kuwait und In- grundsätzlich protestieren und die Betroffenen in den donesien, wurden 2013 fast 800 Menschen hingerichtet. Gefängnissen besuchen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5417

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: der Folter und grausamer, erniedrigender und unmensch- (C) Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit. licher Behandlung und Strafe. Der Verzicht auf die Todesstrafe ist ein hohes zivilisa- Annette Groth (DIE LINKE): torisches Gut, ein Grundwert europäischer Identität, eine Ich bin sofort fertig. – Wir alle, insbesondere Sie, die Errungenschaft, hinter die wir nicht zurückfallen dürfen. Regierungsvertreter, müssen endlich klar sagen, dass wir Die Todesstrafe ist grausam und öffnet dem Missbrauch alle für ein Verbot der Todesstrafe kämpfen. Wir wollen Tür und Tor. Justizirrtümer werden durch die Todesstrafe eine Welt ohne Todesstrafe und ohne Drohnen! unwiderruflich. Danke schön. Nach dem letzten Bericht des UN-Generalsekretärs vom Juli letzten Jahres zur „Question of the Death (Beifall bei der LINKEN) Penalty“ werden unverhältnismäßig oft sozial Schwache und Angehörige ethnischer, religiöser und sexueller Min- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: derheiten zum Tod verurteilt. Mein Kollege Schwabe hat Vielen Dank.- Nächster Redner ist Frank Heinrich, es gerade gesagt. Die Pressemitteilung von Amnesty CDU/CSU-Fraktion. International geht insbesondere auf diese besonders ab- scheuliche Form der Todesstrafe bei Menschen, die psy- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chisch krank sind, ein. neten der SPD) Seit Jahren gibt es außerdem kritische Diskussionen Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU): über Hinrichtungsmethoden. Darauf ist bereits Bezug genommen worden. Besonders barbarisch sind Enthaup- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und tungen und Steinigungen. Weltweite Empörung haben Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Es ist mehrfach die geschilderten Hinrichtungen mit der Giftspritze aus- gesagt worden: Heute ist der Internationale Tag gegen gelöst, die erst nach langem Leiden zum Tod geführt ha- die Todesstrafe. Heute vor einem Jahr – daran mögen ben. Aus den genannten Gründen lehnt Deutschland die sich die einen oder anderen erinnern – konnten wir die- Todesstrafe ab und steht damit glücklicherweise in Eu- sen Tag im Plenum noch nicht adressieren, angehen – ropa nicht alleine. „feiern“ kann man ja nicht sagen, sondern höchstens „er- innern“ –. Da steckten CDU, CSU und Sie als SPD noch Seit 1997 kam die Todesstrafe in Europa nicht mehr in langwierigen Koalitionsverhandlungen. Manche Posi- zur Anwendung, außer in dem schon genannten Land tion war umstritten. Um viele Formulierungen wurde ge- Belarus, das geografisch zu Europa gehört. Bisher liefen (B) feilscht. Aber es gab auch Positionen, die unstrittig und alle Bemühungen von Europarat, von uns, von der EU, (D) eindeutig waren. So wurde unter anderem unter der Belarus wenigstens zu einem Hinrichtungsmoratorium Überschrift „Schutz und Förderung von Menschenrech- zu bewegen, ins Leere. Dieses Jahr wurden bereits zwei ten“ der knappe und eindeutige Satz formuliert: Gefangene durch Kopfschuss exekutiert, und zwei wei- teren droht die Hinrichtung. Trotzdem gilt: Europa hat Wir engagieren uns weiterhin konsequent für die einen legitimen moralischen Anspruch, im weltweiten weltweite Abschaffung der Todesstrafe … Kampf gegen die Todesstrafe als Vorreiter aufzutreten. In Deutschland wurde die Abschaffung der Todes- Ich zitiere von der Website des Auswärtigen Amtes strafe 1949 in Artikel 102 des Grundgesetzes festge- aus den „Leitlinien der EU zur Todesstrafe“: schrieben, nicht zuletzt durch die Erfahrung des natio- nalsozialistischen Unrechtsstaates. Wem stehen nicht die Die Leitlinien definieren die Bekämpfung der To- Beispiele wie die zynischen Todesurteile eines Roland desstrafe als zentrales menschenrechtliches Anlie- Freisler gegen Hans und Sophie Scholl und andere Mit- gen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli- glieder der Weißen Rose bis heute abschreckend vor Au- tik … gen? Ich selber konnte mich letzte Woche mit einer Chemnitzer Gruppe aus meinem Wahlkreis in der Ge- Auch in ihrem Strategischen Rahmen und Aktionsplan denkstätte Deutscher Widerstand davon überzeugen. zählt die Europäische Union die Bekämpfung der Todes- Durch den Rest des Tages geht man dann nicht be- strafe und der Folter zu ihren Prioritäten auf dem Gebiet schwingt. der Menschenrechte. Das ist ein guter und deutlicher Trend – der Menschenrechtsbeauftragte Strässer hat das Die Todesstrafe ist eine Menschenrechtsverletzung heute Morgen in einer Pressemitteilung deutlich ge- ohne Wenn und Aber; darin sind wir uns ja quer durch macht – und weltgeschichtlich betrachtet ein bemerkens- das Parlament einig. Jeder Mensch hat ein Recht auf Le- werter humanitärer und menschenrechtlicher Fortschritt, ben. Kein Mensch kann diese seine Würde unwiderruf- den wir hier nicht vergessen dürfen. Und doch: Der lich verlieren. Deshalb beginnt der Antrag auch genauso. Kampf gegen die Todesstrafe ist noch lange nicht ausge- kämpft. Der Ruf nach Rache und Vergeltung ist möglicher- weise menschlich nachvollziehbar, gerade in solchen Wie notwendig auch europäische Anstrengungen Fällen, von denen Sie erzählt haben. Doch führt das zu heute noch sind, zeigt ein Blick in aktuelle Statistiken; Spiralen von Gewalt und im Kern zu Entmenschlichung. ich will die Zahlen nicht wiederholen, einige sind ge- So hält der UN-Sonderberichterstatter gegen Folter jede nannt worden. Amnesty International geht davon aus, Form der Todesstrafe für nicht vereinbar mit dem Verbot dass letztes Jahr in mindestens 22 Staaten die Todesstrafe 5418 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Frank Heinrich (Chemnitz) (A) vollstreckt worden ist, 778 Menschen wurden getötet. dest einige davon zitieren. Wir fordern die Bundesregie- (C) Das waren 96 mehr als im Jahr davor. 1925 Menschen rung auf: wurden zum Tode verurteilt, und 23 392 Menschen sit- Initiativen für die weltweite Abschaffung der To- zen in Todeszellen und warten auf ihre Strafe. Manche desstrafe voranzutreiben …, insbesondere bei den Länder machen aus diesen Zahlen ein Staatsgeheimnis, Staaten China, Iran, Irak, Saudi-Arabien, USA, Ja- wie zum Beispiel China. pan, Somalia, Sudan und Jemen; In vier Ländern – diese nenne ich bewusst, um auf sie … hinzuweisen –, Indonesien, Kuwait, Vietnam und Nige- ria, wurde nach einem Moratorium die Todesstrafe wie- gezielt jene Staaten, die den UN-Zivilpakt und das der vollzogen. China behandelt diese Zahlen, wie gesagt, Zweite Fakultativprotokoll zum UN-Zivilpakt noch wie ein Staatsgeheimnis und gibt keine Zahlen bekannt. nicht ratifiziert haben, zur Ratifizierung ohne Vor- Amnesty International schätzt die Zahl der hingerichte- behalt aufzufordern; ten Menschen auf Tausende. … Die Todesstrafe ist häufig ein Mittel staatlicher Ge- bilateral und auf europäischer Ebene mit allen dip- walt zur Einschüchterung von Dissidenten sowie von lomatischen Mitteln Belarus von einem Hinrich- ethnischen und religiösen Minderheiten. In vielen isla- tungsmoratorium zu überzeugen; mischen Staaten wird die Apostasie, die Abkehr vom Is- lam zu einem anderen Glauben, mit dem Tode bestraft. – wir sind einig mit dem, was Amnesty an dieser Stelle Wir haben dieses Jahr – das ging durch die Medien und fordert – war in vielen Ländern ein Thema – den Fall der hoch- weiterhin – u. a. über das Ministerkomitee des Eu- schwangeren Meriam Jahia Ibrahim Ischag im Sudan er- roparates – auf die USA und Japan einzuwirken; lebt. Die Tochter einer Christin und eines Muslims war zum Tode verurteilt worden, weil sie nicht den Glauben – Sie merken vielleicht, dass ich das zum dritten Mal ihres Vaters annehmen wollte. Es waren internationale nenne; es tut mir weh, dass wir das immer noch machen Proteste, die zu ihrer Freilassung führten. Hier mache ich müssen – die Klammer auf: Das kann also einen Unterschied ma- chen. Es braucht nicht nur Politik – diese braucht es sehr … wohl auch –, Regeln und Konventionen, sondern es bei allen Initiativen gegen die Todesstrafe eng mit braucht auch Sie, die Bürger, die mit aufstehen. zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen- zuarbeiten und diese in ihrer Arbeit zu unterstützen. Doch zeigt das Beispiel: Mit der Todesstrafe gehen (B) weitere Menschenrechtsverletzungen, wie in diesem Fall Ich möchte meinen Dank denjenigen aussprechen, die (D) die Einschränkung der Religionsfreiheit, einher. Christoph sich in den letzten Jahren in diesem Bereich besonders Strässer als Menschenrechtsbeauftragter hat diese Wo- engagiert haben. Eine Organisation habe ich genannt; da che auf die Hinrichtung von fünf Männern hingewiesen, sind aber noch andere. Auch von dieser Stelle: Es ist die im September dieses Jahres eine grausame Tat be- klasse, was Sie da treiben. gangen haben, eine brutale Vergewaltigung mehrerer Frauen in Paghman in Afghanistan. Diese Männer wur- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem den innerhalb von drei Wochen von mehreren Instanzen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verurteilt und dann erschossen. Ein faires Verfahren hat Die Todesstrafe ist grausam, erniedrigend und men- in dem System keinen Platz gehabt. schenrechtswidrig. Sie „verstößt gegen das Recht auf Leben und verletzt die Würde des Menschen“. Lasst uns In Spiegel Online war vorgestern von der 26-jährigen gemeinsam dagegen kämpfen, auch gemeinsam in Eu- Reyhaneh Jabbari im Iran zu lesen. Sie hat in Notwehr ropa. einen Exagenten umgebracht, der sie vergewaltigen wollte. Nun wartet sie wegen Mord auf ihre Tötung. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Erschütternd für Europa ist, dass mit den USA und Ja- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem pan zwei befreundete westliche Nationen, die beim Eu- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- roparat Beobachterstatus haben, die Todesstrafe prakti- geordneten der LINKEN) zieren. Bisher sind alle Appelle zur Abschaffung oder für ein Moratorium ohne Ergebnis verhallt. Immerhin Vizepräsidentin Ulla Schmidt: sinkt die Zustimmung zur Todesstrafe auch in den Verei- Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht nigten Staaten. Letztes Jahr hat Maryland als 18. Bun- jetzt Omid Nouripour. desstaat die Abschaffung der Todesstrafe beschlossen. Aber wir sind mit diesem Zwischenstand ganz und gar nicht zufrieden. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlau- Um den Kampf gegen die Todesstrafe weiter voranzu- ben Sie mir, mit der guten Nachricht von heute anzufan- treiben, formulieren wir im Antrag deshalb eine Reihe gen – das hat auch der Kollege Schwabe völlig zu Recht von Forderungen, die sich etwas anders anhören, aber in gemacht –, und zwar mit der Vergabe des Friedensnobel- die gleiche Richtung gehen wie die von Ihnen in Ihrem preises an Malala Yousafzai und an Kailash Satyarthi. Antrag formulierten. Ich möchte abschließend zumin- Ich hatte die Ehre, diese zwei Persönlichkeiten kennen- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5419

