Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 18/106

Deutscher

Stenografischer Bericht

106. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Dr. (BÜNDNIS 90/ neten (Augsburg) und DIE GRÜNEN) ...... 10044 C Dr. Egon Jüttner ...... 10033 A (CDU/CSU) ...... 10047 A Wahl des Abgeordneten als Franz Thönnes (SPD) ...... 10049 A Mitglied des Finanzmarktgremiums ...... 10033 B (CDU/CSU) ...... 10050 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 10033 B Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 10051 D Absetzung der Tagesordnungspunkte 21, 26 (CDU/CSU) ...... 10052 D und 33g ...... 10034 A (SPD) ...... 10054 C Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 10034 B Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 10055 C Begrüßung des Präsidenten des Abgeordne- tenhauses des Parlaments der Tschechischen Dr. (CDU/CSU) ...... 10056 D Republik, Herrn Jan Hamáček ...... 10051 D Tagesordnungspunkt 6: Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten , , Susanna Karawanskij, weiterer Eidesleistung des Wehrbeauftragten . . . . . 10034 C Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Präsident Dr. ...... 10034 C Leiharbeit und Werkverträge eingrenzen und umfassend regulieren Dr. Hans-Peter Bartels, Wehrbeauftragter des Drucksache 18/4839 ...... 10058 B Deutschen Bundestages ...... 10034 D Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 10058 C Karl Schiewerling (CDU/CSU) ...... 10059 D Tagesordnungspunkt 5: Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ Abgabe einer Regierungserklärung durch die DIE GRÜNEN) ...... 10061 C Bundeskanzlerin: zum Gipfel Östliche Part- nerschaft am 21./22. Mai 2015 in Riga, zum (SPD) ...... 10062 D G-7-Gipfel am 7./8. Juni 2015 in Elmau und (CDU/CSU) ...... 10064 C zum EU-CELAC-Gipfel am 10./11. Juni 2015 in Brüssel ...... 10035 A Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 10065 A Dr. , Jutta Krellmann (DIE LINKE) ...... 10066 C Bundeskanzlerin ...... 10035 B (SPD) ...... 10067 D Dr. (DIE LINKE) ...... 10038 D Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 10041 D DIE GRÜNEN) ...... 10069 C II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Stephan Stracke (CDU/CSU) ...... 10071 A zes zur Änderung des Fischetikettie- rungsgesetzes und des Tiergesund- Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 10071 C heitsgesetzes (SPD) ...... 10072 C Drucksache 18/4892 ...... 10093 A (CDU/CSU) ...... 10074 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD) ...... 10076 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Rechtsstellung und Aufga- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 10077 D ben des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMRG) Drucksache 18/4893 ...... 10093 A Tagesordnungspunkt 7: c) Erste Beratung des von der Bundesregie- a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und rung eingebrachten Entwurfs eines … Ge- SPD: Prinzipien des deutschen Bil- setzes zur Änderung des Gesetzes über dungswesens stärken – Gleichwertigkeit die internationale Rechtshilfe in Straf- und Durchlässigkeit der beruflichen sachen und der akademischen Bildung durch- setzen Drucksache 18/4894 ...... 10093 B Drucksache 18/4928 ...... 10079 C d) Erste Beratung des von der Bundesregie- b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Berufsbildungsbericht 2015 zes zu der Vereinbarung vom 1. April Drucksache 18/4680 ...... 10079 D 2015 über die Beteiligung Islands an der gemeinsamen Erfüllung der Ver- c) Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie pflichtungen der Europäischen Union, Hein, Sigrid Hupach, Sabine Zimmermann ihrer Mitgliedstaaten und Islands im (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der zweiten Verpflichtungszeitraum des Fraktion DIE LINKE: Ausbildungsquali- Protokolls von Kyoto zum Rahmen- tät sichern – Gute Ausbildung für alle schaffen übereinkommen der Vereinten Natio- Drucksache 18/4931 ...... 10079 D nen über Klimaänderungen (Vereinba- rung zur gemeinsamen Kyoto-II- d) Antrag der Abgeordneten Beate Walter- Erfüllung mit Island) Rosenheimer, Brigitte Pothmer, Kai Drucksache 18/4895 ...... 10093 B Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Mit einer echten Ausbildungsgarantie rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- das Recht auf Ausbildung umsetzen zes zu dem Abkommen vom 17. Sep- Drucksache 18/4938 ...... 10080 A tember 2012 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin BMBF ...... 10080 A der Regierung der Vereinigten Repu- blik Tansania über den Fluglinienver- Dr. (DIE LINKE) ...... 10081 D kehr Drucksache 18/4896 ...... 10093 B (SPD) ...... 10083 D Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ f) Antrag der Abgeordneten , DIE GRÜNEN) ...... 10085 B Maria Klein-Schmeink, Beate Walter- Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und (CDU/CSU) ...... 10086 C der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ NEN: Für eine menschenrechtsorien- DIE GRÜNEN) ...... 10088 A tierte Umsetzung der Flüchtlingsauf- nahmerichtlinie der EU Dr. (SPD) ...... 10088 D Drucksache 18/4691 ...... 10093 C Dr. (CDU/CSU) ...... 10089 D h) Antrag der Abgeordneten Omid (SPD) ...... 10090 D Nouripour, Dr. , , weiterer Abgeordne- Uda Heller (CDU/CSU) ...... 10091 D ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Richtlinien zum Schutz von Schulen und Hochschulen vor militäri- Tagesordnungspunkt 33: scher Nutzung in einem bewaffneten a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Konflikt umsetzen rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Drucksache 18/4939 ...... 10093 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 III

Zusatztagesordnungspunkt 2: (Weil am Rhein) (CDU/CSU) ...... 10106 B Antrag der Abgeordneten Cornelia Möhring, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, weite- (SPD) ...... 10108 B rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Entgeltgleichheit gesetzlich durch- (CDU/CSU) ...... 10109 C setzen (CDU/CSU) ...... 10111 B Drucksache 18/4933 ...... 10094 A

Tagesordnungspunkt 8: Tagesordnungspunkt 34: a) Zweite und dritte Beratung des von der a) Beratung der Beschlussempfehlung des Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Ausschusses für Recht und Verbraucher- eines Gesetzes über die Feststellung ei- schutz: Übersicht 5 – über die dem nes Nachtrags zum Bundeshaushalts- Deutschen Bundestag zugeleiteten plan für das Haushaltsjahr 2015 (Nach- Streitsachen vor dem Bundesverfas- tragshaushaltsgesetz 2015) sungsgericht Drucksachen 18/4600, 18/4950, 18/4951 . 10112 D Drucksache 18/4962 ...... 10094 B b) Zweite und dritte Beratung des von der b)–j) Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Beratung der Beschlussempfehlungen des eines Gesetzes zur Förderung von In- Petitionsausschusses: Sammelübersich- vestitionen finanzschwacher Kommu- ten 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188 nen und zur Entlastung von Ländern und 189 zu Petitionen und Kommunen bei der Aufnahme und Drucksachen 18/4827, 18/4828, 18/4829, Unterbringung von Asylbewerbern 18/4830, 18/4831, 18/4832, 18/4833, 18/4834, Drucksachen 18/4653 (neu), 18/4975 . . . 10112 D 18/4835 ...... 10094 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Zusatztagesordnungspunkt 3: Abgeordneten Susanna Karawanskij, , Klaus Ernst, weiterer Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Abgeordneter und der Fraktion DIE schusses für Wirtschaft und Energie zu dem LINKE: Bundesverantwortung wahr- Antrag der Abgeordneten Christian Kühn nehmen – Kommunen bei Unterbrin- (Tübingen), Dr. , Oliver gung von Flüchtlingen und Asylbewer- Krischer, weiterer Abgeordneter und der bern sofort helfen und Kosten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Heiz- Unterkunft für Hartz-IV-Leistungsbe- kosten sparen – Energiewende im Gebäu- rechtigte schrittweise übernehmen debereich und im Quartier voranbringen Drucksachen 18/3573, 18/4118 ...... 10113 A Drucksachen 18/575, 18/2715 ...... 10095 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Zusatztagesordnungspunkt 4: Abgeordneten , Katja Dörner, , weiterer Abge- Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE LINKE: Haltung der Koalitionsfrak- DIE GRÜNEN: Heute für morgen inves- tionen zur Freigabe der NSA-Selektoren- tieren – Damit unsere Zukunft nachhal- liste im Hinblick auf mögliche Ausspähun- tig und gerechter wird gen von Wirtschaft und Politik ...... 10095 C Drucksachen 18/4689, 18/4974 ...... 10113 A (DIE LINKE) ...... 10095 C Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF ...... 10113 B (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 10097 A (DIE LINKE) ...... 10114 B Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10098 D Johannes Kahrs (SPD) ...... 10115 D Christian Flisek (SPD) ...... 10100 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10116 D (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 10101 B (CDU/CSU) ...... 10118 A Dr. André Hahn (DIE LINKE) ...... 10102 D Jan Korte (DIE LINKE) ...... 10119 A Dr. Jens Zimmermann (SPD) ...... 10103 D (SPD) ...... 10119 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10105 A Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 10120 B IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Tagesordnungspunkt 9: Christian Petry (SPD) ...... 10139 C Antrag der Abgeordneten , Ekin (CDU/CSU) ...... 10140 C Deligöz, Luise Amtsberg, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Deutschlandstipendium ab- Tagesordnungspunkt 11: schaffen – Stipendienförderung und Stu- dienfinanzierung stärken Erste Beratung des von den Abgeordneten Drucksache 18/4692 ...... 10122 A Norbert Müller (Potsdam), , , weiteren Abgeordneten und der Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- DIE GRÜNEN) ...... 10122 B wurfs eines Gesetzes über die Finanzierung (CDU/CSU) ...... 10123 C der Beseitigung von Rüstungsaltlasten in der Bundesrepublik Deutschland (DIE LINKE) ...... 10126 C (Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz – (SPD) ...... 10127 C RüstAltFG) Drucksache 18/4841 ...... 10141 C (CDU/CSU) ...... 10129 A Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . . . 10141 D (SPD) ...... 10131 A Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU) ...... 10143 A Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 10132 B Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10144 A Dr. (SPD) ...... 10133 A Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) ...... 10145 B (CDU/CSU) ...... 10146 C Tagesordnungspunkt 10: (CDU/CSU) ...... 10147 C Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: zu dem Vorschlag für eine Verord- Norbert Müller (Potsdam) nung des Europäischen Parlaments und (DIE LINKE) ...... 10148 A des Rates über den Europäischen Fonds für strategische Investitionen und zur Än- derung der Verordnungen (EU) Nr. 1291/ Tagesordnungspunkt 12: 2013 und (EU) Nr. 1316/2013 – KOM(2015) 10 endg.; Ratsdok. 5112/15 – hier: Stellung- – Beschlussempfehlung und Bericht des nahme gegenüber der Bundesregierung ge- Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag mäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgeset- der Bundesregierung: Fortsetzung der zes – Dem Europäischen Fonds für Beteiligung bewaffneter deutscher strategische Investitionen zum Erfolg ver- Streitkräfte an der EU-geführten Ope- helfen ration Atalanta zur Bekämpfung der Drucksache 18/4929 ...... 10133 C Piraterie vor der Küste Somalias auf Grundlage des Seerechtsübereinkom- mens der Vereinten Nationen (VN) von in Verbindung mit 1982 und der Resolutionen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom 7. Okto- Zusatztagesordnungspunkt 5: ber 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezember Antrag der Abgeordneten Dr. Sahra 2008, 1851 (2008) vom 16. Dezember Wagenknecht, Dr. , Andrej 2008, 1897 (2009) vom 30. November Hunko, und der Fraktion 2009, 1950 (2010) vom 23. November DIE LINKE: Für ein öffentliches sozial- 2010, 2020 (2011) vom 22. November ökologisches Zukunftsinvestitionspro- 2011, 2077 (2012) vom 21. November gramm in Europa 2012, 2125 (2013) vom 18. November Drucksache 18/4932 ...... 10133 D 2013, 2184 (2014) vom 12. November 2014 und nachfolgender Resolutionen Joachim Poß (SPD) ...... 10134 A des Sicherheitsrates der VN in Verbin- dung mit der Gemeinsamen Aktion Alexander Ulrich (DIE LINKE) ...... 10135 A 2008/851/GASP des Rates der Europäi- Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU) ...... 10136 B schen Union (EU) vom 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/GASP (BÜNDNIS 90/ des Rates der EU vom 8. Dezember DIE GRÜNEN) ...... 10137 C 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP Ronja Schmitt (Althengstett) des Rates der EU vom 30. Juli 2010, (CDU/CSU) ...... 10138 B dem Beschluss 2010/766/GASP des Ra- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 V

tes der EU vom 7. Dezember 2010, dem – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Beschluss 2012/174/GASP des Rates der § 96 der Geschäftsordnung EU vom 23. März 2012 und dem Be- Drucksache 18/4977 ...... 10166 B schluss 2014/827/GASP vom 21. No- Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 10166 C vember 2014 Drucksachen 18/4769, 18/4964 ...... 10149 B Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 10167 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß (CDU/CSU) ...... 10168 C § 96 der Geschäftsordnung Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ Drucksache 18/4976 ...... 10149 C DIE GRÜNEN) ...... 10170 A (SPD) ...... 10149 C Dr. (CDU/CSU) ...... 10170 D (DIE LINKE) ...... 10150 C Namentliche Abstimmung ...... 10171 D (CDU/CSU) ...... 10151 D

Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ Ergebnis ...... 10173 C DIE GRÜNEN) ...... 10153 A Dr. (CDU/CSU) ...... 10154 B Tagesordnungspunkt 15: (SPD) ...... 10155 A a) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) ...... 10156 B Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe ...... 10171 D

Namentliche Abstimmung ...... 10157 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, , Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeord- Ergebnis ...... 10161 C neter und der Fraktion DIE LINKE: Menschenrechte in Mexiko schüt- zen, Verhandlungen zum Sicher- Tagesordnungspunkt 13: heitsabkommen aussetzen Antrag der Abgeordneten Peter Meiwald, – zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Britta Haßelmann, Christian Kühn (Tübin- Koenigs, , Claudia Roth gen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Augsburg), weiterer Abgeordneter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wertstoffge- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE setz jetzt vorlegen GRÜNEN: Iguala ist kein Einzelfall – Drucksache 18/4648 ...... 10157 C Zur Menschenrechtslage in Mexiko Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ Drucksachen 18/3548, 18/3552, 18/3952 . . . 10172 A DIE GRÜNEN) ...... 10157 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- Dr. (CDU/CSU) ...... 10158 D ordneten Hans-Christian Ströbele, Irene (DIE LINKE) ...... 10163 B Mihalic, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (SPD) ...... 10164 C GRÜNEN: Sicherheitsabkommen brau- chen Standards Drucksachen 18/3553, 18/3933 ...... 10172 A Tagesordnungspunkt 14: (SPD) ...... 10172 B – Beschlussempfehlung und Bericht des Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 10176 A Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Beteiligung be- Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) ...... 10177 A waffneter deutscher Streitkräfte an der Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ durch die Vereinten Nationen geführten DIE GRÜNEN) ...... 10177 D Mission UNMIL in Liberia auf Grund- lage der Resolution 1509 (2003) und Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) ...... 10178 C nachfolgender Verlängerungsresolutio- nen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zuletzt Resolution 2190 Tagesordnungspunkt 16: (2014) vom 15. Dezember 2014 und der Resolution 2215 (2015) vom 2. April – Zweite und dritte Beratung des von den 2015 Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- Drucksachen 18/4768, 18/4965 ...... 10166 B brachten Entwurfs eines Zweiten Geset- VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

zes zur Änderung des Erneuerbare- soldatenrechtlicher Vorschriften Energien-Gesetzes Drucksachen 18/4632, 18/4851 ...... 10191 D Drucksachen 18/4683, 18/4968 ...... 10179 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß – Zweite und dritte Beratung des von der § 96 der Geschäftsordnung Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Drucksache 18/4852 ...... 10192 A eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes Drucksachen 18/4891, 18/4968 ...... 10179 D Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- in Verbindung mit nanzausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Niema Zusatztagesordnungspunkt 6: Movassat, Dr. , Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Fraktion DIE LINKE: Für ein internatio- schusses für Wirtschaft und Energie zu dem nales Staateninsolvenzverfahren Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Dr. Julia Verlinden, , wei- – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Kekeritz, Dr. , Annalena NIS 90/DIE GRÜNEN: Europarechtskon- Baerbock, weiterer Abgeordneter und der forme Regelung der Industrievergünsti- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: gungen auf stromintensive Unternehmen Resolution der Vereinten Nationen für im internationalen Wettbewerb begrenzen ein multilaterales Rahmenwerk zur Re- und das EEG als kosteneffizientes Instru- strukturierung von Staatsschulden um- ment fortführen setzen – Jetzt aktiv den Arbeitsprozess Drucksachen 18/291, 18/515 ...... 10179 D der Vereinten Nationen mitgestalten (SPD) ...... 10180 A Drucksachen 18/3743, 18/3916, 18/4233 . . . 10192 B Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 10181 C Dr. (CDU/CSU) ...... 10182 C Tagesordnungspunkt 20: Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/ Erste Beratung des von der Bundesregierung DIE GRÜNEN) ...... 10184 D eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts über das Inver- kehrbringen, die Rücknahme und die um- Tagesordnungspunkt 17: weltverträgliche Entsorgung von Elektro- und Elektronikgeräten Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Drucksache 18/4901 ...... 10192 C schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Cem Özdemir, Annalena Baerbock, Tagesordnungspunkt 22: weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verfolgt, ver- Antrag der Abgeordneten , trieben, vergessen – Völkermord an den Anette Hübinger, , weiterer Rohingya verhindern Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Drucksachen 18/2615, 18/3951 ...... 10186 C sowie der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Angelika Glöckner (SPD) ...... 10186 D (Peine), weiterer Abgeordneter und der Frak- (DIE LINKE) ...... 10188 A tion der SPD: Forschung und Entwicklung für die Bekämpfung von vernachlässigten Dr. (CDU/CSU) ...... 10188 D armutsassoziierten Erkrankungen stärken Drucksache 18/4930 ...... 10192 D Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10190 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 10190 C Tagesordnungspunkt 23: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und Tagesordnungspunkt 18: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten – Zweite und dritte Beratung des von der Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Ände- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs rung des Bundesverfassungsgerichtsgeset- eines Gesetzes zur Neuregelung der Un- zes (9. BVerfGGÄndG) terhaltssicherung sowie zur Änderung Drucksachen 18/2737, 18/4963 ...... 10193 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 VII

Dr. (SPD) ...... 10193 B Wilfried Lorenz (CDU/CSU) ...... 10200 A Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 10194 A (CDU/CSU) ...... 10201 A Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . 10194 D Dr. (SPD) ...... 10201 C Renate Künast (BÜNDNIS 90/ (DIE LINKE) ...... 10202 B DIE GRÜNEN) ...... 10195 D Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ Dr. (SPD) ...... 10196 D DIE GRÜNEN) ...... 10203 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 10197 B Anlage 4 Tagesordnungspunkt 24: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu Zweite und dritte Beratung des von der Bun- den Anträgen: desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Internationalen Erbrecht – Für ein internationales Staateninsolvenz- und zur Änderung von Vorschriften zum verfahren Erbschein sowie zur Änderung sonstiger – Resolution der Vereinten Nationen für ein Vorschriften multilaterales Rahmenwerk zur Restruktu- Drucksachen 18/4201, 18/4961...... 10198 B rierung von Staatsschulden umsetzen – Jetzt aktiv den Arbeitsprozess der Verein- ten Nationen mitgestalten Tagesordnungspunkt 25: (Tagesordnungspunkt 19) ...... 10203 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dr. (CDU/CSU) ...... 10203 C Umsetzung der Protokollerklärung zum (CDU/CSU) ...... 10205 A Gesetz zur Anpassung der Abgabenord- nung an den Zollkodex der Union und zur Manfred Zöllmer (SPD) ...... 10206 A Änderung weiterer steuerlicher Vorschrif- (DIE LINKE) ...... 10207 A ten Drucksache 18/4902 ...... 10198 C Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 10207 D Nächste Sitzung ...... 10198 D Anlage 5 Anlage 1 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 10199 A des Rechts über das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die umweltverträgliche Ent- sorgung von Elektro- und Elektronikgeräten Anlage 2 (Tagesordnungspunkt 20) ...... 10208 D Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) ...... 10208 D Christian Kühn (Tübingen), , Peter Meiwald, Corinna Rüffer und Hans- Dr. (CDU/CSU) ...... 10209 C Christian Ströbele (alle BÜNDNIS 90/DIE Michael Thews (SPD) ...... 10210 B GRÜNEN) zu der namentlichen Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Ralph Lenkert (DIE LINKE) ...... 10211 A Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ Bundesregierung: Fortsetzung der Beteili- DIE GRÜNEN) ...... 10211 D gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der , Parl. Staatssekretär EU-geführten Operation Atalanta zur Be- kämpfung der Piraterie vor der Küste Soma- BMUB ...... 10212 D lias (Tagesordnungspunkt 12) ...... 10199 B Anlage 6 Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Forschung und Entwicklung für Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung die Bekämpfung von vernachlässigten armuts- des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung assoziierten Erkrankungen stärken (Tagesord- der Unterhaltssicherung sowie zur Änderung nungspunkt 22) ...... 10213 D soldatenrechtlicher Vorschriften (Tagesord- nungspunkt 18) ...... 10200 A Stephan Albani (CDU/CSU) ...... 10213 D VIII Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Anette Hübinger (CDU/CSU) ...... 10214 D (BÜNDNIS 90/ Dr. Karamba Diaby (SPD) ...... 10215 D DIE GRÜNEN) ...... 10223 B René Röspel (SPD) ...... 10216 C Niema Movassat (DIE LINKE) ...... 10217 D Anlage 8 Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN) ...... 10218 C des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklärung zum Gesetz zur An- passung der Abgabenordnung an den Zoll- Anlage 7 kodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Tagesordnungs- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung punkt 25) ...... 10224 A des Entwurfs eines Gesetzes zum Interna- tionalen Erbrecht und zur Änderung von Vor- (CDU/CSU) ...... 10224 A schriften zum Erbschein sowie zur Änderung Dr. Jens Zimmermann (SPD) ...... 10224 D sonstiger Vorschriften (Tagesordnungspunkt 24) 10219 C Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 10226 A Dr. (CDU/CSU) . . . . 10219 C Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ Dr. (CDU/CSU) ...... 10220 C DIE GRÜNEN) ...... 10226 C (SPD) ...... 10221 D Dr. , Parl. Staatssekretär Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 10222 C BMF ...... 10227 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10033

(A) (C)

106. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Beratung des Antrags der Abgeordneten Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Cornelia Möhring, Sigrid Hupach, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich tion DIE LINKE begrüße Sie alle herzlich und möchte Sie zunächst mit dem erfreulichen Umstand vertraut machen, dass in der Entgeltgleichheit gesetzlich durchsetzen vergangenen Woche die Vizepräsidentin Claudia Roth Drucksache 18/4933 ihren 60. Geburtstag gefeiert hat, Überweisungsvorschlag: (Beifall) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) über die sich die Glückwünsche des ganzen Hauses er- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz gießen. Ähnliches gilt sicher für den Kollegen Dr. Egon Ausschuss für Wirtschaft und Energie Federführung strittig Jüttner, der gestern seinen 73. Geburtstag gefeiert hat (B) und dem ich ebenfalls herzlich gratulieren möchte. ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Ausspra- (D) che (Beifall) (Ergänzung zu TOP 34) Wir müssen ein Mitglied des Gremiums gemäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sowie gemäß § 16 des Restrukturierungsfondsgeset- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- zes, also des Finanzmarktgremiums, wählen. Die SPD- gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- Fraktion schlägt vor, für den ausscheidenden Kollegen neten Christian Kühn (Tübingen), Dr. Julia Dr. den Kollegen Christian Petry als Verlinden, Oliver Krischer, weiterer Abgeordne- Mitglied des Gremiums zu berufen. Stimmen Sie dem ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu, auch im Bewusstsein der damit verbundenen Impli- NEN kationen für einen Bundesstaat, auf dessen Personal- Heizkosten sparen – Energiewende im Gebäu- entscheidung wir gar keinen Einfluss haben? – Das ist debereich und im Quartier voranbringen offensichtlich der Fall. Dann ist der Kollege Petry als Mitglied des Finanzmarktgremiums gewählt. Drucksachen 18/575, 18/2715 Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesord- ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion nung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten DIE LINKE: Punkte zu erweitern: Haltung der Koalitionsfraktionen zur Frei- ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen gabe der NSA-Selektorenliste im Hinblick auf der CDU/CSU und SPD: mögliche Ausspähungen von Wirtschaft und Politik Aktuelle Prognose des IWF – Perspektiven für Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Deutschlands Dr. , Dr. Diether Dehm, , Alexander Ulrich und der Frak- (siehe 105. Sitzung) tion DIE LINKE ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfah- Für ein öffentliches sozial-ökologisches Zu- ren kunftsinvestitionsprogramm in Europa (Ergänzung zu TOP 33) Drucksache 18/4932 10034 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- geordneten Dr. Rolf Mützenich, , (C) richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- Dr. , weiteren Abgeordneten gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- und der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- neten Oliver Krischer, Dr. Julia Verlinden, wurfs eines Gesetzes über die Rechtsstellung Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und und Aufgaben des Deutschen Instituts für der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechte (DIMRG) Europarechtskonforme Regelung der Indus- Drucksache 18/4421 trievergünstigungen auf stromintensive Un- Überweisungsvorschlag: ternehmen im internationalen Wettbewerb Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) begrenzen und das EEG als kosteneffizientes Auswärtiger Ausschuss Instrument fortführen Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Drucksachen 18/291, 18/515 Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haltung der Bundesregierung zur Änderung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Klimaschutzziele im Bereich alter Kohle- Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien kraftwerke Haushaltsausschuss Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun- Ich frage Sie, ob Sie auch mit diesen Änderungen und gen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Vereinbarungen einverstanden sind? – Das ist offensicht- Die Tagesordnungspunkte 21 – hier geht es um die lich der Fall. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das abschließende Beratung des Bilanzrichtlinie-Umset- so beschlossen. zungsgesetzes – und 26 – abschließende Beratung eines Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundesjagdgesetzes – sowie 33 g – hier geht es um die Beratung eines An- Eidesleistung des Wehrbeauftragten trags mit dem Titel „Bußgeldumgehung bei Kartellstra- Der Deutsche Bundestag hat in seiner 76. Sitzung am fen verhindern – Gesetzeslücke schließen“ – werden ab- 18. Dezember 2014 Herrn Dr. Hans-Peter Bartels zum gesetzt. Wehrbeauftragten gewählt. Gemäß § 14 Absatz 4 des Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgliche Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen (B) Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt- Bundestages leistet der Wehrbeauftragte vor dem Bun- (D) liste aufmerksam: destag den in Artikel 56 des Grundgesetzes vorgesehe- nen Eid. Der am 6. März 2015 (92. Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus- Herr Wehrbeauftragter, ich bitte Sie, zur Eidesleis- schuss für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zur Mit- tung zu mir zu kommen. beratung überwiesen werden: (Die Anwesenden erheben sich) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ich darf Sie bitten, den in der Verfassung vorgesehenen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neube- Eid zu leisten. stimmung des Bleiberechts und der Aufent- haltsbeendigung Dr. Hans-Peter Bartels, Wehrbeauftragter des Drucksachen 18/4097, 18/4199 Deutschen Bundestages: Überweisungsvorschlag: Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des Innenausschuss (f) deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge- Ausschuss für Bildung, Forschung und wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann Technikfolgenabschätzung üben werde. So wahr mir Gott helfe. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie haben den in der Verfassung vorgesehenen Eid ge- Der am 27. März 2015 (98. Sitzung) überwiesene leistet. Ich wünsche Ihnen für die vom Deutschen Bun- nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus- destag übertragene Aufgabe Geduld, Hartnäckigkeit, Er- schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- folg, und ich freue mich auf die Zusammenarbeit bei schätzung (18. Ausschuss) zur Mitberatung überwie- dieser wichtigen, bedeutenden Aufgabe. Alles Gute! sen werden: (Beifall im ganzen Hause – Der Wehrbeauftragte Erste Beratung des von den Abgeordneten nimmt Glückwünsche entgegen) , , Elisabeth Winkelmeier-Becker, weiteren Abgeordneten Wenn die Unterstützung des Wehrbeauftragten durch und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Ab- den Deutschen Bundestag ähnlich eindrucksvoll ausfällt Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10035

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) wie die Gratulationscour – woran ich keinen Zweifel Mit ihr werden wir unsere Nachbarn auf ihrem Weg zu (C) habe –, dann steht einer erfolgreichen Arbeit erkennbar demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaften nichts im Wege. weiterhin unterstützen. Damit kommen wir nun zum Tagesordnungspunkt 5: Gute Nachbarschaft bedeutet für uns zum einen, unse- ren Partnern politische Annäherung und wirtschaftliche Abgabe einer Regierungserklärung durch die Integration anzubieten. Wir wollen, dass dies zu mehr Bundeskanzlerin Rechtsstaatlichkeit, mehr Arbeitsplätzen und mehr zum Gipfel Östliche Partnerschaft am Wohlstand führt. Wir wollen helfen, den Alltag der Men- 21./22. Mai 2015 in Riga, zum G-7-Gipfel am schen in diesen Ländern zu verbessern. Gute Nachbar- 7./8. Juni 2015 in Elmau und zum EU- schaft verbinden wir zum anderen mit dem Anspruch, CELAC-Gipfel am 10./11. Juni 2015 in Brüs- uns zu gemeinsamen Werten und Prinzipien zu beken- sel nen. Dazu gehören Demokratie und freie Marktwirt- schaft, Menschenrechte und gute Regierungsführung. Es Hierzu liegen drei Entschließungsanträge der Frak- ist mir wichtig, diesen Anspruch in Riga noch einmal zu tion Die Linke und ein Entschließungsantrag der Frak- unterstreichen. tion Bündnis 90/Die Grünen vor. Seit dem letzten Gipfeltreffen im November 2013 ha- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für ben wir – trotz schwieriger Rahmenbedingungen – kon- die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- krete Fortschritte in der Zusammenarbeit mit unseren rung 96 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ich keinen östlichen Partnern erzielt. Das belegen besonders an- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. schaulich die Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, mit Georgien und mit Moldau. Durch diese Abkommen Im Übrigen bitte ich darum – da wir den Wehr- ermöglichen wir einerseits eine gegenseitige Marktöff- beauftragten für eine beachtlich lange Amtszeit gewählt nung – auch wenn diese mit langen Übergangsfristen haben –, verbunden sind –, andererseits ist in den Abkommen (Heiterkeit und Beifall) eine Annäherung an die Standards der Europäischen Union verankert, und zwar durch die Stärkung von De- dass wir die Gratulationscour – ich habe mehrere ein- mokratie und Rechtsstaatlichkeit, durch einen besseren zelne Abgeordnete gesehen, die noch nicht persönlich Schutz der Menschenrechte und durch die Angleichung gratuliert haben – technischer Standards und der gesamten Verwaltungs- praxis. Seit vergangenem Herbst werden wichtige Ele- (Heiterkeit und Beifall) mente der Assoziierungsabkommen vorläufig angewen- (B) (D) in einer etwas diskreteren Form nach dieser Debatte ge- det. Dies hat dazu geführt, dass die Exporte Georgiens gebenenfalls fortsetzen. – Vielen Dank. und Moldaus in die Europäische Union bereits deutlich angestiegen sind, aus Georgien zum Beispiel um 12 Pro- Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das Wort. zent. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Für alle Partnerstaaten gilt, dass die Assoziierungsab- neten der SPD) kommen wichtige Impulse für den innenpolitischen Re- formprozess geben. Das wiederum ist Voraussetzung für Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: mehr Investitionen, für die Modernisierung der Wirt- schaft und damit natürlich auch für stärkeres Wirt- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor schaftswachstum. fast genau sechs Jahren haben die Europäische Union und ihre östlichen Nachbarn – Ukraine, Moldau, Geor- Unser Ziel bleibt es, dass wir die Assoziierungsab- gien, Weißrussland, Armenien, Aserbaidschan – gemein- kommen vollständig umsetzen. Ich freue mich daher be- sam eine neue Partnerschaft mit dem Ziel begründet, sonders, dass der Bundestag und der Bundesrat hierfür ihre Beziehungen, wie es in der Prager Gipfelerklärung mit großer Mehrheit ihre Zustimmung erteilt haben. Da- vom 7. Mai 2009 formuliert wurde, auf eine neue Ebene mit hat Deutschland das parlamentarische Ratifizie- zu bringen. Heute Abend beginnt in Riga das bereits rungsverfahren noch vor dem heute beginnenden Gipfel vierte Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft. Es steht abschließen können. Die Teilnahme des ukrainischen unter völlig anderen Vorzeichen als das letzte Treffen im Parlamentspräsidenten Groysman an der Plenarsitzung November 2013 in Wilna; denn in der Zwischenzeit des Deutschen Bundestages Ende März hat gezeigt, dass wurden wir Zeugen der völkerrechtswidrigen Annexion dies auch von unseren östlichen Nachbarn – in diesem der Krim durch Russland. Wir wurden Zeugen einer Fall der Ukraine – als wichtiges politisches Signal wahr- massiven Destabilisierung der Ostukraine. Wir wurden genommen wird. Zeugen davon, wie die europäische Friedensordnung nachhaltig infrage gestellt wurde. Um es gleich zu Be- Jetzt geht es darum, dass die Partnerstaaten ihrerseits ginn klar zu sagen: Nicht zuletzt auch unter diesen Um- die notwendigen Reformen umsetzen, die dann für die ständen ist die Idee der Östlichen Partnerschaft wichtiger Implementierung des Assoziierungsabkommens nötig denn je. sind. Das wird an vielen Stellen noch erhebliche An- strengungen erfordern: bei der Stärkung der staatlichen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Leistungsfähigkeit, bei der Korruptionsbekämpfung, bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Verbesserung der Wirtschaftsstruktur und bei der 10036 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Verbesserung des Justizwesens. Visaerleichterungen dem russischen Wunsch nach einer engeren Partner- (C) zum Beispiel sind nur dann möglich, wenn hierfür alle schaft mit diesen Ländern andererseits. Deshalb sind und vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind. bleiben wir da, wo zum Beispiel Sorgen über die Verein- barkeit von Freihandelszonen vorgetragen werden, be- Die Europäische Kommission ist in einem jüngst vor- reit, über diese Sorgen zu sprechen. Die Bundesregie- gelegten Bericht zu dem Schluss gekommen, dass Geor- rung sagt immer und immer wieder auch, dass die gien und die Ukraine bereits große Anstrengungen unter- Europäische Union diese Gespräche führen wird – sie nommen haben, dass diese Anstrengungen aber noch führt sie im Übrigen im Augenblick mit Russland –, und nicht ausreichen und es noch einiges zu verbessern gilt. wir werden sie sehr konstruktiv begleiten. Die Europäische Kommission wird daher Ende des Jah- res erneut – das ist etwas Besonderes; normalerweise Aber – auch das werde ich wieder und wieder sagen –: macht sie das nur einmal im Jahr – über die Fortschritte Es ist und bleibt die souveräne Entscheidung unserer öst- berichten. Das gibt beiden Ländern die Möglichkeit, bis lichen Partnerstaaten, wenn sie sich den Werten der dahin noch einen entscheidenden Schritt voranzukom- Europäischen Union annähern wollen. Niemand hat das men. Denn es geht ja darum, unseren Partnern zu helfen, Recht, ihnen diesen selbstgewählten Weg zu verstellen. die Reformen, zu denen sie sich verpflichtet haben, auch wirklich umzusetzen. Deutschland bietet hierfür seine (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Unterstützung an, ebenso wie die Europäische Union BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) insgesamt, und das in vielen, vielen Bereichen. Ein Denken in Einflusssphären nehmen wir im Europa Meine Damen und Herren, es sind drei Elemente, die des 21. Jahrhunderts nicht hin. die Haltung Deutschlands zur Östlichen Partnerschaft Das gilt unverändert auch für die Lage in der Ukraine. leiten. Erstens. Die Östliche Partnerschaft ist kein Instru- Für die Wiederherstellung des Rechts in diesem so ge- ment der Erweiterungspolitik der Europäischen Union. plagten Land werden wir noch viel Geduld und einen Wir dürfen deshalb auch keine falschen Erwartungen langen Atem brauchen. Wir haben diese Geduld und die- wecken, die wir dann später nicht erfüllen können. Das sen langen Atem. Das Maßnahmenpaket von Minsk müssen wir – ich tue das auch – unseren östlichen Part- weist uns den richtigen Weg. Deutschland wird – der nern in aller Offenheit deutlich machen. Bundesaußenminister genauso wie ich – hier weiter die Zweitens. Uns ist bewusst, dass wir es mit höchst un- Verhandlungen begleiten, und das Normandie-Format terschiedlichen Partnerstaaten zu tun haben. Nicht nur zusammen mit Frankreich behält seine Bedeutung. die Entwicklungsperspektiven sind verschieden, sondern Die Entwicklung in der Ukraine ist auch der Grund, auch die gegenseitigen Erwartungen an eine Zusammen- weshalb wir uns am 7. und 8. Juni in Schloss Elmau als (B) arbeit mit der Europäischen Union. Wir respektieren die Gruppe der Sieben und nicht der Acht treffen werden. (D) Entscheidung Armeniens, dass sie neben intensiveren Russland wird, wie schon im vergangenen Jahr in Brüs- Beziehungen zur Europäischen Union auch eine engere sel, nicht dabei sein; denn genauso, wie wir dies für die wirtschaftliche Bindung an Russland suchen und der Östliche Partnerschaft anstreben, verstehen wir die G 7 Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten wollen. Wir re- bereits heute als eine Gemeinschaft der Werte. Dazu ge- spektieren auch die Entscheidung Aserbaidschans, das hört, dass wir uns gemeinsam für Freiheit, Demokratie derzeit keine Assoziierung mit der Europäischen Union und Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Dazu gehört, dass wir anstrebt und das im Übrigen auch keine Rolle für sich in das Völkerrecht und die territoriale Integrität der Staaten der Eurasischen Wirtschaftsunion sieht. achten. Wir sind trotz aller offenkundigen Differenzen auch (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem bereit, die Zusammenarbeit mit Weißrussland zu intensi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vieren. Es liegt an Weißrussland selbst, hierfür die nöti- gen Voraussetzungen zu schaffen. Das gilt vorneweg für Das Vorgehen Russlands in der Ukraine ist damit die Wahrung der Menschenrechte. Wichtige Gradmesser nicht in Einklang zu bringen. Solange sich Russland hierfür werden der Umgang mit den politischen Gefan- nicht zu den grundlegenden Werten des Völkerrechts be- genen und die Präsidentschaftswahlen im November kennt und danach handelt, ist für uns eine Rückkehr zum sein. Format der G 8 nicht vorstellbar; denn nur wenn wir als G 7 überzeugend für unsere gemeinsamen Werte einste- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie hen, können wir überzeugend auch auf internationaler bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Bühne Verantwortung übernehmen. Wie nötig dies ist, GRÜNEN) führt uns nicht zuletzt die Vielzahl internationaler Krisen Wir brauchen also – das ist unsere Erfahrung – für die vor Augen: die Lage in der Ukraine, im Nahen und Mitt- verschiedenen Partnerstaaten individuell ausgestaltete leren Osten, die Bedrohung durch den internationalen Angebote. Die Östliche Partnerschaft bietet hierfür einen Terrorismus, die Ebolaepidemie in Westafrika, um nur wichtigen gemeinsamen Rahmen. wenige Beispiele zu nennen. Wir werden uns beim G-7- Gipfel eng darüber abstimmen, wie wir gemeinsam auf Drittens. Die Östliche Partnerschaft richtet sich gegen die großen außen- und sicherheitspolitischen Herausfor- niemanden, insbesondere nicht gegen Russland. Ich derungen reagieren können. werde es deshalb wieder und wieder sagen: Es ging nicht und es geht nicht um ein Entweder-oder zwischen einer Das Treffen in Elmau ist aber weit mehr als akute Kri- Annäherung an die Europäische Union einerseits und sendiplomatie. Wir müssen als G 7 vorausschauend han- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10037

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) deln und Verantwortung für die Zukunft übernehmen. Im Rahmen der G 7 wollen wir außerdem daran arbei- (C) Unser Ziel als deutsche G-7-Präsidentschaft ist es, auf ten, dass lebensrettende Antibiotika ihre Wirksamkeit diesem Weg konkrete Fortschritte zu erzielen. Das gilt behalten. Der gerade beschlossene Aktionsplan der für die Post-2015-Ziele zur nachhaltigen Entwicklung, Weltgesundheitsorganisation ist hierfür ein wichtiger das gilt für die Entwicklungsfinanzierung, und das gilt Schritt. Das Bundeskabinett hat vor wenigen Tagen auch für ein zukünftiges globales Klimaabkommen, das Ende eine nationale Strategie beschlossen. Wir wollen beim des Jahres in Paris beschlossen werden soll. Hierzu wol- G-7-Gipfel darüber sprechen, was zusätzlich noch getan len wir als G 7 – ich sage allerdings: das sind schwierige werden kann. Hier geht es vor allen Dingen um gleiche Verhandlungen – deutliche Signale der Unterstützung Standards zwischen den G-7-Ländern beim Umgang mit senden. Antibiotika und um die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Tier. Ich möchte drei weitere Beispiele herausgreifen, die veranschaulichen, dass unser Schwerpunkt auf den lang- Drittens. Wir wollen den weltweiten Handel stärken. fristigen und globalen Herausforderungen liegt. Erstens. Damit schaffen wir Impulse für die Erholung der Welt- Wir wollen im Rahmen der G 7 dazu beitragen, Frauen wirtschaft, für nachhaltiges Wachstum und für Beschäf- zu stärken und die Stärkung von Frauen besser als bis- tigung. Auf globaler Ebene steht dabei weiterhin die lang zu nutzen. Welthandelsorganisation im Zentrum unserer Bemühun- gen. Es bleibt unser Ziel, die Doha-Runde so rasch wie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie möglich abzuschließen. Das wird nicht einfach, aber wir bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE halten es für möglich. Gleichzeitig wollen wir bei den bi- GRÜNEN) lateralen und regionalen Handelsvereinbarungen zügig Wenn weltweit mehr Frauen aktiv am Wirtschaftsleben vorankommen. Das gilt aus europäischer Sicht vor allem teilhaben, nutzt das allen. Hier gibt es Defizite in den In- für die Abkommen der Europäischen Union mit den G-7- dustrieländern genauso wie in den Entwicklungsländern. Partnern Japan, Kanada und den Vereinigten Staaten von Das reduziert Armut und Ungleichheit, das fördert Inno- Amerika; jetzt ist bald der EU-Japan-Gipfel, und auch vation und Wachstum, und das nützt dem gesellschaftli- mit den anderen beiden Staaten sind wir in Verhandlun- chen Zusammenhalt. gen. Unser gemeinsames Ziel bleibt es, bis Ende 2015 den politischen Rahmen für ein Transatlantisches Frei- Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass mehr handelsabkommen festzulegen. Mädchen und Frauen eine berufliche Qualifizierung be- kommen. Das gilt nicht nur, aber insbesondere in den Eine Stärkung des Freihandels erfordert auch eine Entwicklungsländern. Wir wollen es Frauen zudem bessere Umsetzung sozialer und ökologischer Standards, leichter machen, den Weg in die unternehmerische insbesondere in internationalen Lieferketten. (B) (D) Selbstständigkeit zu gehen. Überall auf der Welt müssen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wir beobachten, dass Frauen weitaus seltener zu Grün- dern werden als Männer. Das wollen und – ich denke – Das furchtbare Unglück in der Textilfabrik Rana Plaza in das müssen wir ändern. Bangladesch vor zwei Jahren hat uns dies auf schreckli- che Art vor Augen geführt. Ich setze mich dafür ein, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie die Opfer und ihre Familien endlich vollständig entschä- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE digt werden. Das werden wir zu einem Thema machen. GRÜNEN) Ich halte es für ein Unding, dass das noch nicht erfolgt Der Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten – so hat es ist. uns die OECD noch einmal aufgearbeitet – und zu Netz- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem werken ist hierfür besonders wichtig, aber er ist heute BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. strukturell schlechter als für Männer. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) Zweitens. Wir wollen weltweit die Gesundheitssys- Ich möchte mich bei dem Entwicklungsminister Gerd teme stärken. Die Ebolaepidemie ist eine schreckliche Müller und der Arbeitsministerin bedan- Heimsuchung für die von ihr betroffenen Menschen, und ken, dass sie auch zu den Fragen der Lieferketten einen sie ist hoffentlich so etwas wie ein Weckruf für uns alle. intensiven Dialog geführt haben. Wir haben das mit den Jedenfalls habe ich zusammen mit meinem Kollegen aus internationalen Gewerkschaften gemacht und mit vielen Ghana und der Ministerpräsidentin Norwegens den Ge- anderen. neralsekretär der Vereinten Nationen gebeten, ein Kon- zept zu entwickeln, wie Gesundheitskrisen in Zukunft (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) effektiver bewältigt werden können, als das bislang der Unser Ziel sind menschenwürdige Arbeitsbedingun- Fall ist. gen weltweit. Deshalb machen wir uns für eine bessere (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Prävention stark, also für die Stärkung von Arbeitssi- cherheit und Arbeitsschutz. Wie weit wir bei den kon- Ich habe in dieser Woche auch die Versammlung der kreten Verhandlungen kommen, kann man noch nicht Weltgesundheitsorganisation besucht. Sowohl die Welt- ganz genau absehen. gesundheitsorganisation als auch die Weltbank werden eine zentrale Rolle bei den Vorschlägen spielen, die wir Dies alles steht unter dem Motto des G-7-Gipfels „An machen werden, um in Zukunft besser auf solche Epide- morgen denken. Gemeinsam handeln.“ Davon sollten mien und Pandemien reagieren zu können. sich nicht nur die Regierungen der G-7-Staaten ange- 10038 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) sprochen fühlen. Gemeinsam handeln bedeutet für mich che und kulturelle Zusammenarbeit setzen. Die EU- (C) vielmehr auch, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft zu Lateinamerika-Stiftung in Hamburg ist hierfür ein be- handeln. Wir haben deshalb in den vergangenen Tagen sonders sichtbares Element. Dass sie nach Hamburg und Wochen viel mit Wissenschaftlern, mit Nichtregie- kommt, dafür haben wir lange gekämpft. Deshalb wird rungsorganisationen, mit Vertretern von Wirtschaft und sich die Bundesregierung jetzt auch dafür einsetzen, dass Gewerkschaften gesprochen. Zum Beispiel waren am die Stiftung sobald wie möglich zu einer internationalen vergangenen Montag Teilnehmer des Jugendgipfels zu Organisation aufgewertet wird. Gast, die mehrere Tage hier in Deutschland verbracht haben: 54 Jugendliche aus 19 Ländern, die uns ihre Vor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stellungen für eine Welt der Zukunft deutlich gemacht neten der SPD) haben. Ganz im Zentrum der Beratungen am 10. und 11. Juni Gemeinsam handeln, das heißt für mich auch, ge- werden jedoch die gemeinsamen globalen Herausforde- meinsam mit internationalen Partnern zu handeln. Des- rungen stehen; denn auch bei der Förderung von nach- wegen haben wir Gäste nach Elmau eingeladen. Dazu haltiger Entwicklung, beim Klimaschutz und bei der gehören die Chefs der großen internationalen Organisa- Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind La- tionen, allen voran der Generalsekretär der Vereinten teinamerika und die Karibik für Europa wichtige Partner. Nationen, und auch weitere Staats- und Regierungs- Deshalb freue ich mich besonders, dass wir bei vielen chefs. Wir wollen in zwei Sitzungen drei große Themen Themen direkt an die Diskussionen und auch an die Er- besprechen. Wir wollen das Thema „Terroristische Be- gebnisse des G-7-Gipfels anknüpfen können. drohung“ besprechen – der neu gewählte nigerianische Meine Damen und Herren, in einer sich immer Präsident, der tunesische Präsident und der Ministerprä- schneller verändernden globalisierten Welt können wir sident des Irak haben zugesagt, zu kommen –, und wir unsere Werte nur behaupten und unsere Interessen nur wollen das Thema „Nachhaltige Entwicklungsziele“, das wirksam vertreten, erfolgreich nur dann sein, wenn wir im September in New York eine Rolle spielen wird, und für die gemeinsamen Herausforderungen auch gemein- das Thema „Gesundheit“ mit der liberianischen Präsi- same Antworten über Länder und Kontinente hinweg dentin, mit dem äthiopischen Ministerpräsidenten und entwickeln. Dafür werde ich mich, dafür wird sich die dem Präsidenten des Senegal besprechen. ganze Bundesregierung mit ganzer Kraft einsetzen: im Eines ist für mich ganz klar: Insbesondere der Dialog Rahmen der Partnerschaft mit unseren östlichen Nach- mit den afrikanischen Staaten ist von zentraler Bedeu- barn, im Rahmen der G-7-Präsidentschaft und in der Zu- tung. Wir wissen, dass die Zusammenarbeit mit Afrika sammenarbeit zwischen Europa, Lateinamerika und der intensiviert werden soll. Deshalb wird es im Herbst die- Karibik. (B) (D) ses Jahres einen Gipfel mit afrikanischen Staaten und der Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. EU geben, um über die Bekämpfung der Ursachen der Flüchtlingsbewegungen zu sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es ist vollkommen klar: Wenn wir nachhaltige Ant- worten auf die drängenden globalen Herausforderungen Präsident Dr. Norbert Lammert: unserer Zeit finden wollen, dann müssen wir als Euro- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem päer und natürlich auch Deutschland mit allen Regionen Kollegen Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. der Welt eng zusammenarbeiten. Deshalb werde ich am (Beifall bei der LINKEN) 10. und 11. Juni, also nur wenige Tage nach dem G-7- Gipfel, am Gipfeltreffen der Europäischen Union mit den 33 Staaten Lateinamerikas und der Karibik in Brüs- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): sel teilnehmen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe geahnt, Frau Bundeskanzlerin, dass wir von Ihnen keine Europa und Lateinamerika sind seit Jahrhunderten einzige Äußerung zum Spionageskandal, der langsam zu eng miteinander verbunden. Wir teilen ein reiches kultu- einer Staatskrise wird, hören werden. relles und historisches Erbe. Europa und Lateinamerika werden auch wirtschaftlich immer wichtiger füreinander. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist ja kein Die Europäische Union ist für Lateinamerika und die Thema von Elmau, Mensch!) Karibik der zweitgrößte Handelspartner. Im vergangenen – Ich wusste, dass Sie sagen würden: „Es ist kein Jahrzehnt hat sich unser Handelsvolumen verdoppelt. Thema“, Herr Kauder. Aber das stimmt nicht. Bei allen Bei den Direktinvestitionen liegt die Europäische Union Treffen, zu denen sie fährt, findet sie Leute, die abgehört noch vor den USA an erster Stelle. Wir erkennen die worden sind; insofern ist das ein Thema, kann ich nur sa- Fortschritte an, die in der Region bei der Armutsbe- gen. kämpfung, bei der Förderung von Demokratie und fried- licher Konfliktlösung erzielt wurden. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜND- Enge und freundschaftliche Beziehungen zu den Staa- NIS 90/DIE GRÜNEN]) ten Lateinamerikas und der Karibik sind für uns von gro- ßer strategischer Bedeutung. Bei unserem gemeinsamen Wir haben schon vor längerer Zeit festgestellt, dass die Gipfeltreffen in Brüssel wollen wir deshalb neue Im- NSA Deutschland komplett ausforscht. Die behandeln pulse für die politische, wirtschaftliche, wissenschaftli- uns immer noch wie ein besetztes ehemaliges Feindes- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10039

Dr. Gregor Gysi (A) land. Ich sage Ihnen klipp und klar: Das dürfen wir uns ist die Wirtschaft zutiefst enttäuscht, auch von Ihnen, (C) nicht länger bieten lassen! Frau Bundeskanzlerin. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Max (Manfred Grund [CDU/CSU]: Keine Belege!) Straubinger [CDU/CSU]: Ach!) Schließlich könnten Sie Präsident Obama doch ein- Darunter ist übrigens auch eine gravierende Wirtschafts- mal eins erklären: Seit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag ist spionage. Nun hat sich herausgestellt, dass der BND für der Besatzungsstatus Deutschlands letztlich beendet. die NSA und sich selbst Abertausende rechtswidrige Deutschland ist ein souveränes Land. Handlungen beging. (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE (Manfred Grund [CDU/CSU]: Hat sich nicht LINKE]) herausgestellt! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir und kein anderer haben zu entscheiden, mit wel- Stimmt ja gar nicht!) chen Geheimdiensten wir wie zusammenarbeiten. Die deutsche Wirtschaft ist davon betroffen, europäische (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Regierungen sind davon betroffen, die EU-Kommission Wenn es gegenseitig keine Spionage geben soll, dann ist davon betroffen. Die Mär, dass das Ganze der Terro- haben Sie das auch durchzusetzen. rismusbekämpfung dienen soll, ist damit widerlegt – vielleicht ein kleiner Anteil; aber der ganze Rest ist poli- (Beifall bei der LINKEN) tische und Wirtschaftsspionage. Das ist beim besten Wil- Aber nun komme ich zum G-7-Treffen. len nicht hinnehmbar, und es ist strafbar. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Zum (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Thema, super!) Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Michael Grosse-Brömer [CDU/ Da wollen Sie ja über den Klimaschutz reden. Ich darf CSU]: Unglaublich! Woher wissen Sie denn Ihnen mal sagen: Ohne Russland und vor allen Dingen das! Lächerlich!) ohne China sind Gespräche zum Klimaschutz ziemlich albern; die bringen nichts. Allerdings gibt es eine Ich sage Ihnen auch, Frau Bundeskanzlerin: Sie zei- Chance, dass man sich jetzt selbst mit China verständi- gen viel zu wenig Rückgrat gegenüber der US-Adminis- gen kann. Wissen Sie auch, warum? Weil die Luft in Pe- tration. king so schlecht geworden ist, und die Luft macht nicht (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt halt vor dem Politbüro, auch nicht vor dem Partei- und Staatschef. Sie wissen ja: Wenn es die Menschen selbst (B) kommt wieder der Antiamerikanismus! Den (D) kennen wir doch schon!) betrifft, werden sie gelegentlich einsichtig. Also, ich kann nur hoffen, dass wir in dieser Menschheitsfrage Willfährigkeit und Duckmäusertum führen zu Verach- endlich etwas erreichen. tung. Was wir brauchen, ist jedoch Respekt. Respekt ist Aber wie kommen Sie eigentlich darauf, dass sieben die Grundlage, um eine Freundschaft aufzubauen. An- Staats- und Regierungschefs Weltpolitik machen könn- ders funktioniert das nicht. ten? Wie kommen Sie eigentlich darauf, dass Sie die (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- UNO ersetzen dürften? Wie kommen Sie eigentlich da- Brömer [CDU/CSU]: Unterwürfig sind Sie: rauf, dass sich diese Staaten anmaßen könnten, für alle gegenüber Putin!) anderen Staaten zu entscheiden? Das ist völlig indiskuta- bel. Deshalb wird es einen sehr breit angelegten Protest Wir haben höchstwahrscheinlich eine tiefe Schuld ge- dagegen geben, und ich meine auch: zu Recht. genüber europäischen Partnern auf uns geladen. Frau Bundeskanzlerin, diesmal können Sie sich nicht mit (Beifall bei der LINKEN) Schweigen aus der Affäre ziehen. Ich gehe davon aus, Außerdem ist selbst das G-7-Treffen gar nicht in der dass der Kanzleramtschef, seine Vorgänger und auch Sie Lage, Weltpolitik zu machen; denn es ist die internatio- unter Eid im Untersuchungsausschuss aussagen müssen. nale Finanzwelt, die bestimmt, was dort geschieht. Wir Wir brauchen Aufklärung und Klarheit; es wird höchste haben kein Primat der Politik mehr. Selbst die Union Zeit. müsste doch daran interessiert sein, dass wir wieder ein (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- Primat der Politik herstellen, dass nicht die Banken be- Brömer [CDU/CSU]: Kommen Sie mal zum stimmen, was Sie machen, sondern Sie wieder eine Thema! Erst Behauptungen aufstellen und da- Chance haben, zu bestimmen, was die Banken machen. nach Aufklärung fordern! – Volker Kauder Aber davon sind wir zurzeit meilenweit entfernt. [CDU/CSU]: Es kann sein, dass Sie noch (Beifall bei der LINKEN) schneller unter Eid aussagen müssen, in Ham- burg! Das kann alles noch kommen!) Frau Bundeskanzlerin, Sie sind die Vorsitzende beim G-7-Treffen. Da frage ich Sie mal: Warum hatten Sie Im Übrigen hat der frühere Bundesinnenminister nicht den Mumm, Herrn Putin einzuladen? Dass die Friedrich – passen Sie auf, Herr Kauder! – der deutschen Grünen so naiv sind, zu glauben, dass man in der Frie- Wirtschaft versprochen, dass die US-Spionage in der dens- und Außenpolitik vorankomme, indem man ein Wirtschaft aufhört. Das war offenkundig falsch. Deshalb ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates, eine Veto- 10040 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Gregor Gysi (A) macht im Sicherheitsrat, eine Atomwaffenmacht, das setzen. – Das haben Sie gesagt, und ich habe das mit (C) militärisch stärkste und größte Land Europas, Russland, Wohlwollen zur Kenntnis genommen. zu isolieren versuche, mag zum Teil mit deren Jugend (Beifall bei der LINKEN) zusammenhängen; aber Sie können das nicht ernsthaft glauben, Frau Bundeskanzlerin. Das ändert aber nichts Wir dürfen aber eins nicht vergessen: Die Ukraine ist daran, dass Kritik an Putin und seiner Regierung not- auch in einer tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise. wendig ist. Die Ukraine hat größere Schulden als Griechenland; ich sage das nur mal. Vor kurzem haben wir den 70. Jahrestag der Befrei- ung von der Nazidiktatur und des Endes des Zweiten Die Bundesregierung macht gegenüber Südeuropa die Weltkrieges gefeiert. Ich finde, es hätte sich gehört, dass gleiche falsche Politik wie mit der Agenda 2010 in viele, auch westliche Staatsoberhäupter und Regierungs- Deutschland. Wieder wird von der Ukraine verlangt, chefs – auch Sie, Frau Bundeskanzlerin – an der traditio- Renten zu kürzen, die Löhne zu senken und die öffentli- nellen Feier zu diesem 70. Jahrestag am 9. Mai in Mos- che Daseinsvorsorge zu privatisieren. Das ist der falsche kau teilgenommen hätten. Weg. Wissen Sie, was die Leute nicht verstehen? Sie verstehen nicht, wieso eigentlich nicht die Oligarchen (Beifall bei der LINKEN – des Landes, sondern die Rentnerinnen und Rentner und [CDU/CSU]: Um eine Raketenschau zu begut- die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für die Krise achten!) bezahlen müssen. Das ist nicht akzeptabel, und zwar in Ich sage Ihnen auch, warum: 27 Millionen Sowjetbürger keinem Land – weder in der Ukraine noch in Russland haben ihr Leben im Kampf gegen Hitler verloren, und noch in anderen Ländern. Das ist auch unverantwortlich. sie haben unsere Ehrung verdient. Dabei bleibe ich. (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/ (Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder CSU]: Deshalb wird ja verhandelt!) [CDU/CSU]: Wir beten keine russischen Waf- Minsk II hat einen fragilen Friedensprozess ausgelöst, fen an! Das ist gar keine Frage!) der von allen Seiten umgesetzt werden muss. Das bedeu- tet aber, dass die NATO aufhören sollte, in Polen und in Frau Bundeskanzlerin, immerhin waren Sie wenigstens den baltischen Staaten die militärischen Muskeln spielen einen Tag später da und haben gemeinsam mit Putin ei- zu lassen. Wenn die NATO ihre Provokationen einstellt, nen Kranz am Grabmal des Unbekannten Soldaten nie- dann haben wir auch viel bessere Voraussetzungen dafür, dergelegt und auch ein Gespräch geführt. von Russland zu verlangen, die Manöver, die ich aben- Ich sage Ihnen: Deeskalation und die Aufhebung der teuerlich finde, ebenfalls einzustellen. Wir brauchen (B) Sanktionen gegenüber Russland bedeuten Friedenspoli- jetzt doch keine gegenseitige Hochrüstung. Wohin soll (D) tik. Beides liegt im Interesse des ukrainischen und des das denn führen? Wir brauchen Abrüstung und Deeska- russischen Volkes, im Interesse ganz Europas und auch lation, und dafür müssen Sie stehen, Frau Bundeskanzle- in unserem Interesse. Wenn Sie denken, die Zuspitzung rin. zwischen der Ukraine und Russland nütze der Ukraine, (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Herr Vaatz, dann zeigt sich, dass Sie von Außenpolitik Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gar nichts verstehen. Das muss ich Ihnen einmal ganz klar sagen. Sie haben über die geplanten Freihandelsabkommen gesprochen und sie nur gewürdigt. Sie haben nur die (Beifall bei der LINKEN) Chancen betont und gehen auf die Kritik daran über- Deeskalation liegt übrigens auch im Interesse unserer haupt nicht ein. Es geht ja mindestens um vier Abkom- Wirtschaft. Diese Interessen und nicht die Interessen der men: um TTIP zwischen der EU und den USA, um USA haben maßgebend zu sein. CETA zwischen der EU und Kanada, um TPP zwischen den USA und Ostasien und um das Dienstleistungsab- Beim G-7-Gipfel und danach beim EU-CELAC-Gip- kommen TiSA zwischen 23 Staaten in Europa, USA, La- fel wird es ja – Sie haben darüber gesprochen – auch um teinamerika und Asien. Überall geht es um den unbe- die Östliche Partnerschaft und damit ebenfalls um den grenzten Zugang der Finanzkonzerne zu den Daten der Ukraine-Konflikt gehen. Am 28. Juni 2015 sollen Asso- Bürgerinnen und Bürger. Den Datenschutz könnten wir ziierungsabkommen der EU mit der Ukraine, mit Molda- dann abschreiben. Das ist überhaupt nicht hinnehmbar. wien und mit Georgien unterzeichnet werden. Es handelt Die USA wollen erreichen, dass Unternehmen, die in sich hierbei um drei souveräne Staaten. Seit einem Vier- einem anderen Land Dienstleistungen anbieten, dort kei- teljahrhundert sind sie nicht mehr Bestandteil der Sow- nen Firmensitz mehr benötigen. Das würde bedeuten, jetunion, und Sie haben völlig recht, Frau Bundeskanzle- dass dann auch das europäische Recht für sie nicht mehr rin: Diese drei Staaten haben das souveräne Recht, gilt. Wo soll das Ganze enden? Abkommen mit der EU zu schließen. Es darf aber nie wieder passieren, dass auch die EU-Kommission wie bei Die öffentliche Daseinsvorsorge soll privatisiert wer- der Ukraine eine Alternative daraus macht und sagt: ent- den, und zwar vom Gesundheitswesen über den Verkehr, weder mit Russland oder mit uns. Sie haben gesagt, Sie den Handel, die Energie und die Telekommunikation bis seien dafür. Alle drei Staaten brauchen gute Beziehun- hin zur Bildung. Dann soll auch noch vereinbart werden gen zur Europäischen Union, aber auch gute Beziehun- – Sie machen das alles ja geheim; man ist immer auf die gen zu Russland, und genau dafür müssen wir uns ein- Informationen angewiesen, die man bekommt –, dass Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10041

Dr. Gregor Gysi (A) eine Privatisierung nie mehr rückgängig gemacht wer- bewusster werden. Es gibt dort auch viele linke (C) den darf. Dann soll auch noch Standstill vereinbart wer- Regierungen, die aus diesem ganzen neoliberalen Mist den. Das heißt, dass soziale, gesundheitliche und ökolo- herauswollen und endlich Hunger und Elend überwinden gische Standards eingefroren und nicht mehr erhöht und beseitigen wollen. Aber da ist noch etwas: Die USA werden dürfen. Sie machen damit jede vernünftige Ver- spielen in Lateinamerika täglich eine geringere Rolle. änderung in der Politik unmöglich. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sagen Ich sage es noch einmal: Es gibt auch schwere Kritik Sie auch mal was zum Thema?) an der Investitionsschutzklausel. Ich will Ihnen sagen, Zum Beispiel hat China zum Teil schon die USA als was sie bedeutet: Ein amerikanischer Konzern kommt stärksten Handelspartner abgelöst. Dadurch werden die nach Deutschland, begründet seinen Sitz. Zu diesem lateinamerikanischen Staaten jeden Tag unabhängiger. Zeitpunkt gibt es eine Rechtslage. Danach wählen die Bürgerinnen und Bürger eine vernünftige Bundesregie- (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE rung, sagen wir mal: eine mit Linken. LINKE]) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Lachen Wissen Sie, was ich für einen Skandal halte: Kolumbien des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) ist inzwischen unabhängiger von den USA als Deutsch- land. Ich finde, das sollten Sie ändern, liebe Frau Bun- – Herr Kauder, Sie dürfen sich schon darauf freuen. deskanzlerin. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Also (Beifall bei der LINKEN) jetzt doch wieder eine Büttenrede!) Lateinamerika hat, wie gesagt, entscheidende politi- Ich würde Sie gerne einmal als Oppositionsführer erle- sche Veränderungen erlebt. Ich bin froh, dass es endlich ben; aber ob Sie das können, weiß ich nicht. Wir werden zu einem Handschlag zwischen dem amerikanischen und es erleben. Aber wie dem auch sei! Das ist jetzt gar nicht dem kubanischen Präsidenten gekommen ist. Wir müs- mein Problem. sen den Kalten Krieg hinter uns lassen; die Blockadezeit Mein Problem ist ein anderes. Wenn diese vernünftige muss endlich überwunden werden. Bundesregierung mehr Mitbestimmung und etwas hö- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) here Steuern beschließen würde, dann würden die Kon- zerne sagen: Nein, das verstößt gegen das Verbot von Frau Bundeskanzlerin, haben Sie doch einfach einmal Investitionshemmnissen. – Sie machen eine Politik in den Mut und besuchen Sie – bei aller Kritik – einfach die diese Richtung unmöglich. Das ist zutiefst undemokra- Perle der Karibik, die schöne Insel Kuba. Was meinen tisch und darf nicht passieren. Sie, was das für eine Geste wäre, wenn Sie das machten! (B) (D) (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ich sage Ihnen ganz klar: Auch die Schiedsgerichte Lassen Sie mich zum Schluss einen Satz sagen: Wir sind ein Skandal. Die deutschen Unternehmen müssen sind wichtig – ich weiß –, die USA sind selbstverständ- den Gerichtsweg gehen, die amerikanischen machen das lich wichtig – ich weiß –, Russland ist auch wichtig, über ein Schiedsgericht; mit Geld und drei Advokaten China wird immer wichtiger. Aber bitte unterschätzen kriegen die alles geregelt. Ich kann nur sagen: Das ist ab- Sie nicht die Bedeutung und Relevanz surd. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Von Kuba?) (Beifall des Abg. [Havelland] von Afrika, Asien und Lateinamerika. [DIE LINKE]) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach so!) Dann kommt hinzu, dass plötzlich Lebensmittel erlaubt werden dürfen, die bei uns verboten sind, und zwar aus Danke schön. guten Gründen. (Beifall bei der LINKEN) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber Sie werden nicht gezwungen, alles zu essen!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nicht einmal das Reinheitsgebot für Bier – ich bitte die Thomas Oppermann ist der nächste Redner für die Bayern: Sie müssen doch wenigstens darauf achten – SPD-Fraktion. bliebe unter diesen Bedingungen erhalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/ der CDU/CSU) CSU]: Wir schützen uns schon selber!) Thomas Oppermann (SPD): Deshalb sind wir gegen diese Abkommen und meinen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele be- das ist der falsche Weg. zweifeln, dass der G-7-Gipfel noch das richtige Format Den Gipfel der EU mit der Gemeinschaft der Latein- ist, um die Probleme dieser Welt zu lösen. Als die G 7 amerikanischen und Karibischen Staaten in Brüssel vor 40 Jahren von Valéry Giscard d’Estaing und Helmut finde ich auch spannend. Wissen Sie was, Frau Bundes- Schmidt gegründet wurde, da waren die Teilnehmer kanzlerin: Sie werden dort lauter Staats- und Regie- noch die wirtschaftlich stärksten Länder der Welt. Das rungschefs treffen, die immer eigenständiger und selbst- ist heute nicht mehr uneingeschränkt der Fall. Als nach 10042 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Thomas Oppermann (A) der Lehman-Pleite Antworten auf die internationale Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Geste, die zeigt: (C) Finanzkrise gesucht wurden, da war nicht die G 7, son- Trotz aller grundlegenden Meinungsverschiedenheiten, dern die G 20 das richtige Gremium. die wir im Augenblick mit Russland haben, wissen wir und vergessen wir nicht, welche ungeheuren Opfer Aber so wünschenswert es auch wäre, wenn die G 20 Russland im Zweiten Weltkrieg hat erbringen müssen. weiter an Bedeutung gewänne, so behält die G-7-Runde für Deutschland doch eine ganz entscheidende Bedeu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tung; denn alle G-7-Partner agieren auf einem gemeinsa- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE men Fundament. Was uns mit den USA, mit Kanada, mit GRÜNEN – Dr. [DIE Japan, mit Frankreich, Italien und Großbritannien ver- LINKE]: Warum habt ihr uns dann runterge- bindet, sind die Werte Freiheit, Demokratie und Herr- worfen?) schaft des Rechts. Ich möchte mich auch bei Volker Kauder ganz herzlich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dafür bedanken, dass in dieser Frage so schnell eine Ver- der CDU/CSU) ständigung zwischen den Fraktionen möglich gewesen ist. Nur auf der Grundlage dieser Werte können wir die gro- (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Leider ßen globalen Herausforderungen wie Klimawandel, nicht zwischen den Fraktionen! Das ist ein wirtschaftliche Not, Flüchtlings- und Hungerkatastro- Skandal, lieber Herr Oppermann! Wer hat sich phen oder Bedrohung durch den islamistischen Terroris- denn dafür eingesetzt?) mus bewältigen. Deshalb ist die wichtigste Botschaft, die von diesem Gipfel in Elmau ausgehen muss: – Lieber Kollege Bartsch, das ist natürlich nur eine Deutschland denkt nicht national, Deutschland handelt kleine Geste. nicht alleine, sondern Deutschland agiert an der Seite (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Keine seiner Partner, um die großen Probleme dieser Zeit zu Frage! Völlig klar!) meistern. Aber ich finde 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Weltkrieges diese kleine Geste überzeugender als den der CDU/CSU) Aufruf von Gregor Gysi an die Bundeskanzlerin, an ei- ner imperial anmutenden Militärparade in Moskau teil- Das G-7-Treffen findet – darauf hat die Bundeskanz- zunehmen. lerin schon hingewiesen – nach 15 Jahren jetzt zum zweiten Mal ohne Russland statt. Das ist bedauerlich, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie aber es ist unvermeidlich; denn mit der völkerrechtswid- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (B) rigen Annexion der Krim und mit der offenkundigen GRÜNEN – Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/ (D) militärischen Unterstützung der Separatisten in der Ost- CSU]: Genau! – Dr. Dietmar Bartsch [DIE ukraine hat Wladimir Putin die europäische Friedensord- LINKE]: Sagen Sie das mal dem Genossen nung infrage gestellt. Da kann man nicht einfach zur Schröder! Der hat da eine andere Meinung!) Tagesordnung übergehen und so tun, als sei nichts gewe- Lieber Gregor Gysi, was haben Sie sich als Pazifist sen. eben eigentlich dabei gedacht? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) CDU/CSU) Das hat mich an unsere Gedenkstunde zum Ende des Gleichwohl können wir kein Interesse an einer Isola- Zweiten Weltkrieges erinnert. Als Professor Winkler tion Russlands haben. Langfristig muss es darum gehen, hier ausgerufen hat: „Nie wieder dürfen wir Deutschen zurückzufinden zu den guten und freundschaftlichen Be- zum Nachteil und auf dem Rücken unserer osteuropäi- ziehungen. Aber klar ist auch: Wir werden nur dann die schen Nachbarn Entscheidungen zu deren Lasten treffen Sanktionen aufheben, wenn das Minsker Abkommen oder über deren Schicksal bestimmen“, umgesetzt wird. Russland muss seinen großen Einfluss (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ja!) auf die Separatisten nutzen, damit die Waffenruhe einge- halten wird und der Abzug der Waffen sichergestellt ist. hat sich in Ihrer Fraktion keine Hand zum Beifall ge- Auch der Westen sollte dabei bleiben, keine Waffen in rührt. die Ukraine zu liefern. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE der Abg. Margaret Horb [CDU/CSU]) GRÜNEN) Die Konfliktparteien in der Ukraine brauchen nicht mehr Außenpolitisch bzw. geopolitisch sind Sie in Ihrer Frak- Waffen; sie brauchen einen politischen Dialog, um wie- tion über den Stand der Breschnew-Doktrin noch nicht der Frieden herzustellen. hinausgekommen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der In diesem Zusammenhang möchte ich dem Haus- CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN – haltsausschuss dafür danken, dass er gestern den Be- Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das schluss gefasst hat, 10 Millionen Euro für die 4 000 zum musste einmal gesagt werden!) Teil unter ganz kläglichen Verhältnissen lebenden ehe- maligen sowjetischen Kriegsgefangenen bereitzustellen. Das ist leider so. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10043

Thomas Oppermann (A) Aber das größte Problem ist nicht die Fraktion Die Natürlich müssen wir Schlepperbanden gezielt be- (C) Linke. Das größte Problem auf der Welt ist im Augen- kämpfen. Aber am Wichtigsten ist es natürlich, daran zu blick die Tatsache, dass 50 Millionen Menschen auf der arbeiten, dass die Fluchtursachen beseitigt werden. Lie- Flucht sind, um ihr Leben zu retten und eine Heimat zu ber Herr Minister Müller, Sie sind einer der ganz weni- finden. gen, möglicherweise der einzige Minister für wirtschaft- liche Zusammenarbeit, der im Augenblick einen so (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das sind die kräftigen Etatzuwachs hat: 8,3 Milliarden Euro mehr bis Fragen! Sie haben keine Antwort darauf!) 2019. Ich habe die klare Erwartung, dass wir diese Mittel Nur ein ganz geringer Teil von diesen Flüchtlingen schwerpunktmäßig zur Beseitigung der Ursachen der kommt hier bei uns in Europa an. Deshalb erwarten die Flucht von Menschen einsetzen, die keine Arbeit, keine G-7-Partner zu Recht, dass wir bei dem Flüchtlings- Perspektive und keinen Schutz haben. drama im Mittelmeer und im Nahen Osten nicht nur zu- (Beifall bei der SPD) schauen, sondern Verantwortung übernehmen. Deshalb muss ein großer Teil dieser Mittel in Afrika ein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des gesetzt werden. Wirtschaftliche Entwicklung, fairer Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) Handel und sicherheitspolitische Zusammenarbeit, das Im wichtigsten Punkt haben wir jetzt zum Glück eine gehört zusammen, und das sollte auch die Botschaft der Wende eingeleitet. Die humanitäre Seenotrettung steht G 7 sein. wieder an erster Stelle. Ich freue mich, dass sich jetzt (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der auch Schiffe der Bundesmarine daran beteiligen und CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sa- schon über 1 000 Menschen das Leben gerettet haben. gen Sie mal etwas zu den Rüstungsexporten! – Ich möchte den Soldaten von hier aus unseren ganz herz- Gegenruf von der CDU/CSU: Ruhe!) lichen Dank aussprechen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Der G-7-Gipfel ist auch ein Anlass zum Nachdenken über unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Der Es kann nicht sein, dass sich nur vier oder fünf Länder in Irakkrieg, Guantánamo und die NSA-Affäre haben in Europa um die Flüchtlinge kümmern. Was wir brauchen, den letzten Jahren dazu geführt, dass das Ansehen der ist eine solidarische Flüchtlingsaufnahme in ganz Eu- USA in Deutschland gesunken ist. Amerika wird zuneh- ropa. mend skeptischer betrachtet. Die Entfremdung in Teilen der Bevölkerung wächst, und sie verstärkt auch die Kri- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tik an gemeinsamen Projekten wie dem Freihandelsab- (B) Die Vorschläge der EU-Kommission sind mutig. Sie kommen. Ich sage: Wir dürfen nicht den Fehler machen, (D) sind ein richtiger Schritt. Das Europäische Parlament hat uns auseinanderdividieren zu lassen; denn die USA blei- darüber gestern mit großem Zuspruch diskutiert. Ich ben Europas wichtigster Bündnispartner. Die weltweiten finde, der G-7-Gipfel ist eine gute Gelegenheit, auch un- Krisen erfordern, dass wir zusammenarbeiten und dass serem Partner Großbritannien zu sagen, dass er hier wir uns auf unser gemeinsames Wertefundament besin- nicht außen vor bleiben kann. nen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sagen Sie mal was zu Abu Ghureib und zu Guantánamo!) Ich halte es für beschämend, dass es in Europa Regierun- gen gibt, die meinen, sie hätten mit dem Flüchtlings- Zu diesen Werten gehört ohne Zweifel auch der Grund- drama im Mittelmeer nichts zu tun. satz, dass die Ausübung jeglicher Staatsgewalt – dazu gehört für mich ganz besonders die Tätigkeit der Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten heimdienste – an Recht und Gesetz gebunden ist. der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Die Tatsache, dass jetzt noch mehr Flüchtlinge aus Wenn es jetzt den begründeten Verdacht gibt, dass die Jordanien und dem Libanon nach Europa kommen, hat NSA die Kooperation mit dem BND genutzt haben einen ganz einfachen Grund: Das UNO-Flüchtlingswerk könnte, um private Unternehmen und befreundete Re- muss die Nahrungsrationen kürzen, weil es nicht genü- gierungen in Europa auszuspähen, so wäre dies jeden- gend Geld hat. Geldmangel der UN ist ein Grund für falls mit Recht und Gesetz in Deutschland nicht verein- weitere Flüchtlinge. Deutschland hat seinen Beitrag im bar. letzten Jahr geleistet und dafür gesorgt, dass keine Flüchtlingslager geschlossen werden mussten. Jetzt (Beifall bei der SPD) müssen wir dafür sorgen, dass sich weitere Länder an Sollte sich dies als wahr erweisen, würde das nicht der Finanzierung der Flüchtlingsversorgung beteiligen. nur das Vertrauen in den Verbündeten beschädigen, son- (Beifall bei der SPD) dern vor allem auch das Vertrauen in den eigenen Nach- richtendienst. Ein Dienst, in dem solche Vorgänge nicht Auch darüber sollte auf dem G-7-Gipfel gesprochen unverzüglich an die Behördenleitung, an das Kanzleramt werden. und an das für die Kontrolle zuständige parlamentarische 10044 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Thomas Oppermann (A) Gremium gemeldet werden, führt ein Eigenleben, das ziehenden und beim Abbau der kalten Progression. Wir (C) ihm in einem demokratischen Rechtsstaat nicht zusteht. haben ein Maßnahmenpaket gegen Wohnungseinbrüche geschnürt. Auch bei einem so schwierigen Thema wie (Beifall bei der SPD) der Vorratsdatenspeicherung haben wir uns geeinigt. Ein Nachrichtendienst, der beschränkende Gesetze miss- Ich bin ganz sicher: Wir werden uns in den nächsten achtet, ist kein Schutz für die Menschen, sondern eine Wochen auch in der Frage einigen, wie wir die Kommu- Gefahr für die Demokratie, und schon deshalb müssen nen in Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen wir diese Vorgänge genau aufklären, stärker entlasten. Ich freue mich jedenfalls darüber, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker diese Koalition den festen Willen hat und ohne Ein- Kauder [CDU/CSU]: Unstreitig!) schränkungen bereit ist, die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland so zu organisieren, dass wir eine Spal- übrigens auch im Interesse der Mitarbeiter unserer Si- tung der Gesellschaft verhindern. Daran lassen Sie uns cherheitsbehörden. Die allermeisten Mitarbeiter leisten gemeinsam arbeiten. eine ungemein wertvolle Arbeit für unser Gemeinwesen. Ich finde, an deren Loyalität zu Recht und Verfassung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bestehen nicht die geringsten Zweifel. Sie dürfen nicht der CDU/CSU) für die Fehler einiger in Mithaftung genommen werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Präsident Dr. Norbert Lammert: CDU/CSU) Nächster Redner ist der Kollege Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich bin zuversichtlich, dass die Aufklärung im parla- mentarischen Untersuchungsausschuss und im Parla- mentarischen Kontrollgremium gelingt. Wir werden die Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fakten klären, die Ergebnisse bewerten und daraus die NEN): richtigen Konsequenzen ziehen. Das ist die richtige Rei- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und henfolge. Aber ich bin mir schon jetzt sicher, dass wir Kollegen! Sehr geehrte Frau Kanzlerin, ein neues BND-Gesetz brauchen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bundeskanzle- Die Bürger und Bürgerinnen akzeptieren Nachrich- rin!) tendienste. Aber dabei müssen sie sich auf zwei Dinge wir haben von Ihnen heute wieder einmal eine typische verlassen können, nämlich erstens darauf, dass der Regierungserklärung gehört, so eine schöne Ankündi- Schutz ihrer Privatsphäre respektiert wird und sie nicht gungsrede. (B) vom eigenem Auslandsnachrichtendienst ausgespäht (D) werden, und zweitens darauf, dass der BND im Rahmen (Zurufe von der CDU/CSU) klarer gesetzlicher Vorgaben unter effektiver exekutiver und parlamentarischer Kontrolle unsere Sicherheit ge- Sie haben viele Themen kurz gestreift: die Klimakrise, währleistet und uns mit dem Sammeln von Informatio- die Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit, die nen vor Anschlägen schützen kann. Gefahr eines postantibiotischen Zeitalters und die man- gelnde Fairness der ökonomischen Globalisierung. Sie Wir alle wissen: Ein effektiver Schutz ist heute wich- haben viele Probleme der Welt auf die Tagesordnung des tiger denn je; denn wir erleben eine völlig neue Form der G-7-Gipfels in Elmau gesetzt. Bedrohung. Mehrere Hundert junge Deutsche, mehrere Tausend junge Europäer ziehen in den Krieg im Nahen (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Eine Osten und beteiligen sich an Terrorakten. Sie können je- typische Oppositionsrede!) derzeit zurückkommen. Auf diese Internationalisierung Sie sind die Kanzlerin der Tagesordnung, Frau des Terrors dürfen wir nicht mit einer Renationalisierung Merkel. Daran besteht kein Zweifel. und Abschottung unserer Nachrichtendienste antworten. Das wäre der falsche Weg. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) So eine Tagesordnung schreiben Sie bestimmt nach bes- tem Wissen und Gewissen, wie Sie es selbst ausdrücken. Wir brauchen auch in Zukunft eine Zusammenarbeit mit Ich finde, dieser Satz verkörpert, wofür Sie stehen: Sie der NSA; aber sie muss auf klaren rechtlichen Grundla- ersetzen die Tat durch den Vorsatz, den Inhalt durch die gen geschehen. Überschrift und die Politik durch PR. Egal wenn nichts Schwierige Themen tragen schwierige Entscheidun- passiert; Hauptsache, es sieht irgendwie schön aus. gen in eine Koalition. Aber auch wenn etwas kompliziert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist, kann man es lösen. Das haben wir in den vergange- nen Wochen immer wieder geschafft. Die reale Welt braucht aber reale Politik, Frau Merkel. Daran müssen Sie sich messen lassen, und ge- (Lachen der Abg. Katrin Göring-Eckardt nau dabei fallen Sie durch. Ob bei den entscheidenden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Zukunftsfragen, beim Datenschutz, bei einer gerechten Wir haben uns in etlichen nicht ganz einfachen Punkten Globalisierung, beim Klimaschutz oder bei der Energie- geeinigt, zum Beispiel bei der Entlastung der Alleiner- wende: Überall herrschen Stillstand, Apathie und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10045

Dr. Anton Hofreiter (A) Gleichgültigkeit. Die Probleme der Welt sind echt, aber Frau Merkel, Sie hätten heute die Gelegenheit gehabt, (C) Ihre Politik ist nicht echt. sich zu äußern. Eine Entschuldigung bei den Bürgerin- nen und Bürgern wäre angesichts dieser Täuschung das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mindeste; sie wäre angemessen. Nach bestem Wissen und Gewissen, Frau Merkel? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Seien wir ehrlich: Sie wissen es doch viel besser. Sie wissen doch, dass der Klimaschutz in Deutschland Stattdessen imitieren Sie Helmut Kohl und versuchen, stockt, dass unsere Daten nicht sicher sind, die Probleme auszusitzen. Das lassen wir nicht zu, Frau (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das weiß der Merkel. Der BND hat der NSA jahrelang geholfen, deut- Herr Lammert!) sche und europäische Unternehmen und europäische Nachbarn auszuspionieren. Gegen diese Realität hilft dass die Ungleichheit zunimmt und unsere Autos nicht keine PR, Frau Merkel. sauberer werden. Das wissen Sie sehr wohl. Warum han- deln Sie dann nicht endlich? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wissen Bisher ist es Ihnen oft gelungen, die Fassade aufrecht- wir doch noch gar nicht! So wird wieder etwas zuerhalten und die Arbeit nur vorzutäuschen. Aber nach behauptet vor der Aufklärung! Jedes Mal das- zehn Jahren Wind und Wetter aus der echten Welt be- selbe!) kommt die schönste Fassade Risse. Morsches Gebälk kommt zum Vorschein. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, das hat rein gar nichts mit dem Schutz vor Terror zu tun. Erst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) täuschen Sie die Wählerinnen und Wähler, und jetzt ver- Ein tiefer Riss in dieser Fassade stammt aus dem suchen Sie, sie mit ihrer Angst vor Terroranschlägen ein- Jahr 2013. Erinnern Sie sich? Damals war Wahlkampf. zuschüchtern. Das ist im Kern wirklich unanständig. Im Jahr 2013 ist die reale Welt in Form von Edward Frau Merkel, Sie untergraben auch die Legitimität der Snowden in die Merkel-Welt eingebrochen. Das war na- Geheimdienste, des Rechtsstaats und am Ende unserer türlich total unangenehm; denn Sie hatten die Republik Demokratie, wenn Sie jetzt nicht endlich aufklären. doch so schön eingelullt. Aber dann kam die reale Welt zum Vorschein, und was taten Sie? Sie schickten einen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gaukler namens Pofalla. Und was haben Sie den Gauk- Dieses Untergraben der Legitimität gefährdet am ler Pofalla sagen lassen? Sie haben den Gaukler Pofalla Ende unser aller Sicherheit; denn wir brauchen eine die schönen Worte an die Deutschen richten lassen: Die funktionierende Zusammenarbeit, und wir brauchen eine Amerikaner haben uns den Abschluss eines No-Spy-Ab- (B) rechtsstaatliche, verlässliche Zusammenarbeit. (D) kommens angeboten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie wollten beruhigen, Lösungen vortäuschen und verschleiern. Ihre Botschaft sollte sein: Wir haben alles Aber was wir nicht brauchen, ist, nach Ihrer markt- im Griff. – Doch es war eine falsche Fährte, eine Fährte, konformen Demokratie, auch noch die geheimdienst- wie sie ein Geheimdienst nicht besser hätte legen kön- konforme Demokratie. Es kann doch nicht wirklich Ihr nen. Es war Trickserei. So geht es nicht, Frau Merkel. Ernst sein, Frau Merkel, was Sie da zulassen. Legen Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) endlich die Selektorenlisten auf den Tisch! Denn an der Beendung der Massenüberwachung waren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie gar nicht interessiert. Es sollte nie ein No-Spy-Ab- sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE kommen geben. Die Amerikaner hatten es nie angebo- LINKE]) ten. Sie haben noch am 11. Mai in Bremen versprochen, Ihr Kanzleramt hat die Öffentlichkeit getäuscht, hin- dass selbstverständlich alle Unterlagen dem BND-Unter- ter die Fichte geführt oder, wie man es landläufig auch suchungsausschuss zugeleitet werden. Sie selbst haben nennt, schlichtweg gelogen. Und Sie haben es zugelas- gesagt: Selbstverständlich wird alles zugeleitet. – sen. Sie sind schließlich die Kanzlerin. Deshalb vermute Stimmt das jetzt, oder stimmt es nicht? ich, dass Sie Einfluss auf Ihr Kanzleramt haben. Viel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) leicht haben Sie es sogar selbst veranlasst. Ist es das, was Sie mit bestem Wissen und Gewissen meinen? Offensichtlich hat das Versprechen nicht einmal drei Tage gehalten. Wo sind jetzt die Selektorenlisten, wo Ihr Gewissen ist Ihre Sache, Frau Merkel. Ihr Wissen sind die Unterlagen, die der Untersuchungsausschuss war allerdings schon damals deutlich besser als Pofallas fordert? Halten Sie sich in diesem Fall an Ihre eigenen Gauklerspiel. Worte, und legen Sie die Unterlagen endlich vor! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der belegte E-Mail-Verkehr legt nahe, dass Sie ganz ge- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nau wussten, dass es dieses Abkommen nie geben Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Jahr ist auch würde. Frau Merkel, es war alles nur ein faules Ei aus entscheidend für den Klimaschutz und die globale Ge- Ihrer PR-Abteilung. rechtigkeit. Mit den Konferenzen zur Entwicklungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) finanzierung und zu den Nachhaltigkeitszielen der UN 10046 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Anton Hofreiter (A) sowie der Klimakonferenz in Paris werden Weichen für Verändern Sie die Realität! Dafür sind Sie zur Kanzlerin (C) die nächsten Jahrzehnte gestellt. In Ihrem Videopodcast gewählt. haben Sie, Frau Merkel, angekündigt, dass die Globali- sierung jetzt fair und gerecht gestaltet werden soll. Wie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der eine schöne Überschrift. Sie werden sich ganz Frau Merkel, Sie sprechen von einem guten Signal, bestimmt nach bestem Wissen und Gewissen dafür ein- das vom Petersberger Klimadialog ausgehen müsse. Ein setzen. gutes Signal. Es kann sein, dass Sie in Signalen und Symbolen denken. Wir erwarten beim Klimaschutz aber Aber können wir irgendetwas davon erwarten? Ich nicht Signale und Symbole, wir erwarten beim Klima- fürchte, nein. Erinnern Sie sich noch an 2007? Da gab es schutz längst Taten; denn Taten müssen den Worten fol- schon einmal einen Gipfel in Deutschland, den G-8-Gip- gen, nicht nur immer weitere schöne Worte. fel in Heiligendamm. Im Vorfeld haben Sie eine schöne Rede gehalten. Diese Rede hat den Titel getragen: „Glo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) balisierung fair gestalten“. Was ist aus dieser Überschrift Aber was passiert pünktlich zum Auftakt des Peters- gefolgt? Es ist immerhin schon viele Jahre her. Ich kann berger Klimadialogs? Sie weichen die CO -Einsparziele es Ihnen sagen: Finanztransaktionsteuer – gibt es nicht; 2 Ihres Energieministers auf. Mit dem Verbrennen der dre- verbindliche Arbeitsmarkt- und Sozialstandards – nicht ckigen Braunkohle reißen Sie alle selbst gesteckten mit Frau Merkel; harte Regeln für die Banken – Puste- Klimaziele und heizen die Erde weiter auf. Sie lassen kuchen; 0,7-Prozent-Ziel für die Entwicklungszusam- unentwegt die Kohle- und Atomideologen aus der menarbeit – kein Plan vorhanden. Unionsfraktion und aus Bayern die Energiewende sabo- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wo tieren. Ihre Bundestagsfraktion hat Minister Gabriel so waren Sie die ganze Zeit?) lange in die Kniekehlen getreten, bis er eingeknickt ist. An Ihren Slogans und Überschriften ist genauso viel (Volker Kauder [CDU/CSU]: Er steht doch dran wie an der schönen Show Ihres damaligen Gauklers aufrecht da!) Herrn Pofalla, es ist schlichtweg gar nichts dran. Ihr Ministerpräsident Seehofer wütet gegen den Netz- ausbau, der die Grundlage für den Atomausstieg ist. Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) versprechen zusammen mit Frankreich einen besseren Fragen Sie sich manchmal, ob seitdem für die Nähe- Emissionshandel. Aber es sind doch Ihre Parteifreunde rinnen in Bangladesch irgendetwas an ihren Lebens- von der CDU, die in Brüssel im Europaparlament genau umständen besser geworden ist? Es ist richtig, dass diese das verhindern, was Sie hier versprechen. Das darf doch (B) Menschen Entschädigungen bekommen. Aber es ist nicht wahr sein! (D) doch noch viel wichtiger, dass man dafür sorgt, dass es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu solchen Unglücken gar nicht erst kommt. Ist irgendet- was besser geworden, seit Sie zum letzten Mal eine sol- Was tun Sie, Frau Merkel? Sie schreiben nach bestem che Rede gehalten haben? Nein, nichts ist besser gewor- Wissen und Gewissen schöne Überschriften für diese den für die Näherinnen, und wir fürchten, dass auch Ihre falsche Politik. Die Merkel-Union ist längst zu einer Be- jetzige Rede wieder konsequenzlos bleibt und auch dies- drohung für das Klima geworden. mal nichts besser wird für die Näherinnen in Bangla- (Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]) desch. Sie gefährden dadurch, dass Sie nicht handeln, sondern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) immer nur schöne Worte sagen, die Lebensgrundlagen Fragen Sie sich eigentlich, ob die Risiken der globa- für uns alle; Sie gefährden dadurch die Lebensgrundla- len Finanzwelt kleiner geworden sind, seit Sie viele gen von Millionen von Menschen. schöne Reden gehalten haben? Auch hier lautet die Ant- Frau Merkel, „nach bestem Wissen und Gewissen“, wort Nein. Die Risiken sind nicht kleiner geworden. das ist die verbale Krücke für Ihr Regierungsprinzip. Oder nehmen wir die brutale Ungleichheit, die viel mit Wenn Politik allerdings nicht liefert, was sie verspricht, einer fairen und gerechten Globalisierung zu tun hat. wenn sie nicht sagt, was sie wirklich will, wenn sie nur Nein, auch die brutale Ungleichheit in der Welt ist kein Fassade ist, dann nimmt unsere Demokratie Schaden. bisschen kleiner geworden. Nächstes Jahr wird das Niedrige Wahlbeteiligungen und Politikverdrossenheit reichste 1 Prozent der Menschen genauso viel besitzen sind Folgen davon. Das ist mit Ihr Verdienst, Frau wie alle übrigen 99 Prozent zusammen. Merkel. Eine träge und politisch sedierte Bundesrepu- blik ist die Folge von zehn Jahren Kanzlerschaft Merkel. Schützen Sie diejenigen besser, die zu Hunderttausen- Ihre asymmetrische Demobilisierung, mit der Sie erfolg- den vor Krieg, Armut und Vertreibung fliehen? Nein, der reich Wahlkämpfe geführt haben, ist längst zu einer flä- Großteil des Mittelmeers bleibt immer noch eine Todes- chendeckenden Entpolitisierung geworden. zone, und humanitäre Visa gibt es immer noch nicht. Frau Merkel, Ihre Rede enthält wunderbare Überschrif- „Nach bestem Wissen und Gewissen“ – an diese ten, sie enthält schöne Worte, aber an der Realität ändert Worte kann ich mich gut erinnern. Die habe ich von ei- sich nichts. Seit zehn Jahren verbessert sich die Realität nem anderen Politiker schon einmal gehört. Dieser an- nicht. Da können Sie noch so oft schöne Worte wie die dere Politiker war auch einmal der beliebteste Politiker von fairer Globalisierung finden. Handeln Sie endlich! in ganz Deutschland. Können Sie sich noch an ihn erin- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10047

