Bündnis-90-Versammlung in der Berliner Gethsemanekirche 1990 Ministerpräsident de Maizière, Sprecherin Merkel auf einem Moskau-Flug 1990

Politikerin Merkel, Kanzler Kohl 1993 in

Politiker Eppelmann 1989 in Leipzig Kanzlerin Merkel 2009 in Berlin

Kanzler Kohl, DDR-Politiker Schnur, de Maizière 1990 in Karl-Marx-Stadt Schülerin Merkel, Mitschüler 1971 in Gesellschaft Die SchläferinKARRIEREN

Angela Merkel hat Amerika mit einer persönlichen Rede über die Wendezeit bewegt. Doch wer war sie damals? Nicht ihre Ausdauer im chaotischen Herbst ’89 ist verantwortlich dafür, dass die jetzt mächtigste Frau der Welt Politikerin wurde. Von Alexander Osang

n einem Wochenende im Septem- in der DDR einen Platz des Himmlischen Konferenztisch ihres Büros im Kanzleramt. ber 1989 traf sich eine Gruppe von Friedens geben könnte. Marcus Kasner In fünf Tagen sind Bundestagswahlen, ADDR-Physikern im Pastoralkolleg und Günter Nooke kannten sich vom Phy- übermorgen fliegt sie zum Weltwirt- Templin, um über ethisch-philosophische sikstudium und von gemeinsamen Wande- schaftsgipfel nach Pittsburgh, und die klei- Fragen der Naturwissenschaften zu reden. rungen in der CSSR. Die Welt war klein ne silberne Kanne mit ihrem Pfefferminz- Der Arbeitskreis tagte einmal im Jahr, man damals, manchmal nur so groß wie eine tee ist leer. Das ist die Lage. Ihr gegenüber diskutierte hinter Kirchenmauern Proble- Familie. Erst recht, wenn man von außen sitzt Regierungssprecher Ulrich Wilhelm, me, die man draußen nicht wahrhaben darauf schaute, wie Professor Christofer ein paar Meter weiter hängt ein Kokosch- wollte. Das Thema des Jahres 1989 im Tem- Frey, ein Theologe aus Bochum, der von ka-Porträt Konrad Adenauers über ihrem pliner Kolleg hieß: Was ist der Mensch? Anfang der Achtziger an von Kasner ins Schreibtisch an der Wand wie eine Ge- Die meisten aus der Gruppe waren Phy- Kolleg eingeladen wurde. denktafel. Draußen scheint die Sonne auf siker geworden, weil ihnen das die Mög- Der Westprofessor saß am Herbstwo- den Kanzlergarten, die ostdeutsche Ver- lichkeit bot, sich dem Staat zu entziehen, chenende 1989 direkt neben gangenheit liegt im Nebel. ohne das Land zu verlassen. Sie wollten in und erinnert sich an eine Frau mit run- Sie soll über reden, in der sie ihr Ruhe gelassen werden und dennoch etwas dem, freundlichem, aber verschlossenem altes Leben verließ und ein neues begann tun. Aber das funktionierte immer weni- Gesicht. Er kannte sie aus den Erzählun- wie so viele ihrer Landsleute damals. Ist es ger. Das Land, in dem sie lebten, zerfiel vor gen des Vaters und war erstaunt, wie jung wirklich möglich, dass gesellschaftliche ihren Augen, Zehntausende flüchteten in sie wirkte und wie unpolitisch, sagt er. An- Umbrüche unpolitische Menschen an die den Westen, die Parteiführung verharrte gela Merkel habe sich überhaupt nicht an Spitze eines Landes spülen? im Schock, sie schien gefährlich und ange- den Gesprächen beteiligt, was er heute als „Ich war ja nie unpolitisch“, sagt Ange- schlagen. Jetzt, da es zum ersten Mal die strategisches Vorgehen bewertet. Sie habe la Merkel. „Ich war aber lange nicht poli- Chance gab, wirklich mitzumachen, stellte gewartet, sagt Frey, und als die Männer tisch aktiv. Ich habe zusammen mit meinem sich die Frage, was sie denn sein wollten, einmal nackt in einen uckermärkischen Bruder Hauptstädte auswendig gelernt, um wenn sie nicht mehr Physiker sein mussten, See sprangen, habe sie seiner Frau anver- uns ein Bild von der großen weiten Welt zu in einem Staat, dem man sich nicht mehr traut: Am meisten störe sie an der DDR, machen“, sagt sie, lächelt, strafft sich und entziehen musste, womöglich nicht mehr dass es keinen anständigen Joghurt gebe. rüttelt ihre kindlichen Erinnerungen in eine M.R.); KLEEFELDT / PICTURE-ALLIANCE / DPA (U.L.) / DPA / PICTURE-ALLIANCE M.R.); KLEEFELDT entziehen durfte. Einige der Wissenschaftler Alles, was er politisch aus ihr herausholen tragende Formulierung: „Durch den inne- am Tisch hatten sich bereits entschieden. konnte, war, dass sie es hier im Osten ganz ren Widerstand zur DDR war das Leben Hans-Jürgen Fischbeck, Physiker an der anders machen müssten als in seiner Bun- schon viel politischer, als es in einem de- Akademie der Wissenschaften in Berlin, desrepublik. mokratischen Land gewesen wäre.“ hatte gerade mit ein paar Freunden De- Es fällt Professor Frey schwer, in der rie- Sie erzählt nun von den DDR-Besuchen mokratie Jetzt gegründet; Günter Nooke, sigen Weltpolitikerin von heute eine ein- Helmut Schmidts und Willy Brandts, von Physiker aus Forst, würde in sieben Tagen fache, junge Frau zu erkennen, deren Pro- der Weizsäcker-Rede im Jahre 1985, und es mit 16 Gleichgesinnten in einer Altbau- bleme darin bestanden, H-Milch zu be- scheint fast so, als entspannte sich Konrad wohnung in Berlin-Mitte den Demokrati- kommen und Lampenschirme, die nicht Adenauer an der Wand ein wenig. Es gibt schen Aufbruch gründen. Die Physiker be- auch in allen anderen ostdeutschen Wohn- keine andere Erinnerung an die deutsche fanden sich an diesem Wochenende auf zimmern hingen. Wie konnte sich eine Geschichte in diesem Raum als ihn, kein dem Sprung in die Politik, sie landeten spä- Frau, die sich gerade in Washington beim Mauerstück, kein Foto aus den Wende- ter in kleineren und größeren Parlamenten, amerikanischen Volk für die deutsche Ein- tagen, kein Ampelmännchen, nichts, was aus denen sie sich inzwischen fast alle wie- heit bedankt, einst, als es darauf ankam, irgendwie mit ihrer Vergangenheit zu tun der zurückgezogen haben. um Joghurt sorgen? Er scheint enttäuscht hätte. Man muss an das riesige Gemälde Diejenige am Tisch aber, die damals zu sein von Angela Merkel, aber es ist nicht von Willy Brandt im Büro von Wolfgang schwieg, ist heute Bundeskanzlerin. klar, ob er von der Kanzerlin enttäuscht ist, Thierse denken, dem anderen ostdeut- Der Herbst ’89 ist die letzte unscharfe von der Frau in Templin oder von der Tat- schen Politiker, der es ziemlich weit in der Phase im Leben der Kanzlerin. Angela sache, dass eine Frau wie die, die er damals bundesdeutschen Politik gebracht hat. Merkel war mehr oder weniger zufällig in kennenlernte, Kanzlerin seines Landes Thierse sitzt gern vor dem Bild, und die Runde geraten. Sie arbeitete an der werden konnte. manchmal hat man den Eindruck, er wür- Akademie der Wissenschaften in Berlin Angela Merkel selbst kann sich nicht an de sich am liebsten vollständig in das und besuchte an jenem Wochenende ihre das Treffen im Spätsommer 1989 erinnern. Gemälde zurückziehen. Es ist kompliziert, Eltern in Templin. Ihr Vater „Wenn Nooke und die andern sagen, ich in eine Geschichte zu schlüpfen, die gar leitete das Kolleg, auch ihr Bruder Marcus sei dabei gewesen, wird’s wohl so gewesen nichts mit der eigenen zu tun hat. Es ist ein Kasner, ebenfalls ein Physiker, saß in der sein“, sagt sie. „Bei meinem Vater war ja Leben wie in einem Zeugenschutzpro- Runde, die diesmal kaum über ethisch-phi- immer viel los.“ gramm. losophische Probleme der Naturwissen- Fast auf den Tag genau 20 Jahre nach Sie erzählt, wie sie auf ei-