Omid Nouripour (A) zulernen. Sie setzen sich schon sehr lange für einen dig, darüber zu sprechen, welche große Rolle deutsche (C) Kernbereich der Menschenrechte ein – wenn ich „lange“ diplomatische Vertretungen spielen können. Wir haben sage, dann muss man anmerken, dass das bei einer viele Fälle erlebt, in denen Botschafter ein sehr großes 17-Jährigen schon etwas Besonderes ist –, insbesondere persönliches Risiko auf sich genommen haben, um auf für die Frauen- und Kinderrechte. Das ist eine sehr freu- einzelne Fälle hinzuweisen, und sie haben damit auch dige Nachricht, dass gerade diese beiden heute ausge- sehr viel erreicht. Dafür kann man nur herzlichen Dank zeichnet wurden. sagen. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ich habe in den letzten Jahren immer wieder selbst CDU/CSU) eine Person für den Nobelpreis vorschlagen dürfen, und zwar einen Geistlichen aus dem Iran. Das klingt erst ein- Im Antrag der Linken finden wir sehr vieles richtig. mal ein wenig befremdlich. Aber Ajatollah Borudscherdi Was aber dazu führt, dass wir uns enthalten werden, ist ist ein Mann, der sich seit Jahren als Quietist ausgezeich- die Forderung nach der Aussetzung der Kooperation net hat. Er hat immer wieder heftigst für eine klare Tren- – gerade im Sicherheitsbereich – mit den Staaten, die die nung von Religion und Politik geworben, gekämpft und Todesstrafe haben und vollziehen. Hier gibt es Länder, argumentiert. Er hat viele spannende Schriften verfasst, die zwar Demokratien und unsere Wertepartner sind, die die man einem iranischen Geistlichen – so zumindest wir aber mit mehr und nicht mit weniger Engagement lautet ja das Klischee – nicht zutraut, beispielsweise zur davon zu überzeugen versuchen müssen, dass sie von Zweistaatenlösung aus theologischer Sicht. Deshalb ist der Praxis der Todesstrafe abkommen. er zum Tode verurteilt worden. Denn genau diese Art Theologie, die Staat und Religion auseinanderhalten Die USA sind genannt worden. Zu dem Gesagten will will, erscheint für eine islamische Republik natürlich ich nichts hinzufügen, außer zur Praxis der Todeszelle. ganz unerträglich. Der Mann sitzt seit 2007 im Gefäng- Wir kennen einzelne Fälle, in denen Menschen nach der nis. Er ist schwerst gefoltert worden und hat mittlerweile Urteilsverkündung 40 Jahre lang in der Todeszelle ge- sein Augenlicht verloren. Seit wenigen Tagen soll er Be- sessen haben. In dieser Zeit – jeden Tag, 40 Jahre lang – richten zufolge in der Todeszelle sitzen. weiß man nicht, ob man nicht am nächsten Morgen zur Hinrichtung abgeholt wird. Dabei geht es nicht darum, Iran ist ein besonderes Land im Hinblick auf Hinrich- dass die Menschen hingerichtet werden, sondern darum, tungen, nicht nur weil es sich quantitativ leider in der dass die Todeszelle teilweise systematisch eingesetzt Spitzengruppe befindet, sondern weil es dort sehr häufig wird, um die Leute doppelt zu bestrafen. Das ist eines zu öffentlichen Hinrichtungen kommt. Das ist eine be- Rechtsstaates absolut unwürdig. (B) sonders perverse Art und Weise, die Würde derjenigen, (D) die hingerichtet werden, zu zerstören, und das auch noch Ich möchte eine zweite Demokratie nennen, nämlich vor den Augen von Kindern, die das ihr Leben lang nicht Indien. Es gab diese fürchterlichen Fälle von Vergewalti- mehr werden vergessen können. Es ist daher umso wich- gungen brutalster Art inklusive Todesfolge. In der Folge tiger, dass man nicht nur über das Thema redet, sondern ist in Indien für solche Fälle die Todesstrafe gesetzlich auch auf die vermeintlich kleinen Details dieser perver- verankert worden. Das stieß, muss ich zugeben, in der sen Techniken, die dort angewendet werden, hinweist. Öffentlichkeit zunächst auf großes Verständnis. Es gab Auf diese Weise kann man Druck machen, damit das eine tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Nur, wir haben aufhört. in diesen Wochen einige Expertinnen und Frauenrechtle- rinnen gesprochen, die sagen, dass das unter anderem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dazu führt, dass gerade in den ländlichen Regionen, in bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- kleinen Dörfern, in denen man für Anzeigen endlich eine geordneten der LINKEN) Bresche geschlagen hatte, die Zahl der Anzeigen zurück- gehen wird; denn teilweise sind es Vergewaltigungen in- Die anderen Länder in der sogenannten Spitzen- nerhalb der Familie. Das sind kleinste soziale Einheiten. gruppe sind bereits genannt worden. Ich kann nur wün- Die Frau, die einen Mann anzeigt, muss nun damit rech- schen, dass die Frau Bundeskanzlerin beim heutigen Ge- nen, dass er hingerichtet wird, was die gesamte soziale spräch mit dem Regierungschef Chinas das Thema Struktur und das gesamte Gefüge des Dorfes auf Dauer anspricht und die Hinrichtungen dort zur Sprache kom- zerstören würde. Das heißt, dass das, was zunächst als men, gerade weil China eine unglaubliche Zahl an Hin- Gerechtigkeit empfunden wurde, eher dazu führt, dass richtungen vorweist. bei Vergewaltigungen wieder mehr geschwiegen wird. Ich glaube, dass wir sehr gut daran tun, heute diese Diskussion zu führen. Wir müssen sie natürlich auch Vizepräsidentin Ulla Schmidt: weiterhin führen. Ich bin sehr dankbar für die vorliegen- Herr Kollege. den Anträge, die anregen, dass man über einzelne Me- chanismen diskutiert. Wir werden dem Antrag der Koali- tion zustimmen, auch wenn uns das eine oder andere Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fehlt. Beispielsweise verzichten Sie in toto auf die Ein- Letzter Satz. – Das zeigt, dass die Todesstrafe nichts zelfälle. Das ist eine Frage der Denkschule; das finden mit Gerechtigkeit zu tun hat, sondern ausschließlich mit wir so nicht richtig. Aber es ist zumindest nachvollzieh- der Zerstörung von Menschenwürde. Diese irreversible bar, warum Sie es tun. Es ist, glaube ich, auch notwen- Art und Weise von Justiz, die immer auch mit vielen Irr- 5420 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Omid Nouripour (A) türmern verbunden ist, stößt im Hohen Hause völlig zu Und: (C) Recht auf unser aller Ablehnung. Todesstrafe für so einen Abschaum! Und alle, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mitgemacht haben, gleich mit verrecken lassen! bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- Diese Zitate stammen aus dem Oktober 2014, und diese geordneten der LINKEN) Zitate stammen von deutschen Facebook-Nutzern. Sie finden sofort Kommentare dieser Art, sobald über Vizepräsidentin Ulla Schmidt: schwere Verbrechen berichtet wird. Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Gabriela Heinrich, SPD-Fraktion. Natürlich sind solche Kommentare nicht überzube- werten. Geschützt durch die Anonymität des Netzes lässt so mancher User jede Zurückhaltung fallen. Mich er- Gabriela Heinrich (SPD): schrecken der Hass und die Aggression, die in diesen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- Kommentaren zum Ausdruck kommen. Die Kampagne ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rizana Nafeek, „No Hate Speech“, die vom Europarat unterstützt wird, Ramiro Hernandez-Llanas und Rygor Yuzepchuk, diese hat sich zum Ziel gesetzt, junge Menschen für jede Form Namen stehen stellvertretend für Tausende von Hinge- der Hassrede zu sensibilisieren. Solche Kommentare ge- richteten weltweit pro Jahr, von denen Amnesty Interna- hören dazu, und sie machen etwas mit unserer Gesell- tional berichtet. Rizana Nafeek ist am 9. Januar 2013 in schaft. Saudi-Arabien hingerichtet worden. Ihr wurde vorge- worfen, ein Kind getötet zu haben. Sie hatte unzurei- Denn auch aktuelle sozialwissenschaftliche Daten chenden anwaltlichen Beistand. Ramiro Hernandez- können uns nicht egal sein: Umfragen zeigen, dass Llanas wurde am 9. April 2014 im US-Bundesstaat Te- 25 Prozent der Deutschen der Meinung sind, der Staat xas durch Gift hingerichtet. Er war geistig behindert. dürfe die Todesstrafe für Schwerverbrecher einführen. Ihm wurde Mord an seinem Arbeitgeber vorgeworfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn wir schon Rygor Yuzepchuk wurde im April 2014 in Weißrussland seit längerem keine Diskussion in Deutschland mehr zur wegen Mordes an einem Mithäftling hingerichtet. Weiß- Todesstrafe führen, müssen wir trotzdem immer wieder russland ist von Berlin keine 800 Kilometer entfernt. deutlich machen, dass die Todesstrafe zivilisatorischen Rückschritt bedeutet. Meine Damen und Herren, an dieser Stelle wären jetzt eigentlich Zahlen zu nennen: In wie vielen Ländern der (Beifall im ganzen Hause) Erde vergiftet, hängt, erschießt, steinigt der Staat noch Reyhaneh Jabbari und Iwao Hakamada: Diese Men- Menschen? Wie viele Hinrichtungen waren es 2013? Ich schen leben noch, veranschaulichen jedoch die Grau- (B) (D) verzichte darauf. Jeder Mensch, der heute in einer To- samkeiten der Todesstrafenpraxis. Reyhaneh Jabbari deszelle auf seine Ermordung wartet, ist einer zu viel. – Sie sagten es schon, Herr Heinrich – sitzt im Iran in (Beifall im ganzen Hause) der Todeszelle, weil sie einen Mann getötet hat, aus Not- wehr, wie sie sagt, weil er sie vergewaltigen wollte. Iwao Ich halte fest: Wir fordern, die Todesstrafe weltweit Hakamada veranschaulicht wie kein anderer, dass die zu ächten und abzuschaffen. Die Gründe hierfür sind Todesstrafe abgeschafft werden muss. Er saß 45 Jahre in einfach: Die Todesstrafe widerspricht dem wichtigsten der Todeszelle in Japan. Vor kurzem hat sich durch einen Menschenrecht, dem Recht auf Leben, und die Todes- DNA-Test herausgestellt, dass er Opfer eines Justizirr- strafe lässt sich bei einem Justizirrtum nicht korrigieren. tums sein könnte. Unser Antrag enthält genau diese Botschaft. Er be- Danke schön. schreibt den Prozess, wie wir uns diesem Ziel annähern (Beifall im ganzen Hause) und gegenüber welchen Ländern wir besonders aktiv werden müssen. Darüber hinaus ist unser Antrag realis- tisch. Denn wenn schon in einem Land die Todesstrafe Vizepräsidentin Ulla Schmidt: nicht sofort abgeschafft wird, dann sind zumindest – als Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Dr. Stefan Heck, erster Schritt – Mindestnormen in Bezug auf die Todes- CDU/CSU-Fraktion. strafe einzuhalten. Mindestnormen, das hört sich zynisch (Beifall bei der CDU/CSU) an. Diese Forderung ist aber notwendig, wenn man sich anschaut, aus welchen Gründen Menschen in den ver- schiedenen Ländern mit der Todesstrafe bestraft werden: Dr. Stefan Heck (CDU/CSU): Das sind Wirtschaftsdelikte, Ehebruch, Gotteslästerung Unsere bisherigen Ausführungen haben gezeigt, oder einvernehmlicher, gleichgeschlechtlicher Sex zwi- dass Wissenschaft, Gesetzgebung und Erfahrung schen Erwachsenen. In Ländern wie Iran, Saudi-Arabien sich vereinigen, um darzutun, dass die Zeit nahe ist, und Sudan steht auf Homosexualität die Todesstrafe. in welcher die Todesstrafe als Überbleibsel alter Meine Damen und Herren, die Abschaffung der To- Zeiten aufgehoben wird. Wann diese Zeit eintreten desstrafe in der Welt zu fordern, ist wichtig. Darüber hi- wird, steht in höherer Hand; sobald aber die Über- naus haben wir aber durchaus auch in Deutschland zeugung siegt, dass die Todesstrafe weder notwen- Handlungsbedarf. Zwei Zitate: dig noch nützlich ist, dass ihre Beibehaltung selbst Nachteile erzeugt, wird sie verschwinden, eben so Findet diese Dreckschweine und hängt sie auf! wie die Blätter im Herbste abfallen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5421

Dr. Stefan Heck (A) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und sonders deutlich müssen wir das dort zum Ausdruck (C) Herren! Diese Worte stammen von Carl Joseph Anton bringen, wo zur Todesstrafe hinzutritt, dass sozusagen Mittermaier, dem bedeutendsten deutschen Strafrechtler im Vorlauf zu der Vollstreckung der Strafe die wichtigs- des 19. Jahrhunderts, Professor in Heidelberg und nicht ten Grundsätze des Rechtsstaates nicht beachtet werden. zuletzt Mitglied der deutschen Nationalversammlung in Länder wie China, Saudi-Arabien oder der Iran richten der Paulskirche. Das Zitat stammt aus einer umfassen- ohne fairen Prozess hin. Es kommt sogar vor, dass Min- den Monografie Mittermaiers zur Todesstrafe aus dem derjährige hingerichtet werden. Dort wird die Todes- Jahre 1862. Denn das Verbot der Todesstrafe gemäß strafe nicht nur für schwerste Verbrechen verhängt, son- § 139 der Paulskirchenverfassung war wie die vielen an- dern häufig genug auch dazu genutzt, Oppositionelle zu deren fortschrittlichen Ideen dieses Verfassungsdoku- verfolgen und schließlich umzubringen. ments mit seinem politischen Scheitern Theorie geblie- Mich persönlich erschüttert – das wurde schon ange- ben. Mittermaier kämpfte nun aber akademisch gegen sprochen –, wie viele Länder bis heute noch immer Exe- ein Relikt an, dem er schon 1862 keine lange Zukunft kutionen zum öffentlichen Spektakel und den Verurteil- mehr gab. Doch auch im Herbst 2014 ist die Todesstrafe ten damit zum Objekt von Gaffern machen, die sich am noch keineswegs verschwunden. Überhaupt irrte Leid eines wehrlosen Menschen ergötzen. Gleichviel Mittermaier, wenn er davon ausging, dass die Todes- welch ein Verbrechen ein Mensch begangen haben mag, strafe so verschwinden würde, wie die Blätter im Herbst öffentliche Enthauptungen auf den Marktplätzen Saudi- abfallen. Als Mittermaier dies 1862 schrieb, stand die Arabiens, an Kränen aufgeknüpfte Verurteilte im Iran schrecklichste Phase dieser furchtbaren Strafe, die tau- und in gefüllten Fußballstadien erschossene Delinquen- sendfach an Unschuldigen im Dritten Reich vollstreckt ten in China, das sind Bilder staatlicher Verrohung. Uns wurde, in unserem Land noch bevor. muss schmerzlich bewusst werden, welche Gräben sich zwischen unserer Auffassung von Menschenrechten und Nach dem Erscheinen von Mittermaiers Werk sollten der in Saudi-Arabien, im Iran oder in China auftun. noch mehr als 100 Jahre vergehen, bis die Todesstrafe Wenn wir diese Länder heute kritisieren, dann ist das 1987 endlich auch in der DDR und damit in ganz kein Zeichen westlicher Arroganz oder Überheblichkeit, Deutschland abgeschafft sein sollte. Vielen ist heute gar sondern Ausdruck unserer unerschütterlichen Überzeu- nicht mehr bewusst, dass das SED-Regime die Todes- gung. Wir sind der Überzeugung, dass Menschenrechte strafe noch bis in die jüngste Vergangenheit dazu miss- unveräußerlich sind. Sie gelten für jeden Menschen und brauchte, Regimegegner und abtrünnige Funktionäre zu stehen nicht zur Disposition der Politik. verfolgen. Selbstverständlich gab es für die Delinquen- ten keinen fairen Prozess. Ein Wink der SED-Oberen (Beifall im ganzen Hause) entschied über Leben und Tod im Unrechtsstaat DDR. Dabei vergessen wir natürlich nicht, unsere Freunde, (B) (D) Der lange Kampf um die Abschaffung der Todesstrafe mit denen wir viele Grundwerte teilen, daran zu erin- nern, welche Konsequenzen unserer Auffassung nach lehrt uns: Auf das Verschwinden der Todesstrafe darf aus diesen Grundsätzen zu ziehen sind. Es ist deshalb man nicht warten wie auf das Verschwinden der Blätter richtig, dass wir alle auch darauf hingewiesen haben, im Herbst. Es ist die Verpflichtung unserer Politik, aktiv dass die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Position gegen diese grausame Strafe zu kämpfen. Dabei ist es zur Todesstrafe überdenken müssen. richtig, dass wir auch 24 Jahre nach der Wiedervereini- gung und der verfassungsrechtlichen Ächtung dieser Ich weiß, dass eine weltweite Abschaffung der Todes- Strafe in ganz Deutschland dieses Thema nicht verges- strafe nur in kleinen Schritten erfolgen kann. Oft genug sen. Heute ist die Abschaffung der Todesstrafe nämlich geht die Verhängung der Todesstrafe Hand in Hand mit nicht bloß eine Abwägung von Für und Wider. Im Ge- der Verletzung von zahlreichen anderen Menschenrech- genteil: Das Grundgesetz hat uns als höchsten Wert un- ten. Deswegen sollten wir, finde ich, hier deutlich sagen: serer Rechtsordnung die Würde des Menschen verdeut- Eine diskriminierende Anwendung der Todesstrafe ge- licht. Dies entspricht unserer geschichtlichen Erfahrung. genüber Minderheiten ist verwerflich und nicht hin- Zugleich hat sich in Europa die Erkenntnis durchgesetzt, nehmbar. Die Verhängung der Todesstrafe gegen zur Tat- dass die Anerkennung der Würde des Menschen die zeit Minderjährige ist ein schreiendes Unrecht, und die Konsequenz der Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen Hinrichtung von Schwangeren ist schlicht und einfach und Teil des gemeinsamen europäischen, christlich-jüdi- ein Verbrechen. Ein fairer Prozess sowie ein rechtskräfti- schen Erbes ist. Deswegen ist es richtig, dass die Forde- ges Urteil sind das Mindeste, was jemandem gewährt rung nach der Abschaffung der Todesstrafe seit langem werden muss, dem die Todesstrafe droht. ein wesentlicher Bestandteil der Menschenrechtspolitik Meine sehr geehrten Damen und Herren, nur die Blät- der Bundesrepublik Deutschland ist, wo der besondere ter fallen von selbst im Herbst vom Baum. Beim Thema Wert eines Menschen im Mittelpunkt steht. „Todesstrafe“ müssen wir hingegen dranbleiben und ak- tiv werden. Mittermaiers Argumente gegen die Todes- Es ist gut, dass wir heutzutage – Weißrussland wurde strafe sind inzwischen Bestandteil der Verfassungsdog- bereits mehrfach als Beispiel genannt – nicht nur auf das matik unseres Grundgesetzes und wurden mit dem allmähliche Verschwinden der Todesstrafe in Europa Schutz der Würde jedes einzelnen Menschen noch wei- hinweisen, sondern auch darauf hinwirken, dass Länder ter vertieft. Kämpfen wir weiter dafür, dass die Todes- wie Saudi-Arabien, China, der Irak und der Iran, aber strafe verschwindet! Der Herbst kann für sie eigentlich auch gefestigte Demokratien wie die Vereinigten Staaten nicht früh genug kommen. von Amerika und Japan die Todesstrafe endlich abschaf- fen oder zumindest deren Vollstreckung aussetzen. Be- Vielen Dank. 5422 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Dr. Stefan Heck (A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem wir vor kurzem in der Gruppe der Frauen unserer Frak- (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- tion zu Gast hatten, hörten sich an wie Berichte aus ei- geordneten der LINKEN) nen Horrorfilm: Frauen und Mädchen als Freiwild, sys- tematisch vergewaltigt, als Sklavinnen verkauft und von Vizepräsidentin Ulla Schmidt: den eigenen Familien als angeblich Entehrte verstoßen. Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Wir Wir debattieren heute aus Anlass des morgigen dritten kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktio- internationalen Weltmädchentages. Dieser weltweite nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/2738 Aktionstag, für den sich unser Haus 2011 interfraktionell mit dem Titel „Europa – Vorreiter im Kampf gegen die eingesetzt hat, ist 2014 wichtiger denn je; denn über die Todesstrafe“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer Jahre haben wir lernen müssen: Mädchen werden nach stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist wie vor vielfältig benachteiligt, diskriminiert, sind Ge- mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. walt oft schutzlos ausgeliefert. Der aktuelle Bericht der (Beifall im ganzen Hause) Weltbank zeigt dies in erschreckenden Zahlen. Tagesordnungspunkt 24b. Abstimmung über den An- Die Unterdrückung von Mädchen, ihre Ungleichbe- trag der Fraktion Die LINKE auf Drucksache 18/2740 handlung und Entrechtung beginnt dabei nicht erst im mit dem Titel „Todesstrafe weltweit ächten“. Wer Kindesalter, nicht erst mit der Geburt, sondern oft genug stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer schon im Mutterleib. Ultraschall macht es möglich, un- enthält sich? – Der Antrag ist mit den Stimmen von erwünschten weiblichen Nachwuchs schon während der CDU/CSU und SPD bei Enthaltung der Fraktion Bünd- Schwangerschaft zu töten. Wo kein Ultraschall verfüg- nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die bar ist, werden unerwünschte Mädchen bis heute noch in Linke abgelehnt. manchen Fällen kurz nach der Geburt einfach getötet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Ich war in Dörfern in Indien, wo das Ersticken eines Säuglings mit einer Handvoll Reis nach wie vor gesell- Vereinbarte Debatte schaftlich akzeptiert war. Mütter, die sich weigerten, da- Weltmädchentag – Bildung und Gesundheit bei mitzumachen, bekamen den ganzen Druck ihres von Mädchen als Voraussetzung für Entwick- sozialen Umfeldes zu spüren. Dabei waren es oft ökono- lung mische Gründe: Mädchen waren einfach zu teuer; denn die Mitgift treibt die Familie in den Ruin und ihre Ar- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für beitskraft geht nach der Hochzeit zudem an die Schwie- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- gerfamilie verloren. Eine niederschwellige Geburtenre- (B) nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. gistrierung, wie sie es leider in vielen Ländern immer (D) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Claudia noch nicht gibt, würde schon helfen, um die Neugebore- Lücking-Michel von der CDU/CSU-Fraktion. Bitte nen besser zu schützen und später auch ihre Rechte zu schön, Frau Kollegin. schützen. (Beifall bei der CDU/CSU) Bis 2015 sollten eigentlich die acht Millenniumsziele der Vereinten Nationen, die sogenannten MDGs, erreicht Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU): sein. Hierzu gehören auch Dinge wie Gleichstellung von Mädchen und Jungen, Grundschulbildung für alle, Sen- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe kung der Kindersterblichkeit und die Verbesserung der Kolleginnen und Kollegen! „Menschenrechte sind Frau- Gesundheit von Müttern. Aber – wir wissen es alle – in enrechte!“, „Frauenrechte sind Menschenrechte!“: eine vielen Ländern sind wir von diesen Zielen nach wie vor Selbstverständlichkeit? Mitnichten! Zur Geschichte der weit entfernt. Wenn wir jetzt zudem in den Irak, nach Menschenrechte gehört die Geschichte der Ausgrenzung Syrien oder nach Nigeria blicken, dann wissen wir: Wir von ihnen. Ihre Versprechungen galten die längste Zeit sind erst recht zum Handeln gezwungen. Zwar wurde nur für bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Frauen schon 1995 in Peking gefordert, dass Mädchen weltweit und Mädchen gehörten meistens nicht dazu. Dabei reden einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung erhalten, wir nicht von grauer Vorzeit. Erst 1993 konnten die aber davon sind wir ebenso weiterhin weit entfernt. Frauenrechte als universelle Menschenrechte in den Ab- Nichts ist daher enttarnender als der Name „Boko schlussdokumenten der UNO-Menschenrechtskonfe- Haram“, der übersetzt etwa bedeutet: Westliche Bildung renz in Kairo – immerhin auf dem Papier – verankert ist gottlos. werden. Als ich dann 1995 hochmotiviert als Mitglied der Heute Vormittag – wir haben es wahrscheinlich alle deutschen Delegation an der 4. UNO-Weltfrauenkonfe- mitbekommen – wurde bekannt, dass das pakistanische renz in Peking teilnehmen konnte, war ich von dem Mädchen Malala den diesjährigen Friedensnobelpreis er- Glauben beseelt: Jetzt haben wir Frauen es bald ge- hält. schafft. Mitnichten! Die letzten Jahre und die aktuellen (Beifall im ganzen Hause) schrecklichen Erfahrungen zeigen uns, dass es nicht im- mer nur zum Guten vorangeht, sondern sich Entwicklun- Herzlichen Glückwunsch auch von dieser Stelle! Ich gen in fürchterlicher Weise auch umkehren können. Die freue mich und wir freuen uns offensichtlich alle über Berichte von Frauenrechtlerinnen aus dem Nordirak, die diese Entscheidung. Sie ist nicht nur eine wichtige Sym- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5423

