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Bereichsrezension: Neue Formen des Dokumentarischen Erika Balsom, (Hg.): Documentary Across Disciplines Cambridge: MIT Press 2016, 322 S., ISBN 9780262529068, USD 24,95

Andrea Figl: Webdoku: Geschichte, Technik, Dramaturgie Konstanz: UVK 2015 (Praxis , Bd.89), 245 S., ISBN 9783867645713, EUR 24,99

Paolo Magagnoli: Documents of Utopia: The Politics of Experimental Documentary New York: Columbia UP 2015 (Nonfictions), 184 S., ISBN 9780231172714, USD 26,–

Vanessa Marlog: Zwischen Dokumentation und Imagination: Neue Erzählstrategien im ethnologischen Film Bielefeld: transcript 2016, 214 S., ISBN 9783837633986, EUR 34,99 (Zugl. Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität- München, 2013)

Lange schien es so, als hätte das post- biografischen Comic gibt es zahlreiche strukturalistische Misstrauen gegen jede neue Formen des Dokumentarischen, Form von direkter Bezugnahme auf real die sich häufig experimenteller Ästhe- Existierendes ganze Arbeit darin gelei- tiken annehmen und sich nicht länger stet, die Darstellung von Wirklichkeit um traditionelle Zuschreibungen von zu diskreditieren. Als sich im Zuge der Einzelmedien oder Gattungsästhe- Postmoderne-Debatte der 1980er Jahre tik scheren. Es sind einzelne Aspekte diese Skepsis gegenüber dem Wirklich- dieses heterogenen und emergenten keitsbezug von Medien und der Refe- Feldes, das eine Reihe rezenter Publi- rentialität der Welt insgesamt noch kationen in den Blick nehmen. vertiefte, fristete das Dokument(arische) Paolo Magagnolis Studie zur his- ein stiefmütterliches Dasein. Dennoch toriografischen Rückbezüglichkeit in ist in einer überraschenden Wende in der zeitgenössischen Kunst, die häufig den vergangenen 20 Jahren ein erstaun- eine (pseudo-)dokumentarische Form liches Wiedererstarken von dokumen- annimmt oder nachahmt, geht von tarischen Formen zu beobachten. Vom einer Neulektüre der Nostalgie-Debatte Interesse der Kunst am Archiv bis zur der 1990er Jahre aus. Er wendet sich Netz-Doku, von der Proliferation der dabei sowohl gegen eine kulturkon- Dokumentarfilmfestivals bis zu auto- servative wie gegen eine progressive Fotografie und Film 513

Haltung, stellvertretend dafür werden so Magagnoli, das zunächst imaginär Pierre Nora beziehungsweise Fredric hergestellt werden solle, ehe es sich in Jameson genannt, die aus unterschied- der Wirklichkeit manifestiert; tatsäch- lichen Gründen ein Verschwinden lich jedoch ließ sich der Spalt zwischen der Geschichte und eine Rückwärts- einer offiziell ausgegebenen Vorstel- gewandtheit der Kultur diagnostiziert lung und der tristen Realität niemals haben. Dagegen setzt Magagnoli die schließen: „[T]ruth is considered less emanzipatorische Kraft der Utopie – as a fact than as a memory and social jeder gesellschaftlichen Veränderung ideal“ (S.68). Im dritten Kapitel geht muss demnach notwendigerweise eine es um künstlerische Arbeiten von Zoe Vorstellung einer anderen Welt voraus- Leonard, Rachel Harrison und Jean- gehen. Über eine Analyse einer Reihe Luc Moulène, allesamt fotografische von Werken von „mid-career interna- Archive, die ein „revolutionary desire tional artists who mainly work with within the destructive nature of capi- photo-based media (film, video, pho- talism“ (S.90) zu entziffern versuchen. tography)“ (S.14), darunter Hito Steyerl, Und das abschließende vierte Kapitel Tacita Dean und Matthew Bucking- untersucht künstlerische Werke, die ham, nähert sich der Kunsthistoriker sich auf die utopische Kraft des Inter- Magagnoli dem wiedererstarkten Inte- nets rückbeziehen, aber auch die liber- resse am Dokumentarischen an. tären Mythen des Digitalen kritisch Im Fokus des ersten Kapitels stehen befragen. Dass hier Hito Steyerl noch Werke, in denen Utopie und dokumen- einmal mit einem anderen Werk auf- tarische Form konvergieren und die die taucht (Free Fall, [2010]), markiert ihre Reste der modernistischen, zumeist zentrale Rolle für die kritische Gegen- gescheiterten Zukunftsvorstellungen wartskunst, nicht nur in der von Magn- sammeln und präsentieren. Diese anoli getroffenen Auswahl. formulieren eine kritische Distanz Abschließend plädiert der Autor gegenüber den explizit oder implizit für die konstitutiv wichtige Rolle von totalitären Visionen, die zahlreichen Utopien in der fortdauernden Umge- Projekten des 20. Jahrhunderts inhä- staltung der Welt und den Versuch, eine rent waren – dazu wird einmal mehr kritische Distanz zur eigenen Gegen- versucht, Michel Foucaults Begriff wart zu gewinnen. Insgesamt handelt es der ‚Heterotopie‘ mit analytischer sich um eine sehr gelungene Studie zur Schärfe aufzuladen. Das zweite Kapi- Gegenwartskunst mit reichhaltig ger- tel thematisiert anhand von Installa- ahmten, klar formulierten und überzeu- tionen Anri Salas, Ilya Kabakovs und genden Interpretationen, die Beachtung Steyerls Dokumente von utopistischen verdient. Ob es sich beim Utopischen, Zukunftsvisionen des 20. Jahrhun- das den roten Faden der Studie bildet, derts, die uns retrospektiv als propa- allerdings nur um ein Thema unter vie- gandistische Objekte erscheinen. Die len handelt oder ob dies als symptoma- Wahrheit dieser behaupteten Wirklich- tisches Zentrum zu verstehen ist, das keit liegt im gesellschaftlichen Ideal, bleibt offen. 514 MEDIENwissenschaft 04/2016