RALPH RIETH (O.L.); FOTOARCHIV JUPP DARCHINGER IM ADSD DER FES (O.R. + L.2.V.O.);KLAUS MEHNER (L.3.V.O.); FRANK AUGSTEIN / AP ( AUGSTEIN FRANK MEHNER (L.3.V.O.); + L.2.V.O.);KLAUS IM ADSD DER FES (O.R. JUPP DARCHINGER FOTOARCHIV RIETH (O.L.); RALPH schaften stritt, sondern darüber, ob es auch dem Templiner Wochenende sitzt sie am ner Amerika-Reise am Anfang ihrer poli-

46/2009 57 Gesellschaft tischen Karriere vor Journalisten fragte, erlahmt.“ Sie blieb dennoch. Der Westen der Akademie. Er hat geholfen, die Woh- was sie denn damals von ihm gehalten war nur eine Rückversicherung, sagt sie, nung zu renovieren, die Angela Merkel be- habe, zu DDR-Zeiten. Sie stockte, wurde wenn es mal ganz schlimm kommen sollte. setzte, nachdem sie sich von ihrem ersten rot, sie konnte nur an eine große Birne Michael Schindhelm sagt, sie hätten sich Mann trennte, und er hat sogar überlegt, denken, die Karikatur eines Kanzlers. Sie in einer Art Speicherschlaf befunden. Es sie für seine Partei zu werben, die SED. hatte ja nie mit ihm zu tun. Da waren kei- ging in ihren Gesprächen und in ihrem Osten redet heute nur noch widerwillig ne Abhängigkeiten, Wünsche oder Bin- Denken nicht pausenlos um politische Ver- über diese Dinge, weil er befürchtet, eine dungen, kein ostdeutsches Mädchen war hältnisse, sagt er, und schon gar nicht dar- Fußnote im Lebensbuch der ersten deut- Kohl-Fan, nicht mal eines, das Kunstpost- um, sie zu verändern. Sie hätten kein ag- schen Bundeskanzlerin zu werden, ein karten sammelte und Diktatorennamen gressiv kritisches Verhältnis zur DDR ge- kleiner Widerhaken. Er hat ein eigenes auswendig lernte. Wenn es überhaupt ei- habt, eher ein distanziertes. Sie hielten sich Leben. Er hat in Polen Physik studiert, be- nen westdeutschen politischen Helden in aus dem Glutkern heraus, sagt er. Angela vor er an der Akademie anfing, er war zu ihrer Jugend gab, dann war das Willy Merkels Lebensgefährte Joachim Sauer DDR-Zeiten ein Jahr an einem Institut in Brandt. Sie sagt schnell, wie gut ihr gefal- beispielsweise sei damals ein Vorbild für sie Chicago, und als er zurückkam, wollte ihn len habe, dass Kohl die Teilung Deutsch- gewesen, ein Mann, der an der Akademie niemand mehr einstellen, ohne dass er je- lands nie akzeptierte. Aber das klingt so, anerkannt war, ohne irgendwelche poli- mals die Gründe erfuhr. Er organisierte die als wolle sie nicht vollständig aus der Rol- tischen Zugeständnisse zu machen. Sauer größte Wendedemonstration in le fallen. habe seine kleine Welt mit klassischer Mu- (Oder), wo er im Halbleiterwerk unterge- „Auf welche Traditionen soll sie sich sik ausgestaltet. Die Wagner-Oper als Ni- kommen war. Er ist heute Professor in auch berufen?“, fragt Michael Schindhelm, sche. Die Nische, sagt Schindhelm, war ein Hannover. Auch er ist ein Physiker mit der in den achtziger Jahren mit Angela Inkubator für ihr heutiges Leben. Wendevergangenheit, aber als Zeitzeuge Merkel an dem kleinen Akade- ist er nur der Mann, der bestätigen mieinstitut in Adlershof zusam- kann, dass Angela Merkel Agita- menarbeitete. „Die Westdeutschen torin der FDJ-Gruppe war, die er tun immer so, als seien wir in ir- leitete, und nicht Kultursekretärin, gendwelchen Massai-Dörfern in wie sie behauptet. Tansania aufgewachsen, aus deren Es gehe ihm nicht darum, An- Wurzeln wir unsere Lebenskraft gela Merkel anzugreifen, sagt ziehen. Aber bei mir war da nur Osten, er will nur genau sein. Viel- Leere. Wir hatten keine ostdeut- leicht freut er sich, dass es ein Pro- sche Identität. hat pagandist im Westen ganz nach bei seinem Kölner Konzert pau- oben schaffen kann, aber er hat senlos Hölderlin zitiert, weil er in die Dinge nicht mehr in der Hand. eine romantische Zwischenwelt ge- Alles, was er sagt, gerät in einen flüchtet ist, die jenseits aller politi- Kontext, in dem Agitation und schen Sphären der DDR lag. Die- Propaganda klingen wie scharfe ses Gefühl der unvollständigen Waffen. Es ist weder sein Kampf kulturellen und politischen Iden- noch der von Angela Merkel, aber tität hatten auch wir beide, Ange- was sollen sie machen. la und ich“, sagt Schindhelm. „Nach meiner Erinnerung war „Romantische Zwischenwelt?“, ich Kultursekretärin. Aber was sagt Angela Merkel und schaut weiß ich denn? Ich glaube, wenn ungläubig. „Ich weiß nicht. Ich Menschenrechtsbeauftragter Nooke ich 80 bin, weiß ich gar nichts