Dr. Anton Hofreiter (A) nern, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union? Es (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) war Karl-Theodor Guttenberg. Mit denselben Worten Thomas Oppermann [SPD] – Matthias W. verteidigte er einst seine Promotionsarbeit. So substanz- Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Quatsch!) los wie seine Promotionsarbeit, so zusammengeschus- Liebe Kollegen, ich halte es auch für richtig, dass die tert, ideenlos und inhaltsleer ist inzwischen Ihre Politik EU deutlich macht, dass wir in der Vertiefung von Nach- geworden. Auch Sie werden nicht länger mit Ihrem Ein- barschaftsbeziehungen keinen Alleinvertretungsanspruch lullen, Täuschen und Vortäuschen davonkommen. Die für uns behaupten, sondern dass wir natürlich sagen: Wir „Methode Merkel“ kommt inzwischen an ihr Ende, und wollen eine Vertiefung der Beziehungen, haben aber das ist auch gut so. auch Verständnis dafür, wenn es darüber hinaus noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – weitere Organisationseinheiten gibt, zu denen man gehö- Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) ren möchte, wie beispielsweise im Fall Armeniens. So können wir einen Beitrag leisten, um auch in diesem Teil Europas und in europanahen Regionen für Entwicklung Präsident Dr. Norbert Lammert: zu sorgen. Für die CDU/CSU-Fraktion erhält nun Volker Kauder das Wort. Wir sollten mit diesen Nachbarn aber auch darüber re- den, dass auch sie einen Beitrag dazu leisten können, (Beifall bei der CDU/CSU) Flüchtlingsbewegungen zu unterbinden, und damit zu der Frage, wie wir mit Flüchtlingen umgehen. Es gibt nämlich nicht nur die Flüchtlinge, die über das Mittel- Volker Kauder (CDU/CSU): meer kommen, sondern auch Tausende von Flüchtlin- Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle- gen, die auf dem Landweg über osteuropäische Staaten gen! Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklä- zu uns kommen. Deswegen gehört das Thema Flücht- rung zu zwei, drei wichtigen globalen Themen und linge nicht nur in diesen Bereich hinein, sondern auch in Herausforderungen gesprochen. Bei den Treffen in den den Rahmen des G-7-Treffens. nächsten Tagen wird darüber entschieden, wie es bei zentralen Aufgaben, die nicht mehr national gelöst wer- Ich bin froh, dass wir hier bei uns in Deutschland den können, weitergeht. Da kann ich mich, Herr klare Positionen gefunden haben, was wir tun wollen, Hofreiter, nur wundern, mit welch kleinem Karo Sie und dass wir uns dieser Herausforderung stellen und da- heute hier angetreten sind. für im Nachtragshaushalt, den wir in dieser Woche be- schließen, Mittel zur Verfügung stellen. Ich finde, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. auch dies ein Thema ist, das man in Elmau besprechen (B) Thomas Oppermann [SPD]) kann: Was müssen wir tun, um Flüchtlingsbewegungen (D) nicht zu stoppen, sondern immer weniger notwendig zu Da geht es zunächst einmal um die Vertiefung und machen, damit die Menschen eine Perspektive in ihren den Ausbau der Partnerschaft der EU mit den östlichen Ländern haben? Da ist es völlig richtig, dass wir uns die Ländern. Es ist tatsächlich so, wie es die Bundeskanzle- Frage stellen: War die bisherige Entwicklungshilfepoli- rin und der Bundesaußenminister mehrfach gesagt ha- tik tatsächlich überall richtig und erfolgreich? Da müs- ben: Dabei geht es nicht darum, dass die EU und dass sen wir natürlich mit Ländern sprechen, die zu den G 7 wir aus Deutschland unseren Willen durchsetzen wollen gehören, und mit Ländern, die nicht zu den G 7 gehören. – überhaupt nicht! –, sondern darum – darauf hat Da muss man auch mit China einmal darüber reden, dass Thomas Oppermann auch hingewiesen –, dass Länder in das, was China in Afrika macht, mit Entwicklungshilfe- freier Selbstbestimmung entscheiden, was sie gern politik an vielen Stellen relativ wenig zu tun hat. möchten, und damit auf ein Angebot der EU zukommen. Es war in vielen Festreden hier im Deutschen Bundestag (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Rede davon: Das Selbstbestimmungsrecht der Völ- neten der SPD und des Abg. Dr. Gregor Gysi ker darf durch niemanden eingeengt und bedroht wer- [DIE LINKE]) den, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn wir über Sicherheit reden, dann müssen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie auch darüber reden, dass die Sicherheit gefährdet ist: der Abg. [Bremen] [BÜND- durch ausbleibende wirtschaftliche Entwicklung, bei- NIS 90/DIE GRÜNEN]) spielsweise in den ärmsten Ländern der Welt, aber auch dort, wo es überhaupt keine staatliche Gewalt mehr gibt. Genau dies setzen wir jetzt um. Ich kann nur sagen: Was in Libyen passiert, hat mit ei- nem funktionierenden Staat überhaupt nichts mehr zu Herr Gysi, dass Sie sich noch immer nicht entschei- tun. Wir sehen ja, dass es für uns fast unmöglich ist, das den können, Unrecht vonseiten Russlands als Unrecht zu Thema der Flüchtlinge, die aus Libyen kommen, mit ir- bezeichnen, gendjemandem in Libyen zu besprechen. Deswegen ist (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Habe ich im- es eine zentrale Aufgabe der internationalen politischen mer gemacht!) Arbeit, dass wir dafür sorgen, dass es funktionstüchtige Staaten gibt. Ich sehe in weiten Teilen Afrikas eine im- weil Sie offenbar noch immer nicht richtig wissen, wo mer stärkere Auflösung. Dort, wo keine ordnende staatli- Sie hingehören, ist Ihr Problem. Aber schade ist es auf che Gewalt mehr da ist, wo terroristische Gruppen mit jeden Fall. den Leuten machen können, was sie wollen, sind die 10048 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Volker Kauder (A) Menschen am meisten betroffen und verfolgt. Das müs- Zum Klimaziel. Die Bundesregierung und die Koali- (C) sen wir unterbinden. tionsfraktionen haben auch in diesen Tagen immer wie- der betont, dass es beim Klimaziel bleibt, dass es also (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keine Abstriche gibt. Aber, Herr Hofreiter, Sie haben neten der SPD – Zuruf des Abg. Wolfgang heute an diesem Rednerpult so getan, als ob Sie in ganz Gehrcke [DIE LINKE]) Deutschland in der Opposition wären. Das wäre zwar Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, die Bedeutung ei- kein Problem, wenn dem so wäre. Aber dem ist nicht so. nes anderen Themas, das bei den Vereinten Nationen nicht so richtig aufgenommen wird, sollte in den Gesprä- (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Anton chen sowohl im Rahmen der Östlichen Partnerschaft als Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auch in Elmau deutlich gemacht werden: Eine zentrale Stimmt! Wir regieren in mehr Ländern als die Ursache für terroristische Bewegungen und die Verfol- CDU!) gung von Menschen ist die zunehmende Bereitschaft, Sie sind in Nordrhein-Westfalen, einem Kohleland, in Religionsfreiheit nicht mehr als einen zentralen Bestand- der Regierung. Da kann ich nur sagen: Bestimmte Dinge teil der politischen Arbeit zu betrachten. Ich meine damit gehen redlich nicht. nicht nur die besondere Situation verfolgter Christen. Vielmehr sehe ich, dass Religion im Nahen Osten teil- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE weise missbraucht wird, um Macht und Gewalt ausüben GRÜNEN]: Da reduzieren wir die Braun- zu können. Davon sind Muslime genauso betroffen wie kohle!) Angehörige anderer Religionen. Ich kann aufgrund mei- Man kann nicht aus Nordrhein-Westfalen rufen: „Wir ner jahrelangen Erfahrung und Arbeit nur sagen: Wir lassen nicht zu, dass der Kohle irgendetwas geschieht“, müssen deutlicher machen, dass es, wenn das Recht je- des Einzelnen, sich zu einer Religion zu bekennen oder (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE nicht und dies auch zu leben, nicht durchgesetzt wird, GRÜNEN]: Das war Herr Laschet! Kennen keine Ruhe in den betreffenden Regionen geben wird. Sie Herrn Laschet, Herr Kauder?) (Beifall bei der CDU/CSU) aber dann, wenn es darum geht, etwas für das Klima zu Deswegen muss die Religionsfreiheit ein zentrales tun, damit es bei der Kohle weitergehen kann, nämlich Thema sein. Es wird nicht immer einfach sein, das deut- Maßnahmen zur energetischen Gebäudesanierung zu be- lich zu machen. schließen, nicht mitmachen. Ich habe vor wenigen Wochen ein Gespräch mit dem (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Großscheich der Al-Azhar-Universität in Kairo geführt. (D) Haben Sie sich eigentlich einmal überlegt, ob das, was Er hat mir gesagt – da sieht man, wo die Auseinanderset- Sie heute hier gesagt haben, nicht logischerweise zum zungslinie verläuft –: Ihre westliche Vorstellung von Austritt aus der Regierung in Nordrhein-Westfalen füh- Menschenrechten teilen wir nicht. – Er hat also nicht ge- ren müsste? Die Frage müssen Sie sich einmal stellen, sagt: „Das akzeptieren wir“, sondern: „Das teilen wir Herr Hofreiter, statt hier solche Sprüche zu machen. nicht“. Und weiter hat er gesagt, dass im Islam der Grundsatz gelte – diesen lasse man sich auch von nie- (Beifall bei der CDU/CSU) mandem nehmen –, dass die Religion über dem Einzel- nen steht und nicht der Einzelne mit seinen Rechten über Ich kann nur sagen: Wir bleiben bei unserem Ziel. der Religion. Solange es Religionen gebe, die genau das Wir werden mit dem Wirtschafts- und Energieminister Gegenteil behaupten, könne er dies nicht hinnehmen. – Gabriel eine Lösung dieses Problems finden. Aber ich Deshalb kann ich denjenigen, die anderer Meinung sind, sage auch: NRW muss endlich bereit sein, bei der ener- nur sagen: Sie können ihre Position für sich und ihre Re- getischen Gebäudesanierung mitzumachen, zumal jetzt ligion vertreten. Wenn aber jemand glaubt, seine Auffas- die finanziellen Möglichkeiten dazu bestehen. Es hat sung, was religiös richtig ist und was nicht, unbedingt nicht nur der Bundesfinanzminister mehr Steuereinnah- und absolut durchsetzen zu müssen, dem kann ich nur men in die Bundeskasse bekommen, sondern in gleicher sagen: Dann wird es keinen Frieden in den betreffenden Höhe sind auch die Einnahmen in den Ländern gestie- Regionen geben. gen. Dann wird es doch möglich sein, dass Sie hier für das Klima etwas machen. Da helfen die Reden hier Religionsfreiheit bedeutet, dass jeder das Recht hat, nichts! Dort, wo Sie in der Regierung sind, müssen Sie seinen Glauben zu leben. Das müssen wir in den Diskus- einmal handeln, Herr Hofreiter, statt hier große Reden zu sionen mit vielen Ländern dieser Welt so klar und deut- führen! lich sagen und auch einfordern. Es geht nicht – wie der eine oder andere in der Türkei meint – um den Vorrang (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Anton der christlichen Religion. Vielmehr hat jede Religion das Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Recht, ihren Glauben überall auf der Welt frei zu leben. Wissen Sie, wer die Gebäudesanierung blo- Das muss durchgesetzt werden. Nur so sorgen wir für ckiert hat? Das waren Seehofer und die CSU! eine wirkliche Bekämpfung radikalisierter Gruppen in Und die CSU regiert leider Bayern und nicht den entsprechenden Regionen. NRW!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wir werden das Thema wieder bringen. Sie werden Thomas Oppermann [SPD]) Gelegenheit haben, zu zeigen, ob das, was Sie hier voll- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10049

Volker Kauder (A) mundig verkünden, dann nachher wenigstens in einer Alle Länder haben das Recht, ihre Wege und Formen (C) kleinen Tat gelingt. der Zusammenarbeit mit anderen Ländern oder von Zu- sammenschlüssen frei und selbst zu bestimmen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Genauso gehört zur guten Nachbarschaft, mit den Nachbarn über die damit verbundenen Entwicklungen zu Präsident Dr. Norbert Lammert: reden. Die jetzigen Gespräche zwischen der EU und Franz Thönnes ist der nächste Redner für die SPD- Russland über die Wirkungen des mit der Ukraine abge- Fraktion. schlossenen Assoziierungsabkommens gilt es von bei- den Seiten konstruktiv zu nutzen. Es gilt, zu realisieren, (Beifall bei der SPD) wie bestimmte Beziehungen der Partnerländer zum gro- ßen Nachbarn Russland ausgeprägt sind. Trotz der sehr Franz Thönnes (SPD): kritischen Lage gehen noch immer 25 Prozent des ukrai- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der nischen Exports nach Russland, 33 Prozent in die EU. heutige Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga findet Da bestehen Verbindungen und Verflechtungen im Ener- vor einem Hintergrund statt, in dem der Frieden nicht giebereich, im gesellschaftlichen, sprachlichen und me- gesichert und die Gefahr einer neuen Spaltung in Europa dialen Bereich. nicht gänzlich gebannt ist. Es ist gleichzeitig ein Hinter- 700 000 Beschäftigte aus Moldau arbeiten in Russ- grund, verbunden mit einer Hoffnung – mit der Hoff- land. Die Russische Föderation ist Moldaus größter bila- nung, dass es drei Monate nach der Erklärung der Präsi- teraler Handelspartner. Die europaorientierte und von denten von Frankreich, Russland, der Ukraine und der den Kommunisten gestützte Regierung befindet sich an- Bundeskanzlerin trotz einzelner Waffenstillstandsverlet- gesichts eines Bankskandals im Moment in einer sehr zungen nun zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen schwierigen Situation. Aber man spürt in der Bevölke- und der dazugehörigen Maßnahmen, also zu einem rung, dass ein Teil die Kooperation mit Russland und friedlichen Prozess der Lösung des Konflikts, kommt. dass ein anderer Teil eine enge Kooperation mit der Das ist von zentraler Bedeutung für die Menschen, Europäischen Union will. Tausende Moldauer machen das ist von zentraler Bedeutung für die notwendigen Re- inzwischen Gebrauch von der Visaliberalisierung. formen und die Stabilität in der Ukraine, und es ist auch Die georgische Regierung hat gerade erst wieder eine eine wesentliche Voraussetzung für die Weiterentwick- Umbildung hinter sich und ist bemüht, ihren europäi- lung der Östlichen Partnerschaft und der Entstehung ei- schen Kurs zu halten. Gleichzeitig bangen die Menschen nes neuen Vertrauens. Es geht letztlich darum, das fried- um die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze und sehen auch die (B) liche Zusammenleben in unserem gemeinsamen engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland. (D) europäischen Haus zu sichern. Nicht zu unterschätzen sind auch die Verbindungen der (Beifall bei der SPD) Kirchen untereinander. In Armenien kommen 60 Prozent der Direktinvesti- So wird der heutige Gipfel kein Jubelgipfel sein kön- tionen aus Russland, 2 Millionen armenische Gastarbei- nen, aber er wird auch nicht der Gipfel einer gescheiter- ter sind dort tätig. Durch den ungelösten Berg-Karabach- ten Politik in den letzten Jahren sein. Er muss ein Gipfel Konflikt wahrt Russland seine Einflüsse auf Armenien der nüchternen Analyse sein, ein Gipfel, der die gemach- und auf Aserbaidschan. Die Menschenrechtslage in ten Erfahrungen mit den Partnerländern Armenien, Aserbaidschan ist schwierig, und das Land ist derzeit Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und der wohl eher selektiv an einer Zusammenarbeit im energie- Ukraine aufarbeitet und der zeigt, dass man gelernt hat, und wirtschaftspolitischen Bereich interessiert. dass – salopp gesagt – eine Kleidergröße allein nicht passt, sondern dass es notwendig ist, Bedingungen zu Schließlich ist Belarus, Gründungsmitglied der Eura- entwickeln, die auf die Partnerländer zugeschnitten sind, sischen Wirtschaftsunion, einer der engsten und von und mit länderspezifischen Angeboten zu arbeiten. Und Russland abhängigsten Partner. Gleichwohl hat das Land es gilt, noch deutlicher zu machen, dass die Koopera- im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland eine tionspolitik nicht gegen einen Nachbarn gerichtet ist, sehr konstruktive Rolle gespielt. Von erheblicher Bedeu- sondern spürbar auf gute Nachbarschaft ausgerichtet ist. tung sind hier aber Verbesserungen der innenpolitischen und menschenrechtlichen Lage sowie die dringend not- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. wendige Freilassung der politischen Gefangenen, unter Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ denen auch der ehemalige sozialdemokratische Präsi- DIE GRÜNEN]) dentschaftskandidat Nikolai Statkevich ist. Dafür gibt es gute Gründe. Georgien, Moldau und die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ukraine haben inzwischen ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet. Aserbaidschan, Armenien und Dieser Ausschnitt aus der gesamten Vielfalt der Situa- Belarus streben das nicht an. Die letzten beiden wurden tion in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion gemeinsam ihren Verhältnissen zeigt deutlich, wie wichtig die Ein- mit Russland, Kasachstan und Kirgisistan. Genau damit beziehung Russlands in die Gestaltung dieser Nachbar- könnten sie wichtige Bindeglieder bei einer Verbesse- schaftspolitik ist. Ich teile die Einschätzung, die hierzu rung des Verhältnisses zwischen Russland und der EU gerade im April dieses Jahres in einem Papier der Stif- sein. tung für Wissenschaft und Politik geäußert wurde: 10050 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Franz Thönnes (A) Die EU muss sich außerdem bemühen, in dem Ge- Bild! Nach dem Ende der Teilung Europas findet dieses (C) samtgeflecht ihrer Beziehungen dafür zu sorgen, Europa seine Mitte wieder. Und selbstverständlich gehö- dass in dem Verhältnis zwischen Russland und des- ren Warschau, Krakau, Riga und Budapest zu Europas sen Nachbarn sowie zwischen den Nachbarn unter- Mitte – wie schon vor der Teilung Europas, wie schon einander Verträglichkeit, Transparenz und Stabilität vor dem Kalten Krieg. Im Kalten Krieg war Europa ge- herrscht. teilt in Interessenssphären und Machtblöcke: hier EWG, dort RGW, hier NATO, dort Staaten des Warschauer Einen guten Rahmen hierfür bietet das Bekenntnis der Paktes. In den Jahren nach 1990 schien diese Teilung Staats- und Regierungschefs aus der Minsker Erklärung aufgehoben. Europa konnte zusammenfinden. Interes- vom 12. Februar 2015 zur Version eines gemeinsamen senssphären und Machtpolitik hat niemand von uns, nie- humanitären und wirtschaftlichen Raums vom Atlantik mand in Europa, wirklich vermisst. Doch spätestens mit bis zum Pazifik auf der Grundlage der uneingeschränk- der Annexion der Krim und dem militärischen Eingrei- ten Achtung des Völkerrechts und der Prinzipien der fen Russlands in der Ukraine ist die Machtpolitik, ist die OSZE. Diese Verantwortung gilt es, einzulösen, für alle, Hegemonialpolitik wieder auf die europäische Tagesord- auch für Russland, um neues Vertrauen zu schaffen. nung zurückgekehrt. Auch der bevorstehende Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga bleibt davon nicht ver- Präsident Dr. Norbert Lammert: schont. Die Deutsche Presse-Agentur, dpa, vermeldete Herr Kollege Thönnes. gestern: Vor dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga Franz Thönnes (SPD): hat der russische Außenminister Sergej Lawrow die Aber es gilt auch, Perspektiven für die Partnerländer EU mit Nachdruck davor gewarnt, Russlands Inte- aufzuzeigen, den Weg in die Europäische Union zu ge- ressen zu schaden. hen. Dazu bedarf es konsequenter Arbeit. Polen hat dafür 15 Jahre gebraucht. Schneller können wir gute Was aber sind Russlands Interessen, und warum sind es Voraussetzungen für die Visaliberalisierung mit den – offensichtlich – nicht die gemeinsamen europäischen Partnerschaftsländern und auch mit Russland schaffen, Interessen, und wie könnte ein Ausgleich dieser Interes- damit der humanitäre Raum mit der Begegnung von sen aussehen? Menschen im friedlichen Miteinander ausgefüllt werden kann. Deswegen ist der Erfolg von Minsk für uns alle so Meine Damen und Herren, beim heute Abend in der wichtig. lettischen Hauptstadt Riga beginnenden Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit den Vertretern sechs östlicher Nachbarländer geht es (B) der CDU/CSU) um die Bilanz, die Verbesserung und Vertiefung der (D) 2009 beschlossenen Östlichen Partnerschaft. Zur Östli- Präsident Dr. Norbert Lammert: chen Partnerschaft gehören die Ukraine, Weißrussland, Ich erteile das Wort dem Kollegen Manfred Grund für Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Diese die CDU/CSU-Fraktion. Staaten gehören zu Europa oder verorten sich selbst zu Europa und orientieren sich an der europäischen Ent- (Beifall bei der CDU/CSU) wicklung. Sie haben aber auf absehbare Zeit keine Bei- trittsperspektive zur Europäischen Union. Manfred Grund (CDU/CSU): Mit der Östlichen Partnerschaft macht die Europäi- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anfang sche Union diesen Staaten ein Modernisierungsangebot, der 2000er-Jahre, also vor ungefähr 15 Jahren, habe ich ein Modernisierungsangebot durch Stärkung der Rechts- an einer Konferenz im Rahmen des Programms „Part- staatlichkeit, zur Bekämpfung der Korruption, für gute nerschaft für den Frieden“ teilgenommen. Auf dieser Regierungsführung, ein Angebot zur gesellschaftlichen Konferenz waren Botschafter nahezu aller europäischen Modernisierung durch Stärkung der Zivilgesellschaft, Staaten, also auch aus den Transformationsländern Ost- ein Angebot zur wirtschaftlichen Modernisierung durch und Mitteleuropas vertreten, und auch verschiedene Mi- weitgehende Integration in den EU-Markt. Es geht also litärs. Während der Konferenz ergriff ein russischer Ge- um Stabilität, und es geht um wirtschaftliche Entwick- neral das Wort und stellte die Frage, ob denn nicht jeder- lung. Wieso innere Stabilität und wirtschaftliche Prospe- mann klar sehe, dass sich mit der Osterweiterung der rität in den Ländern der Östlichen Partnerschaft russi- Europäischen Union und der NATO diese nach Osten, an schen Interessen zuwiderlaufen sollten, ist für uns nicht die Grenzen Russlands verschieben und damit die Inte- so leicht nachzuvollziehen. Könnte es sein, dass Moskau ressen Russlands verletzt würden. die Westorientierung seiner Nachbarn deshalb ablehnt, Es war spannend, zu erleben, wer dem russischen Ge- weil deren rechtsstaatliche und demokratische Moderni- neral antwortete. Kein EU- oder NATO-Botschafter er- sierung eine Herausforderung für das eigene politische griff das Wort. Es stand ein polnischer General auf, und System ist? er sagte, nicht die Europäische Union und die NATO (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Grosse- würden nach Osten verschoben, um Russland zu beein- Brömer [CDU/CSU]: Sehr gute Frage!) trächtigen, sondern Europa finde nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Fall des Eisernen Vorhangs seine Macht Putin die erfolgreiche politische, wirtschaftliche Mitte wieder. – Meine Damen und Herren, was für ein und soziale Entwicklung Polens Angst, weil er hier in Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10051

Manfred Grund (A) seinem eigenen Land die größten Defizite aufzuweisen lismus etabliert. Oligarchen verzichten nicht freiwillig (C) hat? auf Einfluss und Pfründe. Der Rechtsstaat muss gegen Oligarchen erzwungen werden, auch und gerade mit un- Meine Damen und Herren, mit Georgien, der Repu- serer Hilfe. blik Moldau und der Ukraine hat die EU Assoziierungs- abkommen abgeschlossen. Dies sind ambitionierte Pro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gramme für Reformen. Daran gilt es ohne Abstriche neten der SPD) festzuhalten. Es bleiben Belarus, Armenien und Aserbai- Gelingt diese Systemwende in der Ukraine und in Mol- dschan. Mit Armenien hatte die Europäische Union dau nicht – also Stärke des Rechts und nicht: Recht des ebenso ein Assoziierungsabkommen ausgehandelt, doch Stärkeren –, dann wird das oligarchische System früher hat sich Armenien wegen innen- und außenpolitischer oder später zu einem staatlichen Zerfall führen, und die- Zwänge der von Russland dominierten Eurasischen ser staatliche Zerfall der Ukraine und der Republik Mol- Wirtschaftsunion angeschlossen. Auch Belarus ist Mit- dau wird größere Sicherheitsrisiken in sich bergen als glied in dieser Eurasischen Wirtschaftsunion. Aserbai- der heutige Konflikt mit Russland. dschan – auch das wurde erwähnt – sucht noch einen eigenen Weg. Auf diese unterschiedlichen Positionierun- Unser Signal muss klar sein: Europa bedeutet politi- gen wird die Europäische Union bei der im Herbst anste- sche und wirtschaftliche Reformen, gesellschaftliche henden Neuausrichtung der Europäischen Nachbarschafts- Modernisierung, sozialer Zusammenhalt. Es sind Demo- politik akzentuiert antworten müssen. kratie und wirtschaftliche Perspektiven, was die Men- schen in diesen Ländern von der Östlichen Partnerschaft Ich sehe zwei zentrale Herausforderungen: zum einen erwarten. Wir wollen diese mit den Assoziierungsab- den Konflikt mit Russland, zum anderen die Schwierig- kommen und den Instrumenten der Östlichen Partner- keit einer nachhaltigen Modernisierung dieser Partner- schaft ermöglichen, und wir halten einen Interessenaus- länder. Beides wird kurzfristig nicht zu bewältigen sein. gleich mit Russland für möglich und notwendig, eben Es wird Jahre in Anspruch nehmen. Wir brauchen dazu weil die Östliche Partnerschaft und die Europäische strategische Geduld, insbesondere im Umgang mit Russ- Nachbarschaftspolitik nicht gegen Russland gerichtet land. Wir müssen mit Russland in einen Dialog treten sind. mit dem ambitionierten Ziel, die Gegensätze zwischen Europäischer Freihandelszone und Eurasischer Zoll- Es gibt berechtigte Hoffnung, dass sich Russland dem union zu überwinden. Falls sich Lawrows Vorbehalte für Anfang 2016 geplanten Inkrafttreten des Freihan- durch einen solchen Interessenausgleich erübrigen, wäre delsabkommens der EU mit der Ukraine nicht widerset- das ein Gewinn für alle Beteiligten, auch für Armenien, zen wird. Ein Interessenausgleich mit Russland sollte auch deshalb möglich sein, weil Sankt Petersburg und (B) welches sich nach dem Beitritt zur Eurasischen Wirt- (D) schaftsunion viel von einer weiteren wirtschaftlichen Moskau gar nicht so weit von der Mitte Europas entfernt Annäherung an die Europäische Union verspricht. sind. Hierzu ist es aber nunmehr auf einen Dialog zwischen Der Bundeskanzlerin viel Erfolg für die Gespräche in Eurasischer Wirtschaftsunion und EU angewiesen, weil Riga und Ihnen vielen Dank. es nicht mehr frei für sich selbst verhandeln kann. Ein solcher Dialog wird auch einen Hinweis darauf geben, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ob die Eurasische Zollunion die Situation in ihren Mit- neten der SPD) gliedstaaten verbessern will oder lediglich dazu dient, die von Russland beanspruchte Einflusssphäre wirt- Präsident Dr. Norbert Lammert: schaftlich und politisch von der Europäischen Union ab- Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentri- zuschotten. büne haben der soeben aus Prag eingetroffene Präsident des Abgeordnetenhauses des Parlaments der Tsche- Aus all dem folgt, dass sich eine Weiterentwicklung chischen Republik, Herr Jan Hamáček, und seine De- der Östlichen Partnerschaft an zwei Prinzipien ausrich- legation Platz genommen, die ich im Namen des ganzen ten sollte. Erstens: Differenzierung. Wir brauchen eine Hauses herzlich bei uns begrüße. starke Differenzierung zwischen den einzelnen Ländern, und wir brauchen eine stärkere Differenzierung unserer (Beifall) Angebote. Zweitens: Flexibilität. Wir brauchen größere Lieber Kollege Hamáček, wir freuen uns über Ihren Be- Flexibilität hinsichtlich unserer Fähigkeit, schnell und such, wünschen Ihnen einen interessanten Aufenthalt in zielgerichtet auf neue Herausforderungen und Entwick- Berlin, und wir freuen uns auf die immer enger wer- lungen zu reagieren. dende Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Parla- An einem Punkt ist allerdings klare Kante angesagt, menten. nämlich beim Kampf gegen Korruption und Oligarchen- Nächste Rednerin ist die Kollegin Bärbel Kofler für wirtschaft. Dieser Kampf muss in den Ländern Osteuro- die SPD-Fraktion. pas selbst bestritten und gewonnen werden. Denn in den vergangenen zwei Jahrzehnten haben vor allem in der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ukraine und in Moldau oligarchische Strukturen die Politik dominiert. Eine systemische Korruption hat staat- Dr. Bärbel Kofler (SPD): liche Institutionen praktisch weitgehend privatisiert. Das Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen oligarchische System hat eine moderne Form des Feuda- und Kollegen! Vom Gipfel in Elmau müssen entwick- 10052 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Bärbel Kofler (A) lungspolitische Signale für die künftigen Konferenzen, Südasien nur zwei von zehn Arbeitnehmern angestellt (C) die in diesem Jahr anstehen, ausgehen. Es sind drei sind. Das heißt, alle anderen sind im informellen Sektor wichtige Konferenzen, die bereits von einigen Kollegen – der Bericht spricht von „auf eigene Rechnung“ – be- angesprochen wurden. schäftigt und haben damit keine soziale Absicherung, keinen Zugang zu irgendeinem Gesundheitsschutz und Eine ist die Konferenz in Addis Abeba zum Thema keinen Hintergrund, der es ihnen ermöglicht, aus eigener der Entwicklungsfinanzierung. Hier kann der G-7-Gipfel Kraft die Armut zu verlassen. Mehr als 10 Prozent der in Elmau einige Signale aussenden, positive Signale aus- Arbeitnehmer verdienen unter 1,25 Dollar am Tag – 1,25 senden, nicht nur, was das Erreichen der 0,7-Prozent- Dollar am Tag und darunter, bei Vollzeitbeschäftigung. ODA-Quote anbelangt, sondern insbesondere auch, was die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuer- Das sind die Probleme, zu denen ich vom Gipfel in vermeidung anbelangt sowie im Hinblick auf das Aus- Elmau, bei dem es um verbindliche Standards in Liefer- dünnen von Steueroasen. Ich erwarte mir von einem ketten geht, wirkliche Signale erwarte. Die ILO sagt Gipfel wie dem G-7-Gipfel in Elmau, wo Vertreter der dazu: Mittlerweile sind 453 Millionen Menschen in führenden Industrienationen zusammentreffen, positive 40 Ländern in globale Lieferketten eingebunden. – Signale in diesen Bereichen, damit Entwicklungsländer Wenn das so ist, dann tragen wir aufgrund unserer indus- auch die Chance haben, mit Steuereinnahmen, mit eige- triellen Produktion, die in viele Länder dieser Erde aus- nen Einnahmen und eigenen Mitteln, systemisch in Ge- gelagert ist, eine Mitverantwortung für die Standards sundheitssysteme, Bildung und Armutsbekämpfung zu und für das Leben und für das Arbeiten dieser Men- investieren. schen. Diesen Standards müssen wir gerecht werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Ich erwarte mir von diesem Gipfel auch, dass im Be- Über die Frage des Fonds, wenn es um Arbeitsschutz reich der Vorbereitung der sogenannten Nachhaltigkeits- geht, ist gesprochen worden heute. Das ist ein ganz konferenz zu den SDG-Zielen in New York deutliche Si- wichtiges Instrumentarium. Ich bin den beteiligten gnale ausgehen, in zwei Richtungen. Neu bei dieser Ministerien da explizit dankbar. Konferenz ist das sogenannte Prinzip der Universalität; das heißt, alle Staaten müssen ihr Handeln so ausrichten, Präsident Dr. Norbert Lammert: dass es entwicklungsförderlich und armutsbekämpfend Frau Kollegin. ist. Alle Staaten, auch die Teilnehmerstaaten des G-7- Gipfels, auch die führenden Industrienationen, müssen Dr. Bärbel Kofler (SPD): (B) das tun, müssen ihr Handeln sowohl bei Handelsverträ- (D) Ich komme zum Schluss. – Aber es muss auch darum gen als auch beim Klimaschutz und bei Klimaabkom- gehen, das Thema der ILO-Kernarbeitsnormen und da- men dementsprechend ausrichten. mit insbesondere des gewerkschaftlichen Rechts und der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gewerkschaftlichen Beteiligung voranzubringen. Auch der CDU/CSU) da hätten einige der G-7-Staaten noch Nachholbedarf. Ich erwarte, dass in zwei Bereichen, die neu sind im so- Danke. genannten Nachhaltigkeitsprozess – neu im Gegensatz (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu den früheren Zielen, den Millenniumsentwicklungs- der CDU/CSU) zielen –, hier entscheidende Impulse ausgehen. Es geht um die Frage der Ungleichheit zwischen den Ländern – wie man Ungleichheit zwischen den Menschen und Präsident Dr. Norbert Lammert: zwischen den Ländern bekämpfen kann –, und es geht Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege um die Frage der menschenwürdigen Arbeit. Ich möchte Florian Hahn das Wort. hier explizit noch einmal unterstreichen: Es muss von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) diesem Gipfel, wenn ein wichtiger Schwerpunkt das Thema „Standards in Handels- und Lieferketten“ ist, ein Florian Hahn (CDU/CSU): Signal für verbindliche Standards im sozialen und ökolo- gischen Bereich ausgehen, um Menschen vor Ausbeu- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und tung in Arbeit zu schützen. Kollegen! Die Östliche Partnerschaft ist von herausra- gender Bedeutung – wir haben das schon mehrfach heute (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gehört –, zu Recht. Es geht dabei um mehr als nur um der CDU/CSU) die Außenpolitik der EU oder Handelserleichterungen; denn wir sind mit unseren Partnerländern nicht nur Diese Woche hat die Internationale Arbeitsorganisa- räumlich verbunden, sondern auch kulturhistorisch. tion in Genf einen Bericht vorgelegt, der sich mit den Diese Partnerschaft hat auch eine geopolitische Dimen- unsicheren, den prekären Arbeitsbedingungen weltweit sion; das haben die Entwicklungen um die Assoziie- auseinandersetzt. Wenn wir es ernst meinen damit, dass rungsabkommen mit der Ukraine, mit Georgien und mit wir die Arbeitsbedingungen der Menschen in Entwick- Moldau gezeigt. lungsländern verbessern und die Menschen aus der Ar- mut herausholen wollen, dann müssen wir zur Kenntnis Russland lässt gegenwärtig leider nichts unversucht, nehmen, was in dem Bericht steht: dass in Afrika und die Annäherung der östlichen EU-Nachbarstaaten zu Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10053

Florian Hahn (A) verhindern. Unsere Botschaft ist klar: Wir wollen gute Es ist an der Zeit, dass Europa konkrete Perspektiven für (C) Nachbarn sein, und wir wollen gute Nachbarn haben. verschiedene Arten der Partnerschaften entwickelt. Deshalb sind die Stabilisierung und die Demokratisie- Die EU-Vollmitgliedschaft kann nicht das einzige rung unserer Nachbarländer in unserem ureigenen euro- Ziel sein. Das überfordert die Länder der Östlichen Part- päischen Interesse. nerschaft und vor allem auch uns. Wir brauchen in Die Östliche Partnerschaft ist aber nicht gegen Russ- Europa jetzt eine Vertiefung und nicht eine Erweiterung. land gerichtet. Es geht nicht um Entweder-oder, sondern Im Übrigen zeigt sich auch hier, dass unser Weg zu ei- um Sowohl-als-auch, und ich bin der festen Überzeu- ner privilegierten Partnerschaft mit der Türkei der rich- gung: Am Ende des Tages wird auch Russland verste- tige war. Ich kann nur sagen: Ich bin froh, dass wir kei- hen, dass die Östliche Partnerschaft eine Chance für alle nen Autokraten Erdogan in der EU haben, der das Land ist: für uns, Europa, für die Partnerländer und für Russ- islamisiert, Frauen- und Presserechte mit Füßen tritt, die land selbst. Gewaltenteilung untergräbt und die in Deutschland le- (Beifall bei der CDU/CSU) benden Türken gegen ihre neue Heimat und unsere ge- meinsame Gesellschaftsordnung aufwiegelt. Heute, fast auf den Tag genau sechs Jahre nach der Gründung der Östlichen Partnerschaft, ist es Zeit für (Beifall bei der CDU/CSU) eine Bestandsaufnahme. Lassen Sie mich deswegen drei Prinzipiell darf es keinen Aufnahmeautomatismus ge- zentrale Punkte benennen: ben – für kein Land. Deswegen ist es richtig, dass wir die Fortschritte bei der Östlichen Partnerschaft an kon- Erstens. Bei der Östlichen Partnerschaft geht es nicht krete Reformen binden und die Dokumentation durch um die Missionierung unserer Nachbarn. Sie hat mit die Fortschrittsberichte der EU-Kommission einfordern. Zwangsbeglückung nichts zu tun und ist kein europäi- scher Imperialismus, sondern sie ist die natürliche Folge Wir dürfen dabei natürlich keine falschen Erwartungen unserer Werte. Sie entspringt der Bereitschaft, Frieden wecken, und wir dürfen uns auch nicht auseinanderdivi- und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zu teilen und ge- dieren lassen; denn Europas Trumpf ist Geschlossenheit. meinsam zu mehren. Umso unerträglicher ist das Verhalten der griechischen Regierung. Wir müssen deswegen klarmachen: Wer die Das sehen auch die Menschen in der Ukraine so. Sie Solidarität Europas will, muss sich zu Europa bekennen. finden Europa so attraktiv, weil wir eben nicht in Ein- Wir lassen uns nicht erpressen. flusssphären denken, sondern die Menschen-, Bürger- und Freiheitsrechte garantieren, Demokratie und Rechts- (Beifall bei der CDU/CSU) staatlichkeit leben und das Recht der Staaten auf territo- Drittens. Was derzeit auf dem Mittelmeer passiert, ist (B) riale Integrität und Selbstbestimmung achten. eine humanitäre Katstrophe und mit unseren Werten un- (D) Das heißt aber auch: Wir dürfen es 25 Jahre nach dem vereinbar. Fall des Eisernen Vorhangs nichts zulassen, dass das Rad (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- der Zeit zurückgedreht und die Freiheit zurückgedrängt wie der Abg. [BÜNDNIS 90/DIE wird. Das wäre nicht nur ein Rückschritt für die betroffe- GRÜNEN]) nen Länder, sondern auch für uns in Europa. Deshalb Wir werden das Elend der Flüchtlinge nur dann lin- möchte ich Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, für Ihren uner- dern können, wenn wir die Nachbarschaftspolitik mit müdlichen Einsatz für den Frieden in der Ukraine dan- den nordafrikanischen Staaten intensivieren. Wir unter- ken. stützen deshalb die Bemühungen der Europäischen Es ist richtig, dass wir nun die Sanktionen an Fort- Kommission zur Neuausrichtung der Europäischen schritte bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen Nachbarschaftspolitik – gerade auch hin zu unseren süd- knüpfen. Aber auch die Ukraine muss ihre Probleme ent- lichen Partnern. schlossener angehen. Das Land braucht Wirtschafts- und Aber: Wir alleine können die Probleme Afrikas nicht Regierungsreformen. Klar ist aber auch: Eine Lösung lösen, schon gar nicht, indem wir eine Massenzuwande- der aktuellen Krise kann es nur mit Russland geben. Das rung nach Europa zulassen. Wir dürfen deshalb keine gilt sowohl für die Ukraine als auch für den Nahen Osten weiteren Anreize schaffen, sondern müssen unseren Drei- und für den Norden Afrikas. klang beherzt umsetzen. Der heißt: Seenotrettung ver- Wir dürfen den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. stärken, Schlepperbanden das mörderische Handwerk Gemeinsam an der europäischen Friedensordnung zu ar- legen und Fluchtursachen durch Hilfe in den Herkunfts- beiten, ist auch eine Chance für Russland. Es ist gut und ländern bekämpfen. richtig, dass die Bundesregierung klare Kante zeigt und An dieser Stelle möchte ich einen besonderen Dank gleichzeitig im Gespräch bleibt. Das ist die Marschroute an unseren Minister Müller richten, der mit der Sonder- der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der initiative „Fluchtursachen bekämpfen“ bereits über EU. 100 Projekte auf den Weg gebracht hat. Ich denke da bei- spielsweise an die Beschulung von insgesamt 80 000 Kin- Zweitens. Sechs Jahre Östliche Partnerschaft haben dern im Libanon. Das sind genau die richtigen Maßnah- unmissverständlich klargemacht: Es gibt nicht die eine men, die wir brauchen. Deswegen ist es richtig, dass der Strategie für alle Partnerländer. Dafür sind sie einfach zu entsprechende Etat einen Aufwuchs erfahren hat. unterschiedlich. Wir brauchen deshalb ein differenzier- tes und auf die einzelnen Länder fokussiertes Vorgehen. (Beifall bei der CDU/CSU) 10054 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Florian Hahn (A) Zur Wahrheit gehört auch: Die meisten Asylsuchen- Vizepräsidentin : (C) den kommen nicht aus Syrien oder Nordafrika, sondern Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Klaus Barthel vom Balkan und damit aus sicheren Herkunftsstaaten das Wort. mit Anerkennungsquoten von unter 1 Prozent. Das sind eben keine Flüchtlinge, die um Leib und Leben fürchten (Beifall bei der SPD) müssen. Wir alle sind aufgefordert – auch die EU-Kom- mission –, das abzustellen – allein schon im Interesse Klaus Barthel (SPD): derer, die unserer Hilfe wirklich bedürfen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Ebenso entscheidend ist dabei, dass wir zu einer ge- Kolleginnen und Kollegen! Von uns hier in diesem Ho- rechteren Verteilung der Flüchtlinge kommen. Das ver- hen Hause bin ich derjenige, der am nächsten am einbarte Quotenmodell ist ein richtiger Schritt. Aber es Schloss Elmau lebt. kann nicht sein, dass Länder, die in den vergangenen (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Nein, ich!) Jahren immens von der europäischen Solidarität profi- tiert haben, sich jetzt einen schlanken Fuß machen. Solida- Deswegen erlebe ich ganz aus der Nähe die Aufregung rität ist keine Einbahnstraße, sondern eine gemeinsame und den Aufwand in der Bevölkerung, die es dort in ei- Aufgabe für ganz Europa. nem großen Umkreis gibt. Ich will aber nicht über diesen Aufwand reden, sondern darüber, dass viele Menschen In einer so vernetzten Welt wie der heutigen müssen die am Sinn solcher Veranstaltungen erhebliche Zweifel ha- entscheidenden Akteure natürlich zusammenarbeiten. ben. Wir können diesen Sorgen und dieser Kritik nur be- Deshalb ist es gut, dass sich die führenden Industriestaa- gegnen, wenn auf diesen Gipfeln richtige Antworten auf ten am 7. und 8. Juni zum G-7-Gipfel im bayerischen die weltweiten Entwicklungen gefunden und diese auch Elmau treffen. Denn Frieden und Freiheit, Sicherheit umgesetzt werden. und Wohlstand – das schaffen wir nur gemeinsam. Das gilt auch für die Bekämpfung der Geißel der offenen Ge- Insofern sind wir froh, dass die Bundeskanzlerin sellschaft, den internationalen Terrorismus. Wenn sich heute zum Beispiel – ich zitiere – „menschenwürdige der Terrorismus global vernetzt, müssen auch die Nach- Arbeitsbedingungen weltweit“ als Ziel der Veranstaltung richtendienste und die Sicherheitsbehörden eng zusam- in Elmau genannt hat und sie wörtlich gesagt hat, dass menarbeiten; das war die Erkenntnis nach 9/11. Deshalb die „Stärkung des Freihandels … eine bessere Umset- war es folgerichtig, dass die damalige Regierung die Zu- zung sozialer und ökologischer Standards“ erfordert. In sammenarbeit des BND mit der NSA vereinbart hat. der Tat – Frau Kofler hat es ja auch erwähnt –: Die Un- Ohne diese Zusammenarbeit hätten wir unsere Soldaten gerechtigkeiten und Ungleichheiten auf der Welt neh- in den Auslandseinsätzen nicht ausreichend schützen men trotz allen Freihandels immer mehr zu, und die Ar- (B) können. beit gerät immer mehr unter Druck. Flexibilisierung (D) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr bedeutet eben im weltweiten Maßstab immer mehr Pre- richtig!) karisierung. Der ILO-Report zeigt, dass diese Prekarisie- rung auch vor den Industrieländern nicht haltmacht und Ohne diese Zusammenarbeit hätten wir auch keinen An- sie sich in der Europäischen Union besonders stark aus- schlag vereiteln können, nicht den des Kofferbombers wirkt. Hier könnte die G 7 eine ganz wichtige Rolle spie- von Köln und auch nicht den der Sauerland-Gruppe. len, weil die weltweiten Wertschöpfungsketten – wir Diese Zusammenarbeit der Nachrichtendienste hat in reden ja immer von Wertschöpfungssystemen – hier zu- den letzten Jahren unzählige Leben gerettet. Deshalb sammenlaufen. Das heißt, wir hätten die Chance, mit brauchen wir sie auch in Zukunft. verbindlichen Regeln Standards durchzusetzen, wie es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) immer so schön heißt. Aber klar ist auch, dass es offene Fragen gibt, die ab- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Diese Chance gearbeitet werden müssen, aber bitte nicht über die Bild nutzen wir!) am Sonntag, sondern in den demokratisch legitimierten Gremien. Alles andere hat nichts mit staatsbürgerlicher Faire Wettbewerbsbedingungen hieße Verlässlichkeit Verantwortung zu tun. Auf Verantwortung kommt es für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Ver- jetzt an, für unsere Freiheit und für unsere Sicherheit. braucherinnen und Verbraucher. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Das dürfen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir nie vergessen. der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, zum Abschluss: Wir ha- Verbindlichkeit und Fairness müssen bedeuten, dass sich ben vorhin von Toni Hofreiter gehört, dass die Bundes- nicht derjenige auf dem Markt durchsetzt, der sich mit- kanzlerin so ungefähr an allem schuld ist, hilfe teurer Imagekampagnen eine weiße Weste um- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE hängt, ohne für Transparenz zu sorgen, und dass sich in GRÜNEN]: Nicht an allem, aber an man- diesen Wertschöpfungsketten niemand aus der Verant- chem!) wortung stehlen kann. Deswegen bin ich sehr froh, dass das Europäische Parlament gestern – auf Druck der So- wohl auch daran, dass der Weltfrieden noch nicht einge- zialdemokraten – beschlossen hat, dafür zu sorgen, dass treten ist. Aber an der Schwäche der Opposition, lieber bei den Konfliktmineralien vom Anfang bis zum Ende Herr Hofreiter, sind Sie schon selber mit schuld. der Wertschöpfungskette verbindliche Standards einge- (Beifall bei der CDU/CSU) halten werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10055

Klaus Barthel (A) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gerd (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Müller [CDU/CSU]) neten der SPD) Herr Minister Müller, die Bundesregierung ist aufgefor- dert, diesen Prozess in dem jetzt stattfindenden Trilog- Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): verfahren zu unterstützen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist genau Was bewegt uns zurzeit? Was bewegt jeden Einzelnen mein Ansatz!) von uns, die Medien und die Öffentlichkeit? Es ist das Flüchtlingsproblem. Es sind die unzähligen Menschen, Wenn wir aus der Sackgasse WTO herauskommen die sich mit der Aussicht auf eine ungewisse Zukunft ins wollen, müssen wir in Zukunft weg vom reinen Liberali- Mittelmeer stürzen, die unter fürchterlichen Umständen sierungsansatz, hin zu Gerechtigkeit, zu sicherer Arbeit, versuchen, nach Europa zu kommen, und zum großen zu sicherer Arbeit und Ökologie, eben vom freien zum Teil umkommen. Das ist etwas, was uns sehr beschäftigt. fairen Handel. In diesem Zusammenhang trägt die G 7 Das wird uns auch in Zukunft noch beschäftigen; denn eine besondere Verantwortung, im Übrigen auch bezüg- das Thema ist noch nicht zu Ende. lich all der Freihandelsabkommen – das wird die Nagel- probe sein –, die wir bilateral jetzt mit Kanada, den USA Schnell gerät dabei ein Politikfeld in die Schlagzeilen, usw. abschließen. das bei den Medien und der Öffentlichkeit sonst nicht unbedingt so viel Beachtung findet, nämlich die Ent- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gerd wicklungspolitik. Plötzlich heißt es: Die haben versagt. Müller [CDU/CSU]) Die Öffentlichkeit, sogar die eigenen Kollegen sagen: Lassen Sie mich noch etwas zu Lateinamerika sagen Ihr habt versagt. Was macht ihr eigentlich? – Ich glaube, – dieses Thema hat heute kaum eine Rolle gespielt, was es wäre gut, einmal darüber zu reden, was wir machen. ich bedauere – und zu dem Gipfel, der mit CELAC in Ich glaube, jetzt ist auch der Zeitpunkt, dass uns endlich ungefähr 14 Tagen in Brüssel stattfindet. Wir müssen zur einmal jemand zuhört, was wir machen. Kenntnis nehmen, dass die europäische Politik durch die (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wohl rich- Entwicklung der diplomatischen Beziehungen zwischen tig!) den USA und Kuba ein bisschen blamiert worden ist. Wir wurden davon völlig überrascht und müssen jetzt Jemand hat erkannt – es war die Frau Bundeskanzle- besondere Anstrengungen unternehmen, um mit Latein- rin schon im Jahr 2007 in Heiligendamm –, dass Frie- amerika in einen Dialog zu kommen. Vor allen Dingen den, Stabilität und Sicherheit nicht nur mit Außen- und müssen wir begreifen, dass Lateinamerika nicht länger Wirtschaftspolitik, sondern auch mit nachhaltiger, er- (B) eine Region ist, in der man sich seine Partner aussuchen folgreicher Entwicklungspolitik zu erzielen sind. Des- (D) kann, in der man Lieblinge haben kann und in der es an- halb haben wir auch dieses Mal in Elmau wieder ent- dere gibt, die man weniger mag. Die Linke macht genau wicklungspolitische Themen auf der Tagesordnung. das übrigens auch, nur spiegelverkehrt. Man muss diese Region als das verstehen, wozu sie immer mehr wird, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nämlich als politischen Zusammenschluss, der aufgrund neten der SPD) starker Gemeinsamkeiten keine Ausgrenzung von weni- ger geliebten Ländern wie Kuba zulässt. Das ist der eine Wenn es heißt: „Was macht ihr Entwicklungspolitiker Aspekt, den wir begreifen müssen. eigentlich?“, dann muss ich sagen: Wir machen sogar sehr viel, ohne dass Sie es vielleicht alle merken. Wir ha- ben einen Entwicklungsminister, der vor anderthalb Jah- Vizepräsidentin Petra Pau: ren – ich weiß gar nicht, mit welcher Vorausschau er dies Kollege Barthel, über weitere können wir jetzt nicht getan hat – eine Sonderinitiative „Fluchtursachen be- mehr sprechen. kämpfen!“ im Haushalt installiert hat. Das ist das, was Sie permanent fordern. Wir machen es bereits. Klaus Barthel (SPD): Der letzte ist, dass wir doch noch begrüßen müssen, (Beifall bei der CDU/CSU) dass sich Frank-Walter Steinmeier jetzt insbesondere um Wie machen wir es? Wir versuchen, vor Ort mithilfe Kolumbien kümmert. Herr Kauder hat mit Blick auf die von NGOs, vor allem aber mithilfe funktionierender, sta- Failed States heute etwas zu Afrika gesagt. Ich glaube, biler Regierungssysteme wirtschaftlichen Erfolg aufzu- es ist ganz wichtig, dass wir ein Signal gesetzt haben, bauen und zu unterstützen. Wir versuchen, rechtsstaatli- das zeigt, dass die Bundesregierung sich zu dem Frie- che Strukturen aufzubauen, damit sich die Menschen in densprozess bekennt und ihn unterstützt. ihrem Lande sicher fühlen können. Wir versuchen mit Vielen Dank, Frau Präsidentin. dem Aufbau von Gesundheitssystemen, die Menschen überhaupt arbeitsfähig zu machen oder auch zu erhalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten All dies sind präventive Maßnahmen – ich könnte Ihnen der CDU/CSU) noch sehr viele weitere nennen, wenn ich nicht schon wieder auf die Uhr schauen müsste –, die wir in diesem Vizepräsidentin Petra Pau: Bereich bereits haben und bei denen wir schon seit Jah- Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Sibylle ren tätig sind – zugegebenermaßen mit mehr oder weni- Pfeiffer das Wort. ger Erfolg. 10056 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Sibylle Pfeiffer (A) Wir haben hervorragend arbeitende Länder in Afrika, (Dr. [DIE LINKE]: Aber das war (C) die wirtschaftlich sehr erfolgreich sind. Von dort kom- nicht die Linke!) men die Flüchtlinge aber nicht. Woher kommen sie? Sie kommen von dort, wo wir aufgrund der staatlichen Ich weiß noch, wie die – ich möchte nicht „zwielichtig“ Strukturen, der Bürgerkriegszustände, der Menschen- sagen – durchaus zu diskutierende Rolle der Linken in rechtsverletzungen und des Fehlens von Staatlichkeit diesem Zusammenhang war. überhaupt nicht in der Lage sind, Entwicklungszusam- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – menarbeit durchzuführen. Insofern ist es in diesen Län- Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Nein!) dern schwierig. Es ist nicht nur die Entwicklungspolitik, die dort teilweise nicht weiß, wie man mit diesen Län- Wenn Sie schon jetzt ankündigen, dass Sie dort de- dern umgeht, sondern es ist auch die Außen- und die Si- monstrieren gehen, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie cherheitspolitik. Was machen wir mit sogenannten sich als demokratisch gewählte Mitglieder sowohl des Failed States, mit Staaten, in denen wir keinerlei An- Bundestages als auch der Landesparlamente, also als sprechpartner haben und keine Regierungen finden, mit Vertreter des Rechtsstaates, genau dem entgegenstellen, denen wir zusammenarbeiten können? In Zukunft müs- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie aber auch! – sen wir uns gemeinsam darüber noch mehr Gedanken Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Krimi- machen, und genau dort müssen wir nochmals eindeutig neller linker Gewalt!) über das Thema „vernetzte Sicherheit“ nachdenken und uns überlegen: Was kann Außenpolitik leisten, was kann was wir jetzt zu erwarten haben: Chaoten und Randalie- Verteidigungspolitik leisten, was kann Entwicklungs- rer. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich erstens von de- politik leisten? Können wir gerade in diesen Staaten, in nen distanzieren und dass Sie sich zweitens denen entge- denen wir diese Katastrophen feststellen und in denen es genstellen, damit all das, was wir zurzeit befürchten und Bürgerkriege und keine staatlichen Strukturen gibt, in was unglaubliche zusätzliche Kosten verursacht, nicht der Summe mit vernetztem Ansatz erfolgreicher arbei- passiert. Das erwarte ich von Ihnen. Ich hoffe, dass ich ten, als wir es, selbstkritisch genug, zurzeit tun? das in der Zeitung lesen darf. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ziel des Ganzen muss sein, dass wir uns als Entwick- lungspolitiker eigentlich irgendwann einmal selbst abge- Vizepräsidentin Petra Pau: schafft haben, weil die Länder in der Lage sind, mit Der Kollege Dr. Andreas Nick hat für die CDU/CSU- rechtsstaatlichen Strukturen, mit guter Wirtschaft, mit Fraktion das Wort. (B) kleinen und mittleren Unternehmen, mit guter Ausbil- (D) dung und Bildung sowie mit gestärkten Frauen, wie Frau (Beifall bei der CDU/CSU) Bundeskanzlerin eben sagte, zum Erfolg geführt zu wer- den, und wir Partner haben, mit denen wir auf Augen- Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): höhe wirtschaftliche Verhältnisse im gegenseitigen Nut- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zen haben. Was 1975 als Weltwirtschaftsgipfel zum informellen Lassen Sie mich einen Aspekt aufgreifen, da ich Austausch unter den Staats- und Regierungschefs be- glaube, G 7 ist in diesem Zusammenhang eine gute Ba- gann, ist inzwischen als G 7 ein zentrales Format auch sis, auf der man diskutieren kann, weil sie fernab irgend- zur Koordination von Fragen der Außen-, Sicherheits- welcher Strukturen ist. Es hat den informellen Charakter, und Entwicklungspolitik geworden. Es ist auch ein den es eigentlich braucht und der notwendig ist, lieber wichtiges Instrument zur Steuerung und politischen Ge- Herr Gysi. Wir finden auch, dass die UN sicherlich staltung der Globalisierung. wichtig sind. Aber das eine tun und das andere nicht las- Deutschland richtet zum sechsten Mal den G-7-Gipfel sen, ist das eine Thema. Das andere ist, dass wir feststel- aus. Wir wollen und werden in der einmaligen Atmo- len müssen: Auch die UN sind nicht allmächtig. Ich erin- sphäre von Schloss Elmau gute Gastgeber sein, und wir nere an Syrien oder die Ukraine: Auch dabei sind wir in wollen der Welt ein positives Bild unseres Landes ver- der UN nicht vorwärtsgekommen. mitteln. Davon werden wir uns auch von Protesten und Etwas fand ich jedoch bemerkenswert, Herr Gysi, Krawallmachern nicht abbringen lassen; die Kollegin wenn ich das zum Abschluss noch sagen darf. Zu Ihrer Pfeiffer hat das Nötige dazu gesagt. Einlassung zu G 7 und zu der Veranstaltung an sich so- (Beifall bei der CDU/CSU) wie letztlich zu der Frage, was dort eigentlich passiert: „Und wir gehen dorthin und demonstrieren“: Ich finde, Eine zentrale Antriebskraft für globales Wachstum Sie sollten das tun. Ja, wir können demonstrieren. Sie und internationale Verflechtungen ist der Welthandel. können demonstrieren. Ich bezweifle, dass Sie persön- Zwei zentrale Ziele wollen wir gleichgewichtig verfol- lich dorthin gehen; aber ich weiß, dass sehr viele Ihrer gen. Zum einen wollen wir weiterhin Handelshemm- Kollegen dorthin gehen. nisse abbauen und damit zur Öffnung der Märkte beitra- gen, weil dies weltweit zu Wohlstand und Vielfalt Ich komme aus Hessen, aus der Nähe von Frankfurt. beiträgt. Zum anderen wollen wir für diese globalen Ich habe erlebt, was in Frankfurt anlässlich der Eröff- Märkte weltweit verlässliche Standards für Arbeits- nung der EZB passiert ist. sicherheit, Verbraucher- und Umweltschutz im Sinne ei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10057

Dr. Andreas Nick (A) nes fairen Wettbewerbs und einer wahrhaft auch interna- Deshalb ist es so wichtig und richtig, dass die Bun- (C) tionalen sozialen Marktwirtschaft. desregierung den Aussöhnungsprozess in Kolumbien nachhaltig unterstützt. Wir begrüßen es, dass aus den Die Globalisierung macht weitere Formate der inter- Reihen des Bundestages der Kollege Tom Koenigs dabei nationalen Zusammenarbeit notwendig. So ist unter dem eine wichtige Aufgabe übernommen hat, für die wir ihm Eindruck der Finanzkrise das Format der G 20 entstan- gutes Gelingen und viel Erfolg wünschen. den. Der kommende G-20-Gipfel im Herbst 2015 im tür- kischen Antalya wird sich wiederum schwerpunktmäßig (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ mit Fragen der globalen Finanzmarktregulierung und der CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Steuerharmonisierung befassen. NEN) Die katastrophale wirtschaftliche und humanitäre 2015 dient der G-7-Gipfel natürlich auch besonders Entwicklung etwa in Venezuela kann eigentlich nieman- der Vorbereitung der beiden im Jahresverlauf anstehen- den wirklich überraschen. Denn der Sozialismus des den Konferenzen der Vereinten Nationen zu zentralen 21. Jahrhunderts der Herren Chávez und Maduro ist ge- globalen Fragen: zum einen der Verabschiedung der nauso gescheitert wie der des 20. Jahrhunderts. Eine Ziele zur nachhaltigen Entwicklung im Rahmen der Ausnahme sind vielleicht die Kollegen der Linken: Post-2015-Agenda in New York, zum anderen der inter- Wenn man Ihren Antrag liest, in dem Sie noch einmal nationalen Klimaschutzkonferenz am Jahresende in Pa- die sozialen Errungenschaften des Chavismus bejubeln, ris. wird deutlich, dass Sie auch dort noch nicht in der Reali- Die Herausforderungen der Globalisierung machen tät angekommen sind. eine immer intensivere Zusammenarbeit zwischen den (Beifall bei der CDU/CSU) großen Weltregionen notwendig. Der Gipfel der EU mit der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibi- Leider ist in Venezuela eine friedliche und demokrati- schen Staaten, CELAC, rückt erfreulicherweise Latein- sche Veränderung nicht absehbar. In Kuba können wir amerika wieder stärker in den Fokus der internationalen zumindest ein hoffnungsvolles Signal der Öffnung Aufmerksamkeit. Denn auch wenn die Krisen- und Be- sehen. Argentinien bleibt weiterhin von Inflation und drohungslagen in Osteuropa, im Mittleren Osten und in Abschottung gebeutelt, und ob die Präsidentschaftswah- Nordafrika, aber nicht zuletzt auch die dynamische wirt- len im November zu einem dringend notwendigen Neu- schaftliche Entwicklung Asiens viel Aufmerksamkeit anfang in diesem so sehr unter seinen Möglichkeiten auf sich ziehen: Lateinamerika ist und bleibt für uns in bleibenden Land führen werden, bleibt abzuwarten. Deutschland und Europa eine wichtige – wenn auch lei- Demgegenüber setzen insbesondere die Länder der (B) der manchmal etwas aus dem Blick geratene – Partnerre- Pazifik-Allianz – Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru – (D) gion. erfolgreich auf wirtschaftliche Öffnung und Marktwirt- schaft. Sie wenden sich dabei auch verstärkt den beson- Ich will in Erinnerung rufen: Beim EU-CELAC-Tref- ders dynamischen Wachstumsmärkten Asiens zu. fen kommen 61 Staaten zusammen. Das ist ein Drittel der Mitglieder der Vereinten Nationen, darunter fast die Das gilt übrigens auch umgekehrt: China plant in Hälfte der G-20-Staaten. Gemeinsam haben die EU und den kommenden zehn Jahren Investitionen von über Lateinamerika eine Bevölkerung von über 1 Milliarde 250 Milliarden Dollar in Lateinamerika. Dieses chinesi- Menschen, und sie produzieren zusammen 40 Prozent sche Engagement in der Region sollten wir aufmerksam des Weltsozialproduktes. Die EU ist der größte ausländi- verfolgen. Es sollte uns ein Ansporn sein, Lateinamerika sche Investor in der Region und der zweitgrößte Han- unsererseits ebenfalls die notwendige Aufmerksamkeit delspartner der lateinamerikanischen und karibischen zu widmen, um keine einseitigen Abhängigkeiten als rei- Staaten. Mit kaum einer anderen Region der Welt sind ner Rohstoffexporteur oder von einzelnen Handelspart- wir Europäer historisch enger verflochten und kulturell nern entstehen zu lassen. stärker verbunden. Das bildet die Grundlage für gemein- Als größtes Land Lateinamerikas und als einer der same Werte und eine dauerhafte Zusammenarbeit. Daran BRIC-Staaten nimmt Brasilien wirtschaftlich und poli- gilt es immer wieder anzuknüpfen – zum beiderseitigen tisch eine Schlüsselstellung ein. Im Juli werden im Rah- Vorteil, aber auch in gemeinsamer Verantwortung. men unserer strategischen Partnerschaft erstmals auch Deshalb wollen wir Bemühungen zu einer vertieften umfassende deutsch-brasilianische Regierungskonsulta- regionalen Zusammenarbeit in Lateinamerika ermutigen tionen in Brasilia stattfinden. und unterstützen. Denn der Kontinent weist immer noch Wir können unsere Partner in Lateinamerika nur er- sehr unterschiedliche wirtschaftliche und politische Ent- mutigen, wirtschaftlich wie politisch auf verstärkte Zu- wicklungen auf. Immer noch leben in Lateinamerika 180 sammenarbeit und regionale Integration zu setzen. So Millionen Menschen in Armut, vor allem die indigene wäre auch eine stärkere Annäherung von Pazifik-Allianz Bevölkerung. Der Zugang zu zentralen öffentlichen Gü- und Mercosur zweifelsohne wünschenswert, nicht nur, tern wie Bildung und Gesundheit ist für große Teile der was die Größe und Relevanz des gemeinsamen Marktes Bevölkerung nicht gesichert. Leider bestimmen negative angeht, sondern auch die grundsätzliche wirtschaftspoli- Schlagzeilen zu Armut und Inflation, Drogenkriminalität tische Ausrichtung. Dies könnte auch der Diskussion für und Bürgerkrieg auch in unseren Medien noch viel zu ein Freihandelsabkommen zwischen dem Mercosur und häufig die Wahrnehmung der Region. der EU neue Impulse geben. 10058 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Andreas Nick (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade auch für die Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion (C) Menschen in Lateinamerika bietet das klare Bekenntnis Die Linke hat der Kollege Klaus Ernst. zu menschenwürdiger Arbeit, nachhaltigem Wachstum und offenen Märkten große Chancen. Von Zusammen- (Beifall bei der LINKEN) halt geprägte und nachhaltige Gesellschaften müssen unser gemeinsames Ziel sein: in Europa, in Lateiname- Klaus Ernst (DIE LINKE): rika und weltweit. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Koalitionsvertrag steht – lassen Sie mich das Vielen Dank. zitieren –: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Koalition will die Leiharbeit auf ihre Kernfunk- neten der SPD) tionen hin orientieren.

Vizepräsidentin Petra Pau: Was wären die Kernfunktionen bei Leiharbeit? Zum Bei- Ich schließe die Aussprache. spiel Auftragsspitzen abbauen, zum Beispiel Personal- engpässe ausgleichen. Wir sind weit von dieser Praxis Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- entfernt, und ich kann bis jetzt noch keine Anstrengung ßungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion Die der Koalition erkennen, das, was sie in den Koalitions- Linke auf Drucksache 18/4934. Wer stimmt für diesen vertrag geschrieben hat, auch umzusetzen. Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Wie ist die Praxis? Leiharbeitnehmer und Leiharbeit- Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion nehmerinnen verdienen bis zu 30 Prozent weniger als Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion die, die sonst im Betrieb fest beschäftigt sind. Leiharbeit Die Linke abgelehnt. wird eingesetzt, um den Kündigungsschutz zu umgehen. Dem Leiharbeitnehmer muss nämlich nicht gekündigt Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf werden, wenn er aus dem Betrieb entfernt wird. Leihar- Drucksache 18/4935. Wer stimmt für diesen Entschlie- beit dient zur Disziplinierung der Stammbelegschaften, ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält und Leiharbeit dient auch zur Durchlöcherung des Tarif- sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen systems. der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Meine Damen und Herren, Sie betreiben zurzeit einen Fraktion Die Linke abgelehnt. großen Aufwand, um möglichst schnell ein Gesetz zur Tarifeinheit herbeizuführen, über das wir morgen disku- (B) Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion tieren. Wenn Sie wirklich etwas für die Tarifeinheit tun (D) Die Linke auf Drucksache 18/4936. Wer stimmt für die- wollen – denn jeder Leiharbeitnehmer und jede Leihar- sen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? beitnehmerin steht außerhalb des Tarifvertragssystems – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit der anderen –, dann schaffen Sie endlich klare Verhält- den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Frak- nisse auf dem Arbeitsmarkt und regulieren Sie Leihar- tion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/ beit. Die Grünen abgelehnt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Grünen auf Drucksache 18/4937. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer Verhindern Sie, dass dort Menschen, die dieselbe Tätig- enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den keit wie die anderen ausführen, entweder in einem ande- Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die ren Tarifvertrag oder – wie meistens – in gar keinem Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die beschäftigt sind. Da machen Sie nichts, sondern Sie Grünen abgelehnt. schauen zu. Wenn Sie nur halb so schnell wie bei der Tarifeinheit wären, die Sie gesetzlich regeln wollen, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: dann hätten wir für viele Hunderttausende von Men- schen bessere Arbeitsbedingungen und nicht das, was Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta wir gegenwärtig erleben. Krellmann, Klaus Ernst, Susanna Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (Beifall bei der LINKEN – Albert Stegemann LINKE [CDU/CSU]: Oder gar keine Arbeit!) Leiharbeit und Werkverträge eingrenzen und Leiharbeit dient auch dazu, Streikbruch zu organisie- umfassend regulieren ren. Gegenwärtig ist das bei der Deutschen Post der Fall, die sich in einem Arbeitskampf befindet. Die Deutsche Drucksache 18/4839 Post ist zum Teil im Eigentum des Bundes. Wir haben Überweisungsvorschlag: Anfragen gestellt, wie Sie dort die Tarifflucht verhindern Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) wollen. Sie tun so, als würde Ihnen der Betrieb gar nicht Ausschuss für Wirtschaft und Energie gehören und als hätten Sie als Eigentümer null Einfluss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für auf den Aufsichtsrat. Das ist unerträglich. Auch dort die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- sage ich Ihnen: Wenn Sie wirklich etwas regeln wollen nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. und Einfluss auf Leiharbeit nehmen wollen, dann ver- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10059

Klaus Ernst (A) hindern Sie, dass bei der Post, deren Eigentümer Sie land schlechtergestellt werden als der Franzose? Wa- (C) sind, Leiharbeiter als Streikbrecher eingesetzt werden. rum? Das wäre einmal eine gute Idee. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es würde genügen, Leiharbeit für drei Monate zu akzep- Ich komme zu Ihren Vorschlägen im Koalitionsver- tieren. Dann müsste das in einen Vollzeitjob umgewan- trag. Sie sagen, die Überlassungsdauer solle bei Leihar- delt werden. Verbot von Streikbruch – ganz wichtig! beitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern auf 18 Monate Und: Synchronisationsverbot! Das heißt, der Leiharbei- begrenzt werden. Gleichzeitig wollen Sie regeln, dass ter darf nicht nur für die Dauer, für die er verliehen wird, nach neun Monaten das gleiche Geld wie in der Stamm- beim Verleiher eingestellt werden, sondern die Beschäf- belegschaft zu zahlen ist. Warum eigentlich erst nach tigung bei seinem Verleiher muss unbefristet sein. Das neun Monaten? wären Regelungen, die dringend notwendig wären, (Albert Stegemann [CDU/CSU]: Einarbei- meine Damen und Herren. tungszeit!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten – Einarbeitung. Da merkt man, dass Sie von der Praxis des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) genauso viel Ahnung haben wie eine Kuh vom Fußball- Ich sage Ihnen zum Schluss: Die Linke ist eigentlich spielen. prinzipiell gegen Leiharbeit. Ich kann Ihnen sagen, (Beifall bei der LINKEN – Karl Schiewerling warum. Ein Arbeitgeber stellt einen Arbeitnehmer nur [CDU/CSU]: Reden Sie nicht von Kühen!) dann ein, wenn er weiß, dass dieser ihn weniger kostet, als er ihm bringt; sonst macht es für ihn keinen Sinn. Ein Wenn Sie Ahnung hätten, würden Sie wissen, dass jeder, Arbeitnehmer in einem normalen Arbeitsverhältnis muss der neu im Betrieb anfängt, egal ob er Leiharbeitnehmer einem Arbeitgeber die Kohle bringen. Bei einem Verlei- ist oder nicht, natürlich nicht dasselbe Geld bekommt her ist noch einer da. Da muss der Arbeitnehmer prak- wie einer, der schon zehn Jahre beschäftigt ist. Es gibt in tisch zwei Arbeitgeber bedienen. Er muss sozusagen für jedem Betrieb so etwas wie Einarbeitung. Dass aber der zwei Arbeitgeber gewinnbringend sein. Deshalb wird er Leiharbeitnehmer noch einmal schlechtergestellt werden auch schlechter bezahlt als woanders. Deshalb sagen soll als der, der normal im Betrieb neu anfängt, ist nicht wir: Leiharbeit brauchen wir nicht! Machen wir Ord- hinzunehmen. nung auf dem Arbeitsmarkt! Schauen wir, dass jeder an- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ständig beschäftigt wird – Vollzeit, unter Geltung von (B) NIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Tarifverträgen – und nicht verliehen wird wie eine Kuh! (D) Birkwald [DIE LINKE]: Ungerecht ist das!) Danke für das Zuhören. Das ist auch deshalb nicht hinzunehmen, weil Sie ge- (Beifall bei der LINKEN) nau wissen, dass in der Regel ein Leiharbeitnehmer im Schnitt gerade einmal drei Monate beschäftigt ist. Was würde es ihm nützen, wenn die Überlassungsdauer auf Vizepräsidentin Petra Pau: 18 Monate festgelegt wird, wenn er nur drei Monate be- Der Kollege Karl Schiewerling hat für die CDU/ schäftigt ist? Was würde es ihm nützen, wenn er nach CSU-Fraktion das Wort. neun Monaten gleichen Lohn für gleiche Arbeit kriegt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wenn er dann gar nicht mehr im Betrieb ist? Es ist doch neten der SPD) nichts anderes als ein Placebo, was Sie hier in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbart haben. Karl Schiewerling (CDU/CSU): (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Herr Kollege Ernst, wir kennen die Reden, die Sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) halten, mittlerweile nahezu auswendig; sie werden da- Meine Damen und Herren, wir haben inzwischen ein durch nicht besser. Sie sind hier mit Abstand einer der Riesenproblem. Ein Drittel der Beschäftigten in der Lustigsten unter der Sonne. Sie bringen permanent ein Metallindustrie sind als Leiharbeitnehmer oder als Beispiel mit der Kuh – und das auch noch bei dem Kol- Werkvertragsbeschäftigte eingestellt. In der Automobil- legen Stegemann, einem Milchlandwirt. Wenn Sie hier industrie kommen auf 736 000 Stammbelegschaftsleute sagen, der habe keine Ahnung von Kühen, inzwischen 100 000 Leiharbeitnehmer und 250 000 (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Vom Fußballspie- Werkvertragsbeschäftigte. Da wäre Handeln dringend len, habe ich gesagt! Wie eine Kuh vom Fuß- geboten. Sie aber sitzen dieses Problem einfach aus. Die ballspielen! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Lage der Arbeitnehmer ist dramatisch: Zwei Drittel sind Zimmer [CDU/CSU]: Dessen Kühe spielen unter dem Niedriglohnsockel; sie sind oft Aufstocker besser Fußball!) und landen in Altersarmut. dann muss ich Ihnen sagen: Sie müssen das schon gut Meine Damen und Herren, was tun? Unsere Forde- überlegen. Es geht übrigens auch nicht um das Verleihen rungen sind ganz einfach: Gleicher Lohn bei gleicher von Kühen. Arbeit ab der ersten Stunde plus 10 Prozent wie in Frankreich! Warum soll der Arbeitnehmer in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU) 10060 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Karl Schiewerling (A) Weil Sie gerade mit der Deutschen Post unterwegs und jedes müsste bis zur Unkenntlichkeit dereguliert (C) sind, weil da gestreikt wird, will ich Ihnen am Anfang werden. Deshalb haben einige – ja, das ist richtig – in nur sagen – ich finde auch nicht alles toll, was da statt- der Zeit- und Leiharbeit Grenzen überschritten und ge- findet –: Der Bund ist nicht Eigentümer der Post. Er hat glaubt, sie könnten machen, was sie wollten. Aber das ist gerade mal ein Aufsichtsratsmitglied. Er hat niemanden reguliert worden. Das haben wir in der letzten Koalition im Vorstand. bereits gemacht. Das Problem, dass Leute einfach ausge- gliedert wurden in einen Zeitbetrieb desselben Unterneh- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 21 Pro- mers, wie es bei der sogenannten Schlecker-Drehtür der zent!) Fall war, haben wir bereits angepackt und unterbunden. Der Vorstand handelt. Der Aufsichtsrat führt Aufsicht, Wir haben mittlerweile 98 Prozent aller Zeit- und Leih- und da ist der Bund nur mit einer Person vertreten. arbeiter in Tarifverträgen, und wir haben mittlerweile ei- Deswegen gibt es Grenzen. nen allgemein verbindlichen, anerkannten Mindestlohn, der im Westen bei 8,80 Euro und im Osten bei 8,50 Euro Da Sie von Leiharbeit offensichtlich genauso viel liegt und der in weiteren Schritten bis 2016 angepasst Ahnung haben wie von Unternehmensrecht, wissen Sie und um 10 bis 13,4 Prozent erhöht wird. Deswegen gibt nicht, dass die Einflussnahme nicht gegeben ist. Im es in der Zeit- und Leiharbeit kein blankes Elend und Klartext: Da Sie das offensichtlich nicht wissen, will ich keine Verelendung. Vielmehr haben wir dort eine ganze Ihnen einige Minuten Nachhilfe zum Thema Zeit- und Menge reguliert und nach vorne gebracht. Leiharbeit geben. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (Zuruf von der LINKEN: Was ist denn der GRÜNEN]: Aber es gibt immer noch Unge- Unterschied?) rechtigkeiten!) Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland Insofern rate ich Ihnen, sich mit Ihrem Antrag zurück- über 42 Millionen erwerbstätige Menschen, davon über zuhalten, insbesondere was so eine verrückte Forderung 30 Millionen in sozialversicherungspflichtigen Beschäf- nach einem Mindestlohn in Höhe von 10 Euro angeht. tigungsverhältnissen. Es gibt 7,2 Millionen Minijobs. Das bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen, 1,5 Millionen Schülerinnen und Schüler und Studenten haben Minijobs, 1,5 Millionen Rentnerinnen und Rent- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) ner, 2 Millionen Menschen, die obendrauf Geld verdie- dass es zu einem Überbietungswettbewerb käme, wenn nen, neben ihrem normalen Einkommen, und 2 Millio- wir hier im Deutschen Bundestag die Höhe des Mindest- nen Menschen, die ausschließlich aus einem solchen Job lohns festlegen würden. Deswegen bin ich froh, dass wir Einkünfte haben. Daneben gibt es etwa 250 000 Men- eine Mindestlohnkommission haben, die sachgerecht die (B) schen, die im haushaltsnahen Bereich tätig sind; eine be- (D) entsprechenden Entscheidungen trifft. sondere Situation. – Das sind die Rahmenbedingungen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Arbeitslosigkeit liegt bei 2,8 Millionen. Davon neten der SPD) sind allerdings – das stimmt – 1,9 Millionen langzeit- arbeitslos. Es kommt darauf an, diese Menschen wieder Ich will Ihnen noch einmal einige wenige Zahlen zur in Beschäftigung zu bringen. Was der Zusammenhang Zeit- und Leiharbeit nennen: 55 Prozent aller neuen mit der Zeitarbeit ist, will ich Ihnen sagen: Zurzeit sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die seit 2014 in Zeit- etwa 900 000 Menschen in der Zeitarbeit tätig. Das sind arbeitsunternehmen tätig werden, waren zuvor arbeits- gerade einmal 2,6 Prozent aller sozialversicherungs- los. 10 Prozent aller Zeitarbeitnehmer, die dort tätig pflichtig Beschäftigten in Deutschland. Ich rate Ihnen, sind, waren zuvor noch nie beschäftigt. 29 Prozent aller Herr Ernst, hier nicht wiederum den Eindruck zu vermit- Zeitarbeitnehmer haben keinen Berufsabschluss. Ich teln, als sei ganz Deutschland in Zeit- und Leiharbeit an- sage Ihnen: Zeitarbeit und Leiharbeit sind von ihrer gestellt. Das sind gerade einmal 2,6 Prozent. Kernfunktion immer noch das, und zwar in verstärktem Maße, was sie ursprünglich waren, nämlich neben dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Abfangen von Auftragsspitzen auch für viele, ob uns das neten der SPD – Beate Müller-Gemmeke passt oder nicht, eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt Das Instrument wirkt also. doch überhaupt niemand!) (Beifall bei der CDU/CSU – Jutta Krellmann Und da Sie auf die Entwicklung eingegangen sind: Ja, [DIE LINKE]: Das schlechteste Instrument!) es geht darum – das steht im Koalitionsvertrag –, über die Frage der Kernfunktion von Zeitarbeit nachzuden- Das ist nicht umsonst 2004 in entsprechender Weise or- ken. Aber die Kernfunktion von Zeitarbeit hat sich im ganisiert worden Laufe der Zeit, seitdem es Zeitarbeit gibt, gewandelt. (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE Die gesetzlichen Regelungen wurden aus gutem Grunde, GRÜNEN]: Das kann man anders organisie- weil man auf Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zeit- ren!) nah und vernünftig reagieren musste, immer wieder vom Gesetzgeber entsprechend angepasst. und entfaltet nicht umsonst jetzt seine entsprechende Wirkung. Richtig ist auch, dass angesichts der Verwerfungen, die wir seit dem Jahr 2004 aufgrund der hohen Arbeits- Ich will Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, dass wir losigkeit in Deutschland hatten, manche meinten, alles natürlich auch Verwerfungen sehen. Aber Verwerfungen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10061

Karl Schiewerling (A) gibt es in jeder Branche. Ich habe gestern auf Einladung dann können Sie Ihre Rede auf einen Satz reduzieren. (C) der Präsidentin der Handwerkskammer Ostwestfalen- Herzlichen Dank. Lippe zu Bielefeld, unserer Kollegin Lena Strothmann, ein Gespräch mit Wirtschaftsjunioren aus dem deutschen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Handwerk geführt. Wenn mir in der Diskussion ein Malermeister aus dem Rhein-Main-Gebiet erzählt, dass Vizepräsidentin Petra Pau: er mit Zeitarbeits- und Leiharbeitsunternehmen zu tun Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol- hatte, die sich offensichtlich nicht an Recht und Ordnung legin Beate Müller-Gemmeke das Wort. halten, und er als Malermeister schon nicht bezahlte Sozialabgaben nachzahlen musste, weil der Betrieb, der entliehen hat, das nicht getan hat, dann sage ich Ihnen: Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das sind Situationen, die wir nicht gutheißen können. NEN): Aber das, was diese Unternehmen machen, ist illegal, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- verstößt gegen Recht und bestehende Gesetze. nen und Kollegen! Die Zersplitterung der Tarifland- schaft ist ja gerade das große Thema der Koalitions- (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fraktionen. Verantwortlich machen Sie dafür die NEN]: Hat der Malermeister eingestellt?) Tarifpluralität, also die Konkurrenz zwischen den Ge- Wir können nicht permanent noch weitere Gesetze ma- werkschaften. Tatsächlich zersplittert die Tariflandschaft chen. Wenn gegen bestehende Gesetze verstoßen wird, aber durch Scheinwerkverträge, Leiharbeit und Schein- dann müssen die Dinge vernünftig kontrolliert und auch selbstständigkeit. Also lassen Sie das, was Sie mit dem angepackt werden. Deswegen sind die Zeit- und Leihar- Gesetz zur Tarifeinheit vorhaben, und kümmern Sie sich beitsbranche und die entsprechenden Unternehmerver- endlich um die echten Probleme! bände aufgefordert, die Spreu vom Weizen zu trennen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und dafür zu sorgen, dass es Ordnung in ihrer Branche sowie bei Abgeordneten der LINKEN) gibt. Mit Werkverträgen und Leiharbeit unterlaufen die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Arbeitgeber den Kündigungsschutz, die betriebliche neten der SPD) Mitbestimmung, die Bezahlung nach Tarif und somit Zu Ihrem Hinweis betreffend die Werkverträge: Die den sozialen Schutz der Beschäftigten. Gewerkschaftli- Werkverträge sind ein uraltes Instrument, geregelt im che Errungenschaften stehen damit nur noch auf dem BGB seit über 100 Jahren. Zu Problemfällen, die wir in Papier. So wird der gesellschaftliche Konsens der Sozi- letzter Zeit hatten, gibt es Richterrecht. Außerdem gibt alpartnerschaft aufgekündigt. So zersplittern die Beleg- (B) (D) es klare Abgrenzungen, Kriterien und Definitionen ge- schaften. Das ist nicht akzeptabel. genüber der Zeit- und Leiharbeit sowie anderen Beschäf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tigungsformen. Wenn es Missbrauch gibt, ist auch dort und bei der LINKEN) Kontrolle auszuüben. Wir können uns hier bei der Fi- nanzkontrolle Schwarzarbeit informieren. Es ist also gut, dass die Linken heute dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben. Die Debatte ist notwen- (Zuruf des Abg. Dr. Thomas Gambke [BÜND- dig. Inhaltlich sind wir uns an manchen Stellen einig, NIS 90/DIE GRÜNEN]) aber nicht in jedem Punkt. Darüber werden wir aber im Diese Stelle hat mittlerweile viel Erfahrung in diesem Ausschuss noch ausführlich diskutieren. Bereich gesammelt und kann uns sagen, wie wir Kon- Zum Thema Leiharbeit: Für uns Grüne ist und bleibt trolle ausüben können. Wir sollten uns aber wirklich gut die Leiharbeit ein Instrument für mehr Flexibilität. überlegen, ob wir zusätzliche Gesetze brauchen. Wenn Heute profitieren die Unternehmen von der Leiharbeit die bestehenden Gesetze und Regelungen, die durch aber doppelt. Sie erhalten Flexibilität und billigere Ar- Richterrecht geschaffen worden sind, offensichtlich in beitskräfte. Diese Fehlentwicklung wollen wir korrigie- der Praxis nicht richtig angewandt werden, dann muss ren. man bei der Kontrolle ansetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE sowie bei Abgeordneten der LINKEN) GRÜNEN]: Das ist zu wenig! Die Richter wollen auch Kriterien! Das hat die Anhörung Diese Korrektur geht nur über den Preis. Deshalb wollen ergeben!) auch wir Equal Pay ab dem ersten Tag. Auch wir wollen einen Flexibilitätsbonus von 10 Prozent. Für die Be- Herr Ernst, was Sie wollen, ist in Wirklichkeit nichts triebe lohnt sich Leiharbeit dann nur vorübergehend, und anderes als die Abschaffung der Zeit- und Leiharbeit; die Beschäftigten erhalten dann endlich einen fairen (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau!) Lohn und somit Anerkennung und Wertschätzung. das haben Sie deutlich gesagt. Es ist ehrlich, dass Sie das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so gesagt haben. Aber dann sagen Sie es auch so; sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Habe ich ja ge- Die Koalitionsfraktionen planen hingegen, Equal Pay sagt! Sie sagen ja selber, dass ich es gesagt erst nach neun Monaten vorzuschreiben. Das macht habe!) überhaupt keinen Sinn; denn die wenigsten Leiharbeits- 10062 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Beate Müller-Gemmeke (A) kräfte werden davon profitieren. Wir alle wissen – das Vor kurzem ist ja die Studie der Bertelsmann Stiftung (C) wurde schon angesprochen –, dass die Leiharbeitskräfte veröffentlicht worden; darin sind die Folgen beschrie- in der Mehrzahl schon nach drei Monaten wieder ar- ben. Heute sind nur noch 35 Prozent der Betriebe tarif- beitslos sind. gebunden. Der Lohnunterschied zwischen den Betrieben mit und ohne Tarifbindung ist gestiegen, und zwar auf Liebe SPD, ich finde, das ist schon hart: Die Warte- 19 Prozent. Wenn der Anstand in Teilen der Wirtschaft zeit von neun Monaten, das war ein Vorschlag von der verloren geht, dann müssen die Rahmenbedingungen FDP. Das wurde von Ihnen in der letzten Legislatur- verändert werden zum Schutz der Beschäftigten, aber periode heftigst kritisiert. Ich höre noch immer die per- auch zum Schutz der verantwortungsvollen Betriebe. manenten Zurufe aus Ihrer Fraktion in der damaligen Debatte. Das heißt, Sie sind an diesem Punkt heftig ein- Notwendig sind eindeutige Kriterien. Wenn Werkver- geknickt. Daran werden wir Sie immer wieder erinnern. träge für fachfremde Arbeiten mit gelegentlichem Charakter oder für spezialisierte Tätigkeiten eingesetzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden, dann ist das unbedenklich. Das entspricht einer sowie bei Abgeordneten der LINKEN – modernen Arbeitswelt. Problematisch wird es aber, Dr. [CDU/CSU]: Wären Sie wenn Werkvertragsbeschäftigte die gleichen Tätigkeiten auch, wenn Sie an der Regierung wären!) verrichten wie das Stammpersonal oder bisherige Tätig- Wir wollen übrigens keine Höchstüberlassungsdauer. keiten, die dem Wesen des Betriebs entsprechen, per Auftragsspitzen sind unterschiedlich je nach Branche. Werkvertrag vergeben werden. Dann ist das kein „Vorübergehend“ bedeutet nun einmal „nur auf Zeit“, je „Werk“, sondern dann handelt es sich schlichtweg um nach besonderen Auftragslagen. Diese Definition ist nichts anderes als Scheinwerkverträge und Tarifflucht. ausreichend, damit Betriebsräte oder eben auch Gerichte Die Arbeitswelt ist schon heute gespalten, und die tätig werden können. Die geplante Höchstüberlassungs- Fehlentwicklungen durch Scheinselbstständigkeit und dauer von 18 Monaten – aber auch eine Höchstüber- Scheinwerkverträge werden das noch verschärfen. Diese lassungsdauer von drei Monaten – lehnen wir ab; denn Entwicklung muss endlich gestoppt werden. dadurch entstehen nur Drehtüreffekte. Entleihbetriebe, die die Beschäftigten nicht übernehmen wollen, sondern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weiterhin auf billigere Arbeitskräfte setzen, geben doch sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ganz einfach die Leiharbeitskräfte nach neun Monaten Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Re- oder spätestens nach 18 Monaten zurück. Und das geht gierungskoalition, Sie haben wegen des verfassungswid- nur zulasten der betroffenen Leiharbeitskräfte. Deshalb rigen Tarifeinheitsgesetzes wertvolle Zeit verloren. Ich lehnen wir diese Regelungen ab. Sie sind nicht gerecht sage es noch einmal: Die Tariflandschaft und die Beleg- und auch nicht fair. (B) schaften zersplittern nicht wegen der Tarifpluralität, son- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dern aufgrund von Scheinwerkverträgen, Leiharbeit und sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Tarifflucht. Nehmen Sie diese Entwicklung endlich ernst! Ankündigungen sind aber zu wenig. Legen Sie Jetzt zu den Werkverträgen – die Entwicklung dort ist endlich etwas auf den Tisch! eigentlich das größere Problem –: Die menschenunwür- digen Bedingungen durch Werkverträge in der Fleisch- Vielen Dank. branche sind bekannt; die kennen wir alle. Im Einzelhan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN del gibt es die Regaleinräumerinnen und -einräumer, und und bei der LINKEN) mittlerweile wird der gesamte Kassenbereich über Werk- verträge organisiert. Im Druckbereich werden Schichten, aber auch der Betrieb von ganzen Rotationsmaschinen Vizepräsidentin Petra Pau: per Werkvertrag vergeben. Fündig werden wir auch in Das Wort hat die Kollegin Katja Mast für die SPD- Hotels, im Transportbereich, natürlich in der Metallbran- Fraktion. che. Bei den Werkverträgen sind der Fantasie keine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Grenzen gesetzt. der CDU/CSU) Häufig leisten die Beschäftigten mit Werkvertrag die gleiche Arbeit auf demselben Betriebsgelände wie die Katja Mast (SPD): Kolleginnen und Kollegen mit einem regulären Arbeits- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen vertrag, allerdings oft für deutlich weniger Lohn. Und und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! wenn irgendetwas am Arbeitsplatz nicht stimmt, dann Wir reden über die Regulierung von Leiharbeit und können sie sich nicht einmal beim Betriebsrat beschwe- Werkverträgen, aber ich will am Anfang meiner Rede ren. Denn der ist für sie nicht zuständig. Das alles geht doch noch einmal klarstellen: Für uns in der Regierungs- gar nicht. Für uns hört die unternehmerische Freiheit bei koalition ist die Frage der Stärkung der Tarifautonomie Lohndumping auf. eine ganz zentrale. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert und bei der LINKEN) Stegemann [CDU/CSU]) Denn bei solchen Werkverträgen geht es darum, Lohn- Deshalb haben wir den flächendeckenden gesetzli- kosten einzusparen. Es geht um Tarifflucht von einem chen Mindestlohn eingeführt, die Möglichkeit für All- guten in einen schlechteren Tarifvertrag. Und häufig be- gemeinverbindlichkeitserklärungen verbessert und das steht überhaupt keine Tarifbindung mehr. Arbeitnehmer-Entsendegesetz für alle Branchen geöff- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10063

Katja Mast (A) net. Ursprünglich wollten wir all das gemeinsam mit erklären: Das ist für die Kolleginnen und Kollegen im (C) dem Gesetz zur Tarifeinheit verabschieden, haben dann Betrieb nicht in Ordnung. Vielmehr ist das auch für die aber wegen der heiklen verfassungsrechtlichen Fragen ehrlichen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber nicht in gesagt: Da müssen wir noch etwas mehr Gehirnschmalz Ordnung; denn am Schluss sind sie die Dummen. Sie hineinlegen als in die genannten Punkte, die in der Tat werden dann durch den Konkurrenzdruck dazu gezwun- einfacher zu regeln waren. Sich hier nun hinzustellen gen, ähnliche Betriebspraktiken einzuführen. Wer und uns zu sagen: „Sie beschäftigen sich mit Tarifeinheit glaubt, dass das nicht der Fall sei, sollte sich einmal die und kümmern sich nicht um Tarifautonomie“, halte ich aktuellen Debatten bei DHL und Post sowie in den Kran- an der Stelle für eine Unverschämtheit. kenhäusern ansehen. Da sehen wir sehr genau, was pas- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten siert. Es gibt Unternehmen mit einer guten Mitbestim- der CDU/CSU – Widerspruch des Abg. Klaus mung und gut ausgestatteten Arbeitssituationen, die in Ernst [DIE LINKE]) weniger stark tarifgebundene und mitbestimmte Struktu- ren gehen, eben in Richtung Werkvertragskonstellatio- Bezüglich Leiharbeit und Werkverträgen ist für uns nen. Genau deshalb muss das Parlament handeln. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten klar, dass können nicht zuschauen; denn an dieser Stelle ist die so- im Betrieb gelten muss: gemeinsam arbeiten, gleich ver- ziale Marktwirtschaft in Gefahr. dienen und gleich behandelt werden. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Ach!) (Beifall bei der SPD) Das ist für uns Recht und Ordnung auf dem Arbeits- Im Betrieb sieht das dann oft so aus, dass die Kolle- markt. ginnen und Kollegen in Leiharbeit oder mit Werkverträ- gen unterschiedliche Arbeitskleidung haben, unter- (Beifall bei der SPD) schiedliche Preise in der Kantine bezahlen und nicht auf Dass das nicht immer der Fall ist, haben einige meiner den gleichen Parkplätzen parken dürfen etc., weil sie Vorredner ja schon gesagt. Es gibt in den Betrieben eine eben keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stamm- Zwei- und Dreiklassenbelegschaft. Es ist beispielsweise belegschaft sind. Deshalb haben wir im Koalitionsver- so, dass es in der Automobilindustrie in der Montage trag vereinbart, dass wir Leiharbeit regulieren. Alle, die eine Stammbelegschaft, Leiharbeitnehmerinnen und -ar- diese Debatte schon länger verfolgen, wissen: Die SPD beitnehmer und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit hätte sich ein bisschen mehr vorstellen können als das, einem Werkvertrag gibt. Die Leiharbeitnehmerinnen und was im Koalitionsvertrag steht. Aber wer glaubt, da sei -arbeitnehmer verdienen ungefähr 30 Prozent weniger keine Musik drin, irrt. Denn wir bekommen laufend An- als ihre Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen und fragen von Verbänden, Unternehmen und Arbeitnehmer- Mitarbeiter mit einem Werkvertrag ungefähr 70 Prozent (B) organisationen, die mit uns über dieses Thema reden (D) weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen. Klar ist: Zu wollen, und zwar sehr intensiv. Also, da ist ordentlich einer sozialen Marktwirtschaft gehört, dass diejenigen, Musik drin. die das Gleiche tun, das Gleiche verdienen müssen. Des- halb ist es richtig, dass Leiharbeit und Werkverträge re- Bei der Leiharbeit wollen wir definieren, was der Ge- guliert werden. setzgeber unter „vorübergehend“ versteht. Nachdem wir uns da lange Zeit gelassen haben, bin ich froh, dass wir (Beifall bei der SPD) jetzt eine Regelung gefunden haben und unter „vorüber- Die IG Metall hat eine Umfrage zu diesem Thema gehend“ grundsätzlich 18 Monate verstehen. Wir wollen durchgeführt – der Kollege Ernst hat es vorhin schon er- Leiharbeit auf ihre Kernfunktion zurückführen. Wir wol- wähnt – und festgestellt: In der Automobilindustrie stel- len sie also nicht abschaffen, sondern auf ihre Kernfunk- len ungefähr 760 000 Kolleginnen und Kollegen die tion zurückführen. Wir wollen, dass sie ein Instrument Stammbelegschaft, 100 000 Kolleginnen und Kollegen ist, um bei Auftragsspitzen und zu Urlaubszeiten schnell sind Leiharbeiter und 250 000 in Werkvertragskonstella- zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bekom- tionen. Es besteht dort also ein Verhältnis von 2 : 1. In men. Wir wollen aber nicht ganze Produktionszyklen der Luftfahrt stellen 73 000 Kolleginnen und Kollegen oder sogar mehrere Produktionszyklen über Leiharbeit die Stammbelegschaft, 10 000 Kolleginnen und Kolle- organisieren. gen sind Leiharbeiter und 10 000 Kolleginnen und Kol- legen in Werkvertragskonstellationen. Wir wollen, dass spätestens nach neun Monaten gilt: gleiches Geld für gleiche Arbeit. Liebe Beate Müller- Zum Dienstleistungsbereich: In Krankenhäusern Gemmeke, natürlich hätten wir es gerne gesehen, wenn – dazu liegen zurzeit mehrere Petitionen im Petitions- ausschuss vor – gibt es beispielsweise die Tendenzen, das noch früher gelten würde. Aber Koalitionen sind ganze Krankenhauseinheiten auszugliedern und Auf- Bündnisse auf Zeit. Wir können uns im nächsten Bun- träge über Werkvertragskonstellationen zu vergeben. Zu destagswahlkampf darüber streiten, was wir uns vorneh- sagen: „Es gibt kein Problem“, negiert diese Realität in men. Aber die Regelung mit den neun Monaten ist an den Betrieben in unserem Land. der Stelle immerhin besser als nichts. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Matthias (Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Beate Zimmer [CDU/CSU]) Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Wenn wir sagen: „Wir in der Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD wollen Leiharbeit und Werkver- Wir wollen nicht, dass Leiharbeitnehmer als Streik- träge regulieren“, dann geht es uns nicht nur darum, zu brecher eingesetzt werden. Und wir wollen eine gesetzli- 10064 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Katja Mast (A) che Klarstellung, dass die Zahl der Leiharbeitnehmer bei Albert Stegemann (CDU/CSU): (C) der Berechnung der Schwellenwerte für Mitbestimmung Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! einbezogen wird, sodass die Firmengröße bei den Be- Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her- triebsratswahlen tatsächlich abgebildet wird. ren! Und täglich grüßt das Murmeltier, ein weiterer An- trag Ihrer Partei, ein weiteres Schreckensszenario auf Wir stellen aber eines fest: In der Leiharbeit stagnie- dem Arbeitsmarkt und ein weiterer Ruf nach staatlichen ren seit 2011, als wir durchgesetzt haben, dass es dort ei- Eingriffen. Wenn ich Ihre Begründung lese, werde ich nen Mindestlohn gibt, die Beschäftigtenzahlen, während das Gefühl nicht los, dass auf dem deutschen Arbeits- Werkvertragskonstellationen zunehmen. Deshalb ist es markt vorindustrielle Zustände grassieren müssen. Ich wichtig, dass wir nicht das eine regulieren, ohne das an- lese von einem „Klima der Angst“ bei den Arbeitneh- dere im Auge zu behalten. Deshalb wollen wir auch mern. Arbeitgeber würden jedwede Möglichkeit nutzen, Werkverträge regulieren, rechtswidrige Vertragskon- um geltende Regelungen zu umgehen und ihre Mitarbei- struktionen zulasten der Arbeitnehmer verhindern, die ter unter Druck zu setzen. Sie schmeißen Werkverträge Kontroll- und Prüftätigkeiten bei der Finanzkontrolle und Zeitarbeit lustig in einen Topf und negieren, dass Schwarzarbeit konzentrieren. Wir wollen die Informa- solche Formen der Beschäftigung ihren festen Platz auf tions- und Unterrichtungsrechte der Betriebsräte sicher- dem Arbeitsmarkt haben. Hierbei blenden Sie drei stellen und Abgrenzungskriterien, die durch Rechtspre- Punkte aus. chung geschaffen wurden – das hat mein Kollege Schiewerling auch schon gesagt –, gesetzlich niederle- Punkt eins. Sie erwähnen mit kaum einem Wort, dass gen. All das steht im Koalitionsvertrag. Wir werden da sich in der Zeitarbeit die Situation grundlegend verbes- ab Herbst ganz gut zu tun haben. sert hat. Zur Frage der Abschaffung von Werkverträgen – ja (Zurufe von der LINKEN) oder nein – zitiere ich kurz mit Zustimmung der Präsi- dentin den IG-Metall-Vorsitzenden Detlef Wetzel – Die vielen gesetzlichen und tariflichen Änderungen spa- ren Sie aus: Zeitarbeit ist ein gut regulierter und speziel- ler Teil des Arbeitsmarktes, der Menschen auch Chancen Vizepräsidentin Petra Pau: bietet. Mit Blick auf die Uhr. Punkt zwei. Werkverträge sind selbstverständlicher (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Bestandteil des Wirtschaftslebens. Sie sind Grundpfeiler Schnelles Zitat!) einer arbeitsteiligen Wirtschaft, deren Kriterien in der Rechtsprechung vollumfänglich behandelt wurden. (B) (D) Katja Mast (SPD): Punkt drei – schließlich als Letztes. Sie streuen den – ja, ganz kurz –: Menschen leichtfertig Sand in die Augen. „Ich habe nichts gegen Werkverträge generell“, (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Wir? Ja, klar!) sagte Wetzel im SPIEGEL. „Ich habe aber entschie- Sie fordern Einschnitte mit dem Vorschlaghammer, sa- den etwas dagegen, wenn sie genutzt werden, das gen aber nichts über deren gravierende Auswirkungen. Lohnniveau massiv zu drücken.“ Die von der IG Sie schaden damit nicht nur den Unternehmen, sondern Metall erhobenen Zahlen zeigten, dass Sie verschließen Menschen auch eine Zukunft für sich und ihre Familien. Eine Beschäftigung bietet immer – davon habe ich gerade schon gesprochen – auch eine Perspektive, Selbstbestätigung und Chancen „weite Teile der deutschen Wirtschaft den Gesell- auf ein besseres Leben. schaftsvertrag des Landes aufkündigen wollen“, so So möchte ich im Folgenden diese drei Punkte weiter Wetzel. „Das ist ein Anschlag auf die soziale ausführen und beginne mit Punkt eins, der Zeitarbeit. In Marktwirtschaft.“ keinem anderen Wirtschaftsbereich ist die Tarifbindung Da hat er recht. Deshalb diskutieren wir ab Herbst über heute so hoch wie in der Arbeitnehmerüberlassung. die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen in (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Ich kann die- der Koalition. ses Argument nicht hören!) Vielen Dank. Und wir reden hier nicht über irgendwelche Tarifver- träge. In ganz intensiven – und sicherlich nicht immer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einfachen – Verhandlungen haben Arbeitgeber und der der CDU/CSU) Deutsche Gewerkschaftsbund diese gemeinsam unter- zeichnet. Seit 2011 gibt es einen allgemeinverbindlichen Vizepräsidentin Petra Pau: Mindestlohn in der Zeitarbeit. Das, was wir uns seitens Das Wort hat der Kollege Albert Stegemann für die der Politik wünschen und mit den Gesetzen, wie zum CDU/CSU-Fraktion. Beispiel dem Tarifautonomiestärkungsgesetz, fördern wollen, hat hier in der Praxis funktioniert. Die Tarifpart- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ner haben sich zusammengesetzt und haben ihre Haus- neten der SPD) aufgaben gemacht. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10065

Albert Stegemann (A) Darüber hinaus hat die Bundesregierung umfassende mit welchem Engagement und mit welchem Fingerspit- (C) gesetzliche Änderungen auf den Weg gebracht: zum Ers- zengefühl die Personaldisponenten hier vorgehen. Teil- ten die Abschaffung der Drehtürklausel, zum Zweiten weise bringen sie sehr individuelle Maßnahmen und spe- Verbot der konzerninternen Überlassung und schließlich zielle Unterstützung für ihre Klientel auf den Weg. Es die Einführung von Equal Pay ab dem ersten Tag, zu- war für mich ein beeindruckendes Erlebnis, mit wie viel, mindest dann, wenn ein Tarifvertrag vorliegt. auch sozialem, Engagement hier vorgegangen wird. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau!) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Stegemann, gestatten Sie eine Frage oder Be- Sie werden das lächerlich finden, aber ich habe selbst er- merkung des Kollegen Ernst? lebt, wie man Menschen eine Chance gibt, die vorher keine Chance hatten. Ohne entsprechende Maßnahmen hätten sie sicherlich keinen Job auf dem ersten Arbeits- Albert Stegemann (CDU/CSU): markt gefunden. Das ist der entscheidende Grund. Wenn Von mir aus. unterstützende, begleitende Maßnahmen für eine gute (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Einarbeitung notwendig sind, und der SPD – Beate Müller-Gemmeke (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mutig, mu- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da gibt es ganz an- tig!) dere!)