Andrea Figls Buch Webdoku: Von 2010 bis 2014 fand im zwei- Geschichte, Technik, Dramaturgie ist vor jährlichen Turnus das „ Docu- allem als Handreichung für Prakti- mentary Forum“ am Berliner Haus der ker_innen gedacht (oder solche, die es Kulturen der Welt statt, das sich der werden wollen). In seiner äußeren Auf- Erkundung von künstlerisch innova- machung ähnelt es eher einer Website tiven Formen des Dokumentarischen als einem traditionellen Buch – groß- verschrieben hatte. Der Band Documen- formatige Zitate auf schraffierten Flä- tary Across Disciplines ist keine umfas- chen, im Text bereits farbig markierte sende Dokumentation aller Vorträge, Stellen und QR-Codes unterbrechen sondern versammelt ausgewählte Bei- immer wieder den Lesefluss bezie- träge, die in diesem Umfeld entstan- hungsweise lockern die Bleiwüste auf. den sind. Es handelt sich also nicht um Auf eine äußerst sparsame historische eine akademische Aufsatzsammlung Einführung zur Geschichte des Doku- im klassischen Sinne, sondern um eine mentarfilms folgen Teile zur institu- Mischung aus Erfahrungsberichten (von tionellen Rahmung (Produktion, TV Künstler_innen und Kurator_innen), als Abspielort, Kino) sowie zur Medi- Gesprächen und wissenschaftlichen enkonvergenz, die allesamt höchstens Aufsätzen, selbst ein Gedicht findet populärwissenschaftlichen Ansprü- sich darin (von Ben Lerner, S.164-171). chen standhalten, aber dem Buch geht Allerdings sind künstlerische Praxis es ohnehin um etwas anderes. Das wird und das kuratorische Feld inzwischen spätestens mit der hyperbolischen Aus- so stark von Theorie durchdrungen, dass rufung eines „Jahrhunderts der Web- die (Selbst-)Verortungen eher über Stil doku“ (S.70) deutlich, auch wenn die und Tonfall als über die Bezugnahme gut zwei Dutzend Beispiele, die disku- auf bestimmte Positionen erfolgen. tiert werden, bei kritischer Betrachtung Nicht zufällig operieren beide Heraus- mehr Distanz erfordert hätten. Wirklich geberinnen in ihrer Arbeit an Gren- konkret wird das Buch auch bei Finan- zen – die eine zwischen künstlerischer zierungsmodellen und Produktionsstra- Kuratierung und wissenschaftlicher tegien nicht, es bleibt eine gute Quelle Forschung (Hila Peleg hat die Veran- für Ideen zum Thema sowie ein brauch- staltungen am HKW inhaltlich konzi- barer Überblick der interessanteren Pro- piert), die andere zwischen Kunst- und jekte, wobei beides aufgrund der großen Medienwissenschaft (Erika Balsom hat Dynamik des Felds naturgemäß relativ mit ihrer Studie Exhibiting Cinema in bald veraltet sein wird. Eine gründliche Contemporary [Amsterdam: Amster- Herleitung von Begriffen, eine ausführ- dam UP, 2013] auf sich aufmerksam liche Diskussion der Problemlage oder gemacht). In ihrer Einleitung unter- eine theoretische Tieferlegung der inhä- streichen sie die grundlegende Span- renten Spannungen zwischen Finanzie- nung des Dokumentarischen zwischen rung, Technik und Ausdrucksvermögen dem direkten Bezug auf die Welt (etwa – all das kann und will das Buch dage- als Spur, Index oder Dokument) und gen nicht leisten. der Entfernung in der (Re-)Konstruk- Fotografie