habe unter der umfassenden Enge THIEL CHRISTIAN mehr“, sagt sie. Ulrich Wilhelm gelitten, darunter, dass man den „Wenn er und die anderen sagen, ich sei tippt irgendetwas in sein Handy. ganzen Tag irgendwas plappern Nach den letzten Umfragen musste. Der Deutschlandfunk dabei gewesen, wird’s wohl so gewesen sein.“ schmilzt die Mehrheit. Jetzt nur bringt ja jetzt in diesen Tagen mor- keine Fehler mehr machen, hat er gens immer diese ‚Mauersplitter‘. Heute Schindhelm hat viel Energie gespeichert vorhin im Foyer des Bundeskanzleramts ging es um den Erlass von Honecker an in seinem DDR-Schlaf, sie hat ihn aus sei- gesagt, die kann man nicht mehr aus- die Genossen Kreissekretäre. Wenn ich nem alten Leben im Zickzackkurs in die bügeln. heute allein diese Sprache höre! Mit der Welt geschossen wie einen Harzer Knaller. Ausflüge in ihre Vorwendevergangen- mussten wir uns damals jeden Tag be- Er leitete Theater in Nordhausen, Gera heit sind wie Ausflüge auf unregelmäßig schäftigen. Ein Wunder, wie man das über- und Basel, eine Opernstiftung in Berlin zugefrorene Seen. Anfang der neunziger haupt wieder verlernen konnte. Gelitten und eine Kulturorganisation in Dubai, im Jahre hat sie in einem Gespräch mit Gün- habe ich darunter, dass von der Tischdecke Moment lebt er in Rom und im Tessin. Er ter Gaus gesagt, dass sie gern in der FDJ bis zur Gardine alles hässlich war. Man hat blickt aus großer Entfernung auf jene Jah- war. Man kann sich das auf alten Video- immer nur gedacht, wo kriegste jetzt die re zurück, er beschreibt sie mit Worten, bändern ansehen, aber man glaubt es nicht nächste vietnamesische Bastmatte her?“ die er über die Zeit in Stein meißelte. mehr. Es wirkt heute, 18 Jahre später, wie Sie erzählt, wie es sie bedrückte, nach Jeder pickt sich aus Merkels Leben das, ein Versprecher, und sie weiß das. An man- den Leipziger Studienjahren ihr Arbeits- was am besten zu seinem eigenen passt. chen Tagen scheint das Eis schon so dick leben in Berlin zu beginnen. Es war Und ihr Leben gibt das her. Hans-Jörg zu sein, dass man darauf tanzen kann. Vor Herbst, die Tage wurden kürzer, sie fuhr Osten erinnert sich an eine junge Frau, die ein paar Wochen fand eine dieser vielen im Dunkeln los und kam im Dunkeln wie- sich eifrig in der FDJ-Gruppe der Akade- Wendeveranstaltungen in der Berliner der zu Hause an, kämpfte um irgendwel- mie engagierte, die er leitete. Sie waren CDU-Zentrale statt. Es gab ein paar Ge- che Raritäten beim Einkaufen, sagt sie, aß, nicht zufrieden, aber auch nicht hoff- sprächsrunden mit Schülern, die in der schlief und fuhr wieder los. nungslos, sagt er. Sie organisierten Streit- Wendezeit geboren wurden, und ein paar „Da habe ich gedacht, jetzt ist dein gespräche im FDJ-Studienjahr und waren historische Ostfiguren. , Leben zu Ende. Irgendwann ist die Kraft zusammen Betreuer im Kinderferienlager die den Demokratischen Aufbruch mitbe-