Klaus Ernst (DIE LINKE): dann muss ermöglicht werden, dass in der Einarbei- tungszeit der Lohn flexibel ist, bevor Equal Pay gilt. Herzlichen Dank für die Freundlichkeit. – Ich habe folgende Fragen an Sie. Meine erste Frage lautet: Mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – welcher Begründung sollen Ihrer Ansicht nach Men- Klaus Ernst [DIE LINKE]: Tarifverträge! Das schen, die exakt dieselbe Tätigkeit im selben Unterneh- war meine zweite Frage!) men machen, in den ersten neun Monaten unterschiedli- che Löhne bekommen? Warum nicht sofort gleiche – Dazu komme ich später. Ich fahre jetzt in meiner Rede Löhne? Warum werden die, die über eine Leiharbeits- fort. firma ins Unternehmen kommen, nicht genauso behan- delt wie neu im Betrieb eingestellte Beschäftigte? Das Instrument der Arbeitnehmerüberlassung – das habe ich gerade ausgeführt – stellt eine hervorragende Meine zweite Frage lautet: Warum akzeptieren Sie, Möglichkeit für den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt (B) dass bei vollkommen gleicher Tätigkeit für Leiharbeit- dar. Das gilt insbesondere, wie auch schon gesagt, für (D) nehmer und Festangestellte in einem Betrieb unter- Menschen mit geringer Qualifikation, die sonst nur ganz schiedliche Tarife gelten – Sie haben gerade von hoher wenige Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Zahlen Tarifbindung bei Leiharbeit gesprochen –, wenn Sie belegen dies – sie wurden auch schon angeführt –: gleichzeitig offiziell als Regierung die Position vertre- 60 Prozent waren vor ihrer Beschäftigung arbeitslos, und ten, dass Tarifeinheit gelten soll, dass also die Beschäf- 50 Prozent arbeiten im Helferbereich. Und machen wir tigten in einem Betrieb bitte schön dem gleichen Tarif- uns nichts vor: Eine Studie des IAB aus dem vergange- vertrag unterliegen sollen? nen Jahr belegt, es gibt immer weniger Jobs mit soge- nannter Helfertätigkeit in unserem Land, die Geringqua- Albert Stegemann (CDU/CSU): lifizierte für ihren Einstieg ins Berufsleben so dringend benötigen. Unser aller Ziel ist es, dass Langzeitarbeits- Zu Ihrer ersten Frage: Wir brauchen ganz klar eine lose in das Arbeitsleben zurückkehren können. Wir dür- Einarbeitungszeit für die Mitarbeiter. fen diese Menschen nicht aufgeben. Niemals! (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE Die Bundesregierung legt viele Programme auf, die GRÜNEN]: Die brauchen die anderen Ange- viel Geld kosten, um die Betroffenen zu erreichen. Aber stellten auch!) viel zu häufig fehlt in der Praxis der direkte Bezug zum Wir haben es hier teilweise mit einer speziellen Klientel Arbeitsmarkt. Zeitarbeitsfirmen schaffen das jedoch. Vor zu tun, diesem Hintergrund sollten wir diese Tür nicht leichtfer- tig verschließen. Sicherlich: Die Unternehmen verdienen (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Wieso das auch Geld damit. Aber warum nicht? Gerade deshalb denn? – Beate Müller-Gemmeke [BÜND- sind viele mit viel Kreativität und Energie unterwegs. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein! Das ist Sie fahren Mitarbeiter zum Arbeitsplatz und vermitteln doch stigmatisierend!) in ungewohnte Tätigkeiten. die eine gewisse längere Einarbeitungszeit braucht. (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das habe ich Sie müssen den Zeitarbeitsfirmen auch zugestehen, ja noch nie gehört!) dass sie Schulungen und Bildungsmaßnahmen fördern. Nicht immer klappt dies, und das hält auch nicht immer Sie müssen das anerkennen. Ich habe das selbst miter- für längere Zeit, aber eine gute Chance ist es allemal. lebt. Ich war zum Beispiel bei einem Bewerbungsge- spräch bei einer Zeitarbeitsfirma dabei und habe erlebt, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 10066 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Ich möchte Ihnen keineswegs die guten Absichten ab- (C) Kollege Stegemann, es gibt von der Kollegin sprechen. Der Schutz des Einzelnen in der Arbeitswelt Zimmermann einen weiteren Wunsch nach einer Frage ist ein hohes Gut. oder Bemerkung. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Albert Stegemann (CDU/CSU): Ich würde jetzt gerne meine Rede zu Ende führen. Die Maßgabe kann aber nicht lauten: Viel hilft viel. Schaffen Sie keine Branche ab, nur weil einige Dinge Punkt zwei, Werkverträge. Auch hier wäre es zur Ab- nicht funktionieren! Lieber Herr Ernst, Sie würden doch wechslung schön, von Ihrer Seite einmal eine andere auch nicht Ihren Porsche verschrotten, nur weil der Platte als die des Missbrauchs der Werkverträge vorge- Aschenbecher voll ist. spielt zu bekommen. Mehr als 95 Prozent der Werkver- träge in unserem Land sind nicht zu beanstanden. Der (Heiterkeit – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Er Gang zum Friseur: ein Werkvertrag! Oder bringen Sie raucht gar nicht!) Ihre eigene Schere mit zum Friseur? Nein, Sie kaufen Wir sollten die guten Seiten dieser Beschäftigungsform ein fertiges Produkt. bewahren und an den Defiziten schrauben. Zu diesem (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE konstruktiven Gespräch lade ich Sie herzlich ein. GRÜNEN]: Darum geht es doch gar nicht!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Die neue TÜV-Plakette in der Autowerkstatt: ein Werk- (Beifall bei der CDU/CSU) vertrag! (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Petra Pau: GRÜNEN]: Niemand redet darüber! Einfach Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die zuhören!) Fraktion Die Linke. Aber auch der Auftrag eines Unternehmens an eine an- (Beifall bei der LINKEN) dere Firma, um die Fenster oder Büroräume zu einem festen Preis zu reinigen: ein Werkvertrag! Und wenn ein Jutta Krellmann (DIE LINKE): Autokonzern die Entwicklung eines speziellen Bauteils Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und an eine Fremdfirma auslagert, ist das auch ein Werkver- Kollegen! Ausbeutung hat auf dem Arbeitsmarkt viele trag. Damit geht aber doch nicht automatisch Lohndum- Namen. Ein Name davon: Werkverträge. Das Problem ping einher. Ein Produkt ohne eigenen Aufwand und Ri- (B) ist: Die Zahl der Missbräuche steigt. Mittlerweile stehen (D) siko zu kaufen, das ist Teil der unternehmerischen Werkverträge für Lohnbetrug, für ungerechte Bezah- Freiheit. lung, für unwürdige Behandlung von Beschäftigten und Sicherlich müssen wir sehen, dass es in den vergange- für die Spaltung ganzer Belegschaften. Das hat nichts nen Jahren auch hier schwarze Schafe gegeben hat. Nun damit zu tun, was Werkverträge einmal waren, Herr aber direkt mit der Schrotflinte das Problem aus der Welt Schiewerling. Es geht nicht mehr darum, dass Spezial- schaffen zu wollen, aufgaben in den Betrieben von externen Dienstleistern übernommen werden, zum Beispiel die Elektrik im (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Krankenhaus oder das Fliesenlegen im Metallbetrieb. GRÜNEN]: Mit welcher Schrotflinte denn?) Werkvertragsbeschäftigte übernehmen heute ganz regu- läre Arbeiten in Betrieben, da sage ich Ihnen: Sie treffen mit Sicherheit vor allem die Falschen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Abschließend möchte ich zu Punkt drei kommen und sie ersetzen Stammbeschäftigte, und das zu Bedingun- damit zu meiner Bewertung Ihres Antrags. Liebe Kolle- gen weit unter Tarifstandards. Das geht doch alles gar ginnen, liebe Kollegen von der Linken, Zeitarbeit und nicht! Werkverträge sind konstruktive Elemente auf dem (Beifall bei der LINKEN) Arbeitsmarkt. Sie sind notwendig für das Funktionieren einer arbeitsteiligen Wirtschaft in einer globalen Welt. Beispiele wie die Wareneinräumer im Einzelhandel Die Zeitarbeit ist heute weitgehend reguliert und kein gibt es genug. Über die Baubranche und die Fleischin- Massenphänomen. dustrie haben wir hier auch schon geredet. Der Miss- brauch von Werkverträgen ist mittlerweile ein Flächen- Da, wo sich die Anforderungen zulasten einer Gruppe brand. verschieben und wo Tarifparteien nicht gestalten kön- nen, gibt es allerdings Handlungsbedarf seitens der Poli- (Beifall bei der LINKEN) tik. Diesem sind wir in der Vergangenheit nachgekom- Dagegen muss unbedingt etwas unternommen werden! men, und wir werden dies auch weiterhin tun. So haben Was aber macht die Regierung? Sie begnügt sich mit die Regierungsparteien klug entschieden, Missbrauch Ankündigungen und lässt sich Zeit. Das, liebe Kollegin- anzugehen. In den nun anstehenden Verhandlungen wird nen und Kollegen, ist ein Aussitzen von Problemen. Das noch zu klären sein, wie wir den Realitäten des moder- möchten wir nicht. nen Arbeitens und den Chancen der Zeitarbeit Rechnung tragen können. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10067

Jutta Krellmann (A) Fantasielos ist auch die Ankündigung selbst: Die wurden nun nachgezahlt. Die Quittung dafür kassiert der (C) Bundesarbeitsministerin stellt in Aussicht, dass der Zoll Beschäftigte, der das Ganze öffentlichgemacht hat. Er kontrollieren soll, ob in den Unternehmen illegale hat zwar nach wie vor einen Rahmenarbeitsvertrag, Werkverträge zur Anwendung kommen. Was sollen die bekommt jetzt aber keine Aufträge mehr von der Bun- Kolleginnen und Kollegen vom Zoll denn noch alles destagsverwaltung. Nun lebt er von Hartz IV und muss kontrollieren? Schwarzarbeit, Mindestlohn, Arbeitneh- sehen, dass er über diesen Weg Geld bekommt. Was ist merüberlassung – die sind doch heute schon völlig über- das im Grunde für ein Signal, das wir als Bundestag an lastet. Das geht doch auch alles gar nicht! der Stelle aussenden! Ich finde, das, was da passiert, ist unmöglich. (Beifall bei der LINKEN – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Sie wollen für jeden Betrieb ei- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate nen bestellen!) Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Anstatt sich engagiert mit dem Problem zu beschäftigen, will die Bundesregierung dieses Problem nur mit der Wir wollen, dass eine gerechte Arbeitswelt entsteht Kneifzange anpacken. Ein bisschen Frieden reicht uns und dass sich auch die Bundestagsverwaltung beim Um- nicht, ein bisschen Regulieren von Werkverträgen auch gang mit den Kollegen anders verhält; denn das, was wir nicht. da erlebt haben, ist absolut nicht akzeptabel. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Zwei Punkte aus unserem Antrag möchte ich gerne Meine Damen und Herren, die Regulierung von Leih- herausgreifen, die für eine konsequente Regulierung von arbeit und Werkverträgen muss jetzt in Angriff genom- Werkverträgen entscheidend sind. men werden. Unsere Vorschläge liegen vor. Jetzt warten wir noch auf Ihre, und dann schauen wir einmal, was am Punkt eins: Stichwort „Mitbestimmung“. Betriebs- Ende dabei herauskommt. und Personalräte müssen ein erzwingbares Mitbestim- mungsrecht beim Einsatz von Fremdfirmen in Unterneh- Vielen Dank. men erhalten. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Informationsrechte, wie sie die Regierung im Koali- Vizepräsidentin Petra Pau: tionsvertrag angekündigt hat und die teilweise auch Der Kollege Markus Paschke hat für die SPD-Frak- schon vorhanden sind, reichen nicht aus. Betriebsräte tion das Wort. (B) müssen den Einsatz von Fremdfirmen verhindern kön- (Beifall bei der SPD) (D) nen. Nutzen wir den Sachverstand dieser Kolleginnen und Kollegen! Die wissen sofort, ob mit Werkverträgen Markus Paschke (SPD): Tarifstandards unterlaufen werden sollen oder nicht. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Punkt zwei. Auch legale Werkverträge werden ge- Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir nutzt, um Lohndumping zu betreiben. Selbst wenn alle kennen die Berichte über die systematische Ausbeu- Werkverträge rechtskonform angewandt werden, wenn tung osteuropäischer Arbeitnehmer in der Fleischindus- also die Arbeit von Werkvertragsunternehmen völlig in trie und über Beschäftigungsverhältnisse, die unter dem Eigenregie erbracht wird, kann es sich um Tarifflucht Deckmantel von Werkverträgen nichts anderes sind als handeln. Tarifflucht liegt eindeutig immer dann vor, moderne Sklaverei. wenn diese Arbeiten von dem Betrieb vorher selbst erle- In der letzten Woche war ich in der Beratungsstelle digt wurden. Eine gesetzliche Regulierung muss auch für mobile Beschäftigte in Oldenburg. Kurz zuvor war diesem Sachverhalt Rechnung tragen. Die Regierung dort ein rumänischer Arbeiter, der um Hilfe gebeten hat. scheint das völlig zu ignorieren. Seinen Fall will ich einmal kurz schildern: (Beifall bei der LINKEN) (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Fleischin- Wir Linke sagen: Bei der Auftragsvergabe an Fremd- dustrie!) firmen, die die gleiche Arbeit verrichten, muss auch für Er hat drei Monate auf einem Schlachthof gearbeitet und deren Beschäftigte ein Gleichbehandlungsgebot festge- musste Tierdärme auswaschen. Nach diesen drei Mona- schrieben werden. Mit anderen Worten: gleicher Lohn ten erhielt er einen Lohn von 1 300 Euro ausgezahlt. Das für Stammbeschäftigte und Werkvertragsbeschäftigte in war das erste Mal, dass er Geld gesehen hat. einem Betrieb! Nur so kann Tarifflucht schon im Ansatz ausgetrocknet werden. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Echt?) Ich möchte zum Schluss auf ein Problem aufmerksam Aber beim ersten Aufbegehren und Einfordern des in machen, das uns auch hier im Bundestag unmittelbar be- Rumänien versprochenen Lohnes wurde er fristlos ent- trifft bzw. das wir erlebt haben. Es geht um das Thema lassen und aus seiner Unterkunft geworfen. Scheinselbstständigkeit. Es ist beschämend, dass der (Zuruf von der SPD: Pfui!) Bundestag als Arbeitgeber über Jahre hinweg Besucher- führer als Scheinselbstständige beschäftigt hat. Die In Rumänien hatte man ihm 10 Euro pro Stunde, freie nachträglich erhobenen Sozialversicherungsbeiträge Unterkunft und freie Fahrten zur Arbeit versprochen. 10068 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Markus Paschke (A) Dafür musste er sogar eine Vermittlungsgebühr von (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Auch il- (C) knapp 800 Euro zahlen; aber er hatte sich ja ausgerech- legal!) net, dass sich das lohnt. Nach der Ankunft im Oldenbur- Die krassesten Fälle von Missbrauch kennen wir aus ger Land war es allerdings anders als versprochen: Er der Fleischindustrie, aber es gibt sie ebenso im Stahlbau, wurde in einer Massenunterkunft mit 1 500 anderen auf Werften, im Baugewerbe, im Hotel- und Gaststätten- Arbeitern untergebracht. In dem Raum, der ihm zuge- gewerbe und in vielen anderen Wirtschaftsbereichen. wiesen wurde, standen 16 Betten, die alle belegt waren. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Überall (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist Verstöße! Richtig!) doch alles illegal!) Da gibt es den Spüler im Nobelhotel – auch das ist ille- Dafür wurden ihm 240 Euro monatlich vom Lohn abge- gal –, der angeblich als Selbstständiger arbeitet, zogen. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, ge- (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist nau! Was wollen Sie uns jetzt damit sagen? – auch illegal!) Zuruf von der LINKEN: Dann müssen Sie für Auch die Kosten der Fahrt zum Schlachthof wurden vom den Antrag der Linken stimmen!) Lohn abgezogen. Arbeiter auf der Baustelle des Einkaufstempels Mall of Berlin, die um ihren Lohn geprellt wurden. Auch aus der (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Das ist Leiharbeit sind uns solche Fälle bekannt: der Kommis- illegal!) sionierer, der seit zehn Jahren als Leiharbeiter in einem In einem fremden Land, der Sprache nicht mächtig, Betrieb arbeitet und nur 60 Prozent dessen bekommt, ausgebeutet und betrogen – das nenne ich moderne Skla- was sein Kollege neben ihm verdient. verei. Diese Liste ließe sich beliebig fortführen. Deshalb (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem sage ich ganz klar – ich komme zum Fazit –: Es muss BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. gehandelt werden. Karl Schiewerling [CDU/CSU] – Sabine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Nein, das ist ille- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gal! Das ist auch heute schon illegal! – Zuruf LINKEN) von der LINKEN: Darum gibt es unseren An- trag! – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Was Das sind wir den Menschen in unserem Lande schuldig. Wir sind es ihnen schuldig, dass sie einen anständigen (B) will uns unser Koalitionspartner damit sagen?) (D) Lohn für anständige Arbeit bekommen. – Hört mir zu, dann komme ich zu dem Punkt. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Kriegen (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Okay! – sie doch! Haben wir doch gemacht!) Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Machen wir gern!) Wir sind es ihnen schuldig, dass sie ein menschenwürdi- ges Leben führen können. Unter dem Deckmantel der Werkverträge passiert viel Missbrauch. Was meine ich, wenn ich von Missbrauch Ich frage Sie: In was für einem Land wollen wir le- spreche? Bleiben wir bei dem beschriebenen Fall des ru- ben? In einem, das tatenlos den Auswüchsen moderner mänischen Schlachters. In der Beratungsstelle wurde Sklaverei zusieht? Da sage ich Nein. dann festgestellt, dass er gar nicht als Arbeitnehmer, (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Rich- sondern als Selbstständiger gearbeitet haben soll. tig!) (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Also il- Wir müssen mit aller Kraft diese Not und Ungerechtig- legal!) keit bekämpfen. Das bedeutet: keine Sozialversicherung, Steuerpflicht (Beifall bei der SPD) usw. Ich nenne das Missbrauch. Erinnern wir uns an die christlichen Werte wie Recht (Beifall des Abg. Dr. Hans-Joachim und Gerechtigkeit, an soziales Handeln und soziale Schabedoth [SPD] – Sabine Weiss [Wesel I] Normen! Wenn es nicht gelingt, menschenwürdige [CDU/CSU]: Ja! Gesetzesverstoß!) Arbeits- und Lebensbedingungen zu garantieren, dann verfaulen unsere Werte von innen. Oder im Bereich der Landwirtschaft: Da gibt es kon- krete Fälle, gerade in der Saison, wo Menschen zehn, elf, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zwölf Stunden körperlich hart arbeiten, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/ (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Auch CSU]: Wer stellt denn die Arbeitsministerin?) illegal!) Wenn es uns nicht gelingt, Recht und Gerechtigkeit allen Spargel ernten und Erdbeeren pflücken. Aufgeschrieben zugänglich zu machen, dann höhlen wir unsere Gemein- und bezahlt werden aber nur sieben oder acht Stunden. schaft und unsere Werte aus. Zu Recht und Gerechtigkeit Auch das ist Missbrauch. gehört für mich zum Beispiel auch die Einrichtung einer Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10069

Markus Paschke (A) Anlaufstelle für Werkarbeiter, wo man sie in ihrer Spra- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – (C) che über ihre Rechte aufklärt, Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Und auch weiter leisten wollen!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Mit der Einführung des Mindestlohns haben wir begon- nen; das war der erste wichtige Schritt. wo sie jederzeit Hilfe erhalten, an die sie sich mit Fragen und Problemen wenden können. (Beifall bei der SPD) Zu Recht und Gerechtigkeit gehört für mich aber auch Mit unseren Vorhaben, den Missbrauch bei Leiharbeit endlich eine härtere und nachhaltige Bestrafung des und Werkverträgen zu verhindern, werden wir auf die- Missbrauchs. sem Weg weitergehen. Sie sind herzlich eingeladen, uns auf diesem Weg zu begleiten. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Zart auf die Finger zu klopfen, finde ich da nicht ausrei- GRÜNEN]: Liegt was auf dem Tisch?) chend. Missbrauch ist Missbrauch und muss auch end- lich als solcher bezeichnet werden. Danke schön. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Soziale Standards und Tarife zu unterlaufen, ist weder Vizepräsidentin Petra Pau: rechtens noch gerecht. Ich denke es ist unstrittig, dass wir in diesem Bereich Handlungsbedarf haben. Der Kollege Dr. Thomas Gambke hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Jetzt komme ich zum Antrag der Linken. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Jetzt wird Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es aber schwer, die Kurve zu kriegen! – Ge- NEN): genruf der Abg. Katja Mast [SPD]: Nee! Der Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen schafft das schon!) und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Paschke, wo sind denn Ihre Spiegelstriche mit den – Nein, das ist ganz einfach. – Ich muss sagen: Ihr Maßnahmen gewesen? Wo war denn der Zeitplan, bei Antrag ist in keiner Weise dazu geeignet, die Ordnung dem die Herrschaften von der Union hätten klatschen auf dem Arbeitsmarkt wiederherzustellen und die Werte können? (B) unserer Gesellschaft hervorzuheben. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sowie bei Abgeordneten der LINKEN) CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN – Ge- genruf von der SPD: Hören Sie doch mal zu!) Sie hätten uns etwas vorlegen sollen, das uns gezeigt hätte, dass Ihre Analyse – Sie haben die Situation schön Da wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Auch und treffend formuliert – auch zu Aktionen führt. wenn einzelne Spiegelstriche bei den Forderungen ihre Berechtigung haben (Katja Mast [SPD]: Sie hätten bei den Reden zuhören müssen! Dann hätten Sie etwas ge- (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Es hört!) quietscht zwar, aber das Badewasser ist weg! – Zuruf von der LINKEN: Meine Güte! Das ist Genau das ist doch der Punkt. Die Leute da draußen wol- jetzt echt schwer peinlich! – Gegenruf der len, dass Sie handeln, und nicht, dass Sie reden. Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN]: Jetzt lasst ihn doch noch den sowie bei Abgeordneten der LINKEN) einen Satz sprechen!) Es wurde schon viel über das Für und Wider geredet. – schön zuhören! –, folgt die Gesamtschau doch eher Ich darf dieses Thema einmal aus Unternehmersicht be- dem Motto: Wir beseitigen nicht die Ungerechtigkeiten leuchten. Leiharbeit und auch Werkverträge können im auf dem Arbeitsmarkt, sondern wir schaffen die Arbeit Einzelfall eine wichtige Funktion haben. Daran gibt es gleich ganz ab. gar keinen Zweifel. Ich nenne zwei Beispiele aus eigener (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf Erfahrung: von der LINKEN: Nee! – [DIE Erstes Beispiel. Als wir bei uns im Betrieb einen LINKE]: Sie glauben wohl selber nicht, was Brand hatten, Automaten ausgefallen waren und durch Sie sagen!) Handarbeit ersetzt werden mussten – kurzfristig kam es Bezüglich der Leiharbeit haben Sie das entsprechend also zu außergewöhnlichem Arbeitsaufwand –, war es formuliert. absolut korrekt und richtig, zu sagen: Wir müssen kurz- fristig die Belegschaft in diesem Betriebsteil um 25 Pro- Ich sage es einmal so: Unter seriöser Politik verstehe zent erhöhen. Das können wir aus eigener Kraft nicht ich etwas anderes. Seriöse Politik ist das, was wir in der schultern. – So haben wir Leiharbeiter in den Betrieb ge- Koalition bisher geleistet haben. holt. 10070 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Thomas Gambke (A) Das zweite Beispiel, auch aus eigener Erfahrung: Es ist doch Blödsinn, anzunehmen, dass in einer solchen (C) Wenn Unternehmen in einer außergewöhnlichen Situa- Situation eine Einarbeitung notwendig ist. Gerade bei tion sind – zum Beispiel beim Aufbau eines neuen Wer- Auftragsspitzen ist der Betrieb in der Lage, zusätzliches kes oder aufgrund von Umstrukturierungen und Nach- Geld zu verdienen. Da ist es fair und richtig, dies auch folgeregelungen –, haben sie gerade im Fach- und zum Teil weiterzugeben. Führungskreis einen außergewöhnlichen Bedarf. In sol- chen Fällen besteht die Notwendigkeit, über Werkver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN träge – Stichworte: „Nutzung des Arbeitsmaterials“ und und bei der LINKEN) „Weisungsbefugnis“ – zusätzliche Kräfte in den Betrieb zu holen. Bei den Werkverträgen sehe ich die Sache noch etwas kritischer; denn sie werden in der Tat von den Unterneh- Aber, Herr Kollege Stegemann, die missbräuchlichen men zunehmend missbraucht. Sie nannten das Beispiel Anwendungen nehmen zu. Das ist von Ihrem Kollegen von den Lkw-Fahrern. Diese sollen auf einmal selbst un- aus der Regierungskoalition gerade sehr eindrucksvoll ternehmerische Verantwortung tragen, obwohl sie voll- beschrieben worden. Wir müssen etwas dagegen tun. kommen abhängig sind. Das ist schlichtweg unanstän- Wir können doch nicht einfach weiter zuschauen und sa- dig, und wir müssen dem einen Riegel vorschieben. gen: „Das ist in Ordnung“, wie Sie uns suggeriert haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) und bei der LINKEN) Da warte ich auf Ihre Vorschläge. Im Bundesrat gab Setzen Unternehmen dauerhaft Leiharbeit ein, dann tun es 2013 einen guten Vorschlag für stärkere Mitbestim- sie das im Wesentlichen aus folgenden Gründen: Sie mungsrechte des Betriebsrates beim Einsatz von Fremd- wollen den Mindestlohn umgehen, personal. Man hat gesagt, man wolle zusätzliche Kon- trollen durchführen. Auch dies wäre notwendig. Ich (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Den Min- denke, Sie müssten endlich etwas vorlegen, damit wir destlohn können die nicht umgehen! Das geht dort eine gute Regelung haben. Wir müssen Leiharbeit gar nicht! Der ist unabdingbar!) und Werkverträge strenger regulieren. Beide Instrumente sie wollen den Kündigungsschutz umgehen, sie haben sind sinnvoll; das habe ich gesagt. Aber es gibt zuneh- Geschäftsmodelle, die nicht nachhaltig sind. mend schwarze Schafe. Das heißt, wir müssen etwas tun, um diese nicht trag- Wir sollten dabei allerdings aufpassen – dies sagte ich baren sozialen Zustände zu eliminieren. Dafür müssen ebenfalls bereits –, die Situation von Fach- und Füh- (B) wir arbeiten, und wir müssen – das sage ich als Unter- rungskräften und die Fälle, die ich genannt habe, nicht (D) nehmer – Wettbewerbsverzerrungen verhindern; denn zu vermischen. Wenn Fach- und Führungskräfte über der Mittelstand – Sie haben das Beispiel des Malers an- Werkverträge eingestellt werden, in denen die verein- gebracht – braucht gute Wettbewerbsbedingungen, barte Entlohnung über einem bestimmten Satz liegt, braucht ein Level Playing Field, braucht eine Gleichbe- dann ist eine Regelung nicht notwendig. Wenn es jedoch handlung. um den Lkw-Fahrer oder den Regaleinräumer geht, dann müssen wir dringend tätig werden. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Völlig richtig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Dafür müssen Sie sorgen. Für die Unternehmen ist eine bessere Regulierung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wichtig; damit möchte ich schließen. Für den Mittel- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) stand ist sie wichtig; denn die Schaffung gleicher Wett- Sie können sich also nicht zurücklehnen und sagen, bewerbsbedingungen ist eine der Grundvoraussetzungen dass das nur Einzelfälle sind. Die Regulierung von Leih- für das Funktionieren der Wirtschaft. Dafür müssen ge- arbeit scheint Konsens zu sein. Die Vorschläge, die ich rade Sie Sorge tragen. Deshalb sind Ihre Verweigerungs- gehört habe – eigentlich habe ich fast gar keine gehört –, haltung und die Art, in der Sie argumentiert haben, wirk- sind bisher aber nicht sehr überzeugend. lich nicht zielführend. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Sie ha- Vielen Dank. ben auch noch keine gemacht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Equal Pay ist einfach ein Muss. Ich bemühe noch ein- und bei der LINKEN – Markus Kurth [BÜND- mal mein am Anfang genanntes Beispiel: Die Einhaltung NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) des Liefertermins war für uns damals ein überaus wichti- ges Ziel. Die Erreichung dieses Ziels war uns das Extra- geld, das wir dafür gezahlt haben, wert. Es wurde uns Vizepräsidentin Petra Pau: sozusagen dreimal zurückgezahlt. Gerade bei Auftrags- Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Stephan spitzen zahlt sich das aus. Stracke das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10071

(A) (CDU/CSU): Vizepräsidentin Petra Pau: (C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Das Wort erteile immer noch ich; aber ich habe schon Herren! Herr Gambke, Sie zeichnen wie so viele Ihrer einmal die Uhr für Sie angehalten. – Bitte. Vorredner von der Opposition ein Zerrbild, was die Zeit- arbeit und die Werkverträge betrifft, und suggerieren Klaus Ernst (DIE LINKE): Handlungsbedarf Danke für das Zulassen der Frage. – Wir haben vorhin gehört, dass es zum Beispiel in der Automobilindustrie (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- über 100 000 Leiharbeiter und 200 000 Werkverträge NEN]: Der Kollege hat Erfahrung in diesem gibt. Das Missverhältnis ist doch sehr gravierend. Wir Bereich!) haben hier einen Abbau von normaler Beschäftigung hin – Herr Kurth, Sie sollten lieber mal zuhören –, wo keiner zu Leiharbeit und Befristung. besteht. Das zeigen auch die Beispiele, die Sie genannt Vertreten Sie tatsächlich die Auffassung, dass über haben. Dort, wo Werkverträge und Zeitarbeit miss- ein Viertel der Beschäftigten in der Automobilindustrie bräuchlich eingesetzt werden, handelt es sich schon jetzt nicht beschäftigt wäre, wenn es keine Leiharbeit und um ein rechtswidriges Verhalten. keine Befristung gäbe? (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, ge- Ich will noch eine zweite Frage nachschieben. Glau- nau!) ben Sie wirklich ernsthaft, dass die deutsche Automobil- Deshalb besteht hierbei kein gesetzgeberischer Hand- industrie auf über ein Viertel der Belegschaft verzichten lungsbedarf, sondern es ist eher eine Frage der Kontrolle müsste, wenn sie die ordentlich bezahlen und ordentlich und des Vollzugs. beschäftigen würde? (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU)

Insofern gaukeln Sie hier etwas vor, was ein Zerrbild un- Stephan Stracke (CDU/CSU): serer Arbeitswelt in unserem Land ist und nicht der Rea- Lieber Herr Kollege Ernst, ich glaube, Kollege lität entspricht. Schiewerling hatte schon zu Beginn der Debatte darauf hingewiesen, dass es in Relation zu den sozialversiche- (Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- rungspflichtig Beschäftigten rund 2,6 Prozent Zeitarbeit Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gibt. Das ist also ein sehr geringer Prozentsatz. Zeitarbeit ist ein wichtiges arbeitsmarktpolitisches In- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: 25! Ich rede von der (B) strument. Es bietet den Unternehmen Flexibilität für Automobilindustrie! Das ist ein Viertel!) (D) Auftragsspitzen und arbeitslosen Menschen die Chance auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Sie suggerieren hier die ganze Zeit, dass dies ein Mas- Sie ist ein Sprungbrett aus der Arbeitslosigkeit hinaus. senphänomen wäre und landauf, landab die Zeitarbeit dazu genutzt würde, andere Arbeitsverhältnisse zu ver- ( [DIE LINKE]: Nie gewe- drängen. Genau das Gegenteil ist in diesem Bereich der sen!) Fall. Es findet keine Verdrängung anderer Erwerbsfor- – Doch, es ist tatsächlich so. Sie ignorieren die Fakten in men statt. diesem Bereich. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie beantworten meine Frage nicht! Hätten die keinen Job?) (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Das behaup- ten Sie! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Insofern ist die Zeitarbeit ein durchaus legitimes Instru- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben ment des Arbeitseinsatzes in unseren Betrieben. doch überhaupt keine Ahnung!) (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE Knapp zwei Drittel der Zeitarbeitsverhältnisse wer- LINKE]: Das war nicht meine Frage!) den mit Personen geschlossen, die direkt zuvor keine Es entspricht auch der unternehmerischen Freiheit, dies Beschäftigung ausübten oder vorher noch nie beschäftigt so zu tun. Insofern ist es durchaus sinnvoll, dass wir die waren. Zeitarbeit in dieser Form weiterhin einsetzen. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wenn Sie wenigs- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Frage ist doch nicht, tens auf meine Frage eingegangen wären!) was sie vorher gemacht haben, sondern was sie nachher machen!) – Lieber Kollege Ernst, ich würde vorschlagen: Ich ant- worte Ihnen, und wenn Sie wollen, können Sie mir eine Das heißt, Zeitarbeit stellt gerade für von Arbeitslosig- weitere Frage stellen. Darauf gehe ich dann entspre- keit bedrohte Arbeitnehmer eine stabile Brücke in den chend ein. ersten Arbeitsmarkt dar, und Sie wollen im Grunde diese Brücke zerstören. (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sind Sie ja nicht! Tun Sie das doch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie blenden hier komplett die Verbesserungen bei der Herr Ernst, Sie haben sich gemeldet; bitte schön. Zeitarbeit aus. Sie sagen, die Zeitarbeitnehmer wären 10072 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Stephan Stracke (A) Arbeitnehmer zweiter Klasse. Auch dies trifft nicht zu. falls. Vermutungstatbestände oder Beweislastregeln ha- (C) Sie haben ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsver- ben hier überhaupt keinen Platz. hältnis. Für sie gelten sämtliche Regeln des Arbeits- und Tarifrechts. Auch das Mitbestimmungsrecht gilt für die (Beifall bei der CDU/CSU) Zeitarbeiter. Bezüglich der Mitbestimmungsrechte bei der Vergabe von Werkverträgen ist noch einmal daran zu erinnern: (Zuruf der Abg. Beate Müller-Gemmeke Der Unternehmer hat die Gestaltungsfreiheit, zu ent- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) scheiden, wie er seine unternehmerischen Ziele umset- Mit einer Lohnuntergrenze, die wir 2012 mit tarifver- zen will und mit welchen Arbeitnehmern. In diese Ge- traglichen Branchenzuschlägen erreicht haben, gibt es staltungsfreiheit wollen und werden wir auch nicht auch eine sachgerechte Annäherung an Equal Pay. Auch eingreifen. Deswegen gibt es überhaupt keinen An- dies blenden Sie vollkommen aus. Das zeigt: Sie haben spruch darauf, dass tarifvertragliche Regelungen die ge- eine ganz andere Auffassung. Hier geht es ausschließlich samte Produktionskette erfassen. Hier von Missbrauch um die Frage des Klassenkampfes zu reden, ist voll neben der Sache. (Lachen bei der LINKEN) Insofern ist der Antrag der Linken abzulehnen. Er geht an der Sache vorbei. und nicht um die Fragen, wie wir den arbeitsmarktpoliti- schen Themen in diesem Land gerecht werden. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam- keit. (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE (Beifall bei der CDU/CSU) LINKE]: Lieber Klassenkampf als Rede- krampf!) Vizepräsidentin Petra Pau: Wir haben uns jetzt vorgenommen, die vorüberge- Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die hende Überlassung in der Zeitarbeit zu konkretisieren. SPD-Fraktion. Die Kollegin Müller-Gemmeke hatte hier schon auf die möglichen Folgewirkungen hingewiesen. Ich halte diese (Beifall bei der SPD sowie des Abg. für in der Tat bedenklich und bedenkenswert. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU])

(Zuruf der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Daniela Kolbe (SPD): Insofern brauchen wir Öffnungsklauseln auf tarifvertrag- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal Danke an die Linke, wenn (B) licher und Betriebsebene, die praktikabel und interes- (D) sensgerecht sind. Auch in der Zeitarbeit gibt es Hoch- auch nicht für den vorliegenden Antrag qualifizierte. Gerade bei Hochqualifizierten liegt der (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Doch! Doch! Einsatzzeitrahmen bei zum Teil deutlich mehr als Auch! Auch!) 18 Monaten. Wenn Sie beispielsweise daran denken, dass wir die Pflegezeit auf 24 Monate verlängert haben – daran hätte ich einiges zu bekritteln –, wohl aber dafür, und dass die Elternzeit bei drei Jahren liegt, dann wissen dass wir über das wichtige Thema Leiharbeit und die Sie, dass wir notwendige Vertretungsmöglichkeiten für große Frage der Ordnung auf dem Arbeitsmarkt spre- die Betriebe brauchen. chen können. Das ist eines der Herzensanliegen der Sozialdemokratie: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Dafür setzen wir uns GRÜNEN]: Man kann ja auch befristet ein- ein. stellen!) (Beifall bei der SPD) Deswegen brauchen wir tatsächlich solche Öffnungs- Leih- und Zeitarbeit war im eigentlichen Sinne dafür klauseln, wie Sie sie angesprochen haben. Das macht gedacht, Unternehmen zu ermöglichen, Spitzen abzu- Sinn. Dass diese arbeitnehmerbezogen sein sollten, ist federn und flexibler zu agieren, um am Markt wett- selbstverständlich. bewerbsfähig zu sein. Bei Werkverträgen handelt es sich Ich komme zu den Werkverträgen. Werkverträge sind um ein uraltes Instrument – Karl Schiewerling hat es seit Jahrzehnten Bestandteil unserer arbeitsteiligen Ge- schon erwähnt –: Seit 1900, also seit über 100 Jahren, ist sellschaft. Es besteht überhaupt kein Grund, klassische es im BGB verankert. Werkverträge gesetzlich einzuschränken. Für uns gilt der Selbstverständlich hat niemand außer manchen bei Grundsatz: Wo Werkvertrag draufsteht, muss auch den Linken etwas gegen Zeitarbeit, wenn sie Auftrags- Werkvertrag drin sein. spitzen abfedert, wenn zum Beispiel kurzfristig viele Be- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So schäftige krank werden und ein Unternehmen einen Auf- ist es!) trag sonst nicht erledigen kann. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das hat Die Rechtsprechung hat die Kriterien bei der Abgren- er doch gesagt!) zung zwischen Werkverträgen und Zeitarbeit bereits klar konturiert, auch was die Rechtsfolgen insgesamt angeht. Es ist ein äußerst sinnvolles Instrument unter der Voraus- Maßgebend sind dabei immer die Umstände des Einzel- setzung, dass diese Menschen sehr gut bezahlt und sehr Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10073

Daniela Kolbe (A) gut behandelt werden. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit Werkvertragsunternehmen bzw. als Leiharbeiter, weil (C) muss eben auch in diesem Bereich gelten. Das ist ein mein Ziel eine Festanstellung in einem der großen Un- SPD-Grundprinzip. ternehmen ist. Das ist der Grund, warum ich das tue. Werkverträge sind ein tolles Instrument – ich hatte (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE selber schon einen Werkvertrag –, wenn der Werkver- GRÜNEN]: Und? Funktioniert es?) tragsnehmer gerne selbstständig arbeitet und weisungs- Ich habe schon Leiharbeitnehmer in meinem Wahl- ungebunden ein Werk vollbringen kann. Die Realität der kreis getroffen, die seit zehn Jahren beim selben Leih- letzten Jahre und auch des Jahres 2015 sieht aber anders unternehmen angestellt sind und auf ihre Übernahme aus. warten. Ich sage Ihnen: Es ist eine der ganz großen Lü- Ich habe einige Beispiele aus meinem Leipziger cken dieses Gesetzes, dass wir keine Höchstüberlas- Wahlkreis mitgebracht, die ich alle aus eigener Anschau- sungsdauer haben. ung kenne. Dort gibt es ein Unternehmen mit einem sehr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ guten und sehr bekannten Namen, das sehr teure und DIE GRÜNEN) wichtige Teile für den Automobilsektor herstellt. Das hat es im produktiven Bereich – nein – nicht mit 30 Prozent Die Betroffenen wissen sehr wohl, warum sie in die- Leiharbeit, nein – nicht mit 50 Prozent Leiharbeit, son- ser Form angestellt sind, nämlich weil sie preiswerter als dern zu fast 100 Prozent mit Leiharbeitern aus unter- die Festangestellten sind. Sie wissen auch, dass sie das Risiko tragen. Wenn sich nämlich die wirtschaftliche schiedlichen Leiharbeitsunternehmen gemacht. Lage verschlechtert, sind sie die Ersten, obwohl sie beim (Katja Mast [SPD]: Das ist unglaublich! – Leihunternehmen fest angestellt sind, denen gekündigt Markus Paschke [SPD]: Missbrauch!) wird. Ich will aber auch sagen: In den letzten Jahren hat sich bei den Automobilherstellern eine ganze Menge be- Das ist sozusagen eine immerwährende Just-in-time/ wegt, vor allen Dingen durch sehr starke Gewerkschaf- Just-in-sequence-Auftragsspitze gewesen. Liebe Kolle- ten und sehr mutige Betriebsräte. ginnen und Kollegen, so haben wir das mit dem Abfe- dern-Können von Auftragsspitzen nicht gemeint. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Da sind Tarifverträge ausgehandelt worden, und Leih- arbeiter bekommen Zuschläge. Als Sozialdemokraten können und wollen wir so etwas nicht hinnehmen. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So ist es richtig!) Ich habe große OEMs in meinem Wahlkreis, worüber Sie bekommen zumindest nach einiger Zeit das gleiche (B) ich mich sehr freue – das sind sehr gute Arbeitgeber –, (D) Grundgehalt. Über Zuschläge und andere Arbeitsbedin- aber auch dort werden seit der Ansiedlung der Unterneh- gungen müsste man noch reden. Mittlerweile haben men Leiharbeit und Werkverträge genutzt. Bei den BMW und Porsche zugesichert, dass sie nur noch Werk- OEMs, den Automobilherstellern, wurden Leiharbeit vertragsunternehmen verpflichten wollen, die nach IG- und Werkverträge von Anfang an genutzt – das ist einge- Metall-Tarifen bezahlen. preist –, und zwar nicht nur, um Auftragsspitzen abzu- federn oder durch bessere Organisation Gewinn aus (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten selbstständig organisierter Arbeit anderer zu erzielen, der CDU/CSU) sondern um geringere Löhne zahlen zu können. Das ist Ich muss sagen: Das hätte man wohl mit keinem Gesetz sowohl durch Leiharbeit möglich als auch dadurch, dass der Welt geschafft. Das waren die Betriebsräte. in Werkvertragsunternehmen andere Tarifverträge als die der IG Metall gelten. Als die Ansiedlung der Unterneh- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So ist das, men erfolgte, gab es in manchen dieser Werkvertragsun- genau so!) ternehmen überhaupt keine Tarifverträge. BMW hat zudem eine Quote für Leiharbeiter einge- Daraus ergibt sich, dass in diesen großen Unterneh- führt und will nicht mehr als einen gewissen Prozentsatz men mindestens vier unterschiedliche Gruppen in einer von Leiharbeitern beschäftigen. Werkhalle am Band arbeiten: die Festangestellten, die Trotzdem gibt es jede Menge zu tun, auch weil wir Leiharbeiter des OEM, die Werkvertragsunternehmer nicht überall die tollen Betriebsräte haben. Equal Pay zahlreicher Werkvertragsunternehmen und die Leihar- und Höchstverleihdauer für die Leih- und Zeitarbeit sind beiter, die in den Werkvertragsunternehmen angestellt für uns ganz zentrale Punkte. Wenn wir sehen, dass sind – alle mit deutlich unterschiedlichen Nettoeinkom- schon die Debatte über die Re-Regulierung der Zeitar- men und Arbeitsbedingungen wie auch mit einem deut- beit dazu führt, dass in Werkverträge ausgewichen wird, lich unterschiedlichen Sicherheitsgefühl. dann sage ich: Wir müssen gerade in diesem Bereich stark draufgucken und regulieren. Markus Paschke hat Ich habe mit sehr vielen Leiharbeitern und Angestell- die Auswüchse beschrieben. Wir brauchen eine Abgren- ten in Werkvertragsunternehmen in meinem Wahlkreis zung zu Scheinwerkverträgen und zur Scheinselbststän- gesprochen. Es mag einige wenige geben, die sich das digkeit ebenso wie zur verdeckten Arbeitnehmerüberlas- gezielt ausgesucht haben, zum Beispiel IT-Freaks, die sung, und natürlich brauchen wir eine viel, viel stärkere selbstständig arbeiten und es vorziehen, mal hier und Kontrolle. mal da zu arbeiten. Die meisten, mit denen ich gespro- chen habe, haben aber klar gesagt: Ich arbeite in diesem (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 10074 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Daniela Kolbe (A) Als Sozialdemokraten haben wir gesagt: Ordnung auf ist auch keine sachliche Debatte, die insoweit geführt (C) dem Arbeitsmarkt ist unser wichtigstes Thema. Dafür wird. haben wir gekämpft. Dazu gehört auch die Regulierung (Beifall bei der CDU/CSU) von Leiharbeit und Werkverträgen. Wir sind stolz, dass wir das im Koalitionsvertrag auch so festgeschrieben ha- Skandalfälle, die selbstverständlich im Ergebnis ben. Missbrauchsfälle sind, können Sie nicht heranziehen, um weitere oder schärfere gesetzliche Regelungen zu schaf- (Beifall bei der SPD) fen. Das hätte nämlich zur Folge, dass Unternehmen, die Wir werden das umsetzen. Dass die betriebliche Mit- sich redlich verhalten, bestimmung in diesem Zusammenhang ein ganz wichti- (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ganz ger Punkt ist, habe ich mit meinen Beispielen deutlich genau!) gemacht. Die betriebliche Realität ist sehr vielfältig. Deswegen werden wir gemeinsam mit den betrieblichen der Einsatz dieses Instrumentes, das sie wirklich benöti- Akteuren darüber sprechen, wie wir das wirklich sehr gen, erschwert würde. So können wir hier im Haus nicht komplexe Feld gesetzlich regeln. Dann werden wir einen arbeiten. sehr guten Gesetzentwurf hier vorlegen und auch ge- meinsam beschließen. Darauf freue ich mich. (Beifall bei der CDU/CSU – Beate Müller- Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir können Missbrauch abstellen!) der CDU/CSU) Da meine Vorredner bereits einiges zur Zeitarbeit ge- sagt haben, möchte ich mich etwas mehr auf die Werk- Vizepräsidentin Petra Pau: verträge konzentrieren. Damit komme ich insbesondere Das Wort hat der Kollege Wilfried Oellers für die auf Ihren Antrag, meine Kollegen der Linken, zu spre- CDU/CSU-Fraktion. chen. Sie formulieren in Ihrem Antrag – ernsthaft –, dass (Beifall bei der CDU/CSU) Sie legale und illegale Werkverträge verhindern wollen. Allein schon die Wahl dieser Formulierung ist für mich wieder ein Beispiel für reine Panikmache und unsachli- Wilfried Oellers (CDU/CSU): che Diskussion. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor- Wir haben es beim Werkvertrag mit einer Vertrags- weg will ich deutlich betonen, dass bei Zeitarbeit und konstellation zu tun, die bereits seit mehr als 100 Jahren, Werkverträgen natürlich Missbrauch entgegengewirkt seit seiner Einführung, im BGB verankert ist. Dieses (B) werden muss. Das steht außer Frage. Das gilt aber nicht Instrument hat auch eine ausgeprägte Rechtsprechung (D) nur für Zeitarbeit und Werkverträge, sondern das gilt für erfahren, mit der in der jetzigen Zeit und nach der jetzi- alle Fallgestaltungen, für alle rechtlichen Konstellatio- gen Rechtslage Missbrauch bereits verhindert werden nen. Da sind wir uns hier auch einig, denke ich. kann und verhindert wird. Nur, die Fälle müssen auch zur Entscheidung gebracht werden. Wie gesagt, wenn es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Fälle gibt, wenn es Missbrauch gibt, dann muss das ab- neten der SPD) gestellt werden. Aber das können wir auch schon mit Nur, mit dem Antrag, den Sie hier vorlegen, beabsich- den heutigen Instrumenten und mit der heutigen rechtli- tigen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, chen Situation. jedoch nicht, Missbrauch entgegenzuwirken, sondern (Beifall bei der CDU/CSU) Sie beabsichtigen, fundamentale Änderungen an der wirtschaftlichen Struktur vorzunehmen, die wir heute Sie müssen, wenn Sie die Diskussion führen, deutlich haben. Dabei muss hervorgehoben werden, dass die machen, was Sie unter „Missbrauch“ genau verstehen. Zeitarbeit als ein wichtiges Flexibilisierungselement und (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das haben wir doch die Werkverträge auch als ein wichtiges Instrument für gesagt! Das steht doch im Antrag drin!) eine ökonomische Arbeitsteilung mittlerweile unver- zichtbar für die heutige Arbeitswelt geworden sind. – Das haben Sie an Beispielen festgemacht. Von Miss- brauch kann man in meinen Augen nur dann sprechen, (Beifall bei der CDU/CSU) wenn man einen Vertrag anders handhabt, als es der Wer dies in Abrede stellt, verschließt die Augen vor Bezeichnung entspricht. Das heißt, wenn da „Werkver- der Wirklichkeit und will sie offensichtlich nicht wahr- trag“ draufsteht, muss im Ergebnis auch „Werkvertrag“ nehmen. Genau dies belegt Ihr Antrag, meine Damen drin sein. Es darf kein Dienstvertrag sein. Da sind wir und Herren der Linken, vor allen Dingen dann, wenn Sie uns natürlich einig. Formulierungen wie „Klima der Angst“, „degradiert Be- (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Was ist denn schäftigte zu Arbeitnehmern zweiter Klasse“ oder „ein das für ein Juristengeschwätz?) höheres Arbeitslosigkeitsrisiko“ wählen. Aber es kann nicht sein, dass Sie sagen: Es ist schon (Klaus Ernst [DIE LINKE]: So ist es! Genau dann ein Missbrauch, wenn ein Werkvertragsbeschäftig- so ist es! Das ist die Wirklichkeit!) ter für längere Zeit in einem beauftragenden Unterneh- Der Eindruck, den Sie damit erwecken, ist reine Panik- men arbeitet. – Es sind viele Beispiele für Missbrauch mache, und das ist dieser Debatte hier nicht dienlich. Es gebracht worden. Ich will einmal Beispiele nennen, die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10075

Wilfried Oellers (A) zeigen, dass es notwendig ist, auf Werkverträge zurück- Einzelfällen mit einem starren Kriterienkatalog nicht ge- (C) zugreifen. recht werden können. Man wird der Realität nicht ge- recht. Vor allen Dingen würde dieser auch Fälle umfas- Es gibt eine Firma, die sich darauf spezialisiert hat, sen, bei denen wir bei weitem nicht von Missbrauch IT-Software zu installieren. Diese Firma hat mit weniger sprechen. Ich denke, das ist das Schlimmste, was uns als 20 Mitarbeitern angefangen. Sie hat mittlerweile hier an dieser Stelle passieren könnte. Allein die Diskus- mehrere Hundert Mitarbeiter. Ihr Konzept ist darauf aus- sion, die wir führen, sorgt bereits jetzt in der Wirtschafts- gelegt, dass die Software in den Firmen installiert wird. welt für große Verunsicherung. Die Beschäftigten müssen dazu natürlich mit den Be- schäftigten in diesen Firmen zusammenarbeiten, sind für (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE eine gewisse Zeit dort. GRÜNEN]: Theoretisch können wir das eben nicht wirklich beschreiben!) Wenn ich Ihre Kriterien aus dem Antrag zugrunde lege, dann komme ich zu dem Schluss: Ein solches Dem sollten wir als Gesetzgeber entgegenwirken. Wie Modell wäre schon gar nicht mehr möglich. Wenn Sie gesagt, die heutige Rechtslage ist nach meiner Auffas- das nicht beabsichtigen, dann müssen Sie das anders sung schon so, dass wir den Missbrauch verhindern kön- formulieren; dann können Sie es nicht so schreiben, wie nen und keine schärferen Regelungen brauchen. Man Sie es in Ihrem Antrag gemacht haben. Vor allen Dingen müsste es dann eher kontrollieren. dürfen Sie nicht sagen: Wir wollen auch legale Werk- verträge bekämpfen. – So steht es ausdrücklich in Ihrem Ich möchte noch einen letzten Satz sagen, dann Antrag. komme ich auch wirklich zum Ende. Kommen wir zum Bereich Forschung und Entwick- lung. Sie haben auch das Beispiel der Autoindustrie Vizepräsidentin Petra Pau: genannt. Da wird natürlich viel Forschung und Entwick- Gut. lung betrieben. Die Unternehmen kommen ohne die hochqualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Wilfried Oellers (CDU/CSU): mer aus spezialisierten Betrieben gar nicht zurecht; ohne Was die Forderung nach mehr Mitbestimmungs- und diese können sie die Forschung und Entwicklung gar Zustimmungsrechten für den Betriebsrat angeht, müssen nicht betreiben, können sie Projekte im Ergebnis nicht wir attestieren, dass es in der jetzigen rechtlichen Situa- zum Erfolg bringen. Deswegen muss diese Konstellation tion im Betriebsverfassungsgesetz ausreichende auch weiterhin möglich sein. Möglichkeiten gibt. Das sind Informations- und Unter- richtungsrechte. Wenn Sie jetzt weitere Mitbestim- (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (D) Zuruf des Abg. Herbert Behrens [DIE mungsrechte und Zustimmungsrechte fordern, dann LINKE]) müssen Sie mir schon mal erklären, was Sie unter unter- nehmerischer Freiheit verstehen. – Sie sollen einstellen, sagen Sie. Aber vielleicht wollen die Betroffenen das gar nicht. Sie wollen vielleicht spe- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE ziell in den Unternehmen eingesetzt werden, wo gerade GRÜNEN]: Betriebsräte wissen nicht einmal, die Musik spielt, wo gerade die neuen Dinge entwickelt wie viele Leute auf ihrem Betriebsgelände werden. Da wollen diese Personen sein. Sie müssen, rumlaufen!) denke ich, da ein bisschen differenzierter herangehen. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Genau! Das Vizepräsidentin Petra Pau: war der Blick aus der Praxis!) Das war ein sehr langer Satz. Bitte kommen Sie zum Punkt. Ein letzter Punkt, den ich noch erwähnen möchte, sind die sogenannten Solo-Selbstständigen. Wir müssen akzeptieren, dass es auch Leute gibt, die alleine selbst- Wilfried Oellers (CDU/CSU): ständig sein und vielleicht nur für einen Auftraggeber ar- Ich komme sofort zum Ende. – Ich will nur noch ein- beiten wollen oder die einen großen Auftraggeber und mal appellieren, dass wir die Flexibilisierungsinstru- nur ein paar kleine haben. mente, die wir haben, nicht leichtfertig aufgeben dürfen, insbesondere angesichts der aktuellen Wirtschaftswelt. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Genau!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wenn Sie denen diese Möglichkeit nehmen, dann neh- neten der SPD – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Es men Sie ihnen auch einen großen Teil ihrer unternehme- gibt nur eine Welt, nicht nur eine Wirtschafts- rischen Freiheit. Ich denke, diese Menschen bringen uns, welt! In der ist alles drin!) vor allen Dingen was die Spezialisierung, Entwicklung und Forschung hier in Deutschland betrifft, weiter. Des- wegen brauchen wir diese Modelle. Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Hans-Joachim Wenn es darum geht, hier einen konkreten Kriterien- Schabedoth das Wort. katalog festzulegen, muss ich Ihnen als Jurist sagen: Das ist äußerst schwierig. Wir haben es hier mit einem Sach- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe verhalt zu tun, der viele Einzelfälle beinhaltet. Man wird Schummer [CDU/CSU]) 10076 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): Doch ich will gerne die Gelegenheit, die Sie geschaf- (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! fen haben, nutzen, um ein paar Missverständnisse auszu- Eine Erfahrung wiederholt sich heute zum x-ten Mal: räumen und vielleicht schon ein bisschen aus sozialde- Während die Koalitionsfraktionen noch mitten im Ar- mokratischer Sicht zu resümieren. Eine Klarstellung beitsprozess stecken, ruft die Linkspartei: Wir sind haben wir alle, glaube ich, mittlerweile herausgearbeitet, schon fertig und legen euch unseren Antrag vor. nämlich die, dass wir Leiharbeit und Werkverträge nicht verbieten wollen, auch nicht „in the long term“. Zielset- (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) zung ist – auch das haben viele Redner gesagt –, den Lehnen wir den Antrag ab, Kollege Ernst, dann wird ein- Missbrauch dieser Arbeitsform als Lohn- und Sozial- mal mehr über die zögerliche SPD und ihren sperrigen dumpinginstrument zu unterbinden. Koalitionspartner lamentiert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE der CDU/CSU) GRÜNEN]: Das hat die SPD in der letzten Le- Der Missbrauch ergibt sich – darauf will ich beson- gislaturperiode auch gemacht!) ders hinweisen – in der Grauzone mangelnder Abgren- Was soll das? Mich erinnert das ein wenig an meine zung zwischen Werkvertrag, Scheinselbstständigkeit und Schulzeit: Man hat zwei Stunden Zeit für die Klassenar- Leiharbeit. Da muss was passieren. beit. Schon nach einer Stunde springt einer auf, der erste (Beifall bei der SPD) Übereifrige, und signalisiert: Ätsch, ich bin schon fertig, die anderen aber noch nicht. Der Missbrauch wird dadurch erleichtert, dass ein Sta- tuswechsel heute nahezu problemlos möglich ist. Das (Beifall bei Abgeordneten der SPD – wollen wir korrigieren. Es gibt immer wieder gute Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Der ist am Gründe, statt auf Festanstellung temporär auf Leiharbeit Ende durchgefallen! – Dr. Petra Sitte [DIE zu setzen. D’accord! Und es gibt auch betriebliche LINKE]: Ja, aber dafür sind wir doch hier!) Gründe, Arbeiten auf Werkvertragsbasis ausführen zu Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen: Die lassen. Allerdings gibt es keinen einzigen akzeptablen Schnellsten waren am Ende nicht immer unter den Bes- Grund, Leiharbeit und Werkverträge zum Zwecke des seren. Umgehens von Tarifbindungen zu nutzen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ge- der CDU/CSU und der LINKEN) nau so ist es!) (B) Für die meisten Arbeitgeber mag das – das will ich ein- (D) Auch im Parlamentsbetrieb geht es nach dem Prinzip räumen – eine Selbstverständlichkeit sein. Kollege „Sorgfalt vor Eile“. Stegemann, es sind aber leider nicht nur einige schwarze Schafe. Mit denen könnten wir fertigwerden. Hier trabt (Beifall bei der SPD – Klaus Ernst [DIE eine ganze Herde schwarzer Schafe vorbei. Wir werden LINKE]: Zum Inhalt, Achim!) mit ihnen reden. Wir wollen das einhegen. Die Koalition verfolgt hier einen Sorgfaltsfahrplan. Zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Klaus erst wird mit den Sozialpartnern geredet. Erfahrungen, Ernst [DIE LINKE]: Vielleicht meint er die Erwartungen – auch Befürchtungen – werden systemati- CDU/CSU! – Heiterkeit) siert und abgeglichen. Es gibt also einen Regelungsbedarf. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben wir schon hinter uns!) (Klaus Ernst [DIE LINKE], an die CDU/CSU gewandt: Hat er euch gemeint? – Heiterkeit) Erst dann kann gehandelt werden, – Habe ich einen Scherz nicht mitgekriegt? (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Warst doch selber Sozialpartner!) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Achim, hast du die CDU/CSU gemeint?) und zwar in der üblichen parlamentarischen Schrittfolge, die ich Ihnen hier gar nicht erläutern muss. Unser Anliegen hat eine doppelte Stoßrichtung. Zum einen geht es darum, das Etablieren eines Apartheidsys- (Beifall bei der SPD) tems im Arbeitsleben zu verhindern. Dabei legen wir Wert darauf, dass die im Koalitionsver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) trag getroffenen Absprachen zuerst mit unserem Koali- tionspartner konkretisiert werden. Haben Sie bitte Ver- Ein solches System bestünde dann, wenn Festangestellte ständnis dafür. weiterhin tariflich angemessen bezahlt würden, während Leiharbeitnehmer und Werkvertragsbeschäftigte sich mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einer zweiten, geringeren Lohnlinie abfinden müssten. der CDU/CSU – Karl Schiewerling [CDU/ CSU]: Das ist eine kluge Bemerkung! – Klaus (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Ernst [DIE LINKE]: Das haben wir heute ge- GRÜNEN]: Aber dann geht auch Equal Pay merkt!) nach neun Monaten nicht!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10077

Dr. Hans-Joachim Schabedoth (A) Zwar gibt es hier durch den Mindestlohn eine Haltelinie, Wer könnte bei der Klärung dieser komplizierten (C) ja. Aber trotzdem würde das Prinzip „Gleicher Lohn für Frage besser und kompetenter urteilen als die Betriebs- gleiche Arbeit“ erheblich verletzt. Auch Leiharbeiter ha- räte und die Personalräte? Deshalb sollten Unternehmen ben Anspruch auf sichere, tariflich geregelte Arbeitsbe- und Personalmanagement die Mitsprache dieser betrieb- dingungen bei ihrem Leiharbeitgeber in und zwischen lichen Intimkenner und Experten nicht fürchten, sondern den Phasen, in denen sie verliehen werden; wünschen und nutzen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Die SPD wird jedenfalls im Gesetzgebungsvorgang GRÜNEN]: Ab dem ersten Tag!) darauf achten, – auch das müssen wir beachten. Vizepräsidentin Petra Pau: In anderer Hinsicht geht es um faire Konkurrenzbe- Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit. dingungen in der Wirtschaft. Alle Unternehmen einer Branche müssen darauf vertrauen dürfen, dass es bei den Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): Arbeitskosten eine vergleichbare Ausgangslage gibt; – dass bei Leiharbeit und Werkverträgen Mitbestim- „level playing field“ würde wohl der Holländer sagen. mungsregeln eingeführt bzw. effektiv genutzt werden Wer durch Tricksereien über Leiharbeit und Werkver- können. träge seine Arbeitskosten drückt, betrügt alle Mitbewer- ber, die das nicht wollen oder tarifvertraglich gebunden Wir behalten im Auge – damit komme ich zum sind. Schluss –, dass eine gesetzliche Neuregelung Anreize für die Arbeitgeber bietet, bestehende Tarifverträge bei- Der Gesetzgeber ist deshalb gefordert, Leiharbeit zubehalten bzw. auf besserer rechtlicher Basis neue Ta- wieder auf ein Instrument der Flexibilität und eines vo- rifverträge abzuschließen. Ich setze dabei – rübergehenden Ausgleichs von Auftragsspitzen zurück- zuführen und der Prekarisierung der Arbeitswelt entge- genzuwirken. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Schabedoth, bitte! (Beifall bei der SPD) Ich sage es noch einmal: Wir wollen faire Arbeits- und Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): Konkurrenzbedingungen. – auf die Bereitschaft unseres Koalitionspartners, an einer problemgerechten Lösung mitzuarbeiten. Und alle Verhindern wollen wir, dass der Monteur der rechten Oppositionsparteien bleiben zur konstruktiven Beglei- (B) Autotür weniger verdient als der Zuständige für den Ein- tung unserer Arbeit ausdrücklich eingeladen. (D) bau der linken Autotür, nur weil er Leiharbeitnehmer ist. Equal Pay heißt das. Uns geht es auch darum, Equal (Beifall bei der SPD) Treatment nicht aus dem Blick zu verlieren. (Beifall bei der SPD – Beate Müller-Gemmeke Vizepräsidentin Petra Pau: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau, ab Ich weiß ja, dass es ein weitverbreiteter Irrtum ist, dem ersten Tag!) dass das Minus vor der Zeitangabe die noch verblei- bende Redezeit anzeigt. Aber ich bitte wirklich, auch im Das ist nicht zuletzt – das ist ein sozialdemokratisches Interesse aller anderen Kolleginnen und Kollegen, sich Grundanliegen – ein Gebot des Respekts vor der Würde an die Verabredungen zu halten. der Arbeit. Betriebspolitik und Tarifpolitik haben hin- sichtlich der notwendigen Regulierung die Grenze ihrer Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/ tarifautonomen Gestaltungsmöglichkeiten erreicht. Des- CSU-Fraktion. halb muss die Politik jetzt handeln, aber darf auch nicht (Beifall bei der CDU/CSU) durch jeden Reifen springen, den uns die Linkspartei hinhält. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD – Klaus Ernst [DIE Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! LINKE]: Wir können es auch aussitzen und Verehrte Damen und Herren! Zum Schluss dieser aus- abwarten!) führlichen Debatte stellt sich die Frage: Was bleibt denn von dieser Debatte? Ich will noch auf einen letzten Aspekt eingehen. Aus der Wirtschaft wird das Bedenken signalisiert, eine ge- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Schwarze Erde!) setzliche Regulierung werde das unternehmerische Dis- Da will ich als Erstes feststellen: Leih- oder Zeitar- positionsrecht negativ tangieren. Ja, da ist was dran. Das beit, Werkverträge – das ist anständige Arbeit. sollte man ernst nehmen. Aber deshalb muss auch sorg- fältig geklärt werden, welche Grenzziehungen sachge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – recht und deshalb unvermeidlich sind. Konkret: Es muss Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) zweifelsfrei unterscheidbar sein, was legitime Leih- Und selbstverständlich verdienen die Arbeitnehmerin- arbeits- und Werkvertragsaufgabe ist und was als trojani- nen und Arbeitnehmer bzw. die Selbstständigen, sches Pferd des Lohndumpings und der Tarifflucht da- hertrabt. (Zuruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) 10078 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Peter Weiß (Emmendingen) (A) die Arbeit im Rahmen eines Werkvertrags erledigen oder träge mit einer stufenweisen Heranführung an das Equal- (C) die als Leih- oder Zeitarbeiter arbeiten, unseren hohen Pay-Prinzip abgeschlossen werden, Respekt und unsere Anerkennung. Das, was wir aber al- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: In Tarif- lesamt vermeiden wollen, ist, dass Werkverträge, Zeit- verträgen!) und Leiharbeit missbräuchlich eingesetzt werden. Da- rum geht es. dass also bereits nach wenigen Wochen Zuschläge für diejenigen gezahlt werden, die in einem Leiharbeitsver- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – hältnis stehen. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was ist der Unterschied zwischen Leiharbeit und Zeit- Besonders ist dafür der Tarifvertrag für die Metall- arbeit?) und Elektroindustrie bekannt, nach dem in Stufe 1 be- reits nach sechs Wochen ein Zuschlag von 15 Prozent, Deswegen haben wir uns in den Koalitionsverhand- nach drei Monaten ein Branchenzuschlag von 20 Pro- lungen zwischen CDU/CSU und SPD zu diesen beiden zent, nach einer Einsatzzeit von fünf Monaten ein Bran- Themenbereichen auch sehr viel Zeit genommen und chenzuschlag von 30 Prozent, sind uns in Folgendem einig: Wir wollen, dass Zeit- und Leiharbeit, die den Betrieben vor allem ermöglichen (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE soll, Auftragsspitzen, Auftragsschwankungen auszuglei- GRÜNEN]: Da sieht man mal, wie wenig die chen, besonderen Anforderungen, die sich plötzlich stel- am Anfang verdienen!) len, gerecht zu werden, auch in Zukunft als ein Flexibili- in Stufe 4 dann 45 Prozent und nach neun Monaten ein sierungsinstrument erhalten bleibt. Wir wollen genauso, Branchenzuschlag von 50 Prozent gezahlt wird. Ich dass der Werkvertrag – es ist erwähnt worden –, der seit finde, genau das ist das Richtige: eine stufenweise Anhe- über 100 Jahren im BGB steht und vielfach sinnvoll ein- bung der Entlohnung in der Leih- und Zeitarbeit. gesetzt wird, erhalten bleibt. Da haben wir bei der Lin- ken Zweifel, ob sie dies nicht alles abschaffen will. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hans-Joachim Schabedoth [SPD] – Klaus (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Ernst [DIE LINKE]: Gleicher Lohn ist das GRÜNEN]: Quatsch!) Richtige! Das ist immer noch nicht gleicher Wir wollen aber vor allem eines klarstellen: Zeit- und Lohn! – Beate Müller-Gemmeke [BÜND- Leiharbeit und genauso Werkverträge sind kein Instru- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nach drei Monaten ment für Lohndumping. Vielmehr haben die Beschäftig- sind die doch wieder arbeitslos!) ten Anspruch auf eine anständige und angemessene Be- Ich wiederhole es: Zum Werkvertrag, einem bewähr- (B) zahlung. ten Instrument, gibt es eine ausdifferenzierte Rechtspre- (D) chung mit klaren Kriterien, an die man sich zu halten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- hat, um deutlich zu unterscheiden: Was ist ein Werkver- wie der SPD – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Auf trag und was nicht? Wir wollen, dass diese Kriterien ein- die gleiche wie die anderen! Das ist der gehalten und überprüft werden. Ich glaube, wenn wir die Punkt!) Informationsrechte der Betriebsräte stärken, erreichen Das haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode wir Folgendes: Mehr Transparenz verhindert Miss- deutlich gemacht, indem wir für Zeit- und Leiharbeit ei- brauch. Das sollte in Zukunft unser Motto bei der Ge- nen allgemeinverbindlichen eigenen Mindestlohn einge- staltung der Werkverträge sein. führt haben, der im Westen bereits über 8,50 Euro liegt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Katja Mast [SPD]: Auf Druck der SPD!) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich will noch Also: In der Zeit- und Leiharbeit ist der Mindestlohn hö- einmal an das, was Karl Schiewerling eingangs gesagt her als der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. Wir ha- hat, erinnern. Richtig ist: Wir müssen Missbrauch ver- ben deutlich gemacht: Zeit- und Leiharbeit ist kein In- hindern. Aber zu dem, was hier von den Oppositions- strument für Lohndumping; vielmehr gibt es da eine fraktionen suggeriert wird, dass wir in einer Situation klare Grenze. wären, in der die Zahl an Zeit- und Leiharbeitsverhält- nissen dramatisch zunehmen würde, kann ich nur sagen: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das Gegenteil ist der Fall. Zurzeit beträgt der Anteil der der SPD – Beate Müller-Gemmeke [BÜND- sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in einem NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gleicher Lohn für Leih- und Zeitarbeitsverhältnis stehen, 2,6 Prozent. gleiche Arbeit!) Diese Zahl lag schon einmal bei 2,9 Prozent. Das zeigt: Es gibt hier eher eine Stagnation oder Abnahme als eine In der Koalitionsvereinbarung haben wir miteinander Zunahme. Das zeigt: Die Dramatik, die die Opposition festgelegt, dass wir eine Höchstverleihdauer definieren bei diesem Thema heraufbeschwört, ist von der Sachlage wollen und dass wir auch die Frage, ab wann jemand, her überhaupt nicht begründet. der in einem Leiharbeitsverhältnis steht, die gleiche Be- zahlung wie die Festangestellten – Stichwort „Equal (Beifall bei der CDU/CSU – Jutta Krellmann Pay“ – bekommen soll, beantworten. Aber dabei geht es [DIE LINKE]: Reden Sie doch einmal mit die- nicht darum, dass diese Regelung erst nach neun Mona- sen Leuten! – Beate Müller-Gemmeke ten greifen soll. Vielmehr haben wir schon in der letzten [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Auch Legislaturperiode politisch unterstützt, dass Tarifver- 900 000 Leiharbeitskräfte haben Rechte!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10079

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Diese Debatte, nehme ich an, ist heute auch deswegen mehr Arbeit, für mehr Beschäftigung und für gute Be- (C) aufgesetzt worden, um das eigentliche Ziel, das wir als zahlung fortzusetzen. Koalition verfolgen, ein Stück weit zu vernebeln. Ja, wir (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Teilzeit, wollen Probleme, die es auf dem Arbeitsmarkt gibt, Minijobs!) nicht negieren. Aber das eigentliche Ziel muss doch das sein, was sich die allergrößte Mehrheit der Arbeitneh- Das ist unser Ziel. merinnen und Arbeitnehmer in der Tat wünscht, nämlich in ein normales sozialversicherungspflichtiges Arbeits- Vielen Dank. verhältnis zu kommen. Das ist das Ziel. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin : Deswegen muss die Politik die Frage beantworten: Wie Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. setzen wir die Rahmenbedingungen dafür, dass dieses Ziel für möglichst viele Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf nehmer erreichbar ist? Wir sollten einfach zur Kenntnis Drucksache 18/4839 an die in der Tagesordnung aufge- nehmen, dass das vergangene Jahr, also 2014, das Jahr führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind mit der geringsten Arbeitslosigkeit seit 25 Jahren war damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- und mit circa 42,5 Millionen beschäftigten Menschen schlossen. das Jahr mit dem höchsten Beschäftigungsstand in der Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d auf: deutschen Geschichte darstellt, und zwar auch dem höchsten Stand an sozialversicherungspflichtiger Be- a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ schäftigung. Das ist das Entscheidende. CSU und SPD (Beifall bei der CDU/CSU – Jutta Krellmann Prinzipien des deutschen Bildungswesens [DIE LINKE]: Aber nicht Vollzeit!) stärken – Gleichwertigkeit und Durchlässig- keit der beruflichen und der akademischen Für mich ist der entscheidende Punkt: Die Zahl der Bildung durchsetzen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist dabei pro- portional stärker angestiegen als die Zahl der Beschäfti- Drucksache 18/4928 gungsverhältnisse insgesamt. Die Botschaft ist also: Die Überweisungsvorschlag: positive wirtschaftliche Entwicklung führt im Gegensatz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) zu dem, was wir in früheren Jahren und Jahrzehnten er- Ausschuss für Wirtschaft und Energie (B) lebt haben, mittlerweile dazu, dass die Zahl der sozial- Ausschuss für Arbeit und Soziales (D) versicherungspflichtig Beschäftigten, die anständig ver- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dienen sowie Steuern und Sozialabgaben zahlen, stärker Ausschuss Digitale Agenda als der Beschäftigungszuwachs insgesamt steigt. Das ist Haushaltsausschuss die eigentliche positive Botschaft. Die Zahl der norma- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- len Arbeitsverhältnisse in Deutschland nimmt wieder zu. regierung Das ist auch die Botschaft für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land. Berufsbildungsbericht 2015 Drucksache 18/4680 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Verehrte Kolleginnen und Kollegen, weil wir heute Technikfolgenabschätzung (f) Sportausschuss Morgen mit der Regierungserklärung der Frau Bundes- Ausschuss für Wirtschaft und Energie kanzlerin begonnen haben und einen Blick auf die inter- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft nationale Entwicklung geworfen haben, will ich zum Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Schluss anmerken, dass die Internationale Arbeitsorgani- Ausschuss für Gesundheit sation vorgestern einen dramatischen Bericht vorgelegt Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union hat. Sie hat festgestellt, dass weltweit immer weniger Haushaltsausschuss Menschen einen Job haben und dass von den Menschen, die einen Job haben, weltweit nur noch 42 Prozent einen c) Beratung des Antrags der Abgeordneten unbefristeten Arbeitsvertrag haben. Das ist eine dramati- Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Sabine sche Veränderung der Arbeitswelt weltweit. Dagegen Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter heben wir uns in hervorragender Weise ab, weil wir in und der Fraktion DIE LINKE Deutschland genau den gegenteiligen Trend haben, und Ausbildungsqualität sichern – Gute Ausbil- zwar zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- dung für alle schaffen mer und Drucksache 18/4931 (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das stimmt Überweisungsvorschlag: doch gar nicht!) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) zugunsten guter Arbeit. Ich finde, es ist der eigentliche Ausschuss für Arbeit und Soziales Arbeitsauftrag der Koalition, diesen guten Trend für Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 10080 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Wenn man das Geflecht sieht, dann ist ganz klar: Es (C) Walter-Rosenheimer, Brigitte Pothmer, Kai sind ganz viele Akteure in dem Geschäft. Dieser Bereich Gehring, weiterer Abgeordneter und der Frak- ist außerordentlich komplex. Man kann nicht an einer tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stellschraube drehen und erwarten, dass sich dann alles grundlegend ändert. Deswegen bin ich den Koalitions- Mit einer echten Ausbildungsgarantie das fraktionen sehr dankbar für diesen sehr umfassenden Recht auf Ausbildung umsetzen Antrag, der alle Aspekte einbezieht und viele Anregun- Drucksache 18/4938 gen enthält, über die wir diskutieren und die wir umset- Überweisungsvorschlag: zen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen hat eigent- Ausschuss für Arbeit und Soziales lich dieselbe Zielrichtung, es gibt auch in Bezug auf die Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Instrumente viel Übereinstimmung. Aber in der Ein- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für schätzung dessen, was die Regierung ordentlich gemacht die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- hat, was die Regierung schon erreicht hat, gibt es natürli- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Ich darf Sie che wesentliche Unterschiede. bitten, Ihre Plätze einzunehmen. (Zuruf von der CDU/CSU) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes- – Ja, es ist normal für eine Opposition. regierung hat Frau Bundesministerin Professor Dr. Johanna Wanka. Es gibt viele Chancen, die wir ergreifen können – las- sen Sie mich zwei, drei nennen, zum Beispiel den Über- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gangsbereich. In diesen Übergangsbereich mussten Bund und Länder in den 90er-Jahren richtig viel Geld Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung stecken, um dafür zu sorgen, dass die jungen Menschen, und Forschung: die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, wenigs- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und tens irgendetwas haben. Früher sind rund 400 000 junge Herren! Das duale System ist die wesentliche Säule für Menschen pro Jahr in den Übergangsbereich eingetreten, die Fachkräftesicherung der Zukunft in Deutschland heute sind es rund 250 000. Das sind immer noch sehr auch in den nächsten Jahrzehnten. Das zeigt und demon- viele. Aber es ist ein absoluter Fehlschluss – auch das striert der uns vorliegende Berufsbildungsbericht 2015 habe ich in den Anträgen der Opposition gelesen –, zu ganz deutlich. Er zeigt aber auch, dass die berufliche glauben, das seien 250 000 Leute, die auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind. Mindestens ein Drit- (B) Ausbildung in Deutschland vor sehr großen Herausfor- (D) derungen steht. tel der jungen Menschen in diesem Übergangsbereich nutzt ihn, um einen schulischen Abschluss nachzuholen Was sind die Hauptbotschaften, die man diesem Be- oder um einen höheren schulischen Abschluss zu errei- richt entnehmen kann? Aus Sicht der Jugendlichen hat chen, um ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz zu sich die Situation weiter verbessert. Jetzt haben wir die Si- erhöhen. Dann gibt es in diesem Bereich die Jugendli- tuation, dass für 100 Jugendliche, die einen Ausbildungs- chen, für die er gedacht ist und für die er auch in Zukunft platz suchen, 103 Ausbildungsplätze vorhanden sind. immer notwendig sein wird. Das sind diejenigen, die die Wenn ich mir die Zahlen der BA von März und April an- Schule verlassen und nicht ausbildungsfähig sind. Sie er- schaue, dann setzt sich dieser Trend fort. Es ist ganz an- fahren in den Maßnahmen des Übergangsbereichs be- ders als in den 90er-Jahren. Wir haben also die Situation, sondere Unterstützung und Weiterbildung, was vielleicht dass mehr Plätze unbesetzt bleiben, es sind 37 000. Das noch besser und effektiver ausgestaltet werden kann. ist Höchststand. Dagegen gibt es nur 21 000 Bewerber, Dann gibt es die Gruppe junger Menschen, die in dem die gar nichts haben und einen Ausbildungsplatz suchen. System sozusagen versorgt sind, aber in Wirklichkeit et- Die Frage ist: Wie bekommt man diese Jugendlichen auf was anderes wollen, nämlich einen Ausbildungsplatz. die für sie geeigneten Ausbildungsplätze? Dieses Pas- Das ist die Klientel, auf die die Wirtschaft sofort zugrei- sungsproblem ist nicht trivial zu lösen. Es ist außer- fen kann. Sie kann nicht sagen: Es gibt zu wenige, die ordentlich schwierig. Es ist sehr komplex. eine Ausbildung machen wollen. Wenn wir uns die Ausbildungsbetriebe anschauen, Zu den Potenzialen zählen die Jugendlichen mit dann hat sich die Zahl derer, die Ausbildung anbieten, Migrationshintergrund. weiter verringert. Das ist außerordentlich bedenklich. Die großen und mittleren Betriebe haben ihre Ausbil- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dungsbetriebsquote erhöht, aber bei den kleinen und der CDU/CSU) kleinsten Betrieben geht diese Zahl stark zurück. Wir Die Ausbildungsanfängerquote bei den Jugendlichen mit müssen die kleinen Betriebe motivieren, Ausbildungs- Migrationshintergrund liegt bei 32 Prozent, bei den deut- plätze anzubieten, gerade in den neuen Bundesländern, schen Jugendlichen bei 57 Prozent; es gibt also eine Rie- wo sie jahrelang niemanden gefunden haben. Im Juni, senlücke. Fest steht: Die Jugendlichen mit Migrations- Juli starten wir eine Ausschreibung, in der wir ein spe- hintergrund haben sich in den letzten Jahren schulisch zielles Programm anbieten, um die Ausbildungsbereit- verbessert. Nun müssen wir vor allem um sie werben. schaft der kleinen und mittleren Betriebe zu erhöhen. Wir müssen die Jugendlichen, ihre Eltern, aber auch die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Betriebe, die von Menschen mit Migrationshintergrund Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10081

Bundesministerin Dr. Johanna Wanka (A) geleitet werden, informieren. Deshalb haben wir in die- cher bis zum 30. September – also konkret, nicht nur ir- (C) sem Jahr die Zahl der KAUSA-Servicestellen, die genau gendwie – eines Jahres keinen Ausbildungsplatz hat, diese Funktion haben, mehr als verdoppelt. Aber es sind dann bekommt er bei der Nachvermittlung der BA drei noch weitere Anstrengungen notwendig. Angebote, und wenn sie bewirken, dass er sich räumlich verändern muss oder auch beruflich, dann wird das ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sprechend finanziell unterstützt, auch zum Teil von den Viele Jugendliche – die Zahlen finden Sie im vorlie- Arbeitsagenturen in den Ländern. genden Bericht – zwischen 20 und 29 Jahren haben kei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nen beruflichen Abschluss. Sie haben eine zweite Chance verdient. Das kostet richtig viel Geld, aber hier muss et- Auch das Thema Ausbildungsqualität ist in der Alli- was getan werden. Aber viel entscheidender ist es, dass anz für Aus- und Weiterbildung ein ganz zentrales wir verhindern, dass wir es auch in Zukunft mit solchen Thema. Wir sollten wissen: Die Ausbildungsqualität Größenordnungen zu tun haben. Das heißt, wir müssen muss verbessert werden, an vielen Stellen. Da sind viele präventiv tätig sein und individuell fördern. Prävention Maßnahmen, viele Dinge vorgesehen, aber keine statt Reparatur, das muss unsere Zielstellung sein. Schreckgespenster. Selbst der DGB – der DGB! – sagt, dass der Großteil der Auszubildenden zufrieden ist mit Bildungsketten – wir haben darüber gesprochen – der Ausbildungsqualität. sind eine sehr gute Möglichkeit, um Jugendlichen Vor- stellungen über geeignete Berufe zu vermitteln, um sie Ein Punkt, den ich besonders wichtig finde und noch zu ermuntern, eine Ausbildung zu beginnen. Wir sind in kurz benenne, meine Damen und Herren, ist die Durch- Deutschland immer stark, wenn es darum geht, Projekte lässigkeit. Wissen Sie, in der Kultusministerkonferenz auf den Weg zu bringen. Das Feedback in allen Projek- haben wir über Jahre diskutiert: Das Abitur in Deutsch- ten, die ich besucht habe, war: Es gibt eine große Akzep- land ist die Hochschulzugangsberechtigung, die gene- tanz dieser Bildungsketten vonseiten der Lehrer, aber relle Zugangsberechtigung, und alles andere geht nicht, auch vonseiten der Auszubildenden und der Ausbilder. vermatscht das Abitur. Man konnte es nachholen über Die Bildungsketten sind wirklich ein gutes Instrument. den zweiten Bildungsweg. Mittlerweile ist es eine Tatsa- Aber wichtig ist, dass man etwas, das funktioniert, in ei- che – die wichtig ist –, dass man mit beruflicher Qualifi- ner anderen Größenordnung und flächendeckend macht. kation studieren kann. Die Allererste, die das im Gesetz Die Arbeitsministerin und ich haben uns zusammen- vorgesehen hat, war ich 2008 in Brandenburg. 2009 gab getan. Ich kann Ihnen sagen, dass wir 500 000 jungen es den KMK-Beschluss. Jetzt ist es bundesweit in allen Menschen – das ist eine halbe Million – eine Potenzial- Gesetzen verankert. Aber es funktioniert noch nicht. Die analyse anbieten können, dass wir in den nächsten Jah- Zahlen sind minimal. Wir müssen mehr machen, wir (B) (D) ren für über 100 000 junge Menschen eine Berufsein- müssen die Hürden, die in den Gesetzen sind, noch ein- stiegsbegleitung anbieten. Nun könnte man sagen: Das mal diskutieren. könnte noch mehr sein. Aber in dieser Dimension gab es (Beifall bei Abgeordneten bei der CDU/CSU das bisher noch nie. Bei der Berufseinstiegsbegleitung und der SPD) sind praktisch alle Schulen, die infrage kommen, einge- bunden. Die rechtliche Basis ist gegeben; aber dazu gehört sehr viel mehr. Wenn wir wollen, dass akademische und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) duale Ausbildung nicht gegeneinander ausgespielt wer- Nun ist es so, dass sich viele um dieses Thema bemü- den, sondern dass Durchlässigkeit in beide Richtungen hen. Es gibt eine Menge von Maßnahmen, die nebenher vorhanden ist, dann müssen wir an dieser Stelle intensiv und unkoordiniert verlaufen. Frau Nahles und ich haben arbeiten. Das ist ein Punkt, den ich in unterschiedlichen die politische Initiative ergriffen. Wir regen an, dass in Anträgen wiedergefunden habe. den einzelnen Bundesländern Gesamtkonzepte auf den Meine Damen und Herren, der Berufsbildungsbericht Weg gebracht werden, damit keiner verloren geht. Wir ist Analyse, aber auch Ermunterung und Auftrag, und müssen natürlich auf die Bundesländer zugehen; denn den nehmen wir an. die Bedingungen, unter denen dies in Baden-Württem- berg umgesetzt wird, sind andere als in Hamburg. Ich Danke. hoffe auf große Resonanz der Landesminister. Einige ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ben Ihre Bereitschaft schon signalisiert. Verwundert hat mich in den Oppositionsanträgen – da Vizepräsidentin Ulla Schmidt: war ich wirklich verblüfft –, dass so viel über die Ausbil- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Rosemarie dungsplatzgarantie geschimpft und andere Vorschläge Hein, Fraktion Die Linke. gemacht wurden. Haben Sie nicht gelesen, was wir ge- macht haben? (Beifall bei der LINKEN) (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): NEN]: Doch!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Allianz für Aus- und Weiterbildung ist das ein Die Bundesregierung, die Bundesministerin spricht von ganz zentraler Punkt. Wir haben dort zum Beispiel die leichten Verbesserungen auf dem Ausbildungsmarkt für Selbstverpflichtung der Wirtschaft. Wenn ein Jugendli- Jugendliche, obwohl sie wieder einen Rückgang bei der 10082 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Rosemarie Hein (A) Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge konsta- sind etwa drei Viertel der dort befindlichen jungen (C) tieren muss. Es scheint heute schon ein Erfolg zu sein, Menschen –, in eine vollwertige Berufsausbildung zu dass sich der Rückgang der Zahl der abgeschlossenen bringen, wäre ein Großteil des Problems gelöst. Dazu Ausbildungsverträge gegenüber dem Vorjahr verringert brauchte man allerdings etwa 190 000 zusätzliche Aus- hat. Ich finde, das ist eine komische Logik. bildungsplätze. (Beifall bei der LINKEN) Die zum Jahresende 2014 geschlossene Allianz für Aus- und Weiterbildung hat aber gerade einmal be- Gleichzeitig beschwört sie seit Monaten, die Attraktivi- schlossen, 20 000 Stellen mehr an die Bundesagentur für tät der dualen beruflichen Bildung zu erhöhen und ihre Arbeit zu melden. Man beachte die sprachliche Feinheit: Gleichwertigkeit zur akademischen Bildung herzustel- zu melden, nicht zu schaffen! Frau Ministerin, Selbstver- len, und bastelt Programme für Studienabbrecher, um sie pflichtungen der Wirtschaft hatten wir in den letzten Jah- für die duale Ausbildung zu begeistern. ren wahrlich genug. Sie haben nichts geholfen. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Was ist daran (Beifall bei der LINKEN) schlecht?) Darum ist das ewige Gejammer um die angeblich sin- – Das ist nicht schlecht; das stimmt. – Die Zunahme der kende Attraktivität der beruflichen Bildung im Vergleich Zahl der unbesetzten Lehrstellen erklärt sie wieder mit zur akademischen völlig überflüssig. Der Ball liegt bei sogenannten Passungsproblemen. den Unternehmen. Die müssen liefern. Wir finden, dass die Probleme anders liegen. Die Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt tatsächlich duale Berufsausbildung hat kein Attraktivitätsproblem, etwa 37 000 unbesetzte Ausbildungsstellen, und zwar sondern es mangelt an guten Ausbildungsplätzen, und vornehmlich in den Wirtschaftsbereichen und kleinen sie hat zumindest in einigen Branchen und Unternehmen Unternehmen, die eine sehr schwierige Ausbildungslage ein Qualitätsproblem. Darum haben wir heute einen An- und Probleme mit der Ausbildungsqualität haben. Dort trag zur Verbesserung der Ausbildungsqualität vorgelegt. gibt es die höchste Zahl an Vertragsauflösungen. Das (Beifall bei der LINKEN) weist darauf hin, dass wir uns mehr um die Ausbildungs- qualität kümmern müssen. Doch zu einigen Zahlen: Die Bundesregierung, die Ministerin eben auch, spricht immer nur von den etwa Das kann man auch sehr gut im Ausbildungsreport 21 000 unversorgten Bewerberinnen und Bewerbern, der DGB-Jugend nachlesen, aber leider nicht so ausführ- also jenen Jugendlichen, die überhaupt kein Angebot er- lich im Berufsbildungsbericht. Ich will nur ein paar halten haben. Ich finde, das ist Schönfärberei. Ich muss Fakten daraus nennen: 34 Prozent der Jugendlichen ha- (B) Ihnen eine andere Zahlenreihe anbieten: Tatsächlich ha- ben keinen betrieblichen Ausbildungsplan, 11 Prozent (D) ben sich mehr als 600 000 junge Menschen über die sehen ihre Ausbilder selten oder nie, 36 Prozent müssen Bundesagentur für Arbeit um einen Ausbildungsplatz regelmäßig Überstunden machen, 13 Prozent der unter beworben. Es wurden aber nur 560 000 Stellen angebo- 18-Jährigen müssen mehr als 40 Stunden in der Woche ten. Etwa 522 000 Ausbildungsverträge wurden tatsäch- arbeiten. Ich höre damit auf. Es gibt aber noch eine lich abgeschlossen, einige davon sogar außerbetrieblich. ganze Latte mehr solcher Befunde. Insgesamt haben sich also nicht nur 21 000, sondern Zu den Branchen, in denen das am häufigsten beklagt 81 000 junge Menschen erfolglos um einen Ausbil- wird, gehören genau jene, in denen die meisten offenen dungsplatz beworben; das ist schon eine andere Größen- Stellen sind und die die höchste Zahl der Ausbildungsab- ordnung. Ihr Wunsch, eine Berufsausbildung zu machen, brüche haben. ist immer noch da, auch wenn sie sich zurzeit in einer anderen Bildungsmaßnahme befinden. Es ist eine Kata- (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Was strophe, dass insgesamt über eine Viertelmillion junge für eine Überraschung!) Menschen sich in schulischen Ausbildungsangeboten Die Sicherung der Ausbildungsqualität ist eine der wich- befinden – dort geparkt werden –, die zu keinem Berufs- tigsten Aufgaben für die Erhöhung der Attraktivität be- abschluss führen. Das darf man nicht schönreden! ruflicher Bildung geworden. Das müssen wir über die (Beifall bei der LINKEN) quantitativen Dinge hinaus endlich auch annehmen. (Beifall bei der LINKEN) Ich finde, diese Warteschleifenpolitik des sogenann- ten Übergangssystems muss ein Ende haben, auch wenn Darum haben wir in unserem Antrag Forderungen es richtig ist, dass der eine oder die andere über diesen formuliert, die nach unserer Auffassung auf Bundes- und Weg einen höheren Schulabschluss erreichen kann. Das auf Landesebene dringend in Angriff genommen werden ist aber eine ganz andere Ebene. Das alles kann man müssen. Wir haben uns diesmal auf die duale Berufsaus- auch anders machen. bildung, also auf die nach dem Berufsbildungsgesetz und der Handwerksordnung, beschränkt, wissen aber, Nachdem in den Jahren seit 2005 die Zahlen des dass es auch in anderen Bereichen offene Fragen dazu Übergangssystems sehr deutlich geschrumpft sind, gibt. scheint es nun irgendwie nicht weiterzugehen. Wenn es gelänge, nur diejenigen der im Übergangssystem Ver- Die Ausbildungsqualität wird sich jedoch nur verbes- bliebenen, die über einen Schulabschluss verfügen, also sern lassen, wenn auch die rechtlichen Rahmen dafür ge- über einen Haupt- oder einen Realschulabschluss – das schärft werden, und das kann und muss im Zuge einer Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10083

Dr. Rosemarie Hein (A) Novellierung des Berufsbildungsgesetzes geschehen. ist. Ich frage mich ernsthaft, was Sie dazu bewogen hat, (C) Dazu gehört zum Beispiel auch die Aufwertung der Be- diesen Punkt aufzunehmen. Möglicherweise unterliegen rufsschulbildung. Dual ist eine Ausbildung nämlich nur Sie einem Irrtum, oder Sie wollen auf ganz listige Weise dann, wenn sie beide Seiten hat: die betriebliche und die die Länderhoheit umgehen. schulische. Wenn das eine fehlt, ist sie nicht mehr dual. (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Sie irren sich! Deswegen müssen schulische Lernleistungen tatsäch- Das ist vollkommen falsch, was Sie sagen! Die lich auch bei den Kammerprüfungen berücksichtigt wer- überbetrieblichen Ausbildungsstätten sind bei den, müssen die rechtlichen Regelungen für den Besuch uns im Haushalt!) einer Berufsschule zwischen den Ländern – sie sind – Es tut mir leid. Es geht nicht um überbetriebliche Aus- nämlich sehr unterschiedlich – vereinheitlicht werden bildungsstätten. und müssen die Rechte von Auszubildenden, die älter als 18 Jahre sind, neu gesetzlich geregelt werden. Der (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Doch, darum Berufsbildungsbericht muss künftig auch die Ausbil- geht es!) dungsqualität berücksichtigen, und die Kompetenzen der Berufsbildungsausschüsse müssen gestärkt werden. Es geht um die regionalen Berufsbildungszentren.