Dr. Claudia Lücking-Michel (A) bolfigur, sondern man kann fast sagen: Sie ist Märtyrerin Das muss vor allen Dingen folgende Aspekte beinhalten: (C) für Bildung geworden. Beendigung der Diskriminierung von Mädchen, Beseiti- gung von gewaltsamen Praktiken, vor allen Dingen bei Schon gestern hatte ich mir ein Zitat von ihr vor der Früh- und Zwangsverheiratung, Beendigung der weibli- UN-Jugendgeneralversammlung aufgeschrieben, das ich chen Beschneidung, gleichberechtigte gesellschaftliche jetzt erst recht, nach der Preisverleihung, hier vortragen und politische Teilhabe von Mädchen und Frauen, und möchte. Sie sagt: das heißt in der Regel: vollständige ökonomische Unab- Bildung ist weder islamisch noch westlich, Bildung hängigkeit durch gute eigene Arbeitsmöglichkeiten. ist menschlich. Der morgige Weltmädchentag erinnert an unsere Ver- antwortung, zu handeln. Als Parlamentarier müssen wir Sie fährt dann fort: uns mit ganzer Kraft dafür einsetzen, eine gleichberech- … für Bildung ist Frieden unerlässlich. In vielen tigte Entwicklung von Mädchen überall auf der Welt zu Teilen der Welt, vor allem in Pakistan und Afgha- ermöglichen. Wir müssen darauf achten, dass wir bei al- nistan, halten Terrorismus, Kriege und Konflikte len Maßnahmen, die wir uns in der Entwicklungszusam- Kinder davon ab, zur Schule zu gehen. Wir alle sind menarbeit vornehmen, die Interessen von Mädchen und diese Kriege leid. … Lasst uns zu unseren Büchern Frauen im Blick behalten. Wir müssen darauf achten, und Stiften greifen. Das sind unsere mächtigsten dass sie vor Ort bei allen Entscheidungen mit einbezo- Waffen. Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift gen werden und dass unsere Fachkräfte nicht nur mit den können die Welt verändern. Bildung ist die einzige Männern vor Ort verhandeln. Es geht um Empowerment. Lösung. Bildung geht vor. Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass bald der Tag kommt, an dem der Satz „Frauenrechte sind Men- Besser kann man es wohl kaum formulieren. schenrechte“ nicht nur auf dem Papier gilt. Noch ist es (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem bis dahin ein weiter Weg. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Wir wissen aus Erfahrung: Mädchen Bildung zu er- (Beifall im ganzen Hause) möglichen, sie über ihren eigenen Wert und ihre Rechte aufzuklären, ihnen praktisches Wissen für ein selbstbe- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: stimmtes Leben zu vermitteln, verändert ganze Gesell- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Annette Groth, schaften. Frauen mit Schulbildung heiraten in der Regel Fraktion Die Linke. später, bekommen weniger Kinder und sind dann besser (B) in der Lage, für diese zu sorgen. Jedes zusätzliche Schul- (Beifall bei der LINKEN) (D) jahr für ein Mädchen erhöht später bei der jungen Frau das potenzielle Einkommen um 10 bis 20 Prozent. Das Annette Groth (DIE LINKE): sind wichtige Schritte, um den Kreislauf der Armut Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nachhaltig zu durchbrechen. Anlässlich des internationalen Mädchentages beklagen Lassen Sie uns also alles tun, damit Mädchen ihr wir einmal die weltweite Benachteiligung, Diskriminie- Recht auf Bildung verwirklichen können. Damit setzen rung und Gefährdung von Mädchen in vielen Ländern wir den Hebel an der richtigen Stelle an. Dabei geht es der Welt. Ein Mädchen zu gebären, gilt bei vielen immer um formale Schulbildung ebenso wie um sexuelle Auf- noch als Enttäuschung. Mädchen werden zwangsverhei- klärung und Gesundheitsversorgung. ratet, sexuell weit häufiger missbraucht als Jungen und auch noch bestraft, wenn sie infolge des Missbrauchs Unser Augenmerk muss dabei verstärkt auf die Grup- schwanger werden. pen unter den Mädchen gerichtet sein, die noch einmal Weltweit sind etwa 150 Millionen Frauen Opfer von in besonderer Weise gefährdet und benachteiligt sind Genitalverstümmelung. 2 Millionen Mädchen sind jedes – man braucht es nicht zu erklären –: Flüchtlingsmäd- Jahr davon bedroht. Das ist eigentlich unglaublich, und chen – sie erleiden nicht nur vielfach besondere Gewalt, ich finde, wir alle sind aufgerufen, aktiv gegen diese bru- sondern müssen auch enorme Anpassungsleistungen tale Art der Körperverletzung zu kämpfen. vollbringen –, arbeitende Mädchen – sie brauchen Un- terstützung, damit ihre Lage überhaupt gesellschaftlich (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) sichtbar wird –, traumatisierte Mädchen, Mädchenwai- Ein zunehmendes Problem – meine Vorrednerin hat es sen – sie sind ganz allein auf der Welt –, Opfer von schon angesprochen – ist das Kidnapping von Mädchen Zwangsprostitution und Menschenhandel. und Frauen, um sie zwecks Zwangsheirat nach China zu Die Stellung der Mädchen reflektiert dabei eins zu bringen. Wir hatten heute ein Gespräch mit Leuten aus eins die Stellung der Frauen in der Gesellschaft. Darum Kambodscha, die uns genau das erzählten. Kidnapping trete ich dafür ein, dass wir in der Post-2015-Entwick- von Frauen gibt es nicht nur in Kambodscha; das gibt es lungsagenda die Gleichberechtigung von Frauen und auch in Myanmar, in Laos und in anderen Teilen der Mädchen sowie die Wahrung von Frauen- und Mädchen- Welt. In China fehlen Millionen von Frauen, weil – Sie rechten als eigenständige Ziele aufnehmen. haben es schon gesagt – viele Mädchen abgetrieben wur- den. Jetzt besteht dort ein großes Problem, nämlich Frau- (Beifall im ganzen Hause) enmangel, und man holt sich Frauen gewaltsam aus an- 5424 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Annette Groth (A) deren Ländern. Es ist eigentlich ein Non-Thema. Darum In vielen Fällen sind die Käufer dieser syrischen (C) sollten wir uns viel stärker kümmern. Mädchen Scheichs aus Saudi-Arabien und anderen Golf- staaten, aber auch Männer aus Frankreich und sogar aus Weltweit besuchen 31 Millionen Mädchen im Grund- Deutschland, wie ich in der Türkei erfahren musste. Das schulalter keine Schule, 5 Millionen mehr als Jungen. ist doch finsterstes Mittelalter und muss wirklich von 31 Millionen Mädchen, die im Grundschulalter sind, ge- uns allen bekämpft werden. hen nicht zur Schule! Zwei Drittel aller Analphabeten weltweit sind weiblich. Das ist kein Zufall, sondern ein (Beifall im ganzen Hause) strukturelles Problem. Meine Vorrednerin hat es gesagt: Statt immer mehr Über die Hälfte der Weltbevölkerung sind Mädchen Gelder in Rüstung zu stecken, in unproduktive Waffen, und Frauen. Weltweit erbringen sie – oder wir – zwi- die töten, schen 60 und 70 Prozent der Arbeitsleistungen. Bezahlt (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat sie aber wird davon aber nur ein Drittel. Es ist ein Skandal, dass nicht gesagt!) Frauen nur einen Bruchteil des Welteinkommens erhal- ten und nur etwa 1 Prozent des weltweiten Eigentums sollten wir viel mehr Geld in Bildung stecken und insbe- besitzen. sondere ins Gesundheits- und Bildungssystem. Das bie- tet Mädchen die einzige Möglichkeit, etwas für sich zu (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- tun. Das sollten Sie bitte auch in den anstehenden Haus- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE haltsberatungen beherzigen. GRÜNEN) Danke schön. Dabei werden allein in Afrika circa 80 Prozent der land- (Beifall bei der LINKEN) wirtschaftlichen Erzeugnisse nur von Mädchen und Frauen produziert. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frauen und Mäd- Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die SPD-Frak- chen geht es – das wurde schon gesagt – am schlimms- tion ist Michaela Engelmeier, der ich auch ganz herzlich ten in Kriegen und bei anderen Katastrophen. In solchen zu Ihrem heutigen Geburtstag gratulieren darf. Ausnahmesituationen wird deutlich, wie verletzlich (Beifall) Mädchen sind. Sie kommen bei Naturkatastrophen nicht nur vierzehnmal häufiger um als Jungen, sondern sie werden in deren Folge auch viel öfter Opfer von Gewalt Michaela Engelmeier (SPD): (B) und Zwang. Danke schön. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe (D) Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vorab möchte ich natür- Jedes Jahr werden weltweit 1,7 Millionen Mädchen lich ein besonderes Mädchen würdigen. Ich bin tief be- unter 15 Jahren verheiratet; bei Mädchen unter 18 Jahren rührt, dass Malala den Friedensnobelpreis erhalten hat. sind es immerhin noch 10 Millionen. Das ist eigentlich Ich finde, Malala steht wie keine andere als Symbol ungeheuerlich. – Sie haben es schon angedeutet, Frau Lücking-Michel – dafür, dass sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hat, um ihr Ich bin am Dienstag von einer Reise an die syrisch- Recht auf Bildung einzufordern. türkische Grenze bei Kobane zurückgekommen. Dort habe ich Flüchtlingslager besucht und war tief beein- (Beifall im ganzen Hause) druckt von der Hilfsbereitschaft der lokalen Bevölke- Heute möchte ich über die gesellschaftliche Gruppe rung. Sie versorgen die Flüchtlinge praktisch allein, sprechen, die von extremer sozialer und ökonomischer ohne internationale Hilfe, die aber angesichts des nahen- Ungleichheit und Ungerechtigkeit betroffen ist: die Mäd- den Winters dringend erforderlich ist. chen. Wir haben diesen internationalen Weltmädchentag In einem Lager, das ich besucht habe, waren von den eingeführt, um auf die Lage von Mädchen aufmerksam zu circa 2 100 Flüchtlingen 85 Prozent Frauen und Kinder. machen, denn sie sind immer noch besonders häufig Op- „Es ist ein Krieg gegen Frauen“, sagten mir türkische fer von Gewalt, Ausbeutung, Ausgrenzung und Benach- und kurdische Feministinnen, die wie ich eine Solidari- teiligungen, und das weltweit. „Because I am a Girl“, tätsreise in diese Region machten. Viele der Frauen sind „Die Welt wird Pink“, damit begehen wir morgen den in- schwer traumatisiert und waren auf ihrer Flucht teilweise ternationalen Weltmädchentag. Mit dem Zeichen Pink massiver Gewalt ausgesetzt. Die IS-Terroristen benutzen soll ein Zeichen gesetzt werden. Das kräftige Pink der Frauen als Druckmittel, verkaufen sie, vergewaltigen sie „Because I am a Girl“-Kampagne hat eine starke Signal- und zwingen sie in Ehen. kraft. Sie vermittelt Lebensfreude und Mut zur Offen- sive, genau das, was Mädchen motivieren kann, selbst Ganze Menschenhändlerringe haben sich auf den für ihre Rechte zu kämpfen. Handel mit syrischen Mädchen „spezialisiert“. Fast die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hälfte der Opfer ist noch minderjährig. Das Geschäft mit der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE den Mädchen, die für etwa 600 Euro verkauft werden, GRÜNEN) boomt, so zum Beispiel in Ägypten, weil sich viele Ägypter eine Heirat mit Ägypterinnen aus finanziellen Auch wir hier im Deutschen Bundestag wollen uns Gründen nicht leisten können. einsetzen, die Rechte von Mädchen Wirklichkeit werden Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5425