58 der spiegel 46/2009 Gesellschaft gründete, war da, die CDU-Politiker Ar- te mich nicht aufraffen, bei den Bürger- nold Vaatz und Lothar de Maizière. An- bewegungen mitzumachen. Ich bin mal zu gela Merkel rauschte in den Saal, schüttel- Eppelmann in die Samariterkirche gegan- te ein paar Hände, hielt eine kurze Rede, gen, aus Solidarität, weil man da eben hin- und dann ging das Licht aus, man sah Bil- ging, wenn man mit der DDR nicht kon- der von Ruinen, Rosinenbombern, Mau- form war.“ erbau, Stacheldraht, Chruschtschow, Ro- Mit vielen Leuten in der Berliner Bür- nald Reagan und dann Fanfaren: Helmut gerbewegung konnte sie nichts Richtiges Kohl am Reichstag, Feuerwerk, und Ange- anfangen, das war ihr alles viel zu schwär- la Merkel, die erste ostdeutsche Kanzle- merisch, zu pazifistisch, zu links, und sie rin, auf Staatsbesuch. Die deutsche Nach- mochte auch die Radtouren nicht. Als die kriegsgeschichte in vier Minuten. Als das Mauer fiel, ging sie in die Sauna. Danach Licht wieder anging, war Angela Merkel lief sie mit dem Kulturbeutel nach West- verschwunden, zur Geburtstagsfeier von Berlin, saß mit irgendwelchen fröhlichen Helmut Schmidt. Hildigund Neubert er- Leuten in einem Weddinger Wohnzimmer, klärte einer Schülerin aus Pankow das aber nur kurz, weil sie ja am nächsten Tag Leben in der Diktatur. wieder arbeiten musste. Am ersten Sams- Hildigund Neubert lebte in den Wende- tag nach dem Mauerfall besuchte sie eine jahren zusammen mit ihrem Mann Erhart Geburtstagsfeier in der Bornholmer Stra- und ihren drei kleinen Söhnen in einer ße, sagt sie, und wunderte sich, dass alle so Wohnung in der Ost-Berliner Wilhelm- bekümmert waren, weil nun der Dritte Pieck-Straße, die heute Torstraße heißt. Weg verschüttet war und alle in den Wes- Die Wohnung gehörte der evangelischen ten rannten. Sie dagegen freute sich von Kirche, für die Erhart Neubert als Pfarrer ganzem Herzen über die neuen Möglich- arbeitete, und sie ist, wenn man so will, ein keiten, ärgerte sich, dass Helmut Kohl historischer Platz. Dort wurde am 1. Ok- vorm Schöneberger Rathaus ausgepfiffen tober 1989 der Demokratische Aufbruch worden war, und begriff langsam, dass sie gegründet. 17 Aufrechte versammelten sich anders tickte als ihre Freunde, sagt sie. in der Wohnung, draußen auf der Straße Mitte November fuhr Angela Merkel auf patrouillierte die Staatssicherheit. Hildi- eine Dienstreise nach Polen, danach ging gund Neubert war mit den Kindern zu sie auf Parteientour. Sie sah sich die Grü- Freunden an den Berliner Stadtrand ge- nen an, das Neue Forum und besuchte zu- fahren, weil sie befürchtete, gemeinsam sammen mit ihrem Akademiekollegen mit ihrem Mann verhaftet zu werden. Die Klaus Ulbricht eine SPD-Veranstaltung in Kinder waren noch sehr klein damals, sagt einer Neuköllner Kirche. Ulbricht blieb da sie. Sie sollten nicht beide Eltern auf ein- hängen, wie sie das nennt, er wurde später mal verlieren. Sie kam spät in der Nacht SPD-Bezirksbürgermeister von Köpenick. nach Hause, als die Partei bereits gegrün- Angela Merkel aber erschien die SPD zu det war, in der zweieinhalb Monate später fertig, zu eingefahren, zu langweilig. Sie Angela Merkels politische Karriere begin- redeten über Kinderspielplätze und duzten nen sollte. sich, sagt sie. Sie zog weiter, irgendwann, Die meisten der 17 Gründungsmitglie- wahrscheinlich Ende Dezember, stand sie der haben Angela Merkel nie getroffen. in der Marienburger Straße 12 vor einem Sie fühlten sich schon nicht mehr zu Hau- Laden, in den der Demokratische Auf- se im Demokratischen Aufbruch, als sie bruch eingezogen war. Sie kann sich nicht dazukam. Vielleicht ist das kein Zufall. In erinnern, wie sie dort hinkam, sagt sie, sie den knapp drei Monaten von Oktober bis stand einfach da. Es klingt schlafwandle- Dezember ’89 entwickelten sich der De- risch. Man erwacht nur langsam aus so ei- mokratische Aufbruch und Angela Merkel nem langen Speicherschlaf. aufeinander zu, bis sie füreinander in Fra- Sie ging hinein und fragte einen Mann, ge kamen. ob sie irgendwas helfen könne. Es wird kaum hell, wenn sie darüber Klar, sagte der Mann. spricht. Es war dunkel, wenn sie zur Arbeit Sie weiß nicht mehr, wer das war. Sie fuhr, und dunkel, wenn sie nach Hause weiß nur noch, dass er einen Bart trug. Sie kam. Sie springt auf den zugefrorenen In- setzte sich einen Moment hin und beob- seln durch die flüssige, schwarze Zeit. In achtete den Laden. Das Chaos gefiel ihr, den Tagen um den 7. Oktober besuchte sie sagt sie. Sie hatte den Eindruck, gebraucht ein- oder zweimal die Gethsemanekirche zu werden. Gleich in der ersten Woche be- in Prenzlauer Berg, sagt sie. Da war ihre suchte sie eine Vorstandssitzung, die in den Gemeinde, da war ihr Familienkreis, da Räumen der Volkssolidarität in der Christ- ging sie auch manchmal zum Gottesdienst, burger Straße stattfand. Andreas Apelt, der aber nicht oft. damals zu den Wortführern des Demokra- „Zwischen Oktober und Dezember? Tja, tischen Aufbruchs gehörte, erinnert sich, ich weiß auch nicht“, sagt sie. „Ich war dass sie schweigend und skeptisch in der Beobachterin, ich hab dem Braten noch Ecke saß. Er war sich sicher, dass sie nie nicht so ganz getraut. Das war nicht meine wiederkommen würde. Aber sie kam wie- Sache, so kurz vor Toresschluss noch ab- der und blieb. Sie kümmerte sich um die zuhauen. Aber ich war noch nicht ent- neuen Computer, die gerade aus dem Wes- schlossen, mich zu organisieren. Ich konn- ten eingetroffen waren. Sie packte sie aus

