SPIEGEL: Talentierte Spieler langfristig auf- zubauen gehört aber offenbar nicht zum Konzept des Deutschen Fußball-Bundes. Sie plädieren für einen Neuaufbau – mit dem Risiko, die EM-Endrunde zu verpassen? Kohler: Das ist in unserer erfolgsorientier- ten Gesellschaft zwar schwierig, aber war- um können wir es als Nation nicht mal in Kauf nehmen, bei einem größeren Turnier nur Zuschauer zu sein? Wir Deutsche soll- ten nicht so hohe Ansprüche stellen und ei- ner jungen Mannschaft die Chance geben, sich richtig zu entwickeln.Wollen wir wirk- lich mal wieder ein attraktiv spielendes Team sehen, müssen wir diese Geduld auf- bringen.Wir alle sind als Fußballnation ge- fordert. Die Franzosen, die bei den Welt- meisterschaften 1990 und 1994 nicht dabei waren, haben es vorgemacht. SPIEGEL: DFB-Präsident Egidius Braun hält das in Deutschland nicht für mehrheitsfähig. Kohler: Den Druck haben Präsident und Mannschaft auch deshalb, weil sie ihn sich selbst auferlegen. Wir brauchen im Ver- band dann allerdings auch Leute, die nicht gleich umkippen, wenn’s mal schlecht läuft. SPIEGEL: Ribbeck hat vom DFB den Auftrag erhalten, die EM-Qualifikation 2000 zu schaffen. Ist das zu kurz gedacht? FIRO Dortmunder Profi Kohler (r.)*: „Ich habe mich innerlich gelöst“

FUSSBALL „Daum wäre der Richtige“ Der ehemalige Nationalspieler Jürgen Kohler, 33, über den idealen Bundestrainer, hochgejazzte Jungprofis und seinen Verzicht auf ein Comeback

SPIEGEL: Herr Kohler, im allgemeinen Ent- deshalb muß man ihnen das Vertrauen setzen über die Auftritte der Nationalelf im schenken, ihnen Fehler zugestehen. Man Februar in den USA wurden Sie von eini- kann sich als Profi und als Persönlichkeit gen Experten zum Comeback aufgefordert. nur weiterentwickeln, wenn man perma- Ehrt Sie das? nent im Scheinwerferlicht steht – und nicht

Kohler: Das macht einen natürlich irgend- Angst haben muß vor irgendeinem Rück- WINTER / WENDE O. wo stolz, wenn einen die Leute wieder se- kehrer.Wenn einer zu lange an Bord bleibt, DFB-Teamchef Ribbeck, Rückkehrer Matthäus hen wollen. kann das bei dem einen oder anderen in „Kürzer kann man nicht denken“ SPIEGEL: Dennoch muß die Elf diese und der Mannschaft die Entwicklung behin- nächste Woche bei ihren Qualifikations- dern. Das will ich nicht. Kohler: Kürzer kann man nicht denken. Ein spielen in Nordirland und gegen Finnland SPIEGEL: Den 38jährigen Lothar Matthäus Bundestrainer benötigt allein zwei bis drei ohne den Manndecker der Nation aus- plagen derlei Skrupel nicht. Bremst er die Jahre, um der Nationalmannschaft seine kommen. Warum mögen Sie nicht mehr? Entwicklung des Liberos Jens Nowotny? Handschrift zu verleihen. Kohler: Ich habe mich innerlich gelöst. Der Kohler: Lothar ist überhaupt kein Vorwurf SPIEGEL: Wer könnte diese Langfristauf- Drang, nach 105 Länderspielen noch un- zu machen. Teamchef hat gabe lösen? bedingt dabeisein zu wollen, ist weg. sich nun mal festgelegt und gesagt: Ich Kohler: Christoph Daum wäre der Richtige, Außerdem glaube ich, daß wir für meine baue auf den Libero Matthäus. Der Preis ist davon bin ich überzeugt.Aber er müßte die Position genügend Alternativen haben. womöglich, daß Leute wie Zeit bekommen, um die Elf über drei, vier SPIEGEL: Die aber zuletzt ein heilloses Ab- oder Nowotny gehemmt werden. Jahre in eine Richtung zu führen. Daum wehrchaos hinterlassen haben. SPIEGEL: Ribbeck hält Nowotny mit der hat, wie auch Ottmar Hitzfeld, das Händ- Kohler: Ist doch klar, daß ein Markus Bab- Aussicht auf einen Posten im Mittelfeld chen, mit sogenannten Stars umzugehen. bel, Marco Rehmer oder Christian Wörns oder als Vorstopper bei Laune. Ist das SPIEGEL: Es gab Zeiten, da freuten sich noch nicht die Reife haben. Und genau nichts? manche Spieler auf die Nationalelf, weil Kohler: Nowotny ist für mich kein defensi- sie für einige Tage dem Ballyhoo in ihren * Im Zweikampf mit Nationalspieler Michael Preetz ver Mittelfeldspieler. Auch kein Mann- Vereinen entkamen. Jetzt ist es eher von Hertha BSC Berlin. decker. Er ist ein moderner Libero. umgekehrt: Torwart murrte