Wir gehen nicht davon aus, dass wir schon alle Forde- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: rungen aufgeschrieben haben. Für Ergänzungen und Er- Frau Dr. Hein. weiterungen sind wir sehr dankbar. Ich möchte noch ganz kurz auf den Antrag der Koali- Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): tion eingehen. Das Anliegen, die Durchlässigkeit zwi- Googeln Sie einfach einmal! Dann finden Sie heraus, schen beruflicher und akademischer Bildung zu verbes- dass das Schulen sind. Das ist Länderhoheit. Tut mir sern, teilen wir durchaus, aber Bekenntnisse werden hier leid. – Das Kooperationsverbot ist nicht unsere Erfin- nicht ausreichen. Lassen Sie mich drei Anmerkungen zu dung. Heben Sie es auf, dann kriegen wir das auch hin. Ihrem Antrag machen. Vielen Dank. Erstens. Sie fordern von den Unternehmen, dass die Absolventen der beruflichen Bildung, wie staatlich ge- (Beifall bei der LINKEN) prüfte Techniker und Fachwirte, Entwicklungsmöglich- keiten erhalten, wie sie auch Hochschulabsolventen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: haben. Das ist richtig; denn sie haben ein Qualifikations- Danke schön. – Für die SPD-Fraktion erhält jetzt (B) niveau, das dem Bachelor-Abschluss gleichgestellt ist. Willi Brase das Wort. (D) Aber, meine Damen und Herren, das gilt auch für Erzie- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) herinnen und Erzieher. Warum ist es dann so schwer, ihre Arbeit im Bereich der frühkindlichen Bildung in den Kindertagesstätten genauso zu würdigen und sie entspre- Willi Brase (SPD): chend einzugruppieren? Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich auf die (Beifall bei der LINKEN) Debatte im federführenden Ausschuss; denn das, was Senden Sie hier doch einmal ein solches Signal aus; das Sie hier dargestellt haben, stimmt in Teilbereichen nicht würde vielleicht sogar in den derzeitigen Tarifverhand- ganz mit der Realität überein. lungen helfen. Ihre Arbeit ist nämlich nicht weniger wert (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: So ist es!) als die eines Fachwirtes, Meisters oder Technikers. Ich finde, die Ministerin hat auf der Grundlage des Be- Zweitens. Wir teilen die Forderung, Berufsschullehrer rufsbildungsberichtes schon sehr genau auf die unter- im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung stärker schiedlichen Strukturen, Bedingungen und Verhältnisse in die Lehrerausbildung einzubinden; wir fordern das hingewiesen. Das werden wir im Ausschuss noch einmal auch. Die Lage an den Berufsschulen könnten wir allein gebührend zu diskutieren haben. schon dadurch verbessern, dass wir das Übergangs- system entsprechend abbauen. Dann könnten die frei Wir konnten heute in der Presse lesen, dass laut einer werdenden Lehrerstunden nämlich in den Berufsschulen Studie von Prognos bis zum Jahre 2020 1,2 Millionen genutzt werden. junge Leute mit Berufsabschluss und 500 000 junge Leute mit Hochschulabschluss benötigt werden. Das ist Einen dritten, letzten Punkt möchte ich benennen und nicht mehr lange hin; das sind nur noch ein paar Jahre. die Koalition auf einen kleinen Fehler hinweisen. Vor diesem Hintergrund möchte ich darauf hinweisen, dass die Debatte um einen angeblichen Akademisie- ( [SPD]: Aber nur einen klei- rungswahn in diesem Lande ein bisschen schiefläuft. nen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Unter Punkt 8 Ihrer Forderungen steht, die regionalen der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE beruflichen Bildungszentren sollten zu Kompetenzzen- GRÜNEN) tren ausgebaut werden. Meine Damen und Herren von der Koalition, das dürfen Sie nicht; die Bundesregierung Ich kann für meine Fraktion nur sagen: Für uns ist der darf das nicht finanzieren, weil das Aufgabe der Länder Aufstieg für alle, egal woher sie kommen und was sie 10084 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Willi Brase (A) mitbringen, ein absolutes Muss. Davon weichen wir Wir sind gegen eine weitere Aufgliederung von Ausbil- (C) nicht einen Millimeter ab. dungsgängen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der SPD) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb ist ein solches Konzept, auch wenn es mit dem Deutschen und dem Europäischen Qualifikationsrahmen Wir wollen allen Menschen – denen aus schwierigen ein Stück weit in Einklang steht, aber auf Teilqualifika- materiellen und sozialen Verhältnissen genauso wie tionen und auf Teilzertifizierungen setzt, von uns abzu- denen aus guten oder bildungsnahen Verhältnissen – die lehnen. Ich kann nur sagen: Mit der SPD wird es eine Chance geben, den Weg zu gehen, den sie gehen wollen. solche Modularisierung der dualen Berufsausbildung nicht geben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Rosemarie Daher empfehle ich, diese Debatte ein Stück weit zu- Hein [DIE LINKE]) rückzufahren. Sie bringt uns nicht weiter. Es ist über die Warteschleifen diskutiert worden. Ja, Was ich gut finde – man findet es teilweise in den man muss sich das genauer anschauen. Man muss sich Anträgen, aber auch in der Realität –, ist die Debatte dieses Problem auch unter regionalen Gesichtspunkten über die Gleichwertigkeit von allgemeiner und berufli- anschauen. Die bundesweiten Zahlen sind das eine, die cher Bildung. Nach meinem Eindruck scheint mittler- Realitäten vor Ort das andere. Ich finde es bedauerlich, weile klar zu sein, dass es nichts mehr bringt, die duale dass es offensichtlich noch nicht gelungen ist, das Instru- berufliche Ausbildung nur als Einstieg für Leute mit ment der Einstiegsqualifizierung – im Rahmen der Al- mittlerem Abschluss, Hauptschulabschluss und darunter lianz für Aus- und Weiterbildung werden dafür ja noch zu verstehen. Das, was wir mit dem Berufsbildungsge- einmal zusätzliche Plätze angeboten – bei den Unterneh- setz anbieten – Aufstiegsfortbildungen, Umschulungs- men vor Ort und den jungen Leuten, die möglicherweise möglichkeiten, vor allem der Durchstieg zur Fachhoch- erst einmal in diesen Bereich gehen müssen, positiv zu schule, auf den ich noch zu sprechen komme –, ist verankern. Wenn man es schafft, ein Jahr lang eine Ein- absolut richtig, um die Stärke des Industriestandortes stiegsqualifizierung in einem Betrieb zu absolvieren und Deutschland zu erhalten und gleichzeitig gute Perspekti- gut arbeitet, wird diese Leistung zum Teil auf die duale ven für die jungen Leute auf den Weg zu bringen. Ausbildung anerkannt. Diesen Weg müssen wir deutli- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) cher aufzeigen. Er muss besser verankert werden. Zur Gleichwertigkeit gehört für mich auch – wir kön- (Beifall bei der SPD) (B) nen es im Berufsbildungsbericht gut nachlesen –: Wir (D) Ich bin Frau Wanka dafür dankbar, dass sie sich mit haben über 200 000 junge Leute, die eine schulische Frau Nahles und den Bundesländern auf den Weg macht, Ausbildung mit Abschluss im Gesundheits- und Erzie- das gesamte Paket, das für den Übergangsbereich zur hungsbereich absolvieren. Nicht all diese jungen Verfügung steht, zu untersuchen – es geht um etwa Menschen haben eine Hochschulzugangsberechtigung. 250 000 Jugendliche in Warteschleifen – und zu überle- Vielfach sind es junge Menschen mit einem mittleren gen, wie wir die Vielzahl der Maßnahmen reduzieren Bildungsabschluss. An dieser Stelle gebe ich Frau Hein können. Ich glaube, dass ich das hier in den letzten Jah- durchaus recht: Die Gesellschaft sollte und muss begrei- ren 20- oder 25-mal angesprochen habe. Ich werde nicht fen, dass die Wertigkeit der Erziehungs-, der Pflege- und müde, das erneut anzusprechen. Die Vielfalt bringt uns der Gesundheitsberufe – vor allen Dingen, was den nicht weiter. Wir müssen das Ganze vernünftig begren- Pflegebereich angeht –, wesentlich höher eingeschätzt zen, um auf einen vernünftigen Weg zu kommen. werden muss. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das halte ich für absolut richtig und notwendig; das muss noch einmal deutlich gesagt werden. Wir wollen und müssen die Attraktivität des berufli- chen Bildungssystems erhöhen. Zur Attraktivität der Be- Ich komme zur Qualität der dualen Berufsausbildung. rufe gehört natürlich auch die Antwort auf die Frage: Wie Wir haben, auch außerhalb des Parlamentes, mehrere verhält es sich später mit den Löhnen und Gehältern? In Debatten darüber geführt, an welchen Stellen das Be- diesem Zusammenhang möchte ich aus einem Artikel in rufsbildungsgesetz möglicherweise novelliert werden der Rheinischen Post vom 27. Januar dieses Jahres zitie- muss. Ich bin ein bisschen nachdenklich geworden, als ren, der anhand einer Studie des DIW deutlich gemacht von Vertretern des Bundesinstituts für Berufsbildung, hat, wie die Gehälter in einzelnen Ausbildungsberufen der Wirtschaft und der Wirtschaftsverbände der Begriff aussehen. Ich zitiere: Demnach bekommen Männer nach „Berufslaufbahnkonzept“ benutzt wurde. Diesem Be- einer Lehre zum Versicherungskaufmann, Finanzberater, rufslaufbahnkonzept liegt die Auffassung zugrunde: Wir Logistiker oder Buchhalter die besten Stundenlöhne. Sie brauchen in bestimmten Branchen nur noch Teilqualifi- lassen beim Gehalt unter anderem Lehrer, Geistes- und kationen. – Dazu kann ich für meine Fraktion klar und Politikwissenschaftler, Architekten, Bauingenieure, Fach- deutlich sagen: Wir wollen, dass das duale Ausbildungs- hochschulabsolventen, Erzieher und Sozialarbeiter hinter system das Berufsprinzip beibehält und dass ein Ergeb- sich. – Ich meine, wer für die duale Ausbildung steht, der nis der Prüfung die Zuerkennung der Berufsfähigkeit ist. sollte auch mit Selbstbewusstsein sagen, dass wir sehr Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10085

Willi Brase (A) viele Berufe haben, in denen sehr gutes Geld verdient mehr unbesetzte Plätze im beruflichen Bereich als un- (C) werden kann. Diese Berufe kann man mit akademischen versorgte Bewerber. – Das haben Sie eben wiederholt. Berufen vergleichen. Ich finde schon, dass man sich diesen Satz einmal auf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der Zunge zergehen lassen muss. Es ist, verzeihen Sie bitte, Unsinn, das einfach so zu behaupten. So, wie Sie Wir haben klare Erwartungen an die Allianz für Aus- es sagen, stimmt es nicht; so können Sie uns das nicht und Weiterbildung. Das kann ich, glaube ich, für meine weismachen. Über eine Viertelmillion junger Menschen Fraktion, aber auch für die Koalition deutlich sagen. Al- in diesem Land ist im vergangenen Jahr bei der Suche les, was diesbezüglich vereinbart wurde – 10 000 Plätze nach einem Ausbildungsplatz leer ausgegangen. Das ist für die assistierte Ausbildung, 20 000 zusätzliche Aus- keine kleine Randgruppe, sondern es ist eine Anzahl von bildungsplätze, Qualität der Ausbildung –, erwarten wir Menschen, die der Einwohnerzahl einer Großstadt wie Ende des Jahres. Nach der Nachvermittlungszeit, die wir Augsburg entspricht. Diese jungen Menschen landeten aus den berufsbildungspolitischen Debatten ja kennen, im sogenannten Übergangssystem. Es waren fast erwarten wir die entsprechenden Ergebnisse. Es muss 260 000 junge Menschen in teuren Warteschleifen ohne vorangehen, auch vor dem Hintergrund der Tatsache, Anschluss, ohne Abschluss und ohne berufliche Zu- dass wir zukünftig ein hohes Maß an jungen Leuten kunft. Gleichzeitig klagt die Wirtschaft über Fachkräfte- brauchen, die gut und ordentlich ausgebildet sind. mangel. Da läuft irgendetwas falsch. Das ist wirtschaftli- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) cher Unsinn und bildungspolitischer Irrsinn. Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Im Juli (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2013 haben wir über die Jugendgarantie in Europa ge- und bei der LINKEN) sprochen. Die Bundesregierung und wir im Parlament haben bei den Haushaltsberatungen mittlerweile eine Im Berufsbildungsbericht steht genau das schwarz auf Menge Geld zur Verfügung gestellt, um einen Austausch weiß. Frau Ministerin Wanka, es tut mir leid, aber ich zu ermöglichen, um jungen Leuten aus anderen Ländern finde, als Mathematikprofessorin interpretieren Sie da die Chance zu bieten, in Deutschland eine Ausbildung wirklich Ihre eigene Statistik falsch. Wer all diese Ju- oder Ähnliches zu beginnen. gendlichen als versorgt bezeichnet – das tun Sie immer noch –, der ist entweder ahnungslos oder verantwor- Vor wenigen Tagen hat Jacques Delors, den viele von tungslos. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde. Ihnen kennen, gesagt, wir brauchten einen neuen Anlauf bei der Ausbildung der Jugendlichen in Europa. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) glaube, er hat recht. Hören Sie endlich auf, mit Zahlen zu jonglieren. Es geht (B) (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) um junge Menschen. Krempeln Sie lieber die Ärmel hoch, packen Sie etwas an, und schauen Sie, dass Sie die Es geht nicht mehr um 30 000 oder 40 000 Jugendliche, berufliche Bildung in Deutschland vom Kopf auf die sondern um mehr als 200 000 junge Menschen. Die Ju- Füße stellen. gendgarantie umfasst insgesamt Mittel in Höhe von etwa 6 Milliarden Euro. Ich habe ein bisschen in die Szene hi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) neingehört und bin der Frage nachgegangen, was bei all Im Koalitionsvertrag haben Sie noch vollmundig eine dem herumgekommen ist. Ich denke, dass der von Jacques Ausbildungsgarantie angekündigt. Ich frage Sie: Wo ist Delors eingeschlagene Weg – ich kann ihn aufgrund sie denn, die Ausbildungsgarantie? Wir haben sie nicht meiner begrenzten Redezeit nicht mehr genau darstellen; gefunden. Wir haben uns auf die Suche begeben. Im Text man kann es nachlesen – richtig ist: 100 000 und mehr der neuen Allianz für Aus- und Weiterbildung schreiben Jugendlichen in Europa wurde die Chance gegeben, in Sie, dass Sie allen Jugendlichen einen Pfad bereiten ein Nachbarland zu gehen und eine zwei- oder dreijäh- möchten. Meine Damen und Herren, ein schmaler Pfad, rige Ausbildung zu machen. Das stärkt Europa, und es auf dem man sich irgendwie durchwurschteln kann, ist gibt allen jungen Leuten Zukunftsaussichten. Dafür soll- nicht das, was junge Menschen brauchen. ten wir uns starkmachen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich danke fürs Zuhören. Sie brauchen breite Wege und Brücken in den Beruf. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koali- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Beate Walter- tion, Ihr Antrag zeigt schon im Titel, dass Sie den Kern Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen. des Problems überhaupt nicht begriffen haben. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ein Käse!) Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dort lesen wir, dass Sie die Gleichwertigkeit und Durch- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! lässigkeit der beruflichen und der akademischen Bildung Liebe Kollegen und Kolleginnen! Liebe Zuhörer und – wir haben es gerade gehört – durchsetzen wollen. Ich Zuhörerinnen! Sehr geehrte Frau Ministerin Wanka! kann Ihnen versichern: Das schaffen Sie nicht, solange Lassen Sie mich mit einem Zitat aus diesem April begin- Sie das Ganze wie ein Mantra vor sich her tragen. nen, das von Ihnen, Frau Wanka, stammt. Sie sagten da- Schwadronieren Sie nicht so lange über den vermeintli- mals: Wir haben jetzt im Gegensatz zu vor zehn Jahren chen Akademisierungswahn – das tun Sie nämlich –, 10086 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Beate Walter-Rosenheimer (A) sondern hören Sie auf, die akademische Bildung gegen Michael Kretschmer (CDU/CSU): (C) die berufliche auszuspielen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht, über den wir heute (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das hat doch sprechen, ist eine wichtige Handlungsgrundlage, eine niemand gemacht! Niemand macht das! So ein gute Analyse, manchmal auch mit unangenehmen Wahr- Käse!) heiten, aber auf jeden Fall ein wichtiger Hinweisgeber – Doch. Da können Sie ruhig lachen. Es ist in unseren für die Bildungspolitik in unserem Land. Ich vertraue Augen so. diesem Bericht, der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung erarbeitet wird, viel mehr als so man- Es geht um die zentrale Frage, wie wir die Jugendli- chem Ratschlag, der von außen kommt. chen, die es selbst nicht schaffen und die schlechtere Startchancen in diesem Land haben, fit für die Ausbil- Unlängst hat uns der Präsident der Wirtschaftskam- dung machen. Diese Jugendlichen gibt es. mer in Wien erzählt: Wissen Sie, wenn wir der OECD glauben würden, müssten wir davon ausgehen, dass in (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) unserem Land alles desaströs ist. Wir haben in Öster- reich viel zu wenige Leute, die Abitur machen. Wir ha- – Ich finde es, ehrlich gesagt, nicht so wahnsinnig lustig. – ben viel zu wenige junge Menschen, die studieren. Das Es gibt sie, und sie brauchen mehr Unterstützung. Diese Einzige, das in Österreich besser ist als in anderen Län- Jugendlichen haben wir bis jetzt nicht erreicht. dern, das Einzige, wo die OECD zu guten Ergebnissen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kommt, ist, dass wir eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit haben – die niedrigste –, dass wir höhere Löhne haben, Deshalb fordern wir eine echte Ausbildungsgarantie, dass wir überhaupt ein ordentliches Gehaltsgefüge ha- die diesen Namen auch verdient. Wir wollen die assis- ben. – Deswegen ist die Frage: Wem vertrauen wir? Ich tierte Ausbildung endlich für all jene Jugendlichen öff- glaube, es ist richtig, dass wir an dem, was Deutschland nen, die eben mehr Unterstützung brauchen, damit sie an stark gemacht hat, dass wir an unserem Erfolgskonzept ihr Ziel kommen. festhalten und es weiter ausbauen. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ja, aber das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haben wir doch gemacht!) neten der SPD) – Ich sage ja gerade, was wir machen wollen. Hören Sie Wir haben versprochen – wir halten dieses Verspre- bitte noch kurz zu. chen auch –, bis zu 10 Prozent des Bruttoinlandsproduk- tes für Bildung und Forschung auszugeben. Denn wir sa- (B) (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wir haben es gen: Es ist wichtig, dass in diesem Bereich viel passiert, (D) schon gemacht!) dass wir uns um Inklusion kümmern, dass wir uns um junge Menschen kümmern, die es nicht so leicht haben. Wir wollen den Ausbau der Jugendberufsagenturen Insofern gilt dieses Versprechen. Wir werden hier weiter stärken, damit junge Menschen – etwa solche, die keine investieren. Eltern haben, die sie auf den richtigen Weg schubsen – die notwendige Unterstützung bekommen und nicht auf Unser Grundsatz lautet: kein Abschluss ohne An- dem Weg von der Schule in den Beruf verloren gehen. schluss. Wir haben, was die Durchlässigkeit der Berufe Da gehen noch viel zu viele verloren. angeht – der zweijährigen Berufe, theoriegemindert im Vergleich zu den richtigen Facharbeiterberufen – viel be- Wir misten den Dschungel an Maßnahmen im Über- wegt. Wir haben den Zugang zur Hochschule für diejeni- gangsbereich aus und bündeln die sinnvollen Pro- gen, die einen Meisterabschluss, aber kein Abitur, keine gramme so, dass sie in einer betriebsnahen Ausbildung Fachhochschulreife haben, wirklich erleichtert. Das hat vom ersten Tag an zu einem anerkannten Berufsab- viel geholfen. schluss führen. Die große Herausforderung für die Zukunft ist die Da Ihnen anscheinend die Ideen ausgegangen sind, Kombination aus der demografischen Entwicklung – es wie es noch besser geht und wie man das erreichen kann, gibt viel weniger junge Menschen – auf der einen Seite rate ich Ihnen: Schauen Sie ruhig einmal in unsere grüne und dem Studierverhalten, das heute ganz anders ist, als Ausbildungsgarantie. Übernehmen Sie Verantwortung es in der Vergangenheit war, auf der anderen Seite. Des- für die jungen Menschen und für die Wirtschaft in die- wegen müssen wir alles daransetzen, dass das, was sem Land. Deutschland als Industrieland stark gemacht hat, das da- für gesorgt hat, dass die Jugendarbeitslosigkeit so nied- Danke. rig ist wie in kaum einem anderen Land der Europäi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schen Union, auch in Zukunft gilt. Das heißt, die Kombination aus Praxis und Theorie im dualen System ist die Stärke dieses Landes. Alle Energie, die wir in der Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bildungspolitik, in der Berufsbildungspolitik einsetzen, Vielen Dank. – Nächster Redner ist Michael muss sich auf diesen Punkt konzentrieren, damit wir die- Kretschmer, CDU/CSU-Fraktion. sen Vorteil auch in Zukunft erhalten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) neten der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10087

Michael Kretschmer (A) Deswegen werden wir die Modularisierung nicht so 2002, als ich zusammen mit vielen heutigen Kollegen (C) weit vorantreiben – auch wenn manche eine größere Mo- in den Bundestag gekommen bin, war die Situation un- dularisierung wünschen –, dass dieses Berufskonzept am verändert. Junge Leute in einer Oberschule haben uns er- Ende nicht mehr vorhanden ist. Das wäre in der Tat ein zählt, dass sie 20 oder 30 Bewerbungen geschrieben und großer Fehler. Es geht darum, dass Teilqualifikationen nicht einmal eine Absage bekommen haben. zertifiziert werden, dass sie auch in die Gesellenprüfung Was haben wir seitdem erreicht, meine Damen und einbezogen werden. Aber im Grundsatz muss es bei die- Herren? sem Berufskonzept bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Willi Brase [SPD]) [SPD]) Heute gibt es mehr Ausbildungsplätze als Bewerber. Wir müssen gemeinsam mit den Ländern – wir müs- sen das auch von den Ländern einfordern – viel mehr (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Energie für die Berufsorientierung aufwenden, und zwar NEN]: Das ist das Ergebnis der demografi- auch in den Gymnasien. schen Entwicklung!) Heute kann man sich den Ausbildungsplatz aussuchen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Überall an den Gymnasien in Deutschland müssen Be- rufsorientierungsmaßnahmen stattfinden, und zwar nicht Das ist das Ergebnis einer wirklich guten Politik. Denn als Alibi in der elften oder zwölften Klasse, sondern be- Ausbildung ist eine Investition in die Zukunft, und zwar ginnend ab der achten, neunten Klasse, sodass die jun- für die jungen Menschen, aber auch für den Betrieb. gen Leute tatsächlich eine gute Vorstellung davon be- Wir brauchen ein vernünftiges wirtschaftliches Um- kommen, was für sie das Richtige ist, und sodass feld und eine Wirtschaftspolitik, die auf Wachstum setzt hinsichtlich der Gehaltsvorstellungen – dazu haben wir und Vertrauen hat. Ansonsten wird es auch keine Ausbil- gerade Beispiele gehört – ein realistisches Bild entsteht. dungsplätze geben. Das hat Angela Merkel seit 2005 ge- Wir haben sehr viele Beispiele von jungen Leuten, die schafft, und das wird ihr auch niemand wegnehmen. Das ein Studium abbrechen, weil sie auf einmal merken, dass ist ein ganz großer Erfolg, meine Damen und Herren. es doch nicht das Richtige ist. Wir sehen, dass in einigen Berufen in der dualen Ausbildung besser gezahlt wird (Beifall bei der CDU/CSU – Willi Brase als in manchen Studienberufen. Deswegen gilt es, hier [SPD]: Wir machen aber keinen Wahlkampf ein Bild zurechtzurücken. Das kann nur durch eine qua- hier!) (B) (D) litativ sehr hochwertige Berufsorientierung gelingen. Was wir in den vergangenen Jahren gemeinsam er- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- reicht haben, kann uns stolz machen. Die Zahl der Ju- neten der SPD) gendlichen im Übergangssystem ist von über 400 000 auf 256 000 zurückgegangen. Das ist keine Maßnahme, Wir wollen und müssen auch mit der Wirtschaft da- die man kritisch und abwertend sehen muss. Es ist viel- rüber reden, dass sie durch Gehaltsmaßnahmen und eine mehr eine Maßnahme für Jugendliche, die es zum Teil ordentliche Betreuung der Auszubildenden die Attrakti- nicht leicht haben und viele Hemmnisse mitbringen. Um vität der dualen Ausbildung verbessert; das ist überhaupt sie kümmert sich dieses Land ganz verantwortungsvoll keine Frage. Wir müssen über neue Modelle sprechen. und mit einem hohen Einsatz, weil wir sagen: Wir wol- Es geht um die hybride Ausbildung, also die Kombina- len kein Talent verloren geben. – Das ist eine tolle Sa- tion von Berufsausbildung und Studium, und um das du- che, und es ist nicht in Ordnung, wie Sie das gerade he- ale Studium, und zwar in einer qualitativ wirklich hoch- runtergeredet haben. wertigen Weise, wie es damals in Baden-Württemberg (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von der Union erfunden wurde, nämlich Studium und neten der SPD) Praxisanteil statt irgendeines Praktikums. Wir haben neue Modelle wie die assistierte Ausbil- (Widerspruch bei der SPD) dung und die Bildungsketten entwickelt, die sich be- währt haben und die wir in Zukunft ausbauen wollen. Genau dieser Beitrag ist notwendig, damit der große Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Wenn wir da- Vorteil, von dem wir am Anfang gesprochen haben, die beibleiben und das Prinzip „Praxis und Theorie“ weiter Kombination von Praxis und Theorie, erhalten bleibt. stärken, dann wird es auch wieder mehr Ausbildungs- Das ist ein Gebot der Stunde. plätze und bessere Chancen geben. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sollten nicht von einem Akademisierungswahn reden. Ich halte das in der Tat für einen Kampfbegriff. Ich erinnere mich noch gut: Als ich 1991/1992 meine Aber wir müssen das Bild zurechtrücken, dass nur das Ausbildung begonnen habe, bot sich ein trostloses und Studium einen vernünftigen Job und ein vernünftiges trauriges Bild. Der überwiegende Teil der jungen Men- Einkommen erzeugt. Das ist nicht so. Dieses Land schen in den neuen Ländern ist entweder zur Ausbildung braucht die duale Ausbildung. Dafür müssen wir kämp- in die alten Bundesländer gegangen oder hat sich für fen. eine überbetriebliche Ausbildungsmaßnahme entschie- den. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 10088 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wenn Sie jetzt sagen, dass Ihre Allianz für Aus- und (C) Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Brigitte Weiterbildung die Antwort darauf ist, dann kann ich Sie Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen. nur fragen: Wie kann das eigentlich funktionieren? Sie sagen, Sie wollten 20 000 zusätzliche Ausbildungsplätze Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): durch diese Allianz schaffen. Sie sagen, Sie wollten je- dem Jugendlichen, der bis Ende September keinen Aus- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe bildungsplatz hat, drei Angebote machen. Jetzt frage ich Kolleginnen und Kollegen von der Koalitionsfraktion, Sie einmal: Wie geht das nach Adam Riese? Wir haben ich habe Ihren Antrag genau gelesen. Er wird der Über- 250 000 Jugendliche, die derzeit in der Warteschleife schrift, die Sie gewählt haben, in der Tat gerecht: Es geht sind. Da zähle ich die Altbewerberinnen und Altbewer- um die Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit beruflicher ber in Höhe von 160 000 noch gar nicht mit. Frau und akademischer Bildung. Wanka, selbst wenn nicht alle in die betriebliche Ausbil- Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass es da ei- dung wollen – das behauptet doch auch keiner –, so blei- nen großen Handlungsbedarf und noch sehr viel zu tun ben doch immer noch so viele übrig, die nichts bekom- gibt. Aber ich frage Sie: Was ist mit denen, bei denen es men. Sonst hätten wir diese 1,5 Millionen Menschen nicht um Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit geht, nicht. Die haben sich doch im Laufe der Jahre aus dieser sondern vor allen Dingen erst einmal um einen Zugang Warteschleife angehäuft. Also: 20 000 zusätzliche Aus- zur beruflichen Bildung? Sie finden in Ihrem Antrag bes- bildungsplätze für 250 000 Jugendliche, und die sollen tenfalls am Rande – man kann fast sagen: als Fußnote – jeweils drei Angebote bekommen. Das ist echt PISA- statt. verdächtig. Dabei haben wir – Frau Wanka, jetzt hören Sie bitte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einmal zu! – Ich glaube wirklich, Sie haben vor diesem Problem kapi- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ tuliert. Die Warteschleifen werden eben nicht abge- CSU und der SPD) schafft; sie werden jetzt gesundgebetet. 1,5 Millionen Menschen unter 35 Jahren, die keine Be- Ich kann Ihnen nur sagen: Wir sind der Auffassung, rufsausbildung haben. Sie sind wahnsinnig stolz darauf, dass es richtig ist, assistierte Ausbildung zu fördern, dass dass Sie die Anzahl derjenigen, die sich im Übergangs- es richtig ist, ausbildungsbegleitende Hilfen zur Verfü- system befinden, von 400 000 auf 256 000 abgesenkt ha- gung zu stellen. ben. (Willi Brase [SPD]: Machen wir doch alles schon!) (B) (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Ein Großteil (D) aus der rot-grünen Zeit! 2005!) Aber assistierte Ausbildung für 10 000 Jugendliche ist Was hat das mit politischem Erfolg zu tun? Das ist das doch weniger als der Tropfen auf den heißen Stein. Sa- Ergebnis der demografischen Entwicklung und des gen Sie doch einfach an dieser Stelle: Wir machen das Fachkräftemangels. Angebot allen, die es brauchen. – Das wäre ein Schritt nach vorne. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hier werden die Leistungen von Frau Merkel hervor- Selbst wenn wir diese Hilfen für alle zur Verfügung gehoben. Frau Wanka schlägt sich auf die Schultern. Das stellen, müssen wir doch endlich auch einmal anerken- ist keine politische Leistung. Die Wahrheit ist, dass sich nen, dass wir nicht alle Jugendlichen in die betriebliche die Anzahl an abgeschlossenen Ausbildungsverträgen Ausbildung bekommen. Trotzdem haben sie ein Anrecht auf einem Rekordtief befindet. Die Wahrheit ist, dass nur auf eine Berufsausbildung. Diesen Vorschlag machen noch jeder fünfte Betrieb sich überhaupt an der Ausbil- wir Ihnen mit unserer Ausbildungsgarantie. Liebe Kolle- dung beteiligt. Da liegt Ihr Handlungsauftrag. Da sollten ginnen und Kollegen, stimmen Sie zu. Dann würden Sie Sie etwas tun. auch Ihren Koalitionsvertrag, in dem Sie das verspro- chen haben, nicht brechen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich danke Ihnen. Sie schreiben in Ihrem Antrag – wie ich finde, zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Recht –: „Berufliche oder akademische Ausbildung … sind ein Garant für Beschäftigung und sichern gute Ver- dienstchancen.“ Aber was heißt das im Umkehrschluss? Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Das heißt im Umkehrschluss: Diejenigen, die keine Aus- Danke schön. – Nächster Redner ist Dr. Karamba bildung haben – ich zitiere: 1,5 Millionen –, sind häufi- Diaby, SPD-Fraktion. ger arbeitslos, sind öfter prekär beschäftigt und arbeiten (Beifall bei der SPD) nicht selten zu Armutslöhnen. Im Laufe ihrer berufli- chen Biografie verdienen sie über 240 000 Euro weniger Dr. Karamba Diaby (SPD): als die, die eine Ausbildung haben. Kümmern Sie sich wirklich einmal um diese Menschen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wollen Aufstieg durch Bildung. Diese Leitidee teilen wir Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10089

Dr. Karamba Diaby (A) alle in diesem Hohen Haus. Als Sozialdemokrat bewe- Zum Schluss sind mir drei Aspekte besonders wich- (C) gen mich aber insbesondere zwei Fragen: Lösen wir das tig: Versprechen auf Bildungsaufstieg tatsächlich ein? Be- Erstens ist mir wichtig, dass wir die betriebliche steht echte Chancengleichheit in unserem Bildungswe- Diversity-Kompetenz stärken, um Vorurteile abzubauen. sen? Ich möchte daher die heutige Debatte nutzen, um Ihren Blick auf den Ausbildungsmarkt und die Lage der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jugendlichen mit Migrationsbiografie zu lenken. der CDU/CSU) Schülerinnen und Schüler mit Migrationsbiografie Ich selber glaube an die Erfolge von Schulungen zum sind längst auf der Aufholjagd um Bildungsabschlüsse. Erwerb interkultureller Kompetenzen, und ich kenne Dennoch, trotz aller Fortschritte, die auch von der Frau solche Erfolge auch. Ministerin erwähnt wurden: Unser Bildungssystem macht sie immer noch zu Bildungsverlierern, und das Zweitens müssen wir neue Wege gehen. Warum nicht muss uns nachdenklich stimmen. auch anonymisierte Bewerbungsverfahren auf dem Aus- bildungsmarkt? (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Meine Damen und Herren, Herkunft darf kein Schicksal Abg. Dr. [CDU/CSU]) sein, weder der Geldbeutel noch die Herkunft der Fami- Drittens müssen wir die Jugendlichen stärken: Wir lie. müssen ihre fehlenden Netzwerke ausgleichen. Paten- Unsere duale Ausbildung ist bekanntlich ein Erfolgs- modelle und die engere Zusammenarbeit von Schulen modell und stillt den Fachkräftebedarf unserer Wirt- und örtlichen Ausbildern sind sehr wichtig. schaft. Leider gibt es immer weniger betriebliche Aus- Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herkunft bildungsstellen, und viele Jugendliche gehen leer aus. darf kein Schicksal sein. Lassen Sie uns dafür arbeiten, Dabei wird die Herkunft für Jugendliche mit Migrations- dass wir keinen Jugendlichen zurücklassen. biografie zum Klotz am Bein. Danke schön. Ein Berufsabschluss ist die Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt. Er eröffnet Lebenschancen und bietet (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Perspektiven. Diese Chancen und Perspektiven sind aber leider nicht allen Kindern in Deutschland in die Wiege Vizepräsidentin Ulla Schmidt: gelegt. Vielen Dank. – Dr. Thomas Feist ist der nächste Red- (B) Alle Zahlen belegen: Jugendliche mit Migrationsbio- ner für die CDU/CSU-Fraktion. (D) grafie bekommen Diskriminierung auf dem Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU) dungsmarkt zu spüren. Ihr türkischer oder arabischer Name wird zum Stigma. Das darf nicht so bleiben, Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): meine Damen und Herren. Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollegen! Der nationale Berufsbildungsbericht hat es der CDU/CSU) deutlich gezeigt: Der Patient atmet noch. – Das ist die gute Nachricht. Egal wie gut ihre Leistungen sind, sie müssen sich mehr anstrengen, um gleiche Chancen auf einen Ausbildungs- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- platz zu bekommen. Ihr Ausbildungsweg ist mit mehr NEN]: Wenn ihr damit zufrieden seid!) Stolpersteinen gepflastert. Trotz statistisch nachgewiese- Aber es gibt einiges, wo man vom ärztlichen Standpunkt ner großer Bemühungen erhalten Mahmoud und Aischa her Bedenken anmelden müsste. Das ist zum Beispiel seltener Antworten auf ihre Bewerbungen als Anna und hier der Fall: Wir haben einen großen Rückgang bei der Michael. Trotz gleicher Leistungen werden Mahmouds Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverhältnisse, der und Aischas Bewerbungen aussortiert. Sie werden viel regional aber sehr unterschiedlich ist. Unser Rezept ist seltener zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Das be- der Antrag, den wir als Koalitionsfraktionen zur Gleich- sagen auch Statistiken. Sie ergattern also seltener einen wertigkeit der beruflichen und der akademischen Bil- begehrten dualen Ausbildungsplatz. Meine Damen und dung vorgelegt haben. Herren, das dürfen wir nicht hinnehmen. Worum geht es im Einzelnen? Es geht darum – das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat die Ministerin auch schon gesagt –, dass die berufli- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE che Bildung an Attraktivität verliert. Sie haben einmal in GRÜNEN) einer Rede gesagt, Frau Ministerin: Gegen mangelnde In diesem Land brauchen wir jedes Talent; denn jeder Attraktivität hilft auch kein Ministerprogramm, aber wir und jede einzelne Jugendliche ist unsere so dringend ge- sollten es nicht unterlassen, alles zu tun, um die berufli- brauchte Fachkraft von morgen. Nur sage und schreibe che Bildung hier in Deutschland zu stärken. etwa 15 Prozent der Unternehmen in Deutschland bilden (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Jugendliche mit Migrationsbiografie aus. Ich meine, die Wirtschaft ist in der Pflicht, gute Ausbildungsplätze für Die Stärkung der beruflichen Bildung fängt bei einer alle Jugendlichen zu schaffen. guten Berufsorientierung an. Ich füge hinzu: Berufs- und 10090 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Thomas Feist (A) Studienorientierung. Angesichts von 330 Ausbildungs- Wir haben in der letzten Zeit darüber geredet, wie wir (C) berufen und annähernd 20 000 Bachelor-Abschlüssen etwas mehr für den akademischen Nachwuchs tun kön- kommt man ohne eine gute Orientierung nicht weiter. nen. Das ist gut. Unsere Koalitionsspitzen haben sich Wir müssen erreichen, dass durch diese Berufs- und Stu- darauf geeinigt, für den akademischen Nachwuchs in dienorientierung zum einen alle Schüler angesprochen den nächsten Jahren 1 Milliarde Euro bereitzustellen, werden, zum anderen über die Schüler hinaus aber auch eine hervorragende Entscheidung. Noch besser wäre es die Lehrer und die Eltern. Dazu müssen wir durch gewesen, wenn wir im Zusammenhang mit der akademi- Staatsverträge mit den Bundesländern eine gleichblei- schen Ausbildung vielleicht auch etwas zur beruflichen bende und hohe Qualität der Berufs- und Studienorien- Bildung gesagt hätten; denn beide Säulen sind wichtig, tierung gewährleisten; denn nur dort, wo Berufs- und und beide Säulen stehen in unserem Land gleichberech- Studienorientierung drin ist, darf sie auch draufstehen. tigt nebeneinander. Da sollten wir auch noch etwas tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das heißt auch: Wenn wir um Gymnasiasten werben, Wenn wir darüber reden, wie wir die Gleichwertigkeit zeugt das von der Erkenntnis, dass in einer Industriege- von dualer, beruflicher und akademischer Bildung weiter sellschaft – wir reden über Industrie 4.0 –, in einer sich erhöhen können, dann ist die Frage, wie wir etwas für verändernden Wirtschafts- und Technologielandschaft die Aufstiegsfortbildung, sozusagen für das Meister- mittlerweile viele Ausbildungsberufe ein Abitur erfor- BAföG, tun können, auch ein wichtiges Thema. Wir sind dern. Dabei kann eine Berufsausbildung mit einem gerade dabei, zu überlegen, welche Anreize wir denjeni- „Abitur Plus“, wie sie vom Zentralverband des Deut- gen geben können, die sich für ein Meisterstudium ent- schen Handwerks vorgeschlagen wird, für die Fachkräfte scheiden, wie wir finanzielle Anreize für das Bestehen sorgen, die wir morgen in diesem Lande brauchen. dieser Meisterprüfung geben können und wie wir es eventuell auch schaffen, weitere Adressatenkreise für Wir haben in unserem Antrag nicht nur die Ausbil- das Meisterstudium zu erschließen, die bisher noch nicht dungsbetriebe adressiert, sondern auch die Berufsschu- erfasst wurden. Ich denke da zum Beispiel an diejenigen, len, die Berufsschullehrer. Hier sind die Länder in der die einen Beruf gelernt haben, einen Bachelor haben und Pflicht, eine Struktur vorzuhalten, mit der wir den Inno- damit jetzt auch einen Anspruch auf Meister-BAföG be- vationsvorsprung bei der Ausbildung, für den die Be- kommen sollen. rufsschulen sorgen, erhalten und möglicherweise noch Wir haben dem Berufsbildungsbericht entnommen, verstärken können. dass Handlungsbedarf besteht. Wir haben in dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Koalition schon die richtigen Zeichen gesetzt, auch im (B) letzten Jahr. Es gilt jetzt, auf diesem Weg weiterzugehen (D) Es fehlt in der ganzen Ausbildungskette nur noch eine und für eine gute und zukunftsfähige Finanzierung des Spezies: die Meister. Auch hier stellt sich die Frage der beruflichen Sektors zu sorgen. Gleichwertigkeit akademischer und beruflicher Bil- dung. Wenn wir über prekäre akademische Arbeitsver- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. hältnisse reden, dann müssen wir auch über die prekären (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Arbeitsverhältnisse reden, die dort entstanden sind, wo die Meisterpflicht weggefallen ist. Das betrifft nicht nur Vizepräsidentin Ulla Schmidt: kleine und Kleinstbetriebe. Wenn wir fragen: „Wie kön- nen wir mehr für Ausbildung tun? Wie können wir mehr Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Gabriele Unternehmen erreichen, die ausbilden?“, dann ist es Katzmarek, SPD-Fraktion. vielleicht ein mutiger Schritt, zu sagen: Wir haben in (Beifall bei der SPD) diesem Punkt einen Fehler gemacht und sollten überle- gen, wie wir ihn korrigieren. Gabriele Katzmarek (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über Gleichwertigkeit reden, möchte ich Berufliche Bildung made in Germany ist ein Markenzei- zwei Zahlen anfügen. Wir investieren in den normalen chen und ein Erfolgsfaktor der Wirtschaft. Sie ist Garant Bildungsweg, also Schule und berufliche Ausbildung, für gut ausgebildete Facharbeiter und Facharbeiterinnen ungefähr 100 000 Euro. Wir investieren in den Bildungs- und für Akademiker und Akademikerinnen. Deutschland weg Gymnasium und akademische Ausbildung hat – und manchmal scheint man, wenn man die Reden 170 000 Euro. Aus meiner Sicht ist das ein Missverhält- heute hier gehört hat, zu glauben oder es vergessen zu nis. Wir müssen sehen, dass wir in der nächsten Zeit haben – die geringste Jugendarbeitslosigkeit in der EU. dazu kommen, dass wir auch im Bereich der beruflichen Mehr als 520 000 Ausbildungsverträge wurden 2014 ab- Bildung mehr investieren und diejenigen Unternehmen, geschlossen. die ausbildungsbereit und ausbildungsfähig sind, unter- stützen, damit sie auch in Deutschland ausbilden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich denke, es ist richtig, dies zu erwähnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Ja, richtig ist auch – das müssen wir ebenfalls erwäh- GRÜNEN) nen; wir müssen darüber nachdenken, wie wir hier wei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10091

Gabriele Katzmarek (A) ter vorgehen wollen –, dass 20 000 Jugendliche – dies die Ausweitung der ausbildungsbegleitenden Hilfen. – (C) konnten wir dem Bericht entnehmen – unversorgt sind. Dieses, meine Damen und Herren, muss man nun einmal 50 000 Jugendliche verlassen Jahr für Jahr die Schule zur Kenntnis nehmen, wenn man hier redet. ohne Schulabschluss. 1,3 Millionen junge Menschen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zwischen 20 und 29 Jahren haben keine abgeschlossene der CDU/CSU) Berufsausbildung; auch das ist richtig. Das verheimli- chen wir nicht. Das ist erkennbar und ist dem Berufsbil- Unser Ziel wird es weiterhin bleiben – deshalb führen dungsbericht zu entnehmen. Das ist der Iststand. wir diese Maßnahmen ein –, keinen Jugendlichen zu- Meine Damen und Herren, und wir stehen heute hier rückzulassen. und das nicht nur heute, sondern wir haben dazu schon (Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE]: Es geht verschiedene Beschlüsse gefasst und Maßnahmen verab- aber nicht um Quantität, sondern um Quali- redet, die dazu dienen, dies zu verändern im Interesse tät! – Gegenruf des Abg. Dr. Karamba Diaby der jungen Menschen, um ihnen eine Perspektive für ihr [SPD]) weiteres Leben zu geben, und um dem Fachkräfteman- gel entgegenzuwirken. – Gut, wenn es Ihnen hilft, können Sie das gern ausdis- kutieren. Es ist nur ärgerlich, dass es dann, wenn ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ihnen zuhören will, von meiner Redezeit abgeht. Des- der CDU/CSU) halb verzeihen Sie es mir. – Aber ich will Ihnen gern Denn die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutsch- noch einmal sagen, warum wir angetreten sind, was wir land wird entscheidend davon abhängen, inwieweit es getan haben und was wir mit dem Antrag, der jetzt vor- uns gerade auch vor dem Hintergrund des demografi- liegt, machen: Wir stärken die duale Berufsausbildung. schen Wandels gelingt, Bildung, Weiterbildung und Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schluss Qualifikation der Fachkräfte zu sichern und auszubauen. lassen Sie mich eines noch einmal ganz klar sagen: Wir (Dr. Karamba Diaby [SPD]: Richtig!) stehen für akademische Bildung, wir stehen für die duale Bildung. Wir verschließen jedoch die Augen nicht, wir Wir müssen uns mit den Folgen des dramatischen Ge- sehen die Herausforderungen und arbeiten an Lösungen. burtenrückgangs auseinandersetzen; denn entsprechend Wir haben dies in den letzten anderthalb Jahren mit vie- wird das Fachkräfteangebot zurückgehen. Wenn wir len, vielen Maßnahmen, die erwähnt worden sind, getan. nicht rechtzeitig und entschieden reagieren, werden Sie können gewiss sein, meine sehr geehrten Damen und Wachstumseinbußen unvermeidbar sein. Aber wir sind Herren der Opposition, wir werden weiter daran arbei- in der Lage, diesem Trend entgegenzusteuern. ten. Denn unser Ziel ist es, junge Menschen in Ausbil- (B) (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dung zu bringen, dem Fachkräftemangel aktiv entgegen- der CDU/CSU) zutreten und dieses nicht aus den Augen zu verlieren. Im ersten Schritt müssen wir die vorhandenen Potenziale Herzlichen Dank. besser nutzen, die wir im Inland haben. Aber klar ist (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) auch: Alleine aus dem eigenen Arbeitsmarkt heraus wer- den wir die Folgen des demografischen Wandels nicht Vizepräsidentin Ulla Schmidt: abfedern. Wir müssen uns dazu bekennen, ein Einwan- Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord- derungsland zu sein, nicht nur rhetorisch, sondern durch nungspunkt ist die Kollegin Uda Heller, CDU/CSU- die Schaffung eines modernen Einwanderungsrechts. Fraktion. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir reden heute über Gleichwertigkeit und Durchläs- sigkeit der beruflichen und der akademischen Bildung Uda Heller (CDU/CSU): sowie über den Berufsbildungsbericht der Bundesregie- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und rung. Wie die im Berufsbildungsbericht dargelegten Kollegen! Es ist schön, wiederholt zu einem Thema zu Zahlen zeigen – Frau Pothmer, da haben Sie recht –, sind sprechen, das viele Bürger interessiert – ob jung, ob alt – weitere Anstrengungen notwendig. Unser Ziel ist und und mit dem jeder seine eigenen Erfahrungen gemacht bleibt, keinen Jugendlichen nach der Schule zurückzu- hat. Für uns gehört das zu den wichtigsten Aufgaben der lassen. Aber Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass nächsten Jahre: die Stärkung der beruflichen Bildung. wir, seitdem wir in der Regierung sind, verschiedenste Maßnahmen auf den Weg gebracht haben und heute Meine Damen und Herren von den Grünen, eigentlich nicht zum ersten Mal darüber reden. Ein Teil der Maß- hatte auch ich vor, einige Passagen in Ihrem Antrag zu nahmen wurde schon genannt. Da Sie aber noch immer loben, aber angesichts Ihrer Schwarz-Weiß-Malerei mäkeln, dass es nicht genug ist, will ich sie gerne noch heute kann ich das leider nicht tun. einmal erwähnen – vielleicht merken Sie sich das dann –: (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 20. Mai 2014, was haben wir dort gemacht? Das NEN]: Ach!) Modellprojekt „Jobstarter plus“, dann das Programm „Aufstieg durch Bildung“, die Initiative „Abschluss und Von den Linken hatte ich nichts anderes als Kritik erwar- Anschluss“, Ausbau der Berufsorientierung und am tet. Aber ich denke, an der Qualität können wir ja ge- 26. Januar dieses Jahres die assistierte Ausbildung sowie meinsam arbeiten. 10092 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Uda Heller (A) Fakt ist: Für mehr als 500 000 Jugendliche bedeutete Lehrer weitergebildet sowie Messen, wie beispielsweise (C) im Jahr 2014 eine duale Ausbildung den Einstieg in eine die MINT-Messe, organisiert. Die Kooperation zwischen qualifizierte berufliche Zukunft. Dennoch steht das deut- Unternehmen und Schulen ist umso erfolgreicher, je sche Bildungssystem – wie es viele schon gesagt haben – praxisnäher sie angelegt und je offener ein Schulleiter vor großen Herausforderungen, die wir natürlich nicht für diese Zusammenarbeit ist. allein durch die Politik lösen können. Hier bedarf es der Zusammenarbeit aller Partner der beruflichen Bildung. Dennoch können Betriebe die Ausbildungsplätze häu- fig nicht besetzen. Daher ist es wichtig, auch schwäche- Ich bin der Meinung, der Ausbildungsmarkt ist in ers- ren Jugendlichen mit einem niedrigen oder sogar ohne ter Linie ein regionaler Markt. Das bedeutet: Eine Schulabschluss eine Chance zu geben. rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit aller Partner vor Ort ist ganz entscheidend, besonders beim Übergang (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) von der Schule zum Beruf. Verschiedene Instrumente und Maßnahmen, wie bei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) spielsweise die 10 000 assistierten Ausbildungsplätze oder die ausbildungsbegleitenden Hilfen, unterstützen Hier denke ich beispielsweise an die Jugendberufsagen- die Unternehmen und die Jugendlichen auf diesem ge- turen; auch die wurden schon erwähnt. In meinem meinsamen Weg. Heimatkreis Mansfeld-Südharz konnte ich den Aufbau eines solchen Bildungsbüros mit unterstützen. Seit Jahren steigt die Zahl der Ausbildungsplätze, bei denen ein Abitur vorausgesetzt wird. Auf zwei von drei Für einen fließenden Übergang bedarf es neben einer Ausbildungsplätzen braucht sich ein Hauptschüler gar zentralen Anlaufstelle – das habe ich auch schon mehr- nicht erst zu bewerben; denn bei 62 Prozent aller Lehr- fach betont – einer frühen, gleichwertigen und praxis- stellen wird mindestens ein Realschulabschluss erwartet. nahen Berufs- und Studienorientierung. Diese sollte als Querschnittsthema in den Lehrplänen verankert werden. Eine weitere wichtige Zielgruppe sind Jugendliche Gute Ansätze für eine systematische Berufsorientierung mit Migrationshintergrund. Deutschland hat mit 7,4 Pro- gibt das BMBF-Programm „Bildungsketten“. zent die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit innerhalb der Europäischen Union. Wir sind eine Industrienation, die Ganz entscheidende Partner in der Berufsberatung durch ihren demografischen Wandel vor einem steigen- sind nach wie vor die Eltern. Sie haben noch immer den den Fachkräftemangel steht. Deshalb sollten wir mit ei- größten Einfluss auf die Berufswahl unserer Jugendli- ner dualen Aus- und Weiterbildung allen Menschen, die chen und sollten daher bei allen Berufsorientierungs- es möchten – ich betone: die es möchten –, eine Chance maßnahmen mitgenommen werden. geben. Der Kollege Brase und andere haben hier die (B) (D) Auch der Bund ist sich seiner Verantwortung mehr als Zahlen genannt. Insbesondere können wir so motivierten bewusst. Mit einem 1,3 Milliarden Euro teuren Berufs- und leistungsbereiten Flüchtlingen aus akuten Krisenge- einstiegs- und Berufsberatungsprogramm wollen wir zu bieten eine neue Lebensperspektive bieten. einer stärkeren betrieblichen Ausbildung beitragen. Es Der jährlich erstellte Berufsbildungsbericht zeigt uns ist wichtig, die Chancen, die eine Ausbildung bietet, so- die Herausforderungen für die Zukunft auf. Er ist eine wie die sich daran anknüpfenden Aufstiegsperspektiven hilfreiche Arbeitsgrundlage für uns Bildungspolitiker, in der beruflichen Bildung deutlich zu machen. den die Bundesregierung in unserem Auftrag erstellt hat. Gerade an Gymnasien gibt es in Sachen Berufsorien- Ich möchte als letzte Rednerin die Gelegenheit nutzen, tierung noch Nachholbedarf. Es ist wichtig, dass die mich für diese detaillierte Ausarbeitung auf knapp Schüler gleichwertig über die Möglichkeiten einer aka- 130 Seiten bei den Fachleuten recht herzlich zu bedan- demischen und einer beruflichen Laufbahn beraten wer- ken. den. Es kann nicht sein, dass sich Abiturienten aus reiner (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Unwissenheit über betriebliche Karrierechancen für ein bei Abgeordneten der LINKEN) Studium entscheiden, wobei dann jeder Vierte abbricht bzw. das Studienfach wechselt. Das gilt auch für unsere Ministerin. Sie hat auf diesen Bericht nicht mit Selbstzufriedenheit geschaut, sondern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die künftigen Herausforderungen benannt. Dafür danke neten der SPD) ich ihr ganz herzlich. Weiterhin gehören qualitativ hochwertige Orientie- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) rungspraktika sowie eine Übersicht der regionalen An- gebote des Ausbildungsmarktes und ausreichend – ich betone: ausreichend – geschulte Ansprechpartner zu den Vizepräsidentin Ulla Schmidt: entscheidenden Instrumenten der Berufsorientierung. Vielen Dank, Frau Kollegin. – Damit sind wir am Ende der Aussprache angelangt. Wie schon mehrfach erwähnt, sinkt die Zahl der Aus- bildungsbetriebe. Besonders kleinen Betrieben fehlt oft- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf mals die Ausbildereignung. In Halle wurde 2009 bei- den Drucksachen 18/4928, 18/4680, 18/4931 und 18/4938 spielsweise von Unternehmen eine Initiative zum an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vernetzten Engagement für gute Bildung und Ausbil- vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist dung ins Leben gerufen. Hier werden Projekte initiiert, der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10093

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 f und der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- (C) 33 h sowie Zusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um Über- land und der Regierung der Vereinigten Re- weisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. publik Tansania über den Fluglinienverkehr Dabei kommen wir zunächst zu den unstrittigen Über- weisungen. Drucksache 18/4896 Überweisungsvorschlag: Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 f: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für Tourismus a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Luise rung des Fischetikettierungsgesetzes und des Amtsberg, Maria Klein-Schmeink, Beate Walter- Tiergesundheitsgesetzes Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 18/4892 Für eine menschenrechtsorientierte Umset- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) zung der Flüchtlingsaufnahmerichtlinie der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz EU b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Drucksache 18/4691 gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Überweisungsvorschlag: Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Innenausschuss (f) Instituts für Menschenrechte (DIMRG) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 18/4893 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Tagesordnungspunkt 33 h: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Omid (B) Ausschuss für Kultur und Medien Nouripour, Dr. Franziska Brantner, Agnieszka (D) Haushaltsausschuss Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- Richtlinien zum Schutz von Schulen und derung des Gesetzes über die internationale Hochschulen vor militärischer Nutzung in ei- Rechtshilfe in Strafsachen nem bewaffneten Konflikt umsetzen Drucksache 18/4894 Drucksache 18/4939 Überweisungsvorschlag: Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Ab- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Innenausschuss stimmung über ihren Antrag in der Sache, die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung. d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ver- Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den einbarung vom 1. April 2015 über die Beteili- Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Die Fraktionen gung Islands an der gemeinsamen Erfüllung der CDU/CSU und SPD wünschen Überweisung zur fe- der Verpflichtungen der Europäischen Union, derführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss ihrer Mitgliedstaaten und Islands im zweiten und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuss, an Verpflichtungszeitraum des Protokolls von den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Ver- Hilfe, an den Ausschuss für Bildung, Forschung und einten Nationen über Klimaänderungen (Ver- Technikfolgenabschätzung sowie an den Ausschuss für einbarung zur gemeinsamen Kyoto-II-Erfül- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. lung mit Island) Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- Drucksache 18/4895 schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer Überweisungsvorschlag: stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition ange- e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nommen. Die Überweisung ist beschlossen. Damit stim- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- men wir heute über den Antrag auf Drucksache 18/4939 kommen vom 17. September 2012 zwischen nicht in der Sache ab. 10094 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Zusatzpunkt 2: Tagesordnungspunkt 34 b: (C) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Cornelia Möhring, Sigrid Hupach, Matthias W. tionsausschusses (2. Ausschuss) Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak- Sammelübersicht 181 zu Petitionen tion DIE LINKE Drucksache 18/4827 Entgeltgleichheit gesetzlich durchsetzen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Drucksache 18/4933 hält sich? – Die Sammelübersicht 181 ist einstimmig an- Überweisungsvorschlag: genommen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Tagesordnungspunkt 34 c: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Federführung strittig tionsausschusses (2. Ausschuss) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Sammelübersicht 182 zu Petitionen Drucksache 18/4933 an die in der Tagesordnung aufge- Drucksache 18/4828 führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- wünschen Federführung beim Ausschuss für Familie, hält sich? – Die Sammelübersicht 182 ist einstimmig an- Senioren, Frauen und Jugend. Die Fraktion Die Linke genommen. wünscht Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Tagesordnungspunkt 34 d: Soziales. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs- tionsausschusses (2. Ausschuss) vorschlag der Fraktion Die Linke, dass die Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales liegen soll. Wer Sammelübersicht 183 zu Petitionen stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer Drucksache 18/4829 stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei- sungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen hält sich? – Die Sammelübersicht 183 ist mit den Stim- Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die (B) Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- Grünen angenommen. (D) schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Feder- Tagesordnungspunkt 34 e: führung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- schlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der tionsausschusses (2. Ausschuss) Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koali- Sammelübersicht 184 zu Petitionen tionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition ange- nommen. Drucksache 18/4830 Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 j sowie Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas- hält sich? – Die Sammelübersicht 184 ist einstimmig an- sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese- genommen. hen ist. Tagesordnungspunkt 34 f: Tagesordnungspunkt 34 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- tionsausschusses (2. Ausschuss) schusses für Recht und Verbraucherschutz Sammelübersicht 185 zu Petitionen (6. Ausschuss) Drucksache 18/4831 Übersicht 5 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- hält sich? – Die Sammelübersicht 185 ist mit den Stim- ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- men von CDU/CSU, SPD und der Fraktion Die Linke gericht gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen ange- nommen. Drucksache 18/4962 Tagesordnungspunkt 34 g: Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- empfehlung ist einstimmig angenommen. tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 186 zu Petitionen Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- titionsausschusses. Drucksache 18/4832 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10095

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: (C) hält sich? – Die Sammelübersicht 186 ist mit den Stim- men der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/ Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Haltung der Koalitionsfraktionen zur Frei- gabe der NSA-Selektorenliste im Hinblick auf Tagesordnungspunkt 34 h: mögliche Ausspähungen von Wirtschaft und Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Politik tionsausschusses (2. Ausschuss) Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen. – Wenn alle Sammelübersicht 187 zu Petitionen Kolleginnen und Kollegen Platz nehmen und die, die noch Gespräche führen möchten, dies bitte außerhalb Drucksache 18/4833 des Saales tun, dann kann ich die Aussprache eröffnen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält Jan hält sich? – Sammelübersicht 187 ist mit den Stimmen Korte, Fraktion Die Linke. der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- tion angenommen. (Beifall bei der LINKEN) Tagesordnungspunkt 34 i: Jan Korte (DIE LINKE): Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tionsausschusses (2. Ausschuss) Am 11. Mai sagte Bundeskanzlerin Merkel in Bremen – ich darf zitieren –: Sammelübersicht 188 zu Petitionen Alle Materialien aus dem Kanzleramt und, zum Teil Drucksache 18/4834 ist das ja noch im Prozess, auch vom BND werden Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- diesem Untersuchungsausschuss zugeleitet, das ist hält sich? – Die Sammelübersicht 188 ist mit den Stim- für uns eine Selbstverständlichkeit. men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Zitat Ende. Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen angenommen. Erstens. Natürlich stimmt das nicht, was sie gesagt hat. Es wird weiter vertuscht, behindert, geschwiegen Tagesordnungspunkt 34 j: und im Übrigen auch gelogen. Ich will die Dimension (B) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- noch einmal deutlich machen: Es geht hier nicht um ir- (D) tionsausschusses (2. Ausschuss) gendetwas, sondern es geht offenbar um tausendfache Grundrechtsverletzung, und Bundeskanzlerin Merkel Sammelübersicht 189 zu Petitionen sitzt und schweigt wie in den bleiernen Helmut-Kohl- Drucksache 18/4835 Zeiten. Das ist der Sache doch nicht wirklich angemes- sen nach so vielen Wochen der Debatte. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Sammelübersicht 189 ist mit den Stim- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unge- Opposition angenommen. heuerlich!) Zusatzpunkt 3: Zweitens. Genosse hatte rund drei Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- helle Tage, richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- GRÜNEN]: Ja!) neten Christian Kühn (Tübingen), Dr. Julia Verlinden, Oliver Krischer, weiterer Abgeordne- in denen er markige Ansagen machte. Im Kern sagte er: ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Kanzleramt ist gefragt und verantwortlich. – Das ist NEN richtig. Deswegen müssen wir uns jetzt die Reaktionen in dieser Spitzenkoalition darauf anschauen. Volker Heizkosten sparen – Energiewende im Gebäu- Kauder sagte – Zitat –: „So geht man nicht miteinander debereich und im Quartier voranbringen um in einer Koalition.“ Ausgerechnet in dieser Affäre Drucksachen 18/575, 18/2715 will also die CDU/CSU Benimmregeln aufstellen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) lung auf Drucksache 18/2715, den Antrag der Fraktion Aber das Ausspähen von EU-Partnern, der Wirtschaft Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/575 abzuleh- und der Bevölkerung, das wird akzeptiert, das ist okay. – nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Da stimmt doch irgendetwas nicht bei Ihnen. stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- nen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. – NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Danke schön für die Aufmerksamkeit. [CDU/CSU]: Wissen Sie da schon mehr?) 10096 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Jan Korte (A) – Ich habe noch mehr, es wird noch besser. Horst Seehofer Kollegen, egal in welcher Fraktion man ist! Das ist doch (C) mit Blick auf Sigmar Gabriel – ich darf zitieren –: wirklich unfassbar. Das entspricht nicht der Staatsverantwortung, die (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- eine Regierungspartei hat. Das geht nicht. NIS 90/DIE GRÜNEN) Abgesehen davon, dass zurzeit der sogenannten Die Krönung des Ganzen bei dem Spiel der Entmach- Staatsverantwortung in diesem Haus lediglich die Oppo- tung des Bundestages ist nun die Idee, einen Sonderer- sition gerecht wird, mittler einzusetzen. Das ist in diesem Bereich nun wirk- lich die völlige Entmachtung des Parlaments. Da will ich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- auch sagen: Das hat nichts mit Oppositions- oder Regie- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – rungsfraktion zu tun. Es sollte doch allen Abgeordneten Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ui, hier im Hause, egal wie sie politisch stehen, ein Anlie- ui, ui!) gen sein, die Rechte der Abgeordneten nicht freiwillig zeigt dieser Satz natürlich das ganze Elend in diesem aufzugeben. Wofür sitzen Sie denn eigentlich hier! Das Denken, nämlich das völlige Desinteresse für die Grund- kann doch nicht wahr sein, liebe Kolleginnen und Kolle- und Freiheitsrechte, die im Übrigen unter großen Mühen gen. und Opfern erkämpft worden sind. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Nicht von NIS 90/DIE GRÜNEN) der Linken!) Im Übrigen will ich Ihnen auch sagen: Auch die CDU/CSU kann wieder in der Opposition landen – das Das ist der eigentliche Skandal. sollten Sie mal mit bedenken! –, wenn die SPD aus dem (Beifall bei der LINKEN) Quark kommt. Angemessen wäre ja nun wirklich, wenn aufseiten der (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN und Bundesregierung irgendjemand mal Staatsverantwor- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tung übernehmen würde. Noch eine Anmerkung: Wenn Sie dem Vorschlag ( [CDU/CSU]: Ende mit dem wirklich folgen, sollten zumindest die PKGr- und Unter- Schülerreferat!) suchungsausschussmitglieder der SPD und der CDU/ CSU ihre Jobs im PKGr gleich freiwillig aufgeben; sie Aber das macht keiner. Das wäre doch wohl angemessen haben dann ja nichts mehr zu tun an relevanter Stelle. So und nicht so ein Geschwätz aus Bayern. konsequent sollten Sie sein! Dann können Sie gleich (B) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – noch konsequenter sein – das wäre etwas Neues – und (D) Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Wie oft wa- am besten gleich zum Sonderermittler ren Sie im Ausschuss? Wie oft waren Sie da machen. nach der Wahl?) (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Ganze hat nun wirklich eine sehr grundsätzliche, demokratietheoretische Dimension. Deswegen will ich Dann wird diesem Irrsinn nämlich zur Kenntlichkeit ver- zum Dritten etwas zum Umgang mit dem Parlament und holfen. der Öffentlichkeit sagen. Sie beantworten Anfragen Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. – das ist übrigens in dieser Legislaturperiode von Ihnen Ich hatte ja bei der SPD gedacht: Okay, das sozialdemo- wirklich auf die Spitze getrieben worden – entweder gar kratische Gewissen regt sich jetzt doch noch ganz kurz; nicht oder wissentlich falsch. Beides geht natürlich Gabriel redete vom Rückgratzeigen. Dieses Rückgrat- nicht. zeigen gab er allerdings noch schneller auf als Heiko (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Maas seinen Widerstand gegen die Vorratsdatenspeiche- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rung. Es war alles Theater, Taktik. Vor allem war es rückgratlos von der SPD. Wie können Sie das nach dem Das No-Spy-Abkommen war ein reiner Wahlkampf- Affentheater, das Sie hier aufgeführt haben, mitmachen? gag – und Sie verkaufen das hier als eine große Tat! Ich will noch einmal darauf aufmerksam machen: Es gibt (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und mittlerweile, zumindest unter den Innenpolitikern, wenn des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sie miteinander, mit dem Ausschusssekretariat oder mit Journalisten telefonieren, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank, Herr Kollege. Das war das Ende der (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Mit fünf Minuten. Journalisten telefonieren Sie viel! Das stimmt!) Jan Korte (DIE LINKE): die Redewendung: nicht am Telefon. Das ist mittlerweile Wir müssen das jede Woche hier machen, bei dem, eine Standardaussage bei Telefonaten. Es kann doch was hier abläuft. nicht allen Ernstes von Ihnen für normal befunden wer- (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) den, dass man nicht mehr frei am Telefon kommunizie- ren kann! Das muss aufhören, liebe Kolleginnen und Nur noch einen Punkt will ich sagen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10097

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Sie schlagen seit Tagen und Wochen die Trommeln, dass (C) Ich bin schon immer großzügig. einem die Ohren dröhnen. (Jan Korte [DIE LINKE]: Gut so!) Jan Korte (DIE LINKE): Ein Satz wirklich noch: Es gibt die Gesetzeslage der Ganz zu Beginn – da lag noch gar nichts vor – haben Sie Geheimhaltung, zum Beispiel aus Gründen des Staats- „Verrat“ und dann „Landesverrat“ gerufen. Jetzt können wohls. Das kann man kritisch sehen, es kann aber auch Sie nur noch Hochverrat, Lüge und Rücktritt rufen. einmal sinnvoll sein. Geheimhaltung ist allerdings nicht (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE dafür da, das Regierungswohl zu wahren und Fehler der GRÜNEN]: Gut, dass Sie es wiederholen! – Regierung zu vertuschen. Das ist Ihr Verständnis, aber Jan Korte [DIE LINKE]: Haben Sie etwas zu nicht unseres. Machen Sie endlich Ihren Job! Und, Frau widerlegen?) Bundeskanzlerin, erfüllen Sie vor allem endlich Ihren Amtseid! Bei all diesem – Sie haben sich aufgeblasen und sind lauter und lauter geworden – Vielen Dank. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Ulla Schmidt: GRÜNEN]: Sie können das alles stoppen, in- Vielen Dank. dem Sie die Liste herausgeben!) Die zukünftigen Rednerinnen und Redner halten dann gibt es eine seltsame Disproportionalität zwischen der bitte die Redezeit ein. Wir haben uns darauf geeinigt, Lautstärke der Vorwürfe und den Fakten, die Sie tatsäch- dass wir fünf Minuten Redezeit für jeden in der Aktuel- lich in der Hand haben. Das ist nämlich nichts. len Stunde haben. Wenn jeder eine Minute überzieht wie (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Göring- der Herr Kollege Korte, dann wird das unseren ganzen Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Zeitplan ins Wanken bringen. können Sie alles stoppen! – Jan Korte [DIE Jetzt hat das Wort der Kollege Thomas Strobl, CDU/ LINKE]: Sagen Sie mal was zur Sache!) CSU-Fraktion. Vielleicht nutzen Sie ja die Pfingstfeiertage, (Beifall bei der CDU/CSU) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pfingsten kommt der Geist der Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Wahrheit!) (B) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (D) gen! Herr Kollege Korte, jetzt haben Sie so viel von um sich ein bisschen abzukühlen; denn Sie verkennen ei- Staatsverantwortung geredet. nes: Das sind komplexe Sachverhalte, die die innere und die äußere Sicherheit unseres Staates und die Sicherheit (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE unserer Bürgerinnen und Bürger berühren, GRÜNEN]: Das können Sie ganz schwer hö- ren!) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die Wahrheit, Herr Manchmal habe ich den Eindruck, dass Ihr Verständnis Strobl!) von Staatsverantwortung vor allem darin besteht, dass die von Parlamentariern selbst gesetzten Regeln, etwa und es ist besser, mit solchen Themen nicht zu spielen, bezogen auf die Vertraulichkeit von Sitzungen, ständig sondern sich ernsthaft und seriös damit zu beschäftigen, durchbrochen und Dinge durchgestochen werden, wie das diese Bundesregierung und die Koalition aus SPD und CDU/CSU auch tun. (Jan Korte [DIE LINKE]: Von wem denn?) Wenn Sie sich etwas beruhigt haben, dann können wir die besser in den Gremien blieben. Das ist Ihr Verständ- uns auch ganz gerne darüber unterhalten: Was dürfen un- nis von Staatsverantwortung! sere Dienste? Welche gesetzlichen Grundlagen für un- (Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE sere Dienste müssen wir ändern? LINKE]: Was sind Sie für ein Parlamentarier? (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Ungeheuerlich! – Weiterer Zuruf von der LIN- GRÜNEN]: Das fällt Ihnen früh ein! Sie regie- KEN: Das ist eine Frechheit! – Dr. Konstantin ren seit zehn Jahren!) von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine ungeheuerliche Unterstellung! Schä- – Das ist gar nichts Neues; das haben wir schon oft ge- men Sie sich als Parlamentarier! Was sind Sie tan. – für ein Parlamentarier? Ungeheuerlich!) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Sie haben sich hier ereifert, weil der Vorschlag für ei- GRÜNEN]: Sie haben nichts gemacht!) nen Sonderbeauftragten gemacht worden ist. Im PKGr ist dazu noch nichts beschlossen. Wo müssen wir das Recht anpassen? Wir können auch eine Debatte darüber führen: Müssen wir unserer Polizei (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE und unseren Diensten die Möglichkeit geben, mit weite- GRÜNEN]: Sind Sie jetzt auch dagegen?) rer Technik zu arbeiten? Was für Regeln gelten? 10098 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Thomas Strobl (Heilbronn) (A) Ich erneuere mein Angebot und sage: Lassen Sie uns Thema! – Dr. Konstantin von Notz [BÜND- (C) darüber reden, ob wir eine klare Rechtsgrundlage für die NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Liste, Herr strategische Fernmeldeüberwachung des BND brauchen. Strobl!) Sie sind hier eingeladen, mitzudiskutieren, Da möchte ich für die Unionsfraktion eine sehr klare (Jan Korte [DIE LINKE]: Ich diskutiere auch, Antwort geben: wenn ich nicht eingeladen bin!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE sodass wir gemeinsam vernünftige Regeln finden. GRÜNEN]: Die Liste, Herr Strobl!) Das gilt auch für die parlamentarische Kontrolle. Die Angesichts der Bedrohungen durch die Terrororganisa- parlamentarische Kontrolle, das PKGr, haben wir in der tion „Islamischer Staat“, angesichts der Lagen in Syrien, Vergangenheit durch mehr Personal und eine neue Ge- im Irak, in der Ukraine und im Nahen Osten, angesichts schäftsordnung durchaus optimiert. der Gefahren durch den internationalen Terrorismus (Jan Korte [DIE LINKE]: Na ja!) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Hier gibt es weitere Vorschläge, zum Beispiel den Vor- GRÜNEN]: Was ist mit der Liste, Herr schlag zur Einsetzung eines Nachrichtendienstbeauftrag- Strobl?) ten, der sich hauptamtlich, ständig und mit weitreichen- brauchen wir die Arbeit unserer Polizistinnen und Poli- den Kompetenzen im Auftrag des PKGr mit diesen zisten. Wir brauchen auch die Arbeit unserer Dienste, Dingen beschäftigt. Ich finde, über all diese Verbesse- auch die internationale Zusammenarbeit unserer Dienste rungen können wir doch in aller Ruhe reden. mit anderen Diensten. Im Übrigen können wir vielleicht auch einmal da- (Beifall bei der CDU/CSU) rüber reden, was eigentlich alles geheim ist. Ich habe manchmal den Eindruck, dass in manchen Behörden alles geheim ist. Selbst die Essensmarken kommen in Vizepräsidentin Ulla Schmidt: einer Mappe an, die mit „VS-Vertraulich“ gestempelt ist. Herr Kollege Strobl. Dabei tritt die seltsame Kuriosität auf, dass alles, was ge- heim ist, am Ende des Tages öffentlich wird. Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, stehen inso- Vielleicht sprechen wir auch einmal darüber, wie wir fern hinter der Arbeit unserer Polizistinnen und Polizis- zu mehr Transparenz in unseren Diensten kommen. ten und unserer Dienste, (Jan Korte [DIE LINKE]: Das sind Ablen- (B) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) kungsmanöver!) NEN]: Kein Wort zu der Selektorenliste!) Eine hundertprozentige Transparenz kann es bei Nach- richtendiensten selbstverständlich nie geben. Vielleicht dass wir sie nicht fortwährend von Leuten diskreditieren kann es aber mehr Transparenz geben. lassen, die vergangenheitsbedingt ein Problem mit Poli- zei und Diensten haben. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Essensmarken stehen nicht (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom auf der Selektorenliste! Geist der Wahrheit!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)

– Frau Kollegin Göring-Eckardt, es wäre indessen schon Vizepräsidentin Ulla Schmidt: gut, wenn die Dinge, die wirklich geheim sein müssen, Nächster Redner ist der Kollege Dr. Konstantin von dann auch geheim bleiben, und wenn sie auch in den Notz, Bündnis 90/Die Grünen. parlamentarischen Gremien geheim bleiben, wenn die Parlamentarier vereinbaren, dass sie geheim bleiben müssen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Göring- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An Herren! Wenn ich Sie so höre, Herr Strobl, möchte ich uns liegt es nicht!) doch mal zum Thema reden. Ich fange mit einem Zitat Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie aus dem Staatsrechtskommentar von Maunz/Dürig an, sind eingeladen, mit uns eine Debatte darüber zu führen: der auf das Bundesverfassungsgericht verweist – das in- Brauchen wir unsere Dienste? Brauchen wir die Polizei? teressiert offensichtlich auch den Kollegen Mayer –: (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Wie GRÜNEN]: Brauchen wir! Die Debatte führen alles, was Sie sagen! – Heiterkeit bei der CDU/ wir nicht! Wenn Sie sie führen wollen, wir CSU) führen sie nicht!) Untersuchungsverfahren ermöglichen es dem Parlament, Wie sind die Aufgaben? … unabhängig von Regierung, Behörden und Ge- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE richten mit hoheitlichen Mitteln, wie sie sonst nur GRÜNEN]: Reden Sie doch einmal zum Gerichten und besonderen Behörden zur Verfügung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10099

Dr. Konstantin von Notz (A) stehen, selbständig die Sachverhalte zu prüfen, die Sie haben sich nicht gekümmert, es wurde nicht nachge- (C) sie in Erfüllung ihres Verfassungsauftrags als Ver- fragt, Sie haben nicht nachgehakt, es wurde nichts ge- tretung des Volkes für aufklärungsbedürftig halten. prüft. Dieses Durchwurschteln ist der erklärte Politikstil der Bundeskanzlerin. Das fällt Ihnen nun voll auf die (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Bis Füße, und das schadet dem Ansehen Deutschlands in der jetzt war alles richtig!) Welt. Das ist das Versagen von Frau Merkel, und das So sehen wir das, meine Damen und Herren. macht diese Affäre auch zu ihrer Affäre. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Thomas Strobl [Heil- Uns geht es nicht um Diffamierung, nicht um Skandali- bronn] [CDU/CSU]: Nur darum geht es Ihnen sierung, nicht um schrille Töne, wie wir sie in den letz- ja!) ten Wochen von Union und SPD hören; Sie hören sie von uns nicht. Wir klären auf und suchen die Verant- All dies klärt der Untersuchungsausschuss sehr er- wortlichen, meine Damen und Herren. folgreich auf. Deswegen brauchen wir auch keinen Son- derermittler. Wir brauchen die Liste, die hier das Thema (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ist, Herr Strobl. Sowohl die Kanzlerin als auch der Vize- Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: kanzler – der Kollege Korte hat es gesagt – haben öffent- Ströbele! Gezielte Irreführung!) lich zugesichert, dass wir diese Liste bekommen. Es geht Eines können wir allerdings heute mit Sicherheit sa- um die Rechte des Parlaments, und die sind für uns nicht gen, Herr Kollege Strobl – wenn Sie mal im Ausschuss verhandelbar. vorbeischauen, werden Sie es auch mitbekommen –: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zehn Jahre wurde bei der Fach- und Rechtsaufsicht des und bei der LINKEN) Bundeskanzleramtes über den Auslandsgeheimdienst geschlampt. Die rechtswidrige Übergriffigkeit der NSA Diese verfassungsrechtlich verbrieften Rechte kann man in der Kooperation ist seit 2005 bekannt. Man kannte die auch nicht durch Diffamierungen und Unterstellungen, Probleme mit Selektoren wie „Eurocopter“ und Herr Strobl, kleinreden oder kleinmachen. Geheimhal- „EADS“, bei Inhalts- und Metadaten, die mangelnde tung ist in bestimmten Fällen total angezeigt – Sie wer- Rechtssicherheit im Hinblick auf G 10 und den völlig den hier niemanden finden, der dem widerspricht –; unzureichenden Schutz deutscher und europäischer Inte- (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Gut ressen. Aber allerspätestens seit den Snowden-Veröffent- wäre, wenn man sich auch daran hielte!) lichungen im Sommer 2013 unterließen Sie vorsätzlich (B) notwendige Korrekturen bei der Kooperation, und das aber Transparenz ist auch ein hohes Gut. Die Geheim- (D) fällt voll in die Verantwortung der Bundeskanzlerin, haltung ist die Ausnahme, nicht die Regel. Wenn hier meine Damen und Herren. über WikiLeaks geredet wird, muss man sagen: Der Vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gang war nicht in Ordnung. Aber war es ein Skandal, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) wie Herr Kauder es gesagt hat? Ist es ein Skandal, wenn Protokolle eines öffentlichen Teils einer Sitzung eines Die Manipulation der Wahrheit – wir nennen es ein- dem Öffentlichkeitsgrundsatz verpflichteten Gremiums mal so – im Wahlkampf durch Herrn Pofalla, Herrn öffentlich werden? Oder versuchen Sie einfach, auf Seibert und eben auch Frau Merkel bezüglich des No- Kosten des Parlaments abzulenken, wenn Sie mit dieser Spy-Abkommens fällt jetzt völlig zu Recht auf sie zu- hintertriebenen Art argumentieren? rück und kratzt an ihrer Glaubwürdigkeit. Aber die Irreführung hat System: Am 24. Oktober 2013, nachdem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es um ihr eigenes Handy ging, sagte Frau Merkel den in- und bei der LINKEN) zwischen sehr bekannten Satz: „Ausspähen unter Freun- Das ist mein starker Verdacht. Sie reden nicht zur Sache. den, das geht gar nicht.“ Erst danach, nachdem sie das in Sie lenken ab. Wo sind Ihre Aussagen zur Nichtinforma- die Kamera gesagt hat, gab man im BND die Parole aus: tion und Umgehung des zuständigen Parlamentarischen Ausspähen von europäischen Freunden, das lassen wir Kontrollgremiums, zum Zugriff auf die Glasfaserkabel zukünftig mal lieber. – Das muss man sich einmal vor- in Frankfurt ohne ausreichende Gesetzesgrundlage, zu stellen! Das war keine Aufklärung; das dokumentiert Zehntausenden von illegalen Suchbegriffen, mit denen schlicht die mangelnde Führung und Aufsicht der offenbar Verbündete und Freunde in Europa mittels Bundeskanzlerin in Bezug auf den Geheimdienst, meine BND ausgespäht wurden? Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Ulla Schmidt: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Herr Kollege, denken Sie an die Zeit. Trotz der eindeutigen Erkenntnisse dank Edward Snowden unterließ sie es nach der Bundestagswahl und Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE nach der Leistung des Amtseids, die deutschen und euro- GRÜNEN): päischen Interessen vor rechtswidriger Spionage zu Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. – Dazu sa- schützen. Darum geht es, Herr Strobl: nicht um Terroris- gen Sie nichts. Das sind die Dinge, um die wir uns hier musbekämpfung, sondern um rechtswidrige Spionage. – als Parlamentarier kümmern müssen. 10100 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Konstantin von Notz (A) Ich sage Ihnen: Überwachung ist ein schleichendes Wir haben uns heute in der Beratungssitzung des (C) Gift für eine Demokratie und für einen Rechtsstaat, wie Ausschusses über alle Fraktionen hinweg auf ein ge- Deutschland es ist. Wir müssen sie als Parlamentarier meinsames Zeugenprogramm bis zur Sommerpause ver- gemeinsam bekämpfen. ständigt. Ich sage sehr deutlich: Es ist sehr unbefriedi- gend, wenn wir die Zeugen befragen müssen, ohne Ganz herzlichen Dank. eigentlich zu wissen, was in dieser Selektorenliste genau (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN steht. und bei der LINKEN) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! So ist es!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Deswegen sagt meine Fraktion sehr deutlich: Wir brau- Vielen Dank. – Nächster Redner ist Christian Flisek, chen unverzüglich in geeigneter Weise Einblick in diese SPD-Fraktion. Listen. Wir brauchen diesen Einblick, damit wir mit (Beifall bei der SPD) Substanz unsere Arbeit machen können. Das ist wichtig. Ich glaube, mittlerweile wurden ausreichend Signale ge- setzt. Ich denke, auch das Kanzleramt hat dies verstan- Christian Flisek (SPD): den. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle- ginnen und Kollegen! Die Arbeit des Untersuchungsaus- Ich sage auch: Wenn man das erst einmal akzeptiert, schusses genießt seit einigen Wochen wieder erhöhte dann wäre es auch schön, wenn man einen zweiten Aufmerksamkeit. Das zeigt sich auch daran, dass wir Schritt akzeptierte: dass es dafür eben nicht nur ein, son- jetzt in fast jeder Sitzungswoche eine Aktuelle Stunde dern mehrere Verfahren gibt, die in Betracht kommen. dazu haben. Ich denke, das ist gut so, weil wir hier öf- (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) fentlich debattieren. Man kann eine solche Aktuelle Stunde aber auch für die üblichen Reflexe und Rituale Ein Beispiel ist das Treptow-Verfahren, bei dem die nutzen. Dazu sagen ich, Herr Korte und Herr von Notz: Obleute Einblick nehmen können; aber, Herr Kollege Damit wird man der Sache nicht gerecht, Korte, es könnte auch ein Ermittlungsbeauftragter sein. Das ist keine Erfindung, die wir jetzt machen, sondern (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ein bewährtes Aufklärungsmittel aus der Vergangenheit, weil sie in Wahrheit viel komplexer ist. Das wissen Sie mehrfach im Parlamentarischen Kontrollgremium prak- auch. Es ist eine Abwägungsentscheidung zu treffen tiziert. (B) zwischen dem elementaren Aufklärungsinteresse dieses (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) Hauses, seiner Abgeordneten, des Untersuchungsaus- schusses und des PKGr einerseits und dem Staatswohl- Sie haben in diesem Zusammenhang von einer Ent- interesse der Bundesrepublik Deutschland, dem Inte- machtung des Parlaments gesprochen. Dadurch werden resse an einer funktionierenden Partnerschaft mit den die Erfolge der vergangenen Zeit, in der ein solches In- Vereinigten Staaten und einer funktionierenden nach- strument eingesetzt worden ist, mit Füßen getreten. richtendienstlichen Kooperation mit amerikanischen Ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) heimdiensten andererseits. Ich sage noch eines dazu: Wenn wir uns auf die Ein- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) setzung eines solchen Ermittlungsbeauftragten einigen Wir sind darauf angewiesen in Zeiten internationaler ter- – ich sehe sehr deutlich, dass das Kanzleramt zusammen roristischer Bedrohung. Der Unterschied ist der: Wir mit dem Parlament das Signal setzt, an einer Lösung zu wollen diese Kooperation auf den Boden der Verfassung arbeiten, und begrüße das ausdrücklich –, dann muss das holen – dafür gibt es diesen Ausschuss –, wir wollen nicht der letzte Schritt sein; aber es ist wichtig, dass wir Missstände, die es vielleicht gegeben hat, aufklären, und zügig einen ersten Schritt machen. wir wollen gemeinsam dafür sorgen, dass das in Zukunft (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – auch abgestellt wird. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss der nächste Schritt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommen!) der CDU/CSU) Es muss nicht der letzte Schritt sein, weil wir uns ab- Der Untersuchungsausschuss befragt seit zwei Wo- hängig vom Ausgang des Ermittlungsergebnisses dieses chen Zeugen aus den Reihen des Bundesnachrichten- Beauftragten selbstverständlich als Parlamentarier alles dienstes zu dem Komplex Selektoren. Wir reagieren da- Weitere vorbehalten. Insofern sage ich: Überlegen Sie mit auf die sehr schwerwiegenden, massiven Vorwürfe, sich bitte noch einmal Ihre Position, Ihren Standpunkt die derzeit in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Es und die Äußerungen, die in diesem Zusammenhang ge- heißt, dass eventuell mithilfe des BND NSA-Selektoren fallen sind. Ich denke, uns ist daran gelegen, dass wir eingespeist worden sind, dass Suchbegriffe verwendet hierbei insgesamt sehr zügig weiterkommen. worden sind, um beispielsweise Wirtschaftsspionage zu betreiben oder europäische Partner, Institutionen und Lassen Sie mich noch einen Satz zum Schluss sagen. Persönlichkeiten auszuspionieren. Das sind schwerwie- Wir als SPD sind bereits jetzt davon überzeugt, dass un- gende Vorwürfe. Darauf reagieren wir. abhängig davon, wie es mit den Selektoren weitergeht, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10101