Michaela Engelmeier (A) zu lassen. Wir wollen mit parlamentarischen Initiativen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) dafür sorgen, dass Mädchen mehr Gleichberechtigung der CDU/CSU und der LINKEN) erfahren, dass 4 Millionen Mädchen mindestens neun Ein zusätzliches Jahr weiterführender Schulbildung Jahre zur Schule gehen oder eine vergleichbare Bildung kann das spätere Einkommen eines Mädchens um durch- erhalten. schnittlich 15 bis 25 Prozent erhöhen. Mit der Möglich- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) keit, ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften zu kön- nen, wird sie sich und ihre Kinder aus der Armut Probleme, die wir lösen müssen, gibt es genug. Laut befreien können. Sie wird das, was sie verdient hat, in UNICEF werden mehr als 60 Millionen Mädchen vor ih- ihre Kinder investieren, in deren Gesundheit, Bildung rem 18. Lebensjahr gegen ihren Willen verheiratet. In und Zukunft. Ein gebildetes Mädchen wird mit größerer Bangladesch werden 66 Prozent aller Mädchen Opfer Wahrscheinlichkeit später heiraten als eines ohne Bil- von Zwangs- oder Frühverheiratung. Sie werden nicht dung, weniger und gesündere Kinder zur Welt bringen. nur ihrer Kindheit beraubt, sondern auch ihrer Chancen Mit jedem zusätzlichen Jahr Schulbildung einer jungen auf Bildung und Beruf. Mädchen aus den ärmsten Mutter sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder 20 Prozent der Haushalte haben ein dreifach höheres Ri- sterben, um 5 bis 10 Prozent. siko, als Kind verheiratet zu werden. Schwangerschaften In Nigeria gehen 10,5 Millionen Kinder im schul- und Geburten sind die Haupttodesursache von Mädchen pflichtigen Alter nicht zur Schule. Zwei Drittel davon im Alter zwischen 15 und 19 Jahren. Es besteht ange- sind Mädchen. Wir erinnern uns – tun wir das noch? – an sichts dieser Zahlen dringender Handlungsbedarf, auch die entführten Schülerinnen, die zu einem Symbol im zur Unterstützung politischer Reformen. Kampf gegen Boko Haram geworden sind. 211 Mädchen Auf ein Problem möchte ich besonders aufmerksam sind verschwunden. Die entführten Mädchen sind ein machen. Viele Mädchen werden nach ihrer Geburt nicht Symbol des Terrors und für das ausgesprochene Schul- offiziell registriert; aber nur wer registriert ist, hat Mit- verbot. Ihre Entführung und ihr ungewisses Schicksal bestimmungsrechte und Zugang zu Bildung. Ohne Ein- soll eine Drohung an alle Eltern und Mädchen sein, den trag in ein Geburtenregister erhält man keinen Pass, hat Schulbesuch für Mädchen zu vergessen. Momentan ist man keine Bürger- und Wahlrechte, kann man keinen die Befreiung der Mädchen völlig aus den Augen des öf- Besitz erwerben oder erben und wird man häufiger fentlichen Interesses und der Medien geraten. Wir müs- Opfer von Menschenhandel. Für nicht registrierte Kin- sen Sorge dafür tragen, dass das Interesse an der Freiheit der ist zudem der Zugang zu staatlicher Bildung schwie- der Mädchen nicht stirbt. rig bis unmöglich. Ich werbe dafür, möglichst nieder- (Beifall im ganzen Hause) (B) schwellige Registrierungsangebote zu schaffen. (D) Mein Appell für den Weltmädchentag lautet: Machen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir nicht nur darauf aufmerksam, vor welcher Heraus- DIE GRÜNEN) forderung Mädchen vor allem in Entwicklungsländern stehen, sondern handeln wir. Von Gesetzesänderungen Bei der Impfdokumentation die Papiere gleich um die und einem Politikwandel werden 400 Millionen Mäd- Registrierung zu erweitern oder etwa mittels einer Re- chen und Jungen profitieren. Nutzen wir das kommende gistrierung via Handy zu agieren, die zum Beispiel in Jahr, wenn die Staatengemeinschaft neue Ziele im Rah- Afrika weit verbreitet sind, das wären Möglichkeiten. men der Post-2015-Agenda verhandelt. Was dort ent- Ich werbe hier dafür, unsere Kraft und Energie gemein- schieden wird, wird die Entwicklungszusammenarbeit in sam dafür einzusetzen, die besondere Situation von den nächsten 15 Jahren beeinflussen. Was in diesen Zie- Mädchen nicht nur zu beachten, sondern alles dafür zu len nicht verankert wird, das wird vergessen bleiben. Da- tun, um sie zu verbessern. für muss nicht nur Gleichberechtigung ein eigenes Ziel in der Agenda sein, sondern es müssen auch die Rechte (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie von Mädchen und jungen Frauen in alle anderen Ziele bei Abgeordneten der CDU/CSU und des der neuen UN-Entwicklungsagenda einfließen, wenn wir BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sie erreichen wollen. Nur dann ist eine nachhaltige Ver- änderung machbar. Wie unbefriedigend die Situation in Sachen Bildung ist, verdeutlicht „Plan International Deutschland“. Ich Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. lege Ihnen den Mädchenbericht von „Plan“ besonders ans Herz. Laut „Plan International Deutschland“ gehen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) weltweit rund 75 Millionen Mädchen nicht zur Schule. Frau Präsidentin, wenn Sie erlauben, möchte ich Ih- Etwa ein Drittel aller Mädchen ist von der Sekundarbil- nen gerne den Mädchenbericht und den Sticker „Be- dung, also der Möglichkeit, eine weiterführende Schule cause I am a Girl“ überreichen. Bitte. zu besuchen, völlig ausgeschlossen. Wenn wir sicher- stellen, dass Mädchen von Geburt an die gleichen Chan- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) cen wie Jungen erhalten, dann helfen wir ihnen und ih- ren Familien dabei, den Kreislauf der Armut zu Vizepräsidentin Ulla Schmidt: durchbrechen, und geben ihnen die Chance, selbstbe- Vielen Dank. – Eigentlich ist es umgekehrt. Das Ge- wusste Frauen, Mütter, Berufstätige und Leitfiguren zu burtstagskind bekommt etwas geschenkt, aber ich nehme werden. das auch gerne an. 5426 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Es gibt inzwischen viele positive Entwicklungen. (C) Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen. Wenn wir uns einmal die MDGs anschauen, die im Jahr 2000 verabschiedet wurden: Dort wurden zum ersten Mal Forderungen zur Stärkung von Mädchen und Frauen Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): positiv formuliert. Sie haben Wirkung gezeigt. Aller- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! dings sind wir mit dem Ergebnis absolut nicht zufrieden. Eigentlich ist dies heute ein schönes Thema. Wir zele- Gerade im Bereich der Bildung müssen wir sagen, dass brieren heute einen Tag, den es vor drei Jahren noch in vielen Ländern 80, 90, manchmal 96 Prozent der Kin- nicht gegeben hat. Es war eine Initiative der Kanadier, der eingeschult werden. Wie viele dieser Kinder bis zum diesen Mädchentag einzuführen. Wir haben uns im AwZ, sechsten Jahr in der Schule sind, wird nirgendwo erfasst. im Ausschuss für Entwicklungspolitik, intensiv damit Es wird auch nirgendwo erfasst, welche Qualität diese auseinandergesetzt und uns zunächst einmal die Frage Schulbildung hat. Also: Hier muss noch sehr viel mehr gestellt: Noch ein Tag, der gefeiert werden muss und an geschehen. Es sollte im Rahmen der Entwicklungspoli- dem gedacht werden soll? Wir sind aber ganz schnell zu tik mehr Hilfestellung geleistet werden. der Überzeugung gekommen, dass es durchaus ein sinn- voller Tag ist; denn wir Entwicklungspolitiker wissen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, natürlich, dass die Frau letztendlich die Trägerin der Ent- bei der CDU/CSU und der SPD) wicklung in vielen Ländern dieses Globusses ist. Wir Wir müssen uns aber auch die globale Entwicklung wissen natürlich auch: Wenn die Frau die Trägerin der stets vor Augen halten. Fragile Staaten sind eine Bedro- Entwicklung ist, müssen wir dazu beitragen, dass die hung für gesamte Gesellschaften. Aber, wie so oft, gibt Frau nicht nur Bildung hat. Es wird immer wieder von es in den Gesellschaften eine Bevölkerungsgruppe, die Bildung gesprochen. Das ist richtig. Aber wir müssen stärker und empfindlicher von der jeweiligen Situation uns darüber im Klaren sein, dass die Bildung unbedingt betroffen ist als andere: Mädchen und Frauen. dafür sorgen muss, dass das Selbstbestimmungsrecht, das Selbstbewusstsein, die Persönlichkeitsbildung domi- Denken Sie nur an die Situation in den Flüchtlingsla- nieren müssen. Eine Frau, die nur lesen und schreiben gern. Ich habe die Ortschaft Dadaab in Kenia besucht. lernt, muss nicht unbedingt eine Führungspersönlichkeit Die Frage, wie Frauen in den UN-geführten Lagern ge- sein. Sie muss auch nicht unbedingt Selbstbewusstsein schützt werden können, ist dort ein riesiges logistisches haben. Wir müssen das Selbstbewusstsein der Frauen Problem, das bis heute noch nicht zufriedenstellend ge- fördern. löst worden ist. Wir haben ein schönes Beispiel – das ist heute schon Das Thema Menschenhandel wurde angesprochen, das ist bis zu 95 Prozent Frauen- und Mädchenhandel. (B) mehrfach genannt worden –: Malala. Die damals Elfjäh- (D) rige hat die Initiative ergriffen und einen Internetblog Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die Mädchen gestaltet, in dem sie für das Bildungsrecht für Mädchen schlechtergestellt sind als die Jungen. eingetreten ist. Sie hat das unter einem Pseudonym ge- Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen. macht; denn sie wusste sehr wohl, wie gefährlich es in Die MDGs laufen 2015 ab, die SDGs folgen. Wir haben Pakistan sein kann, mit dem richtigen Namen öffentlich mit „Plan Deutschland“ darüber gesprochen, ob sie zu- zu werden. Irgendwann schafften es die Taliban, heraus- frieden sind mit der Ausformulierung der Ziele der inter- zufinden, wer hinter diesem Pseudonym steckte. Am nationalen Gemeinschaft in Bezug auf Mädchenförde- 9. Oktober 2012 kam es zum Mordanschlag auf Malala. rung und die Gleichstellung der Frau. Es wurde klipp Zwei Schüsse wurden abgefeuert. Einer traf sie am und klar gesagt: Nein, das, was bisher in den SDGs for- Kopf, einer am Hals. Sie schwebte sehr lange in Lebens- muliert worden ist, bleibt hinter den MDGs zurück. – gefahr. Gott sei Dank wurde sie gerettet. Eine Devise, Das darf aber nicht sein. Es wird also unsere Aufgabe im die Malala schon immer hatte, hieß – das Zitat wurde nächsten Jahr sein, die Diskussion über die SDGs fortzu- schon genannt –: führen und sie mit Leben zu füllen. Ein Kind, eine Lehrkraft, ein Buch, ein Stift können Danke schön. die Welt verändern. (Beifall im ganzen Hause) Das ist genau der Grund, warum die Taliban sagten: Diese Frau, dieses Mädchen ist eine Gefahr für uns. Die Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Taliban wollen alles, nur keine Veränderung. Deswegen Vielen Dank. – Nächster Redner ist Martin Patzelt, haben sie auch auf Malala geschossen. CDU/CSU-Fraktion. Der Antrag zur Einführung des Mädchentages wurde (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von allen Fraktionen mitgetragen. Unsere Aufgabe wird neten der SPD) allerdings sein, diesen Antrag auch mit Leben zu füllen. Es gibt schon Erfolge. Wir diskutieren im Deutschen Martin Patzelt (CDU/CSU): Parlament über den Mädchentag. Ich bitte Sie, dazu bei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zutragen, dass die Thematik, die hinter dem Mädchentag Liebe Gäste! Ich möchte zunächst meine Freude darüber steht, auf keinen Fall vergessen wird und dass wir durch zum Ausdruck bringen, dass diese Debatte geführt wird. viele unserer Entscheidungen die Gendergerechtigkeit Sie ist richtig und wichtig, und meine Vorredner haben immer in den Mittelpunkt stellen. bereits ausgeführt, warum das so ist. Uns obliegt die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5427