144 der spiegel 12/1999 Sport jüngst, im DFB-Team bekomme man „nur von 1989 bis 1991. Ich war damals beim be- was aufs Dach“, und zeigte Verständnis für sten Club, habe ganz gut verdient – da den Kollegen , der auf übermannt einen eine gewisse Zufrieden- Länderspiele verzichtet. Ist das Natio- heit.Wenn ich jetzt noch mal mit dem Wis- naltrikot nicht mehr erstrebenswert? sen von heute als junger Spieler zu den Kohler: Früher kam man an die hochdo- Bayern käme, dann wäre ich dort einer der tierten Verträge nur als Nationalspieler ran. Stärksten, die es da jemals gab. Zumindest Heute überträgt das Fernsehen jedes Ver- von Einstellung und Lebenswandel her. einsspiel, man steht also immer im Blick- SPIEGEL: Wie haben Sie aus solchen Moti- punkt. Um seinen Marktwert zu steigern, vationskrisen herausgefunden? reicht ein Superspiel gegen Real Madrid. Kohler: Ich hatte glücklicherweise immer SPIEGEL: Die Champions League hat einen gute Trainer. Solche, die auf den Typus höheren Stellenwert als der Adler auf der Jürgen Kohler standen. Klaus Schlappner, Brust? Daum, Jupp Heynckes. Dann Giovanni Kohler: Es hat sich alles ein bißchen ver- Trapattoni bei Juventus Turin. Mir wur- schoben. Früher hast du die National- de sehr viel Vertrauen entgegengebracht, mannschaft gebraucht, sonst hätte man und ich habe mich gefragt, wie kannst dich zwar zu Hause in deinem Dorf er- du das zurückgeben? Im Prinzip nur über