der spiegel 46/2009 61 Gesellschaft und schloss sie an. Das war ihre erste mals. Sie lacht. Einen Moment lang, wäh- Der Osten der Bürgerrechtler war ein Aufgabe. rend draußen der Berliner Feierabendver- Dschungel, und Volker Rühe blinzelt heu- „Ich fand die wabernde politische Lage kehr summt, stellt man sich vor, dass es te noch nervös, wenn er sich an die Kon- da spannend“, sagt sie. „Die waren nicht diese stille Frau mit den dunklen Augen ge- taktaufnahme mit den Wilden erinnert. Er so entschieden links wie beim Neuen Fo- worden wäre und nicht die abwägende Pas- traf sich mit in irgendei- rum oder bei Demokratie Jetzt. Es gab torentochter aus der Uckermark. Aber sie ner Discothek zum Tanzen. Lothar de Mai- auch konservative Strömungen. Das ganze hatte ja kein Telefon, sagt Sonja Süß, sie zière, der gerade zum neuen Vorsitzenden Prozedere war nicht so furchtbar basisde- saß in Leipzig, und sie hörte auch nie auf, der Ost-CDU gewählt worden war, erzähl- mokratisch, es war bodenständiger. Außer- Ärztin zu sein. Wahrscheinlich war sie ein- te ihm unentwegt von Militärisch-industri- dem waren da interessante Personen.“ fach zu früh dabei. Sonja Süß hätte Posi- ellen Komplexen im Kapitalismus. Das war Die interessanten Personen waren ne- tionen und Ideale verraten können, die alles verstörend, fremd und durcheinan- ben Andreas Apelt, einem jungen Histori- Angela Merkel nie vertreten hat. der. Um ein bisschen Ordnung hineinzu- ker, der als Friedhofsgärtner arbeitete, und In den Tagen, als Merkel in der Marien- bringen, dachte sich Rühe die „Allianz für der Berliner Publizistin Daniela Dahn, burger Straße anklopfte, traf Sonja Süß Deutschland“ aus, wo neben DSU und der , ein rhetorisch be- Helmut Kohl in . Der Bundes- Ost-CDU auch der Demokratische Auf- gabter Pfarrer aus Wittenberg, Rainer Ep- kanzler empfing am Rande seines Riesen- bruch zur Volkskammerwahl antraten. pelmann, ein kämpferischer, bärtiger Pfar- auftritts eine Gruppe handverlesener Bür- Angela Merkel hatte mit alldem nichts rer aus Friedrichshain, Edelbert Richter, gerrechtler in einem Konferenzraum des zu tun. Im Januar 1990, als sie alle Com- ein Erfurter Pfarrer, der sich mit Marx aus- Hotels Bellevue. Sonja Süß vertrat zusam- puter angeschlossen hatte, waren die Grün- kannte, Erhart Neubert, der Pfarrer aus men mit Wolfgang Schnur den Demokra- dungsmitglieder, die einen demokratischen der Wilhelm-Pieck-Straße, und Wolfgang tischen Aufbruch. Sie sagt, dass Schnur Sozialismus wollten, weg und der Demo- Schnur, ein Dissidentenanwalt mit kratische Aufbruch die große Kon- Krawatte und großer schwarzer servative unter den Bürgerbewe- Brille, der, wie sich wenig später gungen. herausstellen sollte, Informeller „Angela hat sich die Glaubens- Mitarbeiter der Staatssicherheit kämpfe gespart“, sagt Rainer Ep- war. pelmann. „Sie hat damals nicht ge- Das Parteiprogramm stammte sagt, was sie wollte, aber das kann vom Marx-Experten Richter, das man ihr jetzt nicht vorwerfen. Sie Statut schrieb Schnur, vermutlich hat gemacht, was man ihr gesagt in Abstimmung mit seinem Füh- hat. Sie war ’n junget Mädel. Al- rungsoffizier. lerdings nicht so jung, wie ick Auf dem Parteitag des Demo- dachte. Ein politisches Gen habe kratischen Aufbruchs, der Mitte ick nicht gesehen, aber wir waren Dezember in Leipzig stattfand, ex- auch alle sehr mit uns selbst be- plodierte die Partei fast. Es waren schäftigt.“ Fernsehteams und Politiker aus Eppelmann sitzt in seinem Büro dem Westen da und Delegierte aus in der Stiftung zur Aufarbeitung Thüringen und Sachsen, die deut- der SED-Diktatur in Berlin-Mitte. lich konservativer waren als die Es ist morgens um zehn, aber im- Gründungsväter aus der evangeli- L mer noch nicht richtig hell. Er sagt, schen Kirche des Nordens. Sie for- dass er nicht viel Zeit habe, ein TIAN THI E derten lautstark, das Wort Sozia- Anwalt Lothar de Maizière S wichtiger Mittagstermin. Er habe lismus aus dem Programm zu CHR I viel zu tun, sagt er. Er mache das streichen und dafür die deutsche „Angela, du sprichst Russisch. Geh raus, alles ehrenamtlich, weil man nie Einheit als Ziel zu formulieren. Er- vergessen dürfe, was in diesem win Huber redete irgendwelches und frag die Leute, wie die Lage ist.“ Land passiert sei. Er habe Angela Zeug, und Friedrich Schorlemmer Merkel zum 20-jährigen Jubilä- stürzte aus dem Versammlungsraum, um in wie elektrisiert von Kohl war. Helmut Kohl um des Schweriner Parteitags vom Demo- die wartenden Fernsehkameras zu spre- brachte die Autorität in den Raum, nach kratischen Aufbruch 2010 eine Einladung chen: Mit dieser nationalistischen Partei der der schwergestörte Wolfgang Schnur geschickt. Das sei jetzt acht Wochen her, habe ich nichts mehr zu tun! In einer ein Leben lang suchte, sagt Sonja Süß. Er sie habe noch nicht mal geantwortet. wilden Abstimmung wurde Wolfgang habe den Kanzler regelrecht angehimmelt. „Wir könnten es ohne sie machen, Schnur zum Vorsitzenden des Demokrati- Sonja Süß ermahnte Kohl, endlich die natürlich, aber es wäre eine Geste“, sagt schen Aufbruchs gewählt, seine Stellver- Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen, Wolf- . treterin wurde Sonja Schröter, eine junge gang Schnur warf sich ihm in die Arme. „Sie gehörte nicht zu den ersten 500, Ärztin aus Leipzig. Ein IM der Staatssicherheit führte die Par- nicht zu den ersten 5000, nicht zu den „Ich habe mich einfach gemeldet, so wie tei des Demokratischen Aufbruchs in den 50000, nicht mal zu den 2 Millionen, die ich mich sonst zum Nachtdienst in der Uni- Schoß der West-CDU, die händeringend vor dem 9. November auf der Straße wa- Klinik meldete“, sagte Sonja Schröter, die nach einem Partner in Ostdeutschland such- ren, um zu sagen: ,Is allet Scheiße.‘ Is nicht heute Süß heißt und als Psychotherapeutin te. Kohl beauftragte seinen Generalsekretär schlimm, aber auch kein Grund, alles zu in Berlin-Wilmersdorf arbeitet. Volker Rühe mit der Brautschau. Rühe aber vergessen. Ich weiß nicht, ob Angela und Sie sitzt in dem kleinen Sprechzimmer, kannte niemanden im Osten außer Erich Thierse den Druck ausgehalten hätten, den der Teppich zwischen dem Therapeuten- Honecker, mit dem er sich Mitte der Acht- wir aushalten mussten.“ und Patientenstuhl ist grün wie Gras. Sie ziger in Berlin getroffen hatte. Er hatte im Als die Gesprächszeit vorbei ist, kommt sagt, dass die Partei plötzlich nach rechts Palasthotel gewohnt, er hatte den Alexan- ein junger Mann mit einer großen Map- rückte und sie dagegenhalten wollte. Sie derplatz gesehen, das Schloss Sanssouci und hätte fast gewonnen, vier Stimmen nur als Jugendlicher mal gegen eine Mecklen- fehlten, so ein Zufall. So war die Zeit da- burger Auswahl Handball gespielt.