Christian Flisek (A) dringender Regelungsbedarf beim BND-Gesetz und Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der (C) beim G 10-Gesetz besteht. Wir sind der Überzeugung, Opposition, Sie sind es doch, die hier mit Unterstellun- dass hier zum Teil mit Mitteln des 21. Jahrhunderts gear- gen, Mutmaßungen und Verdächtigungen, die überhaupt beitet wird, diese Regelungen jedoch oft noch aus dem nicht belegt und bewiesen sind, arbeiten. letzten Jahrhundert stammen – ich sage es einmal über- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin spitzt –, aus Zeiten des Kalten Krieges. von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Denken zwischen Freund und Feind, zwischen Kommen Sie mal in den Ausschuss, dann kön- Inländern und Ausländern macht keinen Sinn mehr; die- nen Sie das nachvollziehen!) ser festen Überzeugung bin ich. Wir müssen zwischen Ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, dass wir gefährlichen und ungefährlichen Personen unterschei- den folgenden Dreiklang einhalten sollten: Erst einmal den; diese gibt es sowohl im Inland als auch im Ausland. aufklären, Das muss der Ansatz des Denkens und Arbeitens unserer Nachrichtendienste sein. Ich denke, wir müssen uns ge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE meinsam an die Arbeit machen, verfassungskonforme GRÜNEN]: Ja! Aber wir bekommen ja keine rechtsstaatliche Rechtsgrundlagen für die Routineüber- Liste! Wie sollen wir da aufklären? – Katrin wachung zu schaffen und dafür zu sorgen, dass sie nicht Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- im Schmuddelbereich, im Graubereich weiterexistiert. NEN]: Wir würden ja gern aufklären!) Wir müssen sie einer effizienten parlamentarischen Kon- dann bewerten und danach die erforderlichen Schlussfol- trolle zuführen. Das ist es, worauf wir uns konzentrieren gerungen ziehen. Aber was machen Sie? sollten, und ich bin jederzeit gern bereit, mit Ihnen zu diskutieren. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie sollen wir das denn machen? Eine Schlussbemerkung noch: Wir sollten uns – egal, Wie sollen wir denn aufklären, wenn die Liste auf welcher Seite des Hauses wir sitzen – nicht gegensei- nicht da ist?) tig absprechen, dass wir für das Staatswohl eintreten. Sie stellen sofort die Bewertungen auf und fordern ir- (Jan Korte [DIE LINKE]: Ich habe Seehofer gendwelche Konsequenzen, ohne zuerst einmal eine ob- zitiert!) jektive, lückenlose und vollständige Aufklärung stattfin- den zu lassen. Wir arbeiten hier, wenn auch manchmal im Dissens, in- tensiv in den Debatten. Ich finde es sehr wichtig, dass (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Göring- wir die Arbeit des anderen achten; denn wir tragen zu- Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie (B) sammen mit der Bundesregierung zum Staatswohl bei. soll man denn aufklären, wenn die Liste nicht (D) da ist?) In diesem Sinne herzlichen Dank. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sind momentan in den entscheidenden Gremien, sowohl im Untersuchungsausschuss als auch im Parlamentari- schen Kontrollgremium, intensiv dabei, diese Angele- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: genheit aufzuklären. Ich stehe hier auch gar nicht hintan, Vielen Dank. – Nächster Redner ist Stephan Mayer zuzugestehen: Natürlich sind beim BND Fehler gemacht von der CDU/CSU-Fraktion. worden. Aber – ich habe dies auch schon das letzte Mal gesagt – nicht jeder Fehler ist automatisch ein Skandal. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deswegen geht es jetzt zunächst einmal darum, kom- plett, umfassend und vollständig aufzuklären. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- GRÜNEN]: Liste her!) ginnen und sehr geehrte Kollegen! Wie in dem schönen Spielfilm Und täglich grüßt das Murmeltier beschäfti- Diesbezüglich bin ich auch der Überzeugung, dass es gen wir uns auch in dieser Sitzungswoche wieder mit un- hilfreich wäre, wenn wir sowohl im Parlamentarischen seren Nachrichtendiensten. Kontrollgremium als auch im Untersuchungsausschuss Einblick in die Selektorenliste bekommen. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist schlimm genug! – Weite- Jetzt wurde der konkrete Vorschlag zur Einsetzung ei- rer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: nes Ermittlungsbeauftragten oder eines Sachverständi- Wenn Sie das Problem nicht lösen!) gen gemacht. Es gibt aktuell ein hervorragendes Beispiel dafür, wie sich das Instrument des Sachverständigen im Herr Kollege von Notz, ich dachte, ich höre nicht Parlamentarischen Kontrollgremium bewährt hat. Einige recht, als ich vernahm, dass Sie so tun, als ob Sie in Kollegen, die davon wissen, sind heute unter uns. Wir keiner Weise zur Skandalisierung dieser Angelegenheit haben gestern den Bericht des Sachverständigen, des beitragen, sondern Ihnen allein an objektiver, nüchterner früheren Kollegen Jerzy Montag, zum Fall „Corelli“ be- Aufklärung gelegen ist und Sie in keiner Weise hier voll- kommen. kommen überziehen und übertreiben. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN]: Ja!) 10102 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Stephan Mayer (Altötting) (A) Ich sage jetzt nichts zur Sache, weil wir uns zu einem Diese Verhandlungen haben sich bis weit in das Jahr (C) späteren Zeitpunkt dazu einlassen werden. Aber – ich 2014 gezogen. Deswegen stimmt das, was Sie behaup- glaube, so viel kann man schon sagen – dieses Instru- ten, einfach nicht. Sie versuchen, hier den Eindruck zu ment des Sachverständigen hat sich in diesem konkreten vermitteln, als hätte es Wahlmanipulation gegeben und Fall absolut bewährt. Ich glaube, da sind wir uns über seitens der Bundesregierung, egal von wem, wären hier Fraktionsgrenzen hinweg einig. falsche Aussagen getroffen worden. Das ist schlichtweg unzutreffend. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Göring- Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Denn keiner von uns, egal welcher Fraktion er angehört, glauben Sie doch selber nicht, Herr Mayer!) hätte in den vergangenen sechs Monaten so viel Zeit und Muße gehabt, sich so intensiv, akribisch und akkurat mit Ich habe zwar schon zu Beginn gesagt, dass wir diese dem Fall des ehemaligen V-Manns „Corelli“ zu beschäf- Debatten mittlerweile inflationär führen, aber ich habe tigen, wie es der frühere Kollege Montag getan hat. trotzdem die Hoffnung noch nicht verloren oder aufge- geben, dass derartige Aktuelle Stunden wie die heutige (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE vielleicht mit dazu beitragen, das Bewusstsein sowohl GRÜNEN]: Die Abgeordneten haben die Ak- hier im Parlament als auch in der Öffentlichkeit zu ten auch eingesehen!) schärfen, dass wir eine effektive parlamentarische Kon- Es gibt also positive Beispiele eines Sachverständigen trolle unserer Nachrichtendienste benötigen, dass es aber im Parlamentarischen Kontrollgremium. Ich könnte mir auch wichtig ist, dass wir internationale Kooperationen dies durchaus auch in diesem Fall hinsichtlich der Ein- haben, und dass dies im Sinne der Sicherheit Deutsch- sichtnahme in die Selektorenliste vorstellen. lands und deutscher Bürger im Inland und im Ausland ist. Vielleicht wird dadurch auch ein stärkeres Bewusst- Wir tun, glaube ich, wirklich gut daran, uns an Recht sein in der Bevölkerung geschaffen, dass wir effektive und Gesetz zu halten und die Bundesregierung hier jetzt und gut aufgestellte Nachrichtendienste benötigen. ihre Arbeit machen zu lassen. Derzeit läuft, wie in dem Abkommen von 1968 vorgesehen, das Konsultations- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. verfahren zwischen der Bundesregierung und der US- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Regierung, bei dem es darum geht, die Zustimmung der neten der SPD) US-Regierung hinsichtlich der Weitergabe der Selekto- renliste einzuholen. Bevor diese Antwort der USA nicht Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (B) da ist, ist es vollkommen verfehlt und populistisch, hier (D) irgendwelche Forderungen aufzustellen. Jetzt lassen Sie Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. André Hahn, uns doch erst einmal sehen, wie die US-Amerikaner ant- Fraktion Die Linke. worten, (Beifall bei der LINKEN) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die antworten gar nicht!) Dr. André Hahn (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigent- und, wenn ja, in welcher Form. Dann kann man entspre- lich ist es eine Schande und auch ein Armutszeugnis für chend weitersehen. die Bundesregierung, dass diese Aktuelle Stunde über- (Beifall bei der CDU/CSU) haupt nötig ist. Im BND-NSA-Skandal kommen fast täglich neue Fakten ans Licht. Die ganze Dimension der Sowohl von Herrn von Notz als auch vom Kollegen Vorgänge ist noch immer nicht absehbar. Bundesregie- Korte wurde jetzt wieder die Vermutung in den Raum rung und Koalition betonen seit Wochen, wie nötig Auf- gestellt, die Bundesregierung hätte Wahlbetrug began- klärung sei, auch heute wieder. gen; man geht ja mittlerweile inflationär mit derartigen Begriffen um. Die Realität sieht leider völlig anders aus. Was wir er- leben, ist Mauern, Hinhalten, die Schwärzung von Ak- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ten, das Verhindern von Sondersitzungen des NSA- GRÜNEN]: Manipulation!) Untersuchungsausschusses zur Vernehmung der verant- wortlichen Kanzleramtsminister und jetzt sogar die kom- – Oder Sie sprechen von Manipulation. – Sie sagen, dass plette Verweigerung der Herausgabe ganz zentraler vor der Bundestagswahl 2013 der Eindruck erweckt Beweismittel für Rechts- und Vertragsbrüche der US- wurde, es gäbe ein konkretes Angebot der USA, über ein Geheimdienste. sogenanntes No-Spy-Abkommen zu verhandeln. Ich möchte hier ausdrücklich betonen: Es gab ganz konkrete Dieser Rechtsbruch, der inzwischen von niemandem Verhandlungen zwischen der NSA und dem BND auf mehr bestritten wird – ich hoffe, auch von Ihnen nicht, höchster Ebene zwischen General Alexander und dem Herr Sensburg –, muss Konsequenzen haben. Wir kön- BND-Präsidenten Schindler. nen aber nur dann vollständig aufklären, wenn wir die Akten haben. Deshalb müssen sie auf den Tisch. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht über ein No-Spy-Ab- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten kommen!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10103

Dr. André Hahn (A) Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, die Interes- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (C) sen der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zu wah- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ren und zu schützen. Die Bundesregierung behauptet, sie In den letzten Tagen hat sich vor allem die SPD im- habe von den amerikanischen Ausspähaktivitäten nichts mer wieder als Vorreiter der Aufklärung geriert. Nicht gewusst, oder aber, wenn sie doch Kenntnis darüber nur die Generalsekretärin, sondern auch der Parteivorsit- hatte, wurde nichts dagegen unternommen. Ich will gar zende und Vizekanzler haben wiederholt die Herausgabe nicht wichten, was schlimmer wäre. Ich sage nur für die der Listen mit den Suchbegriffen gefordert. Herr Gabriel Linke ganz klar: Beides ist gleichermaßen unverantwort- sprach sogar von einer möglichen Staatsaffäre und da- lich und muss Konsequenzen nach sich ziehen. von, dass es keine Unterwürfigkeit gegenüber den USA (Beifall bei der LINKEN) geben dürfe und man gerade auch in dieser Angelegen- heit Rückgrat zeigen muss. Der Mann hat absolut recht. Denn der im Raum stehende Vorwurf ist schier unglaub- Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lich, meine Damen und Herren, und nach allem, was wir dann hören Sie doch endlich auf mit der Unterwürfig- wissen, stimmt er. Im Kern ist er zutreffend. keit! Zeigen Sie Rückgrat, und sorgen Sie in der Koali- Der BND hat dem amerikanischen Geheimdienst tion dafür, dass die Listen herausgegeben werden! NSA Zugang zu deutschen Satelliten wie auch Telekom- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten munikationskabelpunkten in Deutschland verschafft, da- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bei auch offenkundig die G 10-Kommission des Bundes- tages, die Abhörmaßnahmen genehmigen muss, bewusst Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung. Ein Er- getäuscht, und dann auch noch von den Amerikanern ge- mittlungsbeauftragter kann weder die Arbeit des Unter- wünschte Suchkriterien, die sogenannten Selektoren, suchungsausschusses noch des Kontrollgremiums er- über Jahre hinweg ohne wirkungsvolle Kontrolle in die setzen. Es sind die gewählten Volksvertreter, die die Überwachungsmaschinerie eingespeist. Das führte dazu, Bundesregierung zu kontrollieren haben. Ein Sonder- dass Monat für Monat millionenfach Telefonate, SMS- ermittler kann bestenfalls ergänzend bzw. unterstützend und Mail-Verkehre ausgeforscht und auch sogenannte tätig werden, aber nicht die Rechte der Abgeordneten Metadaten über erfolgte Kommunikationskontakte ge- aushebeln. sammelt und ohne genaue Prüfung an die NSA weiterge- Herr Mayer, Sie haben auf das Kontrollgremium hin- leitet wurden. gewiesen. Sie haben aber eines vergessen zu sagen: Dort hatten die Abgeordneten den Zugang zu den kompletten Auch wenn es noch zahlreiche ungeklärte Fragen Unterlagen, also zu den Akten des Bundesamtes für Ver- (B) gibt, ist es vielleicht ein kleiner Lichtblick gewesen, dass fassungsschutz. Wir haben den Sonderermittler Jerzy (D) es beim BND dann doch einmal irgendjemandem aufge- Montag dafür eingesetzt, dass er uns systematisch zuar- fallen ist, dass bei dieser angeblich unverzichtbaren Ko- beitet. Aber wir hatten den Zugang zu den Akten, und operation etwas schiefläuft. Man hat mit Suchbegriffen das muss auch für die Unterlagen des Bundesnachrich- festgestellt, wie viele unzulässige illegale Selektoren tendienstes gelten. eingespeist wurden, und man hat dann sogar eine Ableh- nungsdatei eingerichtet. Spätestens ab dem Jahr 2008 (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sind die Sperrungen also festgehalten worden. Um genau des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) diese Listen geht es jetzt. Es handelt sich ganz klar um Ein allerletzter Satz: Herr Strobl, der Vorwurf an uns, Unterlagen des BND. Deshalb unterliegen sie auch der geheime Unterlagen weitergegeben zu haben, ist absurd. parlamentarischen Kontrolle. Wir brauchen die Ameri- Wir lassen uns von Ihnen keine Straftaten unterstellen – kaner nicht um Erlaubnis zu fragen. Es ist Vertuschung damit das ganz klar ist. und Verzögerung, was Sie hier betreiben. (Beifall bei der LINKEN – Thomas Strobl (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten [Heilbronn] [CDU/CSU]: Da haben Sie als des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausschussvorsitzender eine besondere Auf- gabe!) Deshalb sage ich ganz klar: Wir werden uns nicht mit halbseidenen Informationen abspeisen lassen. Wir wol- Vizepräsidentin Claudia Roth: len im Kontrollgremium wie im Untersuchungsaus- Vielen Dank, Kollege Hahn. – Einen schönen Nach- schuss die Vorlage der vollständigen Listen. Es geht da- mittag von mir, liebe Kolleginnen und Kollegen und bei nicht nur um Grundrechtsträger, sondern wohl auch liebe Gäste auf den Tribünen! und vor allem um europäische Politiker, Regierungen, Institutionen sowie Wirtschaftsunternehmen, die über Nächster Redner in der Debatte: Dr. Jens Jahre hinweg ausgespäht worden sind. Zimmermann für die SPD. Wenn die Bundesregierung wirklich die Einsicht in (Beifall bei der SPD) diese Liste verweigert, dann unterläuft sie den Einset- zungsbeschluss des Untersuchungsausschusses, der in Dr. Jens Zimmermann (SPD): diesem Haus einstimmig gefasst worden ist. Deshalb ha- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und ben wir auch alle eine Verantwortung, die Bundesregie- Herren! Lieber Herr Hahn, Sie haben eben meinen Par- rung dazu zu bringen, die Listen endlich vorzulegen. teivorsitzenden angesprochen. Dazu will ich eines klar- 10104 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Jens Zimmermann (A) stellen: Als Parteivorsitzender der SPD braucht man tet haben. Das erinnert mich sehr an die Arbeit, wie sie (C) permanent so ein Rückgrat, und das hat unser Parteivor- in unserem Ausschuss erfolgt. Sie ist nämlich meistens sitzender auch. sehr kollegial und von dem Interesse geleitet, am Ende wirklich herauszubekommen, was hier eigentlich schief- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans- läuft. Wir müssen versuchen, daran zu arbeiten, und soll- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten schauen, dass wir uns nicht von diesen Aktuellen NEN]: Körperlich!) Stunden aus dem Konzept bringen lassen, in denen viele Es gibt doch ein Problem in dieser ganzen Debatte. Es Leute reden, die allenfalls sporadisch in diesem Aus- wird ein Bohei gemacht, und es wird die Behauptung in schuss sind, die aber hier große Worte machen. den Raum gestellt, es wäre irgendetwas passiert. Es ist Wir müssen schauen, dass unsere Arbeit peu à peu aber überhaupt nichts passiert. weitergeht; denn dieser Ausschuss ist bisher unglaublich (Widerspruch bei der LINKEN und dem erfolgreich. Wir haben sehr viel aufgedeckt; wir wissen, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in welche Richtung es bei unseren eigenen Diensten geht; wir wissen, dass wir Verbesserungen und Verände- Sie haben es so dargestellt, als würden wir die Listen rungen bei den rechtlichen Grundlagen brauchen. Das und die Inhalte nicht zur Kenntnis bekommen. Eines ist alles sind Erkenntnisse, die bei der Arbeit unseres Aus- doch klar: Auch wir, die SPD – das hat mein Kollege schusses herausgekommen sind. Christian Flisek doch eben auch klargemacht –, wollen wissen, was darin steht. Sie sitzen doch auch im Unter- Ich kann verstehen, dass die Opposition auf der einen suchungsausschuss. Wir sitzen da doch nicht 15 Stunden Seite versucht, die Regierung und die sie unterstützen- nur so zum Spaß herum. Dass überhaupt die Existenz den Fraktionen zu piksen, wo es nur geht. Das ist ihr dieser Selektorenlisten dem Parlament zur Kenntnis ge- Recht, das ist ihre Aufgabe. Es ist auf der anderen Seite kommen ist, liegt doch an unserer gemeinsamen Arbeit aber auch klar, dass die Große Koalition und die Regie- in diesem Ausschuss. Deswegen haben wir ein Interesse rung, die von ihr unterstützt wird, versuchen, nach Mög- daran, zu wissen, was in diesen Listen steht. lichkeit in dieser Situation keine Fehler zu machen. Aber wir machen uns jetzt – das ist doch der Punkt – (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Gedanken über ein geeignetes Verfahren, wie wir einer- GRÜNEN]: Macht sie aber!) seits die Inhalte erfahren können, um damit arbeiten zu Ich finde, beide Ansinnen sind vollkommen nachvoll- können, andererseits aber nicht irgendwelche Informa- ziehbar. Nur, wir müssen schauen, dass wir unsere gute tionen nach außen tragen, die vielleicht auch unsere Inte- Sacharbeit im Ausschuss nicht dieser öffentlichen Aus- ressen in Deutschland schädigen könnten. Wir sind mit- einandersetzung opfern. Das wäre der Sache vollkom- (B) ten in diesem Prozess. Deshalb sage ich: Es ist überhaupt (D) men unangemessen. noch nichts passiert. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wenn es dazu kommen sollte, dass die Amerikaner komplett Nein sagen, dann müssen wir weiter diskutie- Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Sache sa- ren. Wir haben heute im Ausschuss gesagt: Wir geben gen, weil sie uns alle betrifft. Wir leben nicht in einem dem Kanzleramt die zwei Wochen über Pfingsten Zeit, luftleeren Raum, wo die Diskussion, die wir gerade füh- und dann werden wir sehen, wie es weitergeht. Mir ist ren, eine rein akademische Diskussion wäre. Wir erleben aber ein Punkt ganz wichtig: In der Öffentlichkeit wird es doch gerade selbst als Deutscher Bundestag. Wir wur- doch nur der Streit wahrgenommen. Eine Fraktion ver- den einem massiven Cyberangriff ausgesetzt. Das zeigt sucht, schriller als die andere aufzutreten. Aber um was eindeutig, dass wir uns mit der Sicherheit und vor allem es eigentlich geht, weiß so gut wie keiner. mit der Sicherheit im Internet auseinandersetzen müs- sen. (Zuruf von der LINKEN: Doch! Spionage!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Die Menschen draußen müssen doch denken, dass es GRÜNEN]: Ja und? Das ist doch selbstver- diese Selektorenliste gibt und jegliche Kommunikation ständlich!) in Deutschland davon betroffen ist. Dass wir über Bad Aibling reden, dass wir über Satellitenkommunikation Da gibt es keine einfachen Lösungen. Es wird häufig so aus Krisenregionen reden, wird doch in der Diskussion dargestellt, als wären Geheimdienste per se erst mal völlig unter den Tisch gekehrt. schlecht oder als würden sie nicht im Interesse unseres Landes arbeiten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist GRÜNEN]: Das tun wir gerade nicht! Das Ge- falsch, was Sie sagen!) genteil ist der Fall!) Denn das würde nicht zur Skandalisierung passen. Man muss doch einmal klarstellen, dass wir an dieser Stelle auch ein Interesse haben. Ich sage nicht, dass diese (Jan Korte [DIE LINKE]: Unsinn!) Abwägung einfach ist. Das ist doch die Problematik, die wir haben. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Schauen wir uns doch einmal an, wie erfolgreiche GRÜNEN]: Es ist ein Popanz, den Sie auf- Untersuchungsausschüsse in der Vergangenheit gearbei- bauen!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10105

Dr. Jens Zimmermann (A) Aber es ist falsch, so zu tun, als könnte man einfach alle (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C) Geheimdienste abschaffen, und alles wäre gut. Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das wissen Sie doch nicht! Nicht immer das Er- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gebnis vor der Untersuchung nennen!) In diesem Sinne kann ich für meine Fraktion nur das – Wir haben bereits ein Ergebnis der Untersuchung, Herr Angebot zu einer weiteren ordentlichen Arbeit in unse- Kollege Strobl. Allein die Existenz dieser Selektoren be- rem Ausschuss aufrechterhalten. Ich glaube, eine solche weist, dass der Bundesnachrichtendienst in Zusammen- Arbeit leisten wir auch die meiste Zeit. In einer Viertel- arbeit mit der NSA zu Unrecht Selektoren eingestellt stunde geht es, glaube ich, weiter. hat, Überprüfungen vorgenommen hat, Suchen vorge- Vielen Dank. nommen hat, die er nicht vornehmen durfte. Sie haben das immer noch nicht kapiert. Bei jeder Rede hier versu- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) che ich, Ihnen das klarzumachen. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Der Vizepräsidentin Claudia Roth: Einzige, der irgendwas kapiert hat, sind so- Danke, Herr Kollege Zimmermann. – Nächster Red- wieso Sie!) ner in der Debatte: Hans-Christian Ströbele für die Grü- nen. Es handelt sich um Selektoren, die auch nach Auffas- sung des Bundesnachrichtendienstes und des Kanzler- amtes nicht benutzt werden durften, aber trotzdem be- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nutzt wurden. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lieber Herr Kollege Flisek und Herr Kollege sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zimmermann, es stimmt ja, dass es eine schwierige Ab- Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Der wägungsentscheidung ist: Kriegen wir die Selektoren? Polizei- und Diensteexperte Ströbele!) Kriegen wir sie nicht? Nur, Ihr Parteivorsitzender Gabriel, der Vizekanzler, und Herr Oppermann, der ge- Deshalb sind sie illegal und rechtswidrig. Das müssen rade noch hier saß – jetzt ist er abgehauen –, Sie doch irgendwann mal verstehen. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Er Das Parlament versucht, diese Selektoren jetzt zu be- ist nicht abgehauen! – Petra Ernstberger kommen, um durch die Lektüre dieser Selektoren, durch die Lektüre im Einzelnen, herauszubekommen: Warum (B) [SPD]: Der hat noch was zu tun! – Christian (D) Flisek [SPD]: Fraktionsvorsitzender!) hat der Bundesnachrichtendienst die herausgenommen? Ging es da um europäische Unternehmen? Ging es um und Ihre Generalsekretärin haben diese schwierige Ent- europäische Politiker? Ging es um EU-Institutionen? scheidung bereits gefällt. Ging es um beides? Ging es vielleicht auch um Unter- nehmen, die sowohl in Deutschland als auch in anderen (Jan Korte [DIE LINKE]: Genau!) Ländern sind? Das ist jetzt die ganz wichtige Frage, weil Sie haben nämlich in der Öffentlichkeit verkündet – das wir daraus entnehmen können, dass diese Art der Zu- ganze Wochenende ging es durch alle Medien –, dass die sammenarbeit mit der NSA so nicht sein darf. Wenn es Liste selbstverständlich herausgegeben werden muss, nämlich um diese Begriffe geht, die ich jetzt angespro- auch ohne die Zustimmung der USA und der NSA. chen habe, dann ist ganz klar, dass diese Begehrlichkeit der NSA nicht erfüllt werden kann. (Christian Flisek [SPD]: Sie müssen zuhören! „In geeigneter Weise“!) Durch diese Selektoren ist nicht nur bewiesen, dass Edward Snowden in seinen Dokumenten recht gehabt Dann lassen Sie diesen Beschwörungen, diesen Auffas- hat. Durch die Existenz dieser Selektoren ist auch bewie- sungen doch Taten folgen, und legen Sie uns endlich sen, dass der Untersuchungsausschuss notwendig ist und diese Liste vor! inzwischen auch wesentliche Erkenntnisse hat, die er (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorzeigen kann. und bei der LINKEN – Christian Flisek [SPD]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hören Sie gut zu, wenn Sie hier zitieren! „In sowie bei Abgeordneten der LINKEN) geeigneter Weise“!) Daran weiterzuarbeiten, verhindern Sie, verhindert die Herr Kollege Strobl, wir diskutieren an anderer Stelle Kanzlerin und verhindert Herr Altmaier, weil er uns die und bei anderer Gelegenheit über die Frage: Brauchen Selektoren nicht gibt. Wir setzen gleich die Vernehmung wir die Arbeit unserer Geheimdienste? Brauchen wir die eines Zeugen fort und vernehmen heute Nachmittag Arbeit von Geheimdiensten in Deutschland? Aber eines möglicherweise noch Herrn Schindler, den Chef des brauchen wir mit Sicherheit nicht: Wir brauchen nicht Bundesnachrichtendienstes. Wir müssten ihm aus dieser diese Arbeit der Geheimdienste mit diesen Selektoren, Liste Vorhaltungen machen können. weil diese Selektoren gegen deutsches Recht und Gesetz und gegen die Vereinbarung mit der NSA und den USA (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE verstoßen. Deshalb brauchen wir diese Arbeit nicht. GRÜNEN]: So ist das!) 10106 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Hans-Christian Ströbele (A) Wir müssten fragen können: Wie konnten Sie dulden, die Selektorenliste gegen den Willen der Amerikaner (C) wie konnten Sie hinnehmen, dass diese oder jene Selek- freigegeben wird. toren benutzt worden sind, obwohl sie doch ganz offen- sichtlich nicht hätten benutzt werden dürfen? Es geht da- (Lachen des Abg. Dr. Konstantin von Notz rum, dass wir das nicht können. Unsere Arbeit wird [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Hans- unmöglich gemacht, wenn wir diese Selektoren nicht be- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kommen. NEN]: Haben Sie das mit Herrn Gabriel abge- sprochen?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich bin nicht dafür, dass sie für die Obleute von wem auch immer freigegeben wird. Ich halte auch das Trep- Insofern kann ich im Interesse des Parlaments, im Inte- tow-Verfahren für ungeeignet. resse der Aufklärungsarbeit, sowohl des Parlamentari- schen Untersuchungsausschusses als auch des Parlamen- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE tarischen Kontrollgremiums, nur an Sie appellieren: GRÜNEN]: Herr Schuster, Sie sind ein lusti- Setzen Sie sich dafür ein, dass wir die Selektoren mög- ger Parlamentarier! Das haben Sie auf der Ha- lichst bald bekommen. benseite! Aber dann hört es auch auf! – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Jetzt Lieber Kollege Flisek, von Ihnen wünsche ich mir ei- entspannt sich der von Notz endlich mal!) nes: Verkaufen Sie nicht für das Linsengericht eines Er- mittlungsbeauftragten die Rechte der Abgeordneten des – Ich wusste, dass Sie jetzt ein Sauerstoffgerät brauchen, Deutschen Bundestages. lieber Herr von Notz; aber das wollte ich Ihnen doch noch mitgeben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Meine Damen und Herren, ich glaube aber – ich bin [CDU/CSU]: Das tut doch auch keiner! Jetzt Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums –, aber!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Sie sind gemeinsam mit dem Kollegen Oppermann nach GRÜNEN]: Ja! Das müssen wir jetzt auch draußen gegangen und haben gesagt: Vielleicht können noch einmal überdenken!) wir ja durch einen Ermittlungsbeauftragten das Problem lösen. dass es trotzdem möglich ist, sowohl im Untersuchungs- ausschuss als auch im PKGr die Aufklärung zu betrei- (Christian Flisek [SPD]: Ich will die Vorwürfe ben, die notwendig ist; denn dass es zu Fehlern gekom- (B) schnell ausräumen! Da muss man keine Blo- men ist, hat die Regierung konsequent so benannt, hat (D) ckadehaltung an den Tag legen! Da muss man der BND konsequent so zugegeben. flexibel sein!) Nur, lieber Herr Ströbele und liebe Grünen, macht Dann haben die Abgeordneten die eine oder andere euch doch nicht so klein. Das ist ja fast ein kindliches Möglichkeit, durch Nachfrage bei diesem Ermittlungs- Jammern nach einer Selektorenliste nach dem Motto beauftragten herauszubekommen, was in der Selektoren- „Wenn wir die nicht kriegen, um Gottes willen!“ Das liste steht. – Nein, wir müssen und wir wollen selber se- Thema ist verdammt noch mal größer als eine Selekto- hen, was da drinsteht. Wir wollen die Verantwortung renliste. übernehmen, auch dafür, dass hier ordnungsgemäß auf- geklärt wird, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Christian Flisek [SPD]: Ganz genau! Und NEN]: Da haben Sie recht!) zwar schnell!) so wie es das Grundgesetz befiehlt. Lassen Sie uns doch das Thema ordentlich bearbeiten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sprechen wir einmal über die Fehler, zu denen es tat- und bei der LINKEN) sächlich gekommen ist: Verstößt der BND gegen deut- sches Recht? Nein. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Vielen Dank, Hans-Christian Ströbele. – Der nächste GRÜNEN]: Was?) Redner in der Debatte ist Armin Schuster für die CDU/ CSU-Fraktion. Der BND darf Telekommunikation überwachen und auf- zeichnen. Er darf Daten an ausländische Nachrichten- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. dienste übermitteln. Christian Flisek [SPD]) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So redet jemand, der die Selekto- Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): renliste nicht gesehen hat!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen und Der BND darf und soll mit ausländischen Partnern die Frage zu beantworten: Nein, ich bin nicht dafür, dass kooperieren. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10107

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) (Christian Flisek [SPD]: Denken Sie an den warum Europa in diese Überwachung einbezogen wer- (C) Dreiklang „Aufklären, Bewerten, Konsequen- den muss. zen“!) (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Dabei geht es nie um Kommunikation von Deutschen in Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wa- Deutschland, nicht um deutsche Staatsangehörige, nicht rum hat der BND die Selektoren herausge- um deutsche Firmen. nommen?) (Beifall des Abg. Stephan Mayer [Altötting] Und jetzt noch – ich habe nicht mehr viel Zeit – zur [CDU/CSU] – Dr. Konstantin von Notz Dimension des Problems, insbesondere für die Damen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ah- und Herren, die uns hier zuhören. Weniger als 1 Prozent nungslos, Herr Schuster! Ahnungslos!) der Suchbegriffe, die wir heute gesperrt haben, entspre- Es geht um Terrorismus. Es geht um Proliferation, Dro- chen potenziell und unter gewissen Umständen nicht genhandel etc. dem Abkommen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie das?) Meine Damen und Herren, es geht auch nicht um un- kontrollierte Dienste, nicht um Wirtschaftsspionage – Weil ich rechnen kann, Herr von Notz. Ich hatte Ma- thematik als Leistungskurs auf dem Wirtschaftsgymna- (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Doch!) sium in Kehl am Rhein belegt; das ist eine sehr ehren- und ausdrücklich nicht um die Ausspähung deutscher werte Schule. Bürger. (Beifall bei der CDU/CSU) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Dr. von Notz, von diesen weniger als 1 Prozent NEN]: Woher wissen Sie das?) Selektoren wissen wir nicht – weil wir die nachrichten- All das, was der BND macht, wollten wir in diesem eh- dienstlichen Hintergründe nicht kennen –, renwerten Haus so, weil wir es ins BND-Gesetz ge- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE schrieben haben und weil wir es ins G 10-Gesetz ge- GRÜNEN]: Nein, weil Sie die Liste nicht ge- schrieben haben. Genau das wollten wir so. Der BND sehen haben! Sie haben die Liste nicht gese- arbeitet rechtmäßig, schützt dieses Land, schützt zum hen! Sie sind ahnungslos, Herr Schuster! – Ge- Beispiel die Bundeswehr tagtäglich durch hervorragende genruf des Abg. Thomas Strobl [Heilbronn] Arbeit. Dass dabei Fehler vorkommen, passiert übrigens [CDU/CSU]: Zügeln Sie sich, Herr von Notz!) (B) auch in Ihrer Fraktion. Darauf will ich nicht weiter ein- (D) gehen. Daraus machen wir auch keinen Skandal. Man ob sie zu Recht oder zu Unrecht eingestellt werden soll- darf in diesem Land Fehler machen. Wir klären sie auf ten. und stellen sie ab. (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Der BND hat (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin sie aussortiert!) von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Ich kann mir eine ganze Reihe von Gründen vorstellen, ist eine Bewerbungsrede für den Präsidenten- warum eine europäische Adresse beispielsweise zu posten, Herr Schuster!) Recht auf dieser Liste auftaucht. Zweitens. Meine Damen und Herren, war und ist das (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Abkommen aus dem Jahr 2002, von Frank-Walter GRÜNEN]: Warum hat der BND sie dann he- Steinmeier und Joschka Fischer verhandelt, richtig, und rausgenommen, die Selektoren?) handelt der BND nach diesem Abkommen? Wenn wir aber die Amerikaner dazu bewegen wollen, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE uns zu erklären – das ist der Kern des Themas –, welche GRÜNEN]: Was? Joschka Fischer hat damit nachrichtendienstlichen Hintergründe hinter einem Se- nichts zu tun!) lektor stehen, dann müssen die Amerikaner die Tresortü- Es war und ist richtig. Wer will heute bestreiten, dass wir ren des Allergeheimsten öffnen. Wenn die Amerikaner ein Terrorproblem auf der Welt haben? Wer will bestrei- das tun wollen und sollen, brauchen wir ein Verfahren, ten, dass wir OK und Drogenhandel bekämpfen müssen? von dem die Amerikaner sagen: Dem vertraue ich; da ist Meine Damen und Herren, über 3 000 Terrorgefährder Geheimhaltung weiterhin gewährleistet. – Eine öffentli- exportiert Europa in die Welt. Es war absolut richtig, che Freigabe, lieber Herr Ströbele, wissen Sie, was das dass in dem betreffenden Memorandum Europa nicht ist, also wenn das komplett freisteht? Das ist nichts an- ausgeschlossen war. deres als Boulevardparlamentarismus. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNEN]: Was hat das mit der Selektoren- Damit bewegt man keinen Amerikaner dazu, zusammen liste zu tun, Herr Schuster? Thema verfehlt!) mit uns das Problem zu lösen. Ich möchte aber das Pro- Deswegen ist es ein Skandal, dass Sie so tun, als ob die blem lösen. Deswegen finde ich die Idee eines Beauf- Existenz europäischer Ziele per se falsch wäre. Nein, tragten charmant. Ich bin optimistisch, dass auch die 3 600 Terrorgefährder sind ein eindeutiger Beleg dafür, Obama-Administration die Nachrichtendienste reformie- 10108 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) ren möchte. Da gibt es eine gemeinsame Schnittmenge. Ausschuss sitzen und bis in die tiefe Nacht hinein mit- (C) Ich glaube ganz sicher, dass wir Geheimhaltung üben schreiben und alles das, was wir da erzählen, auflisten, können, dass wir trotzdem politisch bewerten können einen herzlichen Dank für ihre Arbeit sagen. Das ist und dass wir dann zu Konsequenzen kommen – diese nicht selbstverständlich. sehe ich übrigens nicht –, wenn es notwendig ist. Die (Beifall im ganzen Hause) Idee eines Beauftragten ist sicherlich reizvoll. Informie- ren Sie sich bei Herrn Montag. Der Titel der Aktuellen Stunde lautet „Haltung der Koalitionsfraktionen zur Freigabe der NSA-Selektoren- Vizepräsidentin Claudia Roth: liste im Hinblick auf mögliche Ausspähungen von Wirt- Herr Schuster. schaft und Politik“. Das ist ja ein ganz schöner Titel. Um ehrlich zu sein, für mich wären noch einige andere Fra- gen ziemlich relevant und gehörten dazu, etwa: Wie ge- Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): währleisten wir den Schutz von deutschen Interessen bei Ich darf den Kollegen Lischka zitieren – er ist nicht Kooperation mit ausländischen Nachrichtendiensten? – mehr anwesend –: „Das hätten wir so gut nicht gekonnt.“ Wir stellen im Ausschuss fest, dass das irgendwie alles Das sagte er gestern Abend im PKGr. So viel zu der Be- ein bisschen unklar ist. Dann – noch wichtiger –: Wel- deutung eines solchen Mannes. ches Verständnis von deutschen Interessen hat der BND, und wer definiert eigentlich die Interessen, und wer hin- Vizepräsidentin Claudia Roth: terfragt das Verständnis des BND? Und: Wie eng wird Herr Schuster, darf ich Sie nun bitten, endlich zum der BND kontrolliert? – Das alles sind Fragen, die wir Schluss zu kommen? schon gestellt haben, die auch Inhalt der Ausschussarbeit sind bzw. die wir noch stellen werden. Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Im Laufe der Arbeit des Untersuchungsausschusses Ich mache nur noch einen christlichen Spruch. habe ich das Gefühl gewonnen, dass der BND so ein ganz klein bisschen die Übersicht und die gebotene Vor- Vizepräsidentin Claudia Roth: sicht bei der Kooperation verloren hat. Er hat sie verlo- Christlicher Spruch hin oder her, die Redezeit ist ren, um nämlich genau diese Zusammenarbeit mit der at- deutlich überschritten. traktiv erscheinenden NSA, mit den Möglichkeiten, die die haben, eingehen zu können. Hier scheint der Schutz Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): der deutschen Interessen in den Hintergrund getreten zu Der Kollege Strobl hat eben darum gebeten, dass der sein, und zwar von nachrichtendienstlichen Interessen. (B) Heilige Geist über Pfingsten über die Opposition Und das ist ein Problem. (D) kommt. Sorgen Sie doch bitte dafür, dass er auch eine Über die Selektorenliste setzen wir uns mit der Bun- Landefläche erhält, auf der er sich niederlassen kann. desregierung nun schon seit bald vier Wochen auseinan- Danke schön. der. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: GRÜNEN]: Über vier Wochen!) Wieder Aschermittwoch hier!) Uns alle im Ausschuss eint der Wunsch, endlich Klarheit über die eingesetzten Selektoren zu erhalten. Da kursie- Vizepräsidentin Claudia Roth: ren ja sehr unterschiedliche Zahlen in der Öffentlichkeit; Das war jetzt christlich? – Nächste Rednerin in der das geht los bei 2 000 und geht bis 8 Millionen. Wenn Debatte: Susanne Mittag für die SPD. ich hier einmal fragen würde, welche Zahl wohin gehört, dann würden wir wahrscheinlich auch überraschende Er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gebnisse haben. Das müssen wir erst einmal klären. der CDU/CSU) Um die infrage stehenden Selektoren hat sich der BND anscheinend – so muss man sagen – seit zehn Jah- Susanne Mittag (SPD): ren nicht so richtig gekümmert. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade die öffentliche Sitzung des (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE NSA-Untersuchungsausschusses für diese Aktuelle GRÜNEN]: Das kann man so sagen!) Stunde unterbrochen. Ich finde es natürlich gut, wenn In den Jahren wurden es immer mehr und mehr, und da wir öffentlich darstellen können, was wir in diesem Aus- sind Maß und Übersicht so ein bisschen verloren gegan- schuss machen. Ich hoffe, dass das in der nächsten Zeit gen. Dafür haben wir den Untersuchungsausschuss. Das immer wieder einmal der Fall sein wird. Das Interesse in muss jetzt nachgeholt werden. Wir müssen uns eine der Öffentlichkeit kann nur gestärkt werden. Übersicht darüber verschaffen, in welchem Rahmen Wir haben auch gestern bis Mitternacht getagt, und Politik und Wirtschaft betroffen sind – das wissen wir ich ahne, dass das heute auch so sein wird und wir un- noch nicht, auch wenn es sich hier manchmal anders an- sere Zeugen vernehmen werden. Deswegen möchte ich hört –: Sind Wirtschaftsunternehmen abgehört worden, an dieser Stelle noch einmal allen Damen und Herren sind welche als Selektoren benannt worden und, wenn des Stenografischen Dienstes, die hier und in unserem ja, aus welchem Grund? Es wird sicherlich auch Begrün- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10109

Susanne Mittag (A) dungen geben, und wenn nicht, dann kommen wir auch In dieser Woche haben wir genug zu tun. Wir haben (C) dahinter. Sind sie vielleicht für die NSA wirtschaftlich die Aufgabe, organisatorische Fehler und strukturelle interessant gewesen? Es gibt dazu unterschiedliche Mei- Fehler, aber eben auch eine ganz bestimmte spezielle nungen. Auch das wollen wir klären. Und wir müssen Behördenmentalität im BND zu erkennen und hoffent- klären, ob und in welchem Rahmen die europäische lich auch irgendwann zu ändern. Wir sind gerade dabei. Politik auf die Selektorenliste gekommen ist und mit Die Zeugen am gestrigen und heutigen Tag bringen uns welcher Intention. Auch da gibt es Konkurrenten und da weiter; heute Nachmittag wird es ganz interessant. unterschiedliche Interessen. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gleich wieder in den Ausschusssaal gehen und die Arbeit Das, was mich neben den Selektoren in den vergange- fortsetzen. nen vier Wochen beschäftigt hat, ist: Was lief da eigent- lich beim Bundesnachrichtendienst schief? Wie konnte Herzlichen Dank. es sein, dass offensichtlich kritische Selektoren der NSA (Beifall bei der SPD) ungeprüft übernommen oder eingesetzt wurden? – Dafür machen wir diese ganzen Zeugenbefragungen, und zwar sehr systematisch. Es geht vor allem um die Frage: Wa- Vizepräsidentin Claudia Roth: rum wurden Vorgesetzte, die dortige Hausleitung und Danke, Frau Kollegin Mittag. Zwei Kolleginnen sind das Bundeskanzleramt damals nicht oder nur teilweise in dieser Debatte aber noch vorgesehen. – Nächste Red- über solche gravierenden Vorgänge in Kenntnis gesetzt? nerin ist Nina Warken für die CDU/CSU-Fraktion. Wer wusste wann wie wo was? – Das müssen wir auch noch klären. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Ich nenne hier einmal Dr. T. – der ist ja mittlerweile berühmt in unserem Ausschuss –, einen Referenten aus Nina Warken (CDU/CSU): dem BND, der die kritischen Selektoren in wochenlan- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ger Kleinarbeit gefunden und völlig richtig reagiert hat. Es freut mich zwar, dass wir hier innerhalb kürzester Er meldete den Fund an seinen Vorgesetzten. Gut. Und Zeit zum zweiten Mal über die Arbeit des NSA-Untersu- was passierte dann? – Die Selektoren wurden quasi auf chungsausschusses sprechen können. Angesichts des dem kleinen Dienstweg gelöscht, das heißt, außer Funk- Spektakels, das etwa der Kollege Korte hier veranstaltet tion gesetzt. – Unglücklich. hat, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Un- GRÜNEN]: Sehr milde ausgedrückt! – (B) würdig!) (D) Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Kleiner Dienstweg“ ist milde, wäre ich aber doch lieber drüben geblieben und hätte mit ja!) der Ausschussarbeit weitergemacht. So, als hätte sich damit auch das Problem aufgelöst. (Beifall bei der CDU/CSU – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Nur Spektakel! – Das macht uns alle so ein bisschen fassungslos. Jan Korte [DIE LINKE]: Bitte schön! Warum nicht? Noch können Sie gehen! – (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herrn Schuster nicht!) GRÜNEN]: Hören Sie jetzt einfach auf, zu re- Wie kann es vor dem Hintergrund der Snowden-Veröf- den!) fentlichungen und der Einrichtung eines Untersuchungs- Grundsätzlich kann man aber sagen: Der Ausschuss ausschusses sein, dass solche Prüf- und Löschvorgänge macht seine Arbeit, und er macht sie gut. Wir sind im der Leitungsebene im BND oder im Bundeskanzleramt Moment inmitten eines Prozesses, nämlich im Prozess vorenthalten wurden – und auch dem Parlament? der Aufklärung. Und da wir eben noch mitten in der Das sind für uns alle im Ausschuss die drängendsten Aufklärung sind, verstehe ich so manch schrillen Ton, Fragen, die sich stellen; und ich gebe zu, ich hätte mir der derzeit angeschlagen wird, nicht. Wenn man wirkli- gewünscht, dass wir uns in dieser Woche auf ein Verfah- che Aufklärung will, ist so etwas unseriös und besten- ren im Umgang mit den Selektoren geeinigt hätten. Das falls effekthascherisch. war auch letzte Woche mein Wunsch. Da ist die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. regierung in einer Bringschuld, obwohl wir anerkennen, Christian Flisek [SPD] – Dr. Konstantin von dass die völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Prü- Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören fung aufwendiger ist als gedacht. Das Konsultationsver- Sie einmal auf, Sigmar Gabriel zu bashen!) fahren mit den Amerikanern läuft auch schon recht lange, eigentlich ziemlich lange. Da hoffen wir, dass die Meine Damen und Herren, ich möchte die Gelegen- Bundesregierung jetzt endlich zu einer kurzfristigen Ent- heit auch nutzen, um einige grundsätzliche Dinge festzu- scheidung kommt. Wir hoffen auf eine Entscheidung stellen. Beginnen möchte ich mit der Diskussion um das nach Pfingsten und darauf, dass uns als erster, nicht als Thema No-Spy-Abkommen, die ein wahres Musterbei- letzter Schritt ein Vorschlag zur Überprüfung der Listen spiel für die in den letzten Tagen überhitzte Debatte ist. vorgelegt wird. Von einer „Nebelkerze im Wahlkampf 2013“ wurde da 10110 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Nina Warken (A) gesprochen oder gar von „Lüge“ oder „absichtlicher (Beifall bei der CDU/CSU – Thomas Strobl (C) Täuschung“. [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das trifft den Nagel auf den Kopf!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Manipulation!) Meines Erachtens sind bei der Entscheidungsfindung mehrere Aspekte zu berücksichtigen: Dementgegen hat allerdings der heutige Bundesaußen- minister noch im Februar 2014 das No-Spy-Abkommen Erstens. Deutschland ist nicht isoliert in der Welt, und zu einem Thema seiner Gespräche in den USA gemacht. wir sollten es tunlichst vermeiden, uns im Bereich nach- richtendienstlicher Zusammenarbeit zu isolieren. Wir (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Hört! brauchen die Zusammenarbeit mit befreundeten Diens- Hört!) ten, auch zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger. Dies geschah sicherlich nicht, um der Union im Wahl- Im Rahmen dieser Zusammenarbeit müssen auch wir ein kampf nachträglich zu helfen. Das muss wohl auch die verlässlicher Partner sein und uns an Vereinbarungen Opposition einsehen. und völkerrechtliche Verpflichtungen halten. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Hört! Hört!) Europarecht zum Beispiel!) Fakt ist: Bereits 2013 sind konkrete Entwürfe mit den Zweitens. Unsere Nachrichtendienste müssen arbeits- Amerikanern ausgetauscht worden. Es gab ernsthafte fähig sein. Dafür brauchen sie innerhalb von Recht und Verhandlungen über eine Vereinbarung zwischen den Gesetz gewisse Möglichkeiten. Nur so können sie ihren Diensten. Das will in der derzeitigen Stimmung aber of- Aufgaben gut und effektiv nachkommen. fensichtlich niemand wissen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Die Wahr- GRÜNEN]: Ja!) heit tut weh!) Dazu gehört auch, dass gewisse Vorgänge im Rahmen Ich kann den Kolleginnen und Kollegen jedoch das Ak- der Arbeit der Nachrichtendienste vertraulich sind. Die tenstudium sehr empfehlen. Bundesregierung, aber auch wir als Parlament müssen (Beifall bei der CDU/CSU) gewährleisten, dass Dinge, die der Geheimhaltung unter- liegen, Stattdessen betreibt man Legendenbildung und versucht, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (B) die Reputation einzelner Personen zu beschädigen. So (D) etwas halte ich für unredlich. Die Art und Weise, wie GRÜNEN]: Kontrolliert werden!) dieses Thema diskutiert wird, ist für die Debatte insge- auch vertraulich behandelt werden. samt symptomatisch. Sie ist von Vorwürfen, voreiligen Schlussfolgerungen und tendenziösen Wertungen ge- (Beifall bei der CDU/CSU) prägt. Das Staatswohl ist der Bundesregierung und dem Parla- Meine Damen und Herren, Nachrichtendienste bewe- ment gleichermaßen anvertraut. gen sich naturgemäß in einem sehr sensiblen Bereich. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Weil es hierbei um existenzielle Sicherheitsinteressen GRÜNEN]: So ist das!) der Bundesrepublik und ihrer Bürgerinnen und Bürger geht, heißt es bei vielen Entscheidungen, sorgfältig ab- Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich, dass es mir zuwägen – mit Augenmaß und ohne Hysterie. wirklich Sorgen bereitet, wie unverantwortlich zurzeit mit eigentlich geheimen Akten umgegangen wird. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Thomas Strobl Abzuwägen ist etwa zwischen dem Interesse der parla- [Heilbronn] [CDU/CSU]: Da muss man sich in mentarischen Gremien, die Selektoren einzusehen, auf der Tat Sorgen machen!) der einen Seite und dem Sicherheitsinteresse der Bun- Es steht doch außer Frage: Wenn weiterhin immer wie- desrepublik andererseits. der Dokumente aus nichtöffentlichen Sitzungen an die Die Bundesregierung ist einerseits völkerrechtlich Öffentlichkeit gelangen, dann wird das dazu führen, dass verpflichtet, den Partner vor Offenlegung von geheimen unsere Verbündeten künftig die für unsere Sicherheit so Unterlagen um Zustimmung zu ersuchen. Dieses Vorge- wichtige Zulieferung von Informationen einschränken. hen erwarten wir umgekehrt ja auch von unseren Part- Was hier gerade geschieht, ist grob fahrlässig und unver- nern. Zum anderen ist die Bundesregierung auch ver- antwortlich. So beschädigt man Vertrauen. pflichtet, den grundrechtlich garantierten Auftrag des (Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE Untersuchungsausschusses zu unterstützen. Diese As- LINKE]: Man hört heute echt die witzigsten pekte muss die Bundesregierung abwägen und schließ- Reden! Unfassbar!) lich eine verantwortungsvolle Entscheidung am Maßstab des deutschen Verfassungsrechts treffen. Laut und popu- Drittens. Wir als Untersuchungsausschuss haben den listisch zu sein, das ist einfach. Politische Verantwortung Anspruch, unserem Antrag vollumfänglich nachzukom- zu tragen, das ist schwerer. men und gründlich aufzuklären. Dabei wollen wir uns Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10111

Nina Warken (A) natürlich auch ein Bild über die unzulässigen Selektoren, cherheitsarchitektur unseres Landes nicht vergessen. Die (C) die die NSA dem BND übermittelt hat, machen können. deutschen Nachrichtendienste sind wichtige Garanten Unsere Aufgabe dabei ist es, zu bewerten, inwieweit für unsere Sicherheit. Damit sie ihre Aufgaben in einer Suchbegriffe deutschen Interessen zuwiderlaufen oder globalisierten und digitalisierten Welt erfüllen können, gar gegen deutsches Recht verstoßen. Bei der Frage, wie brauchen sie auch Partner. Wer diese internationale Ko- wir das hinbekommen, gibt es für uns als CDU/CSU operation grundsätzlich infrage stellt – und das tun Sie –, nicht entweder Schwarz oder Weiß. spielt mit der Sicherheit dieses Landes. ( [DIE LINKE]: Es gibt nur Wir müssen unbedingt die Balance halten zwischen Schwarz!) Methodenschutz und Aufklärung. Wenn geheime Infor- Wir können uns durchaus Wege vorstellen, die allen Be- mationen, die dem Ausschuss anvertraut wurden, umge- langen gerecht werden und uns als Untersuchungsaus- hend veröffentlicht werden, dann braucht man sich nicht schuss schließlich die Möglichkeit einer Bewertung der zu wundern, wenn Partnerdienste am Ende drohen, die Listen geben. Ein Weg könnte zum Beispiel das Trep- Kooperation einzuschränken. tow-Verfahren sein, ein anderer die Benennung eines Er- (Beifall bei der CDU/CSU) mittlungsbeauftragten. Die Bundesregierung versucht, im laufenden und Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass die auch vereinbarten Konsultationsverfahren mit den USA Bundesregierung all diese Aspekte in ihrer Entschei- einen Ausgleich zwischen Aufklärung und Methoden- dungsfindung berücksichtigt und zeitnah gemeinsam mit schutz zu finden. Wenn das nicht zügig gelingt, müssen uns als Parlament einen gangbaren Weg finden wird, der wir einen anderen Weg gehen. Das Treptow-Verfahren gleichermaßen den Sicherheitsinteressen unseres Landes wäre einer dieser Wege. Der Ausschuss hat aber – in und unserer Partner und unserem Aufklärungsinteresse § 10 PUAG gesetzlich verankert – die Möglichkeit, ei- als Parlament gerecht wird. nen Ermittlungsbeauftragten als eigenes Aufklärungsins- Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Ende möchte trument zu bestimmen. Wenn ich heute immer höre, dass ich an unser aller Verantwortungsbewusstsein appellie- das ein Sonderfall wäre, dann frage ich mich, warum das ren. Lassen Sie uns vom parteipolitischen Gezänk weg- Gesetz das ausdrücklich vorsieht. kommen. Wir sollten uns weiterhin der seriösen Sach- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE aufklärung widmen. Die CDU/CSU-Fraktion wird dies GRÜNEN]: Als Unterstützung, nicht als Er- tun. satz!) Vielen Dank. (B) Wenn wir wirklich zügig und zeitnah unter Abwägung (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. aller Umstände wissen wollen, was in dieser Selektoren- Christian Flisek [SPD] – Thomas Strobl [Heil- liste steht, dann kann man dieses Instrument nicht von bronn] [CDU/CSU]: Sehr gute Rede! Ausge- vornherein ablehnen und für nicht zulässig ansehen. zeichnet!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Frau Kollegin Warken. – Die letzte Rednerin Man sollte heute auch einmal festhalten, dass der Un- in dieser Debatte: Andrea Lindholz für die CDU/CSU- tersuchungsausschuss bisher in mehr als 200 Sitzungs- Fraktion. stunden mit mehr als 50 Zeugen und in über 2 140 Ord- nern Beweismaterial keinen Nachweis für eine (Beifall bei der CDU/CSU) anlasslose Massenüberwachung durch den BND gefun- den hat. Andrea Lindholz (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE und Herren Kollegen! Im Untersuchungsausschuss sind GRÜNEN]: Also, dann müssen Sie einmal le- wir uns offensichtlich – das hört man hier heute auch – sen, Frau Lindholz!) einig, dass die Selektorenliste geprüft werden muss. Ein- Der Ausschuss sollte auch Vorschläge zur Verbesse- sicht in die Liste ist zur Aufklärung des aktuellen Falls rung des Datenschutzes und anderer Regelungen erarbei- unerlässlich. ten, die wir für erforderlich halten. Diese Aufgabe hat in (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE meinen Augen besondere Relevanz. Vorher müssen wir GRÜNEN]: So ist es!) aber erst einmal alle Vorwürfe aufklären. Mit vorschnel- len Behauptungen oder mit Vorverurteilungen von Per- Unsere parlamentarische Kontrolle findet aber nicht sonen oder Behörden sollte man dabei vorsichtig sein. im luftleeren Raum statt. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben gerade eine Behaup- GRÜNEN]: Das würden wir nur kurz durch- tung aufgestellt, Frau Lindholz!) halten!) Diese bringen in der Sache gar nichts. Natürlich muss das Parlament aufklären, und das tun wir auch. Auf der anderen Seite dürfen wir aber auch die Si- (Beifall bei der CDU/CSU) 10112 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Andrea Lindholz (A) Im Parlamentarischen Kontrollgremium haben die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C) vorliegenden Vermerke des BND an das Bundeskanzler- Zuruf von der CDU/CSU: Er ist nie da!) amt gezeigt, dass die Vorwürfe gegen den Bundesinnen- Anstatt hier im Plenum über ungeklärte Sachverhalte zu minister völlig unberechtigt waren. spekulieren, sollten wir lieber im Ausschuss unsere Ar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – beit machen und Fakten erarbeiten. Sie sollten vielleicht Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- einmal anwesend sein, bevor Sie hier reden. SES 90/DIE GRÜNEN – Jan Korte [DIE Vielen Dank. LINKE]: Ich lach mich schlapp! – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Sie waren doch gar nicht (Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE dabei! – Hans-Christian Ströbele [BÜND- LINKE]: Ich bin doch kein Mitglied!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum dürfen wir ihn morgen dann nicht vernehmen? – – Auch wenn Sie kein Mitglied sind – ich habe noch Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE 17 Sekunden Redezeit –, können Sie natürlich beantra- GRÜNEN]: Dann soll er mal kommen!) gen, an den Ausschusssitzungen teilzunehmen, so wie das andere Kollegen auch schon gemacht haben. Ich möchte auch an den haltlosen Vorwurf aus dem Jahr 2013 erinnern. Damals wurde behauptet, die NSA würde (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE monatlich 500 Millionen Verbindungen deutscher Bür- GRÜNEN]: Aber was hat uns Herr Strobl er- ger überwachen. zählt! Der ist auch kein Mitglied! Oder Stephan Mayer! – Jan Korte [DIE LINKE]: (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Was ist denn mit der Truppe bei Ihnen?) GRÜNEN]: Das stimmt nicht, Frau Lindholz!) Ich frage mich, wann Sie von dieser Möglichkeit bis Heute wissen wir, dass diese Metadaten nicht aus dato einmal Gebrauch gemacht haben. Deutschland, sondern vor allem aus Afghanistan stam- men, wo sie halfen, die Leben unserer Soldaten zu schüt- Danke schön. zen. Dank der internationalen Kooperation des BND (Beifall bei der CDU/CSU) konnten in Afghanistan 19 Attentate verhindert werden. Diese Arbeit rettet Leben. In die Schlagzeilen schafft sie Vizepräsidentin Claudia Roth: es aber leider nur sehr selten. Danke schön, Frau Kollegin. – Die lebhafte Aktuelle (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Stunde ist damit beendet. Ich wünsche weiterhin gute neten der SPD – Dr. Konstantin von Notz Ausschussberatungen. (B) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oje!) (D) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Im Übrigen hat der Untersuchungsausschuss schon GRÜNEN]: Genau! Machen wir!) im Mai 2014 beschlossen, alle relevanten Regierungs- – Genauso lebendig. vertreter als Zeugen zu laden. Ihre Aussagen machen aber erst dann Sinn, wenn wir vorher den Sachverhalt Nachdem der Wechsel auf den Sitzen stattgefunden auf der Arbeitsebene aufklären; das ist noch nicht voll- hat, rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d auf: kommen abgeschlossen. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- GRÜNEN]: Sie haben gerade Herrn de zes über die Feststellung eines Nachtrags zum Maizière für unschuldig erklärt, Frau Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr Lindholz! – Gegenruf des Abg. Dr. Patrick 2015 (Nachtragshaushaltsgesetz 2015) Sensburg [CDU/CSU]: Es ist jeder unschuldig, bevor nicht das Gegenteil bewiesen ist!) Drucksache 18/4600 Für mich gibt es daher auch keinen Grund, plötzlich in Beschlussempfehlung und Bericht des Haus- Hysterie zu verfallen haltsausschusses (8. Ausschuss) (Jan Korte [DIE LINKE]: Plötzlich?) Drucksachen 18/4950, 18/4951 und von unserem Aufklärungssystem abzurücken. b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zes zur Förderung von Investitionen finanz- schwacher Kommunen und zur Entlastung Die aktuelle parteitaktische Skandalisierung der Ar- von Ländern und Kommunen bei der Auf- beit des Untersuchungsausschusses, so wie wir sie auch nahme und Unterbringung von Asylbewer- heute erleben, gerade durch Sie, Herr Kollege Korte bern – wobei ich mich frage, wann Sie eigentlich zum Thema dieser Aktuellen Stunde gesprochen haben –, Drucksache 18/4653 (neu) (Jan Korte [DIE LINKE]: Vor einer Stunde!) Beschlussempfehlung und Bericht des Haus- haltsausschusses (8. Ausschuss) zeugt weder von Sachkenntnis, noch dient sie der Auf- klärung. Drucksache 18/4975 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10113

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- durch die Stärkung von Investitionen. Zugleich tun wir (C) richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) etwas für das föderale Miteinander, indem wir mit die- zu dem Antrag der Abgeordneten Susanna sem Nachtragshaushalt Maßnahmen beschließen für Karawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, wei- mehr Investitionen in den Kommunen und für mehr Soli- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE darität bei der Bewältigung von Flüchtlingsherausforde- rungen. Das ist doch mal eine Botschaft für einen Nach- Bundesverantwortung wahrnehmen – Kom- tragshaushalt, meine sehr verehrten Damen und Herren. munen bei Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern sofort helfen und Kosten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Unterkunft für Hartz-IV-Leistungsbe- der SPD) rechtigte schrittweise übernehmen Die Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik Deutsch- Drucksachen 18/3573, 18/4118 land wächst in diesem Jahr um voraussichtlich 1,8 Pro- d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zent, die Beschäftigung ist auf Rekordniveau, die Steuer- richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) einnahmen steigen, und im Übrigen hat sich demnächst zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin auch der Deutsche Bundestag damit zu befassen, ob wir Andreae, Katja Dörner, Oliver Krischer, weiterer die kalte Progression entschärfen; das Wort darf man Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ nicht sagen, aber man könnte das auch als Steuersen- DIE GRÜNEN kung interpretieren. All dies zeigt, dass Haushalts- und Finanzpolitik, die solide ist, dazu beiträgt, dass der Staat Heute für morgen investieren – Damit unsere handlungsfähig bleibt, und macht eines deutlich: Es ist Zukunft nachhaltig und gerechter wird falsch, zu sagen, dass Schulden irgendein Problem bei Drucksachen 18/4689, 18/4974 staatlichen Herausforderungen lösen könnten. Schulden sind in der Regel das Problem. Wer keine hat, ist hand- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für lungsfähig, und wer zu viele hat, der geht unter. Deswe- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre, ich gen bleibt die schwarze Null der Maßstab, und wir nut- sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. zen Spielräume aus als Konsolidierungsrendite. Das ist Verlässlichkeit in der Haushaltspolitik. Wenn Herr Kampeter ausgequatscht hat, rufe ich ihn auf. Offensichtlich noch nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Johannes Kahrs [SPD]: Steffen!) neten der SPD) Herr Kampeter, ich hatte Sie aufgerufen, aber Sie un- Wenn wir heute beschließen, mehr zu investieren, (B) terhielten sich noch. nämlich öffentliche Investitionen des Bundes auf den (D) Weg zu bringen, dann geht es nicht darum, kurzfristig Ich eröffne also jetzt die Aussprache. Das Wort hat ein Strohfeuer anzuzünden, sondern darum, das mittel- der sehr geschätzte Parlamentarische Staatssekretär fristige Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirt- Steffen Kampeter. schaft zu erweitern. Von 2014 bis 2018 belaufen sich die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zusätzlichen Maßnahmen auf über 40 Milliarden Euro, neten der SPD) knapp 1,5 Prozent unserer wirtschaftlichen Leistungs- fähigkeit. Wir tun damit mehr für digitale Infrastruktur, mehr für die Verkehrsinfrastruktur. Wir sagen Ja zur Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär beim Bun- Steigerung der Energieeffizienz. Wir finden, dass der desminister der Finanzen: Klimaschutz nach vorne gebracht werden muss. Wir ver- Charmante Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten gessen den Hochwasserschutz nicht und leisten etwas für Damen und Herren! Wenn auf der Tagesordnung eines die Städtebauförderung. Deutschland soll wachsen. Wir Parlamentes „Nachtragshaushalt“ steht, dann ist übli- schaffen dafür die Voraussetzungen. Das ist das Angebot cherweise irgendwo Land unter, weil irgendetwas nicht dieses Nachtragshaushalts. passt: Die Einnahmen sind zusammengebrochen, die Ausgaben explodieren. Das ist historisch die Erfahrung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von Haushaltspolitik. Heute ist das anders. neten der SPD) Der Nachtragshaushalt, den wir in zweiter und dritter Ein weiteres Feld ist die Stärkung der kommunalen Lesung im Deutschen Bundestag beschließen, ist ein Investitionskraft. Wir glauben nicht, dass alles von Zeichen unserer soliden Haushaltspolitik. Berlin aus geregelt werden kann. Wir wissen aus den Er- fahrungen der vergangenen Jahre, dass in den Kommu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen sehr viel brachliegen kann und dass Investitionen, neten der SPD) die man da anstößt, besonders schnell wirken. Deswegen Wir haben in den vergangenen Jahren Maß gehalten in wollen wir mit dem vorliegenden Nachtragshaushaltsge- der Großen Koalition. Wolfgang Schäuble hat die Netto- setz ein Sondervermögen schaffen, mit dem wir in finan- kreditaufnahme gemeinsam mit der Koalition zurück- ziell besonders gestressten Kommunen Investitionen führen können. Wir haben günstige wirtschaftliche Rah- fördern wollen. Das ist unser Beitrag zu mehr Solidarität menbedingungen. Deutschland wächst. Jetzt nutzen wir im föderalen Miteinander. Aber ich verbinde dies mit der diesen Spielraum, um mehr zu tun für das mittelfristige klaren Aussage, dass zusätzliches Bundesgeld jetzt Wachstumspotenzial, für Arbeitsplätze in Deutschland komplementär mit Maßnahmen von der Seite der Länder 10114 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter (A) begleitet werden muss; denn es macht überhaupt keinen ich mich zunächst mit der Frage beschäftigen: Wozu (C) Sinn, dass der Bund eine Schippe drauflegt, wenn sich braucht es einen Nachtragshaushalt? Ein Nachtragshaus- die Länder aus der Verantwortung zurückziehen. halt ist immer dann erforderlich, wenn sich die gesell- schaftlichen Verhältnisse im Vergleich zum Zeitpunkt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Haushaltsaufstellung erheblich verändert haben. neten der SPD) Gelegentlich könnte ein Nachtragshaushalt auch dazu Deswegen: Kommunale Solidarität endet nicht beim benutzt werden, gewonnene neue Erkenntnisse zu verar- Bundeshaushalt, sondern muss gemeinsam von Bund beiten. Wenn der geistige Horizont einer Regierung aber und Ländern getragen werden. Unser Angebot hierzu die schwarze Null ist, haben neue Erkenntnisse natürlich steht. nur geringe Chancen. Eine weitere wichtige Frage ist die folgende: Wie be- (Beifall bei der LINKEN) gegnen wir als Bund bestimmten kommunalen Heraus- Die gravierendsten und bedrückendsten gesellschaft- forderungen, die wir beim Beschluss des Bundeshaus- lichen Veränderungen erleben wir zweifelsohne auf- halts noch nicht in dieser Dimension gesehen haben? Es grund des Elends der Flüchtlinge. Die Flüchtlingsfrage geht um die Aufnahme, Unterbringung, Versorgung und stellt sich in völlig neuer Dimension, und es ist richtig, auch die Gesundheitsversorgung von Asylbewerbern. dass wir darauf reagieren. Es gehört aber auch zur Wahr- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Lage an heit, zu sagen: An der Verschärfung dieses Elends tragen Europas Grenzen ist dramatisch. Unsere Kommunen die Europäische Union, Deutschland und die USA eine sind herausgefordert. Da kann der Bund nicht abseitsste- Mitverantwortung und auch eine Mitschuld. hen. Nicht abseitsstehen heißt, dass wir uns finanziell stärker engagieren, dass wir dafür sorgen, dass Mittel Man muss doch auch folgende Fragen beantworten: eingesetzt werden, dass wir die Verfahren schneller Wer fand es denn richtig, alle staatlichen Strukturen in machen. Der Bund ist bereit, hier mehr zu leisten; aber Libyen wegzubomben? auch da gilt: Wir müssen diese Herausforderungen ge- (Karin Binder [DIE LINKE]: Tja!) meinsam mit den Ländern angehen. – Wir machen ein faires Angebot. Wir erwarten, dass auch die Länder bei Wie ist die Terrormiliz „Islamischer Staat“ denn entstan- der Aufnahme, Unterbringung und möglicherweise, den? Das geschah doch durch die Schlachtfelder des notwendiger Abschiebung von Menschen ganz klare Irakkrieges. Schwerpunkte setzen. Bund und Länder gemeinsam für Kommunen, so lautet die Botschaft dieses Nachtrags- (Johannes Kahrs [SPD]: Du hast die falsche haushalts. Rede gezogen!) (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Und schließlich: Wer dem Fischer die Fische wegfischt, neten der SPD) macht doch den Fischer erst zum Schlepper. Und wenn Herr Kauder – das hat er heute Morgen getan – an die Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden Adresse der Länder, denen wir helfen, sagt: „Wir erwar- in wenigen Wochen den Haushalt für das Jahr 2016 vor- ten aber auch, dass die Flüchtlingsbewegungen unter- legen. Er wird die Maßnahmen dieses Nachtragshaus- bunden werden“, grenzt das, wie ich finde, schon an halts fortführen, er wird deutlich machen, dass unsere Zynismus. Solidarität im föderalen Miteinander nicht geringer, son- dern stärker wird. Er wird aber auch weitere notwendige (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Investitionsimpulse setzen. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Eine Grundlinie ist jedoch klar: Wir wollen mit dem Geld auskommen, das die Bürgerinnen und Bürger uns Eine Willkommenskultur verdient den Namen erst, zur Verfügung stellen. Wir wollen keine neuen Schul- wenn sie von der Betroffenheitskultur zu einer wirkli- den. Jeder private Haushalt kann über kurz oder lang nur chen politischen Verantwortungskultur geworden ist. mit dem auskommen, was er verdient. Das auf den öf- Davon sind wir leider weit entfernt. 500 Millionen Euro fentlichen Bereich zu übertragen, das ist nichts weniger fließen für die Aufnahme von Flüchtlingen und für eine als Respekt vor der Leistung der Menschen in diesem bessere Integration und Betreuung an die Kommunen. Land. Das ist unsere Haushaltspolitik. Das hat im Haushaltsausschuss auch unsere Zustimmung gefunden. Aber das ist natürlich noch weit weg von dem, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- was ich Verantwortungskultur nenne. Erstens wissen wir neten der SPD) alle, dass die Mittel zu gering sind, und zweitens machen wir mit dieser Art der Finanzmittelausreichung die Land- Vizepräsidentin Claudia Roth: kreise und Städte regelmäßig zu Bittstellern bei uns – und Vielen herzlichen Dank, Steffen Kampeter. – Nächs- das kann nicht der Weg sein, um sich ehrlich zu begeg- ter Redner in der Debatte: Roland Claus für die Linke. nen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Wir haben es im Nachtragshaushalt auch mit einer In- Roland Claus (DIE LINKE): vestitionsförderung für finanzschwache Kommunen zu Frau Präsidentin, die Sie auf mich nicht warten muss- tun. Das geht in Ordnung. Wir haben ja auch gesagt: Wir ten! Meine Damen und Herren! Wie mein Vorredner will werden uns nicht daran beteiligen, finanzschwache Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10115

Roland Claus (A) Kommunen etwa in Nordrhein-Westfalen gegen finanz- Herrn Korte erinnern. Das grenzt an Diebstahl geistigen (C) schwache Kommunen in Thüringen auszuspielen. – Das Eigentums, meine Damen und Herren. Problem ist nur, dass Sie mit dem Zwang der Länder, fi- nanzschwache Kommunen auswählen zu müssen, die (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ostdeutschen Länder benachteiligen, weil die Finanz- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schwäche von Kommunen in den ostdeutschen Ländern Das alles geht auf einen Unvereinbarkeitsbeschluss nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist, und die Län- der Unionsfraktion zurück: nicht mit uns auf einer der jetzt gezwungen sind, Menschen und Kommunen Drucksache. Er ist allerdings aus dem Jahre 1998. Ich von der Unterstützung auszunehmen. Das finden wir möchte Sie nur einmal an eines erinnern: 1998 war nicht in Ordnung und kritisieren wir. meine Partei noch die PDS. Nun werde ich wahrschein- (Beifall bei der LINKEN) lich der Letzte sein, der den Anteil der PDS am Zustan- dekommen der neuen Linken irgendwie gering schätzt. Dieser Nachtragshaushalt enthält eine ganze Reihe Aber seit 2005 gibt es keine PDS-Fraktion, keine PDS- von Infrastrukturmaßnahmen des Bundes. Davon geht Anträge mehr im Bundestag. Nun mag „konservativ“ vieles in Ordnung. Aber auch hier stimmen die Verhält- auch bedeuten, dass man in seiner Wahrnehmung etwas nisse nicht. Erneut wird Straßenbau gegenüber Schiene langsam ist; aber zehn Jahre müssten eigentlich genü- und Wasserstraßen erheblich begünstigt, geht Neubau gen, um zu begreifen, dass dieser Beschluss ein Ana- vor Erhalt. Insgesamt reicht es – das wissen Sie auch – chronismus ist. nicht aus. Deshalb spekulieren Sie öffentlich über die Beteiligung privaten Kapitals an öffentlicher Infrastruk- Frau Merkel hat heute Morgen eine Rede gegen den tur. Kalten Krieg geführt. Ich sage Ihnen eines: Das muss auch im Bundestag endlich der Fall sein. Hören Sie auf, ( [CDU/CSU]: So ein den Kalten Krieg, den Sie sonst nicht haben wollen, im Schwachsinn!) Bundestag fortzusetzen! Die Beteiligung privaten Kapitals an öffentlicher Infra- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- struktur will die Linke auch. Nur: Sie wollen bei denen NIS 90/DIE GRÜNEN) betteln und mit denen Geschäfte machen, und wir wollen sie gerecht besteuern. Das ist der kleine Unterschied, meine Damen und Herren. Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke, Roland Claus. – Nächster Redner: Johannes (Beifall bei der LINKEN) Kahrs für die SPD. (B) Im Nachtragshaushalt steckt dann auch noch ein ech- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) ter Skandal, und zwar im Kleingedruckten: Ein Konfe- der CDU/CSU) renzzentrum in Bonn soll auf Bundeskosten fertiggestellt werden. Dieses Konferenzzentrum ist aber Eigentum der Stadt Bonn. Es handelt sich also faktisch um eine Schen- Johannes Kahrs (SPD): kung in Höhe von 34 Millionen Euro. Nach meinem Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Empfinden und meinen bisherigen Kenntnissen geht das Kollegen! Ich glaube, dass der heute vorliegende Nach- am Haushaltsrecht vorbei, und ich denke, das sollte ein tragshaushalt etwas ist, über das man sich in diesem parlamentarisches Nachspiel haben. Land freuen kann. Als die Große Koalition ihren Koali- tionsvertrag schloss, legten wir auch fest, dass wir (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten 23 Milliarden Euro mehr investieren wollen, und wir alle des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) haben gedacht, das wäre es dann für diese Legislatur- Schließlich gibt es noch eine Überraschung: Gestern periode. wurde im Haushaltsausschuss die finanzielle Entschädi- Jetzt ist es aber so, dass aufgrund der guten Politik in gung sowjetischer Kriegsgefangener des Zweiten Welt- den letzten Jahren, insbesondere aufgrund der Reformen, krieges beschlossen. die unter Rot-Grün und Gerhard Schröder vorangetrie- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie ben worden sind, die Wirtschaft in diesem Lande hervor- des Abg. Johannes Kahrs [SPD]) ragend funktioniert, mehr Menschen in Arbeit sind als je zuvor und wir auch noch das Glück haben, dass die Ben- Das ist gut so, und das haben wir ausdrücklich unter- zin- und Ölpreise niedrig sind, dass das Währungsrisiko stützt. geringer ist und die Zinsen niedriger sind. Rundum läuft es derzeit gut. Das führt dazu, dass der Bund mehr Geld (Beifall bei der LINKEN) einnimmt, als man am Anfang gedacht hat. Die Linke gehört bekanntlich zu den Initiatoren dieser Idee. Auf alle Fälle ist es gut und richtig, dass wir daran festhalten, keine neuen Schulden zu machen. Ich glaube, Schäbig und diskriminierend fanden wir allerdings, das ist etwas, wo sich CDU/CSU und SPD einig sind. dass der Linken die Mitautorenschaft bei diesem Antrag Wir haben die Schuldenbremse in der letzten Großen verweigert wurde, dass Sie uns verweigert haben, diesen Koalition gemeinsam vereinbart. Wir haben vereinbart, Antrag mitzuzeichnen, und wir damit ausgeschlossen dass wir in dieser Legislaturperiode keine neuen Schul- wurden. Ich will an die Initiativen von Frau Jelpke und den machen wollen. Ich glaube auch, dass das gut ist. 10116 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Johannes Kahrs (A) Wenn wir das eine, das gut und notwendig ist, mit che erlernen, damit sie relativ schnell auf dem deutschen (C) etwas anderem Guten, nämlich mehr Investitionen, ver- Arbeitsmarkt ankommen. Dies ist eine richtige, gute und binden, dann erreichen wir etwas, was dem Land im zukunftsweisende Investition. An dieser Stelle kann man Hinblick auf seine Wirtschaft, seinen Arbeitsmarkt und der Otto-Benecke-Stiftung für ihre gute Arbeit nur dan- seine zukünftige Entwicklung generell guttut. ken. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deshalb planen wir 10 Milliarden Euro mehr reine der CDU/CSU) Investitionen. Das heißt, wir investieren in die Verkehrs- Es freut mich auch, dass wir uns in der Großen Koali- infrastruktur, in den Bereich Umwelt, in den Bereich tion darauf geeinigt haben, 10 Millionen Euro für die Bau, in alle Bereiche, von denen wir glauben, dass Entschädigung ehemaliger sowjetischer Kriegsgefange- Deutschland hier einen Nachholbedarf hat. ner auf den Weg zu bringen. Wir haben dazu extra eine Zu den 10 Milliarden Euro, die wir investieren, kom- Anhörung durchgeführt. Man kann sich fragen: Warum men 5 Milliarden Euro hinzu, die wir den Kommunen entschädigt man diese eine Gruppe und andere nicht? Es geben, damit sie aus dem Investitionsloch, in dem sie ist eben so, dass sowjetische Kriegsgefangene zu über stecken, herauskommen. Da möchte ich insbesondere 50 Prozent zu Tode gekommen sind. Diese Gruppe aus meiner Fraktion danken, der uns wurde anders behandelt als alle anderen. Daher ist es nur damit seit Jahr und Tag kujoniert und quält. In der Sache richtig und gut – alle Gutachter in unserer Anhörung ist es so, dass die Kommunen unterstützt werden müs- sind zu diesem Ergebnis gekommen –, diese Gruppe zu sen. Es ist aber auch so, dass das Geld, das wir für die entschädigen. Alle Fraktionen tragen dies mit. Ich Kommunen vorsehen, auch bei den Kommunen ankom- glaube daher nicht, dass eine Fraktion die Urheberschaft men muss. Da gibt es ein schwieriges Verhältnis zwi- dafür beanspruchen kann. Dass wir gemeinsam zuge- schen Ländern, Kommunen und Bund. Wir hoffen, dass stimmt haben, ist ein gutes Zeichen. Das ist für die wir es mit der jetzt vorgesehenen Konstruktion im Ein- Glaubwürdigkeit Deutschlands in der Welt wichtig und vernehmen mit den Ländern hinkriegen, dass dieses kann angesichts des im Moment angespannten deutsch- Geld wirklich an die Kommunen geht. Das ist ja in unser russischen Verhältnisses vielleicht helfen. aller Interesse, weil es die Kommunen sind, die Investi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tionen vor Ort tätigen. Es kann nicht sein, dass Investi- der CDU/CSU) tionen nur auf Bundesebene stattfinden. Sie müssen auch in den Stadtteilen stattfinden, in denen die Menschen Man erlaube mir noch einige Bemerkungen zu ande- wohnen. Sie müssen in der Infrastruktur vor Ort ankom- ren Etatverbesserungen, die wir hinbekommen haben: (B) men. Deswegen richte ich einen ganz herzlichen Dank Im Bereich des Ministeriums für Arbeit und Soziales (D) an all diejenigen, die das vorangebracht haben. Mehr gibt es mehr Geld für die Grundsicherung im Alter und Geld für Investitionen, mehr Geld für die Kommunen – für das Programm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“. das war ein wesentlicher Teil unseres Wahlkampfs. Ich Im Verteidigungsministerium haben wir mehr Geld für freue mich, dass wir das in der Großen Koalition so hin- ziviles Personal zur Verfügung gestellt. Als Hamburger bekommen haben. freue ich mich, dass es uns gelungen ist, 30 Millionen Euro für die Bewerbung für die Olympischen Spiele zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verfügung zu stellen. Das ist inzwischen keine Bewer- der CDU/CSU) bung Hamburgs mehr, sondern eine Bewerbung Heute werden auch die Ergebnisse des Flüchtlings- Deutschlands. Hier steht ganz Deutschland und bewirbt gipfels umgesetzt: Wir stellen 750 neue Stellen für das sich international. Deshalb ist es gut und wichtig, dass Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Verfü- der Bund sich daran beteiligt. Vielen Dank, dass alle das gung, das Auswärtige Amt bekommt ebenfalls neue unterstützt haben. Stellen, und im Etat des Innenministeriums stellen wir Glück auf! 25 Millionen Euro mehr für Sprachkurse zur Verfügung. Ich glaube, dass das wichtige Bausteine sind, die wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten brauchen, um beim Thema Flüchtlinge voranzukommen. der CDU/CSU) Ein anderer wichtiger Baustein ist die Unterstützung der Kommunen. Ich glaube, dass das wesentlich und gut Vizepräsidentin Claudia Roth: ist. Vielen Dank, Johannes Kahrs. – Nächste Rednerin in der Debatte: Anja Hajduk für Bündnis 90/Die Grünen In diesem Nachtragshaushalt sind auch wichtige aus Hamburg. kleine Maßnahmen verborgen: 8 Millionen Euro fließen in die Unterstützung von Jugendmigrationsdiensten, und weitere 4 Millionen Euro werden in Sprachkurse für Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ganz besonders qualifizierte Migranten investiert, die Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! studieren wollen. Das sind sogenannte C1-Sprachkurse. Wir beraten heute den Nachtragshaushalt 2015 und ein Für diese Sprachkurse haben wir schon seit März kein Unterstützungspaket für die Kommunen. Wenn man sich Geld mehr. Dank dieser zusätzlichen Mittel können die jetzt die Frage stellt: „Worüber reden wir hier eigent- hochqualifizierten Leute, die in dieses Land kommen lich?“, dann möchte ich sagen, sehr geehrter Herr und hier dringend gebraucht werden, die deutsche Spra- Kampeter: Dies ist ein aufgrund der Verfehlungen bei Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10117

Anja Hajduk (A) den letzten Haushaltsberatungen notwendiges Nachbes- 5 Prozent, und das angesichts der Lücke, die ich vorhin (C) serungsprogramm. beschrieben habe. Das ist nichts, das ist schwach, das ist unwürdig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dies ist im Wesentlichen ein Programm zur Steigerung der öffentlichen Investitionen. Insofern ist dies ein Ver- Deshalb haben wir einen Antrag vorgelegt – und Sie such, die Probleme, die Sie im Dezember zu korrigieren haben uns dafür kritisiert –, nicht in der Lage waren, jetzt, ein halbes Jahr später, we- gen der günstigen Rahmenbedingungen wenigstens ein ( [CDU/CSU]: Zu Recht!) bisschen anzugehen. Ich möchte Ihnen deutlich machen, in dem gefordert wird, in den nächsten Jahren 45 Mil- wie schnell man erkennen kann, dass dies leider nur ein liarden Euro – nicht hektisch, aber entschlossen –, Versuch ist: (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Wer ist denn 3,5 Milliarden Euro als Investitionsförderung für die für die Kommunen zuständig?) Kommunen. Das ist nicht falsch, also ein Viertel der neuen Spielräume, für eine Investiti- ( [CDU/CSU]: Das ist sogar onssteigerung bereitzustellen. Das braucht man, wenn richtig!) man das Wachstumspotenzial des Landes fördern und aber es muss im Verhältnis zu einem Investitionsstau von stärken will. 156 Milliarden Euro bei den Kommunen gesehen wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den; das ist die aktuelle Schätzung des Bundeswirt- schaftsministeriums. Wenn man sagt, dass das Pro- Es geht uns Grünen nicht darum, dies mit Schulden zu gramm 3,5 Milliarden Euro in den nächsten drei Jahren machen. Deshalb habe ich mir erlaubt, Sie noch einmal umfasst und dass 156 Milliarden Euro der Bedarf sind, über die Spielräume aufzuklären, die es gibt. Wir fordern dann sieht man, dass das keine grundsätzliche Lösung Sie auf, diese Spielräume als Gestaltungsspielräume zu für ein unglaublich veritables Problem sein kann, das die nutzen. Seien Sie an dieser Stelle nicht so verzagt. Menschen vor Ort erfahren. Wir haben, was die Konjunktur angeht, ein bisschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Glück, Herr Kahrs. Ich betone ganz deutlich, was in der Expertenanhö- (Johannes Kahrs [SPD]: Das war harte Arbeit!) rung klar geworden ist. (B) Glück zu haben, ist ja nichts Falsches. Auch die Große (D) ( [CDU/CSU]: Das ist gelobt Koalition kann mal Fortune haben. Es gibt fleißige Men- worden!) schen in unserem Land, die das erarbeiten; aber es gibt Es wurde der Versuch der Bundesregierung, die Kom- auch strukturell gute Bedingungen. Wir haben, demogra- munen zu unterstützen, zwar nicht geringgeschätzt. Aber fisch bedingt, mit 43 Millionen Beschäftigten eine ex- trem hohe Beschäftigtenquote. Wir haben deshalb eine es wurde deutlich, dass dies ein viel zu zaghafter Ver- such ist und eine grundsätzliche Lösung, zu der sich ge- gut gefüllte Rentenkasse und niedrige Zinszahlungen; rade eine Große Koalition aufraffen sollte, nicht abzuse- Sie haben dies alles erwähnt. Angesichts der guten Be- hen ist. dingungen ist es Zeit, Vorsorge für das nächste Jahrzehnt zu treffen, und das muss man mit Zukunftsinvestitionen Ich kann dasselbe noch einmal illustrieren, indem ich ganz anders tun, als Sie es tun. nicht nur auf die Kommunen schaue, sondern auf die In- vestitionen insgesamt. Herr Schäuble sagte, es solle noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu- einmal 10 Milliarden Euro mehr in der Finanzplanperi- ruf von der SPD: Genau das machen wir!) ode geben, um die öffentlichen Investitionen zu steigern. Meine letzte Bemerkung: Im Grundsatz ist das ein 10 Milliarden Euro zusätzlich für öffentliche Investitio- schlechter Nachbesserungsversuch. Das, was an diesem nen in der Finanzplanperiode – in welchem Verhältnis Nachtrag richtig und wichtig ist, ist die bessere Unter- stehen diese 10 Milliarden Euro zu den Steuermehrein- stützung der Kommunen bei der Aufnahme von Flücht- nahmen? lingen; das möchte ich nicht vergessen zu erwähnen. Schauen wir uns doch einmal die Steuerschätzung an, Aber was noch besser gewesen wäre, Herr Kahrs, wäre, die gerade veröffentlicht wurde. Die aktuelle Mai-Steu- wenn Sie als Große Koalition im Hinblick auf die späte, erschätzung sagt für 2014 bis 2019 Steuermehreinnah- aber immerhin vorgesehene Entschädigung für sowjeti- men in Höhe von 163 Milliarden Euro voraus. Ich sche Kriegsgefangene die Kraft gehabt hätten, die Lin- möchte das noch konkretisieren: Welche Zinsersparnis ken mitzunehmen. Dazu hat mein Kollege Claus das Nö- haben wir in der Finanzplanperiode? Ganz aktuell sind tige gesagt. Auch an dieser Stelle sollten Sie sich im in Ihrem Nachtrag diesbezüglich 32 Milliarden Euro Haushaltsausschuss einen Schubs geben. ausgewiesen. Das heißt, es gibt aktuell knapp 200 Mil- Herzlichen Dank. liarden Euro Haushaltsverbesserugen in der Finanzplan- periode, und von diesen 200 Milliarden stecken Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10 Milliarden in zusätzliche Investitionen. Das sind nur und bei Abgeordneten der LINKEN) 10118 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: Was waren die Schwerpunkte unserer Beratungen im (C) Danke, Anja Hajduk. – Nächster Redner in der De- Haushaltsausschuss? Wir haben das Grundgesetz ge- batte: Norbert Brackmann für die CDU/CSU-Fraktion. nommen, gewürgt, geknetet, weil in der Föderalismus- kommission II insbesondere auf Wunsch der Länder die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bedingungen, unter denen der Bund überhaupt Förde- neten der SPD) rung für die Kommunen machen kann, so eng gefasst wurden, dass wir kaum eine Möglichkeit haben, die Norbert Brackmann (CDU/CSU): Kommunen unmittelbar zu fördern. Dennoch machen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wir das. Wir hätten uns auch aus dem Staub machen und Kollegen! Das, was wir hier heute machen, hat nichts, auf die Verantwortung der Länder hinweisen können. aber auch wirklich gar nichts damit zu tun, Frau Hajduk, Dies machen wir nicht. Wir stehen zu den Aufgaben, die dass wir Verfehlungen korrigieren wollen, oder damit, die Kommunen haben. Wir stehen zu dieser Solidarität dass wir auf gesellschaftliche Veränderungen, lieber zwischen Bund und Ländern. Das ist gerade in dieser Kollege Claus, reagieren wollen. Vielmehr geht es da- Zeit besonders wichtig. rum, dass wir zur rechten Zeit das, was wir mit guter Politik an Freiräumen geschaffen haben, den Menschen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zurückgeben, es zur Lösung der Probleme in diesem neten der SPD) Land einsetzen und heute damit eine wesentliche Grund- lage für die Zukunft legen. Ein Teil dieser Verantwortung ist auch, dass wir trotz dieser Aufgabenteilung, die ja von unseren Urvätern be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wusst gewählt wurde, sagen: Wenn es besondere Belas- neten der SPD) tungen für den Staat gibt, dann muss man diese nach Möglichkeit auf alle Ebenen verteilen, damit der ge- Deswegen ist die schwarze Null kein Kampfbegriff, samte Staat diese Belastung tragen kann. Es ist richtig, auch wenn Sie das vielleicht so sehen. Geld nicht auszu- bei der Flüchtlingsproblematik zu sagen, dass für das geben und keine Schulden zu machen, sondern über Anerkennungsverfahren der Bund zuständig ist, die Län- Geld erst zu verfügen, wenn man es hat, ist ein wesentli- cher Grund dafür, dass wir heute an dem Punkt sind, an der für die Erstunterbringung und die Kommunen für die dem wir sind. Ich hatte vorhin bei einigen Rednern der dauerhafte Unterbringung. Aber bei der Bewältigung Opposition ein bisschen den Eindruck, als würde es Zu- dieser Aufgaben sind wir aufgrund der guten finanziel- fall sein, dass wir heute dort sind, wo wir sind. Aber wie len Situation jetzt in der Lage, bei der Unterbringung der ist es denn dazu gekommen, dass wir weniger Zinsen Flüchtlinge zu helfen. Die 1 Milliarde Euro, die wir zu- (B) zahlen? Bekanntlich zahlt man Zinsen, wenn man Schul- sätzlich für die Flüchtlingsunterbringung in 2015 und (D) den aufgenommen hat. Wenn wir aber keine neuen 2016 zur Verfügung stellen, und die Entlastung der Schulden aufnehmen, zahlen wir auch keine neuen Zin- Kommunen in 2017 über das Investitionspaket in Höhe sen. Wenn die Investoren Vertrauen darin haben, dass von 1,5 Milliarden Euro sind unter dem Eindruck der wir mit ihrem Geld sorgsam umgehen, dann geben sie vielen Flüchtlinge ein Zeichen der Menschlichkeit und uns auch Geld zu niedrigen Zinsen, was dazu führt, dass eine wichtige Hilfe. wir mehr Einnahmen zu verteilen haben. Aber dann können und müssen wir auch erwarten, Exakt dies machen wir heute. Wir machen es in er- dass die Länder ihrerseits nicht den Versuch machen, an heblichem Umfang. Wir investieren zusätzlich 10 Mil- dieser Aufgabe zu verdienen, sondern das Geld an die liarden Euro in die Zukunft des Bundes, aber – da ver- Kommunen durchreichen. Wenn nur drei Länder die stehe ich die Kritik, die hier geäußert wurde, nun Bundesmittel für die Flüchtlinge komplett an die Kom- überhaupt nicht – in den nächsten Jahren gehen auch munen weiterleiten, dann finde ich, dass wir das nicht 6 Milliarden Euro in die Kommunen. Das ist bemerkens- akzeptieren können und dürfen. wert; denn wenn man sich die Finanzverfassung unseres Grundgesetzes anschaut, sieht man, dass wir als Bund ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gentlich keine Verantwortung für die Kommunen haben, sondern die Länder in der Verantwortung für die Kom- Das alles sind Investitionen in die Zukunft und in die munen sind. Deswegen wäre es naheliegend, dass jeder Menschen. Deswegen ist der heutige Tag ein guter Tag auf seinem Gebiet die Politik macht, für die er zuständig für die Menschen, für die Kommunen, für die Flücht- ist, und dafür sorgt, dass er mit dem Geld auskommt, das linge und für Deutschland. er einnimmt, das er von den Menschen bekommt. Das wäre schon eine grundsolide Haltung. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Insofern ist es, glaube ich, nicht hoch genug zu würdi- gen, dass wir als Bund ein Investitionspaket für die Kommunen auflegen. Auch hier sehen wir wieder, dass Vizepräsidentin Claudia Roth: von den Ländern vielleicht etwas mehr Bereitschaft, hier Danke, Herr Kollege Brackmann. – Frau Gottschalck, Verantwortung zu übernehmen, gefordert werden bevor ich Ihnen das Wort erteile, hat der Kollege Jan könnte. Korte das Wort zu einer Kurzintervention. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10119

(A) Jan Korte (DIE LINKE): mithelfen, die Lebenssituation der Menschen zu verbes- (C) Frau Präsidentin, schönen Dank, dass Sie das zulas- sern. sen. – Ich will kurz auf einen Punkt eingehen. Ich finde (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) es in der Tat gut, dass – für die Verhältnisse in diesem Hause relativ unbürokratisch – 10 Millionen Euro zur XXL-Forderungen waren wir bisher von den Linken Entschädigung der wenigen noch lebenden ehemaligen gewöhnt. Jetzt kommen sie auch von den Grünen. Ich sowjetischen Kriegsgefangenen bereitgestellt werden. frage mich, wie Sie sich die Umsetzung vorstellen. Die Ich finde, das ist eine gute Sache, und das ist kurz nach Bautechniker werden schon aufgrund der 3,5 Milliarden dem 70. Jahrestag der Befreiung eine gute Nachricht für Euro für die Kommunen und der 10 Milliarden Euro auf die ganz wenigen Überlebenden. Schließlich sind über Bundesebene, die bereits als Investitionsprogramm vor- 3,5 Millionen Menschen in deutschen Lagern elendig gesehen sind, genug zu tun haben. Was über Jahrzehnte verhungert. aufgelaufen ist, wird man garantiert nicht in einem einzi- gen Jahr oder in einer Legislaturperiode abbauen kön- Ich weise aber darauf hin, dass wir, meine Kollegin nen. Jelpke und übrigens auch viele Grüne schon seit vielen Jahren und auch ich persönlich in den letzten Monaten, Meine sehr geehrten Damen und Herren von den Grü- uns sehr für eine Entschädigung engagiert haben. Weil nen und Linken, wenn Sie heute nicht zustimmen oder, mir das, was jetzt erreicht wurde, sehr wichtig ist, will wie angedeutet, sich kraftvoll enthalten, dann werden ich aber eines anmerken: Dass Sie von der CDU/CSU, Sie damit auch der Entlastung der Kommunen nicht zu- wohl wissend, dass damals das Gesetz zur Zwangsarbei- gestimmt haben. Daran werden wir Sie auch immer wie- terentschädigung von allen Fraktionen gemeinsam ein- der erinnern. gebracht wurde – damals übrigens noch von der PDS, um das in Erinnerung zu rufen –, bei so einer Frage und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten an einem solchen Jahrestag ausgerechnet die Fraktion, der CDU/CSU – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/ die mit den Grünen, mit vielen Initiativen und Wissen- DIE GRÜNEN]: Das ist sehr billig!) schaftlern und anderen seit so vielen Jahren dafür gestrit- Für uns hat die Entlastung der Städte und Gemeinden ten hat, aus dem Antrag herauskegeln müssen, finde ich höchste Priorität. Das haben wir versprochen, und das der Sache nicht angemessen. Dass Sie bei einer so ele- halten wir. Das zeigen wir heute, indem wir die Kommu- mentaren historischen Frage so kleingeistig vorgehen, nen bis zum Jahr 2018 um insgesamt 25 Milliarden Euro hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Das wollte ich loswer- entlasten werden. Noch einmal zum Mitschreiben: den. 25 Milliarden Euro bis zum Jahr 2018. (B) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Heute haben wir das massive Entlastungs- und Inves- (D) NIS 90/DIE GRÜNEN) titionspaket, insbesondere für finanzschwache Kommu- nen, aber auch die bereits angekündigten 10 Milliarden Vizepräsidentin Claudia Roth: Euro für Investitionen in Deutschland. Herr Brackmann, Sie haben die Möglichkeit, zu ant- Ich will zu dem kommunalen Paket etwas sagen. Wir worten. stocken die bereits für 2017 beschlossene Entlastung von (Norbert Brackmann [CDU/CSU]: Ich ver- 1 Milliarde Euro auf insgesamt 2,5 Milliarden Euro auf. zichte darauf!) Das eröffnet Spielräume für die Kommunen. Noch in diesem Jahr stellen wir 3,5 Milliarden Euro für das Son- – Sie möchten nicht antworten. – Dann hat Ulrike dervermögen mit dem schwierigen Namen „Kommunal- Gottschalck für die SPD das Wort. investitionsförderungsfonds“ bereit. Aus diesem Fonds (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden wir in den Jahren 2015 bis 2018 insbesondere fi- der CDU/CSU) nanzschwache Kommunen fördern, und zwar bis zu 90 Prozent. Ganz bewusst haben wir geringe Zielvorga- ben gewählt, damit die Kommunen wirklich flexibel Ulrike Gottschalck (SPD): handeln können und auch bereits geplante Maßnahmen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und gefördert werden können. Entgegen Ihrer Aussage, Frau Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die GroKo Hajduk, wurden wir in der Anhörung ausdrücklich von macht nicht immer nur Spaß. Das werden mir meine den Vertretern der Kommunen – Städtetag, Landkreis- Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen be- tag – gelobt. Das ist bei weitem keine Nothilfe. stätigen. Aber die Ergebnisse der GroKo machen Spaß, und vor allen Dingen sind sie gut für die Menschen in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unserem Land. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Länder können festlegen, welche Kommunen sie der CDU/CSU) als finanzschwach definieren. Sie können auch den 10-prozentigen Anteil der Kommunen übernehmen. Wenn ein Nachtragshaushalt wie der heutige vorliegt, Jetzt bin ich einmal gespannt, wie die Länder agieren. dann sollte man sich nicht – je nach Naturell – beschwe- Ich bin vor allen Dingen darauf gespannt, wie sich mein ren, ereifern, aufregen oder gar echauffieren, Frau Land, Hessen, aus der Affäre ziehen will, um um die Hajduk, sondern man sollte ihm zustimmen und dadurch 10 Prozent herumzukommen. 10120 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Ulrike Gottschalck (A) Im Haushaltsausschuss haben wir einen Maßgabebe- licht haben. Ich sage auch ein herzliches Dankeschön an (C) schluss gefasst, der insbesondere festhält, dass wir er- das Bundesfinanzministerium und das Bundesinnen- warten, dass die zur Verfügung gestellten Mittel unver- ministerium; denn dieser Nachtragshaushalt kann sich mindert und zusätzlich an die Kommunen weitergegeben gerade angesichts der großen innenpolitischen Heraus- werden. Das ist, denke ich, ein kluger Beschluss. forderungen, die wir derzeit haben, wirklich sehen las- sen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Führen wir uns noch einmal vor Augen: Wir hatten im Jahr 2008 etwa 28 000 Asylbewerber in Deutschland. Ich hatte jetzt noch eine Aufzählung vorgesehen, was Wir hatten dann vor zwei Jahren 127 000, im letzten Jahr wir alles gemacht haben; aber die lasse ich aus Zeitgrün- 202 000 Erstanträge, und die für dieses Jahr aktualisierte den weg. Prognose des Bundesamtes für Migration und Flücht- Unbestritten stehen unsere Gemeinden vor großen linge lautet sage und schreibe 400 000, also noch einmal Herausforderungen. Wir wollen den Städten, Gemeinden eine Verdoppelung der Zahlen vom letzten Jahr. Deswe- und den Landkreisen ganz konkret dabei helfen, diese gen ist es sachgerecht und auch wichtig, dass die Stellen- Zukunftsaufgaben zu schultern. Das gilt eben auch für zahl im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erhöht die aktuellen Flüchtlingsströme. Deshalb ist es gut, dass wird. sich im Nachtrag auch die Ergebnisse des Flüchtlings- Ich bin den Haushaltskollegen schon sehr dankbar da- gipfels widerspiegeln. für, dass für die Haushaltsjahre 2014 und 2015 insge- (Beifall bei der SPD) samt 650 zusätzliche Stellen geschaffen wurden. Ich finde es auch sehr erfreulich, dass mit diesem Nachtrags- Denn die Fluchtursachen – Bürgerkriege, Terror, Armut – haushalt beschlossen wird, dass noch einmal zusätzliche werden sich nicht von heute auf morgen in Luft auflö- 750 Stellen im BAMF geschaffen werden. Das ist wirk- sen. Ja, wir brauchen tragfähige europäische Lösungen, lich ein klares Signal dafür, dass der Bund sich seiner aber wir brauchen auch Lösungen vor Ort; denn die Verantwortung im vollen Umfang bewusst ist und dass Flüchtlinge stehen bei uns vor Ort in den Kommunen er dieser Verantwortung gerecht wird. und müssen dort versorgt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich bin deshalb auch unseren Haushältern sehr dank- bar, dass wir es gestern in unserer kleinen Bereinigungs- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, im sitzung zum Nachtrag erreicht haben, noch weitere Mit- Koalitionsvertrag steht, dass wir die durchschnittliche tel für die wichtige Flüchtlingsarbeit zu akquirieren. Dauer von Asylverfahren auf drei Monate bringen wol- Außer den 25 Millionen Euro für Integrationskurse wird len. Wir sind da schon auf einem sehr guten Weg. Die (B) (D) es jetzt noch 8 Millionen Euro für die Jugendmigration derzeitige Verfahrensdauer liegt bei etwa sechs Mona- geben und 4 Millionen Euro für Sprachkurse; Kollege ten. Aber da gibt es – um dies offen zu sagen – noch Luft Kahrs hat es schon angesprochen. Auch das hilft den nach oben oder, besser gesagt, nach unten. Kommunen ganz konkret weiter. (Johannes Kahrs [SPD]: Das ist wohl wahr!) Der Nachtrag trägt also eine eindeutige Handschrift, Deswegen ist es richtig, dass diese 750 Stellen geschaf- es handelt sich um einen Haushalt zur Unterstützung der fen werden. Kommunen. Ich kann nur noch einmal an die Opposition appellieren: Stimmen Sie einfach mit. Dann helfen Sie Es ist dann aber auch wichtig – das möchte ich mit auch, dass es den Menschen in den Kommunen besser diesem Dank verbinden –, geht. (Johannes Kahrs [SPD]: Dass die besetzt wer- Danke schön. den!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dass diese Stellen schnell besetzt werden. Man hört, dass die 350 Stellen, die in diesem Jahr zusätzlich zur Verfü- Vizepräsidentin Claudia Roth: gung stehen, noch nicht komplett besetzt worden sind. Vielen Dank, Ulrike Gottschalck. – Der letzte Redner Da glaube ich schon, dass von der Debatte heute der in dieser Debatte: Stephan Mayer für die CDU/CSU- starke Wunsch in Richtung BAMF ausgehen sollte: Bitte Fraktion. sorgen Sie dafür, dass diese Stellen schnell mit Personal unterfüttert werden! (Beifall bei der CDU/CSU) (Johannes Kahrs [SPD]: Aber keine Kritik am Ministerium!) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wenn ein einfacher In- ist ebenso gut und erfreulich, dass 25 Millionen Euro zu- nenpolitiker wie ich in einer Haushaltsdebatte sprechen sätzlich für Sprach- und Integrationskurse zur Verfügung darf, dann muss schon etwas Besonderes passiert sein. gestellt werden. Auch hier, glaube ich, kann sich das, Das ist auch der Fall. Dieser Nachtragshaushalt 2015 was der Bund macht, wirklich sehen lassen. Der Bund weist einen klaren innenpolitischen Schwerpunkt auf. stellt in diesem Jahr über 270 Millionen Euro für Sprach- Ich sage hier in aller Form: Danke an die Kolleginnen und Integrationskurse zur Verfügung. Das ist, glaube ich, und Kollegen im Haushaltsausschuss, die dies ermög- durchaus honorig. Darauf können wir auch stolz sein. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10121