Martin Patzelt (A) Aufgabe – auch wenn wir an diesem Freitagnachmittag ist – das habe ich schon gesagt – irgendwann einmal er- (C) in relativ kleiner Zahl versammelt sind –, die Aufmerk- zogen worden. Wir haben in den letzten Tagen von samkeit, zumindest in unserem Land, auf die Problema- Minister Müller gehört, was er durch Augenzeugen er- tik zu richten, die vielfach mit Fakten, Zahlen und Daten fahren hat; er war sichtlich berührt davon. Eine Frau hat beschrieben wurde. ihm berichtet, wie ein ganzes Dorf von der IS-Truppe behandelt wurde: 500 Männer mussten beiseitetreten Es kann einen grausen. An die vorhergehende Debatte und wurden vor den Augen der Kinder, ihrer Kinder, er- über die Todesstrafe schließt sich nun die Debatte über schossen. Die Frauen mit Kindern wurden ausgesondert. den Weltmädchentag an. Ich gebe Ihnen recht, Herr Alle jungen Frauen, alle Mädchen wurden an die Solda- Kekeritz: Es ist ein Anlass zur Freude, dass es Mädchen ten vergeben, jeweils zwei oder drei, und die übrig ge- gibt. bliebenen wurden in vergitterten Autos davongefahren, (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zum Verkauf auf dem Sklavenmarkt weitergeschickt. – NEN]: Nein! Dass es den Tag gibt!) Das alles passiert gegenwärtig, heute und jetzt. Deswe- gen ist auch die Frage nach den Waffen nicht so einfach Ich bin sehr dankbar, dass ich als Mann hier reden zu beantworten, Frau Groth. Wir haben alle die Pflicht, darf. Ich tue das aus ganzem Herzen, weil wir alle unser das nach unserem Selbstverständnis und vor dem Hinter- Leben einer Frau verdanken grund unseres Grundgesetzes Mögliche zu tun, um sol- (Annette Groth [DIE LINKE]: Das ist wahr!) chen entarteten, archaischen, furchtbaren Geschehnissen entgegenzutreten, notfalls auch mit Gewalt, mit interna- und weil ich glaube, dass die Frauen eine gewisse Ver- tional abgestimmter Gewalt. antwortung dafür tragen, wie Männer werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Die primäre Sozialisation, die wir alle erfahren, wird wie des Abg. Thomas Jurk [SPD]) von unseren Müttern geleistet. Wenn man das Übel an der Wurzel packen will – meine Vorredner haben rich- Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch der Blick nach tige und empfehlenswerte Vorschläge gemacht, die ich innen, in unser Land, ist wichtig. Die Medienberichte aufgreifen will –, dann muss man meiner Meinung nach aus den Flüchtlingslagern zeigen, dass dort auch kleine den Fokus auf die Rolle der Mutter richten; denn Frauen Mädchen leben, dass Kinder und Frauen in Massenla- leisten Sozialisationshilfe für ihre Kinder. gern unter Männern leben. Personen, die sich fremd wa- ren, müssen vielleicht jahrelang zusammen weiterleben. Das Thema Bildung ist diskutiert worden. Herr Wir haben auch die Aufgabe, in unserem Land, in unse- Kekeritz, ich denke, das ist doch etwas vielschichtiger; rer unmittelbaren Nähe zu schauen, wo es Mädchen und denn wer lesen und schreiben kann, der hat auch die (B) Frauen gibt, die unter menschenunwürdigen Zuständen (D) Möglichkeit, sich zu informieren und über Medien und leben; denn auch sie stehen unter dem Schutz unseres Literatur andere Bilder von Welt, von Gesellschaft und Grundgesetzes. Wir haben alle Anstrengungen darauf zu von Selbstverständnis zu entwickeln. Das ist die Voraus- richten, dass die Rechte und die Würde von Frauen und setzung dafür, dass eine Frau, die ein Kind zur Welt Mädchen auch in unserer unmittelbaren Nähe gewahrt bringt und in seinen ersten Lebensjahren begleitet, für bleiben. Alle Appelle, die wir in die weite Welt hinaus- sich selbst ein Gefühl der Würde und des Wertes entwi- senden, was wir richtigerweise tun, verpuffen und verlie- ckelt. ren ihre Wirkung, wenn wir nicht ganz deutlich und für Ich will all die Zahlen und Fakten, die genannt wor- alle nachvollziehbar sagen: Dort, wo wir Verantwortung den sind, nicht wiederholen. Der Report von „Plan Inter- übernommen haben, handeln wir unter Achtung der national“ ist wirklich eine sehr umfängliche und hilfrei- Menschenwürde. che Analyse dessen, was sich im Moment in der Welt In diesem Zusammenhang möchte ich an meinen Ap- abspielt. Ich kann dem Verein „Plan International“ nur pell erinnern, darüber nachzudenken, Frauen und Kinder danken, dass er damals die Initiative ergriffen hat. „Plan – vornehmlich – in privaten Verhältnissen unterzubrin- Canada“ hat dafür gesorgt, dass die UN diesen Aktions- gen, um sie so schnell wie möglich aus den Massenun- tag initiiert haben. Wir als Deutsche haben uns ein paar terkünften zu befreien. Das ist nur eine Anregung. Das Jahre später diesem Mahntag angeschlossen. kann aber nur, wer dazu in der Lage ist. Das ist aber ein Mit dem Report hat der Verein „Plan International“ Baustein in der Palette möglicher Initiativen. Ich bin den Ball wieder aufgenommen. Er bleibt kontinuierlich froh, dass es jetzt, wo sich die Nachrichten über die Si- dran, und dafür wollen wir danken. Das macht einmal tuation in den Flüchtlingslagern verdichten, in Deutsch- mehr das Zusammenspiel von zivilen Trägern und von land in vielen Städten und Gemeinden bürgerliche und Initiativen aus der Gesellschaft heraus deutlich, die sol- kirchliche Initiativen und Hilfen für die Flüchtlinge gibt, che Themen im Zusammenwirken mit der Politik immer die hoffentlich nur vorübergehend, aber vielleicht auch wieder ins Bewusstsein rücken. So können wir einen dauerhaft bei uns bleiben. größtmöglichen Effekt erzielen. Die Hilfe für bedrängte Mädchen und Frauen in der Da hier schon vieles gesagt wurde, was ich nicht wie- Welt ist ein ethisches Gebot. Das ist auch etwas, was wir derholen möchte, will ich den Blick auf die gegenwär- für uns tun; denn die furchtbaren Geschehnisse, die wir tige Situation richten: Jeder Mann, der mordet, der tötet, alle jetzt zur Kenntnis nehmen müssen, beängstigen uns der ein schlechtes Bild von Frauen hat, der sich Massen- zunehmend, die einen mehr, die anderen weniger. Grund bewegungen anschließt und sich unkontrolliert verhält, für all diese Geschehnisse ist, dass es in den Entschei- 5428 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Martin Patzelt (A) dungsetagen Männer gibt und auch Frauen, die mit Ge- nutzen, um auf die Rechte von Frauen und Mädchen auf- (C) walt Konflikte lösen wollen, die mit alten, archaischen merksam zu machen, und er gibt uns Gelegenheit, zu Weltbildern agieren, die den Krieg und die Gewalt als verdeutlichen, dass die Forderung auf ein selbstbe- Lösungsmuster bei Konflikten und Ungleichheiten be- stimmtes, chancengleiches und erfolgreiches Leben für trachten. Mädchen noch lange nicht überall erfüllt ist. Ja, wir sind in einigen Ländern sogar noch meilenweit von der recht- Ich kann nur immer wieder nachdrücklich und aus lichen Gleichstellung entfernt. Das müssen wir uns und tiefster Überzeugung dafür werben, Folgendes zu beden- der gesamten Weltöffentlichkeit immer wieder ins Ge- ken: Die Entwicklungshilfe, die wir leisten, alle Gelder, dächtnis rufen. Ich bin sicher: Wir verspielen unsere Zu- die wir für Bildungsinitiativen in Ländern ausgeben, in kunft, wenn wir in unseren Forderungen nachlassen. denen es kein funktionierendes Bildungssystem gibt, Mädchen müssen gefördert werden. Mädchen brauchen dienen dazu, den Frieden auf der Welt zu mehren und die gleiche Chancen und gleiche Rechte, und das weltweit Situation von Frauen und Kindern zu verbessern. Wir und in allen Bereichen. müssen mit unseren NGOs Gespräche darüber führen, in welcher Weise sie in den Ländern Unterstützung leisten, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der an welche Bedingungen sie ihre Unterstützung knüpfen LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜND- und – auch das wurde schon genannt – wen sie für ihre NISSES 90/DIE GRÜNEN) Aufgaben in Anspruch nehmen und zu Hilfe rufen. Dennoch ist der Weltmädchentag vielleicht am Ende Wir alle sagen: Bildung kostet Geld. Das ist wahr. In nur ein Symbol. Reiht sich der Mädchentag nur in die vielen Ländern mangelt es auch deshalb an Bildung, endlose Kette von Feier- und Gedenktagen ein? Nach weil die Länder das dazu notwendige Geld nicht haben. dem Muttertag, dem Frauentag und dem Weltkindertag Bei den Preisen, die wir für Produkte aus Entwicklungs- auch noch einen Weltmädchentag? Immer wenn ich über ländern zahlen, schließt sich der Kreis. Wenn wir als ei- diese speziellen Frauenfeiertage rede, sehe ich verdrehte ner der reichsten Teile dieser Welt so wenig für Produkte Männeraugen. Glauben Sie mir, ich kann die Gedanken zahlen, dann kann die Armut, die letzten Endes auch Bil- dieser Männer lesen. Viele Männer fragen sich auch dungsarmut bedeutet, nicht beseitigt werden. heute noch: Muss das denn sein? Was wollen die Frauen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der denn noch? Haben sie noch nicht genug erreicht? SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Annette Groth [DIE LINKE]: Nein, haben wir NEN) nicht!)

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Ihre alles entscheidende Frage lautet: Wo bleiben eigent- lich wir Männer? (B) Herr Kollege, Sie denken an die Zeit, ja? (D) Vor kurzem hielt Emma Watson, die Ihnen als Schau- Martin Patzelt (CDU/CSU): spielerin aus den Harry-Potter-Filmen vielleicht bekannt Ja. – Sie sehen also, hier schließt sich der große Kreis. ist, ihre erste Rede als UN-Sonderbotschafterin für Wir müssen Verständnis dafür schaffen, dass es nicht da- Frauen- und Mädchenrechte. Sie sagte zu genau diesem bei bleiben kann, dass wir nur die eine Gruppe im Auge Problemfeld: behalten. Sowohl Männer als auch Frauen sollten sich sensi- Ich sage Ihnen: Heute Nachmittag feiern wir unser bel fühlen dürfen, sowohl Männer als auch Frauen jährliches Herbstfest. Meine sechs Enkeltöchter werde sollten sich stark fühlen dürfen. Wir wollen nicht ich dort wiedersehen. Ich freue mich darauf. Ich werde darüber sprechen, dass Männer in geschlechtstypi- dies auch vor dem Hintergrund der Diskussion, die wir schen Stereotypen gefangen sind, aber ich kann se- hier geführt haben, erleben. Ich glaube, wir alle haben hen, dass sie es sind. genug zu tun, um hier am Ball zu bleiben. Mein Ansatz ist, dass wir einen Weltmädchentag Danke schön. brauchen, weil Mädchen in vielen Ländern immer noch aufgrund ihres Geschlechtes diskriminiert werden, weil (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sie keinen Zugang zu Bildung haben, weil sie keinen Zu- gang zum Arbeitsmarkt haben, weil sie anders als ihre Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Brüder keinen Zugang zu medizinischer Versorgung ha- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin ben, weil sie immer wieder Opfer sexualisierter Gewalt Ulla Schulte, SPD-Fraktion. werden und – im schlimmsten Fall – weil sie gar nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erst geboren werden. Weibliche Föten werden abgetrie- der CDU/CSU) ben, und neugeborene Mädchen werden getötet. Hierzu ein kleines Beispiel. Ich kenne eine junge Ursula Schulte (SPD): Neonatologin, also eine Ärztin, die sich um Frühchen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen kümmert. Sie hat mir erzählt, dass sie während ihrer und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wür- Hospitanz in einem indischen Krankenhaus einem ge- digen heute den 11. Oktober, den Tag, den die Vereinten sunden kleinen Mädchen auf die Welt geholfen hat. Nie- Nationen zum Weltmädchentag ausgerufen haben. Das mand hat sich über die Geburt dieses kleinen Mädchens ist auch gut so. Denn einen solchen Tag können wir dazu gefreut, selbst die eigene Mutter nicht. Es war halt nur Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5429

Ursula Schulte (A) ein Mädchen, kein Junge, kein Stammhalter. Das Mäd- wir eine noch gezieltere Berufsorientierung für Mäd- (C) chen war, wie gesagt, gesund. Aber am anderen Tag war chen, die nicht auf festgefahrenen Rollenklischees auf- es aus unerklärlichen Gründen verstorben. baut, sondern das Interesse an Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik weckt. Mädchen soll- Hier beginnt Diskriminierung. Ich finde, das ist eine ten auch hier ihre Kreativität entwickeln können. viel zu harmlose Beschreibung. Selektierung ist wohl pas- sender. Das dürfen wir nicht länger zulassen. Dagegen Nach wie vor gibt es bei uns auch benachteiligte müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mit- Mädchen. Ihnen werden der Zugang zu Bildung und der teln einschreiten. Ich weiß nur zu gut, dass sich hier kul- Einstieg in das Berufsleben erschwert. Das trifft in ganz turelle Traditionen und Menschenrechte gegenüberste- besonders hohem Maße auf Mädchen und junge Frauen hen. Ich will auch kein westliches Sendungsbewusstsein. mit Migrationshintergrund zu. Wir dürfen davor die Au- Ich möchte nur, dass man jedem Menschen unabhängig gen nicht verschließen, sondern müssen Angebote ma- vom Geschlecht das Recht auf ein menschenwürdiges chen, die diesen Mädchen ein selbstbestimmtes Leben Leben einräumt, nicht mehr, aber auf keinen Fall weni- ermöglichen. ger. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN Vizepräsidentin : und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kollegin Schulte, achten Sie bitte auf die Redezeit. Das Minus auf der Anzeige weist darauf hin, dass Sie Was können wir nun mit Blick auf die Entwicklungs- Ihre Redezeit schon über eine Minute überzogen haben. länder tun? Wir müssen den Gordischen Knoten von Ar- mut und begrenztem Zugang zu guten Bildungs- und Arbeitsmarktchancen durchbrechen. Bildung ist und Ursula Schulte (SPD): bleibt der Schlüssel zur Veränderung. Gelingt es einem Ich komme zum Schluss und sage nur noch, dass ich Entwicklungsland, die Alphabetisierung von jungen finde, dass die Männer mit ihren rollenden Augen den- Mädchen voranzutreiben, sinken erfahrungsgemäß Ge- noch in einem Punkt recht haben: Bei aller Förderung burtenrate und Kindersterblichkeit, und das Pro-Kopf- von jungen Frauen und Mädchen dürfen wir die Förde- Einkommen steigt. Die Ausbildung von Mädchen wirkt rung der Jungen nicht aus den Augen verlieren. Wir sich positiv auf die gesamte Entwicklung eines Landes müssen deren Interesse für Familienarbeit, für Kinderer- aus. ziehung, für Hausarbeit wecken. Nur wenn diese Aufga- ben in Zukunft partnerschaftlich verteilt werden, kann Die bisher jüngste Friedensnobelpreisträgerin ist heute Gleichberechtigung gelingen. schon oft zitiert worden, aber ich tue es noch einmal, weil (B) das, was sie zum Thema „Bildung in den Entwicklungs- Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es Mädchen (D) ländern“ gesagt hat, so einfach und klar ist. Dies sollten und Frauen gut geht. Denn dann geht es auch den Män- wir verinnerlichen. Malala hat an ihrem 16. Geburtstag nern und Jungen gut. Und das ist doch das, was wir ge- gesagt: meinsam erreichen wollen. Lasst uns zu den Büchern und Stiften greifen. Das Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. sind unsere mächtigsten Waffen. Ein Kind, ein Leh- rer, ein Buch und ein Stift können die Welt verän- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dern. Bildung ist die einzige Lösung. Bildung geht der CDU/CSU) vor. Vizepräsidentin Petra Pau: Was soll man dazu noch sagen? Das muss man einfach Das war der letzte Beitrag in der vereinbarten Debatte umsetzen. zum Weltmädchentag. Ich schließe die Aussprache und Wir sollten aber nicht nur auf die Entwicklungsländer rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: schauen. Auch bei uns in Europa, auch bei uns in Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Deutschland ist die Umsetzung der tatsächlichen Gleich- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- stellung von Mädchen und jungen Frauen noch nicht gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- überall Realität. Grundsätzlich haben Mädchen und neten Kerstin Andreae, Anja Hajduk, Volker junge Frauen in den letzten Jahrzehnten viel erreicht. Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Wir können bei ihnen einen Anstieg von guten und sehr Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN guten Bildungsabschlüssen feststellen. Wir sehen, dass 53 Prozent der Studierenden in der Europäischen Union Fördermitteltransparenz erhöhen weiblich sind, in Deutschland sind es 49,5 Prozent. Da- rauf können wir stolz sein. Drucksachen 18/980, 18/1676 Dennoch: Bei Schulbesuchen und vielen Gesprächen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für in den Schulen musste ich feststellen, dass sich die Be- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen rufswahl von Mädchen und jungen Frauen heute noch Widerspruch. Dann ist so beschlossen. immer auf einige wenige Berufe verengt, eben auf die Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- traditionellen Mädchenberufe, die zudem noch geringe gin Andrea Wicklein für die SPD-Fraktion. Bezahlung und vor allem einen Mangel an Aufstiegs- möglichkeiten aufweisen. Aus diesem Grund brauchen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 5430 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