64 d er s p i e g e l 4 6 / 2 0 0 9 Gesellschaft pe vorsichtig ins Büro. In der Mappe klebt rienburger Straße. Die zerschossenen Fas- nur ein kleiner gelber Zettel, auf dem saden in Prenzlauer Berg, die bärtigen steht, dass der wichtige Mittagstermin Männer, die qualmenden Autos; CSU-Mi- ausfällt. nister Warnke fühlte sich, als sei er ins Wie geht’s danach weiter?, fragt Eppel- Herz der Finsternis gereist. Er war aufge- mann. regt wie ein kleiner Junge und dankbar, Wir haben erst mal nichts, sagt der jun- das alles erleben zu dürfen. Maaß wurde ge Mann. Ostexperte der CDU. Er organisierte für Eppelmann nickt, streicht sich mit den den ostdeutschen Nachwuchs Politiksemi- Händen über seine weiche Weste und sagt: nare in West-Berlin, und Angela Merkel „Wir haben uns verbraucht. Im juten Sin- war eine seiner eifrigsten Schülerinnen. ne verbraucht.“ Wahrscheinlich kam ihr die Führung des Angela Merkel kann sich nicht an die Demokratischen Aufbruchs anschließend Einladung von Eppelmann erinnern. Sie noch dilettantischer vor. Als der fahrige wird ja jetzt, in dem Jahr, das mit deut- Wolfgang Schnur einen Termin mit Bonner schen Jubiläen nur so vollgestopft ist, zu Journalisten vergessen hatte, sagte sie ihm, vielen Dingen eingeladen. Sie kann nicht dass eine richtige Partei auch einen richti- zu allem hingehen, und sie glaubt wohl gen Pressesprecher brauche. auch nicht, dass sie ihre Karriere auf dem Dann machen Sie das, sagte Schnur. Fundament aufbaute, das Männer wie Ep- Können Sie das einfach so festlegen?, pelmann gossen. Oder zumindest glaubt fragte sie. sie nicht so fest daran wie er. Männer wie Selbstverständlich, sagte Schnur und Eppelmann und auch Schorlemmer, der rannte weiter. heute ganz ähnliche Sachen über sie sagt, Es war ihre erste Funktion, das politi- kannte sie eigentlich schon als Kind. Von sche Leben griff nach ihr, und sie beriet zu Hause. sich mit ihrem Mann, Joachim Sauer, ob sie Friedrich Schorlemmer sitzt in seiner weitermachen sollte. Wohnung in Wittenberg wie ein Ausstel- „Er hat mir zugeraten“, sagt sie. „Er lungsstück, zwischen Jugendstiltischchen hatte die Sorge, dass wieder nur die Leute, und Sekretären, auf denen sich Papierber- die früher in der Politik waren, alles ge türmen. Es gibt den alten Plattenspieler übernähmen. Er hat gesagt: ,Mach mal.‘ und das Radio Rema Andante, die Platten Es war klar, dass er von uns beiden der stapeln sich auf dem Fußboden, es gibt die leidenschaftlichere Wissenschaftler war.“ Karaffe mit dem schweren Wein, die bis Das war der erste, grobe Plan. Ein Fa- unter die Decke vollgestopften Bücher- milienplan. Du machst das. Ich mach das. regale, die getrennten Zeitungsstapel von Jeder, was er kann. Dann sehen wir weiter. „Süddeutscher Zeitung“ und „Neuem Als feststand, dass es im März freie Volks- Deutschland“, die er abonniert hat, da- kammerwahlen geben würde, ließ sich An- zwischen thront der Hausherr, lächelnd, gela Merkel von der Akademie der Wis- mit lockigem Haar, der die Welt in Gut senschaften vorübergehend freistellen. und Böse einteilt, der lustig ist und char- Wenige Tage vor der Wahl tauchte bei mant und klug und unnachsichtig, wenn Volker Rühe im Bonner Adenauer-Haus es um die Konkurrenz geht. „Eppelmann ein Journalist auf und erklärte, dass Wolf- hat ja ein Buch schreiben lassen“, sagt gang Schnur IM der Staatssicherheit sei. Er Schorlemmer. „Keine Ahnung, ob das je- bat Rühe, das für sich zu behalten. Ha, ruft mand wahrgenommen hat.“ Zweimal ruft Rühe, für mich behalten! Drei Tage vor jemand an. Einmal ist es der Weinhändler, der Wahl! Er informierte sofort Helmut einmal jemand, der eine Jubiläumsveran- Kohl. Kohl rief von der staltung organisiert, auf der er reden soll. Berliner CDU an und forderte den offi- Er hat Angela Merkel später einmal im ziellen Rücktritt von Schnur. Diepgen fuhr Rias-Gebäude getroffen, sagt er und lacht. mit seinen Kollegen Thomas de Maizière Sie fuhr mit dem Paternoster nach oben, er und Bernd Neumann ins Berliner Hedwig- nach unten. Sie hat sich in der Wende auch Krankenhaus, in das sich Schnur zurück- von diesen Männern befreit. gezogen hatte, um den DA-Vorsitzenden „Sie kommt aus einem protestantischen zum Rücktritt zu bewegen. Pastorenhaushalt. Da redet der Pfarrer „Schnur war regelrecht erleichtert“, sagt am Frühstückstisch, aber am Ende ent- Thomas de Maizière. „Er bestand sogar scheidet seine Frau, was gemacht wird“, darauf, die Rücktrittserklärung persönlich sagt Hans-Christian Maaß, der zu den zu schreiben. Es war ein Vormittag, so ge- wenigen Bonnern gehörte, die die DDR gen neun oder zehn, für zwölf beriefen wir kannten. eine Sitzung der Fraktion des Abgeordne- Maaß wuchs in einem ostdeutschen tenhauses der West-Berliner CDU ein. Das Pfarrhaus auf, wurde als junger Mann in war natürlich ein Fehler, es hätte was im die -Haft gesteckt, 1974 in den Westen Osten stattfinden müssen. Aber so weit ha- freigekauft und arbeitete im Herbst 1989 ben wir damals nicht gedacht.“ als Sprecher des CSU-Verkehrsministers De Maizière sitzt in seinem Büro im Jürgen Warnke in Bonn. Im Dezember Kanzleramt und lächelt entrückt. Er kann führte Maaß seinen Minister zum Laden sich nur vage daran erinnern, dass Angela des Demokratischen Aufbruchs in der Ma- Merkel damals bei der CDU-Sitzung dabei