Stephan Mayer (Altötting) (A) Ebenso werden 4,3 Millionen Euro zusätzlich für Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) Dolmetscher zur Verfügung gestellt und 5 Millionen Vielen Dank, Herr Mayer. – Damit schließe ich die Euro zusätzlich für die Bundespolizei, um die erforderli- Aussprache. chen Rückführungen bzw. Abschiebungen durchführen zu können. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes Ich sage hier eines ganz offen: Der Bund wird mit über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaus- diesem Nachtragshaushalt in Sachen Asyl- und Flücht- haltsplan für das Haushaltsjahr 2015. Der Haushaltsaus- lingspolitik seiner Verantwortung gerecht. Ich erwarte schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf jetzt aber auch von den Ländern, dass sie das Ihre tun. Drucksachen 18/4950 und 18/4951, den Gesetzentwurf Die Länder müssen jetzt auch tätig werden, wenn es da- der Bundesregierung auf Drucksache 18/4600 in der rum geht, mehr Stellen bei den Ausländerbehörden und Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die mehr Stellen bei den Verwaltungsgerichten zu schaffen; dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen denn es reicht nicht, dass die Verfahren kürzer werden wollen, jetzt um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- und schneller durchgeführt werden. Wenn der Verfah- gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit rensbescheid des BAMF vorliegt, dann muss auch der in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung von Ausweisungsbescheid schnell erstellt werden. Es darf CDU/CSU und SPD und Ablehnung von der Linken und hier nicht ein Flaschenhals entstehen dergestalt, dass Bündnis 90/Die Grünen. zwar die Verfahren beschleunigt durchgeführt werden Dritte Beratung und das BAMF beschleunigt tätig wird, dass sich aber der Stau bei den Ausländerbehörden und bei den Verwal- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- tungsgerichten vergrößert. Klarer Appell in Richtung setzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Länder: Mehr Stellen für die Ausländerbehörden und Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- mehr Stellen für die Verwaltungsgerichte! wurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD und Ablehnung von der Linken und Bünd- (Beifall bei der CDU/CSU) nis 90/Die Grünen. Es ist wichtig – ein Großteil der Asylbewerber wird ja Tagesordnungspunkt 8 b. Abstimmung über den von abgelehnt –, dass dann auch die Abschiebungen zeitnah der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur erfolgen. Hierfür sind die Länder ebenso in der Verant- Förderung von Investitionen finanzschwacher Kommu- wortung wie für die Erweiterung der Kapazitäten bei den nen und zur Entlastung von Ländern und Kommunen bei Erstaufnahmeeinrichtungen. der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- (B) (D) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich empfehlung auf Drucksache 18/4975, den Gesetzent- möchte in aller Kürze noch einen zweiten innenpoliti- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4653 schen Schwerpunkt dieses Nachtragshaushalts anspre- (neu) in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte chen, der sich wirklich sehen lassen kann. Das ist die diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Entscheidung, dass in den nächsten Jahren vom Bund sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer insgesamt 30 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält gestellt werden zur Bekämpfung der Wohnungsein- sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bruchskriminalität. Wohnungseinbruch ist ein Phäno- angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD men, das die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der höchster Weise erschüttert. Im Durchschnitt wird in Linken. Deutschland alle dreieinhalb Minuten in eine Wohnung eingebrochen. Im letzten Jahr gab es die Rekordzahl von Dritte Beratung 152 000 Einbrüchen. Ich finde es gut – auch hierfür bin und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen – Sie wis- ich den Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsaus- sen es –, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich schuss dankbar –, dass für dieses Jahr 10 Millionen Euro jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält und für die nächsten beiden Jahre jeweils noch einmal sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustim- 10 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Damit mung von CDU/CSU und SPD und Enthaltung von der wird die KfW in die Lage versetzt, ein Sonderprogramm Linken und Bündnis 90/Die Grünen. zu starten, um sowohl Vermietern als auch Mietern zu ermöglichen, mechanische oder elektronische Siche- Tagesordnungspunkt 8 c. Beschlussempfehlung des rungsmaßnahmen vorzunehmen. Ein herzliches Danke- Haushaltsausschusses zum Antrag der Fraktion Die schön für diese Maßnahme! Linke mit dem Titel „Bundesverantwortung wahrneh- men – Kommunen bei Unterbringung von Flüchtlingen Ich glaube, man kann wirklich mit Fug und Recht be- und Asylbewerbern sofort helfen und Kosten der Unter- haupten: Der Bund und die Regierungskoalition machen kunft für Hartz-IV-Leistungsberechtigte schrittweise mit diesem Nachtragshaushalt deutlich, dass sie nicht übernehmen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- nur Sprüche klopfen, sondern auf die innenpolitischen schlussempfehlung auf Drucksache 18/4118, den Antrag Herausforderungen effektiv und zeitnah reagieren. der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3573 abzu- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung 10122 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (C) bei Ablehnung der Linken. bei Abgeordneten der LINKEN) Tagesordnungspunkt 8 d. Beschlussempfehlung des Ich sage Ihnen auch, warum. Das Deutschlandstipen- Haushaltsausschusses zum Antrag der Fraktion Bünd- dium trägt nichts dazu bei, dass unser Bildungssystem nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Heute für morgen in- durchlässiger wird. Kein Jugendlicher lässt sich dadurch vestieren – Damit unsere Zukunft nachhaltig und gerech- zu einem Studium motivieren; denn nahezu alle Geför- ter wird“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner derten studieren bereits länger als ein Semester. Eine si- Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4974, den An- chere Studienfinanzierung wie durch das BAföG mit sei- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- nem klaren Rechtsanspruch motiviert zum Studieren. che 18/4689 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Eine unsichere Stipendienlotterie tut das jedenfalls nicht. schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) men bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD, Ableh- nung von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Wir Grüne wollen, dass sich die Vielfalt der Gesell- Linken. schaft auf dem Campus widerspiegelt und dass sich un- sere Hochschulen sozial öffnen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Wir Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai auch! Diese Philosophie gibt es auch!) Gehring, Ekin Deligöz, Luise Amtsberg, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dazu hat das Deutschlandstipendium aber ganz klar NIS 90/DIE GRÜNEN nichts beigetragen. Auch deswegen brauchen wir es nicht. Deutschlandstipendium abschaffen – Stipen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dienförderung und Studienfinanzierung stär- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Özcan ken Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ab- Drucksache 18/4692 schaffen!) Überweisungsvorschlag: Es gibt nicht nur wahnsinnig wenige Deutschlandsti- Ausschuss für Bildung, Forschung und pendien. Sie verteilen sich auch extrem ungleich auf die Technikfolgenabschätzung (f) Studienfächer. Mehr als die Hälfte ging an angehende Haushaltsausschuss Ingenieure, Wirtschaftswissenschaftler und Informatiker. (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Geisteswissenschaftler dagegen gingen fast leer aus. Für (D) die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei- Historiker standen bundesweit putzige 169 Deutschland- nen Widerspruch, ich höre keinen Widerspruch. Ich höre stipendien bereit. Eine solch einseitige Förderpraxis ist vieles andere. Ich bitte Sie, sich nun auf die Debatte zu weder chancengerecht noch leistungsgerecht. konzentrieren. Dann ist das so beschlossen, dass Sie sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie konzentrieren. bei Abgeordneten der LINKEN) Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kritikwürdig sind auch die horrenden Verwaltungs- Kollegen Kai Gehring von Bündnis 90/Die Grünen. kosten. 2013 ist jeder fünfte Stipendien-Euro für Büro- kratie draufgegangen. Die überbordende Bürokratie kri- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tisiert auch der Bundesrechnungshof glasklar. Er Frau Präsidentin, vielen Dank für die Konzentration. – verlangt, die Durchführungskosten des Deutschlandsti- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolle- pendiums auf 10 Prozent zu reduzieren. Dem darf sich ginnen und Kollegen! Bildungschancen und der Zugang die Koalition doch nicht länger verweigern. zur Hochschule dürfen nicht von der sozialen Herkunft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie oder vom Konto der Eltern abhängen. der Abg. Nicole Gohlke [DIE LINKE]) (Beifall im ganzen Hause) Die Steuergelder für das Deutschlandstipendium soll- ten auslaufen, weil es vor allem ein absoluter Ladenhüter Dieses Ziel ist längst noch nicht erreicht. Das zu ändern, ist. Von 2,7 Millionen Studierenden erhalten nicht ein- muss endlich politische Priorität werden. Wir brauchen mal 0,8 Prozent ein Deutschlandstipendium. Dabei hatte eine Hochschulpolitik und eine Studienfinanzierung, die gerade die Union damals 8 Prozent als Ziel ausgegeben. kein Talent zurücklassen. Da ist Ihnen nicht nur einfach ein Komma verrutscht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist vielmehr ein klarer Misserfolg. und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten der SPD) Diese unrealistischen Regierungsziele führen dazu, Wir Grüne beantragen hier und heute, die Bundesmit- dass Jahr für Jahr Abermillionen Euro durch das tel des erfolglosen Deutschlandstipendiums umzuwid- Deutschlandstipendium blockiert, aber am Ende nicht men; denn diese Mittel wären in BAföG und in Stipen- verbraucht werden. Das ist ein Unding; denn an anderer dien für Flüchtlinge viel, viel besser investiert. Stelle fehlt das Geld doch eindeutig, zum Beispiel bei Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10123

Kai Gehring (A) Stipendien an Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebie- pendium ab, und stärken Sie mit uns die Studienfinan- (C) ten. Flüchtlinge brauchen hierzulande endlich einen zierung für alle! Das wäre ein starker Beitrag zu schnelleren Zugang zum BAföG; das haben wir Grüne Chancengerechtigkeit für alle in unserem Land. beantragt. Die Flüchtlinge brauchen aber auch dringend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr Stipendien. Allein 5 000 syrische Studierende ha- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Özcan ben sich im letzten Jahr beim DAAD um ein Stipendium Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat beworben. Dafür hat das Auswärtige Amt nur 200 Plätze er recht!) finanziert. Der Bedarf ist also weitaus höher als das An- gebot. Bund und Länder müssen Stipendienprogramme für Flüchtlinge dringend ausbauen. Das ist unbürokrati- Vizepräsidentin Claudia Roth: sche Hilfe. Das tut not, und das kommt an. Vielen Dank, Herr Kollege Gehring, auch dafür, dass die Redezeit vorbildlich eingehalten worden ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Das erste Mal seit Dafür können Sie das Geld für das Deutschlandstipen- Monaten!) dium gewinnbringend einsetzen. Ich weiß nicht, ob er ein Stipendium hatte, aber gelernt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hat er es. Für den einzelnen Geförderten ist das Deutschlandsti- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: pendium eine gute Sache; das werden Sie sicherlich Ich kann gern noch etwas ergänzen!) gleich erklären. Nächste Rednerin in der Debatte: Sybille Benning für (Beifall bei der CDU/CSU) die CDU/CSU-Fraktion. Eine Förderung mindestens im selben Umfang, dafür (Beifall bei der CDU/CSU) aber dauerhaft, ermöglichen die bewährten Begabtenför- derungswerke. Wir brauchen also keine staatlich finan- zierte Doppelstruktur bei der Stipendienvergabe. Im Sybille Benning (CDU/CSU): Übrigen haben sich Wirtschaftsverbände im letzten Jahr- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten zehnt immer wieder dazu bereit erklärt, eine Stipendien- Damen und Herren auch auf der Tribüne! Aber ganz be- kultur in Deutschland zu initiieren. Da kann ich nur sa- sonders: Meine lieben Kollegen von der Grünenfraktion! gen: Nur zu! Bieten Sie doch Stipendien an! Dazu bedarf (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: es keiner Extrasteuergelder, sondern nur der Eigeninitia- Danke schön!) tive der Wirtschaft. (B) Was soll dieser Antrag eigentlich? Sie wollen das (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschlandstipendium abschaffen? In die soziale Öffnung der Hochschulen zu investie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ren, das ist richtig gut angelegtes Geld. Daher war es gut, Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja, ja!) dass wir Grünen in den Ländern mit wechselnden Part- nern die unsozialen Studiengebühren abgeschafft haben. Ist das Ihre Botschaft an etwa 22 000 Stipendiaten? Für Um mehr Studierenden der ersten Generation tatsächlich sie gibt es kein Stipendium mehr? Ist das Ihre Botschaft den Weg auf den Campus zu ebnen, ist eine sichere Stu- an die vielen Förderer, die allein im letzten Jahr 24 Mil- dienfinanzierung das A und O. Aber das BAföG ist seit lionen Euro für das Stipendium gegeben haben: „Euer fünf Jahren nicht erhöht worden. Die Koalition stellt Geld brauchen wir nicht mehr, wir wirtschaften wieder Studierende bis ins Wintersemester 2016/2017 in die ohne euch“? Warteschleife. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir Grünen sagen: Das BAföG muss rauf, und zwar NEN]: Das Geld muss besser und richtig in- sofort! Fördersätze und Freibeträge müssen unverzüg- vestiert werden!) lich um 10 Prozent steigen! Und: Geben Sie endlich Ih- Das kann doch wohl nicht wahr sein. ren Widerstand auf, die BAföG-Sätze regelmäßig anzu- passen! Das muss jetzt kommen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist offenkundig, dass das Deutschlandstipendium ein Erfolg ist. Dass es Kraft kostet, auch in Form von Unsere Anliegen sind eine verlässliche Studienfinan- Verwaltungskosten, ein neues, so nie dagewesenes Pro- zierung und eine effektive Stipendienvergabe. Wech- gramm anzuschieben, das ist doch wohl klar. selnde CDU-Bildungsministerinnen haben eine Stipen- diensuppe angerührt, die keiner auslöffeln will. Sie von (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der SPD können ja seit zwei Jahren die Speisekarte mit- Wasserköpfe!) bestimmen. Dann machen Sie das auch! Es ist wie mit neuen Schuhen: Zuerst drücken sie ein (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja, 2 Prozent!) bisschen, und dann müssen sie eingelaufen werden, da- mit man mit ihnen einen langen Weg laufen kann. Nehmen Sie Ihren Koalitionspartner an die Hand, und schaffen Sie mit uns Grünen und den Linken dieses un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – sinnige, ungerechte Pinkwart-Schavan-Gedächtnissti- Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wie viele Jahre 10124 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Sybille Benning (A) darf es denn drücken? – Zuruf von der CDU/ Viele Unternehmen bieten ihren Stipendiaten zusätz- (C) CSU: Nachhaltig!) lich zu den finanziellen Mitteln Einblicke in ihre Be- triebe. Es entwickeln sich Netzwerke, die in die Region – Das ist auch nachhaltig. und darüber hinaus auch global wirken. Studierende ver- Jetzt haben die Hochschulen die Strukturen aufge- schiedener Fächer finden über Projektarbeit zueinander, baut, jetzt läuft es, und jetzt kommen Sie und sagen: und durch Verknüpfungen zwischen Wissenschaft und „Alles umsonst, zurück auf null“? Wirtschaft sowie Privatleuten bilden sich völlig neue Synergieeffekte. Wissen Sie eigentlich, dass der Bund mit dem Deutschlandstipendium jetzt etwa doppelt so viele Stu- Aber wer bekommt eigentlich ein Deutschlandstipen- dierende fördern kann wie vorher über die Begabtensti- dium? Jemand, der überdurchschnittliche Leistungen er- pendien? Dadurch, dass private Förderer wie Unterneh- bringt, und zwar nicht nur in seinem Studienfach. men, Stiftungen oder auch Privatpersonen die eine Hälfte der Stipendien tragen, hat sich in der Tat eine (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ganz neue Stipendienkultur in Deutschland etabliert, Die Geisteswissenschaftler offensichtlich nicht!) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 0,76 Prozent! – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Die Stipendiaten sind ehrenamtlich engagiert oder in 0,76 Prozent – das ist wirklich eine neue Sti- vielen Fällen der erste Studierende in der Familie oder pendienkultur!) familiär stark eingebunden oder erst kürzlich nach Deutschland gekommen, mussten dazu möglicherweise eine privat-öffentliche Bildungspartnerschaft, etwas sogar Hindernisse überwinden und die deutsche Sprache ganz Neues. Gewöhnen Sie sich einmal daran! lernen. Das sind alles Leistungen, die nicht mit Noten zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bewerten sind. Das ist sozusagen eine Stipendienkulturrevolution. Diese Leistungen einmal anzuerkennen, ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Hier werden nämlich Menschen (Lachen des Abg. Kai Gehring [BÜND- mit Talenten erkannt, die noch andere Kompetenzen ha- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Kai Gehring ben, die ebenso elementar wichtig sind wie fachspezifi- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 0,76 Pro- sche Begabung. zent!) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das stimmt doch So ist es. Sie können ja mitmachen. einfach nicht! Das ist Augenwischerei!) (B) (D) So vielfältig wie heute war die Geberseite noch nie. Unser Land, wir brauchen Menschen mit Persönlichkeit Die Möglichkeit, mit überschaubaren Beiträgen ein und einem Sinn für das, was unsere Gesellschaft voran- überschaubares Engagement zu leisten, lockt auch viele bringt. Privatpersonen. Einige Universitäten bieten zum Bei- spiel auch Crowdfunding an, bei dem mehrere Spender (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: mit kleinen Beiträgen Was hat das mit dem Deutschlandstipendium (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja, jeder 10 Euro!) zu tun?) einen Stipendiaten finanzieren. So werden Menschen er- Gerade die Anerkennung durch das Stipendium – so reicht, die zuvor kaum Kontakt oder gar keinen Kontakt haben mir viele erzählt – stärkt ihr Selbstbewusstsein zur örtlichen Hochschule hatten. und ihre Motivation, diese hohe Leistung weiterhin zu bringen. Auch wenn 300 Euro niemanden voll finanzie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ren, so machen sie doch oft den entscheidenden Unter- schied aus, ob ein Nebenjob nötig ist, ein Auslandsse- Gerade diese Förderer sind oft besonders begeistert mester drin ist oder die Belegung von Kursen über den von diesen engagierten Menschen, die sie sonst nie ge- normalen Lehrplan hinaus möglich ist. All das wollen troffen hätten. Und so wird auch die Hochschule ein Sie den Deutschlandstipendiaten, den Förderern und den deutlich lebendigerer Teil der Zivilgesellschaft. Hochschulen wieder nehmen. Bei den Veranstaltungen zum Deutschlandstipen- dium, zum Beispiel bei den Vergabefeiern, entstehen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) jetzt neue Kontakte zwischen Studierenden, Universitä- Meine Damen und Herren, die Westfälische ten und Spendern, Wilhelms-Universität in meinem Wahlkreis Münster (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: verzeichnet in diesem Jahr mit 223 Stipendiaten, die von Aber dafür brauchen die doch keine Bundesre- 84 Förderern unterstützt werden, einen neuen aktuellen gierung! Das können die alles selber machen!) Rekord. Hier erfolgt die verantwortungsbewusste Aus- wahl der Stipendiaten zentral unter Beteiligung aller von denen alle Seiten profitieren. Hier heißt mitmachen: Fachbereiche. Für die Uni Münster ist dieses Verfahren gemeinsam gewinnen – ganz nach dem Motto des ein Stück gelebte demokratische Kultur. Deutschlandstipendiums „Voneinander lernen, miteinan- der fördern“. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10125

Sybille Benning (A) Gerne weise ich darauf hin, dass die erste Initiative Sie fordern, die für das Deutschlandstipendium ver- (C) für ein paritätisch gefördertes universitäres Stipendium wendeten Gelder zusätzlich in die BAföG-Mittel zu ste- aus Nordrhein-Westfalen kam. cken. Das ist aber meiner Ansicht nach Gießkannenprin- zip mit dem monokausalen Auswahlprinzip der (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einkommensgrenzen. Ja, von Herrn Pinkwart! Pinkwart und Schavan Hand in Hand!) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte?) Weil das NRW-Stipendium so ein großer Erfolg war, wurde es vom Bund übernommen. Mittlerweile – das Das Deutschlandstipendium berücksichtigt verschiedene wissen Sie auch – beteiligen sich drei Viertel aller Hoch- Kriterien bei der Vergabe und belebt dadurch auch die schulen an diesem Programm. Rund 90 Prozent aller Diversität der Stipendiaten. Studierenden können sich an ihrer Hochschule um ein Sie fordern – das haben Sie eben auch in Ihrer Rede Stipendium bewerben. gemacht –, die Mittel für geflüchtete Studierende aus (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Weil Druck Kriegs- und Krisengebieten zu verwenden ausgeübt wurde, sich zu beteiligen! – Kai (Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: DIE GRÜNEN]) 0,76 Prozent kriegen eines!) und dabei die soziale Situation der Flüchtlinge zu be- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grü- rücksichtigen. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ge- nen, die Evaluation zum Deutschlandstipendium läuft; nau diese – im Hinblick auf ein Studium biografischen – das wissen Sie. Das Stipendium ist jetzt gerade einmal Hürden bei der Auswahl zum Deutschlandstipendium im fünften Jahr. insbesondere Berücksichtigung finden. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring Schon!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie Eine Evaluation zu einem früheren Zeitpunkt hätte doch mir nicht zugehört!) wenig Sinn gemacht. Liebe Zuhörer, vor zwei Tagen war hier in Berlin die Aber jetzt komme ich gerne zu Ihrem Antrag. Das Sti- Jahrestagung zum Deutschlandstipendium. Ich habe nie- pendium sei bürokratisch? Die Verwendung öffentlicher manden von Ihnen da gesehen. Wie schade. Mittel verlangt Transparenz, und dazu gehört eben auch (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ein wenig Bürokratie. PR-Regierungsveranstaltungen muss ich nicht (B) (D) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wie beim Min- besuchen!) destlohn! Da braucht man auch Bürokratie! – Sie hätten Dinge erfahren können, die Sie vielleicht gar Weitere Zurufe von der LINKEN und dem nicht erfahren wollen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Uni Münster macht hier übrigens die Erfahrung ei- NEN]: Wir wollten es nicht schmücken mit ner sehr konstruktiven Zusammenarbeit – hören Sie unserer Anwesenheit!) doch einfach einmal zu! – mit dem zuständigen Landes- ministerium in Düsseldorf. Frau Ministerin Löhrmann Sie hätten zum Beispiel erfahren können, dass die Hoch- ist, wie Sie wissen, bei den Grünen. Vielleicht könnten schulen über diese neue Aufgabe auch einen neuen Blick Sie sich einmal intern austauschen, was das Deutsch- auf die vielen Menschen gewinnen, die mit all ihren Fa- landstipendium Gutes mit sich bringt. cetten zu ihnen kommen, und dass sich die Hochschulen bei der Auswahl der Stipendiaten nicht reinreden lassen Ist das Stipendium ungerecht – wenn sich alle bewer- – das haben sie mehrfach gesagt –, auch nicht von den ben können, gleich welcher Herkunft, gleich welchen Förderern. Einkommens und gleich welchen Studienfaches? Die Zahl der BAföG-Empfänger ist unter den Deutschland- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: stipendiaten übrigens etwa genauso hoch wie im allge- Da gibt es Gegenbeispiele!) meinen Durchschnitt aller Studierenden. Und den Stipendiaten respektive den Wissenschaftlern Ich komme zu dem Punkt, dass Sie sagen, das Stipen- liegt das auch fern. dium bringe keine Motivation für ein Studium. Also, die (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Motivation für ein Studium muss der Student doch erst Zum Beispiel Stipendien auf Bestellung!) einmal selbst mitbringen. Mehrfach habe ich den Satz gehört: Wissenschaftler ti- (Zuruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- cken gar nicht so. – Ich habe zum Beispiel auch erlebt, NIS 90/DIE GRÜNEN]) dass Stipendiaten eigene Projekte entwickeln, um, wie Das Deutschlandstipendium ist darauf ausgerichtet, sie sagen, etwas zurückzugeben. Sie wollen nicht nur junge Menschen, die sich bereits für ein Studium ent- Empfänger des Geldes sein, sondern dafür etwas tun. schieden haben, zu unterstützen. Und hier erweist sich Der Stifterverband hatte dazu einen Wettbewerb ausge- das Deutschlandstipendium, anders als Sie es sagen, als lobt unter dem Motto: Macht was draus! Und das haben äußerst tauglich. sie alle gemacht. Die Sieger wurden ausgezeichnet. Zum 10126 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Sybille Benning (A) Beispiel dafür, dass sie in Brennpunktschulen gehen und Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) Schülern die Schwellenangst vor der Uni nehmen; dass Danke, Frau Kollegin Benning. – Nächste Rednerin: sie für Menschen in Ruanda dafür sorgen, dass im Kran- Nicole Gohlke für die Linke. kenhaus nicht nur Medikamente, sondern auch Essen verteilt wird, und dass Flüchtlingskinder dabei unter- (Beifall bei der LINKEN) stützt werden, Musik- und Sportangebote wahrzuneh- men. Nicole Gohlke (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Vor fünf Vizepräsidentin Claudia Roth: Jahren wurde das Deutschlandstipendium von der dama- Frau Benning, denken Sie an die Redezeit. ligen schwarz-gelben Bundesregierung aus der Taufe gehoben. Es hieß, man wolle die Studienfinanzierung endlich zukunftstauglich machen und die 10 Prozent Sybille Benning (CDU/CSU): leistungsstärksten Studierenden zusätzlich und einkom- Das ist ehrenamtliches Engagement, das wir alle nicht mensunabhängig mit 300 Euro monatlich fördern. hoch genug schätzen können. Unsere Gesellschaft 150 Euro sollte ein privater Stipendiengeber oder ein braucht nicht noch mehr Selbstoptimierer, sondern Men- Unternehmen geben, 150 Euro sollte der Bund dazule- schen, die über den Tellerrand schauen und sich für an- gen. dere einsetzen, hier und anderswo. Genau solche Men- schen erreicht das Deutschlandstipendium. Was Sie als Kolleginnen und Kollegen, ich finde es wichtig, sich Ladenhüter bezeichnen, ist unter Studierenden höchst noch einmal in Erinnerung zu rufen, worum es 2010 begehrt. ging. Es ging um nichts Geringeres als darum, dass die FDP im Schlepptau mit der Union den Einstieg in eine (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Weil das andere Form der Studienfinanzierung durchdrücken BAföG ausgedünnt worden ist!) wollte, Es gibt weit mehr Bewerber als Stipendien, weswegen (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da hat sie die Quote noch deutlich steigerungsfähig ist. Was wir recht!) jetzt brauchen, sind mehr Stipendiengeber aus Wirt- schaft und Gesellschaft. und zwar in eine – um es ganz klar zu sagen – Elitenför- derung auf Kosten der Breite. Und deswegen hat die (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Linke dazu von Anfang an Nein gesagt. NEN]: Die Mittel aus dem Bundeshaushalt fließen doch gar nicht ab!) (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (B) Und die brauchen vor allem die Sicherheit, dass ihr Ein- (D) GRÜNEN – Dr. Ernst Dieter Rossmann satz auch in Zukunft gefragt ist. „Perspektive für alle“ ist [SPD]: Wir auch! – Kai Gehring [BÜND- hier das Stichwort. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Grünen (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch!) NEN]: Aber nicht das Deutschlandstipendium! – Und die Grünen auch. Erhöhen Sie endlich die BAföG-Mittel!) Deshalb ist Ihr Antrag in jeder Hinsicht kontraproduktiv. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Und die Aber er hat uns diese Debatte beschert. SPD auch!) – Und die SPD auch. Darauf kommen wir gleich noch Vizepräsidentin Claudia Roth: einmal zu sprechen. Frau Kollegin. Fünf Jahre später müssen wir feststellen: Die ganzen Pläne von damals erweisen sich als kolossaler Reinfall. Sybille Benning (CDU/CSU): Im Grunde ist das alles grandios gescheitert, die FDP Vielleicht, nein, hoffentlich trägt sie dazu bei, dass übrigens gleich als ganze Partei, die für ihre elitäre Poli- das Stipendium deutlich bekannter wird und mehr poten- tik abgestraft wurde, zielle Förderer überzeugt werden, (Beifall bei der LINKEN) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das unsere Aufgabe, oder was?) und das Deutschlandstipendium gleich mit ihr; denn je- des Jahr stellen wir fest, dass es weit hinter den Erwar- bei dieser Chance für alle – eine echte Win-win-Mög- tungen zurückbleibt und eine völlige Fehlkonstruktion lichkeit – mitzumachen. Dann hätte sich die Mühe ge- ist. Gerade einmal 0,8 Prozent der Studierenden – um lohnt. genau zu sein: 0,76 Prozent – wurden im Jahr 2013 da- mit gefördert. Die Hochschulen finden kaum Stipendien- Vielen Dank. geber und müssen mühsam und mit massivem bürokrati- (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu schem Aufwand Bittbriefe an Unternehmen in der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Murks för- Region verschicken. Der Bundesrechnungshof kritisiert dern wir nicht! Murks wollen wir nicht! – Kai das Deutschlandstipendium regelmäßig für die ausufern- Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da- den Verwaltungskosten und für die Verschwendung von für braucht es keine Bundesmittel!) Steuergeldern. Da fragt man sich: Warum hält die jetzige Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10127

Nicole Gohlke (A) Regierung, an der auch die SPD beteiligt ist, an diesem Halten wir also fest: Das Deutschlandstipendium ist (C) Projekt fest? weder bedarfsdeckend noch planungssicher für die Stu- dierenden. Für die Hochschulen ist es teuer und ein un- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- verhältnismäßig hoher Verwaltungsaufwand. Der Staat NIS 90/DIE GRÜNEN) verpulvert Steuergelder. Von der Förderquote her ist das Wenn wir auf eine Sache gut verzichten können, dann ist Deutschlandstipendium weit davon entfernt, einen sub- es doch wohl noch mehr Elitenförderung in der Bildung! stanziellen Beitrag zur Studienfinanzierung in der Bun- Denn hinter dem Deutschlandstipendium, das von desrepublik zu leisten. Schwarz-Gelb seinerzeit als „zukunftstauglich“ etiket- Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, ich tiert wurde, verbirgt sich doch in Wahrheit ein völlig an- kann mir nicht vorstellen, dass Sie noch Argumente ha- tiquiertes Politik- und Bildungsverständnis. Dahinter ben, die diese traurige Bilanz wettmachen könnten. steht die Idee, dass reiche Gönner und Mäzene wenigen Trennen Sie sich von Ihrem misslungenen Eliteprojekt! von ihnen auserkorenen Begünstigten Unterstützung auf Machen Sie den Weg frei für sinnvolle Projekte und für ihrem Bildungsweg zukommen lassen. Kolleginnen und eine echte und substanzielle BAföG-Reform, die wir seit Kollegen, das ist das Gegenteil von Chancengleichheit. Jahren anmahnen! Das ist das Gegenteil von Rechtsanspruch auf Bildung. Deswegen gehört dieser Blödsinn abgeschafft! Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten neten der SPD – Dr. Stefan Kaufmann [CDU/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) CSU]: Lassen Sie doch beide nebeneinander zu! Wo ist denn das Problem, Frau Kollegin?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Frau Kollegin Gohlke. – Nächste Red- Es gibt noch einen weiteren Aspekt. Um überhaupt nerin in der Debatte: Marianne Schieder für die SPD- Geldgeber zu finden, werden den Stiftern immer wieder Fraktion. erhebliche Mitspracherechte bei der Auswahl der Stipen- diatinnen und Stipendiaten zugestanden. Das erklärt (Beifall bei der SPD – Kai Gehring [BÜND- auch, warum die meisten Geförderten in MINT-Fächern, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Marianne, du warst in den Ingenieurs- und Naturwissenschaften, oder in der doch auch dagegen!) BWL zu finden sind. Marianne Schieder (SPD): (Sybille Benning [CDU/CSU]: Quatsch!) Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe (B) Von einer gleichen Behandlung der Studierenden und Kollegen! Ja, es ist so: Das Deutschlandstipendium war (D) davon, dass nur Leistung und Engagement zählen, kann und ist kein Lieblingsprojekt der SPD-Bundestagsfrak- offensichtlich nicht die Rede sein. tion. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Özcan Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist ja auch Murks!) Die Laufzeit einer Förderperiode beim Deutschland- Von Anfang an standen wir diesem neuen Förderinstru- stipendium beträgt nur ein Jahr; das heißt: Nach einem ment absolut kritisch gegenüber. Wir haben unsere Ar- Jahr wird geprüft, ob die Stipendiatinnen und Stipendia- gumente in die parlamentarischen Beratungen einge- ten immer noch „leistungsstark“ und „förderungswür- bracht. Wir haben uns dafür ausgesprochen, die hierfür dig“ genug sind. Der Stipendiengeber entscheidet erneut, eingeplanten Mittel lieber dem BAföG zuzuschreiben; ob die Förderung überhaupt aufrechterhalten werden das leugnen wir ja gar nicht. soll. Für die Studierenden bedeutet das Unsicherheit und Abhängigkeit statt Planungssicherheit. Dann haben die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Stipendiengeber und Unternehmen auch noch die Mög- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – lichkeit, ihren Anteil von 150 Euro steuerlich abzuset- Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Ihr habt zen, geben also de facto nur 100 Euro. euch nicht durchsetzen können! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann Ich finde es, ehrlich gesagt, unerträglich, trotz der ge- tun Sie es doch!) nannten Rahmenbedingungen ständig die großartige Spendenbereitschaft der Stifter zu loben, wie das vor al- Wenn ich Bilanz ziehe, stelle ich fest: Unsere Beden- lem die Union tut. Wenn Sie Unternehmen und Reiche ken sind keineswegs ausgeräumt. Im Gegenteil: Sie ha- an der Finanzierung von Bildung beteiligen wollen, dann ben sich leider vielfach bestätigt. Denn es ist wahr: Der erhöhen Sie doch einfach den Spitzensteuersatz. Erfolg bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. (Beifall bei der LINKEN) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Abschaffen!) Besteuern Sie große Vermögen, statt aus dem Rechtsan- spruch auf Bildung in Wahrheit eine Charity-Veranstal- Von 2010 bis 2012 wurden 56,7 Millionen Euro für tung zu machen. das Deutschlandstipendium eingeplant, aber nur 25,3 Millionen Euro wurden abgerufen, also nicht ein- (Zuruf von der LINKEN: Genau!) mal die Hälfte der Mittel. In den Jahren 2013 und 2014 10128 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Marianne Schieder (A) wurde wiederum nur gut die Hälfte der Mittel abgerufen. An diesen Universitäten studieren aber nur 36,7 Prozent (C) Für 2015 sind 47,4 Millionen Euro eingestellt, aber mit der Studentinnen und Studenten. Stand vom 10. Mai dieses Jahres waren erst 11,8 Millio- Es ist auch richtig, was der Kollege Gehring ange- nen Euro davon verplant. sprochen hat: Es gibt eine total einseitige Konzentration (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auf die MINT-Fächer. Man lässt ein bisschen noch mit- Danke, dass du das Scheitern noch einmal dar- laufen die Rechts- und Betriebswissenschaften; aber die stellst!) Geisteswissenschaften bleiben weit zurück. Also, das gefällt uns nicht. Zur Erinnerung: Das ursprüngliche Ziel von Schwarz- Gelb war, im Jahr 2011 0,45 Prozent der Studierenden zu (Beifall des Abg. [DIE LINKE] – erreichen und 2012 1 Prozent der Studierenden. 2011 Zuruf von der CDU/CSU: Bist du jetzt dafür waren es aber nur 0,25 Prozent und 2012 0,6 Prozent. oder dagegen?) 2013 stieg der Anteil immerhin auf 0,75 Prozent. Aber in den Koalitionsverhandlungen war es halt so, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dass wir vereinbart haben, beim Deutschlandstipendium Ganz viele Nullen! Lauter Nullen!) zu bleiben und zu schauen, ob wir auf dem Weg, den wir mit dem Deutschlandstipendium beschritten haben, nicht Zurzeit, so sagt man uns, liegt der Anteil bei ungefähr die dringend erforderlichen Verbesserungen erreichen 1 Prozent. können. Ich glaube nicht, dass es großen Sinn macht, wie Sie von Bündnis 90/Die Grünen es fordern, jetzt (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mittendrin einfach umzukehren. NEN]: Wie die schwarze Null!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der In absoluten Zahlen sind dies etwa 20 000 Studierende CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE von rund 2,7 Millionen. Da kann man sich wirklich fra- GRÜNEN]: Wie lange wollen Sie denn noch gen: Für so wenige? Ich sage: All diejenigen, die Kritik warten?) üben, haben recht. Sie müssen, wenn Sie über Studienförderung und Stu- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- dienfinanzierung sprechen, auch anerkennen, dass wir in NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- der Großen Koalition nicht nur vereinbart haben, dass ten der SPD) Hochschulen bis zu 2 Prozent ihrer Studierenden mit ei- Deswegen nem Deutschlandstipendium fördern können, sondern auch, dass wir eine erhebliche, wirklich merkliche Ver- (B) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- besserung im Bereich des BAföGs auf den Weg bringen. (D) NEN]: Deswegen: abschaffen!) (Beifall bei der SPD) war es, lieber Herr Kollege Gehring, doch auch folge- Die Freibeträge und die Bedarfssätze werden ange- richtig – zuhören ist auch gut –, dass wir im Koalitions- hoben, der Wohnungszuschlag, die Kinderbetreuungs- vertrag die ursprüngliche Zielmarke von 8 Prozent auf zuschläge, die Hinzuverdienstgrenze, der Förderungs- 2 Prozent korrigiert haben. höchstsatz steigen, die Förderungslücke zwischen (Beifall bei der SPD) Bachelor- und Masterstudium wurde geschlossen, und die Antragstellung ist verbessert worden. Also: Sie Natürlich sagen auch wir: Der Durchführungsauf- können versichert sein, dass für uns Sozialdemokratin- wand ist zu hoch. nen und Sozialdemokraten das BAföG ein Erfolgs- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- modell ist und bleibt und dass das BAföG auch das NEN]: Fälschen wir am besten mal die Statis- Kernstück sozialdemokratischer Bildungspolitik bleiben tik!) wird, Man sagt uns aus dem Ministerium, 2014 sei er immer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hin auf 20 Prozent reduziert worden. Aber das ist immer weil auch wir natürlich erkennen, dass das BAföG einen noch zu viel, weil man normalerweise von 5 Prozent Rechtsanspruch schafft Durchführungsaufwand ausgehen kann. Zu Recht kriti- siert dies natürlich auch der Bundesrechnungshof. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann erhöhen Sie es doch endlich!) Auch unsere Befürchtungen, dass es in struktur- schwachen Regionen schwieriger sein dürfte, die nöti- und eine verlässliche, berechenbare Angelegenheit ist gen Mittel einzuwerben, haben sich bestätigt. Ich sage für junge Menschen, die aus sozial schwächeren und einmal die Zahlen aus Bayern: Von all den in Bayern bildungsferneren Elternhäusern kommen. Denn für uns vergebenen Stipendien konzentrieren sich 44,6 Prozent Sozialdemokraten steht nach wie vor fest, dass Bildung auf drei Universitäten, nämlich auf die LMU München, nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein darf, auf die TU München und auf die Universität Erlangen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nürnberg. und wir erkennen doch alle miteinander, dass wir von (Zuruf von der CDU/CSU: Die kümmern diesem Ziel noch weit, weit entfernt sind, dass diese Ab- sich!) hängigkeit vom Geldbeutel der Eltern im gesamten Bil- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10129

Marianne Schieder (A) dungssystem und auch an den Universitäten natürlich Deutschlandstipendium hinzugekommen. Das heißt, hier (C) nach wie vor zu erkennen ist. haben sich Menschen freiwillig bereit erklärt, aus ihren privaten Mitteln Geld in die Hand zu nehmen, um junge (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Studierende zu unterstützen. NEN]: Das tut ja weh! – Kai Gehring [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: BAföG-Erhöhung (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vorziehen statt PR-Veranstaltung!) Ja! Davon hält sie doch niemand ab!) Aber zurück zum Deutschlandstipendium. Mir fällt da Diese Zahlen zeigen deutlich: Das Deutschlandsti- nur Konfuzius ein, der einmal gesagt hat: Der Weg ist pendium ist in Wahrheit ein Bestseller. das Ziel. – Ich räume ein: Es ist ein steiniger Weg, den wir da gehen müssen, um auch beim Deutschlandstipen- (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- dium die nötigen Verbesserungen noch zu erreichen, SES 90/DIE GRÜNEN – Özcan Mutlu diesen Weg begehbarer zu machen. Aber ich hoffe, wir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Reinfall schaffen es und kommen dann doch zu einem guten Ziel. erster Güte!) Vielen Dank. Es gehört heute genauso an die Universitäten und Fach- hochschulen wie ihre vegetarischen Gerichte in der (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Anette Mensa oder die Subventionierung von Projekten durch Hübinger [CDU/CSU]) den AStA. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vizepräsident : Sind Sie jetzt auch für den Veggie-Day?) Für die Unionsfraktion spricht jetzt die Kollegin Cemile Giousouf. Sehen Sie, ich versuche sogar, einen Schritt auf Sie zuzugehen, indem ich Ihren Lebensweltbezug herstelle. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber Sie protestieren, und genau deshalb wäre die Be- gabtenförderung bei Ihnen schlecht aufgehoben, weil bei Cemile Giousouf (CDU/CSU): Ihnen die Politik nicht mit der Betrachtung der Realität Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und beginnt, sondern weil bei Ihnen nur Ihre eigene Klientel Kollegen! Nicht das Deutschlandstipendium ist der La- bedient wird. denhüter, sondern Ihre immer gleiche, öde Forderung, dieses Stipendium abzuschaffen. (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei Abge- ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) NEN – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE (B) (D) Mein freundschaftlicher Appell an Sie lautet deshalb: GRÜNEN]: Das sagt die Richtige!) Lassen Sie sich mal was Neues einfallen, Ich will jetzt zu Ihrem Antrag Stellung nehmen. Sie (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: fordern darin die Bundesregierung auf, die Bundesmittel Fangen Sie mal an mit was Neuem!) aus dem Deutschlandstipendium zu nutzen, um das BAföG zu finanzieren. Liebe Grüne, noch einmal zum erweitern Sie Ihr Sortiment, und schmeißen Sie den alten Mitschreiben: Die Bundesregierung hat in einem großen Antragsramsch einfach raus. Geben Sie sich doch ein- Kraftakt die gesamten Kosten für das BAföG ab diesem fach mal einen Ruck. Jahr übernommen. Sie waren doch gestern auch bei dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Fachgespräch dabei, bei dem nochmals das offensichtli- Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: che Versagen einiger Bundesländer deutlich wurde. Machen Sie doch die Flüchtlingsstipendien, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die wir vorschlagen!) Allein Nordrhein-Westfalen spart durch die Kostenüber- Vor allem aber: Sprechen Sie mit den Studenten, reden nahme jedes Jahr knapp 280 Millionen Euro. Sie mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten. Fast 20 000 Deutschlandstipendien (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Von wie viel? – Kai Gehring [BÜND- Wir warten noch heute auf eine sinnvolle Antwort auf NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben noch nicht die Anfrage unseres AG-Vorsitzenden Albert Rupprecht, mit allen 20 000 einzeln gesprochen!) was NRW mit den Geldern denn machen will. wurden im Jahr 2013 vergeben; gegenüber dem Vorjahr ( [SPD]: Darauf gibt es auch ist das ein Plus von 42 Prozent. Da müssen Sie noch keine Antwort! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ nicht einmal Stipendiat sein, um zu erkennen, dass das DIE GRÜNEN]: Wieso darf Herr Rupprecht ein enormer Anstieg ist, Herr Gehring. eigentlich nicht reden?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sorgen Sie als Koalitionspartner in Düsseldorf doch da- für, dass diese Gelder in den Hochschulbereich investiert Bundesweit beteiligen sich etwa drei Viertel aller werden. Hochschulen an dem Programm. Allein an privaten För- dermitteln sind 2013 weitere 21 Millionen Euro für das (Beifall bei der CDU/CSU) 10130 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Cemile Giousouf (A) Bei Rot-Grün versickern die Millionen im Schuldenloch. Millionärssöhne und -töchter: Fehlanzeige! Das ist doch (C) Da können Sie doch aktiv werden. eine gute Sache. Freuen Sie sich doch darüber. Oder wollen Sie diesen jungen Menschen erzählen, dass sie Nun weiter zu Ihrem Antrag. Sie schreiben, Ihnen das Stipendium eigentlich nicht verdient haben? fehlten verlässliche Zahlen zur sozialen Herkunft der Stipendiaten. Alle Experten sagen: Das Deutschlandsti- (Beifall bei der CDU/CSU) pendium ist von allen Stipendien das mit der größten so- Eine Stipendiatin aus meinem Wahlkreis ist Mutter zialen Streuung. von drei Kindern. Sie hat zehn Jahre als Sozialpädagogin (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gearbeitet und studiert jetzt an der Fernuniversität Hagen Wer sagt das?) Jura. Ich zitiere die dreifache Mutter: Bei der Bewertung spielen nicht nur die Leistung, son- Mich macht das Stipendium stolz. Es motiviert dern auch die persönlichen und familiären Lebens- mich. Es ist mir ein großes Bedürfnis, Ihrem Ver- umstände eine entscheidende Rolle. Hierzu zählen etwa trauen gerecht zu werden. Es hilft mir über manche Krankheiten, Behinderungen, die Betreuung eigener Hindernisse. Es fordert mich auch heraus. Kinder oder pflegebedürftiger Angehöriger und eben ein Wir von der CDU/CSU vertrauen dieser Leistungsträ- sogenannter Migrationshintergrund. gerin. Wir unterstützen ebendiesen Weg. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie monieren dann, es würden zu wenige Geisteswis- Wieso können das BAföG- und Begabtenför- senschaftler unterstützt, es gebe nur 169 Historiker unter derwerke nicht besser?) den Stipendiaten, dafür gebe es zu viele aus technischen Außerdem haben Studierende, die sich gesellschaftlich Berufen. Davon abgesehen, dass es bei den Begabtenför- engagieren, gute Chancen, ein Stipendium zu erlangen. derwerken eben genau anders aussieht, Die Studierenden machen übrigens großartige Projekte (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: für Flüchtlinge. Schauen Sie sich das einmal an. Das Das stimmt doch gar nicht!) wird Ihnen sicher sehr gefallen. braucht unser Land Physiker, Informatiker und Inge- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nieure. Der Strom kommt nicht aus der Steckdose, liebe Es gibt auch ganz viele, die das ohne Deutsch- Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sorgen Sie landstipendium machen!) lieber dafür, dass der Geschichtsunterricht in den Län- dern, in denen Sie regieren, überhaupt noch stattfindet, Am Dienstag fand die Jahresveranstaltung zum Stichwort: „Unterrichtsausfall“, Stichwort: „linke Expe- Deutschlandstipendium statt. Dort hat die Präsidentin (B) rimente“ bei den Lehrplänen. Da haben Sie doch wirk- (D) der Goethe-Universität, Frau Professorin Wolff, gesagt, lich genug zu tun. dass an ihrer Hochschule 40 Prozent der Stipendiaten keinen akademischen Hintergrund haben, also soge- (Beifall bei der SPD) nannte Erstakademiker sind, und dass 25 Prozent aus Natürlich sind konkrete Projekte, die für die Wirt- Migrantenfamilien stammen. Der Anteil der BAföG- schaft interessant sind, vorwiegend in den MINT- Empfänger unter den Stipendiaten beträgt ein Viertel, Fächern zu finden, und wir wollen auch, dass Universitä- und das Stipendium wird eben nicht auf das BAföG an- ten und die Wirtschaft noch enger kooperieren. Gerade gerechnet. So viel zum Thema „soziale Durchlässig- in strukturschwachen Regionen, wo die jungen Leute keit“. scharenweise abwandern, kann die frühe Anbindung an Vor allem aber wird das Deutschlandstipendium auch die Wirtschaft helfen, dass die Fachkräfte dort bleiben, an den Fachhochschulen angeboten, die in der Begabten- wo sie ausgebildet werden. Das bietet Perspektiven für förderung bisher unterrepräsentiert sind. An Fachhoch- die Studenten, aber auch für die Regionen. schulen studieren nämlich viele junge Leute aus nicht- Der letzte Punkt in Ihrem Antrag hat mich richtig ge- akademischen Elternhäusern. Daher ist der Antrag der ärgert. Als Integrationsbeauftragte meiner Fraktion finde Grünen auch ein Stück unsoziale Klientelpolitik. ich es schon sehr kritikwürdig, dass Sie die Stipendien- (Beifall bei der CDU/CSU) förderung für geflüchtete Studierende in Ihren Antrag auch noch mit hineinpacken. Gehen Sie doch einmal an die Universitäten und Fachhochschulen. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte?) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich häufiger als Sie!) Ich sage Ihnen auch, warum: Wir sollten nicht auf so vordergründige Weise über dieses Thema sprechen. In Ihrem Wahlkreis, Herr Gehring – ich habe mir sogar Dafür ist dieses Thema wirklich viel zu wichtig. In An- die Mühe gemacht, das herauszusuchen –, bekommen trägen, die in Wahrheit Ladenhüter sind, hat es nichts 489 Studierende ein Deutschlandstipendium. Deshalb verloren. hat die Uni den Ruf einer Kümmer-Uni erworben. Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir von der Union (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kümmern uns seit 2005 darum, die Dinge besser zu ma- Doch nicht wegen des Deutschlandstipendi- chen. Wir danken den privaten Geldgebern, den Hoch- ums! Ja, wo leben Sie denn?) schulen und natürlich dem Bildungsministerium für den Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10131

Cemile Giousouf (A) Einsatz, und wir beglückwünschen die Stipendiaten zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (C) ihren hervorragenden Leistungen. Eins sagen wir aber Abg. [CDU/CSU]) auch deutlich: Nur die CDU/CSU ist Garant für das Denn es ist doch zu deutlich, was der Antrag bringen Deutschlandstipendium. soll. Vielen Dank. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU) Genau! Stipendien für Flüchtlinge!) Er kommt jetzt, in der Woche, in der die Jahrestagung Vizepräsident Johannes Singhammer: zum Deutschlandstipendium stattgefunden hat. Es ist Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der also der Versuch der Opposition, den Windschatten zu Kollege Martin Rabanus für die SPD. nutzen und irgendwie in der Berichterstattung darüber vorzukommen. Das ist ja legitim. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der CDU/CSU) Das ist auch gelungen!)

Martin Rabanus (SPD): – Das mag auch gelungen sein; aber mehr ist es auch nicht. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit zwei Vorbemerkungen einsteigen. Wir haben (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der jetzt viel über das Deutschlandstipendium gehört. Meine CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE Kollegin Schieder hat die kritische Position der sozialde- GRÜNEN]: Weil die SPD mal wieder einge- mokratischen Bundestagsfraktion dazu deutlich ge- knickt ist!) macht; das brauche ich nicht zu wiederholen. Ich habe Dennoch finde ich das Vorgehen der Opposition eigent- mir auch notiert, dass ich eigentlich nichts über Kompro- lich schade; denn ich halte eine profundere Debatte über missfindungen in Koalitionsverhandlungen erzählen das Stipendienwesen, das wir in Deutschland haben, für muss. Nach dem Beitrag von Frau Gohlke kommt mir durchaus angemessen. das anders vor. Jetzt muss ich doch noch etwas zu der Frage sagen, wie Koalitionsverhandlungen laufen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wie Koalitionsverträge zustande kommen. Wenn es da- Klar, das Deutschlandstipendium ist jetzt der Aufhän- ran liegt, dass die Linke so selten Koalitionsverhandlun- ger; aber wir haben ja mehrere Instrumente. Das gen führt, dann soll mir das auch recht sein. Denn jede Aufstiegsstipendium wird im Antrag wenigstens ge- Koalition, an der die Linke nicht beteiligt ist, ist für mich (B) nannt. Irgendwo, unter Punkt 3, kommt auch die Begab- (D) eine gute Koalition. tenförderung vor. Aber zu meinem Bedauern habe ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von einem Weiterbildungsstipendium beispielsweise gar neten der SPD) nichts gelesen. Dabei geht es doch gerade um dieses In- strument. Wir diskutieren so viel über die Gleichwertig- Das war die erste Vorbemerkung. keit von beruflicher und akademischer Bildung, wir dis- kutieren so viel über gleiche Förderbedingungen, und Die zweite Vorbemerkung ist: Wir sollten nicht so dann wird das zentrale Stipendieninstrument, das wir im tun, als würde eine Abschaffung des Deutschlandstipen- Bereich Weiterbildung haben, das seit fast 25 Jahren in diums die Finanzierung des Hochschulwesens insgesamt Deutschland erfolgreich ist und inzwischen über retten, lieber Kollege Gehring. Wir stellen völlig zu 100 000 Menschen erreicht hat, in einem solchen Antrag Recht fest, dass das Deutschlandstipendium vielleicht noch nicht einmal erwähnt. nicht ganz so viele PS auf die Straße gebracht hat, wie es Schwarz-Gelb irgendwann einmal dachte, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das kann Daran sieht man, was Sinn und Zweck dieses Antrages man so sagen! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ ist: Das ist eben nicht der Versuch, eine strukturierte De- DIE GRÜNEN]: Euphemistischer geht es gar batte anzustoßen, sondern das ist der Versuch, mit einer alten Wurst sozusagen noch ein bisschen grünen Duft zu nicht!) verbreiten. Das finde ich ein bisschen bedauerlich. und dass der Mittelabfluss, wie auch Kollegin Schieder (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der deutlich gemacht hat, ausgesprochen bescheiden ist. CDU/CSU) Wir müssen allerdings auch feststellen, dass eine an- Nach unserer Auffassung ist es durchaus lohnenswert, derweitige Verwendung der bescheidenen Summe die auf unser Stipendienwesen insgesamt zu schauen: Da ist Hochschulfinanzierung in dieser Republik am Ende des das Weiterbildungsstipendium, da ist das Aufstiegs- Tages nicht rettet – stipendium, da sind die Begabtenförderungswerke in- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) klusive unserer Studienstiftung, aber eben auch das Deutschlandstipendium. genauso wenig, wie das Deutschlandstipendium die (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Und das Qualität des deutschen Hochschulsystems an sich sicher- BAföG!) stellen kann. Da würde ich dazu raten, ein bisschen ab- zurüsten. Das ist unser Stipendienwesen. 10132 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Martin Rabanus (A) Die Breitenförderung – ich glaube, das hat die Koali- Ich könnte Ihnen jetzt reihenweise Zitate aus der SPD- (C) tion in der Tat unter Beweis gestellt – wird im Rahmen Bundestagsfraktion nennen, die belegen, dass das des BAföG verbessert. Deutschlandstipendium aus Ihrer Sicht genauso ein La- denhüter ist wie aus Sicht der Grünen. Ich würde gerne (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) einmal verstehen, warum Sie das inzwischen offensicht- Das BAföG ist das passgenaue Instrument für eine sozial lich anders sehen. orientierte Förderung. Das ändert aber nichts daran, dass (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Klüger gewor- es in Sachen Förderung auch einen zweiten Teil gibt, den!) nämlich das Stipendienwesen.

Meine Fraktion und ich möchten uns das in den kom- Martin Rabanus (SPD): menden Wochen und Monaten ein bisschen genauer an- Vielen Dank für diese ausgesprochen freundliche schauen, auch vor dem Hintergrund der Sicherstellung Frage. Ich will darauf zweiteilig antworten. gleicher Förderbedingungen in den Bereichen „berufli- che Bildung“ und „allgemeine und akademische Bildung Erstens. Herr Kollege, Sie haben gezeigt, dass die und Weiterbildung“. Der Antrag der Grünen greift zu Grünen programmatisch eigentlich mehr auf der Pfanne kurz, da er beim Aufstiegsstipendium nur auf das Bü- haben als dieser Antrag, über den wir heute debattieren, chergeld rekurriert. Auch da muss man ein bisschen uns erahnen lässt. genauer hinschauen. Wenn wir das dann gemeinsam ver- nünftig umgesetzt haben, wie wir von der sozialdemo- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der kratischen Fraktion es uns vorstellen – das wird unser CDU/CSU) Koalitionspartner sicherlich mitmachen –, dann haben Ich finde das bedauerlich, weil ich glaube – darauf habe wir der Sache einen Dienst erwiesen. Ihr Antrag erweist ich hingewiesen –, dass Sie mehr auf der Pfanne haben. der Sache leider keinen Dienst. Das ist der eine Teil. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt unter Ihrem Niveau!)

Vizepräsident Johannes Singhammer: Zweitens. Ich habe darauf hingewiesen, dass ich der Herr Kollege Rabanus, gestatten Sie zum Schluss Ih- irrigen Annahme war, auf die Logik von Koalitionsver- rer Redezeit noch eine Zwischenfrage des Kollegen handlungen, darauf, wie Koalitionsverträge zustande Gehring? kommen und Kompromissfindungen ablaufen, nicht hin- (B) weisen zu müssen. Aber das ist natürlich ein sehr wichti- (D) ger Punkt. Martin Rabanus (SPD): Eine Redezeitverlängerung? – Bitte schön, Herr Ich möchte einmal an einem Beispiel aus meinem Gehring. Gern. Heimatland Hessen deutlich machen, wie Koalitionsbil- dungen möglicherweise funktionieren: Im nächsten Frühjahr steht der Spatenstich für den Beginn des Baus Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): von Terminal 3 am Frankfurter Flughafen an. Den Spa- Vielen Dank. – Ich bin sehr gespannt. Die Redner der tenstich wird vermutlich der Wirtschaftsminister des Koalitionsfraktionen haben in den letzten Debattenbei- Landes Hessen, Tarek Al-Wazir, Bündnis 90/Die Grü- trägen gesagt, man solle einmal über unser Stipendien- nen, mit durchführen, obwohl sich, wenn ich das nicht system insgesamt sprechen. Das finde ich bemerkens- ganz falsch erinnere, ein Gutteil der Grünen in den wert. Wir haben in unserem Antrag und unserem 1980er-Jahren sozusagen im Umfeld der Baustelle der Redebeitrag die Aufstiegsstipendien und die Begabten- Startbahn 18 West gegründet hat. förderungswerke erwähnt. Wir haben deutlich gemacht, dass die nicht abfließenden Mittel aus dem Deutschland- Der Punkt ist, dass wir an bestimmten Stellen, die, stipendium in Stipendien für Flüchtlinge fließen sollen. glaube ich, jedenfalls für uns Sozialdemokraten weit we- Sie kennen auch unsere anderen Anträge zum Thema niger fundamental sind als die Frage eines Flughafens Weiterbildungs-BAföG. Wir Grüne wollen die Förde- für die Grünen, bereit sind, Kompromisse zu schließen, rung verschiedener Gruppen mit einer breiten Palette an und bereit sind, zu sagen: Wir müssen Korrekturen vor- Maßnahmen ausweiten. nehmen. – Wir erwarten auch, dass wir in der Diskussion um die Weiterentwicklung des Stipendienwesens die Ich würde gerne den Sinneswandel der SPD verste- Unwuchten aus diesem Programm herausbekommen. hen. Herr Rossmann hat 2010 gesagt: Wir sagen Nein Ich bin da ganz guter Dinge. Das ist ein Weg, den man zum Stipendiensystem. Ulla Burchardt – das war immer- gemeinsam beschreiten kann. hin die Vorsitzende des Bildungsausschusses in der letz- ten Legislatur – hat gesagt: Vor allen Dingen ist das ein Vielen Dank. Programm zum Bürokratieaufbau an den Hochschulen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (Marianne Schieder [SPD]: Aber nicht insge- [CDU/CSU]: Das war eine sehr samt die Stipendien, sondern das Deutschland- schöne Antwort! – Albert Rupprecht [CDU/ stipendium!) CSU]: Sehr guter Mann!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10133

(A) Vizepräsident Johannes Singhammer: Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen: Die (C) Der Kollege Rossmann ist mit einem Zitat erwähnt Grünen sind ein bisschen langsamer, wenn es darum worden und hat deshalb um eine Kurzintervention gebe- geht, sich vernünftigen Realitäten anzupassen. Wir glau- ten, zu der ich ihm jetzt auch das Wort erteile. ben, dass unsere Prioritätensetzung sehr gut ist. Danke schön. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Herr Präsident, vielen Dank dafür. – Ich kann mich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Kai erinnern, dass ich gesagt habe, dass die Sozialdemokra- Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie tie gegen das Deutschlandstipendium ist. Die Sozialde- bei der Pkw-Maut!) mokraten waren aber nie gegen das Stipendiensystem. In welcher Logik würden wir uns denn da bewegen, wenn Vizepräsident Johannes Singhammer: doch eine und eine Herr Kollege Gehring, möchten Sie darauf erwidern, entscheidend mit dafür gesorgt haben, dass das gesamte oder ist alles gesagt? Stipendiensystem mit all seinen Stiftungen und all dem, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: was auch der Kollege Rabanus eben angesprochen hat, Nein!) aufgebaut wird? – Gut. Nach einer Wahl muss man erst einmal schauen, wie die Gewichte verteilt sind und wie bestimmte Konditio- Ich schließe somit die Aussprache zu diesem Tages- nen eingehalten werden. Auch wenn es im Rahmen der ordnungspunkt. ersten Koalitionsverhandlungen keinen Abschluss gege- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf ben hat, wussten wir, dass wir über 500 Millionen Euro Drucksache 18/4692 an die in der Tagesordnung aufge- substanziell positiv für das BAföG bewegen können. Vor führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- diesem Hintergrund fällt es einem leichter, zu sagen: verstanden? – Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist Dann ist es auch ein ordentlicher Kompromiss, wenn die Überweisung so beschlossen. 20 Millionen Euro für das Deutschlandstipendium be- wegt werden; dies wollte der größere Koalitionspartner. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Jeder soll darüber richten – die Grünen an erster Stelle –, Zusatzpunkt 5 auf: ob die Relation zwischen 500 Millionen Euro und 10 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ 20 Millionen Euro gerecht und zukunftsorientiert ist CSU und SPD oder ob das Ganze ein Irrweg ist. Wir sagen selbstbe- wusst: Das ist kein Irrweg. zu dem Vorschlag für eine Verordnung des (B) Europäischen Parlaments und des Rates über (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) den Europäischen Fonds für strategische Es wäre vielmehr ein Irrweg gewesen, wenn wir den Investitionen und zur Änderung der Ver- Weg der 500 Millionen Euro für das BAföG nicht gegan- ordnungen (EU) Nr. 1291/2013 und (EU) gen wären, weil wir uns bei den 20 Millionen Euro nicht Nr. 1316/2013 durchsetzen konnten. KOM(2015) 10 endg.; Ratsdok. 5112/15 (Beifall bei der SPD) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- Insofern zeigen wir die breite Brust für das gute Gewis- regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des sen, das wir haben. Grundgesetzes Der Kollege Rabanus hat eben deutlich gemacht, dass Dem Europäischen Fonds für strategische In- man zwei Wege gehen kann, wenn man für seine Forde- vestitionen zum Erfolg verhelfen rungen im Bildungsbereich Unterstützung finden will: Drucksache 18/4929 Man kann das BAföG weiterentwickeln – das Meister- BAföG gehört dazu; schließlich wollen wir Gleichwer- ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten tigkeit erreichen –, und gleichzeitig kann man schauen, Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Diether Dehm, wo bestimmte Gedanken in Bezug auf das Stipendien- Andrej Hunko, Alexander Ulrich und der Frak- wesen aufzugreifen sind. tion DIE LINKE Sie haben das Büchergeld angesprochen. Wie ist es Für ein öffentliches sozial-ökologisches Zu- beim Aufstiegsstipendium? Wie ist es beim Deutsch- kunftsinvestitionsprogramm in Europa landstipendium? Über solche Fragen denken wir nach. Drucksache 18/4932 Am Ende sind Sie eingeladen, mit uns darüber nachzu- denken. Am Ende werden gegebenenfalls auch Sie ein- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für mal in einer politischen Verantwortung respektieren die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe kei- müssen, dass das Deutschlandstipendium da ist und dass nen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen. es weiterentwickelt wird. Aber das Deutschlandstipen- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- dium wird nie das größte Gewicht bei den Stipendien be- ner das Wort dem Kollegen Joachim Poß für die SPD. kommen. Das werden hoffentlich weiterhin die Stiftun- gen bekommen, die wir in der Tradition des deutschen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Stiftungswesens bereits haben. der CDU/CSU) 10134 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Joachim Poß (SPD): nehmen Finanzierungsmöglichkeiten für Innovationen (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir geben. In den Südländern spielt der Credit Crunch eine brauchen mehr Investitionen in Europa. Diese Einsicht Rolle. Diesen müssen wir auch mithilfe dieser Maß- eint inzwischen 28 Mitgliedstaaten, das Europäische nahme überwinden. Ob es private oder öffentliche Inves- Parlament und die Kommission. Die von meiner Partei titionen sind, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist, auch im Deutschen Bundestag seit dem ersten Rettungs- dass sie zusätzliche, rentable und damit auch nachhaltige paket für Griechenland im Frühjahr 2010 geforderte Ver- Investitionen auslösen. stärkung der öffentlichen und privaten Investitionen ist Richtigerweise sieht der Verordnungsvorschlag des- heute nicht mehr umstritten. Umstritten sind teilweise halb auch keine sektoralen oder regionalen Kriterien vor. die Finanzierung und die Ausgestaltung des EFSI, des Denn die Investitionen sollen dort getätigt werden, wo Europäischen Fonds für Strategische Investitionen. Im sie sinnvoll sind. Wir wollen keine Luftschlösser finan- jetzt laufenden Trilog zwischen dem Europäischen Par- zieren, sondern einen Investitionsschub in Europa aus- lament, dem Rat und der Kommission wird hoffentlich lösen. Es ist deswegen nur konsequent, dass die Euro- bis Ende nächster Woche eine Lösung gefunden werden. päische Investitionsbank eine so prominente Rolle Das Investitionsniveau in Europa liegt immer noch einnimmt. Sie besitzt bei der Projektauswahl und -finan- 15 Prozent unter dem Niveau von 2007. So sagt es je- zierung durch ihre jahrzehntelange Tätigkeit in Europa denfalls die Kommission. Die Linkspartei operiert mit das notwendige Know-how. Sie leistet auch einen eige- anderen Zahlen und Annahmen. Es gibt unterschiedliche nen finanziellen Beitrag in Höhe von 5 Milliarden Euro Schätzungen. Aber ich orientiere mich hier an der Kom- und hat bereits begonnen, erste Projekte zu finanzieren. mission. Sie sagt immer noch: 15 Prozent unter dem Ni- Auch die Bundesrepublik wird – davon war vorhin in veau von 2007. Ein Jahr nach der Europawahl müssen der Debatte um den Nachtragsetat bereits die Rede – ei- wir jetzt, finde ich, in Europa vom Reden und Verhan- nen eigenen Beitrag für mehr Investitionen in Europa deln zum Handeln kommen. leisten. Das ist auch dringend notwendig. Deswegen ha- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben wir bereits 10 Milliarden Euro bis 2017 für den Aus- der CDU/CSU) bau der Infrastruktur bereitgestellt und weitere 5 Milliar- den Euro für die deutschen Kommunen zugesagt. Die Die geplanten Investitionen müssen auf den Weg ge- Unterstützung der Kommunen ist besonders wichtig; bracht werden. Das ist im Interesse einer zukunftsfähi- denn eine solche regionale Zielgenauigkeit ist von dem gen Infrastruktur, allerdings auch der Lebensaussichten Europäischen Investitionsfonds EFSI nicht zu erwarten. der Arbeitslosen und vor allem der jungen Arbeitslosen. Europa muss sich jetzt als handlungsfähig erweisen, ins- Für den EFSI werden wir weitere 8 Milliarden Euro (B) besondere beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, aber über die Kreditanstalt für Wiederaufbau bereitstellen. (D) eben auch beim Kampf gegen skandalöses Steuerdumping Wir fördern damit einerseits gezielt die regionale Inves- von internationalen Konzernen und Multimillionären. titionstätigkeit durch die von mir genannten Investitio- Auch die Finanzindustrie muss mit der Finanztransaktion- nen und durch den EFSI andererseits die Investitionstä- steuer endlich an der Finanzierung des Gemeinwesens tigkeit in der ganzen Breite Europas. Hierin liegt die beteiligt werden. Stärke des Fonds, große und vor allem langfristige In- vestitionen auch über Ländergrenzen hinweg anzusto- (Beifall bei der SPD) ßen. Hoffentlich profitieren davon insbesondere die so- Die europäischen Bürgerinnen und Bürger wollen und genannten Südländer. Das ebnet den Weg zu mehr müssen jetzt auch bei der Stabilisierung der Euro-Zone Investitionen und Wachstum. – Griechenland hin oder her – messbare Erfolge sehen, Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt geht es darum, wenn wir Europa wieder mit Hoffnung in Verbindung den Wachstumspfad in Europa zu befestigen. Das Wich- bringen wollen. Bei den europäischen Bürgerinnen und tigste ist: Wir müssen verhindern, dass es in Europa zu Bürgern muss uns das gelingen, und zwar nicht irgend- einer verlorenen Generation kommt. In Gesprächen oder wann, sondern wir müssen jetzt, ein Jahr nach der Euro- bei Besuchen vor Ort, vor allem in den Ländern mit ei- pawahl, damit starten. ner hohen Jugendarbeitslosigkeit, wird uns anschaulich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vor Augen geführt, worum es dort geht. der CDU/CSU) Uns geht es, wie gesagt, nicht um Technokratie, und Die Akzeptanz Europas ist ja gerade in den Krisen- ich weiß, man kann auch um ein öffentliches Investi- ländern im Süden – das sehen Sie, wenn Sie sich die tionsprogramm werben. Uns geht es darum, dass wir Zahlen bei den Umfragen anschauen – katastrophal ein- jetzt endlich in Europa handeln und anfangen, Investitio- gebrochen. Deswegen sollten wir auch Missverständnis- nen auf den Weg zu bringen, um unseren Bürgerinnen sen und überzogenen Erwartungen, was die Ausrichtung und Bürgern damit eine Perspektive zu bieten, und Aufgaben des Investitionsfonds angeht, vorbeugen. (Beifall bei der SPD) Der Fonds ist kein öffentliches Investitionsprogramm. die auf der einen Seite Arbeitsplätze und Wohlstand be- Der Fonds soll vor allem privates Kapital anziehen, um inhaltet und auf der anderen Seite die Gerechtigkeit ge- Investitionen in den Zukunftsfeldern Infrastruktur, Bil- neriert, die die Menschen in Europa wollen. dung, Gesundheit, Energie und Stadtentwicklung vo- ranzubringen, und er soll kleinen und mittleren Unter- Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10135

Joachim Poß (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wie aber kommen diese 315 Milliarden Euro zu- (C) der CDU/CSU) stande? Es werden gerade einmal 21 Milliarden Euro be- reitgestellt. Dafür werden auch noch Gelder aus den EU- Vizepräsident Johannes Singhammer: Töpfen für Forschung und Entwicklung abgezwackt. Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Das heißt, Bereiche, in die dringend investiert werden Kollege Alexander Ulrich. müsste, leiden unter dem Juncker-Finanzierungsplan. Man glaubt, mit einem komischen Hebelmechanismus (Beifall bei der LINKEN) auf 315 Milliarden Euro zu kommen. Das ist Voodoo- Ökonomie und hat mit wirtschaftlicher Vernunft nichts Alexander Ulrich (DIE LINKE): zu tun. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Na- (Beifall bei der LINKEN) türlich muss in Europa viel mehr investiert werden. Wir haben das als Linke schon im Bundestagswahlprogramm Viel schlimmer ist aber: Diese 315 Milliarden Euro 2009 gefordert. Wir haben es im Europawahlprogramm erstrecken sich über drei Jahre. Wir reden also über et- gefordert. Damals sind Sie von der SPD noch in der Gro- was mehr als 100 Milliarden Euro pro Jahr. Mit etwas ßen Koalition gemeinsam mit der CDU/CSU durch mehr als 100 Milliarden Euro für ganz Europa kann man Europa gezogen und haben für die Einhaltung von aber bei weitem nicht der Probleme Herr werden, über Schuldenbremsen und Ähnlichem geworben. die wir reden. (Joachim Poß [SPD]: Ihr Langzeitgedächtnis Sie haben Südeuropa angesprochen, Herr Poß. Wir als funktioniert offenkundig überhaupt nicht, Herr Linke sagen schon seit Jahren: Wir brauchen einen Kollege!) Marshallplan für Europa. Dafür reichen die 315 Milliar- den Euro in drei Jahren nicht aus. Wir brauchen 500 Mil- Deshalb sind Sie mit schuld an dem riesigen Ausmaß liarden Euro pro Jahr an öffentlichen Investitionen. der Arbeitslosigkeit in Europa. Jetzt fordern Sie mehr In- vestitionen. Dabei haben Sie jahrelang versagt. Der Jun- Deshalb können wir als Linke dem Juncker-Plan nicht cker-Plan ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. zustimmen; denn er ist tatsächlich keine Lösung. Es wer- den wieder Luftschlösser gebaut, die Probleme werden (Beifall bei der LINKEN) nur vergrößert, und bei den Menschen werden Hoffnun- gen geweckt, die nicht erfüllt werden können. Dann Was Investitionen angeht, müsste die größte Volks- kommt auch noch hinzu, dass mit dem Juncker-Plan wirtschaft in Europa viel mehr tun. Jetzt klopfen Sie sich ÖPP-Projekte unterstützt werden sollen. mit Hinweis auf die 10 Milliarden Euro für Investitionen (B) und die 5 Milliarden Euro für die Kommunen auf die (Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]: Super!) (D) Schulter und meinen, damit wäre ausreichend geholfen. Würde man nur die Schuldenbremse einhalten, die wir Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es kann doch wohl nicht aber ablehnen, könnte man allein in Deutschland 18 Mil- sein, dass wir gerade die Projekte wieder einmal unter- liarden Euro mehr investieren. Deshalb müsste man stützen, bei denen am Schluss Gewinne, die erwirtschaf- gerade jetzt in Deutschland viel mehr Investitionen an- tet werden, bei den Privaten ankommen, aber bei Verlus- schieben. Dann wäre man auch in Europa glaubwürdi- ten der Steuerzahler wieder herhalten muss. Haben wir ger, wenn man für Investitionen in anderen Ländern nicht aus der Finanz- und Wirtschaftskrise gelernt, dass wirbt. Das, was die deutsche Bundesregierung in Europa es nicht sein kann, die Verluste dem Staat aufzubürden? tut, ist viel zu wenig. Wenn es lukrative Geschäfte gibt, dann soll sie der Staat finanzieren. Die Zinsen der Europäischen Zentralbank (Beifall bei der LINKEN) sind so niedrig, dass das auch ohne Weiteres gehen würde. Das schreibt Ihnen mittlerweile jeder ins Stammbuch, ob IWF oder EU-Kommission. Diese Woche war Moscovici (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) bei uns im Europaausschuss. Er hat deutlich gesagt, dass in Deutschland viel mehr investiert werden müsste. Aber Ich habe erwähnt – das ist der Vorschlag der Linken –, die Bundesregierung glaubt, mit 10 Milliarden Euro plus dass wir 500 Milliarden Euro im Jahr investieren sollten. 5 Milliarden Euro hätte sie genug getan. Mit diesem Geld sollte aber ein sozial-ökologisches Wachstum finanziert werden. Es kann nicht sein, dass Im Vergleich zu 2007 haben wir eine Investitionslü- zusätzliche Flughäfen oder neue Kernkraftwerke finan- cke von 430 Milliarden Euro pro Jahr, Herr Poß. Der In- ziert werden. Wir brauchen tatsächlich sinnvolle Investi- vestitionsbedarf ist aber eigentlich noch viel höher. tionen in die Zukunft. Wir glauben auch, dass das durch die öffentlichen Haushalte finanziert werden kann. Dazu Jetzt kommt der Juncker-Plan. Herr Juncker vertritt brauchen wir auch mehr Steuergerechtigkeit. Wir glau- die grundsätzlich richtige Idee, dass wir mehr tun müs- ben, dass wir die Konzerne in Europa und auch die Su- sen, um Beschäftigung zu schaffen und die Jugendar- perreichen zur Finanzierung der Projekte stärker besteu- beitslosigkeit zu bekämpfen, und wirbt für den Juncker- ern müssen. Plan mit 315 Milliarden Euro. (Beifall bei der LINKEN) (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Hört! Hört! Eine richtige Idee von Jun- Wir brauchen eine Vermögensabgabe, ein gerechteres cker! Neoliberal, Alex!) Steuersystem, wir brauchen den Kampf gegen Steuer- 10136 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Alexander Ulrich (A) oasen, wir brauchen eine Abkehr von der Politik der jekte mit erhöhtem und hohem Risiko investiert werden (C) Niedriglöhne und eine Abkehr vom Stabilitäts- und kann. Daher ist es zwingend, dass die Governance- Wachstumspakt. Diese Dinge gehören eigentlich auf den Struktur des EFSI der besonderen Verantwortung der Müllhaufen der Geschichte. Wir brauchen endlich eine EIB Rechnung trägt. Es ist nicht nur sinnvoll, sondern vernünftige Investitionspolitik, deren Vorreiter Deutsch- auch notwendig, dass die Entscheidungen über Investi- land sein müsste. Alleine in Deutschland bräuchten wir tionen von den Expertinnen und Experten der EIB und Mehrinvestitionen in Höhe von 100 Milliarden Euro im nicht von einem anderen Gremium getroffen werden; Jahr. Diese 10 Milliarden Euro plus 5 Milliarden Euro (Beifall bei der CDU/CSU) sind deutlich zu wenig. denn auch hier gilt der Grundsatz: Wer das Risiko trägt, Ich wiederhole gerne, was ich gestern gesagt habe: entscheidet auch. Reden Sie mit den Ländern, reden Sie mit den Kommu- nen. Schauen Sie sich die Infrastruktur in diesem Land Ich bin überzeugt, dass sich in der gesamten EU inno- an. Schauen Sie sich den Zustand der Brücken und Schu- vative und förderfähige Projekte finden lassen. Die ers- len an. Da besteht ein riesiger Investitionsbedarf. Wenn ten wurden bereits gefunden, und die Finanzierung be- man da nichts tut, dann wird es sehr teuer für zukünftige ginnt. Generationen. Deshalb wäre es klug, bei der jetzigen Niedrigzinspolitik zu investieren; das wäre für den Steu- Aus diesem Grund ist es auch unabdingbar, dass In- erzahler billiger, als jahrelang zu warten und dieses Land vestitionsentscheidungen losgelöst von regionalen Quo- auf Verschleiß zu fahren. ten oder ähnlichen Vorgaben getroffen werden. Alleinige Kriterien müssen Tragfähigkeit, Nachhaltigkeit und Zu- Europas Jugend braucht mehr Chancen. Gerade die sätzlichkeit sein. Südländer hoffen auf Europa. Aber der Juncker-Plan gibt darauf leider keine Antwort. Unser Antrag ist sinnvoller. Der EFSI ist ein Vehikel, mit dem wir eine kurzfris- Deshalb stimmen Sie unserem Antrag zu, und lehnen Sie tige Finanzierungslücke in Europa angehen wollen. Da- den Juncker-Plan ab! her ist es auch ordnungspolitisch richtig, dass der Fonds befristet ist. Die vorgesehene Mid-Term Review beim Vielen Dank. mehrjährigen Finanzrahmen wird uns Gelegenheit ge- ben, das bis dahin Erreichte zu bewerten und eine Neu- (Beifall bei der LINKEN) einschätzung vorzunehmen. Der Staat ist eben nicht der bessere Unternehmer, und er ist auch nicht die bessere Vizepräsident Johannes Singhammer: Bank. Nächste Rednerin ist die Kollegin Ursula Groden- (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Kranich für die CDU/CSU. (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Mit der Befristung verfolgen wir eine sehr klare und nachhaltige ordnungspolitische Linie. An diesem Punkt dürfen wir meiner Ansicht nach jedoch nicht stehen blei- Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU): ben. Die Expertenanhörung im EU-Ausschuss hat auch Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sehr deutlich gemacht, dass wir uns des Themas Wagnis- Kollegen! Mit dem von den Koalitionsfraktionen vorge- kapitalfinanzierung zeitnah annehmen müssen. legten Antrag kommt der Deutsche Bundestag einmal mehr seiner Verantwortung zur Mitgestaltung der euro- Während vor einiger Zeit das Thema Venture Capital päischen Politik nach. Der Europäische Fonds für strate- von vielen noch sehr kritisch betrachtet wurde, ist dieses gische Investitionen, kurz EFSI, schließt eine Finanzie- Finanzierungsinstrument heute deutlich positiver besetzt. rungslücke in Europa, die nachhaltige und tragfähige Langfristig sollte die effektivere Nutzung von Wagnis- Investitionen bisher behindert. Zwar werden in der EU kapital europaweit gestärkt werden, um mittels geänder- mehr Patente angemeldet und Fachpublikationen veröf- ter Anlagerichtlinien für Kapitalsammelstellen wie zum fentlicht als beispielsweise in den USA, für die Umset- Beispiel Lebensversicherungen und Pensionsfonds die zung und Realisierung dieser Ideen steht jedoch nur ein Finanzierungslücke in Europa dauerhaft privatwirt- Zehntel des Kapitals zur Verfügung. Dies ist ein Ergeb- schaftlich zu schließen. nis der Expertenanhörung des Ausschusses für die Ange- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- legenheiten der Europäischen Union von Ende April. neten der SPD) Dieses Defizit gehen wir mit dem EFSI an. Lassen Sie mich noch auf drei Punkte eingehen: Dazu nutzen wir das bei der Europäischen Investi- tionsbank, EIB, bereits vorhandene Know-how. Ich bin Erstens. Die Effektivität des EFSI wird in großem dem Präsidenten der EIB, Herrn Dr. Werner Hoyer, und Maße davon abhängen, wie kleine und mittelständische den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bank für ihr innovative Unternehmen ihren Zugang zum Fonds fin- Engagement bei diesem Projekt sehr dankbar; denn beim den. Wir brauchen folglich nicht nur einen einfachen, di- EFSI handelt es sich nicht um einen Fonds im klassi- rekten und niederschwelligen Zugang zu dieser neuen schen Sinne, sondern quasi um ein Konto bei der EIB, Finanzierungsquelle; wir müssen auch aktiv für den das einen eigenkapitalersetzenden Charakter hat. Über EFSI und die Investitionsoffensive werben. Das beginnt den EFSI werden eben keine Subventionen ausgereicht, in unseren Wahlkreisen und sollte auch Thema bei anste- sondern es handelt sich um ein Kapitalmarktinstrument, henden Delegationsreisen von Mitgliedern des Hauses mit dem Geld privater Anleger gesammelt und in Pro- sein. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10137

Ursula Groden-Kranich (A) Zweitens. Durch die Einrichtung des EFSI werden die Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Obergrenzen des mehrjährigen Finanzrahmens der EU Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- nicht erhöht. Wir schaffen es also – so der Plan –, mit legen! Wir haben eine riesengroße Koalition mit kleinem dem gleichen Mittelansatz, ergänzt um privates Kapital, Mut. Das zeigt dieser Antrag, mit dem Sie sich nun end- zusätzliche Wachstumsimpulse in Zukunftsbranchen zu lich doch trauen, sich grundsätzlich hinter den Europäi- setzen. Um mit dem EFSI einen positiven Effekt zu er- schen Fonds für strategische Investitionen zu stellen. zielen, dürfen nur die Projekte kofinanziert werden, die Aber den Mut für die wirklich wichtigen Schritte, die es aufgrund ihrer Risikostruktur ohne den EFSI nicht ge- von Europa verlangt werden, um die Krise anzugehen, geben hätte. um den Mut und die Hoffnung der Menschen wieder zu steigern, um gegen die Krise in den Ländern des Südens Dritter und letzter Punkt. Die deutsche KfW – das hat etwas zu machen, um den Zusammenhalt zu stärken, Herr Poß schon gesagt – wird sich mit mindestens 8 Mil- bringen Sie selber nicht auf. Mutig wäre es, zu sagen: liarden Euro beteiligen. Weitere nationale Förderbanken Wir gehen voran. haben zwischenzeitlich Finanzierungszusagen im Um- fang von über 33 Milliarden Euro gemacht. Dieses zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sätzliche Engagement stärkt den Effekt des EFSI, stärkt Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Da hast du Wachstum und Arbeitsplätze, stärkt den Wirtschafts- recht!) und Wissensstandort Europa. Stattdessen sagt Deutschland als Allererstes, Geld Abschließend noch ein Wort zum Antrag der Fraktion gebe man nicht. Bei den wirklich wichtigen strittigen Die Linke. Fragen, die im Trilog thematisiert werden, stellen Sie sich auf die Seite des Rates, der diesem Instrument skep- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter Antrag!) tisch gegenübersteht und es eigentlich so schnell wie Es gibt keinen besseren Beweis dafür, dass Sie weder die möglich wieder in der Versenkung verschwinden sehen Wirkungsweise noch die Systematik des EFSI auch nur möchte. Das wird sehr schön deutlich anhand der Befris- ansatzweise verstanden haben, als Ihren heute vorliegen- tung. Ich habe nichts dagegen, nach drei Jahren – viel- den Antrag. leicht auch nach fünf Jahren; aber nach einer sinnvollen Zeit – zu schauen: Hat alles geklappt? Macht das noch ( [CDU/CSU]: Gar nichts Sinn? Aber die Befristung, die ja von Deutschland erst haben sie verstanden!) auf die Tagesordnung gebracht wurde, hat das Ziel, das Ganze nach drei Jahren abzuschließen und alles wieder Schon allein Ihre Forderung nach einem staatlichen in die Ecke zu packen. Bei der EFSF haben wir gesehen, 500-Milliarden-Euro-Programm, finanziert durch Kre- wie gut das funktioniert hat. (B) dite – ausgerechnet der EZB – und durch Steuererhöhun- (D) gen, zeigt, dass Ihnen weder das Europarecht noch eine Die große integrationspolitische Chance, die hinter echte Investitionstätigkeit sonderlich naheliegen. diesem Fonds steckt, nämlich ein Instrument zu schaf- fen, um in die richtigen Maßnahmen – in erneuerbare (Beifall bei der CDU/CSU) Energien, in Energieeffizienz, in Netze, in Hilfen für Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen unterstützen mittelständische Unternehmen – in Europa zu investie- wir die gute, richtige und zukunftsweisende Position der ren, außerhalb der bisherigen Logik, die in Europa im- Bundesregierung auf europäischer Ebene. Er ist auch mer galt, dass ein Staat wieder so viel herausbekommen eine wichtige Positionsbestimmung gegenüber unseren möchte, wie er eingezahlt hat – da gibt es ja immer die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament – Brüsseler Nächte der langen Messer, in denen sich die gerade im Hinblick auf die Trilogverhandlungen. Die Regierungen gegenseitig die Zahlenwerke an den Kopf EU-Kommission ist aufgerufen, alle noch ausstehenden werfen –, und mit der Idee, Instrumente zu entwickeln, Arbeiten, die für einen baldigen Start des EFSI notwen- mit denen Projekte von europäischem Mehrwert in die- dig sind, zügig abzuschließen. Dazu gehört für mich ins- sen strategischen Feldern angegangen werden, wollen besondere die Erarbeitung von Grundsätzen zur beihilfe- Sie in drei Jahren am besten wieder beerdigt sehen, weil rechtskonformen Projektauswahl. es Ihnen nicht passt, was Ihr Parteikollege, Herr Juncker, geschaffen hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur mit einer klaren ordnungspolitischen Ausgestaltung des EFSI, wie sie der Das andere, was so interessant und wirklich wichtig Antrag von CDU/CSU und SPD vorsieht, können wir ist: Wir müssen doch versuchen, die Maßnahmen dieses diese Vorhaben zum Erfolg führen. Ich werbe daher um Fonds zu binden, sowohl an die Ziele der Strategie „Eu- Zustimmung für unseren Antrag. ropa 2020“ wie auch an so etwas wie Nachhaltigkeit. Das müsste doch auch im Sinne der Großen Koalition Vielen Dank. sein. Deswegen schlägt das EP vor, ein Nachhaltigkeits- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Scoreboard für die Projekte einzuführen. Kein Wort dazu neten der SPD) in Ihrem Antrag, auch nicht zu der Frage, inwieweit ei- gentlich die Strukturen des EFSI so ausgestaltet sein sol- len, dass der, der zahlt, auch die Kontrolle hat. Ich Vizepräsident Johannes Singhammer: glaube, ich würde im Wahlkreis von Gunther Krichbaum Als Nächster spricht der Kollege Manuel Sarrazin, 100 Prozent der Stimmen bekommen, wenn ich in dem Bündnis 90/Die Grünen. wunderschönen Dialekt, der dort gesprochen wird, sage: 10138 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Manuel Sarrazin (A) Wir haben bezahlt, also wollen wir auch die Kontrolle mich, meine erste Rede in diesem Hohen Hause zu ei- (C) haben. nem so wichtigen europäischen Kernprojekt für den wirtschaftlichen Wiederaufschwung in Europa halten zu (Zuruf des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/ dürfen. Konrad Adenauer wusste bereits vor fast 70 Jah- CSU]) ren: Dies ist eines der wichtigsten Anliegen des Europäi- schen Parlaments: Wenn schon auf unseren Haushalt zu- Europa ist nur möglich, wenn eine Gemeinschaft gegriffen wird, dann wollen wir auch die Kontrolle da- der europäischen Völker wiederhergestellt wird, in rüber haben, wie mit dem Geld umgegangen wird. Was der jedes Volk seinen unersetzlichen, unvertretba- aber sagt die Koalition zu diesem Thema? Nichts. ren Beitrag zur europäischen Wirtschaft und Kultur, zum abendländischen Denken, Dichten und Gestal- (Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]: Ich ten liefert. habe etwas dazu gesagt!) Dies ist keinesfalls durch die Schaffung der Europäi- Das ist doch eigentlich etwas, wo es sich lohnen schen Union bereits erledigt. Es bedarf einer permanen- würde, gemeinsam parlamentarisch – EP und Bundestag ten und intensiven Anstrengung in allen europäischen Seite an Seite – den Rat davon zu überzeugen, hier auf Ländern, um dieses Ziel wirklich zu erreichen und auch die Verhandlungsposition des Europäischen Parlaments zu erhalten. einzugehen. Leider findet das nicht statt. Deswegen ist es aus unserer Sicht eine wirklich gute Idee, dass man (Beifall bei der CDU/CSU) sagt: Die Mitglieder des Investitionsausschusses werden Nach dem Vorschlag der EU-Kommission sollen vom Europäischen Parlament bestätigt, damit Transpa- durch den Europäischen Investitionsfonds in den nächs- renz und Kontrolle gegeben sind. ten Jahren zusätzliche Mittel in Höhe von mindestens (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 315 Milliarden Euro mobilisiert werden. Die wirtschaft- lichen Investitionen in Europa haben infolge der Finanz- Wir Grüne meinen, dass nun in Europa wirklich in- und Wirtschaftskrise stark gelitten. Aufgrund dieses In- vestiert werden muss. Es hilft nichts, wenn ein konkreter vestitionsdefizits ist das Wachstum deutlich zurück- Vorschlag für Investitionen gemacht wird, zu sagen: Der gegangen. Dies belastet insbesondere die Volkswirt- Vorschlag ist blöd. – Wenn man will, dass investiert schaften und Regionen, die ohnehin von der Krise stark wird, dann muss man auch liefern, wo das geschehen betroffen sind. soll, wenn man einen Investitionsvorschlag ablehnt. Deswegen machen wir Vorschläge, wie man es richtig Die Große Koalition begrüßt daher die europäische ausgestalten kann, anstatt uns in die Ecke zu stellen und Offensive ausdrücklich; denn sie schafft eben die Rah- (B) (D) zu sagen: Wir wollen diese oder jene Investition nicht menbedingungen dafür, dass in den Mitgliedstaaten risi- und warten lieber so lange, bis andere kommen, was koreichere und ebenso wirtschaftlich tragfähige Projekte wahrscheinlich nicht der Fall sein wird. – Daher halte finanziert werden können. ich die Position der Linksfraktion an dieser Stelle für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht konsistent. neten der SPD) Wir Grüne meinen, dass das Europäische Parlament Das Paket schafft damit die Voraussetzung für eine in den Verhandlungen im Trilog seine Position stark ver- Steigerung der Investitionstätigkeit, für ein stärkeres und treten soll. Wir erkennen an, dass sich die Koalition end- nachhaltiges Wirtschaftswachstum und somit auch für lich grundsätzlich dazu durchgerungen hat, den EFSI zu Beschäftigung und Wohlstand. Wichtig ist – das wurde unterstützen. Wir kritisieren, dass Sie nicht bereit sind, bereits gesagt –, dass die wirtschaftliche Rentabilität ein dafür zu sorgen, dass sich Deutschland an der ersten zentraler Faktor der Projektauswahl bleibt, um Fehlallo- Stufe des EFSI mit einem starken Signal beteiligt. Des- kationen und Subventionsprogramme für nicht zukunfts- halb kommen wir am Ende zu dem Schluss, dass wir uns trächtige Industriezweige zu vermeiden. enthalten. Wir wünschen dem EFSI trotzdem guten Er- folg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Danke sehr. Die zu fördernden Projekte müssen daher unabhängig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und transparent identifiziert werden. Das Investitionspa- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) ket muss sicherstellen, dass solche Wirtschaftssektoren gefördert werden, die die Grundlage für nachhaltigen Vizepräsident Johannes Singhammer: Wohlstand bilden. Schwerpunkte setzt die EU-Kommis- Nächste Rednerin ist die Kollegin Ronja Schmitt für sion daher richtigerweise bei Forschung und Innovation, die CDU/CSU. bei der Verkehrsinfrastruktur, im Bereich der Breitband- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Energienetze sowie bei erneuerbaren Energien und neten der SPD) Energieeffizienz. Um den Rückstand in der Wettbewerbsfähigkeit bis Ronja Schmitt (Althengstett) (CDU/CSU): zum Jahr 2020 aufholen zu können, veranschlagt die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Europäische Investitionsbank etwa 600 Milliarden Euro Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue pro Jahr. Davon entfallen auf den Ausbau im Energiebe- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10139