(A) Andrea Wicklein (SPD): tiv ist. Allerdings stehen diese Informationen nur zwei (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Jahre im Netz und dann nicht mehr. Im Gegensatz dazu Kollegen! Nach dieser sehr bewegenden und emotiona- das Förderportal des Bundes: Ich habe für meinen Wahl- len Debatte fällt es natürlich etwas schwer, eine Antrags- kreis, für Potsdam, nachgeschaut und festgestellt, dass beratung durchzuführen. Aber wir haben jetzt die Auf- die Daten von 1 227 Fördermaßnahmen seit 1990 abruf- gabe, über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die bar sind. Das heißt also: 25 Jahre Transparenz. Was wol- Grünen zu diskutieren, die Fördermitteltransparenz zu len wir mehr? Wo finden Sie das? erhöhen. Aber es gibt noch einen weiteren Grund für unsere Das ist in der Tat ein sehr wichtiges Anliegen, das wir Ablehnung. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass – ich teilen. Auch wir wollen weitgehende Transparenz bei zitiere – „eine Abwägung zwischen dem Transparenz- der Vergabe von Fördermitteln. interesse der Öffentlichkeit und dem Schutz personen- bezogener Daten der Fördermittelempfängerinnen und (Zuruf der CDU/CSU: Haben wir doch!) -empfänger erfolgen“ soll. Wer soll das denn bitte bei Es ist richtig und notwendig, die Bürgerinnen und Zehntausenden von Förderungen im Einzelfall entschei- Bürger, die gesamte Öffentlichkeit darüber zu informie- den? ren, was mit den Steuergeldern in Milliardenhöhe pas- (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: So ist es!) siert. Aber trotzdem kann ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, jetzt schon sagen, dass Welcher bürokratische Aufwand ist damit verbunden, wir Ihren Antrag leider ablehnen müssen. Ich werde Ih- dies rechtssicher zu entscheiden? nen auch die Gründe, die dazu führen, im Einzelnen er- läutern. (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Ganz richtig!) In Ihrem Antrag bleiben wichtige Fragen und Fakten unerwähnt. Sie erwecken den Eindruck – das verstehe Ist der Nutzen Ihres Vorschlages wirklich so groß, dass ich, ehrlich gesagt, nicht –, dass es noch keine Transpa- er diesen bürokratischen Aufwand rechtfertigt? Auch da- renz darüber gibt, wer, was und in welchem Umfang rauf geben Sie keine Antwort. durch den Bund gefördert wird. Ich finde, mit dem För- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derportal des Bundes sind wir auf einem sehr guten Weg. der CDU/CSU) Jede Bürgerin, jeder Bürger, jedes Unternehmen und auch Ihre Fraktion hat die Möglichkeit, sich im Internet Auch bei einem weiteren Punkt kann ich Ihnen nicht bei www.foerderportal.bund.de über die Fördermaßnah- folgen – dieser Punkt ist für mich eigentlich der ent- (B) men von fünf Bundesministerien umfassend zu infor- scheidende –: Unter Ziffer 10 Ihres Antrages fordern (D) mieren. Sie, dass „die Ziele und wesentlichen Resultate“ von Forschungsprojekten veröffentlicht werden sollen. In Ih- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rer letzten Rede, Frau Andreae, zu diesem Thema wur- NEN]: Maßnahmen, nicht die Verteilung!) den Sie noch konkreter, da sagten Sie: In einer öffentlichen Datenbank sind dort mehr als Es braucht diese gute Datenlage auch für uns Parla- 110 000 abgeschlossene und laufende Fördervorhaben mentarier, um besser entscheiden zu können, ob abrufbar. Sie können dort täglich recherchieren und er- Förderprogramme fortgeführt, aufgestockt oder lie- halten bereits heute Informationen über Namen und Ort ber beendet werden sollten. des Zuwendungsempfängers sowie über Fördersumme, Laufzeit, Thema, Projektträger und darüber hinaus sogar Wären Sie wirklich in der Lage, wissenschaftliche Er- noch viele andere Informationen mehr. Ich jedenfalls gebnisse zu bewerten, die oftmals erst nach vielen Jah- schaue regelmäßig auf diese Seite und informiere mich ren Früchte tragen? über die Förderprojekte in meinem Wahlkreis. Auch Sie sollten das bei Gelegenheit vielleicht einmal tun. Der aktuelle deutsche Nobelpreisträger Stefan Hell ist das beste Beispiel dafür, dass sich wissenschaftliche Ar- Wir haben darüber hinaus die Förderdatenbank, die beit oftmals erst nach sehr vielen Jahren auszeichnet. Da dort integriert ist und die einen vollständigen und aktuel- wollen Sie uns sagen, dass wir Parlamentarier über Sinn len Überblick über die Förderprogramme des Bundes, und Unsinn von Förderprogrammen anhand der von Ih- der Länder und auch der Europäischen Union gibt. Diese nen geforderten Daten entscheiden könnten? Ich glaube Förderdatenbank ist sehr benutzerfreundlich. Sie um- das nicht. fasst eine Förderberatung als Erstanlaufstelle für alle Fragen rund um die Forschungs- und Innovationsförde- Insofern sind aus unserer Sicht die bereits heute im rung als auch das Onlineantragssystem mit den Antrags- Förderportal veröffentlichten Daten zu geförderten Pro- formularen. Auch die Förderrichtlinien sind dort veröf- jekten ausreichend; eine hohe Transparenz ist gegeben. fentlicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Reserven und Verbesserungsmöglichkeiten sehe ich bei Grünen, all das erwähnen Sie in Ihrem Antrag nicht. dem Umfang der eingestellten Förderprogramme. Inso- fern begrüße ich ausdrücklich das Anliegen des Bundes- Im Übrigen beziehen Sie sich in Ihrem Antrag auf die ministeriums für Wirtschaft und Energie, zukünftig alle Transparenzinitiative der EU im Zusammenhang mit den Förderprogramme und Projekte des Ministeriums mit EU-Agrarfonds. Ich gebe Ihnen zwar recht, dass die Ver- einzustellen. Ich denke, das ist noch mal ein ganz wichti- öffentlichung der Förderung an Landwirte durchaus posi- ger Schritt in die richtige Richtung. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5431

Andrea Wicklein (A) Ihrem Antrag aber, liebe Kolleginnen und Kollegen Ich bestreite nicht, dass die zunehmende Transparenz (C) von den Grünen, werden wir heute leider aus den besag- im Ergebnis dazu führt, dass ein zunehmender Aufwand ten Gründen nicht zustimmen können. betrieben werden muss und dies zulasten der Verwaltung geht. Aber wir können uns nicht hier hinstellen und sa- Vielen Dank. gen – so wie es meine Vorrednerin gerade angedeutet hat –: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir haben kein Personal, damit haben wir auch keine Fi- nanzmittel, und deswegen können wir das alles nicht Vizepräsidentin Petra Pau: machen. – Wir brauchen eine leistungsfähige Verwal- tung und eine angemessene Ausstattung dieser Verwal- Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze für die Frak- tung, damit diese Aufgaben übernommen werden kön- tion Die Linke. nen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Thomas Lutze (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bürgerinnen und Bürger haben schlichtweg ein An- Jedes Jahr vergibt der Bund sehr viele Fördermittel an recht darauf. Unternehmen, aber auch an Verbände und Vereine. Und Auch wir nehmen es ernst, wenn Unternehmen heute die Grünen wollen jetzt, dass dies transparenter ge- sagen, dass zusätzliche Transparenz zur Offenlegung schieht. Die Linke wird dem Antrag zustimmen und die von betrieblichen Geheimnissen führen kann. Insbeson- für meine Begriffe sehr bedauerliche Beschlussempfeh- dere viele kleine Unternehmen befürchten, dass mit der lung des Ausschusses ablehnen. Veröffentlichung eines Projekttitels die Forschungs- und (Beifall bei der LINKEN) Entwicklungsarbeiten offengelegt werden. Ebenso fürch- ten sie, dass ihre Finanzkalkulationen der Konkurrenz Im Grunde fordern doch die Grünen nichts anderes, bekannt werden. Die im Antrag der Grünen vorgesehene als dass die Europäische Transparenzinitiative aus dem Regelung besagt, dass in Einzelfällen von einer Einzel- Jahr 2007 nun auch im eigenen Land umgesetzt wird. veröffentlichung abgesehen werden kann. In der Realität Was ist denn, bitte schön, dagegen einzuwenden? – Es allerdings besteht zumindest die Gefahr, dass jeder För- wurden doch schon auf europäischer Ebene – auch im dermittelempfänger versuchen wird, sich bei jeder Gele- Hinblick auf die Punkte, die gerade angesprochen wur- genheit darauf zu berufen. Liebe Kolleginnen und Kolle- den – positive Erfahrungen gemacht. Dass die Bundesre- gen, das ist ein reales Problem. Dafür brauchen wir eine gierung und die Regierungskoalition jetzt hier auf die Lösung. Man muss darüber entscheiden können – und (B) Bremse treten und „Nein, danke“ zu einer Erweiterung das möglichst in allen Einzelfällen –, wie man damit um- (D) der Transparenz sagen, finden wir falsch. geht. Das wird sicherlich nicht ganz einfach. Aber die Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist nicht nach- Lösung im Umkehrschluss darf nicht heißen: Wir ma- vollziehbar, dass die Menschen, die Bürgerinnen und chen weiter mit Intransparenz. Bürger, auf EU-Ebene das Recht haben, diese Informa- (Beifall bei der LINKEN – Thomas Jurk tionen über Förderungen abzurufen, im eigenen Land [SPD]: Intransparenz? Quatsch!) aber nicht. Warum eigentlich? – Die Bundesregierung sollte nicht hinter die EU zurückfallen und muss diesen Denn umgekehrt ist auch klar, dass kein Unternehmen Missstand für meine Begriffe umgehend beheben. verpflichtet ist, einen Antrag auf Fördermittel zu stellen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Dennoch: Der Antrag der Grünen geht in die richtige des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Richtung. Alles in allem unterstützen wir den Antrag, Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die das alles fi- auch wenn wichtige Details noch weiteren Klärungsbe- nanzieren, haben das Recht darauf, zu erfahren, wie ihr darf nach sich ziehen. Geld verwendet wird. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Uns ist wichtig, dass den Empfängern der Fördermit- NEN]: Das ist in Ordnung!) tel kein zusätzlicher Aufwand entsteht. Die erweiterten Denn Transparenz – das ist die Meinung der Linken – Informations- und Dokumentationspflichten dürfen für schafft immer auch Akzeptanz bei der Vergabe öffentli- meine Begriffe nicht zulasten der Antragsteller, also der- cher Mittel. jenigen, die die Fördergelder bekommen, gehen. Oft sind dies nämlich kleine Unternehmen oder auch ehren- Herzlichen Dank. amtlich tätige Vereine und Verbände, die keine eigene Rechtsabteilung oder keine eigene Abteilung zur Ak- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten quise von Fördergeldern haben. Sie wollen mit dem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Geld, das sie bekommen, arbeiten und es nicht fast aus- schließlich verwalten. An dieser Stelle sei wirklich ange- Vizepräsidentin Petra Pau: regt, den Prozess der Antragstellung generell zu verein- Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege fachen und auch zu entbürokratisieren, damit noch mehr Mark Hauptmann. Fördermittel bei kleinen Unternehmen oder bei kleineren Verbänden ankommen. (Beifall bei der CDU/CSU) 5432 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