der spiegel 46/2009 67 Gesellschaft war. Seltsam, jetzt ist sie seine Chefin. Sie Matthias Gehler glaubt, dass Angela zu können, dankend und gerne an.“ Sie hat ihn hierhergeholt auf ihre Etage im Merkel ihr altes Leben endgültig hinter hat sogar die Uhrzeit notiert, als sei sie Kanzleramt, und in ein paar Wochen wird sich ließ, als sie ihm schrieb, dass sie das sich ihrer historischen Entscheidung be- sie ihn zum Innenminister machen. Da- Angebot, stellvertretende Regierungsspre- wusst gewesen. Wenn Gehler recht hat, mals war sie eine unscheinbare Frau in ei- cherin zu werden, annehme. Gehler wur- kann man ganz genau sagen, wann Angela nem verschossenen Rock, die einfach sit- de ihr Chef. Er war Mitte dreißig und hat- Merkels neues Leben begann. Am 9. April zen blieb, als Diepgen aus dem Kranken- te ein bewegtes Leben hinter sich. Er war 1990, 20 Uhr. haus gerauscht kam und rief: „Jeder, der Theologe, Liedermacher, er hatte Bibeln „London?“, sagt Angela Merkel. „An hier nicht hergehört, raus!“ in die Sowjetunion verschickt und arbeite- London kann ich mich nicht erinnern. Ich Sie hat viel gelernt an diesem Tag, sagt te seit dem Ende der achtziger Jahre als weiß noch, dass ich mit meinem Mann Angela Merkel. Sie kann kaum reden vor Redakteur des CDU-Zentralorgans „Neue nach Sardinien gefahren bin, als die Verei- Lachen, wenn sie erzählt, dass sie an jenem Zeit“, wo er zuerst das Treptower Konzert digung der Volkskammer war. Ich hab de- Morgen ein Pressefrühstück organisiert von Bob Dylan rezensiert hatte und später nen gesagt, dass ich es nicht machen kann, hatte, in dem das Verhältnis des Demo- dem künftigen Ministerpräsidenten Lothar wenn ich zur Vereidigung dabei sein muss. kratischen Aufbruchs zur europäischen de Maizière auffiel. Gehler kannte Angela Das kann man sich heute auch nicht mehr Frage dargestellt werden sollte. Sie muss Merkel nicht, sie machte einen aufge- vorstellen. Aber ich wollte unbedingt nach immer wieder aufhören, so komisch fin- weckten Eindruck, aber sie zögerte, sagt er. Sardinien.“ det sie sich selbst, wenn sie sich beschreibt, Sie wollte erst mal nach London fahren Sie bezweifelt, dass ihr neues Leben in damals, so ohnmächtig, so unverhältnis- und nachdenken. der Pressestelle der Volkskammer begann. mäßig. Die Maus und Europa. Mitten in Gehler wartet in einem Café Unter den Sie hatte ja immer noch den Schreibtisch in ihr Frühstück platzte die Nachricht von Linden, er ist zur Funkausstellung nach der Akademie, sagt sie. Es gab immer noch Schnurs Rücktritt. Sie hatte einen Weg zurück, aber der wurde Schwierigkeiten, Eppelmann ans immer länger. Sie leckte Blut. Sie Telefon zu bekommen, der ja flog mit Lothar de Maizière nach plötzlich zum ersten Mann der Moskau und Washington. Sie Partei geworden war. Wenn sie nahm an den Zwei-plus-Vier-Ge- durchkam, brüllte Eppelmann nur, sprächen teil, sie saß mit Thomas er lasse sich von den Westlern gar de Maizière am Katzentisch, als nichts sagen. Und in den Westen der Ostler Günther Krause und fahre er sowieso nicht. So fuhr sie. der Westler Wolfgang Schäuble Am Nachmittag dann gab es eine den Einigungsvertrag verhandel- Pressekonferenz im Haus der De- ten. Sie verkaufte die Politik der mokratie. Der Ansturm war gigan- Männer, und wahrscheinlich ver- tisch. Angela Merkel begriff zum stand sie dadurch immer besser, ersten Mal, worauf sie sich wirklich wo deren Schwächen lagen. eingelassen hatte. Sie war oft von der Laune der Sie rief ihren Mann an, um sich anderen abhängig, der Kerle. beruhigen zu lassen. Sie bespra- Krause, de Maizière, Gehler, Dies- chen, was sie sagen würde. Bei der tel, sie schienen Politik manchmal Pressekonferenz hatte sie sich wie- zu spielen wie Räuber und Gen- der halbwegs im Griff, Eppelmann L darm. Thomas de Maizière war saß blass neben ihr. Sie ist ihm nicht ziemlich herrisch, Maaß sagte ihr TIAN THI E positiv aufgefallen, aber auch nicht S dauernd, was sie machen soll. negativ, sagt Thomas de Maizière. CHR I Dazu kamen die ganzen kleinen, Das war schon was für einen Ostler. emsigen Westpraktikanten. Es war Angela Merkel war in diesem oft laut, hektisch und unberechen- Moment Teil einer Entscheidung, bar. Gehler träumte von seinen die ganz tief und ganz oben im Kinderkonzerten und sang manch- Westen getroffen worden war. Sie war, Berlin gekommen, denn er arbeitet heute mal ein paar Strophen aus seinem Reper- noch bevor der Osten zum ersten Mal frei im Erfurter Landesfunkhaus des MDR, wo toire. Lothar de Maizière spielte auf dem gewählt hatte, Rädchen eines gesamtdeut- er nach dem Ende der DDR unterkam. Weg zum Mittagessen gelegentlich auf ei- schen Politikgetriebes. Womöglich haben Schon nach ein paar Wochen als Regie- ner imaginären Bratsche und rief, dass er sie deswegen an sie gedacht, als sie eine rungssprecher war klar, dass Gehler keine endlich wieder ein richtiges Leben wolle. stellvertretende Pressesprecherin für die große Politikkarriere machen würde. Die Sie hatte nicht immer den Eindruck, dass erste frei gewählte Volkskammer suchten. effiziente, direkte Art seiner Stellvertrete- alle das wirklich als Aufgabe für sich an- Es gibt verschiedene Versionen, und am rin zeigte seine Schwächen. Er brauchte genommen hatten. Das störte sie. Ergebnis ihrer Partei kann es nicht gelegen zu lange, um zum Punkt zu kommen, sa- Lothar de Maizière lächelt, als er das haben. Der Demokratische Aufbruch be- gen die Kollegen von damals. Angela Mer- hört. Als er in die Politik ging, hat er seiner kam bei den ersten freien Wahlen der DDR kel hinterging ihn nicht, sie war besser, Kollegin in der Kanzlei gesagt: Roswitha, 0,9 Prozent. Angela Merkel erinnert sich und womöglich ist er deshalb so fest davon halt meinen Schreibtisch frei. Ick komme nur noch, wie sie in der Wahlnacht von ei- überzeugt, dass ihr neues Leben in seiner wieder. ner Party zur anderen taumelte und wie Abteilung begann. Er ist von der Besten Die Volkskammer-Zeit ist nur noch eine scheußlich sie die weißen Schuhe vom geschlagen worden, immerhin. Anekdote, die er ständig poliert wie eine Bauernpartei-Vorsitzenden Günther Ma- Gehler hat den Brief dabei. Mit runden, alte Taschenuhr. Manchmal hat man den leuda fand, der im Palast der Republik den kippligen Mädchenbuchstaben steht da: Eindruck, er singt die Geschichten, die er Wahlsieg der CDU feierte. „Sehr geehrter Herr Gehler, nach kurzem von damals erzählt. Es sind Balladen, in Weiße Schuhe mit grauen Socken. Al- Überlegen und Rücksprache mit meinem lein für deren Verschwinden lohnte sich Vorsitzenden nehme ich das Angebot, stell- der ganze Kampf. vertretender Regierungssprecher werden