Ronja Schmitt (Althengstett) (A) reich etwa 100 Milliarden bis 200 Milliarden Euro. Neue wünsche Ihnen viele weitere Reden im Deutschen Bun- (C) Investitionen müssen aber auch getätigt werden, um destag. langfristige Risiken in Europa abzufedern, wie zum Bei- spiel die Importabhängigkeit von knappen Rohstoffen. (Beifall) Gerade aus deutscher Sicht soll das Paket daher finan- Für die SPD spricht jetzt der Kollege Christian Petry. zielle Mittel für eine europäische Energiewende mobili- sieren. Lassen Sie mich das ganz klar sagen: Die Ener- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katrin giewende ist ein wichtiges und zentrales Ziel für uns alle Albsteiger [CDU/CSU]) und für die kommenden Generationen. Christian Petry (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und neten der SPD) Herren! Heute ist eigentlich ein wichtiger Tag für die Die Integration des europäischen Binnenmarktes Europäische Union. Denn wir hier unterstützen letztlich macht zudem einen forcierten Ausbau transeuropäischer das, was die Europäische Union an Investitionsoffensive Infrastruktur nötig. Das gilt nicht nur im Verkehr, son- an den Tag legt. Das war nicht immer so. Die schwarze dern auch mit Blick auf den digitalen Binnenmarkt und Null stand oftmals auch in Europa über allem, was wir die europäischen Energienetze. Die grenzüberschreiten- als Sozialdemokraten in diesem Punkt eigentlich anders den Verbindungen im Rahmen der Energieunion sind machen wollten, nämlich weg von der Austerität hin zu von enormer, zentraler Wichtigkeit für Versorgungs- mehr Investitionen, zu Beschäftigung und Wachstum. sicherheit und für Preisstabilität. Beschäftigung und Wachstum sind doch die Ziele, die wir in Europa verfolgen müssen, damit die Menschen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Europa akzeptieren. Nicht die Fiskalpolitik, nicht die Haushaltsstabilität – sie ist wichtig – sind es, über die Der Strom muss jetzt endlich auch dorthin fließen kön- sich die Menschen mit Europa identifizieren. Beschäfti- nen, wo er gebraucht wird. gung und Wachstum, Vermeidung der Jugendarbeitslo- (Beifall bei der CDU/CSU) sigkeit, Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, Teilhabe an Wohlstand in Europa, das sind die Ziele, und das wollen Als Baden-Württembergerin sehe ich hier gerade im wir auch mit dem Investitionsfonds erreichen. Deshalb Grenzbereich zu Frankreich noch einen Nachhol- und unterstützen wir ihn. Ausbaubedarf, zum Beispiel beim Ausbau der Grenz- kuppelstellen. Dies wäre hilfreich für Deutschland als (Beifall bei der SPD) Exportnation, für meine Heimat Baden-Württemberg als (B) Herr Kollege Ulrich, mein Gedächtnis bezüglich 2008 (D) zentrale Industrieregion in Europa und für meinen Wahl- funktioniert. Der Sozialdemokratie vorzuwerfen, sie sei kreis Alb-Donau/Ulm mit einer ganzen Reihe herausra- Investitionsbremser, hat ja Joachim Poß wirklich fast aus gender Industriebetriebe. den Socken gehoben. Der österreichische Kabarettist Werner Schneyder (Joachim Poß [SPD]: Ach nee! Nein, mit Sicher- sagte einmal: heit nicht! – Weitere Zurufe von der SPD) Europa besteht aus Staaten, die sich nicht vorschrei- Das ist ja wirklich eine Verdrehung der Tatsachen. Das ben lassen wollen, was sie selbst beschlossen ha- ist so ähnlich, als würde ich behaupten, die Linken wä- ben. ren nur für die Superreichen da. In Ihrem Antrag steht es jedoch umgekehrt. Aber wenn man sich die griechische (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr gut!) Politik anschaut, stellt man fest: Dort macht Syriza ein Auch wenn man hin und wieder einmal den Eindruck ha- gigantisches Steuerentlastungsprojekt für die Superrei- ben könnte, dass er damit so ganz falsch nicht liegt, chen, indem sie die Steuerschuldstundungen verlängert glaube ich doch, dass er im Kern unrecht hat. Wir haben hat. es in der Hand, zu beweisen, dass die Europäische Union (Joachim Poß [SPD]: Nach Beratung durch die eine Rechtsgemeinschaft ist, die ihre Ziele und Be- Linkspartei!) schlüsse ernst nimmt und den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur Wohlstand und Sicherheit bietet, sondern auch Das ist linke Politik, das ist das, woran man die Realität Vertrauen in das uns verbindende Recht schafft. Von da- messen kann – nicht an dem, was im Antrag steht. her bitte ich um Unterstützung unseres Antrags. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Herzlichen Dank. Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Und von Fußball verstehen die auch nichts! – Zuruf des (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE]) Der europäische Mehrwert, die schnelle Realisierbar- Vizepräsident Johannes Singhammer: keit, vorliegendes Marktversagen im Startschuss, keine Liebe Kollegin Schmitt, Sie gehören erst seit einigen regionalen und sektoralen Vorgaben, das sind die Dinge, Monaten dem Deutschen Bundestag an. Das war Ihre die wir in diesem Fonds eigentlich verwirklicht haben erste Rede im Hohen Haus. Ich gratuliere Ihnen im Na- wollen. Und ich bin eigentlich ganz froh, Herr Kollege men der Kolleginnen und Kollegen dazu herzlich und Sarrazin – da sind wir unterschiedlicher Auffassung –, 10140 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Christian Petry (A) dass eine weitgehend unabhängige Kommission die Pro- Katrin Albsteiger (CDU/CSU): (C) jektauswahl mitgestaltet, aufarbeitet und letztlich trifft. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fi- Ich glaube, das ist auch sehr gut so, und dann kann es nanz- und Wirtschaftskrise hat die Investitionstätigkeit funktionieren. in Europa stark geschwächt. Der derzeitige Mangel an Investitionen behindert das europäische Wachstum und Kritisch zu sehen sind natürlich die entsprechenden trifft vor allem die Länder, die durch die Krise sowieso Finanzinstrumentarien, die wir dort haben: das ehrgei- schon – wir haben es gehört – stark angeschlagen sind. zige Ziel einer Hebelung im Verhältnis von 1 : 15. 21 Milliarden Euro – 16 Milliarden Euro aus den Fonds, Die Gründe für die fehlenden Investitionen können aus dem Haushalt und 5 Milliarden Euro über die Inves- vielschichtig sein: ein unsicheres Umfeld in dem einen titionsbank – sollen 315 Milliarden Euro stemmen – und oder anderen Land, eine mangelnde Wettbewerbsfähig- dies mit privatem Kapital. keit, schlechte wirtschaftliche Rahmenbedingungen oder einfach ein schwerer oder gar kein Zugang zu Investoren Selbstverständlich ersetzt dies nicht öffentliche Mit- und damit zu Kapital. Das liegt hauptsächlich daran, tel. Aber angesichts der Alternative, jetzt etwas zu tun, dass diese Investitionen teilweise mit sehr hohen Risiken ist es doch mit Blick auf die Möglichkeit, nichts zu tun, verbunden sind. Hohe Risiken sind vor allem da gege- ganz klar, dass wir diese Instrumentarien ausnutzen müs- ben, wo es sich um langfristige Investitionen handelt. sen. Genau an dieser Stelle setzt der EFSI an. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das klingt jetzt alles relativ technisch und vielleicht Es ist natürlich klar, dass wir die Dinge kritisch be- für den einen oder anderen, der das möglicherweise zum gleiten wollen. Der Risikotransfer soll abgesichert wer- ersten Mal hört, etwas kompliziert und unverständlich. den. Anschubfinanzierung oder die Übernahme von Aber Fakt ist doch, dass ein Ausbleiben von Investitio- Zinsrisiken sind Modelle, bei denen wir sagen: Hier kön- nen dazu führt, dass der europäische Wirtschaftsraum nen wir privates Kapital sinnvoll einbinden. Es macht weiter geschwächt wird. Das Fehlen eines guten wirt- keinen Sinn, dass dieses Kapital außerhalb von Europa schaftlichen Klimas führt zum Schluss wieder dazu, dass eingebunden wird. Vielmehr müssen wir in Europa zur es weniger Arbeitsplätze gibt. Einbindung dieses Kapitals Projekte anbieten. Die geringe Zahl von Arbeitsplätzen und damit auch Diese Instrumentarien müssen ausführlich diskutiert eine hohe Arbeitslosenquote, die wir jetzt schon in eini- und dann angeboten werden. Die EIB, die Europäische gen Ländern haben, sind natürlich ein Albtraum. Stellen Investitionsbank, ist hierfür ein guter Partner und hat da- Sie sich vor: Die durchschnittliche Jugendarbeitslosig- rin Erfahrung. Auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau keit liegt bei 22 Prozent, und das ist nur der Durch- (B) (D) hat mit diesen Instrumenten sehr große Erfahrung. Wir schnittswert. Dabei ist noch gar nicht die Spitze berück- können darauf vertrauen, dass diese Institutionen ordent- sichtigt. Davon betroffen sind Länder wie Spanien oder lich arbeiten werden; denn die Risiken – da gebe ich Ih- Griechenland, in denen die Arbeitslosenquote bei Ju- nen recht – sind hoch. Man muss aufpassen, dass die öf- gendlichen bei über 50 Prozent liegt. fentliche Hand dabei nicht über den Tisch gezogen wird. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Deshalb for- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. dern wir viel mehr!) [CDU/CSU]) Ja, diese Quote hat sich zugegebenermaßen schon ver- Alles in allem haben wir hiermit eine gute Maßnahme bessert. Es hat in diesem Bereich eine positive Entwick- zur Stärkung von Investitionen in Europa. Sie ist in die lung gegeben, aber die Quote ist immer noch unverhält- geänderte Geldpolitik eingebunden. Sie ist in die Schaf- nismäßig hoch, so hoch, wie es für eine junge fung einer Kapitalmarktunion eingebunden und damit Generation nicht sein darf. Wir ziehen – Kollege Poß hat ein großer Wurf. Sie ist in die neue Ausrichtung des Eu- es gesagt – eine verlorene Generation in Europa groß. ropäischen Semesters eingebunden. Sie ist ein Schritt Hier muss die Europäische Union reagieren. Das sind weg von der Austerität und von der reinen Fiskal- und große Herausforderungen, die hier zu stemmen sind. Der Stabilitätspolitik hin zu einer ordentlichen Politik für Europäische Fonds für strategische Investitionen kann, mehr Beschäftigung und Wachstum, für ein Europa der sofern er sich in der Realität tatsächlich bewährt, ein An- Bürger, so wie wir uns dies wünschen und so wie es auch fang auf dem Weg sein, die Investitionstätigkeit und da- akzeptiert wird. In diesem Sinne werbe ich um Zustim- mit den Wirtschaftsraum zu stärken. mung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Glück auf! neten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben uns die Frage gestellt: Was soll dieser der CDU/CSU) Fonds bewirken? Klar, es geht um die Mobilisierung von privaten Geldern. Er soll aber vor allem über die Länder- Vizepräsident Johannes Singhammer: grenzen hinweg in den Schlüsselbereichen, die für ganz Abschließende Rednerin in dieser Aussprache ist die Europa enorm wichtig sind, Kapital bereitstellen. Er soll Kollegin Katrin Albsteiger, CDU/CSU. für die Beseitigung von sektorspezifischen und sonstigen nichtfinanziellen und finanziellen Investitionshindernis- (Beifall bei der CDU/CSU) sen sorgen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10141

Katrin Albsteiger (A) Ja, es geht dabei um die Generierung von insgesamt Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein (C) 315 Milliarden Euro. Das ist ein Riesenbatzen Geld; das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält kann man nicht wegdiskutieren. Es ist sicherlich auch sich? – Dieser Antrag ist mit den Stimmen von CDU/ nicht genug für die gesamte Investitionstätigkeit in Eu- CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim- ropa, aber es ist ein Anfang. Wir brauchen es jetzt. So men der Fraktion Die Linke abgelehnt. viel im Übrigen zum Thema „Befristung des EFSI“. Ich sehe es schon kommen. Wenn wir ihn nicht befristen Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf: würden, würde es dazu führen, dass wir wahrscheinlich Erste Beratung des von den Abgeordneten noch in vier oder fünf Jahren darüber diskutieren, wie Norbert Müller (Potsdam), Thomas Nord, Caren wir es genau machen. Wir brauchen die Investitionen Lay, weiteren Abgeordneten und der Fraktion aber jetzt. Eine Befristung mobilisiert auch eine schnelle DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Ge- Investitionstätigkeit, die wir so dringend brauchen. setzes über die Finanzierung der Beseitigung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) von Rüstungsaltlasten in der Bundesrepublik Deutschland (Rüstungsaltlastenfinanzierungs- Zu begrüßen ist ebenfalls, dass der EFSI hauptsäch- gesetz – RüstAltFG) lich für kleine und mittelständische Unternehmen ge- dacht ist, für den wichtigen Mittelstand, der in anderen Drucksache 18/4841 Ländern Europas noch viel wichtiger ist als bei uns. Wir Überweisungsvorschlag: haben schon einen relativ stabilen Mittelstand, den wir Haushaltsausschuss (f) selbstverständlich weiter fördern müssen, aber gerade im Finanzausschuss Süden Europas ist noch einiges zu tun. Verteidigungsausschuss Ebenfalls zu begrüßen ist, dass der EFSI nicht, wie so Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für viele andere EU-Maßnahmen, auf Zuschüsse setzt, son- diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehe dern auf ein risikoabgesichertes Darlehen. Das heißt, die keinerlei Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen. Gelder sollen auch wieder zurückgezahlt werden. Trotz- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- dem ist es so – das kann ich mir zum Schluss nicht ver- ner dem Kollegen Norbert Müller für die Fraktion Die kneifen –: Es gibt bei allem Guten auch einen kleinen Linke das Wort. Wermutstropfen, über den wir schon so oft gesprochen haben. Einige Gelder werden aus dem erfolgreichen For- (Beifall bei der LINKEN) schungsprogramm der Europäischen Union „Horizon 2020“ genommen. Ich glaube, man kann es lang und Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): (B) breit beklagen. Sicher an dieser Stelle ist: Wenn die (D) 2,7 Milliarden Euro herausgenommen werden und in Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und den Fonds gehen sollen, dann sollte doch bitte schön bei Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den der Auswahl der Projekte darauf geachtet werden, dass Tribünen! Krieg verursacht unermessliches Leid für dieses Geld zum Schluss wieder in der Forschung landet, Menschen, und Krieg hinterlässt eine riesige Menge an wohin es nämlich gehört. gefährlichem Müll. Seit dem 9. Mai 1945 stellt sich in Deutschland folgende Frage: Was soll mit den ganzen Vielen herzlichen Dank. Weltkriegswaffen, Bomben und Granaten, passieren, und wer ist für deren Entsorgung verantwortlich? (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Die Bundesrepublik trägt aufgrund der Subjektidenti- Vizepräsident Johannes Singhammer: tät mit dem Deutschen Reich die Kosten der Entsorgung sogenannter reichseigener Munition, also Wehrmachts- Vielen Dank, Frau Kollegin Albsteiger. – Ich schließe munition, die im heutigen Territorium der Bundesrepu- damit die Aussprache. blik Deutschland verblieben ist. Der Bund muss pro Jahr Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag etwa 30 Millionen Euro für deren Beseitigung aufbrin- der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksa- gen. Nun gibt es aufgrund des Verlaufs des Zweiten che 18/4929 mit dem Titel „Dem Europäischen Fonds Weltkrieges aber nicht nur reichseigene, sondern auch für strategische Investitionen zum Erfolg verhelfen“, eine ganze Menge alliierter Rüstungsaltlasten auf deut- und zwar zur Stellungnahme gegenüber der Bundesre- schem Staatsgebiet. gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes. Wer für diesen Antrag stimmt, den bitte ich um ein Ich komme aus Ostbrandenburg. Als ich ein kleines Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Kind war, gab es immer die Belehrung, wenn wir im sich? – Dieser Antrag ist angenommen mit den Stimmen Wald spazieren gegangen sind: Hebe nichts auf, was von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Frak- nach Metall aussieht, es könnte explodieren. – Ostbran- tion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grü- denburg, das ist einer der Landstriche in Deutschland, nen. der im April 1945 durch die dortigen unnötigen Kampf- handlungen der Wehrmacht am meisten verwüstet wor- Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 5. Abstimmung den ist. Häufig sind es Fliegerbomben, die zu unser aller über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache Leidwesen undetoniert in deutschem Boden liegen. Ins- 18/4932 mit dem Titel „Für ein öffentliches sozial-öko- gesamt haben die Alliierten etwa 1,3 Millionen Tonnen logisches Zukunftsinvestitionsprogramm in Europa“. Fliegerbomben eingesetzt, um das Deutsche Reich zur 10142 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Norbert Müller (Potsdam) (A) Kapitulation zu bewegen. Davon sollen circa 250 000 tigten Interessen der eigenen Landesregierung hintanste- (C) nicht explodiert sein. hen. Es waren Landesregierungen aus CDU, aus SPD, häufig auch aus FDP, Grünen und Linken, die dem Ge- Wir wissen nicht genau, wie viele Bomben noch in setz zugestimmt oder es in den Bundesrat eingebracht deutschem Boden liegen. Besonders betroffen sind die haben. Bundesländer Berlin, Hamburg, Brandenburg und Nie- dersachsen. Wer die Medien aufmerksam verfolgt hat, Das Aussitzen hier im Bund ist verdammt gefährlich. hat mitbekommen, dass in Hannover erst Anfang der Nach über 70 Jahren verwittern langsam die Kunststoff- Woche aufgrund der Entschärfung einer 250-Kilo-Welt- und Zellulosesicherungen der chemischen Langzeitzün- kriegsbombe 31 000 Menschen ihre Wohnquartiere ver- der von Fliegerbomben. Hierdurch wird eine Entschär- lassen mussten – eine der größten Evakuierungen seit fung massiv erschwert und lebensgefährlich. Selbst so- 1945. genannte Spontandetonationen ohne jeglichen äußeren Einfluss in besiedelten Gebieten sind nicht auszuschlie- Die anfallenden Kosten für die Entsorgung alliierter ßen. Dass es in der Vergangenheit Spontandetonationen Munition müssen die betroffenen Länder und die Kom- nur in unbesiedelten Gebieten gegeben hat, dass kaum munen seit nunmehr 70 Jahren selbst tragen. Seit 1990 jemand zu Schaden gekommen ist, dass es nur Sachschä- hat die Erkundung, Entschärfung und Entsorgung alliier- den gab, das grenzt – und ich bin nicht besonders gläu- ter Rüstungsaltlasten, insbesondere von Fliegerbomben, big – fast an ein Wunder. Wir können nur hoffen, dass es alleine mein Land Brandenburg etwa 220 Millionen auch in Zukunft so ist; aber man darf eben nicht nur hof- Euro gekostet, die anderswo dringender gebraucht wer- fen, sondern muss die Beseitigung von Rüstungsaltlasten den. Die anderen betroffenen Bundesländer stehen vor aus dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die systemati- ähnlichen Herausforderungen. Für die Betroffenen ist sche Suche nach Fliegerbomben und deren Entschär- völlig klar: Es gilt das Verursacherprinzip, und Verursa- fung, auch vorantreiben. cher des Zweiten Weltkriegs sind nicht die Alliierten, auch nicht die Kommunen oder die Länder, sondern das (Beifall bei der LINKEN) Deutsche Reich und in Folge und Verantwortung die Bundesrepublik Deutschland, die dieses Erbe nicht aus- Dabei kann man die Länder nicht mehr im Regen stehen schlagen kann, sondern annehmen muss. lassen. Da muss der Bund in die Finanzierung mit eintre- ten; er ist hier auch in der Pflicht. Die Bundesregierung Mit der Beschlussfassung über den Entwurf eines Ge- gefährdet das Leben der Mitarbeiterinnen und Mitarbei- setzes über die Finanzierung der Beseitigung von Rüs- ter der Kampfmittelbeseitigungsdienste sowie von Bür- tungsaltlasten in der Bundesrepublik Deutschland hat gerinnen und Bürgern, die über Blindgängern wohnen (B) der Bundesrat zuletzt am 11. Juli 2014, und damit insge- oder arbeiten. (D) samt zum sechsten Mal nach 1992, 1997, 2001, 2003 und 2011, die Bundesrepublik Deutschland in die Pflicht Kollege Uwe Feiler – Sie sind anwesend –, ich habe nehmen wollen. Was ist seit 1992 mit diesem inzwischen Ihr Interview im Rundfunk Berlin-Brandenburg gesehen. nahezu einstimmig getroffenen Beschluss des Bundesra- Ich finde es, ehrlich gesagt, der Sache völlig unangemes- tes passiert? Nichts! Es ist jedes Mal gar nichts passiert. sen, zu argumentieren, man könne ja im Rahmen der Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen dann Jede Bundesregierung seit Helmut Kohl hat dieses irgendwann mal darüber reden, 2018/2019. Nein, wir Thema abgewürgt, ausgesessen oder schlichtweg igno- brauchen keine Regelung 2018/2019, wir brauchen jetzt riert. Daran sind nahezu alle Parteien in diesem Haus be- eine Regelung. Die Länder warten seit 25 Jahren darauf teiligt. Die Sozialdemokraten waren bei Abstimmungen und haben sechsmal im Bundesrat dafür gestimmt. im Bundestag 1993 und 1998 als Oppositionsfraktionen dafür. Jürgen Trittin – er war grüner Minister für Bun- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) des- und Europaangelegenheiten in Niedersachsen, er war sogar Beauftragter des Bundesrates für die Rüs- Wir haben uns als Linksfraktion des vom Bundesrat tungsaltlastenfinanzierung – hat als Minister im Kabinett erteilten Auftrags an die Bundesregierung angenommen. Gerhard Schröder gegen sein eigenes Gesetz gestimmt. Wir haben lange genug gewartet, dass die Bundesregie- Die CDU war zeitversetzt adäquat verwirrt: Sie war rung, die Koalition selbst aktiv wird aufgrund des Be- 1993 und 1998 im Bund unter Bundeskanzler Kohl da- schlusses des Bundesrates, und bringen einen entspre- gegen, dass sich der Bund an der Kostenfinanzierung be- chenden Gesetzentwurf nun selbst in den Deutschen teiligt, in der Opposition 2004 dann aber dafür. Bundestag ein. Damit haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten der SPD und der Union – einge- Seit der Großen Koalition unter Kanzlerin Merkel laden sind auch die Kolleginnen und Kollegen der Grü- war man sich einig, dass man am besten gar nicht mehr nen –, die Möglichkeit, den auch von Ihren Landesregie- über das Thema spricht. Seit dem letzten großen Anlauf rungen getragenen Beschluss zum Gesetz zu erheben 2011 warten die Bundesländer nun darauf, dass die und den Bund endlich in die Verantwortung zu nehmen Große Koalition das Gesetz in den Bundestag einbringt. und an der Finanzierung der Beseitigung von Rüstungs- Die Rechnung der Bundesregierung scheint klar – das ist altlasten zu beteiligen. Zeit wird es. Ihrem Bericht zu entnehmen –: Je mehr Zeit vergeht, umso mehr Munition wird in der Zwischenzeit auf Kos- Vielen Dank. ten der Kommunen und der Länder entsorgt. Wo die schwarze Null den Haushalt regiert, müssen die berech- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10143

(A) Vizepräsident Johannes Singhammer: Rahmen ihrer Zuständigkeit für die Abwehr von Gefah- (C) Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege ren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Klaus-Dieter Gröhler. Ein brandenburgischer Innenminister, meine Damen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und Herren, hat in diesem Zusammenhang einmal richtig bemerkt – ich darf zitieren –: Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU): Die Folgen des Zweiten Weltkrieges sind ein ge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Mai meinsames Erbe. Ihre Beseitigung ist damit eine 1945, also in den 70 Jahren seit Kriegsende, sind in Ber- gesamtstaatliche Aufgabe und nicht die Sache ein- lin circa 1,8 Millionen Sprengkörper aufgefunden und zelner Länder. unschädlich gemacht worden. Nach Schätzungen der Berliner Landesregierung sind etwa noch 3 000 Blind- Genau das stimmt: eine gesamtstaatliche Aufgabe, von gänger im Boden der Bundeshauptstadt vorhanden. Al- Bund und Ländern; übrigens wird das seit Jahrzehnten lein im letzten Jahr wurden in Berlin 54 Tonnen Bom- so gehandhabt. Dieser Satz stammt nicht vom heutigen ben, Granaten und Munition aufgefunden und entschärft. brandenburgischen Innenminister, sondern ist elf Jahre In Niedersachsen sind es jährlich zwischen 50 und alt und stammt von Jörg Schönbohm. Er wehrte sich da- 90 Tonnen, und in dem Bundesland mit der größten Mu- mals dagegen, dass der frühere Bundesfinanzminister nitionsbelastung, nämlich Brandenburg, sind im vorletz- Hans Eichel jegliche Bundesbeteiligung ab 2006 strei- ten Jahr 270 Tonnen Altmunition geborgen worden. – So chen und diese Aufgabe komplett den Bundesländern weit die Darstellung der Istsituation, die hier im Haus si- aufbürden wollte. Dazu ist es nicht gekommen, und da- cherlich von keiner Fraktion bestritten wird. für besteht auch keine Veranlassung. Ich plädiere daher Ich gebe gerne zu: Das ist eine große Herausforde- dafür, dass wir die über Jahrzehnte geübte Praxis der rung. Da, Herr Kollege Müller, sind wir uns einig. Wir Lastenteilung der Verantwortung auch weiterhin beibe- kommen nur zu völlig unterschiedlichen Bewertungen in halten. der Frage, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen Die Bundesrepublik Deutschland besteht aus 16 sehr müssen. Sie kommen zu falschen; denn Sie haben hier selbstbewussten Bundesländern, die selbst auch eine eben den Eindruck vermittelt, dass eine große Gefahr für Staatsqualität haben. Diese Staatsqualität bedeutet nicht die Bevölkerung dadurch entstehen würde, dass der nur Rechte, sondern auch Pflichten – auch finanzielle Bund in dieser Frage völlig untätig sei, und haben das Pflichten. Die Bundesländer sind ja keine nachgeordne- mit einem Rundumschlag im Hinblick auf zahlreiche ten Verwaltungseinrichtungen des Bundes, die einfach Bundesregierungen verbunden. Genau das ist falsch; (B) sagen können, dass sie zusätzliches Geld brauchen, son- (D) denn die Zahlen, die ich Ihnen eben geschildert habe, zur dern sie haben eine eigene Verantwortung. Ich kann in- Munitionsbergung in den unterschiedlichen Bundeslän- zwischen nicht mehr hören, dass es ständig heißt: Das dern, zeigen ja, dass Munition aufgefunden, geborgen schaffen die Länder nicht, hier sind die Länder überfor- und unschädlich gemacht wird. Bitte vermitteln Sie doch dert, sie brauchen hier vom Bund mehr Geld, da könnte nicht gegenüber der Bevölkerung den Eindruck: Hier be- der Bund noch eine Aufgabe übernehmen. – So funktio- steht eine ganz große Gefahr, nur weil die Bundesregie- niert die Argumentation nicht, weil auch die Länder un- rung untätig ist. – Das ist so nicht richtig. serer Bundesrepublik von der sehr guten wirtschaftli- Sie schreiben in Ihrem Gesetzesentwurf – ich darf zi- chen Lage profitieren. Sie nehmen jährlich 10 Milliarden tieren –: Euro Steuern mehr ein, und deshalb kann man nicht im- mer neue Forderungen an den Bund stellen. … eine angemessene Lastenteilung zwischen Bund und Ländern bei der Finanzierung von Maßnahmen Darüber hinaus gibt es eine beispiellose Mittelumver- zur Beseitigung von Rüstungsaltlasten … zu regeln. teilung vom Bund an die Länder. Gerade heute, am Tag des Nachtragshaushalts, darf ich das noch einmal in Er- Dabei übersehen Sie zum einen, dass es eine solche innerung rufen: 125 Milliarden Euro gehen im Zeitraum Lastenteilung bereits gibt. Zum anderen machen Sie den von 2010 bis 2018 zusätzlich vom Bund an die Länder, Fehler, in Ihrem Gesetzentwurf zu fordern, dass der und ich glaube, ich darf einmal sagen: Noch nie hat eine Bund in Zukunft allein die Kosten übernehmen soll. Die Bundesrepublik Deutschland so kommunal- und länder- Lastenteilung existiert: Allein 2013 hat der Bund den freundlich gehandelt wie unter der Kanzlerschaft von Ländern 26,3 Millionen Euro für die Beseitigung von Angela Merkel und ihrem Finanzminister Wolfgang Kampfmitteln erstattet. Im aktuellen Haushaltsplan, für Schäuble. 2015, sind erneut 25 Millionen Euro vorgesehen, und ich bin sicher, dass es auch im Haushaltsplan 2016 wieder so (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sein wird. Es gibt eine ganz klare Teilung in der Finanz- neten der SPD) verantwortung zwischen Bund und Ländern, die auch völlig logisch ist: Der Bund als Rechtsnachfolger des Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir dafür ein Deutschen Reiches kommt für die Finanzierung der Be- Stückweit bestraft werden, nach der Devise: Der Bund seitigung deutscher Kampfmittel auf und für die Muni- gibt so viel, jetzt kann er noch mehr geben. Ich glaube tionsbergung auf bundeseigenen Grundstücken. Die aber, diese Argumentation ist falsch, und wir sollten sie Länder wiederum zahlen die Beseitigung von Munition auch dringend unterlassen, weil der Bund nicht die Kuh der ehemaligen Alliierten auf den übrigen Flächen im ist, die man ständig melken kann. 10144 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Klaus-Dieter Gröhler (A) Lassen Sie mich Ihnen noch eine letzte Zahl nennen: wurden: Auch meine Fraktion hat in den letzten Jahren (C) Das Land Brandenburg hat seit seiner Wiederherstellung die Notwendigkeit gesehen, dass der Bund tätig wird. als Bundesland vor 25 Jahren 117 Millionen Euro vom Bei den Haushaltsberatungen haben wir in den letzten Bund für die Beseitigung von Munition und Bomben er- Jahren immer 10 Millionen Euro in den Bundeshaushalt halten. einstellen wollen, um einen Anfang zu machen, damit die Länder eine größere Unterstützung durch den Bund ( [SPD]: Und 200 Millionen haben als bisher, wenn es darum geht, Munition zu be- Euro selber gezahlt!) seitigen und Gefahren zu vermeiden. Es gibt also eine ganz klare Lastenteilung, und an der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gibt es nichts zu rütteln. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Eine Ich stimme mit meinem Kollegen Feiler darin über- gesetzliche Regelung wäre gut gewesen!) ein, dass man im Rahmen von Bund-Länder-Reformbe- – Herr Kollege, wir können über eine gesetzliche Rege- strebungen im Bereich der Finanzen über diese Frage lung sehr gerne reden. Aber Sie werden mir, glaube ich, nachdenken kann. Heute gibt es in diesem Punkt aber nicht widersprechen, dass es nicht nur um eine gesetzli- nichts zu entscheiden – und schon gar nicht auf der che Regelung, sondern nun mal auch um finanzielle Mit- Grundlage Ihres Gesetzentwurfs. tel geht. Herzlichen Dank. Ich will für meine Fraktion sagen: Es geht hier nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) um ein Schwarz-Weiß-Denken in den Beratungen, die wir vor uns haben, sondern um die Frage, wie wir zu ei- Vizepräsident Johannes Singhammer: ner gerechten Lastenverteilung kommen: Müssen wir da Der Kollege Dr. Tobias Lindner vom Bündnis 90/Die nachjustieren? Kann man hier auch über ein Sonderpro- Grünen spricht als Nächster. gramm des Bundes etwas erreichen? Ich will mich hier gar nicht auf eine rechtliche Exegese einlassen, ob die ( [CDU/CSU]: Da sind wir jetzt Lasten hundertprozentig bei den Ländern, hundertprozen- einmal gespannt!) tig beim Bund liegen sollten oder – wie auch immer – ge- teilt werden sollten. Dafür, liebe Kolleginnen und Kolle- Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen, ist dieses Thema viel zu ernst. NEN): Lassen Sie mich, wenn wir beim Thema Geld sind, ei- Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen nes sagen. Wir haben über sechs Bundesratsinitiativen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! (B) gesprochen. Die Finanzverhältnisse gerade des Bundes (D) Lieber Kollege Gröhler, ich glaube, wenn sich ein haben sich seit 1992, als es die erste Initiative gab, deut- Thema wenig eignet, um über die Frage, ob Anträge lich zum Besseren verändert. Wir haben gerade erst vor oder Gesetzentwürfe der Linksfraktion in diesem Haus zwei Stunden hier in diesem Hohen Hause über einen immer sinnvoll sind oder nicht, und über die Reform der Nachtragshaushalt gesprochen. Die Große Koalition fei- Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu streiten, die ja not- ert sich regelmäßig für die schwarze Null. wendig ist – wir alle in diesem Haus sehen ja die Not- wendigkeit –, dann sind es die Hinterlassenschaften des (Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Und das zu Zweiten Weltkrieges, die immer noch in unserer Erde Recht!) schlummern und tagtäglich eine Gefahr in sich bergen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Feiern der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schwarzen Null und des Nachtragshaushalts: Wir reden und bei der LINKEN) hier über überschaubare Beträge. Noch gestern haben wir im Haushaltsausschuss in der Bereinigungssitzung Wir haben vor wenigen Wochen den 70. Jahrestag des viel größere Beträge verändert. Wenn wir jetzt darüber Endes des Zweiten Weltkrieges begangen und der Opfer reden, ob wir zu den 25 Millionen Euro, die der Bund gedacht. Wir haben es heute immer noch mit Blindgän- jährlich für die Beseitigung reichseigener Munition be- gern zu tun, die im Boden liegen, und immer noch reitstellt, vielleicht die gleiche Summe oder eine Summe kommt es in Deutschland nahezu jährlich zu Todes- ähnlicher Größenordnung dazulegen, sollte uns klar opfern, wenn bei Bauarbeiten ein Blindgänger nicht sein: Das ist für den Bund leistbar und machbar, und es rechtzeitig entdeckt wird. Lassen Sie mich eines sagen: mindert Gefahren in der Zukunft. Die Situation wird nicht dadurch besser, dass man ab- wartet. Der Kollege Müller hat zu Recht den Zustand (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vieler Zünder erwähnt. Ich will hier jetzt gar nicht zu sowie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] technisch werden, aber ich will Ihnen ausdrücklich zu- [DIE LINKE]) stimmen, Herr Kollege: Die Gefahr wird nicht dadurch geringer, dass wir hier zuwarten. Nächster Punkt. Herr Kollege Gröhler, ich bin durch- aus ein Anhänger der These, dass der Föderalismus in Es ist auch schon daran erinnert worden, dass es sechs Deutschland große Vorteile bringt: Die Länder können Bundesratsinitiativen mit unterschiedlichen Mehrheiten und sollen eigene Verantwortung übernehmen und ei- in diesem Hohen Hause gab. Herr Kollege Müller, ich gene Antworten geben. Aber was mir noch niemand in sehe es Ihnen nach, dass Sie von Ihren Fraktionskollegen diesem Hause erklären konnte, ist, wie man ein Bundes- im Haushaltsausschuss noch nicht darüber informiert land dafür verantwortlich machen kann, dass es im Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10145

Dr. Tobias Lindner (A) Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger stark von Bomben Gänsefüßchen – beliebten Zielen während der Zeit des (C) der Alliierten getroffen worden ist. Ich bin der Meinung, Zweiten Weltkrieges gehört haben. Ich bin mir auch da- wir können die Bundesländer nicht dafür verantwortlich rüber im Klaren, dass hieraus nicht nur gesundheitliche, machen. menschliche und soziale, sondern auch wirtschaftliche Nachteile resultieren können, zum Beispiel, wenn Inves- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN toren sich zurückziehen, weil sie die finanziellen Bedin- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten gungen, unter denen sie arbeiten sollen, nicht kalkulieren der SPD) können. Wir können beispielsweise Brandenburg nicht dafür in Vor diesem Hintergrund sind die beiden letzten Bun- die Verantwortung ziehen, dass es im Zweiten Weltkrieg desratsinitiativen der Länder Brandenburg und Nieder- besonders stark getroffen wurde. Deswegen, liebe Kolle- sachsen – sie wurden eben schon angesprochen – aus ginnen und Kollegen, möchte meine Fraktion, dass der den Jahren 2011 und 2014 zu sehen, die sich die Fraktion Bund hier mehr Verantwortung übernimmt als bisher. Die Linke zu eigen gemacht hat. Diese Bestrebungen der Ich glaube – damit will ich zum Schluss kommen –, beiden Bundesländer sind dem Grunde nach durchaus der Gesetzentwurf der Linksfraktion ist ein guter Anlass, nachvollziehbar. in den Ausschüssen darüber nachzudenken, wie wir hier zu Lösungen kommen können. Ich habe auch erwähnt: (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Meine Fraktion war in der Vergangenheit offen für die- Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ses Thema und hat eigene Vorschläge gemacht. Ich NEN]) würde mich sehr freuen, wenn wir hier über Partei- und Bereits seit 1992 wird nahezu in jeder Legislaturperiode Fraktionsgrenzen hinweg eine pragmatische Lösung fin- fast ein und derselbe Gesetzentwurf vorgelegt. den könnten, im Sinne der Menschen, die immer noch unter den Gefahren dieser Munition leiden. Ohne die Bedeutung zu verkennen – ich hoffe, das habe ich deutlich gemacht –, ist meines Erachtens eine Ich danke Ihnen. Lösung in Form des von den Linken vorgelegten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entwurfs kaum machbar. Mit dem Gesetzentwurf wird sowie bei Abgeordneten der LINKEN) beabsichtigt, die Finanzierung der Maßnahmen zur Be- seitigung von Rüstungsaltlasten grundlegend und einsei- tig zulasten des Bundes zu verändern. Nach den §§ 1, 2, Vizepräsident Johannes Singhammer: 3 und 5 des Entwurfs soll der Bund auch die Kosten für Für die SPD hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Ulrich nicht weltkriegsbezogene Lasten tragen. Dagegen spre- (B) Krüger das Wort. chen meines Erachtens eindeutig verfassungsrechtliche (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aspekte. der CDU/CSU) In Artikel 104 a des Grundgesetzes ist das sogenannte Konnexitätsprinzip verankert, das besagt: Die Ausga- Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): benlast folgt der Aufgabenlast. Mit anderen Worten: Hat Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das Land eine Aufgabe, muss es diese finanzieren; hat 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehört der Bund eine Aufgabe, muss jener sie finanzieren. Das die Beseitigung sogenannter Rüstungsaltlasten, zum Grundgesetz lässt Abweichungen nur dort zu, wo aus- Beispiel Fliegerbomben – meine Kollegen haben es drücklich etwas anderes geregelt ist. Der Gesetzentwurf schon angeführt –, nach wie vor zu den großen Proble- bezieht sich im Kern auf Aufgaben, die der Gefahren- men, die die Länder und der Bund zu bewältigen haben. abwehr zuzurechnen sind. Das sind Bodenschutzmaß- Gefahren für Mensch und Umwelt lauern überall. Sie nahmen und Sanierungsbestrebungen – alles Dinge, die schlagen sich in Form von Bodenvergiftungen, Gewäs- nach unserer verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsord- serverschmutzungen und Explosionsgefahren nieder. nung Länderaufgaben sind. 70 Jahre alte Fliegerbomben und Explosionsmaterialien sind einem chemischen Veränderungsprozess ausgelie- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will man vom fert, der Grundwasserverunreinigungen und Schlimme- Konnexitätsgrundsatz in Artikel 104 a Grundgesetz ab- res befürchten lässt. Diese Rüstungsaltlasten sind Hin- weichen. Das wiederum ist aber nur zulässig, wenn es terlassenschaften zum einen aus Kriegen, zum anderen dafür eine Norm gibt. Die Norm, um die es hier geht, ist von Rüstungsindustrie und alten Truppenübungsplätzen. Artikel 120 Grundgesetz, wonach dem Bund die Befug- Gemeinsam ist beiden Ursachen jedoch der erhebliche nis eingeräumt wird, Regelungen über Aufwendungen Aufwand, der mit der Beseitigung der Altlasten verbun- für innere und äußere Kriegsfolgelasten zu treffen. In den ist. diesem Zusammenhang gibt es eine einschlägige, aus Sicht von einigen von Ihnen leider immer noch einschlä- Es ist in der Tat kein Geheimnis, dass die Länder in gige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wo- vielen Fällen finanziell überfordert sind und wichtige nach dem Gesetzgeber jede Befugnis in diesem Bereich Sanierungsaufgaben unerfüllt bleiben. Die Gefahren für nur dann zukommt, wenn es um Kriegsfolgelasten geht, Umwelt und Mensch bleiben demgemäß bestehen. Ich die ausschließlich durch den Zweiten Weltkrieg verur- bin mir sicher, dass jeder von uns gut nachvollziehen sacht worden sind. Dass der Krieg auch eine Ursache für kann, dass diese Gefährdung bedrückend ist, insbeson- eine Last ist, reicht nach unserer aktuellen Verfassungs- dere für Regionen, die zu den – ich sage das durchaus in grundlage nicht aus. 10146 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Hans-Ulrich Krüger (A) Das ist nun der Punkt in dem Gesetzentwurf: Rüs- im Rahmen der Bund-Länder-Finanzbeziehung zu bera- (C) tungsaltlasten sollen auch Grundstücke sein, auf denen ten. nach dem 30. Januar 1933 mit rüstungsspezifischen Leider muss ich ausführen: All diese wichtigen und Stoffen oder Kampfmitteln umgegangen worden ist. richtigen zukunftsorientierten Ansätze werden leider mit Außerdem ist § 3 zu erwähnen, in dem auch Sanierungs- der jetzigen Form des Gesetzentwurfs nicht zu erreichen maßnahmen als in die Zukunft gerichtetes Handeln sein. Vielmehr wird es weiterer Argumente und weiterer allein dem Bund zur Last gelegt werden sollen. Die Kos- Auseinandersetzungen bedürfen. Vielleicht können sie ten für diese Sanierungsmaßnahmen sollen dem Bund in an dieser Stelle im weiteren Verlauf des Verfahrens ge- Rechnung gestellt werden. Das geht so leider nicht; denn führt werden. Vielleicht müssen sie aber auch an anderer die im Gesetzentwurf genannten Zielsetzungen sind Stelle geführt werden. größtenteils der Gefahrenabwehr zuzuordnen und damit Aufgabe der Länder. Ich danke Ihnen. Im Übrigen trägt der Bund – der Kollege von der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU sprach das eben schon an – nach der Staats- und der CDU/CSU) Verwaltungspraxis, die wir aktuell haben, bereits einen sehr hohen Anteil an der Finanzierung der Beseitigung Vizepräsident Johannes Singhammer: der Altlasten. Er finanziert die Maßnahmen der Gefah- Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege renbeseitigung auf nicht bundeseigenen Grundstücken, Alois Karl. sofern sie durch reichseigene Kampfmittel verursacht worden sind. Zudem übernimmt er auf seinen Grundstü- (Beifall bei der CDU/CSU) cken natürlich ebenso seit 50 Jahren die Kosten für die Beseitigung der entsprechenden Kriegsfolgelasten. Er Alois Karl (CDU/CSU): wendet ferner – die Summe wurde eben schon angespro- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten chen – circa 25 Millionen Euro pro Jahr auf, um auf Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In nicht bundeseigenen Grundstücken Gefahren zu beseiti- der Vorbereitung der heutigen Diskussion über den An- gen. trag der Linken ist man durchaus geneigt, eine gewisse Zeitspanne zurückzuschauen; Herr Dr. Lindner, Sie hat- Sie sehen: Die finanziellen Mittel, die der Bund zur ten das angesprochen. Es ist noch nicht lange her, dass Verfügung gestellt hat und stellt, sind nicht unerheblich. wir hier am 8. Mai 2015 in einer wirklich sehr bemer- Aber – das ist genau der Punkt, über den wir hier heute kenswerten Feststunde dem 70. Jahrestag der Beendung zu diskutieren haben – welche Mittel benötigen die Län- des Zweiten Weltkrieges und der totalen Kapitulation (B) der, um den ihnen obliegenden Anteil an dieser – ich zi- und Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus (D) tiere – gesamtstaatlichen Aufgabe endgültig erfüllen zu gedacht haben. können? Im Gesetzentwurf wird davon ausgegangen, dass sich die Kosten mehr als verdoppeln; genauere Be- 70 Jahre haben manches Leid nicht gelindert. Dies be- rechnungen fehlen. Da muss ich als Haushälter natürlich trifft insbesondere den Tod von Angehörigen. Der per- sagen: Das ist keine Berechnungsgrundlage. Das ist kein sönliche Schmerz wirkt genauso nach wie das Thema, Punkt, den man ausgehend vom Grundsatz der Wirt- das Sie ansprechen, nämlich dass Altlasten in der Tat schaftlichkeit und Sparsamkeit zur Richtschnur seines 70 Jahre überdauert haben. In den Bundesländern ist das Handelns machen könnte. Denn – und das ist auch die ganz gewiss verschieden verteilt. Mecklenburg-Vorpom- Erfahrung der Staatspraxis – Diskussionen bezüglich des mern und Brandenburg sind möglicherweise stärker effizienten Mitteleinsatzes sind in der Regel immer da belastet als viele andere Regionen; das gilt insbesondere die Folge, wo ich eine Alleinfinanzierung des einen und für die Stadt Oranienburg. die Durchführung des anderen habe. Man geht davon aus, dass im Zweiten Weltkrieg Mil- lionen Bomben über Deutschland abgeschmissen wor- Ich komme zu dem Ergebnis, dass der vorliegende den sind. Seriöse Berichterstattungen sagen, jede zehnte Gesetzentwurf in seiner bisherigen Form keine Chance Bombe sei nicht explodiert. Das hieße, dass Hunderttau- hat, die angesprochenen Probleme nachhaltig zu beseiti- sende nicht explodiert sind und im Laufe der Jahre und gen. Nichtsdestotrotz besteht das Gesamtproblem. Wie Jahrzehnte auch teilweise entschärft wurden. Wir gehen ich eingangs angesichts der Gefährdungslage für die be- davon aus, dass seit Ende des Zweiten Weltkrieges etwa troffenen Regionen ausgeführt habe, gibt es heute erheb- 300 000 Bomben entschärft worden sind. Der Innen- liche Aufgaben, bei denen mir bewusst ist, dass die Län- minister Bayerns hat mir mitgeteilt, 180 000 Tonnen an der sie nicht oder nicht hinreichend immer werden Bomben und Munition seien im vorletzten Jahr in Bay- erfüllen können. ern entschärft worden. Die anderen Bundesländer – wir haben das gehört – haben entsprechende Zahlen vorzu- Von daher bleibt uns im Hinblick auf das aktuelle Ge- weisen. setzgebungsvorhaben und die aktuelle Diskussion nur die Frage: Gibt es nicht einen neuen Lösungsansatz bei- Ich weiß ein wenig, wovon ich spreche, da ich selber spielsweise in der Form eines Bundeskonversionspro- kommunalpolitisch tätig war und meine Stadt zum Ende gramms? Gibt es nicht andere Lösungsansätze? Darüber, des Zweiten Weltkrieges, 14 Tage vor dem 8. Mai, total ob diese geeignet sind oder nicht, Herr Kollege Lindner, zerstört worden war. 92 Prozent der Innenstadt wurden können andere streiten. Darüber haben die Länder dann zerstört. 50 Jahre später gab es bei einem Schulhausneu- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10147

Alois Karl (A) bau in der Tat die Probleme, von denen wir heute gehört gulär, nicht so pointiert auf die Rüstungsaltlasten bezo- (C) haben. Wir mussten damals Bombenkataster einsehen gen. Jedes andere Land hat gewiss auch Nöte, die es vor- und Unterlagen der amerikanischen Armee anfordern. bringen kann, und Argumente, da und dort vom Bund Der Kampfmittelräumdienst hat damals eine schwierige mehr zu verlangen. Aufgabe gehabt. Nein, ich glaube, die Finanzausgleiche, die wir vom Ich möchte an dieser Stelle auch einmal denen unse- Bund zu den Ländern augenblicklich herstellen, sind au- ren herzlichen Dank aussprechen, die fast tagtäglich ßerordentlich großzügig bemessen. Damit muss es auch – auch unter Einsatz ihres Lebens – diese schwierigsten gerade in der verfassungsrechtlichen Situation, die Sie, Aufgaben erfüllen, damit wir Stadtentwicklung und Ent- Dr. Krüger, beschrieben haben, heute so verbleiben. Da- wicklung unseres Landes betreiben können. mit kann Ihrem Antrag kein Erfolg beschieden sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Vielen Dank. bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]) Ich meine schon, dass das viel wert ist. Wir, die wir Ver- antwortung haben, müssen Vorsorge und Fürsorge be- treiben, aber andere müssen die Arbeit machen. Vizepräsident Johannes Singhammer: Als abschließendem Redner in dieser Aussprache er- Über den Gesetzentwurf der Linken teile ich jetzt das Wort dem Kollegen Uwe Feiler für die (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Gu- CDU/CSU. ter Gesetzentwurf!) (Beifall bei der CDU/CSU) ist schon manches gesagt worden, sodass ich nicht noch einmal auf jedes Detail eingehen muss. Dieser Gesetz- Uwe Feiler (CDU/CSU): entwurf hat ja in Wahrheit nur einen einzigen Inhalt und einen Sinn, nämlich eine Kostenverlagerung weg von Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und den Bundesländern hin zum Bund. Kollegen! Wir beraten heute über ein Thema, das wie- derholt Gegenstand der Diskussion unabhängig von der (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) politischen Farbenlehre in diesem Hause war, das für die Das ist ein Punkt, bei dem Sie sehr, sehr kurz greifen. betroffenen Menschen vor Ort jedoch noch keine befrie- In diesen Tagen diskutieren wir darüber, dass wir ein digende Lösung bietet. Als direkt gewählter Abgeordne- ter für den Wahlkreis Oberhavel-Havelland vertrete ich (B) Programm in Höhe von 6 Milliarden Euro für die Bun- (D) desländer, die Kommunen, die Gemeinden und die auch die Interessen der Einwohner Oranienburgs, einer Landkreise zur Stärkung ihrer Investitionstätigkeit auf Stadt, die sich des Titels der Bundeshauptstadt der den Weg bringen. Wenn Sie die Eingliederungshilfe da- Blindgängerbelastung leider nicht erwehren kann. Nir- zunehmen, sehen sie: Zulasten des Bundes und zuguns- gendwo sonst werden bis heute so viele Blindgänger mit ten der Bundesländer geben wir 18 Milliarden Euro aus; chemischen Langzeitzündern gefunden und noch im damit stärken wir unsere Kommunen, aber auch unsere Boden vermutet wie in der Stadt Oranienburg. Länder. Wenn wir die Grundsicherung im Alter dazuneh- Der Kampfmittelbeseitigungsdienst der brandenbur- men – diese haben wir übernommen –, sehen Sie: Wir gischen Polizei hat allein 2013 Rüstungsaltlasten mit stellen den Bundesländern etwa 55 Milliarden Euro zur Kosten von circa 11 Millionen Euro beseitigt. Die Stadt Verfügung. Wir nehmen ihnen diese Last ab und schul- Oranienburg selbst trifft eine jährliche Vorsorge von tern sie dem Bund auf. Bei den KdU, den Kosten der rund 2 Millionen Euro für die begleitenden Maßnahmen Unterkunft, ist es das Gleiche. als Ordnungsbehörde und für die städtischen Liegen- Natürlich könnten wir bei all diesen Konglomeraten, schaften. Diese Summe stellt für eine Stadt mit etwa bei diesen hohen Zahlen die Bundesländer ein bisschen 40 000 Einwohnern eine große finanzielle Belastung dar, weniger entlasten und 25 oder 30 Millionen Euro für die die sich im brandenburgischen kommunalen Finanzaus- Rüstungsaltlasten zur Verfügung stellen, aber das wäre gleich leider nicht widerspiegelt. ein reines Nullsummenspiel. Damit wäre niemandem ge- Schon alleine vor diesem Hintergrund bildet der holfen. Das wäre auch keine seriöse Politik. Damit wür- Gesetzentwurf der Linksfraktion, die in Brandenburg den wir in das Fahrwasser Ihres Gesetzentwurfs kom- mitregiert und jetzt wortgleich den Gesetzentwurf des men. Bundesrates aufwärmt, kein geeignetes Mittel, um die- (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: sem Missstand zu begegnen. Deswegen lehnen Sie ihn ab!) Das Gesetz nennt sich im vorliegenden Entwurf Von Ihnen, lieber Dr. Krüger, wurde gesagt, dass es „Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz“. Der Name ist eigentlich ein Problem der Finanzbeziehungen des Bun- treffend. Denn er beruft sich als Grundlage auf Arti- des und der Länder ist, dass wir diese Finanzbeziehun- kel 120 Absatz 1 des Grundgesetzes, umfasst im Gegen- gen tausendfach haben. Sie gehören möglicherweise neu satz zu diesem aber nicht nur die Kriegsfolgealtlasten geregelt. Da greift der Gesetzentwurf aber in der Tat zu des Zweiten Weltkrieges, sondern ist gleichzeitig das kurz. Ich bin zuversichtlich, dass wir Lösungsansätze Bekenntnis, dass die Länder mit ihrer Aufgabe der Ge- finden, aber in einem anderen Konzept und nicht so sin- fahrenabwehr überfordert zu sein scheinen. 10148 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Uwe Feiler (A) Gerade aus Brandenburg war in den vergangenen Mo- Uwe Feiler (CDU/CSU): (C) naten mehr und mehr die Vokabel der „nationalen Auf- Ich gebe Ihnen recht – ich habe es vorhin schon er- gaben“ zu vernehmen. Hinter diesem Begriff, der nichts wähnt –: Es wurden mehrere Anträge unabhängig von anderes als eine finanzielle Mehrforderung verschleiern der Farbenlehre in diesem Haus eingebracht. Allesamt soll, steckt zum einen der Versuch, ureigene Länderauf- sind sie negativ beschieden worden oder führten zu kei- gaben durch das neue Etikett besonders wichtig erschei- ner Lösung. Ihr Gesetzentwurf ist wortgleich und wird nen zu lassen und den Bund als Zahlmeister zu gewin- auch zu keiner Lösung führen. Wenn ich gleich mit mei- nen. So wird die Bildungspolitik von Vertretern der ner Rede fortfahre, werde ich einen Lösungsvorschlag Landesregierung ebenso als nationale Aufgabe klassifi- unterbreiten. ziert wie die innere Sicherheit, die Unterbringung von Asylbewerbern, der Ausbau der Kinderbetreuung oder Zu Ihrem Vorwurf, was die CDU Brandenburg be- eben auch die Kampfmittelbeseitigung. trifft: Die CDU Brandenburg hat im Jahr 2010 für die Erstellung eines Kampfmittelkatasters und die Aufsto- Was die Ländervertreter bei dieser schiefen Argumen- ckung der Mittel geworben. Das haben die rot-rote Lan- tation verkennen, ist die Tatsache, dass sich die Länder desregierung bzw. die rot-rote Koalition abgelehnt. Jetzt selber in ihrer Existenz infrage stellen, wenn sie sich nur hat die CDU-Landtagsfraktion ihr Vorhaben wiederholt. noch als bessere Regierungspräsidien für nationale Auf- Der Antrag ist in einem Ausschuss des Landtages gelan- gaben des Bundes verstehen. Mein Verständnis ist das det. Ich hoffe, dass das Kampfmittelkataster und ein zumindest nicht. Konzept für die Kampfmittelbeseitigung in Brandenburg erstellt werden. Denn Sie sprechen in Ihrem Antrag auch Vizepräsident Johannes Singhammer: von einem Fünfjahresfinanzplan. Ohne überhaupt ein Herr Kollege Feiler, darf ich Sie fragen, ob Sie eine Konzept zu haben, legen Sie irgendwelche Zahlen dar, Zwischenfrage des Kollegen Müller gestatten? die gar nicht nachweisbar sind. Schon deswegen ist Ihr Antrag abzulehnen. – Das war meine Antwort auf Ihre Zwischenfrage. Uwe Feiler (CDU/CSU): Ja. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist unbestritten, dass die Hinterlassenschaften des Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): Zweiten Weltkrieges, vor allem die vielen Blindgänger Vielen Dank, Herr Kollege Feiler, dass Sie die Zwi- der alliierten Luftangriffe, sehr gefährlich für die schenfrage zulassen. Ich frage Sie: Wissen Sie oder neh- Menschen sind und ihre Beseitigung eine aufwendige (B) men Sie zur Kenntnis, dass zu Zeiten der Großen Koali- Aufgabe für die betroffenen Länder darstellt. Der vorlie- (D) tion im Land Brandenburg von 1999 bis 2009, als in gende Gesetzesvorschlag bietet dafür aber keine zufrie- Brandenburg die Linke noch nicht regiert hat, sondern denstellende Lösung. Die Fraktion Die Linke möchte in der Opposition war, die Union mit dem zitierten sämtliche Kosten dem Bund auferlegen. Dafür soll die Minister und stellvertretenden Ministerpräsidenten Jörg bewährte und sinnvolle Staatspraxis aufgegeben werden. Schönbohm zweimal in der Landesregierung eine Bun- Der Bund trägt nach dieser Staatspraxis die Kosten der desratsinitiative mitgetragen hat, nämlich 2001 und Kriegsfolgelasten auf bundeseigenen Liegenschaften 2003? und der sogenannten reichseigenen Munition. Diese im (Beifall bei der LINKEN) Grundgesetz gesicherte Staatspraxis wird seit über 20 Jahren immer wieder von den Ländern angegriffen. Sie liegt heute nahezu wortgleich als Entwurf eines Rüs- Das ist verständlich; denn Kampfmittelbeseitigung ist tungsaltlastenfinanzierungsgesetzes im Parlament vor. ein teures Geschäft. Die Beseitigung der Blindgänger ist im Kern jedoch Gefahrenabwehr, ein im Kompetenzge- Nehmen Sie zur Kenntnis, dass es diese Initiative füge des Grundgesetzes den Ländern übertragenes Auf- schon gab und dass das nicht unsere Erfindung war, son- gabenfeld. Die hier aufgestellte Forderung, der Bund dern dass wir versuchen, berechtigte Interessen der Län- solle alles zahlen, die Kompetenzen aber sollten bei den der, die Sie als CDU in nahezu allen Landesregierungen Ländern bleiben, kann und darf so nicht funktionieren. mitvertreten haben, im Bundesrat durchzusetzen? Wa- rum haben Sie ein so großes Problem, sich darauf einzu- Der Arbeitskreis Steuerschätzung geht von einem lassen und mit dem Bundesrat in die Debatte zu treten? jährlichen Wachstum der Steuereinnahmen von 2 Pro- Warum sind Sie nicht selbst initiativ geworden? Warum zent in den nächsten fünf Jahren aus. Das entspricht bis haben Sie den Gesetzentwurf nicht selbst eingebracht, 2019 circa 4 Milliarden Euro. Brandenburg wird alleine und warum haben Sie nicht die Möglichkeiten genutzt, im laufenden und nächsten Jahr über 120 Millionen Euro auch ohne dass wir die Initiative ins Plenum einbringen Mehreinnahmen haben, die nach meinem Verständnis mussten, mit den Ländern eine Vereinbarung zu treffen, zunächst für Pflichtaufgaben wie auch die Bombenbesei- die berechtigten Interessen, die Ihre CDU-Landesver- tigung eingesetzt werden sollten. Für mich steht im Vor- bände auch in Brandenburg schon seit Jahren so sehen, dergrund, dass den Menschen in den betroffenen Städ- zur Geltung bringen zu lassen? ten, die es nicht nur in Brandenburg, sondern auch in Vielen Dank. Niedersachsen, Sachsen und Nordrhein-Westfalen gibt, geholfen und deren Sicherheit gewährleistet wird. Das (Beifall bei der LINKEN) Fazit muss lauten: Die Bomben müssen weg. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10149

Uwe Feiler (A) Wir sollten deshalb nicht an Maximalforderungen 2010/766/GASP des Rates der EU vom 7. De- (C) festhalten, sondern pragmatische Lösungen suchen, die zember 2010, dem Beschluss 2012/174/GASP die Beteiligten in die Lage versetzen, die besonders ge- des Rates der EU vom 23. März 2012 und fährlichen Bomben mit chemischen Langzeitzündern dem Beschluss 2014/827/GASP vom 21. No- schneller als bisher sicher zu bergen. Ich kann mir gut vember 2014 vorstellen, dass wir in gemeinsamen Gesprächen mit gu- Drucksachen 18/4769, 18/4964 tem Willen auf beiden Seiten zu einer Einigung finden. – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Für unterstützenswert hielte ich die Auflage eines gemäß § 96 der Geschäftsordnung Fonds – oder die Gründung einer Stiftung – für beson- ders belastete Regionen in Deutschland, der sich glei- Drucksache 18/4976 chermaßen aus Zuführungen der betroffenen Länder und Über die Beschlussempfehlung werden wir später na- des Bundes speist und zu einer fairen Kostenverteilung mentlich abstimmen. für alle führt. Eine komplette Kostenübernahme durch den Bund ist aus meiner Sicht jedoch nicht geboten. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch Ausschließlich die Rechnung nach Berlin zu schicken, für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Dage- wird der Verantwortung der Länder für die Sicherheit gen erhebt sich keinerlei Widerspruch. Dann ist das so auch ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht gerecht. beschlossen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- nerin der Kollegin Dagmar Freitag für die SPD das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wort. neten der SPD – Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Als Sie 2004 noch in der Oppo- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sition waren, haben Sie das auch noch anders der CDU/CSU) gesehen!) Dagmar Freitag (SPD): Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Damit schließe ich die Aussprache. die Operation Atalanta im Jahr 2008 vom Rat der Euro- päischen Union beschlossen wurde, sah sich die interna- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- tionale Gemeinschaft mit einem erheblichen Piraterie- wurfs auf Drucksache 18/4841 an die in der Tagesord- problem am Horn von Afrika konfrontiert. Wir wissen nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu alle, dass seeräuberische Überfälle und Entführungen (B) (D) sehe ich keinerlei andere Vorschläge. Dann ist die Über- geradezu an der Tagesordnung waren. weisung so beschlossen. Seit November 2013 ist die Zahl der versuchten be- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf: waffneten Angriffe auf vier gesunken, und alle vier konnten erfolgreich abgewehrt werden. Aktuell befindet – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- sich darüber hinaus kein Schiff in der Hand somalischer richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Piraten. Ich denke, wir sind uns zumindest überwiegend schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung einig, dass dies ein unmittelbarer Erfolg der Antipirate- Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter rieoperation Atalanta und natürlich auch der Zusammen- deutscher Streitkräfte an der EU-geführten arbeit mit anderen nationalen wie auch multinationalen Operation Atalanta zur Bekämpfung der Pi- Streitkräften am Horn von Afrika ist. raterie vor der Küste Somalias auf Grundlage (Beifall bei der SPD) des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (VN) von 1982 und der Resolutio- Der Dank hierfür geht auch an unsere Soldatinnen nen 1814 (2008) vom 15. Mai 2008, 1816 und Soldaten, die durch ihren Einsatz zu diesem Erfolg (2008) vom 2. Juni 2008, 1838 (2008) vom beigetragen haben. 7. Oktober 2008, 1846 (2008) vom 2. Dezem- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ber 2008, 1851 (2008) vom 16. Dezember 2008, 1897 (2009) vom 30. November 2009, Die Operation Atalanta trägt darüber hinaus zur Of- 1950 (2010) vom 23. November 2010, 2020 fenheit und Sicherheit der Seewege am Horn von Afrika (2011) vom 22. November 2011, 2077 (2012) und vor der Küste Somalias bei. Diese Sicherheit ist es- vom 21. November 2012, 2125 (2013) vom senziell für die Versorgung der somalischen Bevölke- 18. November 2013, 2184 (2014) vom 12. No- rung durch das Welternährungsprogramm; denn wir wis- vember 2014 und nachfolgender Resolutionen sen alle: Somalia gehört nach wie vor zu den ärmsten des Sicherheitsrates der VN in Verbindung Ländern der Welt. Die Bevölkerung leidet seit Jahren un- mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP ter den Folgen politischer Instabilität ebenso wie unter des Rates der Europäischen Union (EU) vom Dürren und Ernteausfällen. Daher sind die Lebensmittel- 10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/ lieferungen des Welternährungsprogramms für viele GASP des Rates der EU vom 8. Dezember Menschen in Somalia geradezu überlebenswichtig. Nur 2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Ra- ein Beispiel: Aktuell sind allein in Mogadischu rund tes der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 350 000 Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewie- 10150 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dagmar Freitag (A) sen. Seit Beginn der Operation Atalanta konnten sämtli- am Horn von Afrika die Verantwortung tragen, langfris- (C) che Schiffe des Welternährungsprogramms sicher nach tig der Boden entzogen werden. Somalia eskortiert werden. Deutschland muss und wird seiner Verantwortung für Sichere Transportwege in der Region sind auch da- die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik rüber hinaus von Bedeutung. Schließlich ist der vor der der EU nachkommen und diese Operation weiterhin un- Küste Somalias liegende Golf von Aden die wichtigste terstützen. Dafür bitte ich um Ihre Zustimmung. Handelsroute zwischen Europa, Asien und der Arabi- schen Halbinsel. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zu (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) den gerade erwähnten Erfolgen bei der Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias sind die Fortschritte Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: beim Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen in Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Kathrin Somalia bislang allerdings keineswegs zufriedenstel- Vogler von der Linken das Wort. lend. Klar ist aber auch, dass ein funktionierendes staat- liches Gewaltmonopol unverzichtbar ist, wenn die Rück- (Beifall bei der LINKEN) zugsräume der Piraten erfolgreich bekämpft und die geschilderten Erfolge auf See nachhaltig gefestigt wer- Kathrin Vogler (DIE LINKE): den sollen. Al-Schabab und andere fundamentalistische Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen Gruppierungen konnten zwar geschwächt werden, auch und Kollegen! Seit Jahren hören wir von jeweils wech- dank des erfolgreichen Einsatzes der Afrikanischen selnden Bundesregierungen: Der EU-geführte Militär- Union mit der Mission AMISOM, die von der EU maß- einsatz Atalanta ist ein Erfolg. geblich mitfinanziert wird; aber nach wie vor ist der so- malische Staat selbst zu schwach, um eroberte Gebiete (Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau! – Peter zu kontrollieren. Beyer [CDU/CSU]: Sehr richtige Aussage!) Diese Schwäche bedroht nicht nur Somalia, sondern Aber ich frage mich: Wie kommen Sie eigentlich da- sie untergräbt auch die Stabilität in der gesamten Region rauf? Was ist eigentlich Ihr Maßstab? Als die Zahl der um das Horn von Afrika. Daher bleiben die Präsenz und Piratenangriffe vor der somalischen Küste anstieg, war die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft das ein Argument für Atalanta. Jetzt geht sie zurück. nach unserer Meinung jedenfalls dringend geboten. Was ist es für Sie? Es ist auch wieder ein Argument für Atalanta. Deutschland leistet seinen Beitrag zur Stabilisierung (B) (D) Somalias in erster Linie innerhalb des umfassenden An- (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- satzes der Europäischen Union. Wir beteiligen uns an NEN]: Da gibt es einen Zusammenhang!) der Operation der europäischen Seestreitkräfte Atalanta, an EUCAP NESTOR, der zivilen Mission zum Aufbau Dabei wissen Sie es doch alle: Keine noch so große maritimer Kapazitäten, und an EUTM Somalia, der mili- Kriegsflotte kann letzten Endes die Piraterie nachhaltig tärischen Beratungs- und Ausbildungsmission, deren bekämpfen. Fortsetzung erst kürzlich vom Deutschen Bundestag be- (Beifall bei der LINKEN) schlossen wurde. Das sagen Sie sogar selbst. Das wissen Sie genau; denn Der Rat der Europäischen Union hat im November Piraterie ist ein Symptom, ist Ausdruck von Armut, von 2014 das Mandat für die Operation Atalanta verlängert. Verelendung, von Rechtlosigkeit. Und all das machen Dabei hat er unterstrichen, wie wichtig das Zusammen- sich Geschäftemacher im Ausland auch noch zunutze. wirken verschiedener Komponenten der Gemeinsamen Und noch jemand profitiert davon: Das sind die privaten Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist. Sicherheitsunternehmen, die die Schiffe mit bewaffneten Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Probleme in So- Söldnern schützen und die Sie in Ihrem Antrag auch malia und auch am Horn von Afrika sind vielfältig. Ge- noch lautstark loben. nauso vielfältig müssen daher die Strategie und die An- Da muss man sich doch fragen: Worum geht es ei- sätze der EU und der Bundesregierung für das Land und gentlich wirklich? – Aber um das herauszufinden, muss die Region sein. Diese Strategie umfasst neben der mili- man sich nicht einmal irgendwelche geheimen Unterla- tärischen Komponente und dem Aufbau der Sicherheits- gen besorgen. Es reicht völlig, sich den Antragstext der strukturen auch ein starkes wirtschaftliches und humani- Bundesregierung anzuschauen. Sie schreiben das in der täres Engagement; denn – das dürfte unbestritten sein – Begründung ja ganz offen. Im ersten Absatz der Man- Sicherheit und Entwicklung hängen untrennbar mitei- datsbegründung etwa geht es um Rohstofflieferungen, nander zusammen. im zweiten Absatz um den Welthandel und die Absatz- In 2016 sollen in Somalia Wahlen stattfinden. Gerade märkte für europäische Produkte, mit Blick darauf gilt: In der Entwicklung des Landes (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ja! Auch! – sind alle zivilen und militärischen Instrumente wichtig, Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja, und?) um die Ausgangssituation zu stabilisieren und die Lage der Bevölkerung endlich zu verbessern; denn nur so im dritten Absatz um die Zusammenarbeit mit anderen kann den kriminellen Netzwerken, die für die Piraterie Staaten im Rahmen dieses Militäreinsatzes. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10151

Kathrin Vogler (A) Dabei kann man fast den Eindruck gewinnen, die dass endlich verhandelt wird. Damit Frieden einkehren (C) Truppen in Somalia wären in einem einzigen großen kann, müssen alle Konfliktparteien an einen Tisch. Manöver, in dem die Abstimmung zwischen Europol (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Rufen Sie die und Atalanta, zwischen der Afrikanischen und der Euro- doch mal an einen Tisch, wenn das so einfach päischen Union, mit Bündnispartnern und Nachbarlän- ist!) dern geprobt wird. Aber, meine Damen und Herren, es ist kein Manöver. Aber Sie rüsten eine Seite auf und hoffen, dass sie den Krieg gewinnt. Dass das nicht gelingen kann, müssten (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was ist es dann? Sie doch aus den Erfahrungen in dieser Region und in – Peter Beyer [CDU/CSU]: Lösen Sie das Rät- Afghanistan endlich einmal gelernt haben. sel auf!) (Beifall bei der LINKEN) Es geht um das Leben von Millionen Menschen in einem Dass Sie so lernunfähig sind, bezahlen leider viele bettelarmen und kriegszerstörten Land. Menschen in Somalia mit unvorstellbarem Leid. (Zurufe von der CDU/CSU) (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wer wohl hier – Lachen Sie ruhig. Ich finde es nicht witzig. Es ist über- lernunfähig ist?) haupt nicht witzig. Somalia zählt nach den Berechnungen des UN-Flücht- lingshilfswerks zu den drei wichtigsten Herkunftslän- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten dern von Flüchtlingen weltweit. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Was sagen Sie Erst im vierten Absatz setzt sich die Bundesregierung denn zum Welternährungsprogramm? Sagen dann endlich auch einmal mit der Situation in Somalia Sie etwas dazu!) auseinander. Da verbreiten Sie dann geschönte Erfolgs- geschichten, denen zufolge sich die Lage im Land deut- Viele von denen, die im Augenblick an den Mittelmeer- lich stabilisiert habe. Sie kennen doch die bittere Wahr- küsten verzweifelt darauf hoffen, ihr Leben durch Flucht heit. Die Lage in Somalia hat sich weder politisch noch zu retten, kommen aus Somalia. Anstatt diesen Men- ökonomisch verbessert. Wenn an den ganzen Erfolgs- schen, die um ihr Leben bangen und deshalb fliehen, le- meldungen, die uns hier Jahr für Jahr vorgetragen wer- gale Wege nach Europa anzubieten, halten Sie die Wege den, etwas dran wäre, dann müsste Somalia doch in- nach Europa versperrt, und Sie zwingen die Menschen, zwischen prosperierender Wohlstandsmotor für ganz ihr Leben zu riskieren auf einem Meer, das längst zum Ostafrika sein. Aber das Gegenteil ist bekanntlich der Massengrab geworden ist. Jetzt diskutiert man sogar in (B) Fall. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die internationale der EU, auch die Flüchtlingsboote zu militärischen Zie- (D) len zu machen. Das ist fürchterlich. Fürchterlich! Politik seit der äthiopischen Militärintervention vor neun Jahren immer wieder und immer weiter nur auf die mili- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten tärische Karte setzt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie sich gesagt sein: Einen Bürgerkrieg been- Ihre Politik folgt einfach der perversen Logik: aus- det man nicht, indem man mit Soldaten einmarschiert. beuten, aufrüsten, intervenieren und dann abschotten. Man beendet ihn nicht mit hinterhältigen Drohnenangrif- Aber eine solche Politik wird die Linke nie, nie, niemals fen, die die US-Streitkräfte von Deutschland aus, näm- mitmachen. Deshalb werden wir auch zu diesem Mandat lich von Ramstein, auch in Somalia täglich durchführen. wieder Nein sagen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Rolf Mützenich neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – [SPD]: Wahlkampfgerede!) Peter Beyer [CDU/CSU]: Da ist wieder das Feindbild USA!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Als nächster Redner hat Thorsten Frei von der CDU/ Man beendet ihn nicht mit der Ausbildung von immer CSU das Wort. mehr Soldaten, von denen immer wieder viele mitsamt ihren Waffen und ihren Ausrüstungsgeräten desertieren (Beifall bei der CDU/CSU) oder verschwinden und man nicht weiß, wo sie geblie- ben sind. Das, was Sie da treiben, ist eine völlig unver- Thorsten Frei (CDU/CSU): antwortliche Politik. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Vogler, Atalanta ist wirklich ein voller Er- (Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens folg. Wenn Sie fragen, was der Maßstab ist, an dem wir [CDU/CSU]: Kommen Sie wieder zum Thema diesen Erfolg messen, dann könnte man sagen: Als die zurück!) Mission Atalanta im Jahr 2008 begonnen hat, waren je- des Jahr 200 Schiffe Ziel von Überfällen von Piraten. Wie viele Jahre wollen Sie denn noch versuchen, eine Seit dem Jahr 2012 ist kein einziges Schiff mehr Ziel gewaltsame Lösung im somalischen Bürgerkrieg herbei- solcher Überfälle. Im vergangenen Jahr und in diesem zuführen? – Der Bürgerkrieg in Somalia, der die Ursa- Jahr sind nur wenige Schiffe erfolglosen Kaperversu- che für die Verelendung, die Verarmung und die Kon- chen ausgesetzt gewesen. flikte ist, kann nur beendet werden, wenn sich die militärischen Akteure zurückziehen und man dafür sorgt, (Dagmar Freitag [SPD]: Erfolglos!) 10152 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Thorsten Frei (A) – Erfolglos, genau. – Das ist der Erfolg der Mission Ata- Mogadischu begrenzt ist und nicht in das Land hinaus- (C) lanta. strahlt. Das sind die Probleme, mit denen wir uns be- schäftigen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Wir wissen natürlich auch, dass in den vergangenen Jahren viel Geld der internationalen Staatengemein- Auch die Tatsache – Frau Kollegin Freitag ist vorhin da- schaft dorthin geflossen ist. Wir wissen um den Einsatz rauf eingegangen –, dass seit 2008 immerhin 179 Schiffe von Soldaten, Polizisten, Entwicklungshelfern und zivi- für das Welternährungsprogramm len Helfern. Und wir wissen, dass es durchaus – zugege- (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das ist der Maß- benermaßen – bescheidene Erfolge gibt, wenn man etwa stab!) an die Regionalisierungsbemühungen bei der Verwal- tungsreform denkt und an die neue Regierung, die im und 121 Schiffe für AMISOM erfolgreich nach Mogadi- Februar vereidigt wurde. Sie ist zwar ein Stück weit eine schu begleitet wurden, damit dort die Bevölkerung er- junge und unerfahrene Regierung in absolut chaotischen nährt werden konnte, ist ein Erfolg dieser Mission. Umständen, aber spiegelt die Stammesrealitäten wider. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ja, all das wissen wir. Trotz allem sind die Dschihadisten stark, ist al-Schabab stark. Ich möchte von daher die Gelegenheit nutzen, den Soldatinnen und Soldaten, die fernab der Heimat, ge- Trotz der Schläge gegen die Führung von al-Schabab trennt von ihren Familien, lange Monate dort Dienst tun, im vergangenen Herbst, trotz der Tatsache, dass sie ganz herzlich für ihren erfolgreichen Einsatz zu danken. keine Gebiete mehr selbstständig hält und auf asymme- trisches Vorgehen übergegangen ist, trotz allem sind die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Gefahren im Land riesig und enorm. Das kann man se- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE hen, wenn man sich die Anschläge in den vergangenen GRÜNEN) Monaten in Somalia anschaut: auf Restaurants, Hotels, Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie ha- Politiker, Bürgermeister. ben den Antrag der Bundesregierung zitiert. Ich will Ih- Wenn man sich anschaut, dass die Gefahr droht, dass nen eines sagen: Das, was wir dort tun, entspringt zum aus einem lokalen Konflikt ein regionaler wird, wenn einen einer humanitären Verpflichtung. Ich finde es zum man sich vor Augen führt, dass beispielsweise der An- anderen überhaupt nicht verwerflich, sondern richtig, schlag in Kenia auf die Universität in Garissa 140 Todes- dass wir am Horn von Afrika auch unsere Interessen opfer gefordert hat, oder wenn man sich die Anschläge schützen und vertreten. Das sind deutsche Interessen, in Dschibuti, in Äthiopien anschaut, dann wird deutlich, das sind europäische Interessen. Wir haben als dritt- (B) dass hier die Gefahr besteht, dass sich ein Flächen- (D) größte Exportnation der Welt ein Interesse an sicheren brand entwickelt. Welche Auswirkungen das hat – da- See- und Handelswegen; darauf ist Frau Kollegin Freitag rauf sind Sie richtigerweise eingegangen –, können wir ebenfalls eingegangen. an den Flüchtlingsströmen nach Europa und auch nach Durch diese Seepassage fahren jedes Jahr 4 000 Con- Deutschland sehen. tainer- und Handelsschiffe mit einem Warenwert von Deshalb sind hier drei Dinge ganz wesentlich: 4 Billionen Euro. Wenn Sie sich vorstellen, welchen An- teil der Seehandel in Deutschland und auch in Europa Das Erste: Natürlich muss gegen die Dschihadisten am gesamten Wirtschaftsvolumen hat, dann wissen Sie, weiter konsequent vorgegangen werden. Jetzt geht es dass hier viele Zehntausende Arbeitsplätze davon abhän- letztlich darum, dass man ihnen Nachschubwege ab- gen. Dass wir uns um Sicherheit und Stabilität in der schneidet, dass man ihre Konsolidierung verhindert und Welt bemühen, auch bei den Seehandelswegen, das ist dass man auch die Finanzierungsquellen trockenlegt. konsequent, das ist richtig. Das kann man in einem An- Bestandteile dieser sind auch die Piraterie, das Erpressen trag wie diesem auch so schreiben, liebe Frau Kollegin von Lösegeldern, um Terrorismus zu finanzieren, sowie Vogler. der Schmuggel. Es müssen also auch Schmugglerrouten unterbrochen werden. All das sind Dinge, die die Mis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sion Atalanta erfolgreich leistet. neten der SPD) Das Zweite – darauf sind Sie eingegangen –: Es geht Es ist natürlich vollkommen klar, dass der Grund für natürlich auch darum, den Menschen Zukunftsperspekti- die Probleme Somalias und auch für die Probleme mit ven zu eröffnen. Das ist zugegebenermaßen schwierig in der Piraterie am Horn von Afrika letztlich in Somalia einem Land, in dem 3 Millionen Menschen unmittelbar selbst zu suchen ist. Die Analyse ist durchaus zutreffend. an Hunger leiden, in dem 2011 250 000 Menschen ver- Seit 1991, seit dem Sturz von Siyad Barre, ist das Land hungert sind, in dem nur ein Drittel der Kinder und in Bürgerkrieg, Chaos und Anarchie versunken. Jugendlichen Zugang zu Bildung hat und in dem 12 Mil- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Und seit 1993 lionen Menschen weniger als 2 Milliarden Dollar Jahres- versucht die Bundesregierung, das militärisch bruttoinlandsprodukt erwirtschaften. Das ist vergleichs- zu lösen!) weise wenig und viel zu wenig, damit sich das Land gut entwickeln kann. Traditionelle Strukturen gibt es dort nicht mehr. Die tra- ditionellen Autoritäten wirken nicht mehr. Die Regierun- Das Dritte, worum es geht, ist, dass wir für Stabilität gen in Mogadischu haben einen Wirkungskreis, der auf im Land sorgen müssen. Deshalb geht es darum, die er- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10153

Thorsten Frei (A) folgreichen Missionen weiterzuführen. Das betrifft nicht nen fast unmöglich. Und was tut die Bundesregierung (C) nur Atalanta, sondern auch die EU-Trainingsmission und angesichts dieser Situation? Erstens. Sie leistet Entwick- ist EUCAP NESTOR. Wir führen eben verschiedene lungshilfe. – Gut. Zweitens. Sie entsendet Soldatinnen Mosaiksteine zusammen, um mitzuhelfen, das Land zu und Soldaten der Bundeswehr, um die somalische Ar- stabilisieren und damit letztlich auch Zukunftsperspekti- mee auszubilden und zu beraten. – Das sehe ich schon ven zu eröffnen. kritisch. Der Weg ist lang, der Einsatz ist gut; er lohnt sich. (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE Deshalb werben wir für die Fortsetzung dieser Mission. LINKE]) Herzlichen Dank. Drittens. Sie setzt sich auf EU-Ebene dafür ein, Länder (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wie Somalia mit Waffen und Munition auszustatten. – Das steht doch in krassem Widerspruch zu dem, was wir mit der Mission Atalanta eigentlich erreichen wollen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Doris (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Wagner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das SES 90/DIE GRÜNEN) Wort. Mehr Waffen bedeutet doch mehr Gewalt. Mehr Waffen bedeutet doch mehr Leid. Und mehr Waffen bedeutet Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): doch auch noch weniger Hoffnung auf einen funktionie- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Ver- renden und sicheren Staat. ehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer unserer Debatte zur Verlängerung des Atalanta-Mandats folgt, kann fest- (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] stellen: So viel Einigkeit war nie. Wir sind uns einig, und Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE dass Atalanta wichtig ist. Wir sind uns auch einig, dass GRÜNEN]) Atalanta ein Erfolg ist. Und wir sind uns einig, dass die Wirklich fassungslos bin ich darüber, welchen Kurs Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz unseren die Bundesregierung auf EU-Ebene gegenüber Staaten Dank verdienen. Diese Einschätzung teile ich völlig. wie Somalia verfolgt. Die Bundesregierung hat die so- Gerade deswegen finde ich es ein Stück weit unver- genannte Enable and Enhance Initiative in die EU ein- antwortlich, wie die Bundesregierung den Erfolg der gebracht. Das Ziel dieser Initiative ist es, sogenannte Atalanta-Mission aufs Spiel setzt, indem sie für Somalia Partnerstaaten in die Lage zu versetzen, ihre Sicherheits- insgesamt eine widersinnige Politik betreibt. Wir schi- probleme selbst zu lösen. Dazu sollen die Mitgliedstaa- (B) cken 950 Soldatinnen und Soldaten vor die Küste von ten die Sicherheitskräfte der Partnerstaaten mit Ausbil- (D) Somalia, damit sie für Sicherheit auf See sorgen. Gleich- dung und Ausrüstung unterstützen. Umstritten ist aber zeitig setzt sich die Bundesregierung in der EU für Maß- innerhalb der EU offensichtlich, was genau unter „Aus- nahmen ein, die dazu führen, dass die Sicherheit an rüstung“ zu verstehen ist. Sollen das auch letale Waffen Land, in Somalia selbst, weiter abnimmt. und Munition sein? – Die Haltung der Bundesregierung ist da ganz klar. In seiner Antwort auf meine schriftliche (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Welche Frage hat mir Staatssekretär Steinlein mitgeteilt: Der Be- sollen das denn sein?) griff Ausrüstung sollte Waffen und Munition nicht Für eine derart widersprüchliche Politik, werte Kollegin- grundsätzlich ausschließen. – Aber Waffen in schwache nen und Kollegen, sollten wir die Gesundheit und das Staaten wie Somalia zu liefern heißt doch, ein ganzes Leben unserer Soldatinnen und Soldaten nicht aufs Spiel Fass Öl ins Feuer zu gießen; setzen. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: So ist das!) Auch die Menschen in Somalia verdienen eine bes- denn ein wesentlicher Grund für die anhaltende Gewalt sere Politik. Dort sind nämlich nach wie vor mehrere in Somalia liegt doch genau darin, dass es eben nicht ge- Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. lingt, den Waffenhandel wirksam zu kontrollieren. Dank Atalanta laufen die Schiffe mit den Hilfsgütern des Welternährungsprogramms nun seit Jahren einigerma- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ßen sicher in die somalischen Häfen ein. Doch damit SES 90/DIE GRÜNEN) sind sie ja noch nicht am Ziel. Damit die Lebensmittel Waffen, die für die somalische Armee importiert wur- und die Medikamente auch wirklich bei den notleidenden den, verschwinden regelmäßig in dunklen Kanälen und Menschen ankommen, braucht es sichere Transportwege, tauchen auf dem Schwarzmarkt wieder auf. Einzelne sichere Lagerstätten und sichere Verteilungspunkte im Clans in der Armee haben einen privilegierten Zugang Land. Genau daran mangelt es aber in Somalia. zu Waffenarsenalen und zweigen nachweislich Waffen Die Kämpfe zwischen offiziellen Armeeeinheiten und ab, um ihre ganz eigenen Konflikte auszutragen. Außer- der Al-Schabab-Miliz stürzen Teile des Landes immer dem verfügt die UN Monitoring Group für Somalia über wieder ins Chaos. In Mogadischu sind Attentate und ernstzunehmende Hinweise darauf, dass ein Berater des Morde auf offener Straße an der Tagesordnung. Auch somalischen Präsidenten mitverantwortlich dafür war, zwischen einzelnen somalischen Clans kommt es immer dass Waffen in die Hände der Al-Schabab-Milizen gera- wieder zu blutigen Konflikten. All das macht doch die ten sind. Dazu werden noch Waffen im großen Stil ille- sichere Versorgung der Bevölkerung in einigen Regio- gal ins Land geschmuggelt, übrigens auch übers Meer. 10154 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Doris Wagner (A) All das zeigt: Jede einzelne Waffe, jede Patrone, die militärischen Einsatz im Seegebiet verunglimpfen und (C) aus Europa an Sicherheitskräfte in Somalia oder andere als nicht zu rechtfertigen ansehen, schon sagen: schwache Staaten geliefert wird, ist eine zu viel. (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Interessiert die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie doch gar nicht!) der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Allein die Seeleute und ihre Familien, die unter diesen Völlig unbeteiligte Menschen und eben auch Angehö- Überfällen gelitten und Traumata davongetragen haben rige der vermeintlich gestärkten Partnerstreitkräfte kön- – der finanzielle Schaden ist vielleicht nicht das nen damit getötet werden. An einem solchen Wahnsinn Schlimmste –, sind den Einsatz unserer Soldatinnen und darf sich die EU, darf sich auch die Bundesregierung auf Soldaten in diesem Seegebiet wert. Das allein ist ein keinen Fall beteiligen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Beitrag zu mehr Humanität, meine sehr verehrten Da- men und Herren. Die Mission Atalanta ist wichtig, ja. Unsere Soldatin- nen und Soldaten erfüllen ihre Aufgabe wirklich erfolg- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) reich. Aber wir müssen noch bis zum Sankt-Nimmer- Ich kann Ihre Position überhaupt nicht verstehen. leins-Tag Schiffe vor das Horn von Afrika schicken, wenn es nicht gelingt, neben der Sicherheit auf See auch Außerdem gibt es eine zweite wichtige Aufgabe, die Sicherheit an Land zu schaffen. Deshalb appelliere ich in der Debatte schon erwähnt worden ist, auf die Sie aber an Sie, meine Damen und Herren auf der Regierungs- bisher auch keine Antwort gegeben haben. In Somalia bank: Überdenken Sie doch bitte Ihre Haltung zur Liefe- findet in der Tat eine der schwersten humanitären Kata- rung tödlicher Waffen an fragile Staaten, sonst reißen Sie strophen auf der Erde statt. Neben Gewalt – das ist von das, was Sie an Sicherheit mit der einen Hand aufgebaut der Kollegin aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben, mit der anderen wieder ein. gerade angesprochen worden – prägt Hunger den Alltag der Menschen in Somalia. Ich habe mich ein bisschen Vielen Dank. darüber gewundert, dass Sie versuchen, irgendwie zu konstruieren, die Bundesregierung würde eine Art Dop- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) pelstrategie verfolgen: Sie meinen, dass wir einerseits auf See etwas Gutes machen – das wird Sie hoffentlich Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: dazu veranlassen, gleich dem Antrag zuzustimmen; dazu Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Dr. Johann haben Sie sich leider nicht geäußert –, andererseits aber Wadephul von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. einen Anteil daran hätten, dass es an Land diese schlim- men Auseinandersetzungen gibt. Ich muss Ihnen sagen: (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das kann ich nicht nachvollziehen. Das ist auch falsch. (D) neten der SPD) Das weise ich zurück. Wenn Sie hier solche Vorwürfe er- heben, dann sollten Sie klipp und klar belegen, welche Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Waffen von Deutschland nach Somalia geliefert worden Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sind. Dass es dazu gekommen wäre, ist falsch. Das hat Herren! Piraterie hat sich seit den 1990er-Jahren welt- die Bundesregierung nicht erlaubt. Das würden wir auch weit ausgeweitet. Neben einer sicher zu berücksichtigen- in keinem Fall unterstützen. Aber wir können doch das den Dunkelziffer weist im Jahr 1992 die Statistik Leid in Somalia nicht dadurch verbessern, dass wir jetzt 74 Piratenüberfälle aus. Im Jahr 2010 waren es bereits auch noch die Seeoperation beenden. 445 Überfälle. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der Anstieg hat verschiedene Gründe: Die politische Nein, die Seeoperation ist eine wichtige Voraussetzung, Entspannung nach dem Ende des Kalten Krieges führte dass sich an Land auch etwas verbessern kann; und das zu einem Rückgang militärischer Präsenz auf See. Zu- muss dringend geschehen. So wird ein Schuh aus der gleich haben unter dem Begriff der Globalisierung der ganzen Geschichte. Handel und die Vernetzung unserer Welt eine ungeahnte Dynamik entfaltet. Piraterie ist nämlich schlicht eine (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Einnahmequelle. Es geht um den Raub von Gütern und Sie kommen auch nicht an der Tatsache vorbei, dass auch um Lösegeld. der Chef des Welternährungsprogramms – das ist nicht Opfer sind in erster Linie Regionen, in denen der der Regierungssprecher der deutschen Bundesregierung – Staat sein Gewaltmonopol kaum oder gar nicht mehr den Atalanta-Einsatz als Säule der Stabilität bezeichnet durchsetzen kann. Aus diesem Grund haben wir uns ent- hat. Das zeigt, wie ich glaube, dass auch hier ein wichti- schlossen, die EU-geführte Operation Atalanta vor der ger Beitrag dazu geleistet wird, dass die Situation an Küste Somalias durchzuführen. Von den im Jahr 2010 Land besser wird. Das ist unsere Aufgabe, die wir leisten weltweit registrierten 445 Piratenangriffen entfielen 266 müssen. Wir müssen auf See anfangen. Dass wir das auf das Seegebiet vor Somalia. Über 600 Seeleute mit später auf einen schmalen Küstenstreifen ausgedehnt ha- entsetzlichen menschlichen Dramen für sie und ihre Fa- ben, hat dazu beigetragen, dass die Piraterie aktiv be- milien wurden Opfer. kämpft werden konnte. Mit der großen Unterstützung des Welternährungsprogramms durch Deutschland zei- Das muss ich den Kolleginnen und Kollegen der gen wir auch, dass wir etwas machen wollen. Es ist eine Linksfraktion, die diese Operation ablehnen und jeden gute Sache, die man unterstützen sollte. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10155