(A) Mark Hauptmann (CDU/CSU): desregierung dargestellt. Das ist eine weitere Möglich- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und keit, sich darüber zu unterrichten, ob wir mit diesen Herren! Wir befassen uns mit dem Thema der Förder- Förderprogrammen tatsächlich Arbeitsplätze schaffen mitteltransparenz. Zuallererst ist festzuhalten: Das An- und Wachstum in unserem Land generieren, was wir ja sinnen ist im Kern richtig und begrüßenswert. Trans- als Zielstellung haben. parenz ist gerade bei der Verteilung von Fördermitteln seitens des Bundes nicht nur wünschenswert, sondern Schlussendlich schafft fünftens das Informationsfrei- schlichtweg notwendig. Staatliche Maßnahmen müssen heitsgesetz für alle Bürger einen Rechtsanspruch, sich kontinuierlich auf ihren Erfolg überprüft werden, und über einzelne Förderprojekte des Bundes zu erkundigen. die Datenbanken mit den entsprechenden Informationen Verständlicherweise – so sehen wir es von der müssen dafür öffentlich zugänglich sein. Außerdem Unionsfraktion – muss es jedoch bei aller Transparenz müssen die Beantragung von Fördermitteln und der Zu- auch Ausnahmen geben; denn gerade bei der Förderung gang zu entsprechenden Formularen für den Antragstel- wirtschaftlicher Vorhaben ist ein angemessener Umgang ler einfach gestaltet werden. mit sensiblen Daten erforderlich. Laut Ihrem Antrag for- Kritisch hingegen sehen wir in dem Antrag der Frak- dern Sie die grundsätzliche Veröffentlichung des ge- tion der Grünen die Vorschläge, wie Sie dieses lobens- nauen Förderprogramms, des Namens der Firma, der werte Ziel erreichen möchten. Sie fordern erstens die Postleitzahl, der Gemeinde des Unternehmenssitzes so- Einführung einer gesetzlichen Regelung, zweitens die wie die Angabe, wer Empfängerin oder Empfänger der Ausweitung bereits bestehender Datenbanken und drit- Fördermittelzahlungen ist. Eine solche Regelung kann in tens die Offenlegung sensibler Daten. Lassen Sie mich einzelnen Bereichen sinnvoll sein; das wollen wir nicht also kurz auf diese einzelnen Punkte eingehen, um Klar- abstreiten. Beispiele dafür, wo es sinnvoll sein kann, heit in der Debatte zu schaffen. sind Förderprojekte in der Regionalentwicklung, im Tourismus oder zur Kulturförderung. Per Gesetz soll die Fördermitteltransparenz erhöht werden, da die derzeitige Datenlage intransparent und Jetzt komme ich zu dem Punkt, den auch mein Vor- durch die Zivilgesellschaft sowie durch uns Parlamenta- redner angesprochen hat: Was spricht eigentlich dage- rier kaum zu kontrollieren sei. So steht es im Antrag. gen? Für nicht sinnvoll oder sogar schädlich halten wir Neue Gesetze sind jedoch nur dann erforderlich, wenn die Veröffentlichung von unternehmensbezogenen Da- ihr Erlass wirklich notwendig ist. Das wäre dann gege- ten. Denn was bedeutet es, hier völlige Transparenz zu ben, wenn die aktuelle Datenlage tatsächlich so schlecht schaffen und alle betriebsbezogenen sensiblen Daten wäre, wie Sie es in Ihrem Antrag darstellen. aufzugreifen und zu veröffentlichen? Unternehmen, ins- (B) Der Antrag spricht von einem berechtigten und wach- besondere mittelständische Unternehmen, sind auf die (D) senden Interesse der Bürgerinnen und Bürger, über die Entwicklung innovativer Produkte angewiesen. Wir alle Verwendung ihrer Steuergelder in Form von staatlichen kennen zum Beispiel das ZIM-Projekt und andere Pro- Fördermitteln informiert zu werden. Hier suggerieren jekte, für die Fördermittel vergeben werden. Nur mit ei- Sie gewissermaßen, dass es heute gar keine oder nur un- ner hohen Innovationskompetenz können zukunftsrele- zureichende Möglichkeiten gibt, sich darüber zu infor- vante Produktentwicklungen auf den Markt gebracht mieren. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grü- werden. In letzter Konsequenz bedeuten Ihre Vor- nen, erwecken den Anschein, als ob geradezu willkürlich schläge, dass die Unternehmen Daten veröffentlichen und ungeprüft Mittel seitens des Bundes verteilt würden. müssen, die in sehr starkem Maße sensible Bereiche be- Deshalb möchte ich Ihnen noch einmal fünf wesentliche treffen. Informationsmöglichkeiten nennen, die es bereits heute In der Luftfahrtbranche, aber auch in anderen Berei- gibt und die sehr umfassend und transparent sind. chen können wir schon heute sehen, dass die Veröffentli- Da ist zum Ersten die Förderdatenbank des Bundes. chung sensibler Daten dazu beiträgt, dass sich Konkurren- Sie gibt einen Überblick über die aktuellen Förderpro- ten einen sehr genauen Blick über andere Unternehmen gramme des Bundes, der Länder und der EU für die ge- verschaffen können, so zum einen, wie viele staatliche werbliche Wirtschaft. Mittel dieses Unternehmen seitens des Bundes be- kommt, und zum anderen, woran andere Unternehmen Zweitens haben wir den Förderkatalog des Bundes. Er forschen. Es gibt in gewisser Weise auch in der Unter- eröffnet allen interessierten Bürgern die Möglichkeit, nehmenskommunikation einen gewissen Schutz des sich online über abgeschlossene Fördervorhaben der be- geistigen Eigentums. Wenn zum Beispiel ein Unterneh- teiligten Bundesministerien – für Bildung und For- men an einer Patentlösung arbeitet, dann hat es ein be- schung, für Wirtschaft und Energie, für Umwelt, für Er- rechtigtes Interesse daran, sicherzustellen, dass es als nährung und Landwirtschaft sowie für Verkehr und Innovations- und Impulsgeber für eine neue Idee letzt- digitale Infrastruktur – zu informieren. endlich diese Idee auch verwirklichen kann. Wenn es Drittens haben Sie die Möglichkeit, in der Datenbank aber vorher bereits alle sensiblen Daten bis in den Be- des Förderkataloges nachzuforschen und Auskunft über reich der Verteilung einzelner Kosten veröffentlichen 110 000 abgeschlossene und laufende Förderprojekte zu muss, erhalten; weitere sollen aufgenommen werden. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Viertens werden die aktuellen Leitlinien der Subven- NEN]: Das müssen sie doch gar nicht! Das ist tionspolitik jedes Jahr im Subventionsbericht der Bun- doch Unfug! Glatter Unfug!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5433

Mark Hauptmann (A) dann sehen wir dies politisch als schädlicher an als mehr hen, wer wie viel erhält. Wunderbar! Das hat geklappt, (C) Fördermitteltransparenz. funktioniert, ist machbar. Das können wir auch. Mein letzter Kritikpunkt greift auf, was bereits die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kollegin Wicklein angesprochen hat. Wir sehen die Ge- Andrea Wicklein [SPD]: Das machen wir ja fahr, dass Sie mit diesen neuen Kriterien hinsichtlich der auch!) Fördermitteltransparenz in Ihrem Antrag einen hohen Wenn Sie nun sagen, es handele sich hier um Daten- zusätzlichen Verwaltungsaufwand kreieren werden. Sie sammelwut, dann entgegne ich Ihnen: All die Daten sind haben nicht darauf hingewiesen, welche Folgekosten ge- bereits vorhanden. Sie haben des Weiteren eingewendet, rade auch im Hinblick auf die Dokumentationspflicht dass wir viel Bürokratie aufbauen, und gefragt, wer prü- entstehen werden. Daraus wird unserer Meinung nach fen würde, ob es im Einzelfall gerechtfertigt ist, zu sa- mehr Bürokratie entstehen, und es wird zu einem ver- gen, dass es nicht funktioniert. Aber ein Unternehmen, stärkten administrativen Ausbau kommen. Dabei wollen das sich an Förderprojekten beteiligen will, muss doch wir als gemeinschaftliches Ziel insgesamt einen Büro- einen Antrag stellen. Dann sind die Daten da, und es kratieabbau, also eine Verschlankung der staatlichen Bü- wird geprüft, ob das betreffende Unternehmen berechtigt rokratiemechanismen. Sie verstecken allerdings den ist, Fördermittel in Anspruch zu nehmen. Und dann kann Transparenzgedanken und schaffen unter dem Deckman- man auf Basis dieser Prüfung im Normalfall sagen: Das tel der Informationsfreiheit ein Bürokratiemonster. machen wir transparent. – Das geht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neten der SPD) und bei der LINKEN) Transparenz, sehr geehrte Damen und Herren, ist not- Richtig ist: Transparenz ist kein Selbstzweck. Deswe- wendig und erforderlich. Das gestehen wir sehr gerne zu. gen haben wir alles mit dem damaligen Bundesdaten- Gerade bei der Verteilung von Bundesmitteln muss schutzbeauftragten Peter Schaar besprochen. Er hat gesagt: Transparenz herrschen. Transparenz ist jedoch kein Ihr müsst eine Bagatellgrenze von 25 000 Euro einfüh- Selbstzweck – das ist der feine Unterschied zu Ihnen, ren. Er hat gesagt: Natürlich müsst ihr sorgsam abwägen sehr geehrte Kollegen der Grünen –, vor allem dann zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht, wenn er in letzter Konsequenz mehr Schaden als und dem Schutz der Daten. Nutzen bringt. Es geht auch nicht um eine kleinteilige Kostenauflis- Ihr Antrag übersieht die bereits vorhandenen Infor- tung. Worum geht es dann? Es geht darum, zu erfahren, mationsmöglichkeiten; ich habe Ihnen fünf sehr umfang- wer von welchen Fördertöpfen profitiert, wer Fördermit- (B) reiche Informationsmöglichkeiten genannt. Er verletzt tel bekommt. Es geht nicht um die Maßnahmen selbst. (D) letztendlich den Datenschutz der Unternehmen im Hin- Sicherlich gibt es dazu diverse Datenbanken. Aber bis- blick auf innovative Forschungen, und er schafft über- her liegt im Dunkeln: Wer profitiert? Wie werden die flüssige Bürokratie, die wir eigentlich verhindern Mittel verteilt? wollen. Deshalb lehnen wir gemeinsam mit der Koali- (Thomas Jurk [SPD]: Nein!) tionsfraktion Ihren Antrag ab. Hier wollen wir Transparenz schaffen. Das ist der An- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. satz, den wir in unserem Antrag gewählt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich nenne Ihnen als Beispiel die Plattform E-Mobility. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Wissen Sie, wer die Profiteure der Millionen aus diesem Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Programm sind, das aufgelegt wurde, um die Entwicklung der Elektromobilität anzuschieben? Die Mittel verteilen Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sich auf diverse Ministerien. Das Wirtschaftsministerium Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! jedenfalls fährt die Mittel von 280 Millionen Euro auf Ich finde es schön, dass Sie alle die Intention des Antrags, 220 Millionen Euro zurück. Mich interessiert, wen das Transparenz zu schaffen, für richtig halten; das freut mich. eigentlich betrifft. Natürlich habe ich als Abgeordnete Die Bürgerinnen und Bürger haben ein wachsendes Inte- mehr Möglichkeiten; das weiß ich. Ich kann beispiels- resse daran, zu erfahren, was mit ihren Steuergeldern ge- weise das Ministerium fragen etc. schieht; und das ist auch richtig so. Schließlich werden (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Dann muss die Fördermittel aus Steuergeldern finanziert. man aber auch eine gescheite Antwort krie- gen! Das ist das Nächste! – Thomas Jurk Nun gehe ich auf Ihre Kritikpunkte ein. Sie erinnern [SPD]: Genau das ist der Punkt! Es gibt Trans- sich sicherlich noch an die Debatte über die Mittel aus parenz!) dem EU-Agrarfonds. Big Player der Agrarwirtschaft wie Südzucker, große Molkereien und die Queen von Eng- Der Unterschied ist allerdings, dass wir Transparenz für land waren Empfänger von Agrarmitteln. Deswegen die Bürgerinnen und Bürger schaffen wollen. Nicht nur wurde damals die EU-Transparenzrichtlinie in Kraft ge- wir Abgeordnete, sondern auch die Bürgerinnen und setzt. Nun kann man im Internet in einer Datenbank se- Bürger sollen Bescheid wissen. 5434 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Kerstin Andreae (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thomas Jurk (SPD): (C) und bei der LINKEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Offensichtlich sind wir uns alle ei- Es ist richtig, dass Sie im Bundeswirtschaftsministe- nig. Auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra- rium jetzt die Förderprogramme stärker evaluieren. Ich ten unterstützen grundsätzlich Forderungen nach einer finde die Ansätze, die Sie, Frau Gleicke, im Ausschuss höheren Transparenz bei der Vergabe von Fördermitteln. vorgestellt haben, richtig. Aber dann sollten wir auch Allerdings – das unterscheidet uns, sehr verehrte Frau schauen, ob die Förderung beim Mittelstand, bei den In- Vorrednerin – sehen wir keinen dringenden und erst novativen, den jungen Unternehmen, den Start-ups an- recht keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf; denn kommt. Lassen Sie uns hier doch Transparenz schaffen, die mit Ihrem Antrag verbundene Forderung nach Veröf- damit wir mehr wissen. Ja, es geht um eine effizientere fentlichung von Informationen über die Vergabe von Arbeit und eine bessere Haushaltskontrolle. Was ge- Fördermitteln ist in wesentlichen Politikbereichen längst schieht mit den Milliarden in den Fördertöpfen? Sie kön- Realität. nen nicht ernsthaft dagegen sein, dass hier Transparenz geschaffen wird. Ihre Argumente sind aus der Luft ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der griffen. Weder wollen wir ein Bürokratiemonster schaf- CDU/CSU) fen, noch leiden wir unter Datensammelwut. Wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erfahren, So veröffentlichen die Ministerien für Wirtschaft und was mit ihren Steuergeldern im Fördermittelbereich ge- Energie, für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi- schieht. Wir als Abgeordnete wollen gleichzeitig, wenn cherheit, für Ernährung und Landwirtschaft, für Verkehr es im Haushaltsverfahren um die Aufstockung von För- und digitale Infrastruktur sowie für Bildung und For- dermitteln geht, besser einschätzen können: Sind die schung mit dem Förderkatalog des Bundes im Internet Mittel richtig eingesetzt, oder haben wir Spielraum, um Informationen über laufende und abgeschlossene För- die Mittel besser einzusetzen? Das ist das, was wir errei- dervorhaben. chen wollen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Ja, es sind die Maßnahmen, nicht die und bei der LINKEN) Beträge!) Die Forderung nach mehr Transparenz ist in der heu- Dabei handelt es sich – mit wenigen Ausnahmen – um tigen Zeit absolut erforderlich. Wir sollten alles daran- alle Fördermaßnahmen in den genannten Ressorts, die setzen, hier immer wieder nachzulegen. Es ist in Ord- über das Projektinformationssystem „profi“ adminis- nung, wenn Sie unseren Antrag kritisieren, weil er noch triert werden. Um mit Zahlen zu argumentieren: Allein (B) nicht alle Fragen beantwortet und nicht jedes Detail im Geschäftsbereich des Bundeswirtschaftsministeriums (D) klärt. Wir können über alles reden. Was mich nur so er- werden knapp 27 000 Vorhaben – davon rund 4 500 lau- staunt, ist, dass wir im Ausschuss über diese Kritik- fende – aufgeführt. Allein diese Zahlen machen doch punkte gar nicht gesprochen haben. Wo sind denn Ihre deutlich, was bereits verfügbar ist. Initiativen, die die Transparenz, die Sie hier zumindest Das Bundeswirtschaftsministerium plant zudem, die in der Prosa loben, einfordern? Wir haben nicht den Ein- Transparenz bei der Fördermittelvergabe dadurch weiter druck, dass Sie wirklich daran arbeiten, Transparenz bei zu erhöhen, dass mittelfristig weitere Fördermaßnahmen den Fördermitteln zu schaffen. im Förderkatalog des Bundes veröffentlicht werden. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das wollen Außerdem stehen mit der Förderdatenbank des Bun- die nicht!) des die von Ihnen geforderten Informationen über die Ich hätte mich gefreut, wenn wir hier zusammen wei- Förderprogramme für die Öffentlichkeit, aber auch für ter daran gearbeitet hätten, wenn Sie hier nicht nur kriti- interessierte Abgeordnete bereits zur Verfügung. siert, sondern Ihrerseits Vorschläge gemacht hätten; denn Ebenso erfolgt die unter Ziffer 4 Ihres Antrags gefor- das sind wir den Menschen in diesem Land schuldig. Die derte „Vorabinformation der Fördermittelempfängerin- sollen erfahren, was mit ihren Steuergeldern passiert. nen und -empfänger über die Veröffentlichung“ in der Außerdem wollen wir unsere Arbeit an der Stelle besser Regel schon jetzt. Das geschieht nämlich entweder kontrollieren. Ich würde mich freuen, wenn Sie diesen durch die Förderrichtlinie an sich oder durch den jeweili- Gedanken an anderer Stelle noch einmal aufgreifen wür- gen Zuwendungsbescheid. den. Zudem erlaube ich mir an dieser Stelle den dezenten In diesem Sinne noch einen schönen Nachmittag! Hinweis auf das Informationsfreiheitsgesetz, das wohl (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jedem Bürger das Recht einräumt, Zugang zu amtlichen und bei der LINKEN) Informationen – auch von Bundesbehörden – zu erlan- gen. Vizepräsidentin Petra Pau: (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Wort hat der Kollege Thomas Jurk für die SPD- Haben Sie das schon einmal gemacht?) Fraktion. Dass der Antrag der Grünen, sehr verehrte Damen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Herren, im Detail wenig durchdacht ist, zeigt sich der CDU/CSU) auch an einer anderen Stelle. So soll – ich zitiere – „die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5435