68 d er s p i e g e l 4 6 / 2 0 0 9 denen Gorbatschow und Bush vorkom- gend nach einem Schnaps verlangt hatte. Flur. Aber er hat eine Espressomaschine men, Kohl und Tausende Tonnen Getreide, Vielleicht war das der Punkt, an dem sie und kann jederzeit eine Nadel in die Welt- die er kostenlos an die Sowjetunion ver- beschloss, mit dem begabten aber maß- karte über seinem Sofa stecken und da hin- schickte. Er zitiert Gysi, Moses und Bon- losen Krause auch das letzte Stück Osten fliegen, um sich dort die Menschenrechts- hoeffer und immer wieder Gorbatschow, hinter sich zu lassen. Vielleicht kann man situation anzugucken. Er wirkt nicht un- den er Mischa nennt, den faulen Bären. es auch nicht so genau sagen, aber eine vor- zufrieden, nur ein bisschen grummelig. Und Angela Merkel? beieilende Sekretärin mit einem Schnaps- Hans-Jürgen Fischbeck saß ein paar Jahre „Einmal, 1990, hab ich sie mit nach Mos- glas ist eigentlich ein schönes Bild für einen lang für das Bündnis 90 im Berliner Stadt- kau genommen und gesagt: Angela, du Neuanfang. parlament und hat kurz nach dem Millen- sprichst Russisch. Geh raus, und frag die Am 31. August 1990, auf der letzten nium mit seiner Frau und zehn anderen Leute, wie die Lage ist.“ Hauptausschusssitzung des Demokrati- Mitstreitern eine Kommunität in der Ucker- Und was haben die Leute gesagt? schen Aufbruchs, bat Angela Merkel ein mark gegründet, die versucht, dem inter- „Sie sagten: Stalin hat den Zweiten letztes Mal einen Kollegen aus ihrem alten nationalen Finanzkapital etwas entgegen- Weltkrieg gewonnen, Gorbatschow ist da- Leben um einen Gefallen. Sie fragte Hans zusetzen. Die Idee ist, dass man Leistun- bei, ihn zu verlieren.“ Geisler, einen Chemiker aus Dresden, der gen miteinander austauscht, die über ein Lothar de Maizière ist ein feiner, weiser gerade in den CDU-Vorstand gewählt wer- eigene Währung miteinander verrechnet Mann, der sich eingerichtet hat zwischen den sollte, ob er sie auf einem Abend- werden. Die Währung heißt Oderblüte. seinen Büchern, Erinnerungen, Drucken empfang vor dem CDU-Parteitag in Ham- Hans-Jürgen Fischbeck ist für das Heizen und anderen Andenken aus der wichtigs- burg Helmut Kohl vorstellen könnte. Klar, zuständig. Es läuft noch nicht so richtig, ten Zeit seines Lebens. Sein Büro sieht sagte Geisler. Am 2. Oktober 1990, einen auch weil die beiden Physiotherapeutin- völlig anders aus als das von Angela Mer- Tag vor der deutschen Wiedervereinigung, nen, die sich beteiligen wollten, gerade im kel. Es ist warm, gemütlich und ein Streit ausgeschieden sind. Aber wenig verschusselt. Es gibt Doku- Fischbeck ist guten Mutes, er weiß, mente aus der Wendezeit und dass es so nicht weitergehen kann. Bücher von Helmut Schmidt, Egon Professor Frey aus Bochum er- Krenz sowie Kai Diekmann. innert sich noch, wie sie alle zu- Manchmal kommt seine alte Hün- sammen am 24. September 1989 in din Lisa herein, die aussieht wie die Templiner Kirche gingen. Der Theo Waigel, und einmal erscheint Superintendent hielt die Predigt, de Maizières Friseur, ein älterer, er begann mit den Worten: Israel gutgelaunter Herr mit Hand- ist 40 Jahre durch die Wüste ge- gelenktäschchen, und sagt hallo. wandert. Die Menschen in der Kir- „Dit war ein mehrfacher DDR- che sahen sich an, sie murmelten Meister im Schaufrisieren“, sagt de zustimmend, weil sie das als Ana- Maizière und leckt sich über die logie auf die 40-jährige DDR-Herr- Zähne. schaft verstanden. „Als ich Ministerpräsident der „Angela Merkel aber zeigte DDR wurde, wog ich 65 Kilo- nach meiner Erinnerung keine Re- gramm, am Ende meiner Amtszeit gung“, sagt Frey. 51“, sagt er und lacht, denn nun Sie hat lange und tief geschlafen, kommt’s: „Jetzt wiege ich 75.“ aber jetzt ist sie wach. So kann man die Wendezeit „Meine Entscheidung, in die auch beschreiben. Ein abgeschlos- Kanzlerin Merkel Politik zu gehen, ist wirklich den

senes Stück Zeit mit einer Pointe MICHAEL HANSCHKE / DPA chaotischen Umständen geschul- hintendran. Angela Merkel aber „Ich glaube nicht, dass ich unter den Verhältnis- det“, sagt Angela Merkel. „Ich fühlte irgendwann, dass sie das glaube nicht, dass ich unter den nicht wollte. Sie wollte weiterma- sen des Westens Politikerin geworden wäre.“ Verhältnissen des Westens Politi- chen. Sie sagt, dass sie die Ge- kerin geworden wäre. Da wäre ich schichte jahrelang als ständige, gesetz- führte er sie zum Bundeskanzler und stell- vielleicht Lehrerin geworden oder Dol- mäßige Entwicklung zu etwas Höherem te sie vor. metscherin. Es ist einfach so viel passiert, begriffen hat. Irgendwann machte ihr ein Dann zog er sich zurück. so schnell und so überraschend.“ Akademiekollege klar, dass das DDR-Ideo- Nur ein einziges Jahr war vergangen seit Was also ist der Mensch? logie war. Aber ganz wird man das ja nie dem September-Wochenende in Templin, Angela Merkel steht auf, streicht sich los. Sie wollte es besser machen. Sie konn- an dem Angela Merkel zufällig und unbe- die Jackettschöße glatt, die Zeit ist um. Sie te das auch. Sie musste nicht abhängig sein teiligt auf dem Pastoralkolleg ihres Vaters muss weiter. Pittsburgh, die Wahlen, der von den Kerlen. Sie bewarb sich um ein herumsaß, das sich eigentlich die Frage ge- Sieg, die Koalitionsverhandlungen, die Ka- Bundestagsmandat und räumte ihren stellt hatte: Was ist der Mensch? binettsbildung, das Finanzpaket, Afghani- Schreibtisch in der Akademie. Von da an Sie hatten keine Zeit, die Frage zu be- stan, die große Rede vor den beiden ame- gab es kein Zurück mehr. antworten. Bis heute nicht. Nie. Sie pro- rikanischen Häusern, als erste deutsche „Das war der Punkt, als mein neues Le- bieren es aus. Marcus Kasner ist Physiker Kanzlerin, die Opel-Krise, das Mauerfall- ben begann“, sagt sie. „Wenn Sie ihn denn in Frankfurt am Main. Sein Vater ist im jubiläum und dann das der deutschen Ein- unbedingt wissen müssen.“ Ruhestand. Günter Nooke ist über den heit und dann weiter, immer weiter in die Gab es denn irgendeinen speziellen An- Umweg Bündnis 90 schließlich auch bei Geschichte. Manchmal scheint es, als sei lass, einen Auslöser? der CDU gelandet. Er hat eine Menge Din- Angela Merkel eine Verkörperung der Um- „Ach nein“, sagt sie, und dann erzählt ge versucht. Er war im Brandenburger stände. Die Wende als Mensch sozusagen. sie, wie sie eines Tages ihr Büro verließ Landtag und bei der Treuhand, im Mo- Eine Frau, die eher über die Zeit beschrie- und auf dem Gang fast mit einer aufgereg- ment kümmert er sich im Auswärtigen ben werden kann, in der sie lebte, als über ten Sekretärin zusammenstieß, die ein Glas Amt um Menschenrechte. Er sitzt in ei- die Dinge, die sie tat. Wie ein Stein, den zu Günther Krause trug, der ganz drin- nem dunklen Büro an einem endlosen jemand in einen Fluss geworfen hat. ™

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