kannt, aber nicht draußen in der Welt. FIRO Leistung. SPIEGEL: Der Münchner Kollege Thomas Trainer Daum SPIEGEL: Sehr gute Trainer machen aus mit- Helmer hat bei manchen jüngeren Profis „Drei, vier Jahre in eine Richtung führen“ telmäßigen Spielern gute Profis? beobachtet, daß es denen nahezu gleich- Kohler: Schlappner war ja für mich bei gültig ist, ob sie vom Bundestrainer nomi- Rasen fühlt er sich unter Wert eingesetzt. Waldhof Mannheim nicht nur Trainer, son- niert werden oder nicht. Sie haben immer Was raten Sie ihm? dern auch so eine Art Ersatzvater. Der hat betont, die Nationalelf sei für Sie auch eine Kohler: Diese Entwicklung, die er jetzt mit- immer geguckt, was ich zum Beispiel mit Herzensangelegenheit gewesen. macht, ist für ihn ganz wichtig. Er spielt auf meinem Geld mache. Damals habe ich 1200 Kohler: Bei mir war es so: Ich bin mit 18 Jah- einer Position, die gar nicht seine Position Mark brutto verdient, und davon sollte ich ren zum erstenmal in eine deutsche Aus- ist. Aber als ich damals anfing, ging es mir noch sparen. Da war der hinterher, er hat wahlmannschaft gekommen – die U 18, das genauso. Bei der U 21 war der Armin Kraaz meine Bankbelege kontrolliert. war für mich das Höchste. Danach kam ich Vorstopper. Berti Vogts kam vor einem EM- SPIEGEL: Derlei Fürsorge lassen sich die in die U 21, da habe ich nicht an das Geld Qualifikationsspiel in Lissabon auf mich zu heute zu Popstars hochgejazzten Profis gedacht, es war einfach etwas Besonderes. und fragte: Kannst du auch rechter Vertei- wohl von ihren Beratern nicht bieten? Erst dann habe ich gemerkt: Hoppla, ich diger spielen? Ja, sicher, habe ich gesagt und Kohler: Ach, die Berater. Was machen die habe das Zeug dazu, noch höhere An- ganz begeistert getan. Kraaz spielte da nicht heute schon? Die haben doch oft 10, 20 sprüche an mich selbst zu stellen. so gut, und wir verloren 1:2.Vor dem Rück- Profis unter Vertrag. Meines Erachtens SPIEGEL: Die Halbwaise Kohler aus Lambs- spiel gegen Portugal in Karlsruhe kommt kann man höchstens zwei Spieler beraten, heim, deren Mutter auf dem Feld arbeite- der Berti: Kannst du auch te, um die vier Kinder zu ernähren, hat im in der Mitte spielen – Vor- Fußball plötzlich das Vehikel zum sozialen stopper? Ich sage, Trainer, Aufstieg erkannt? wenn ich Vorstopper spie- Kohler: Ich begriff: Das ist eine einmalige le, machen die kein Tor. Chance in meinem Leben. In meiner Kind- Wir haben 2:0 gewonnen. heit hat man sich eben noch einen Fußball Von dem Zeitpunkt an war gewünscht, wenn man gefragt wurde, was ich immer Vorstopper. man zum Geburtstag geschenkt haben will. SPIEGEL: Sie konnten sich Wenn du heute ein Kind fragst, bekommst auf die Arbeit konzentrie- du zur Antwort: einen PC, aber mit mög- ren, während heutzuta- lichst vielen Megabyte. ge jungen Hoffnungsträ- SPIEGEL: Ihr ehemaliger Nationalelfkollege gern wie den Kaiserslau- Stefan Kuntz beklagt, daß es vielen Talen- terern ten an der totalen Hingabe für den Fuß- und Marco Reich mit an- baller-Beruf fehlt. Stimmen Sie zu? geblichen Millionen-Of-

Kohler: Warum spielen denn in unseren Ju- ferten von Bayern Mün- / BONGARTS A. HASSENSTEIN FOTOS: gendmannschaften so viele Ausländerkin- chen schon der Kopf ver- Deutsche Talente Reich, Ballack: „Nicht nur Geld im Sinn“ der? Weil die nichts haben außer Sport. dreht wird. Und deshalb sind sie mit mehr Biß dabei. Kohler: Die beiden sollten mit 21 und 22 alles andere ist unseriös. Denn beraten Andererseits haben es die Jungprofis heu- Jahren nicht nur das Geld im Sinn haben, heißt für mich nicht nur herumzutelefo- te auch schwerer als zu meiner Zeit. Ich sondern sich die Frage stellen: Wo kann ich nieren, daß mein Junge das beste Angebot machte mit 20 mein erstes Länderspiel. am besten mein Leistungspotential her- bekommt, sondern auch Betreuung. Aber deshalb wurde kein Brimborium ver- auskitzeln? Das geht ganz selten bei Top- SPIEGEL: Wenn Ihnen das Manager-Gewer- anstaltet, die Medien kümmerten sich um clubs. Wenn ich Ballack oder Reich wäre, be schon suspekt ist: Können Sie sich denn Matthäus, Schumacher, Völler, Allofs. Der würde ich die nächsten zwei, drei Jahre in vorstellen, nach dem Karriere-Ende eine Kohler war der kleine Pimpf, der im Wind- Kaiserslautern bleiben. Da haben sie die Clubmannschaft zu trainieren? schatten der großen Stars reifen konnte. nötige Ruhe, sich zu entwickeln. Rück- Kohler: Trainer? Allenfalls im Jugendbe- SPIEGEL: Ihr Dortmunder Mitspieler Lars schläge in Form von Selbstüberschätzung reich. Bei den Profis ist mir das zuviel Ricken leidet offenbar darunter, im Zeital- kommen früh genug. Streß. Gucken Sie sich mal an, wie die ter von „Bravo Sport“ zum Mädchen- SPIEGEL: Wie meinen Sie das? Trainer aussehen. Die haben ja alle tiefe schwarm hochstilisiert zu werden. In der Kohler: Ich hatte auch Phasen des Still- Falten. Jugendpresse wird er vergöttert, auf dem stands, vor allem in meiner Münchner Zeit, Interview: Jörg Kramer, Alfred Weinzierl

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