Thomas Jurk (A) öffentliche Hand“ gesetzlich verpflichtet werden, Infor- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) mationen über Förderleitlinien und die Empfänger von NEN]: Ja!) Fördermitteln zu veröffentlichen. In der Begründung Ih- res Antrages nehmen Sie jedoch nur auf den Bund Be- Da muss ich Sie wirklich fragen, ob Sie sich und Ihrer zug. Ihnen ist offensichtlich selbst nicht klar, was Sie Arbeit ein Armutszeugnis ausstellen wollen. wollen. Soll denn nur der Bund oder sollen auch die Hinter Ihnen sitzt Frau Kollegin Hajduk. Wir sind ge- Länder und Gemeinden sowie die Anstalten und Körper- meinsam Berichterstatter zum Einzelplan 09, Bundes- schaften des öffentlichen Rechts dazu verpflichtet wer- ministerium für Wirtschaft und Energie. Frau Kollegin den? Hajduk, geben Sie mir recht, dass das Ministerium tat- Ich vermisse in Ihrem Antrag – die Debattenredner sächlich bemüht ist, auf Ihre Anfragen sehr transparent haben bereits darauf hingewiesen – Finanzierungsvor- und offen zu antworten, dass also für unsere Arbeit als schläge für die von Ihnen angedachten gesetzlichen Re- Abgeordnete noch andere Möglichkeiten bestehen, In- gelungen. Hat sich bei Ihnen eigentlich schon jemand formationen zu erlangen und unserem grundgesetzlichen einmal darüber Gedanken gemacht, wie aufwendig die Auftrag gerecht zu werden, im Interesse der Bürgerinnen von Ihnen geforderte Ausnahmeprüfung bei der Veröf- und Bürger nachzuvollziehen, was die Verwaltung ge- fentlichungspflicht in Fällen ist, in denen es – ich zitiere rade treibt oder nicht? – Nun gut, Frau Hajduk wider- aus dem Antrag – „durch die Veröffentlichung zu Rück- spricht mir gerade nicht. Also stelle ich fest, dass das im schlüssen auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse kom- Hinblick auf das BMWi durchaus der Fall ist. men kann“? – Der Kollege von den Linken hat darauf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) hingewiesen, dass man so etwas wie eine Einzelfallprü- fung vornehmen könne. Entschuldigung! Der Einzelfall muss doch aber erst einmal definiert werden. Das heißt, Vizepräsidentin Petra Pau: dass alle Anträge geprüft werden müssen, Kollege Jurk, sie hat sich aber auch nicht gemeldet, um Ihre Redezeit zu verlängern. Deshalb muss ich Sie (Andrea Wicklein [SPD]: Wer soll das, bitte, jetzt darauf aufmerksam machen, dass Sie zum Schluss tun?) kommen müssen. um den Einzelfall herauszufiltern, der dann wieder her- (Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE ausgenommen wird. Schönen Dank auch! Das ist Büro- LINKE]) kratie pur. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Haben wir Thomas Jurk (SPD): doch gesagt! Schönen Dank für die Wiederho- (B) Frau Präsidentin, ich hatte genau das jetzt erwartet. (D) lung!) Ich freue mich, dass sie es nicht getan hat, weil sie mich – Schönen Dank, dass Sie es verstanden haben! gerade bestätigt hat. Oder haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gemacht, welche Kosten es verursacht, wenn in jedem Ein- NEN]: Da macht sich jemand wieder einmal zelfall – ich zitiere erneut aus dem Antrag der Grünen – die Welt, wie sie ihm gefällt!) „eine Abwägung zwischen dem Transparenzinteresse der Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass der Öffentlichkeit und dem Schutz personenbezogener Daten Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen überflüssig, der Fördermittelempfängerinnen und -empfänger erfol- unausgegoren und unfinanzierbar ist. Deshalb werden gen“ soll, indem – jetzt kommt es – „die Erforderlichkeit wir diesem Antrag nicht zustimmen. der Veröffentlichung nach Bezugsdauer, Häufigkeit so- wie Art und Umfang der Zuwendung geprüft wird“? – (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist alles im Antrag drin!) Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Ich hoffe, Sie konnten Ihrem eigenen Text jetzt noch fol- Hansjörg Durz. gen, Frau Andreae. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) NEN]: Ja, steht alles im Antrag drin!) Hansjörg Durz (CDU/CSU): Klar ist jedenfalls, dass Sie, ob Sie es nun wollen oder Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen nicht, ein unfinanzierbares Bürokratiemonster schaffen. und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Gegenteil von gut ist bekanntermaßen gut gemeint. Wenn man die Reden in dieser Debatte verfolgt, dann Frau Kollegin Andreae, ich habe interessiert zur Kennt- wird deutlich, dass wirklich alle das gleiche Ziel verfol- nis genommen, dass Sie in der von Ihnen in der letzten gen, nämlich dass insbesondere dann, wenn Steuergelder Debatte zu Protokoll gegebenen Rede darauf hingewie- für Fördermittel eingesetzt werden, größtmögliche Trans- sen haben, dass insbesondere die neuen Regelungen, die parenz sichergestellt sein muss, dass die politischen Ent- Sie uns per Antrag hier unterjubeln wollen, Ihnen die scheidungsprozesse transparent gemacht werden müssen Chance zu neuen Möglichkeiten der Haushaltskontrolle und dass die Verwendung von finanziellen Mitteln für einräumen. die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein muss. 5436 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

Hansjörg Durz (A) Wenn man den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen men. Der größte Teil der Antragsteller beschäftigt 10 bis (C) liest, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es in 49 Mitarbeiter. Die Förderung über ZIM ist sehr hetero- Deutschland mit der Transparenz bei Fördermitteln nicht gen. Es werden sehr viele verschiedene Technologiefel- sehr weit her ist. Dem ist aber nicht so; vielmehr ist ge- der unterstützt. nau das Gegenteil der Fall. Wir haben im Rahmen der Debatte eine ganze Reihe von Möglichkeiten gehört, wie Es gibt natürlich klare Förderrichtlinien, nicht aber man sich informieren kann, den einen Maßstab, mit dem die einzelnen Empfänger der Förderung verglichen werden können. Es findet eine (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- regelmäßige Evaluation statt, die den Erfolg und den NEN]: Über die Maßnahmen! Aber es geht um sinnvollen Einsatz der Mittel belegt. Der Bericht darüber die Verteilung! – Jörn Wunderlich [DIE wird auch regelmäßig veröffentlicht. Bei der Evaluation, LINKE]: Welche Firmen kriegen was, und wer aber auch bei der Befragung der Unternehmen und der spendet?) Projektträger kommt auf die Frage, warum denn ZIM so erfolgreich ist, stets die Antwort, dass es unbürokratisch wie nicht nur wir als Abgeordnete uns informieren kön- in der Antragstellung, aber auch in der Abwicklung ist. nen – auch über die Verteilung –, sondern wie auch die Bürgerinnen und Bürger sich genauer informieren kön- (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: So ist es! – nen. Ich will die eine Maßnahme noch einmal herausstel- Andrea Wicklein [SPD]: Richtig!) len: 110 000 bereits abgeschlossene und noch laufende Vorhaben der Projektförderung sind im Förderkatalog Sollte man hier noch mehr Transparenz schaffen wol- des Bundes nachzulesen. Da kann man genau sehen, wer len, so ist zusätzlicher bürokratischer Aufwand zwin- gefördert wird, wer fördert, was gefördert wird, wie gend erforderlich – für die Projektträger, aber eben auch lange gefördert wird und wie viel gefördert wird. Es gibt für die KMU. also sehr detaillierte Informationen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- In Ihrem Antrag beschreiben Sie aber auch einen ers- NEN]: Nein!) ten Konflikt im Zusammenhang mit Transparenz. Ich zi- tiere: Somit wäre genau ein entscheidender Faktor, ein Er- folgsfaktor von ZIM, nämlich das Unbürokratische, zu- Um einen ausreichenden Schutz der Grundrechte nichtegemacht. und der personenbezogenen Daten zu gewährleis- ten, muss sorgsam zwischen dem Transparenzinte- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- resse der Öffentlichkeit und dem Schutz personen- NEN]: Das ist einfach falsch, was Sie sagen! – (B) bezogener Daten von Fördermittelempfängerinnen Gegenruf des Abg. Mark Hauptmann [CDU/ (D) und -empfängern abgewogen werden. CSU]: Es ist absolut richtig!) Sie weisen also darauf hin, dass Transparenz auch Das Pendant zu ZIM auf EU-Ebene ist das Techno- Grenzen hat und dass zwischen Transparenz und dem logieförderprogramm Horizon 2020. Dieses Programm Schutz personenbezogener Daten abgewogen werden wird seitens der Unternehmen und der Projektträger we- muss. gen der Amtshürden und vor allem wegen des bürokra- tischen Aufwands kritisiert. Es wird von deutschen Un- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ternehmen sehr wenig in Anspruch genommen, wenn NEN]: Ja!) überhaupt, dann eher von größeren und nicht von KMU, Ich möchte auf einen zweiten Konflikt hinweisen, ein eben wegen dieses bürokratischen Aufwands. zweites Themenfeld, in dem es auch abzuwägen gilt. Sie Das Augenmerk sollte unseres Erachtens viel eher da- orientieren sich in Ihrem Antrag – Sie erwähnen das an rauf gelegt werden, wie wir es schaffen, mehr Informa- mehreren Stellen – am EU-Agrarfonds. Bei diesen EU- tionen für die Unternehmen bereitzustellen und damit Agrarfördermitteln geht es ganz konkret um Direktzah- mehr Licht ins Dickicht der Förderlandschaft von Bund, lungen, um sogenannte Betriebsprämien, die unabhängig Ländern und EU zu bringen. Hier brauchen wir eine von Art und Umfang der landwirtschaftlichen Produk- Transparenzoffensive. Wir wollen mehr Informationen tion gewährt werden, die einerseits an ganz konkrete über die Chancen und Möglichkeiten der Programme für Auflagen gebunden sind, andererseits aber vor allem ei- die Unternehmen. Wir wollen, dass sich noch mehr nen klaren Maßstab haben, nämlich die Fläche. Hier sind kleine und mittelständische Unternehmen auf den Weg die Richtlinien klar, hier ist der Maßstab klar, hier kann machen, um Innovationen anzugehen und umzusetzen. auch miteinander verglichen werden. Aber wie ist der Maßstab zum Beispiel bei der Förde- Das bedeutet zusammenfassend: Transparenz, Förder- rung von Innovationen? Abstrakt gesehen klingt „Her- mitteltransparenz – ja, aber mit Maß und Ziel. Wir sind stellung von Transparenz“ immer sehr einleuchtend. der Auffassung, dass die richtige Balance zwischen Wenn es aber konkret wird, wird es etwas schwieriger. Transparenz und bürokratischem Aufwand gegeben sein Betrachten wir zum Beispiel ganz konkret das Zentrale muss, und lehnen daher den Antrag der Grünen ab. Innovationsprogramm Mittelstand, ZIM, das von allen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ein schö- hier positiv gesehen wird. Das ist ein Programm zur För- nes Wochenende. derung von Forschung, Entwicklung und Innovation, insbesondere für kleine und mittelständische Unterneh- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5437

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak- (C) Ich schließe die Aussprache. tion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ordnung. zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Fördermitteltransparenz erhöhen“. Der Aus- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf destages auf Mittwoch, den 15. Oktober 2014, 13 Uhr, Drucksache 18/1676, den Antrag der Fraktion Bünd- ein. nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/980 abzulehnen. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer einen erholsamen Nachmittag, wenn das möglich ist. stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Frak- (Schluss: 15.38 Uhr)

(B) (D)

Anlagen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014 5439

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Aken, Jan van DIE LINKE 10.10.2014 Pitterle, Richard DIE LINKE 10.10.2014

Alpers, Agnes DIE LINKE 10.10.2014 Dr. Schäuble, CDU/CSU 10.10.2014 Wolfgang Bartz, Julia CDU/CSU 10.10.2014 Schlecht, Michael DIE LINKE 10.10.2014 Dr. Castellucci, Lars SPD 10.10.2014 Schmidt (Ühlingen), CDU/CSU 10.10.2014 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 10.10.2014 Gabriele

Dr. De Ridder, Daniela SPD 10.10.2014 Dr. Schmidt, Frithjof BÜNDNIS 90/ 10.10.2014 DIE GRÜNEN Evers-Meyer, Karin SPD 10.10.2014 Schneider (Erfurt), SPD 10.10.2014 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 10.10.2014 Carsten

Gastel, Matthias BÜNDNIS 90/ 10.10.2014 Schön (St. Wendel), CDU/CSU 10.10.2014 DIE GRÜNEN Nadine

Golze, Diana DIE LINKE 10.10.2014 Schwartze, Stefan SPD 10.10.2014

(B) Göppel, Josef CDU/CSU 10.10.2014 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 10.10.2014 (D)

Grindel, Reinhard CDU/CSU 10.10.2014 Steffen, Sonja SPD 10.10.2014

Grütters, Monika CDU/CSU 10.10.2014 Steinbach, Erika CDU/CSU 10.10.2014

Hartmann, Sebastian SPD 10.10.2014 Strobl (Heilbronn), CDU/CSU 10.10.2014 Thomas Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ 10.10.2014 DIE GRÜNEN Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 10.10.2014 DIE GRÜNEN Klare, Arno SPD 10.10.2014 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 10.10.2014 Dr. Kofler, Bärbel SPD 10.10.2014 DIE GRÜNEN

Kolbe, Daniela SPD 10.10.2014 Ulrich, Alexander DIE LINKE 10.10.2014

Kretschmer, Michael CDU/CSU 10.10.2014 Veit, Rüdiger SPD 10.10.2014

Krischer, Oliver BÜNDNIS 90/ 10.10.2014 Dr. Wagenknecht, DIE LINKE 10.10.2014 DIE GRÜNEN Sahra

Meiwald, Peter BÜNDNIS 90/ 10.10.2014 Wöhrl, Dagmar G. CDU/CSU 10.10.2014 DIE GRÜNEN Wolff (Wolmirstedt), SPD 10.10.2014 Dr. Middelberg, CDU/CSU 10.10.2014 Waltraud Mathias Dr. Zimmer, Matthias CDU/CSU 10.10.2014 Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/ 10.10.2014 DIE GRÜNEN 5440 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 58. Sitzung. Berlin, Freitag, den 10. Oktober 2014

(A) Anlage 2 EuB-BReg 51/2014 (C) Drucksache 18/2055 Nr. A.1 Amtliche Mitteilungen EuB-BReg 53/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.3 Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie EuB-BReg 62/2014 gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von Drucksache 18/2533 Nr. A.4 einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen EuB-BReg 65/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.5 absehen: EuB-BReg 70/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.6 EuB-BReg 71/2014 Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/2533 Nr. A.8 Ratsdokument 10279/14 Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 18/2533 Nr. A.9 Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühun- Ratsdokument 10551/14 gen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtver- Drucksache 18/2533 Nr. A.10 breitung sowie über die Entwicklung der Streitkräfte- Ratsdokument 11221/14 potenziale (Jahresabrüstungsbericht 2013) Drucksache 18/2533 Nr. A.11 Ratsdokument 11980/14 Drucksachen 18/933, 18/1379 (neu) Nr. 1.2 Drucksache 18/2533 Nr. A.12 Ratsdokument 12127/14 Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- Drucksache 18/2533 Nr. A.13 mentarischen Versammlung der NATO Ratsdokument 12206/14 58. Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung Drucksache 18/2677 Nr. A.1 der NATO vom 9. bis 12. November 2012 in Prag, Ratsdokument 12785/14 DCL 1 Tschechische Republik Drucksache 18/2677 Nr. A.2 Ratsdokument 12796/14 DCL 1 Drucksachen 18/1923, 18/2530 Nr. 2

Innenausschuss Finanzausschuss Drucksache 18/419 Nr. A.20 Unterrichtung durch die Bundesregierung EP P7_TA-PROV(2013)0376 Erster Bericht des Ausschusses für Finanzstabilität zur Finanzstabilität in Deutschland Haushaltsausschuss Drucksachen 18/1795, 18/2048 Nr. 1.2 Drucksache 18/2533 Nr. A.33 Ratsdokument 11121/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.34 (B) Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Ratsdokument 11473/14 (D) mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Drucksache 18/2055 Nr. A.11 Ratsdokument 10824/14 Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/1393 Nr. A.10 EP P7_TA-PROV(2014)0209 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Drucksache 18/1935 Nr. A.1 Entwicklung EuB-BReg 49/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.64 Drucksache 18/1935 Nr. A.2 Ratsdokument 10412/14

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