und Film 515 tion, „[t]orn between the proximity in historischer Perspektive diskutiert, of the trace and the distance of wri- ehe sie – quasi als Antwort – ein eigenes ting“ (S.12). Diese Anthologie ist also kuratorisches Projekt vorstellt, das auf keine klassische Studie zur filmischen Edward Steichens klassisch-moderni- Dokumentation, sondern inszeniert stische Ausstellung „The Family of Man“ eine äußerst produktive Begegnung (1955) Bezug nimmt. Klarer erkennbare zwischen Anthropologie, Fotografie, wissenschaftliche Positionen besetzen Poesie, Kino, digitalen Medien, Kunst Volker Pantenburg, der das Werk von und Sound Studies. Harun Farocki zwischen den Polen der Es seien einige exemplarische Bildkritik und dem Motiv der Arbeit Momente und Argumente aus den situiert, Christa Blümlinger, die unter- vielfältigen Texten herausgegriffen: Im schiedliche Genealogien des Essay­ Auftaktessay diskutiert ­Christopher begriffs rekonstruiert, Stella Bruzzi, Pinney das Verhältnis zwischen Foto- die sich der Gerichts-Dokumentation grafie und Anthropologie in einer widmet, und Chris Fallon, der sich historischen und theoretischen tour für Datenvisualisierungen interessiert. d‘horizon, wobei Roland Barthes‘ Überhaupt bezieht die Anthologie ihre Begriffe ‚studium‘ und ‚punctum‘ den Spannung aus dem erweiterten Begriff Schlüssel zum Feld bieten, also die des Dokumentarischen, der „plural and Spannung zwischen der Festlegung subversive [ist], partaking at the same eines gegebenen Sinns auf der einen time of both artifice and authenticity, Seite, der Kontingenz und des Zufalls, and acting under the influence of the die immer wieder dazwischen treten, auf double pulse of aesthetics and ethics. der anderen. In einem Gespräch zwi- […] [T]he form of documentary in schen Véréna Paravel, Lucien Castaing- question may be understood as expan- Taylor und Ben Rivers wird das Feld ded not only in view of the diversity zwischen Dokumentarfilm, ethnogra- of the objects it produces and practices fischer Forschung und künstlerischem it combines, but equally in view of the Ausdruck vermessen mit besonderem plurality of its objectives“ (Giannouri, Augenmerk auf der ethischen Ver- Evgenia: „No Man’s Land, Every Man’s antwortung der Filmemacher_innen Home: Clemens von Wedemeyer’s gegenüber ihren Subjekten. In einer Documentary Aporia“, S.219). Insge- produktiven und reflexiven Rückschau, samt bildet die Anthologie sehr gut die die an zwei an unterschiedlichen Stellen avancierten Positionen der aktuellen im Buch (vgl. S.92-109 und S.236-250) Gegenwartskunst ab und könnte sich platziert ist, diskutiert Sylvère Lotrin- für weiterführende Studien als zentral ger seine eigene Praxis des Interviews erweisen. – diese ist zugleich methodisches Das ethnografische Filmschaffen Werkzeug wie künstlerisches Genre. war lange Zeit ein klar abgegrenzter Symptomatisch ist die überraschende Bereich, der in jüngster Zeit immer Wendung, die Ariella Azoulays Text stärker durch bestimmte Formen der nimmt, der zunächst Ausstellungsethik Hybridisierung, Transgression und 516 MEDIENwissenschaft 04/2016

Annäherung mit dem Dokumenta- als produktiv für die Arbeit erwiesen rischen gekennzeichnet ist. Es geht hätten. Erfreulich und begrüßenswert Vanessa Marlog in ihrer ethnolo- ist in jedem Fall, dass sich der Dialog gischen Dissertation Zwischen Doku- zwischen Ethnologie und Filmwissen- mentation und Imagination: Neue schaft intensiviert. Erzählstrategien im ethnologischen Film In der Einleitung zu Marlogs Stu- um diesen Grenzbereich zwischen die werden in knappen Abschnitten Dokumentarfilm und visueller Anthro- sowohl Festivals (die im jährlichen pologie, den sie mit dem eher losen Wechsel stattfindenden ethnologischen Begriff der Imagination umschreibt. Filmfestivals in Göttingen und Frei- Insbesondere interessiert sie sich für burg) als Netzwerkknoten und Grad- die Frage, „inwiefern die Grenzen des messer, theoretische Entwicklungen Dokumentarischen (als Repräsenta- (vor allem die phänomenologische tion von Lebenswirklichkeit) in den Filmtheorie kommt hier zur Sprache) Filmen ausgelotet oder überschritten als Inspirations­quelle wie auch die werden – und inwiefern hier dennoch Filme von Kim Longinotto und David oder gerade deshalb von Authentizität MacDougall als Beispiele herangezo- gesprochen werden kann. Welche Rolle gen. Das ist durchaus nachvollziehbar, spielt also in den neuen Erzählstra- allerdings in der (selbst auferlegten?) tegien der ethnologischen Filme die Kürze auch nicht immer produktiv. Es Imagination?“ (S.35). Über die Einzel- folgen sechs Kapitel zu einzelnen Fil- analysen hinaus besteht der Anspruch men, die jeweils spezifische Aspekte der Arbeit also darin, eine Brücke der Öffnung von dokumentarischen zwischen ethnologischen Theorien Filmen zu Formen der Subjektivität, und filmwissenschaftlichen Ansät- Imagination und Fantasie exemplarisch zen zu schlagen. Dieses Unterfangen illustrieren sollen. Die Auswahl der führt jedoch nicht allzu weit, auch Filme, die nicht begründet wird, reicht weil die Autorin ihre ethnologische von Exile Family Movie (2006) über The Brille nicht verleugnen kann und die Green Wave (2009) bis hin zu Neukölln von ihr konstatierten Verbindungen Unlimited (2010). Es geht dabei um angesichts jüngerer Entwicklungen unterschiedliche Formen der Entgren- tendenziell überschätzt. Die Öffnung zung, wobei dieser Begriff recht locker der Film- und Medienwissenschaft gehandhabt wird – überhaupt hätte etwa zu ephemeren Filmformen und man sich an einigen Stellen etwas mehr hybriden medialen Artefakten – man Stringenz und Systematik gewünscht. denke etwa an die breiten Forschungen Die Analysen gehen von genauen Sich- zum nicht-fiktionalen Film oder an tungen aus, oszillieren zwischen narra- die Visible-Evidence-Konferenzen und tiver Einordnung und einem Interesse -Buchreihe – hat bereits viele der von an der ästhetischen Gestaltung; bei Marlog angeführten Bewegungen einigen Filmen steht stärker der Dialog thematisiert und stellt dazu Begriffe, im Mittelpunkt, bei anderen ist eine Ansätze und Methoden bereit, die sich phänomenologische Aufmerksamkeit Fotografie und Film 517 für die dargestellten Oberflächen und Allzu divergent sind jedoch die Ent- filmischen Mittel spürbar. Insgesamt wicklungen im Netz, in der Kunst und sind die Analysen eher von marginalen im Grenzbereich des Ethnografischen, Beobachtungen geprägt als von einem um sie auf einen gemeinsamen Nenner systematischen Zugriff; als Bestands- zu reduzieren. Die filmwissenschaft- aufnahmen einiger interessanter Ten- liche Dokumentarfilmforschung sollte denzen des Dokumentarischen taugt diese Entwicklungen nicht ignorie- die Studie aber allemal. ren, sondern sie konkret ansprechen Die hier diskutierten Bücher adres- und aktiv mitgestalten, denn in einer sieren ganz unterschiedliche Bereiche zunehmend komplexen Welt brauchen – von der Kunst und kuratorischen wir dokumentarische Zugriffe, die uns Praxis bis hin zur Web-Doku und zum dafür ein angemessenes Verständnis ethnografischen Film; diese Bereiche vermitteln. enthalten inzwischen dokumentarische Spurenelemente in vielfältigen ­Facetten. Malte Hagener (Marburg)