Dr. Johann Wadephul (A) Kollege Frei hat zu Recht darauf hingewiesen, dass ben worden – nicht komplett durch internationale Pro- (C) Atalanta eine große Bedeutung für den Seehandel hat. gramme gesichert werden kann, wissen wir. Wir wissen Wir sind die drittgrößte Schifffahrtsnation der Welt. Ich auch, dass in Somalia eigentlich viel mehr passieren möchte dazu sagen: Es geht bei Schifffahrt und Welthan- muss. Deshalb ist es gut, dass die europäischen Regie- del auf See nicht darum, andere auszubeuten, wie es Ih- rungschefs miteinander vereinbart haben, alle Aktivitä- rer Vorstellung entspringt. Möglicherweise prägt Karl ten, Missionen und Mandate, die es in Somalia gibt, auf Marx heute noch Ihr Denken. In einer globalisierten dem Gipfel im Juni dieses Jahres besser abzustimmen, Welt ist Seehandel jedoch eine wichtige Voraussetzung zu überprüfen und an den Stellen zu arbeiten, an denen dafür, dass es in Deutschland und in Europa wirtschaftli- man besser werden muss. Das ist die nötige Konsequenz, che Prosperität gibt. Auf internationalen Austausch sind die wir auch immer einfordern: Es geht darum, Mandate auch die Länder, aus denen wir etwas importieren, ange- und Missionen auszuwerten – lessons learned – und die wiesen. Und dass sie sicher an uns liefern können, ist ein gewonnenen Erkenntnisse zur Anwendung zu bringen, Beitrag zu freiem Welthandel und dazu, dass die Men- in diesem Fall in Somalia. schen, wo auch immer sie auf der Erde leben, einen ge- rechten Lohn bekommen können. Das sollten Sie nicht Wir lassen uns nicht davon abbringen, dass die Ope- von vornherein verunglimpfen. Deswegen ist auch ein ration Atalanta im Kontext anderer EU-geführter Mis- Einsatz der Bundeswehr zur Sicherstellung von Seehan- sionen ein Erfolg ist. Wenn es dieses Mandat nicht gäbe delsbeziehungen in der zivilen Schifffahrt gut, richtig und wenn mit ihm nicht erfolgreich Piraterie verhindert und verantwortbar. Sie sollten dem zustimmen. und Piraterie bekämpft worden wäre, würden wir der al- Schabab die Mittel in die Hände geben, um ihren asym- Herzlichen Dank. metrischen Krieg, den sie führt, um die Region zu desta- bilisieren, weiterführen zu können. Sie würde eben nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) von den Quellen der Finanzierung ihrer Aktivitäten ab- geschnitten werden. Es ist doch beschrieben worden: Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Mit welchen Waffen kann man letztendlich eine Univer- Vielen Dank. – Als nächster Redner hat Wolfgang sität in Kenia kaputtbomben? Hellmich von der SPD-Fraktion das Wort. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, wo kom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men die denn her!) der CDU/CSU) Wo kommen die Instrumente, die Mittel her? Wo kom- men denn die Waffen her, mit denen AMISOM-Soldaten Wolfgang Hellmich (SPD): umgebracht wurden, mit denen Anschläge in Mogadi- (B) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! schu begangen wurden? (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manche Beiträge in dieser Debatte machen mich – und das geschieht eigent- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Die militärische lich selten – schlicht fassungslos. An dieser Stelle völlig Strategie ist offenbar sehr erfolgreich!) zu verkennen, dass wir uns in einer Situation befinden, Unser Auftrag in dieser Situation ist nicht der Rück- wo wir uns auf Grundlage eines UN-Mandates um die zug, sondern unser Auftrag ist, dazu beizutragen, dass Durchsetzung eines international geltenden Rechtes, Staatlichkeit in Somalia aufgebaut wird, dass Sicherheit nämlich des freien Zugangs zum Meer, kümmern, und hergestellt wird. Ohne die Sicherheit auf dem Meer wer- zu verschweigen, dass wir uns im Rahmen eines solchen den wir keine Sicherheit an Land herstellen können. Mandates bewegen, deutet, glaube ich, darauf hin, wo- rum es bei dem einen oder anderen Debattenbeitrag (Dagmar Freitag [SPD]: So ist das!) ging, nämlich schlichtweg darum, unseren Soldatinnen Wir würden die somalische Regierung und diejenigen, und Soldaten zu unterstellen, dass sie mit ihrem Einsatz die sie unterstützen, der al-Schabab und anderen Terro- daran beteiligt sind, risten ausliefern und alleine mit ihnen lassen. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nein, nein, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nein! Zu den Soldaten habe ich nichts ge- sagt! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Wir haben die Hilfen für Somalia ausgeweitet. Das ist Nicht den Soldaten!) gut und richtig so. Wir haben angesichts der Sicherheits- den Krieg, den es in Somalia gibt, zu befördern. Sie for- lage den Schutz derjenigen, die diese Arbeit leisten, er- dern eigentlich unsere eigenen Soldatinnen und Soldaten höhen müssen; denn wir wissen, wie sich die Situation in auf: Fahrt nach Hause, lasst die Menschen in Somalia Somalia entwickelt hat. Ich sage aber an dieser Stelle doch verhungern! Was interessiert uns das Land eigent- klar und deutlich: Es gibt keine Alternative zu Atalanta lich? und den anderen EU-geführten Missionen. Nur so kön- nen wir den Menschen in Somalia in ihrer Notlage hel- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu- fen; denn die Ursachen für Terrorismus liegen auch in ruf von der CDU/CSU: Genau so müssen wir Somalia. Das sind nämlich die Menschen, die hungern, das interpretieren!) die Not leiden. Ihnen zu helfen, das ist unsere vor- nehmste und wichtigste Pflicht im Kontext all dieser Das macht mich an dieser Stelle in der Tat fassungslos Mandate. angesichts des guten Beitrags, den wir dort leisten. Dass die Ernährungslage in Somalia – das ist bereits beschrie- (Dagmar Freitag [SPD]: Sehr richtig!) 10156 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Wolfgang Hellmich (A) Ich möchte noch auf einen anderen Umstand hinwei- ger“; ich schaue den Kollege Jung an, er war damals (C) sen. In Somalia geht es auch um das Thema der Terroris- Verteidigungsminister. Monatelange Verhandlungen mit musbekämpfung. Nur ein kleiner Hinweis: Wenn es der den Piraten mit abschließender Zahlung eines Lösegel- bayerischen Polizei gelingt, einen Somalier, der mit ge- des in Millionenhöhe machten dem Spektakel ein Ende. fälschten italienischen Papieren nach Bayern einreisen Deutschland war unter Druck, Europa war unter Druck. wollte, mithilfe von Erkenntnissen, die man bei einem Es musste etwas geschehen. Zu Recht forderten die deut- Angriff auf einen Tanker hat gewinnen können, zu de- schen Reeder Schutz vom deutschen Staat für ihre tektieren und festzusetzen, dann bedeutet das: Es geht in Schiffe. Somalia auch um die Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit den Instrumenten, die uns zur Verfü- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: gung stehen. Und diese müssen wir an der Stelle auch Herr Kollege Uhl, ich muss Sie einmal kurz unterbre- zur Anwendung bringen. chen. Atalanta ist notwendig, genauso wie die anderen EU- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist jetzt wirklich geführten Missionen notwendig sind. Ich danke auch deutlich zu laut geworden. Das ist einfach unfair gegen- Drittländern außerhalb Europas – Kolumbien und ande- über dem Kollegen Uhl. Ich bitte, auch ihm zuzuhören. ren südamerikanischen Ländern –, dass sie sich bereit er- klärt haben, sich an Atalanta zu beteiligen. Das macht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und deutlich: Es ist eine internationale Aufgabe. Wir und un- der SPD) sere bis zu 950 Soldatinnen und Soldaten leisten einen Wir werden heute eine wichtige Entscheidung treffen; wichtigen Beitrag. Deshalb bitte ich: Stimmen Sie die- deshalb bitte ich um die entsprechende Aufmerksamkeit. sem Mandat zu! Es ist für die Menschen in Somalia drin- gend notwendig. Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Danke. Ich bedanke mich, Frau Präsidentin. – Zurück zur „Hansa Stavanger“. Damals hatten wir eine lange Dis- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kussion über die Frage: Wer gewährleistet den Schutz durch den Staat? – Auf der einen Seite hatten wir die Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Polizei; die hatte zwar das Recht dazu, aber nicht die Fä- Vielen Dank. Als letzter Redner in der Debatte hat higkeiten. Und dann hatten wir das Militär; die hatten Dr. Hans-Peter Uhl von der CDU/CSU-Fraktion das die Fähigkeiten, aber nicht das Recht dazu. Weil der eine Wort. kann, aber nicht darf, der andere darf, aber nicht kann, (B) (Beifall bei der CDU/CSU) war das Ergebnis, dass wir uns überlegen mussten, was (D) wir tun. Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Die Resolution des UN-Sicherheitsrates und die Ge- Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und meinsame Aktion des Europäischen Rates bildeten dann Kollegen! Für den Wohlstand Deutschlands sind sichere die solide rechtliche Grundlage, um die Streitkräfte zum Exporte und Importe unabdingbar. Allein im Jahr 2014 Einsatz zu bringen. Die Operation Atalanta war geboren, hat Deutschland Güter und Waren im Wert von 1,2 Bil- und das war auch gut so. Von den zahlreichen Attacken lionen Euro ausgeführt. Auch bei den Einfuhren sind wir auf Handelsschiffe, die es zuvor gegeben hatte, blieben von weit entfernten Ländern abhängig: Deutsche Pro- nach wenigen Jahren nur noch ganze vier Angriffe im dukte sind auf zahlreiche Zulieferungen angewiesen. Jahre 2014. Die Operation Atalanta, meine Damen und Diese kommen aus Asien über die Handelsroute, über Herren von den Linken, ist für den sicheren Seeverkehr die wir gerade reden, durch den Golf von Aden und den in diesem Teil der Welt also zweifellos ein Erfolg. Die Suezkanal zu uns. generalpräventive Wirkung dieses Militäreinsatzes wird sicher auch in Zukunft dazu beitragen, dass keine An- Um den Status als Exportweltmeister zu verteidigen, griffe mehr stattfinden oder nur noch wenige. hat Deutschland deshalb ein vitales Interesse an freien Transportwegen. Die deutsche Handelsflotte als dritt- Auf der anderen Seite muss man bedenken: Ein See- größte Handelsflotte der Welt ist auf sichere Seewege gebiet anderthalbmal so groß wie Europa kann man mit angewiesen. vier Schiffen und zwei Seefernaufklärern natürlich nicht abdecken. Deswegen war es richtig, dass wir als zweite (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Maßnahme ein Gesetz für private Sicherheitsunterneh- Von 2007 auf 2008 stieg die Zahl der Piratenangriffe men geschaffen haben. Wir haben die Reeder in die Lage am Horn von Afrika um das Zehnfache. versetzt, auch selbst für Sicherheit zu sorgen, durch pri- vate Sicherheitsleute auf den Schiffen. Über 330 Schiffs- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wahnsinn!) passagen wurden seit dieser Zeit auf dieser Rechtsgrund- lage gesichert. Soweit mir bekannt ist, ist noch kein Die Sicherheit auf einer der wichtigsten Handelsrouten einziges Schiff angegriffen worden, das von privaten Si- war massiv gefährdet. Auf dem großen Versicherungs- cherheitsunternehmen geschützt war. Das heißt, auch markt Lloyd’s of London wurde die Region als „war risk diese zweite Maßnahme ist ein Erfolg. region“ eingestuft; die Versicherungsprämien stiegen. Manche, die damals schon im Bundestag waren, erin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nern sich an das Geiseldrama auf der „Hansa Stavan- der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10157

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Wir werden nicht feststellen können, was in der Kau- ich Sie, zügig Ihre Plätze einzunehmen und die Gesprä- (C) salkette den größeren Ausschlag gegeben hat: die Opera- che einzustellen. tion Atalanta oder die privaten Sicherheitsleute. Beides Jetzt können wir in unserer Tagesordnung fortfahren. hat eine große Rolle gespielt. Aber allein der Umstand, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: dass sich Europa zusammengefunden hat und gezeigt hat, dass wir handlungsfähig sind, wenn es darum geht, Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Risiken auf der Welt zu beseitigen oder zu schmälern, Meiwald, Britta Haßelmann, Christian Kühn war schon ein großer Erfolg. (Tübingen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben eine Gemeinsame Europäische Sicher- heits- und Verteidigungspolitik beschlossen, 1999 be- Wertstoffgesetz jetzt vorlegen reits. Wir haben bisher bereits 30 gemeinsame EU-ge- Drucksache 18/4648 führte Zivil- und Militäroperationen durchgeführt. Aber Überweisungsvorschlag: ich glaube – das scheint mir das Wichtigste zu sein, wenn Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und man die Operation Atalanta Revue passieren lässt –: In ei- Reaktorsicherheit (f) ner Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, brauchen Innenausschuss wir noch sehr viel mehr solcher gemeinsamen europäi- Ausschuss für Wirtschaft und Energie schen Maßnahmen wie die Operation Atalanta. Wir müs- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sen gemeinsam in Europa noch mehr für Krisenpräven- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu tion und für Krisennachsorge in der Welt tun. Hier haben keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. wir noch ein erhebliches Steigerungspotenzial. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in die- Eine sichere und stabile Welt von morgen braucht ein ser Debatte hat Peter Meiwald von der Fraktion Bünd- Europa, das mit einer Stimme spricht und geschlossen nis 90/Die Grünen das Wort. handelt. Das Atalanta-Mandat ist ein solches Mandat. Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung. Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- legen! Warum bringen wir heute einen Antrag zum Wert- stoffgesetz ein? Es sind sich doch alle einig, dass ein sol- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ches Gesetz dringend nötig ist, um der großen Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. Ressourcenverschwendung im Umgang mit unserem Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- Müll und dem ineffizient gewordenen System der Verpa- (B) gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung ckungsordnung ein Ende zu bereiten. (D) zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias. Der Doch drei CDU/CSU-geführte Regierungen des letzten Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Jahrzehnts verschleppen das Vorhaben Wertstoffgesetz Drucksache 18/4964, den Antrag der Bundesregierung seit Jahren, zulasten von Umwelt und Verbraucherinnen auf Drucksache 18/4769 anzunehmen. Wir stimmen nun und Verbrauchern. Große Mengen kostbarer Wertstoffe über die Beschlussempfehlung namentlich ab. werden verbrannt, obwohl technisch sehr viel mehr Re- cycling möglich wäre. Ich weise darauf hin, dass mir mehrere persönliche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäfts- Zehn konkurrierende duale Systeme finanzieren vor ordnung des Deutschen Bundestages vorliegen.1) allem ihre eigene Struktur, mit Systemkosten von mehr als 100 Millionen Euro im Jahr. Die Kunden zahlen da- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die für. Die einstmals angedachten Innovationsanreize für Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen be- das Produktdesign im Rahmen des Konzepts der Pro- setzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die namentli- duktverantwortung sind längst nicht mehr wahrnehmbar. che Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Das einstmals gut gedachte Konzept der geteilten Ver- antwortung in der Wertstoffsammlung ist nicht die Ant- Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine wort auf die Herausforderungen des Ressourcenschutzes Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich in Gegenwart und Zukunft, weil es ineffizient ist und schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin- sich an einer Vermeidung von Lizenzentgelten orientiert. nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Daran haben auch die sieben Novellen zur Verpackungs- Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be- verordnung im Kern nichts ändern können. kannt gegeben.2) Duale Systeme sind kein schützenswertes Kulturgut. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie jetzt, Ihre Plätze wieder einzunehmen, damit wir in unserer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Tagesordnung fortfahren können. Sie wissen, dass wir des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) heute eine sehr lange Tagesordnung haben. Deshalb bitte Doch statt, wie seit mehr als einem Jahr immer wieder angekündigt, ein Wertstoffgesetz vorzulegen, das diesen 1) Anlage 2 Reformstau endlich beseitigt, will die Regierung jetzt in 2) Ergebnis Seite 10161 C Elmau – wir haben davon gehört – die Frage des Plastik- 10158 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Peter Meiwald (A) mülls mit einer Forschungsinitiative zur Rückholung lich-rechtlicher Hand soll die bisherigen Lizenzentgelte (C) von Müll aus dem Meer medienwirksam abfrühstücken. weiterentwickeln, hin zu Preisen, die die ökologische Das tut niemandem weh, klingt hübsch und ist auch Wahrheit der Produkte und Verpackungen wirklich ab- durchaus sinnvoll, löst aber das große Problem der Res- bilden. sourcenverschwendung nicht. Fachlich gibt es hierzu viel Konsens, doch das reicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht aus. Die SPD stand, bevor sie an die Regierung kam – ich spreche hier insbesondere Frau Hendricks an, Wir dagegen wollen substanziell etwas bei Pro- auch wenn sie nicht anwesend ist –, Schulter an Schulter duktdesign und Recyclingquoten verbessern. Seit der mit uns Grünen, gerade wenn es darum ging, dass die Gründung unserer Partei setzen wir Grüne uns kritisch Kommunen die Verantwortung für die Abfälle zurückge- mit der Wegwerfgesellschaft auseinander und ringen um winnen sollen. Doch die Koalition des kleinsten gemein- die besten Lösungen für die Umwelt. Abfälle wird es im- samen Nenners kommt heute nicht zu einer Einigung. mer geben; aber es kommt darauf an, die Wertstoffe da- Statt wenigstens schnell den ersten Schritt auf dem Weg rin so gut wie möglich zu nutzen und nur das zu verbren- zu einem Wertstoffgesetz zu gehen, wie wir ihn jetzt als nen, was gar nicht mehr nutzbar ist oder so stark mit Einstieg vorschlagen, bremsen Sie sogar kleine Einzel- Umweltgiften verseucht ist, dass man es besser nicht projekte wie unseren Antrag zur Lösung des Mikro- weiternutzt. Die Zielsetzung „weg von der Deponie“ – plastikproblems aus und versprechen stattdessen einen durchaus auch angestoßen von Grünen – war ein erster großen Wurf, in dem alle Probleme des Mülluniversums großer Meilenstein; die Zielsetzung „weg von zu viel auf einmal gelöst werden sollen. Am Sankt-Nimmer- Verbrennung“ muss der nächste sein. Dies schreibt im leins-Tag? Übrigen die europäische Abfallhierarchie längst vor. Un- seren Vorschlag dafür legen wir heute vor. Sie lassen sich wieder einmal zwischen den verschie- denen Machtinteressen zerreiben. Das geht zulasten Erstens. Wir wollen, dass die Kunststoffe aus Haus- unserer Umwelt. Wir Grüne wollen ein neues System, müll und Verpackungen in einem System, möglichst in das ökologischer und transparenter ist, und wir wollen, einer Wertstofftonne, in Verantwortung der Kommunen dass die Verantwortung dafür in einer Hand liegt, in der gemeinsam eingesammelt werden. Es ist nicht mehr ver- kommunalen Hand. Wenn Sie auf diesem Weg auch die mittelbar, dass, wie bisher, ein Plastikkleiderbügel, der durch Mikroplastik hervorgerufenen Probleme lösen zur Verkaufsverpackung gehört – wir haben darüber oder die Ökologisierung der Gewerbeabfälle in der Zu- schon öfter gesprochen –, in den gelben Sack geworfen kunft gleich mitregeln wollen, beteiligen wir Grüne uns werden darf, ein anderer Bügel aus dem gleichen Mate- sehr gerne konstruktiv an diesem Verfahren. Aber fan- rial aber in die schwarze Tonne gehört. Das ist heute gen Sie bitte endlich an, zu handeln. (B) nicht mehr vermittelbar. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Folgen Sie unserem Vorschlag! Gehen Sie die wirkli- Die Kommunen werden dann regelmäßig die Men- chen Probleme an, und legen Sie endlich ein Wertstoff- schen vor Ort über den Verbleib der Wertstoffe und die gesetz vor! Ankündigungen haben wir nun wirklich ge- Erfolge beim Recycling, bei der Verwertung unterrich- nug gehört. ten. Dann haben wir Transparenz, und alle, die fleißig ihren Müll trennen, wissen endlich, wofür sie das eigent- lich tun. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen, und (Zuruf von der LINKEN: Das ist eine gute zwar dringend. Idee!) Zweitens. Die gesetzlichen Recyclingquoten müssen Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dringend sehr deutlich angehoben werden. Diesbezüg- Ich bin schon am Ende angekommen. Vielen Dank, lich gibt es eigentlich einen Konsens. Wir brauchen Frau Präsidentin. selbstlernende Quoten, die sich automatisch anpassen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenn sich die Recyclingtechnik verbessert. Dadurch werden Innovationen in der Abfallwirtschaft unterstützt. Vielleicht wird Deutschland dann auch mal wieder Vor- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: reiter. Dabei kommt es natürlich nicht nur darauf an, Als nächster Redner hat Dr. Thomas Gebhart von der möglichst viel zu recyceln, sondern auch möglichst gut, CDU/CSU-Fraktion das Wort. das heißt, qualitativ sinnvoll zu recyceln und nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) downzucyceln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Drittens. Wer in Zukunft Dinge und Verpackungen Herren! Die Grünen fordern in ihrem Antrag ein Wert- auf den Markt bringt, die viele Ressourcen verbrauchen stoffgesetz. Es ist überhaupt keine Frage: Wir alle wol- oder schlecht zu recyceln sind, soll dafür mehr bezahlen len ein Wertstoffgesetz. als derjenige, der sich das Prinzip der Kreislaufwirt- schaft zu eigen macht. Wir nennen das ökologische (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ressourcenabgabe. Eine neue zentrale Stelle in öffent- NEN]: Dann legen Sie einmal eines vor!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10159

Dr. Thomas Gebhart (A) Darin sind wir uns einig. Aber es ist auch klar: Wir wol- obwohl es zum Glück gleichzeitig ein Wirtschaftswachs- (C) len nicht irgendein Wertstoffgesetz, sondern dieses Wert- tum gab. Es wurden hochmoderne Recyclingtechno- stoffgesetz muss ein Fortschritt sein. Auf den Inhalt logien und Innovationen entwickelt, Müllberge wurden kommt es an. kleiner, und die Kosten für die Verbraucher sind gesun- ken. Das war die Situation damals. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben! Das haben wir gerade erklärt!) (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Vor 20 Jahren!) Dieses Wertstoffgesetz muss die richtigen Antworten auf die Herausforderungen geben. Das ist der entscheidende Heute, mehr als 20 Jahre später, stehen wir an dem Punkt. Punkt, dass wir einen entscheidenden Schritt weiterge- Was sind diese Herausforderungen? Ich will nur einen hen können und weitergehen müssen. allgemeinen Punkt ansprechen. Wir haben weltweit eine (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- steigende Nachfrage nach Ressourcen. Wir verbrauchen NEN]: Auch schon seit zehn Jahren!) mehr Ressourcen, als wir langfristig zur Verfügung haben. Die Weltbevölkerung wächst nach wie vor, und Wir wollen, dass Verpackungen und Nichtverpackungen, Deutschland ist in hohem Maße abhängig von Rohstoff- die aber aus den gleichen Materialen bestehen, insbeson- importen. Allein deswegen ist es erforderlich, dass wir dere Metalle und Kunststoffe, gemeinsam erfasst und die Kreisläufe in Zukunft noch besser als heute schlie- möglichst recycelt werden. ßen, dass wir Abfälle vermeiden, dass wir aus Abfällen (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wertvolle Ressourcen gewinnen, dass wir Ressourcen NEN]: Nein, nicht wahr! Der Hammer! – Peter eben nicht verbrauchen, sondern gebrauchen. Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das (Beifall bei der CDU/CSU) wollen wir ja auch!) Wir wollen und wir werden weitergehen auf dem Weg Kleiderbügel, die Quietscheente und der Locher aus Me- zu einer echten Kreislaufwirtschaft. Das ist gut für die tall sollen künftig nicht mehr in den Restmüll und dann Umwelt. Das schont die Ressourcen. Das ist vor allem verbrannt werden, sondern gemeinsam mit dem Joghurt- auch wirtschaftlich sinnvoll. Das ist eine wirtschaftliche becher erfasst und verwertet werden. Chance. (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen NEN]: Aber wie?) wir alles schon seit zehn Jahren! Sie müssen es nur mal machen!) (B) Das ist sogar eine pure Notwendigkeit. (D) Das ist die erste unserer fünf Kernforderungen, die Wenn wir heute über dieses Wertstoffgesetz debattie- wir an ein Wertstoffgesetz haben. ren, dann müssen wir zunächst einmal gedanklich an den Ausgangspunkt der Diskussion gehen: Wo kommen wir Die zweite Kernforderung der Union lautet: Wir müs- eigentlich her? Es war Anfang der 90er-Jahre in Deutsch- sen das bewährte Prinzip der Produktverantwortung auf land. Wir hatten einen Müllnotstand und wussten nicht, diese stoffgleichen Nichtverpackungen ausdehnen. wohin mit dem Müll. Dann hat Klaus Töpfer als Um- weltminister etwas auf den Weg gebracht, was zu einem (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- absoluten Erfolgsmodell wurde. Er hat die Verpackungs- NEN]: Wie denn?) verordnung und damit das Prinzip der Produktverant- Die Entsorgung wird also, wenn es nach uns geht, künf- wortung eingeführt. Diejenigen, die in Deutschland tig nicht mehr über Müllgebühren laufen, sondern beim Verpackungen an den Markt bringen, sind dafür verant- Kauf gleich mitbezahlt. Für den Bürger entsteht dadurch wortlich, diese Verpackungen hinterher zurückzuneh- kein zusätzlicher Aufwand. Es wird nicht teurer. men und möglichst wiederzuverwerten. Die Unterneh- men übernehmen also Verantwortung auch für die (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Entsorgung ihrer Produkte. Sie übernehmen damit Ver- NEN]: Da sind wir uns ja einig!) antwortung für den gesamten Lebenszyklus. Das ist eine Das Entscheidende ist aber: Die Hersteller erhalten An- marktwirtschaftliche Lösung, weil nämlich die Entsor- reize, ihre Produkte so zu gestalten, dass wenig Abfälle gungskosten Teil des Preises und des Wettbewerbs wer- entstehen und sie einfach zu recyceln sind. den. So entsteht von Anfang an ein Anreiz, Verpackun- gen möglichst zu vermeiden und Verpackungen und (Beifall bei der CDU/CSU) Produkte so zu gestalten, dass sie einfach und günstig zu Dazu soll es auch differenzierte Lizenzentgelte geben, recyceln sind. sodass sich im Preis tatsächlich widerspiegelt, ob es sich (Beifall bei der CDU/CSU) um leicht oder schwer recycelbare Produkte handelt. Was war die Wirkung? Die Verpackungsmenge ging Produktverantwortung stärken – dafür stehen wir in zurück, der Union wie keine andere Fraktion hier im Deutschen Bundestag. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sagen Sie doch mal, was Sie machen (Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- wollen!) NISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. 10160 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Thomas Gebhart (A) Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nischen Fortschritt angepasst werden. Wenn wir heute (C) NEN) die Situation, die Realität in Deutschland betrachten, dann stellen wir fest: Wir hinken hinterher. In der Tat, es Marktwirtschaft und Umweltschutz zusammenbringen – ist deutlich mehr möglich als das, was heute gesetzlich das ist unser Erfolgsrezept. Ich habe von den Grünen in verankert ist. der Vergangenheit wenig dazu gehört. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was? Sie haben doch eben Ihre Ohren NEN]: Aha!) zugehalten! Das Letzte, was Sie geleistet ha- Deswegen wollen wir, dass künftig weniger verbrannt ben, war Klaus Töpfer! Das ist 20 Jahre her!) und mehr recycelt wird. Dies spart übrigens auch CO2; Wir wollen die Produktverantwortung ausdehnen. es ist ein Beitrag zum Klimaschutz. Ambitionierte Re- Das wäre ein echter Quantensprung. Es freut mich, dass cyclingquoten in einem Wertstoffgesetz – dann wird es diese Unionsforderung immer mehr Zustimmung erhält, zu einem Fortschritt. und zwar nicht nur hier im Parlament, sondern auch au- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ßerhalb des Parlaments bei denjenigen, die es am Ende neten der SPD – Oliver Krischer [BÜND- umsetzen müssen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann?) (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich komme zu unserer fünften Kernforderung. Wir Stimmen Sie unserem Antrag zu!) beschreiben dies als Vorabmaßnahme. Es geht um Wenn es uns gelingt, dies in einem Wertstoffgesetz zu Getränkeflaschen im Handel. Wir fordern, dass es im verankern und somit die Produktverantwortung zu stär- Handel Hinweise gibt, ob es sich um Mehrweg- oder ken und auszudehnen, dann wird das Wertstoffgesetz zu Einwegflaschen handelt. einem echten Fortschritt. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NEN]: Das ist gut!) neten der SPD) Warum? Weil die Mehrwegquote in den letzten Jahren Unsere dritte Kernforderung ist die Forderung nach dramatisch gesunken ist. Sie lag im Jahr 2004 noch bei einer zentralen Stelle. Diese ist notwendig. Wir haben über 70 Prozent. Sie ist heute auf unter 50 Prozent ge- heute im System Organisationsprobleme, die gelöst wer- sunken. Die letzte Bundesregierung hat noch 2013 unter den müssen. Wir brauchen mehr Transparenz. Wir brau- Federführung des damaligen Umweltministers Altmaier chen mehr Ordnung und mehr Kontrolle des Systems, beschlossen, dass es im Handel die Pflicht zu Hinweisen (B) bessere Regeln und fairen Wettbewerb. Was wir aber geben soll, ob es sich um Mehrweg oder Einweg handelt. (D) nicht wollen, ist das, was die Grünen gerne machen wür- Dieser Vorschlag liegt seitdem im Bundesrat auf Eis. den: weniger Wettbewerb und mehr Kommunalisierung. Dies ist nicht nachvollziehbar. Das wäre ein Schritt zurück. Uns geht es darum, mehr Klarheit zu schaffen. Wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wollen den Verbraucher nicht bevormunden, aber wir Ich frage mich: Worin sollen denn die Vorteile dieses wollen mehr Klarheit beim Getränkekauf für die Ver- grünen Vorschlages liegen? Ich kann es nicht verstehen. braucherinnen und Verbraucher. Deswegen ist es uner- Wie wollen Sie Ihr System eigentlich rechtlich sauber träglich, dass der Bundesrat seine Zustimmung hierzu finanzieren? Darauf geben Sie keine vernünftige Ant- nach wie vor verweigert. Er nimmt damit auch in Kauf, wort. Ich frage mich schon – das frage ich vor allem die dass diese Mehrwegquote immer weiter in den Keller Grünen –: Wo liegt denn der umweltpolitische Mehrwert geht. einer Kommunalisierung? Gerade in diesem Punkt ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der grüne Vorschlag absolut schwach. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Deswegen fordere ich auch an dieser Stelle die Länder Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auf, diesen Vorschlag nicht weiter zu blockieren. Das NEN]: Was? – Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/ sage ich insbesondere in Richtung der Grünen und der DIE GRÜNEN]: Dafür aber zustimmungsfä- grünen Umweltminister. Blockieren Sie diesen Vor- hig in der Gesellschaft!) schlag nicht länger. Geben Sie Ihre Blockade auf. Wir setzen hingegen auf ein wettbewerblich organi- (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom siertes System. Natürlich muss die Zusammenarbeit zwi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schen den Kommunen und den Privaten verbessert wer- Wir wollen ein Wertstoffgesetz, das uns wirklich vo- den – keine Frage. Aber hierzu gibt es sehr gute Ansätze. ranbringt, das Innovationen schafft, das mehr Umwelt- (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und Ressourcenschutz schafft, ein Wertstoffgesetz, das Der Vorteil liegt in der Transparenz!) aber auch ökonomisch Sinn macht Unsere vierte Kernforderung: Wir wollen anspruchs- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- volle Recyclingquoten. Sie müssen technisch machbar NEN]: Wo ist es denn? Sie regieren hier! – sein, sie müssen ökonomisch und ökologisch sinnvoll Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sein. Es sollen dynamische Quoten sein, die an den tech- Wo ist es denn?) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10161

Dr. Thomas Gebhart (A) und einen echten Fortschritt bringt. Dafür stehen wir, rerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der na- (C) und dafür arbeiten wir. mentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung Herzlichen Dank. des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundes- regierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- scher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Ata- neten der SPD) lanta“ auf den Drucksachen 18/4769 und 18/4964 informieren: abgegebene Stimmen 586. Mit Ja haben da- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: von gestimmt 465, mit Nein haben gestimmt 72. 49 Kol- Vielen Dank. – Bevor ich dem nächsten Redner das leginnen und Kollegen haben sich enthalten. Damit ist Wort erteile, möchte ich Sie über das von den Schriftfüh- die Beschlussempfehlung angenommen.

Endgültiges Ergebnis Andrea Lindholz Abgegebene Stimmen: 582; Ingrid Fischbach Franz-Josef Holzenkamp Dr. davon Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Hendrik Hoppenstedt Wilfried Lorenz Dr. Margaret Horb Dr. Claudia Lücking-Michel ja: 461 Klaus-Peter Flosbach Bettina Hornhues Dr. Jan-Marco Luczak nein: 72 Thorsten Frei Charles M. Huber enthalten: 49 Dr. Anette Hübinger Dr. Hans-Peter Friedrich Hubert Hüppe Ja (Hof) Thomas Mahlberg Sylvia Jörrißen CDU/CSU Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Hans-Georg von der Marwitz Stephan Albani Alexander Funk Andreas Mattfeldt Katrin Albsteiger Ingo Gädechens Dr. Egon Jüttner Stephan Mayer (Altötting) Dr. Thomas Gebhart Bartholomäus Kalb Reiner Meier Hans-Werner Kammer Dr. Michael Meister Dorothee Bär Steffen Kanitz Thomas Bareiß Cemile Giousouf Alois Karl Josef Göppel Dr. Günter Baumann Bernhard Kaster (B) Ursula Groden-Kranich Volker Kauder Karsten Möring (D) (Börde) Hermann Gröhe Dr. Stefan Kaufmann Klaus-Dieter Gröhler Roderich Kiesewetter Dr. Gerd Müller Sybille Benning Michael Grosse-Brömer Dr. Carsten Müller Dr. André Berghegger Astrid Grotelüschen (Braunschweig) Markus Grübel Jürgen Klimke Stefan Müller (Erlangen) Peter Beyer Manfred Grund Dr. Monika Grütters Dr. Andreas Nick Clemens Binninger Dr. Michaela Noll Fritz Güntzler Carsten Körber Helmut Nowak Olav Gutting Hartmut Koschyk Dr. Georg Nüßlein Norbert Brackmann Julia Obermeier Klaus Brähmig Florian Hahn Michael Kretschmer Wilfried Oellers Michael Brand Jürgen Hardt Gunther Krichbaum Florian Oßner Dr. Reinhard Brandl Dr. Günter Krings Dr. Rüdiger Kruse Henning Otte Dr. Bettina Kudla Dr. Dr. Stefan Heck Dr. Roy Kühne Dr. Uwe Lagosky Ralph Brinkhaus Dr. Karl A. Lamers Dr. Martin Pätzold Cajus Caesar Andreas G. Lämmel Ulrich Petzold (Chemnitz) Dr. Norbert Lammert Dr. Alexandra Dinges-Dierig Mark Helfrich Sibylle Pfeiffer Uda Heller Ulrich Lange Jörg Hellmuth Barbara Lanzinger Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Hansjörg Durz Dr. Philipp Lengsfeld Alois Rainer Iris Eberl Dr. Andreas Lenz Dr. Jutta Eckenbach Dr. Heribert Hirte Philipp Graf Lerchenfeld Eckhardt Rehberg Dr. Bernd Fabritius Robert Hochbaum Dr. (Potsdam) Hermann Färber Alexander Hoffmann Uwe Feiler Ingbert Liebing Josef Rief Dr. Thomas Feist (Dortmund) Matthias Lietz Dr. 10162 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Johannes Röring Nina Warken Joachim Poß (C) Dr. Norbert Röttgen Iris Gleicke Erwin Rüddel Angelika Glöckner (Minden) Albert Rupprecht (Hamburg) Ulrike Gottschalck Dr. Wilhelm Priesmeier Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Anja Weisgerber Florian Pronold Dr. Wolfgang Schäuble Peter Weiß (Emmendingen) Uli Grötsch Dr. Sabine Weiss (Wesel I) Wolfgang Gunkel Dr. Simone Raatz Karl Schiewerling Martin Rabanus Karl-Georg Wellmann Rita Hagl-Kehl Norbert Schindler Stefan Rebmann Waldemar Westermayer Ulrich Hampel Gerold Reichenbach Heiko Schmelzle Dr. Carola Reimann Christian Schmidt (Fürth) Peter Wichtel Hubertus Heil (Peine) Gabriele Schmidt (Ühlingen) Annette Widmann-Mauz Gabriela Heinrich Sönke Rix Ronja Schmitt (Althengstett) Heinz Wiese (Ehingen) Dennis Rohde Elisabeth Winkelmeier- Wolfgang Hellmich Dr. Nadine Schön (St. Wendel) Becker Heidtrud Henn Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Ole Schröder Michael Roth (Heringen) Dr. Kristina Schröder Dagmar G. Wöhrl Gabriele Hiller-Ohm Susann Rüthrich (Wiesbaden) Barbara Woltmann Johann Saathoff Bernhard Schulte-Drüggelte Tobias Zech Dr. Eva Högl Annette Sawade Dr. Klaus-Peter Schulze Heinrich Zertik Matthias Ilgen Dr. Hans-Joachim Uwe Schummer Christina Jantz Schabedoth Armin Schuster (Weil am Dr. Matthias Zimmer Axel Schäfer (Bochum) Rhein) Gudrun Zollner Dr. Christina Schwarzer Marianne Schieder SPD Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. Dorothee Schlegel Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Patrick Sensburg Ingrid Arndt-Brauer Christina Kampmann Bernd Siebert Matthias Schmidt (Berlin) (Wetzlar) Gabriele Katzmarek Johannes Singhammer (Erfurt) Heinz-Joachim Barchmann Marina Kermer (Spandau) Dr. Katarina Barley Carola Stauche (B) (D) Dr. Dr. Bärbel Kofler Dr. Matthias Bartke Dr. Daniela Kolbe Sören Bartol Dr. Carsten Sieling Albert Stegemann Birgit Kömpel Bärbel Bas Norbert Spinrath Erika Steinbach Dr. Hans-Ulrich Krüger Martina Stamm-Fibich Helga Kühn-Mengel (Heidelberg) Peer Steinbrück Christian Freiherr von Stetten Willi Brase Christian Lange (Backnang) Dr. Frank-Walter Steinmeier Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. Christoph Strässer Rita Stockhofe Edelgard Bulmahn Steffen-Claudio Lemme Stephan Stracke Dr. Gabriele Lösekrug-Möller Michael Thews Max Straubinger Petra Crone Dr. Karin Thissen Matthäus Strebl Bernhard Daldrup Kirsten Lühmann Franz Thönnes Dr. Dr. Birgit Malecha-Nissen Carsten Träger Thomas Stritzl Dr. Karamba Diaby Thomas Strobl (Heilbronn) Katja Mast Dirk Vöpel Lena Strothmann Martin Dörmann Dr. Michael Stübgen Elvira Drobinski-Weiß Dr. Sabine Sütterlin-Waack Siegmund Ehrmann Susanne Mittag Andrea Wicklein Michaela Engelmeier Bettina Müller Astrid Timmermann-Fechter Dr. h. c. Detlef Müller (Chemnitz) Gülistan Yüksel Dr. Hans-Peter Uhl Petra Ernstberger Michelle Müntefering Dagmar Ziegler Dr. Volker Ullrich Dr. Rolf Mützenich Arnold Vaatz Karin Evers-Meyer Dr. Jens Zimmermann Thomas Viesehon Dr. Johannes Fechner Manfred Zöllmer Michael Vietz Dr. Fritz Felgentreu Thomas Oppermann (Kleinsaara) Christian Flisek Mahmut Özdemir (Duisburg) Sven Volmering Aydan Özoğuz Nein Christel Voßbeck-Kayser Dr. Markus Paschke SPD Ulrich Freese Christian Petry Dr. Johann Wadephul Dagmar Freitag Klaus Barthel Dr. Ute Finckh-Krämer Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10163

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Michael Groß Jutta Krellmann BÜNDNIS 90/ (C) Katrin Kunert DIE GRÜNEN Uwe Kekeritz Caren Lay Katja Keul Sylvia Kotting-Uhl Sabine Leidig Maria Klein-Schmeink René Röspel Christian Kühn (Tübingen) Ralph Lenkert Tom Koenigs Rüdiger Veit Monika Lazar Stefan Liebich Oliver Krischer Waltraud Wolff Peter Meiwald Dr. Gesine Lötzsch Stephan Kühn (Dresden) (Wolmirstedt) Lisa Paus Renate Künast Corinna Rüffer DIE LINKE Birgit Menz Markus Kurth Hans-Christian Ströbele Cornelia Möhring Jan van Aken Niema Movassat Dr. Tobias Lindner Dr. Dietmar Bartsch Norbert Müller (Potsdam) Enthalten Nicole Maisch Herbert Behrens Dr. Alexander S. Neu Karin Binder Thomas Nord SPD Özcan Mutlu Matthias W. Birkwald Harald Petzold (Havelland) (Essen) Dr. Konstantin von Notz Christine Buchholz Richard Pitterle Eva Bulling-Schröter Cem Özdemir Roland Claus BÜNDNIS 90/ Dr. Petra Sitte DIE GRÜNEN Brigitte Pothmer Dr. Diether Dehm Tabea Rößner Klaus Ernst Dr. Marieluise Beck (Bremen) Claudia Roth (Augsburg) Wolfgang Gehrcke Azize Tank (Köln) Manuel Sarrazin Nicole Gohlke Frank Tempel Dr. Franziska Brantner Elisabeth Scharfenberg Annette Groth Dr. Axel Troost Agnieszka Brugger Dr. Gerhard Schick Dr. André Hahn Alexander Ulrich Ekin Deligöz Dr. Frithjof Schmidt Heike Hänsel Kathrin Vogler Katja Dörner Kordula Schulz-Asche Dr. Rosemarie Hein Halina Wawzyniak Dr. Wolfgang Strengmann- Inge Höger Dr. Thomas Gambke Kuhn Andrej Hunko Dr. Harald Terpe Sigrid Hupach Birgit Wöllert Kai Gehring Jörn Wunderlich Katrin Göring-Eckardt Jürgen Trittin Susanna Karawanskij Anja Hajduk Dr. Julia Verlinden Kerstin Kassner Britta Haßelmann Doris Wagner Sabine Zimmermann Dr. Anton Hofreiter Beate Walter-Rosenheimer Jan Korte (Zwickau) Bärbel Höhn Dr. Valerie Wilms (B) (D)

Jetzt hat Ralph Lenkert von der Fraktion Die Linke fördern. Diese Forderungen unterstützt die Linke seit das Wort. Jahren. Es sind gute und richtige Forderungen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ralph Lenkert (DIE LINKE): Aber mit dieser Koalition ist das nicht zu schaffen. Diese Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen Koalition würde ein Wertstoffgesetz konterkarieren, wie und Kollegen! Die Grünen fordern in ihrem Antrag, dass das neue Elektrogesetz zeigt. Ich begründe das. die Bundesregierung endlich ein Wertstoffgesetz vorlegt. Erstens. Wertstoffe wie Papier und Glas werden be- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reits heute getrennt erfasst. Metalle werden vor oder NEN]: Sehr richtig! – Katja Keul [BÜND- nach der Restmüllverbrennung zurückgewonnen. Diese NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) Wertstoffe werden heute von kommunalen Entsorgern genutzt und verkauft. Damit bezahlen die kommunalen Es ist aber weder der richtige Zeitpunkt noch die richtige Entsorger teilweise die teure Restmüllbeseitigung. Koalition für diese Forderung. Die Gewinne aus diesem Geschäft mit Wertstoffen (Beifall bei der LINKEN – Oliver Krischer stiegen seit 2007 so stark, dass die durchschnittlichen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür können Müllgebühren in Deutschland seit 2007 konstant blie- wir doch nichts!) ben, trotz Tarifsteigerungen für Beschäftigte, die sehr begrüßenswert sind, höherer Betriebs- und Anlagenkos- Die Schwerpunkte sind richtig: weniger Verbrauch ten und strengerer Umweltnormen. Über 1 Milliarde von Rohstoffen und mehr Recycling für Umweltschutz, Euro Entlastung brachte dies für Sie, für mich und für die ökonomisch und ökologisch sinnvolle Abschaffung alle Gebührenzahlerinnen und Gebührenzahler pro Jahr der dualen Systeme und die Einführung einer Ressour- oder, anders gerechnet, rund 12 Euro pro Einwohner und cenverbrauchsabgabe, um unnötigen Konsum zu verhin- Jahr, und dies dank eines fehlenden Wertstoffgesetzes. dern und die Wiederverwendung von Produkten zu Diese Milliarde weckt seit Jahren Begehrlichkeiten bei 10164 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Ralph Lenkert (A) privaten Entsorgungskonzernen. 2012 wollten die Kon- Die Wertstofftonne vertagen wir, bis wir die SPD von (C) zerne über die Neufassung des Kreislaufwirtschaftsge- einer verbraucher-, kommunal- und umweltfreundlichen setzes diese Milliarde kassieren. Das konnte verhindert Lösung überzeugt haben. werden. Vielen Dank. Jetzt folgt die Kritik: Mit einem Wertstoffgesetz ma- chen wir dieses Fass, das bisher dicht war, wieder auf. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb ist es falsch, die Forderung nach einem Wert- stoffgesetz heute auf die Tagesordnung zu setzen. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – hat Michael Thews von der SPD-Fraktion das Wort. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was ist denn das für eine Logik? Sie (Beifall bei der SPD) legen nichts vor, weil die falsche Regierung regiert? – Ulli Nissen [SPD]: Heißt das, dass Michael Thews (SPD): Sie jetzt keine Anträge mehr stellen?) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Zweitens. Ja, die Verpackungsverordnung mit dem Kollegen! „Die Politik bedeutet ein starkes, langsames dualen System ist ein ineffektives Bürokratiemonster Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Au- voller Betrugsmöglichkeiten. Trotz der oder durch die genmaß zugleich.“ Dieses berühmte Zitat von Max Verpackungsverordnung explodierte die Menge an pro- Weber bestätigt sich – das hat die Diskussion eben ge- duzierten Kunststoffverpackungen in Deutschland von zeigt – gerade im Falle des Wertstoffgesetzes wieder ein- 1,5 Millionen Tonnen 1997 auf über 3 Millionen Tonnen mal. Die Geschichte des Wertstoffgesetzes reicht zuge- 2014. Die Menge von Papp- und Papierverpackungen gebenermaßen schon etwas länger zurück, aber sie ist stieg im gleichen Zeitraum von 5,2 Millionen Tonnen nicht unendlich, und sie ist, wenn es nach mir geht, auch auf 7,2 Millionen Tonnen jährlich. Betrug hat System im nicht ohne Happy End. Bereich der Verpackungsverordnung. Trotzdem erklären Umweltministerium und Koalition die dualen Systeme (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zum Erfolg. Ich frage mich, wie man das bei diesen Fak- der CDU/CSU) ten machen kann. Das geht nur, wenn man entweder eine Die Forderung der Grünen, jetzt den Entwurf eines Gehirnwäsche durchlaufen hat oder von Lobbyisten ver- Wertstoffgesetzes vorzulegen, ist verständlich. einnahmt wurde. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) NEN]: Sehr gut!) (B) (D) Sorry, liebe Grüne: Diese Koalition würde bei der Aber das ist leicht gesagt. Einführung des Wertstoffgesetzes genau das Falsche ma- chen. Sie würde eine Wertstofftonne unter der Regie der (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dualen Systeme einführen. Dann nehmen in weiteren NEN]: Ihr habt das vor einem Jahr selber ge- Bereichen Bürokratie und Betrug zu. Das wäre ein Hor- sagt!) ror für die Umwelt und die Verbraucherinnen und Ver- Die Bestrebung, ein Wertstoffgesetz zu verabschieden, braucher, die alles bezahlen müssen. Deshalb sage ich: gibt es schon seit Jahren. Umweltminister Norbert Es ist besser, kein Wertstoffgesetz einzuführen, zumal Röttgen hat sich genauso vergeblich darum bemüht wie sich die Wertstofferfassung derzeit rechnet und in der sein Nachfolger Peter Altmaier. Alle Beteiligten wissen: Praxis auch umgesetzt wird. Bei dieser Großen Koalition Es ist jetzt höchste Zeit, das Wertstoffgesetz auf den würde ein Wertstoffgesetz mehr Schaden als Nutzen ver- Weg zu bringen. ursachen. Beispiele für unverständliche Regelungen – einige (Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wurden schon genannt – gibt es viele. Die Tatsache, dass NEN]: In Nordrhein-Westfalen stehen derzeit der kaputte Drahtkleiderbügel aus dem Kleiderschrank 100 Anlagen still!) in eine andere Mülltonne gehört als der Drahtkleiderbü- Aber auch wir wollen die Koalition treiben. Lassen gel aus der Reinigung oder dass die Plastikente in eine Sie uns einen Schritt gehen. Mit Forderungen zugunsten andere Tonne gehört als der Joghurtbecher, ist weder der Wiederverwendung von Produkten und nach langen, ökologisch sinnvoll noch für die Verbraucher nachvoll- garantierten Nutzungszeiten können wir die Koalition ziehbar oder praktikabel. Deshalb brauchen wir eine treiben. Dies schont unser aller Geldbeutel und die Um- Mülltrennung, die sich nach dem Material des Gegen- welt. standes richtet und nicht nach seinem Gebrauchszweck. Der Einführung einer Ressourcenverbrauchsteuer (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der steht auch unabhängig von einem Wertstoffgesetz nichts CDU/CSU – Ulli Nissen [SPD]: Völlig richtig entgegen. so!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir brauchen die Wertstofftonne, und da sind wir uns NEN]: Nach deiner Logik würde die Koalition weitestgehend einig. ja wieder was Schlimmes daraus machen!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Diese Forderung ist wichtig; da sind wir uns einig. NEN]: Dann muss man es doch machen!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10165

Michael Thews (A) Genauso einig sind wir uns darüber, dass wir an- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) spruchsvollere Recyclingquoten brauchen und dass wir NEN]: Höre ich da einen Unterschied zur die Ressourceneffizienz steigern wollen. Einig sind wir Union heraus?) uns auch, dass die Fehlentwicklungen, die bei der Verpa- ckungsverordnung in den letzten Jahren zum Beinahe- Aber dann muss die Kommune auch Problemen bei kollaps der dualen Systeme geführt haben, beseitigt wer- der Sammlung entgegensteuern können. Sie muss Ein- den. Wir wollen mehr Transparenz und mehr Kontrolle, flussmöglichkeiten haben, und sie muss den Systembe- und die siebte Novelle, so finde ich jedenfalls, war ein treibern auch Vorgaben machen können. wichtiger Schritt in diese Richtung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU) Trotzdem ist das mit dem Wertstoffgesetz nicht so Gerade hier hat es aber in den letzten Jahren unter einfach. Das liegt wie so oft an den unterschiedlichen dem Regime der Verpackungsverordnung unzählige und teilweise auch sehr gegensätzlichen Interessen der Rechtsstreitigkeiten gegeben über Fragen wie: wer wann Beteiligten. Die private Entsorgungsindustrie braucht und unter welchen Voraussetzungen eine Abstimmungs- Planungssicherheit, um in neue Sortier- und Recycling- vereinbarung beenden oder Änderungen verlangen kann, technik investieren zu können. Die Hersteller, die die wessen Entsorgungssystem sich nun anpassen muss und Sammlung und Verwertung finanzieren sollen, wollen wer von wem eigentlich wie viel Geld bekommt. die Kosten möglichst gering halten. Die dualen Systeme wollen die aufgebauten Strukturen und ihre Geschäfts- Die Gesamtgemengelange der unterschiedlichen Inte- felder erhalten, und die Bürgerinnen und Bürger, was ressen ist in Wahrheit noch wesentlich differenzierter wollen die? Die wollen eine verständliche, ökologische, und schwieriger, als ich sie jetzt mit einigen Pinsel- einfache und kostengünstige Lösung. strichen gemalt habe; aber ich denke, es ist deutlich ge- worden, dass es hier viele berechtigte und gegenläufige Die Kommunen, die für die meisten Bürgerinnen und Interessen der Beteiligten gibt. Gerade weil wir uns in so Bürger der erste Ansprechpartner für alle Probleme und vielen wichtigen Punkten wie anspruchsvollere Recy- Fragen rund um die Müllentsorgung sind, weil diese clingquoten, Weiterentwicklung der Produktverantwor- eben als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge verstan- tung oder auch Einrichtung einer zentralen Stelle einig den wird, wollen nicht für etwas verantwortlich gemacht sind, hoffe ich sehr, dass wir es in dieser Legislatur- werden, was sie nicht beeinflussen können. periode schaffen werden, ein Wertstoffgesetz zu verab- schieden. (Ulli Nissen [SPD]: Deshalb müssen wir es (B) auch dringend so machen, dass sie zuständig (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D) sind!) Das klingt aber nicht sehr überzeugt!) Sie brauchen daher unbedingt wirksame Steuerungs- Was die Produktverantwortung angeht, müssen wir es möglichkeiten und, wenn es nach mir geht, die Samm- allerdings auch schaffen, diese zu einem ökologischen lungshoheit, die allerdings von vielen infrage gestellt Lenkungsinstrument zu entwickeln. Sie darf von den wird. Wenn die gelbe Tonne oder der gelbe Sack nicht Herstellern nicht nur als finanzielle Verantwortung ver- oder nicht rechtzeitig abgeholt werden, standen werden, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ich warte noch auf die Begründung, NEN]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!) warum ihr das Gesetz nicht vorlegt!) zumal die finanzielle Verpflichtung zwar zu guten Ein- wenn die Säcke bei der Sammlung aufplatzen und die nahmen bei den dualen Systemen führt, aber auch viel zu Gehwege verschmutzen, wenn es nicht genug Säcke gibt oft nur ein dünner Finanzfluss zum Beispiel bei den Re- oder sie zu selten abgeholt werden, dann wenden sich cyclern ankommt. Gutes Recycling braucht gute Anla- die Bürgerinnen und Bürger an die Kommune. Das ist gen, und die kosten nun einmal Geld. auch grundsätzlich in Ordnung; denn die Kommune ist für viele Dinge der unmittelbare Ansprechpartner für die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter Bürgerinnen und Bürger. Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD) Die heute schon viel beschworene Produktverantwor- tung muss wieder als Verantwortung verstanden werden, Gleichzeitig hat die Kommune so auch den unmittel- ressourcenschonende, besser verwertbare oder wieder- baren Zugang zum Bürger und kann für die Abfalltren- verwendbare Produkte herzustellen; denn eins ist klar: nung die erforderliche Akzeptanz und das erforderliche Wir wollen und wir müssen weitermachen auf unserem Wissen schaffen. Weg zu einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft. Wir (Ulli Nissen [SPD]: Völlig richtig!) können es uns auf Dauer nicht leisten, auf Sekundärroh- stoffe zu verzichten. Die Kreislaufwirtschaft muss dazu Es ist auch in Ordnung, wenn die Bürgerinnen und beitragen, die sozialen und ökologischen Folgen des zu- Bürger erwarten, dass bestimmte Leistungen, auch unter nehmenden Rohstoffabbaus einzugrenzen. unwirtschaftlichen Bedingungen, zuverlässig erbracht werden und „insolvenzfest“ sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 10166 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Michael Thews (A) Vor dem Hintergrund der Endlichkeit natürlicher Res- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C) sourcen und stetig steigender Rohstoffpreise haben wir die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch auf die keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Dauer keine andere Wahl. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in die- Die Bundesregierung hat sich in ihrer Nachhaltig- ser Debatte hat Dr. Bärbel Kofler von der SPD-Fraktion keitsstrategie das Ziel gesetzt, bis 2020 im Vergleich zu das Wort. 1994 für die gleiche Menge an Gütern nur halb so viele Rohstoffe einzusetzen. Ich meine, das kann nur mit einer (Beifall bei der SPD sowie des Abg. funktionierenden Kreislaufwirtschaft gelingen. Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU])

(Beifall bei der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Das Dr. Bärbel Kofler (SPD): sehen wir auch so!) Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Wir werden zur weiteren Vervollkommnung dieser Kollegen! Wir diskutieren heute hier ein Mandat in Li- Kreislaufwirtschaft in diesem Jahr unter anderem noch beria, das bereits seit zwölf Jahren existiert und, wie ich das Elektro- und Elektronikgerätegesetz, die Gewerbe- glaube, einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit, aber abfallverordnung und die Novelle des Batteriegesetzes auch zum Aufbau von staatlichen Institutionen in Liberia auf den Weg bringen und so auch noch andere Stoff- geleistet hat. ströme in den Fokus nehmen. Wer die Situation in diesem westafrikanischen Land Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Es ist nicht vor zwölf Jahren noch vor Augen hat, weiß: Es war ein damit getan, dass der Müll in die richtige Tonne kommt, wirklich gebeuteltes Land, das Jahre des Bürgerkriegs und es ist auch nicht damit getan, dass die Recy- hinter sich hatte, in dem 250 000 Menschen ihr Leben clingquoten erhöht werden; denn Recycling ist kein Wert verloren haben. Es gab mehr als 1 Million Vertriebene. an sich. Es muss für die Recyclate auch einen Markt ge- Das Land war tief gespalten, wirtschaftlich und sozial. ben – ein weiteres hartes Brett, das wir mit Leidenschaft Die Infrastruktur war am Boden. und Augenmaß bohren werden. Das Mandat ist von einer Vorgängermission der west- Vielen Dank für Ihr Interesse. afrikanischen Staaten übernommen worden, die sich um einen Friedensvertrag, um Friedensschluss bemüht ha- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben. Mit dem Friedensvertrag von Accra sollte über die der CDU/CSU) UN-Mission ein Beitrag dazu geleistet werden, Liberia zu stabilisieren und vor allem – das ist das Bedeutende, (B) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: das Wichtige daran – die Zivilbevölkerung in diesem (D) Vielen Dank. – Damit schließe ich die Debatte. Land zu schützen. Ich glaube, es ist wichtig, ein solches Mandat zu unterstützen. Es ist wichtig, dass wir es ge- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf meinsam unterstützen, dass wir es als Völkergemein- Drucksache 18/4648 an die in der Tagesordnung aufge- schaft unterstützen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ so beschlossen. DIE GRÜNEN sowie des Abg. Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Ursprünglich war diese Mission auf 15 000 Mann – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ausgelegt, konnte aber – auch das ist ein Indiz dafür, richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- dass in die richtige Richtung gearbeitet wurde – in den schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung ersten drei Jahren bereits um zwei Drittel reduziert wer- Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- den. Der Fokus konnte auf verschiedene Aspekte, auch kräfte an der durch die Vereinten Nationen nichtmilitärische Aspekte, ausgeweitet werden. geführten Mission UNMIL in Liberia auf Wichtig, glaube ich, ist, dass es mit diesem Mandat Grundlage der Resolution 1509 (2003) und gelungen ist, drei demokratische Wahlen in Liberia ab- nachfolgender Verlängerungsresolutionen des zusichern: im Jahr 2005, im Jahr 2011 und im Jahr 2014. Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zu- Es ist wichtig, dass diese Wahlen frei, demokratisch und letzt Resolution 2190 (2014) vom 15. Dezem- vor allem sicher für die Zivilbevölkerung abgehalten ber 2014 und der Resolution 2215 (2015) vom werden konnten. 2. April 2015 (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Drucksachen 18/4768, 18/4965 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Es geht aber um weit mehr als um den militärischen gemäß § 96 der Geschäftsordnung Sektor, auch wenn er in diesem Fall wegen der Siche- Drucksache 18/4977 rung der Zivilbevölkerung sehr wichtig ist. Es geht um den Aufbau von Institutionen in Liberia. Es geht um die Über diese Beschlussempfehlung werden wir später Arbeit, die auch von Polizisten in Liberia geleistet wird, namentlich abstimmen. um die Ausbildung von Polizeikräften auch in ländlichen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10167

Dr. Bärbel Kofler (A) Strukturen, um die Frage, wie man Dezentralisierung schaftswachstum ist eingebrochen. Besonders schlimm (C) auch im Bereich der Sicherheitskräfte voranbringen und finde ich, dass in einem Land, in dem Arbeitslosigkeit gerade auch auf dem Land Sicherheit herstellen kann. Es sowieso grassiert, noch einmal 46 Prozent der arbeiten- geht ferner – das darf nicht vergessen werden – um das den Menschen ihre Arbeit und damit ihre Existenzgrund- zivile Personal, das im Rahmen dieser UN-Mission lage verloren haben, dass das Haushaltsvolumen des Rechtsberatung leistet, Beratung beim Aufbau von Jus- Staates Liberia noch einmal um prognostizierte 25 Pro- tiz- und Sicherheitssystemen leistet, Fragen der Rechts- zent zurückgehen wird und dass natürlich auch die Er- staatlichkeit, der Menschenrechte, aber auch Fragen des nährungssituation aufgrund der Ernteausfälle und der Gesundheitswesens – ich erinnere insbesondere an HIV/ nicht möglichen Arbeit in der Landwirtschaft das Land Aids – mit bearbeitet und hier wertvolle Beiträge leistet. vor entsprechend große humanitäre Herausforderungen stellen wird. Das Mandat läuft am 30. Juni nächsten Jahres aus. Dann soll Liberia die gesamte Sicherheitsverantwortung Ich glaube, gerade in dieser Situation wird die Auf- übernehmen. Ich glaube, es war richtig, in den letzten gabe sein, jenseits von UNMIL eine Antwort auf die Wochen und Monaten die Truppenreduzierung wegen Frage zu geben: Wie können wir das staatliche Gesund- der Ebolaepidemie in Liberia auszusetzen und erst jetzt heitssystem und die Strukturen in Liberia stärken, um langsam damit fortzufahren. Nach Beschluss vom April den nächsten Krisen und Epidemien vorzubeugen, um dieses Jahres wird derzeit über 3 590 Soldaten, den Menschen eine Basis zu geben, sich gesundheitlich 1 515 Polizisten, aber auch 390 zivile Experten disku- versorgen zu können und es ihnen zu ermöglichen, Ver- tiert. Deutschland beteiligt sich seit dem Jahr 2004 vor trauen in den eigenen Staat wiederzugewinnen? Ich allem im Bereich der Polizei mit fünf Polizistinnen und glaube, es ist wichtig und richtig, dass wir über die hu- Polizisten, im Bereich des zivilen Personals mit sechs manitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes, aber genauso Expertinnen und Experten und ab Sommer dieses Jahres über die Entwicklungszusammenarbeit des BMZ ent- eben auch das erste Mal mit fünf Soldatinnen und Solda- scheidende Beiträge geleistet haben. Es ist richtig, dass ten, auch in der führenden Position des stellvertretenden wir beim Wiederaufbau im Transportsektor und bei der Befehlshabers von UNMIL. Ich glaube, es ist richtig, Infrastruktur viel geleistet haben, bei der Rehabilitierung dass wir uns daran beteiligen, und ich glaube, es ist auch von Wasserkraftwerken, aber auch dabei, im Rohstoff- wichtig, dass wir das an der Mission UNMIL insgesamt sektor Transparenz bei der Entnahme der Rohstoffe her- tun. zustellen, damit die eigenen Ressourcen auch für die Be- völkerung in Liberia genutzt werden können. Ich glaube (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aber, dass wir als Völkergemeinschaft noch einen langen der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Atem über die Mission UNMIL hinaus brauchen wer- GRÜNEN) (B) den, dass wir hier humanitär und entwicklungspolitisch (D) Die Mission hatte in den letzten Wochen und Mona- arbeiten müssen, um dem Land eine Basis für eine fried- ten schwierige Aufgaben zu übernehmen, insbesondere liche Zukunft zu geben. als es um den Umgang mit der Ebolaepidemie ging. Ich glaube, es ist ein positiver Beitrag, dass es hier neben der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem anderen Mission der UN, UNMEER, bei der es explizit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) um die Bekämpfung der Ebolaepidemie ging, gelungen ist, logistische Unterstützung zu leisten und den Trans- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: port von Hilfsgütern in entlegene Landesteile zu beglei- Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Sevim ten. Es ist aber auch nicht zu unterschätzen, dass es ge- Dağdelen von der Fraktion Die Linke das Wort. lungen ist, einen Beitrag zur gesundheitlichen Aufklärung der Bevölkerung in Liberia, zum Beispiel (Beifall bei der LINKEN) über einen missionseigenen Radiosender, zu leisten und Erkenntnisse über Krisen, Ursachen und Vermeidungs- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): strategien im Zusammenhang mit der Ausbreitung von Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- Ebola zu sammeln und zu verbreiten. raten heute hier abschließend über diesen Bundes- wehreinsatz. Einzig meine Fraktion, die Linksfraktion (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des im Deutschen Bundestag, war dagegen, keine Öffent- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lichkeit bei diesem Bundeswehreinsatz herzustellen. Wie Die Mission soll zu einem für Liberia sehr schwieri- richtig es ist, Bundeswehreinsätze immer im Lichte der gen Zeitpunkt enden. Ich glaube, es ist wichtig, sich über Öffentlichkeit zu beraten – Sie werden sie dann leider die Mission hinaus Gedanken zu machen, wie wir Libe- mit Ihrer Mehrheit beschließen –, hat noch einmal eine ria weiter begleiten und unterstützen können. Das Land Anhörung der Linksfraktion im Deutschen Bundestag hat, wie gesagt, Jahrzehnte des Bürgerkriegs hinter sich, am Montag ergeben, in der der ehemalige Parlamentari- der Destabilisierung, auch des Vertrauensverlustes der sche Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidi- Bevölkerung im Hinblick auf alle staatlichen Institutio- gung, Herr Willy Wimmer, Mitglied der CDU, als Sach- nen, auf ihren Staat als Ganzes. Liberia hat im letzten verständiger anwesend war und unterstrichen hat: Man Jahr mit fast 4 700 Toten den größten Anteil aller west- muss alles gegen eine Aushöhlung des Parlamentsbetei- afrikanischen Länder an den Toten der Ebolaepidemie zu ligungsgesetzes durch die sogenannte Parlamentskom- verkraften gehabt. Auch das hatte natürlich ökonomi- mission tun, die den Parlamentarierinnen und Parlamen- sche und humanitäre Folgen für das Land. Das Wirt- tariern noch nicht einmal Einsicht in ihre Unterlagen 10168 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Sevim Dağdelen (A) gewährt. Es lässt Schlimmes vermuten, wenn man den satz birgt also ein Konfliktpotenzial. Deshalb lehnt die (C) Parlamentariern noch nicht einmal Zugang zu den Unter- Linke diesen Einsatz ab. lagen dieser Kommission gewährt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Rolf Mützenich Wir sind der Auffassung, dass man tatsächlich huma- [SPD]: Sie hätten doch in der Kommission nitäre, internationale Verantwortung übernehmen sollte. mitmachen können! Sie waren doch eingela- Schicken wir deshalb Ärzte statt Soldaten nach Liberia! den!) Bauen wir dort ein Gesundheitssystem gegen Ebola auf! Der Auslandseinsatz der Bundeswehr in Liberia wirft Das wäre eine wirklich humanitäre Intervention, die ih- viele Fragen auf. Zunächst einmal drängt sich der Ein- rem Namen gerecht wird. druck auf, dass die Bundesregierung wieder einmal die (Beifall bei der LINKEN) falschen Prioritäten setzt. Es ist in diesem Zusammen- hang bezeichnend, dass sie den Einsatz auch mit dem Kampf gegen Ebola begründet. Während die kleine Insel Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Kuba Ärzte nach Westafrika schickte, schickt Deutsch- Vielen Dank. – Als nächster Redner in der Debatte hat land Bundeswehrsoldaten. Roderich Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Hier möchte ich die Arbeit der vielen Helferinnen und Helfer gar nicht schmälern. Aber gerade jetzt, wo neue Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Ebolafälle in den Nachbarländern Liberias auftauchen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! brauchen wir nicht nur eine neue Strategie der Weltge- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Dağdelen, sundheitsorganisation, sondern ein ziviles, humanitäres glauben Sie ja nicht, dass mir Ihre Argumente die Hilfskorps. Es ist doch beschämend, dass eine kleine In- Stimme verschlagen haben. sel wie Kuba mehr Ärzte nach Westafrika geschickt hat als die großen NATO-Staaten zusammen. (Heiterkeit bei der SPD – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Was höre ich denn da?) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!) Dafür hätte es anderer Kaliber bedurft. Zweitens fällt auf, dass Sie die Afrika-Präsenz der Ich kann Ihnen nur sagen: Sie grenzen sich in vielen (B) Bundeswehr immer weiter ausdehnen. Wohin soll das ei- Punkten aus. Hätten Sie doch bei der Parlamentskom- (D) gentlich führen? Ist dies der grundgesetzliche Auftrag mission mitgemacht der Bundeswehr? Ich finde es jedenfalls bezeichnend, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dass Sie unter internationaler Verantwortung zuvörderst die weltweite Entsendung von Bundeswehrsoldaten ver- und hätten sich beteiligt bei der Erörterung der Fragen stehen. Die Linke lehnt das ab. der Verbesserung der Parlamentsrechte, der Stärkung der Parlamentsrechte und der Erhöhung der Verlässlichkeit (Beifall bei der LINKEN) unseres internationalen Engagements. – Fehlanzeige! In diesem Zusammenhang muss man auch sehen, dass (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie rechtfer- bei diesem Einsatz ein nicht zu unterschätzendes Kon- tigen, dass Parlamentarier keinen Zugang zu fliktpotenzial vorhanden ist. 2011 gab es eine militäri- Dokumenten haben! Was ist denn das für ein sche Beteiligung von UNMIL aufseiten Frankreichs an Parlamentsverständnis? Was ist denn das für der Côte d’Ivoire an UNOCI. Der Regime-Change an ein Demokratieverständnis? Einfach eine der Côte d’Ivoire, im Nachbarland Liberias, wurde vor- Schande!) angetrieben. Das war schon damals ein Tabubruch. Im Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute, in Oktober dieses Jahres stehen dort fragwürdige Wahlen diesem Monat und im nächsten Monat, feiern wir an, für die noch nicht einmal ein Viertel der Bevölkerung 70 Jahre Vereinte Nationen. Wir werden dazu im Bun- als Wähler registriert ist. Viele Anhänger und Kämpfer destag noch gesondert debattieren. In den letzten 20 Jah- des ehemaligen Präsidenten sind nach Liberia geflohen ren haben sich die Vereinten Nationen in außergewöhnli- und dort von UNMIL teilweise verfolgt worden oder chem Maße in der Krisenprävention und in der wurden wegen ihrer Absicht, an die Côte d’Ivoire zu Krisennachsorge engagiert. kommen und dort zu kämpfen, erst gar nicht über die Grenze gelassen, weil UNMIL die Grenze dichtgemacht (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Eine hat. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das deutsche Schande, was sich so alles Parlamentarier Führungspersonal, das auch in anderen Ländern wie nennt!) Mali, Nigeria und in der Zentralafrikanischen Republik In Liberia haben sich die Vereinten Nationen in einer der eng mit Frankreich zusammenarbeitet, wesentlich an der größten Missionen in ihrer Geschichte von 2003 an en- Entscheidung mitwirken wird, ob Kampfhubschrauber gagiert. von UNMIL wieder UNOCI an der Côte d’Ivoire unter- stellt werden, um dort die Wiederwahl des dortigen Prä- Wir müssen einmal schauen, wo Liberia herkommt: sidenten des Westens, Ouattara, abzusichern. Dieser Ein- Seit Ende der 80er-Jahre bis 2003 hat eine Viertelmillion Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10169

Roderich Kiesewetter (A) Menschen in verheerenden Bürgerkriegen ihr Leben ver- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (C) loren. Mit der UN-Mission seit 2003 sind drei wesentli- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) che Fortschritte für Liberia erreicht und damit auch Leuchttürme für die Entwicklung anderer afrikanischer Ich möchte abschließend noch drei Punkte anspre- Staaten gesetzt worden. chen, die belegen, warum unser Engagement so wichtig ist: Erstens. Erstmals in der Geschichte der Vereinten Na- tionen ist es der UNO gelungen, einen amtierenden Erstens. Deutschland hat Verantwortung gezeigt und Staatspräsidenten, einen Kriegsverbrecher, den Diktator hat gezeigt, dass es verlässlich ist. Unsere Kanzlerin hat Taylor, vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag bei der Sicherheitskonferenz in München gesagt: Wenn zu bringen. Das hatte nichts mit militärischem Engage- jemand gebraucht wird, dann sind wir da. Wir dienen ment zu tun, sondern mit Rechtsstaatlichkeit, Kollegen uns nicht an, aber wenn Not am Mann, Not an der Frau von der Linken. ist, steht Deutschland der internationalen Gemeinschaft verlässlich zur Seite. (Zuruf von der LINKEN: Der Bush fehlt noch! – Heiterkeit bei der LINKEN) (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Oh weia!) Zweitens. Liberia ist ein Land, das wie wenige andere Dem ist nichts hinzuzufügen. Transparenz auf dem Rohstoffsektor hergestellt hat. Die- ses Land ist zertifiziert und damit auch Leuchtturm für Zweitens. Wir Deutschen müssen sehr darauf achten, andere afrikanische Staaten. Das hat nichts mit Militari- dass wir in Afrika ein europäisches Gesicht bekommen. sierung zu tun. Es darf nicht eine Interessenaufteilung geben: Frank- reich kümmert sich um Afrika, und wir kümmern uns (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist um Osteuropa und die Ukraine. Wir brauchen eine euro- überholt! GPS gibt es jetzt!) päische Präsenz, Drittens ist Liberia ein Land, das über den Pariser (Zuruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]) Prozess erfolgreich eine Entschuldung zu Ende gebracht hat. Das ist doch das, was wir in der Entwicklungszu- und unser Ziel einer europäischen Verteidigungsunion sammenarbeit, in der Außenpolitik anstreben sollten, kann nicht besser dargestellt werden als zum Beispiel nämlich dass diese Staaten von selber wieder auf die dadurch, dass wir uns beim Aufbau medizinischer Fä- Füße kommen. higkeiten in Afrika engagieren. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) neten der SPD) (D) Die wesentliche Leistung der Vereinten Nationen ist Drittens. Wir werden Führungsverantwortung über- es, sich für Demokratie eingesetzt zu haben, für nehmen, indem wir den stellvertretenden Missionsleiter Rechtsstaatlichkeit, für Reformen im Sicherheitssektor stellen. und – das ist das, was mir persönlich sehr am Herzen liegt – eben auch für Perspektiven und marktgerechte Wir hätten diese sehr kleine Mission gerne im verein- Möglichkeiten, sodass sich die Menschen in der Wirt- fachten Verfahren durch den Bundestag gebracht. Aller- schaft organisieren können. dings ist es Sache des Bundestages selbst, darüber zu entscheiden, was er im vereinfachten Verfahren be- Seit 2003 ist diese Mission, die einstmals fast schließt und was er der Regierung überlässt. 20 000 Soldatinnen und Soldaten sowie Polizistinnen und Polizisten umfasst hat, auf gerade einmal Entscheidend ist – gleich ob wir es im vereinfachten 5 000 reduziert worden. Verfahren machen oder nicht –, dass wir als Bundestag hinter diesem Einsatz stehen und mit ganzer Kraft Ver- (Zuruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]) antwortung zeigen und den Soldatinnen und Soldaten in Wir steigen in eine Mission in einem geschundenen der Region und allen Helfern sagen: Wir stehen an eurer Land ein, um zu zeigen, dass wir bereit sind, Verantwor- Seite. Europa unterstützt diesen Einsatz. Wir wollen tung zu übernehmen. Wir haben das, glaube ich, mit ei- Westafrika stabilisieren, um den Staaten, die im nördli- ner sehr guten Vorleistung hinbekommen. Deutschland chen Afrika vor dem Zerfall stehen, zu zeigen, dass wir hat dank des Engagements unseres Außenministers und in der Region nachhaltig präsent sind. Das machen wir unserer Verteidigungsministerin die Ebolaseuche massiv mit dem Einsatz in Liberia. bekämpft: nicht nur mit 200 Millionen Euro Haushalts- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. mitteln – sie waren dort richtig eingesetzt –, sondern auch mit Flügen der deutschen Luftwaffe, auf denen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 700 Tonnen Hilfsgüter transportiert wurden. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mein Dank gilt den Bundeswehrsoldaten vor Ort, den Helferinnen und Helfern und insbesondere den Helferin- nen und Helfern des Deutschen Roten Kreuzes, die jetzt Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: den Militäreinsatz in eine zivile Mission zur Bekämp- Vielen Dank. – Damit hat jetzt Agnieszka Brugger fung von Ebola überführt haben. von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. 10170 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tik mehr Einsatz für die Vereinten Nationen und für ihre (C) NEN): Bemühungen, weltweit für Frieden und Sicherheit zu Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den sorgen. letzten 25 Jahren haben die Menschen in Liberia viel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Leid ertragen müssen. Aktuell leiden sie immer noch sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) unter dem Ausbruch der Ebolakrise. Aber in der Vergan- genheit gab es auch zwei blutige Bürgerkriege. Einer da- Für die VN-Friedensmission heißt das ganz konkret, von war einer der schlimmsten auf dem afrikanischen dass man vor allem die zivile Komponente stärkt und sie Kontinent. schneller verfügbar macht. Es heißt aber auch, dass man in solche Missionen mehr Polizeipersonal entsendet. Es 2003 hat die Weltgemeinschaft, haben sich die Ver- geht auch um den großen Bedarf an militärischen Fähig- einten Nationen dazu entschlossen, sich dort für mehr keiten, gerade in den Bereichen Logistik, Transport und Frieden, Sicherheit und Stabilität zu engagieren und eine Aufklärung. Friedensmission der Vereinten Nationen auf den Weg zu bringen, UNMIL. Am Anfang hatte die Mission die Auf- Sie, Frau Ministerin von der Leyen, waren letztes Jahr gabe, den Waffenstillstand abzusichern, und sie hat auch in New York bei den Vereinten Nationen. Sie haben dort Staatsaufgaben in dem bürgerkriegszerrütteten Land viel versprochen; aber bis auf dieses richtige Mandat übernommen. UNMIL ist seitdem sehr wenig passiert. Wir als Obleute des Verteidigungsausschusses waren gemeinsam in New 2003 waren 15 000 Männer und Frauen im Rahmen York bei den Vereinten Nationen. Da wurde uns wirklich von UNMIL eingesetzt. Heute sind es noch 6 000 Men- noch einmal aufgezeigt, wie groß der Bedarf ist, damit schen. Dazu gehört die einzige weibliche VN-Polizeiein- die Vereinten Nationen ihre Aufgaben in den Krisenre- heit. Ich finde, wir brauchen mehr davon, weil es gerade gionen dieser Welt erfüllen können. Liebe Kolleginnen für Frauen in Krisenregionen wichtig ist, auf weibliche und Kollegen von der Koalition, statt jetzt die Zeit Sicherheitskräfte als Ansprechpartner zu treffen. zurückzudrehen und die Bundeswehr nach einer Logik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Kalten Krieges aufzustellen und mehr Panzer zu be- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und schaffen, sollten wir gemeinsam dafür sorgen, dass die der SPD) Bundeswehr VN-fähiger wird. In den letzten Jahren haben mehrfach Wahlen stattgefun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den. In Liberia wurde die erste Präsidentin Afrikas ge- Meine Damen und Herren, es ist leider nicht immer wählt; sie ist inzwischen auch Friedensnobelpreisträge- wie bei UNMIL in Liberia. Nicht alle VN-Friedenmis- (B) rin. Auf all diese Erfolge sollte man zurückschauen. sionen sind in Bürgerkriegsstaaten Erfolgsgeschichten. (D) Die aktuellen Aufgaben von UNMIL sind etwas an- Das ist nicht in erster Linie ein Versagen der Vereinten ders. Es geht um den Schutz der Zivilbevölkerung, um Nationen, sondern es hat sehr oft mit dem zu tun, was die Sicherung von humanitären Hilfsleistungen, um die die Mitgliedstaaten tun und vor allem auch damit, was Reform des Sicherheits- und Justizsektors – das ist nach sie nicht tun. Wir müssen schauen, dass die Vereinten wie vor eine sehr schwierige Aufgabe – oder eben auch Nationen ihrem Auftrag gerecht werden können. um die Sicherung der Menschenrechte. Ich finde, die Deutschland ist kein kleiner und unbedeutender Mit- zahlenmäßige Reduktion dieser Mission, aber auch die gliedstaat, gerade wenn es um mehr Personal für VN- Veränderung des Auftrags zeigen deutlich, dass es sich Friedensmissionen geht. Deutschland kann und Deutsch- hier um eine erfolgreiche Mission handelt. Es wird aber land sollte hier mehr tun. auch klar: Der Weg ist oft lang, und er ist auch noch Vielen Dank. nicht ganz zu Ende gegangen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit dem Mandat, das die Bundesregierung heute hier sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und vorlegt, sollen deutsche Soldatinnen und Soldaten ent- der SPD) sandt werden, um die Führung der Mission zu unterstüt- zen. Deutschland soll sogar den stellvertretenden Leiter Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: stellen. Das mag zahlenmäßig vielleicht ein geringer Vielen Dank. – Als letzter Redner in der Debatte hat Beitrag sein. Er ist aber richtig und ein sehr wertvoller Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion das Beitrag, weil er großen Einfluss auf die Ausgestaltung Wort. dieser Mission bietet. Ich wünsche den Soldatinnen und Soldaten, die in diesen Einsatz gehen werden, viel Erfolg (Beifall bei der CDU/CSU) bei ihren wichtigen Aufgaben. Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- der SPD) gen! Ich finde es gut, dass wir heute hier über Liberia sprechen. Über den Anlass kann man sich aber streiten. Meine Damen und Herren, wir debattieren schon seit Wir reden hier über ein Mandat, bei dem es um ein bis längerem die neue deutsche Verantwortung in der Au- maximal drei Soldaten in einer 6 000 Mann starken VN- ßen- und Sicherheitspolitik. Für uns Grüne bedeutet Mission geht. Eigentlich enthält unser Parlamentsbeteili- mehr Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspoli- gungsgesetz für genau solche Mandate eine Regel, die es Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10171

Dr. Reinhard Brandl (A) ermöglicht, dass man im vereinfachen Verfahren ent- die Bevölkerung in Liberia geleistet. Kein anderes Land (C) scheidet. war so stark von Ebola betroffen wie Liberia; es gab dort über 4 000 Tote. Wir alle erinnern uns noch an den dra- Die Linke hat diese Debatte gewollt; sie hat sie be- matischen Hilferuf der Präsidentin Anfang September an kommen. Aber, Frau Dağdelen, ich finde es bezeich- die Bundesrepublik Deutschland. Die deutsche Hilfe und nend, dass Sie in Ihrem Beitrag kein einziges stichhalti- die internationale Hilfe kamen bei Ebola zu spät. Aber ges Argument gegen eine Beteiligung gebracht haben als sie kam, war sie wirkungsvoll. Liberia ist seit dem (Beifall bei der CDU/CSU – Sevim Dağdelen 9. Mai nun ebolafrei. Die Bundeswehr hat von Okto- [DIE LINKE]: Ich kann sie Ihnen noch einmal ber 2014 bis März 2015 345 Hilfsflüge in die Region zusenden!) durchgeführt. Sie hat über 1 000 Tonnen Hilfsmaterial an Liberia und seine Nachbarländer geliefert. und trotzdem dagegen stimmen. Bundesministerin von der Leyen hat vor kurzem die (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wer zuhören freiwilligen Helfer, darunter auch viele Reservisten und kann, ist klar im Vorteil, Herr Brandl!) zivile Mitarbeiter der Bundeswehr, im Ministerium emp- Ich glaube, irgendwann nehmen Ihre Wähler Ihnen das fangen und sie für ihren Einsatz geehrt. Auch der Son- nicht mehr ab. Aber, meine Damen und Herren, wir derbeauftragte der Bundesregierung Lindner hat in sei- wollten über Liberia und nicht über die Linke reden. ner Stellungnahme deutlich gemacht, wie wichtig die zivil-militärische Zusammenarbeit war und dass sie gut Die Mission UNMIL gilt als eine der erfolgreichsten funktioniert hat. Missionen der VN-Geschichte. 2003 war das Land nach 14 Jahren Bürgerkrieg am Boden. Dank UNMIL ist es Liberia braucht unsere Hilfe; denn Ebola war für die gelungen, dass es in den letzten Jahren wieder einiger- Entwicklung Liberias ein Rückschlag. Die beiden maßen auf die Füße gekommen ist. UNMIL war des- Bundesminister Gröhe und Müller haben mit ihrem Be- wegen so erfolgreich, weil die Mission Elemente such Liberias vor einigen Wochen ein wichtiges Zeichen verschiedener Art in der Zusammenarbeit der internatio- gesetzt. Wir sollten heute mit unserer Zustimmung zu nalen Hilfe verknüpft hat. Es geht um den Schutz der UNMIL ein weiteres Zeichen setzen. Ich bitte Sie daher Zivilbevölkerung, den Aufbau von Infrastruktur, die um Ihre Zustimmung. Durchführung demokratischer Wahlen, humanitäre Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit, Versöhnungspro- zess. UNMIL hat alles kombiniert. Der deutsche Beitrag (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lag bisher in der Entwicklungszusammenarbeit. An der Mission selbst waren wir mit bis zu fünf Polizisten bis- (B) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (D) her nur wenig beteiligt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Der Einsatz Schluss dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache. endet nächstes Jahr!) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- Wir wurden jetzt gefragt, ob wir einen deutschen Ge- gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung neral als stellvertretenden Befehlshaber der UNMIL zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der überstellen sollten. Natürlich sollten wir das machen. durch die Vereinten Nationen geführten Mission UNMIL Wir zeigen damit zum einen unsere Verbundenheit zu in Liberia. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- den Vereinten Nationen, zu den Friedensmissionen und empfehlung auf Drucksache 18/4965, den Antrag der zu den Stabilisierungsmissionen der Vereinten Nationen. Bundesregierung auf Drucksache 18/4768 anzunehmen. Wir zeigen damit zum anderen auch, dass wir bereit Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na- sind, bei den Missionen in Afrika Verantwortung und mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift- Führung zu übernehmen. führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind (Beifall bei der CDU/CSU – Sevim Dağdelen alle Plätze an den Urnen durch die Schriftführerinnen [DIE LINKE]: Auweia! Das war schon ein- und Schriftführer besetzt? – Das ist der Fall. Dann er- mal! Das ging aber ganz schön schief!) öffne ich die Abstimmung. Meine Damen und Herren, UNMIL kommt in eine Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Mitglied des kritische Phase. Es steht der Übergang der Sicherheits- Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgege- verantwortung auf die liberianischen Behörden bevor. ben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Ab- Wenn dieser wichtige Meilenstein gelingt, dann ist das stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift- Land Liberia auch weiterhin auf einem guten Weg in führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis Richtung nachhaltiger Frieden und nachhaltige Stabili- der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) tät. Wir sollten den Beitrag, den wir mit unserem einen Soldaten leisten, nicht überhöhen. Es ist zwar ein wichti- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: ger, ein symbolischer Beitrag, aber es ist nur ein kleiner a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Beitrag in einem großen internationalen Gemein- richts des Ausschusses für Menschenrechte und schaftsprojekt. Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) Die Bundeswehr hat aber in den letzten Monaten ei- nen sehr viel greifbareren Beitrag für die Menschen, für 1) Ergebnis Seite 10173 C 10172 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) – zu dem Antrag der Abgeordneten Heike die allermeisten internationalen Menschenrechtsabkom- (C) Hänsel, Michael Leutert, Wolfgang Gehrcke, men unterschrieben und ratifiziert. Dennoch sind Men- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE schenrechtsverletzungen in mehreren Bundesstaaten an LINKE der Tagesordnung. In den Bundesstaaten Michoacán und Guerrero vergeht kaum ein Tag ohne gewalttätige Aus- Menschenrechte in Mexiko schützen, Ver- einandersetzung. Die jeweiligen Gegner sind heterogen, handlungen zum Sicherheitsabkommen die Lage ist unübersichtlich. Die Waffengewalt spielt aussetzen sich innerhalb des organisierten Verbrechens ab oder – zu dem Antrag der Abgeordneten Tom zwischen Polizei und Banden oder zwischen selbst- Koenigs, Uwe Kekeritz, Claudia Roth (Augs- ernannten Bürgerwehren und Banden. Die Konflikte gehen burg), weiterer Abgeordneter und der Frak- also längst über einen Drogen- oder Kartellkrieg hinaus. tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es gibt viele Menschenrechtsverletzungen in Mexiko: Iguala ist kein Einzelfall – Zur Menschen- Gewalt an Frauen, Feminizide, also Morde an Frauen, rechtslage in Mexiko Kinderarbeit, Menschenhandel und Diskriminierung von Drucksachen 18/3548, 18/3552, 18/3952 Minderheiten. Ein Teil des Problems sind die Sicher- heitsbehörden. Menschenrechtsorganisationen berichten b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- von Übergriffen durch Polizei und Militär, von Willkür, richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu vom Verschwindenlassen und von Folter. Die Täter ge- dem Antrag der Abgeordneten Hans-Christian hen in der Regel straffrei aus. Die Justiz ignoriert Straf- Ströbele, Irene Mihalic, Uwe Kekeritz, weiterer taten ebenso wie schwere Menschenrechtsverletzungen. Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Amnesty International beschreibt im Amnesty Report 2015 über Mexiko, dass dadurch das Klima der Straflo- Sicherheitsabkommen brauchen Standards sigkeit weiter verstärkt und das Vertrauen in das Rechts- Drucksachen 18/3553, 18/3933 system geschwächt sei. Die Folge sind Selbstbewaff- nung und Selbstjustiz durch Bürgerwehren, weil sich die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Menschen nicht mehr oder nicht genügend durch Staat, die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu Justiz und Polizei geschützt fühlen. Wenn solche Bürger- Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so wehren wiederum Drogenkartelle oder -banden unter- beschlossen. stützen, dann ist der Teufelskreis komplett. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat (B) Mexiko selbst will bis 2016 endlich die Strafprozess- (D) Gabriela Heinrich von der SPD-Fraktion das Wort. rechtsreform aus dem Jahr 2008 umsetzen. Diese (Beifall bei der SPD) Reform modernisiert das mexikanische Justizwesen und soll die Rechte der Angeklagten stärken. Zum Beispiel Gabriela Heinrich (SPD): soll endlich die Unschuldsvermutung gelten, und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und erzwungene Geständnisse sollen verboten werden. Wei- Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Noch vor ei- terhin sollen die Maßnahmen im Kampf gegen die orga- nem Jahr hätten wohl die wenigsten Menschen in Europa nisierte Kriminalität, gegen Drogenkartelle und Men- Mexiko genannt, wenn man sie nach den Krisen auf dem schenhändler verschärft werden. Globus gefragt hätte. Wenn sie überhaupt wahrgenom- Deutschland unterstützt Mexiko in der Entwicklungs- men wurden, bezeichnete man die Konflikte in Mexiko zusammenarbeit bisher vor allem im Bereich von Um- als Kartellkriege, Bandenkriege oder Drogenkriege. weltprojekten. In Ihren Anträgen fordern Sie völlig zu Seit den Ereignissen in Iguala hat sich das grundle- Recht, dass Deutschland die mexikanische Zivilgesell- gend geändert. Die 43 verschwundenen Studenten haben schaft stärken soll. Aus dem Entwicklungsministerium die Menschenrechtslage in Mexiko ins Bewusstsein der habe ich die Information erhalten, dass die Entwick- europäischen Öffentlichkeit gerufen. Seitdem lesen und lungszusammenarbeit demnächst neben dem Umwelt- hören wir mehr über dieses Land, leider meist nichts Gu- schwerpunkt neue Wege gehen soll. Anfang Juni werden tes. Zum Beispiel berichtete gestern die Süddeutsche die deutsch-mexikanischen Regierungsverhandlungen Zeitung online, dass erneut Menschen verschwunden stattfinden. Geplant ist ein gemeinsam finanzierter sind, wieder in der Provinz Guerrero, diesmal im Ort Fonds, der unter anderem Reformen im Bereich der Chilapa. Die Anzahl der verschwundenen Menschen Rechtsstaatlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit finan- scheint noch nicht klar zu sein. Die Bewohner hätten von zieren soll. Ein weiterer Fonds ist zur Förderung der me- 30 Menschen gesprochen, die örtliche Menschenrechts- xikanischen Zivilgesellschaft vorgesehen. kommission von 13. Verschwunden seien die Personen, Das von Ihnen kritisierte Abkommen zielt darauf ab, nachdem eine Bürgerwehr den Ort besetzt hatte. die organisierte Kriminalität zu bekämpfen und zu ver- Fakt ist: Viel zu viele Menschen verschwinden in hindern. Die Minderung schwerster Straftaten, der Mexiko. Regierungschef und Präsident Enrique Peña Rauschgift- und Schleuserkriminalität, des Terrorismus Nieto bekennt sich zwar ebenso wie sein Vorgänger und des Menschenhandels sind die Unterziele. Die Poli- Calderón zu den Menschenrechten. Mexiko ist ein ver- zei erhält dadurch keine weiteren Befugnisse, aber lässlicher Partner in den Vereinten Nationen. Mexiko hat Deutschland kann helfen, die Sicherheitsbehörden bes- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10173

Gabriela Heinrich (A) ser auszubilden. Das wiederum kann helfen, Rechtsstaat- abkommen brauchen Standards“. Das Parlament muss (C) lichkeit zu fördern. über die Maßnahmen, die Fortschritte oder mögliche Misserfolge informiert werden. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Für wen? Für welche Regierung?) Sie schießen jedoch über das Ziel hinaus. Sie fordern halbjährliche Berichte der Bundesregierung an den Bun- Die Zusammenarbeit soll über die Generalstaatsan- destag. Die Berichte sollen Auftrag, Zweck, Gebiet, waltschaft erfolgen. Auch die Internationale Kommis- rechtliche Grundlagen, Mitarbeiterzahl, Kosten und sion gegen Straflosigkeit in Guatemala arbeitet mit der Dauer enthalten. Wenn wir zu allen 24 Sicherheitsab- Generalstaatsanwaltschaft zusammen. Aus Guatemala kommen und zu den 12 derzeit verhandelten Abkommen wissen wir, dass die Erfolge im Kampf gegen die organi- halbjährlich Berichte bekommen sollen, dann sind das sierte Kriminalität auch von den dort handelnden Perso- 72 Berichte im Jahr. Ich halte dieses Ansinnen für über- nen abhängig sind. zogen und wenig zielführend. Ja, in Mexiko sind Korruption und Willkür ein Pro- Wir werden die drei Anträge ablehnen. blem. Aber sollten wir die Zusammenarbeit deshalb ein- stellen? In der Entwicklungszusammenarbeit müssen wir Vielen Dank. uns diese Frage häufig stellen. Versuchen wir, ein Land (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) beim Aufbau von mehr Rechtsstaatlichkeit zu unterstüt- zen, oder kapitulieren wir aufgrund der zugegebenerma- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ßen sehr schwierigen Situation? Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, be- Beide Anträge der Opposition fordern durchaus vor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, möchte Wichtiges und Richtiges, zum Beispiel, die Zivilgesell- ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh- schaft bzw. Menschenrechtsverteidiger zu unterstützen. rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- Beide Anträge fordern aber auch, das Sicherheitsabkom- mung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen men auszusetzen, Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung mit dem Titel „Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE kräfte an der durch die Vereinten Nationen geführten GRÜNEN]: Genau!) Mission UNMIL in Liberia auf Grundlage der Resolu- ohne Mexiko eine konkrete Alternative zu bieten. tion 1509 (2003)“, Drucksachen 18/4768 und 18/4965, bekannt geben: Abgegeben wurden 584 Stimmen. Mit Ja Ich bin völlig einverstanden mit Ihrer Forderung nach haben gestimmt 522, mit Nein haben gestimmt 59. (B) deutlich mehr Fortschrittskontrolle und weitaus größerer 3 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten. Damit (D) Transparenz in Ihrem Antrag mit dem Titel „Sicherheits- ist die Beschlussempfehlung angenommen.

Endgültiges Ergebnis Steffen Bilger Enak Ferlemann Monika Grütters Abgegebene Stimmen: 584; Clemens Binninger Ingrid Fischbach Dr. Herlind Gundelach davon Peter Bleser Dirk Fischer (Hamburg) Fritz Güntzler Wolfgang Bosbach Dr. Maria Flachsbarth Olav Gutting ja: 522 Norbert Brackmann Klaus-Peter Flosbach Christian Haase nein: 59 Klaus Brähmig Thorsten Frei Florian Hahn enthalten: 3 Michael Brand Dr. Astrid Freudenstein Jürgen Hardt Dr. Reinhard Brandl Dr. Hans-Peter Friedrich Gerda Hasselfeldt Ja Helmut Brandt (Hof) Matthias Hauer Dr. Ralf Brauksiepe Michael Frieser Mark Hauptmann CDU/CSU Dr. Helge Braun Dr. Michael Fuchs Dr. Stefan Heck Heike Brehmer Hans-Joachim Fuchtel Dr. Matthias Heider Stephan Albani Ralph Brinkhaus Alexander Funk Helmut Heiderich Katrin Albsteiger Cajus Caesar Ingo Gädechens Mechthild Heil Peter Altmaier Gitta Connemann Dr. Thomas Gebhart Frank Heinrich (Chemnitz) Artur Auernhammer Alexandra Dinges-Dierig Alois Gerig Mark Helfrich Dorothee Bär Alexander Dobrindt Eberhard Gienger Uda Heller Thomas Bareiß Michael Donth Cemile Giousouf Jörg Hellmuth Norbert Barthle Thomas Dörflinger Josef Göppel Rudolf Henke Günter Baumann Marie-Luise Dött Reinhard Grindel Michael Hennrich Maik Beermann Hansjörg Durz Ursula Groden-Kranich Ansgar Heveling Manfred Behrens (Börde) Iris Eberl Hermann Gröhe Christian Hirte Veronika Bellmann Jutta Eckenbach Klaus-Dieter Gröhler Dr. Heribert Hirte Sybille Benning Dr. Bernd Fabritius Michael Grosse-Brömer Robert Hochbaum Dr. André Berghegger Hermann Färber Astrid Grotelüschen Alexander Hoffmann Ute Bertram Uwe Feiler Markus Grübel Thorsten Hoffmann Peter Beyer Dr. Thomas Feist Manfred Grund (Dortmund) 10174 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Karl Holmeier Andreas Mattfeldt Detlef Seif SPD (C) Franz-Josef Holzenkamp Stephan Mayer (Altötting) Reinhold Sendker Niels Annen Dr. Hendrik Hoppenstedt Reiner Meier Dr. Patrick Sensburg Ingrid Arndt-Brauer Margaret Horb Dr. Michael Meister Bernd Siebert Rainer Arnold Bettina Hornhues Jan Metzler Thomas Silberhorn Heike Baehrens Charles M. Huber Maria Michalk Johannes Singhammer Ulrike Bahr Anette Hübinger Dr. Mathias Middelberg Tino Sorge Heinz-Joachim Barchmann Hubert Hüppe Dietrich Monstadt Jens Spahn Dr. Katarina Barley Erich Irlstorfer Karsten Möring Carola Stauche Doris Barnett Sylvia Jörrißen Marlene Mortler Dr. Frank Steffel Klaus Barthel Andreas Jung Dr. Gerd Müller Dr. Wolfgang Stefinger Dr. Matthias Bartke Dr. Franz Josef Jung Carsten Müller Albert Stegemann Sören Bartol Xaver Jung (Braunschweig) Peter Stein Bärbel Bas Dr. Egon Jüttner Stefan Müller (Erlangen) Erika Steinbach Dirk Becker Bartholomäus Kalb Dr. Philipp Murmann Sebastian Steineke Uwe Beckmeyer Hans-Werner Kammer Dr. Andreas Nick Johannes Steiniger Lothar Binding (Heidelberg) Steffen Kanitz Michaela Noll Christian Freiherr von Stetten Burkhard Blienert Alois Karl Helmut Nowak Dieter Stier Willi Brase Anja Karliczek Dr. Georg Nüßlein Rita Stockhofe Dr. Karl-Heinz Brunner Bernhard Kaster Julia Obermeier Gero Storjohann Edelgard Bulmahn Volker Kauder Wilfried Oellers Stephan Stracke Martin Burkert Dr. Stefan Kaufmann Florian Oßner Max Straubinger Dr. Lars Castellucci Roderich Kiesewetter Dr. Tim Ostermann Matthäus Strebl Petra Crone Dr. Georg Kippels Henning Otte Karin Strenz Bernhard Daldrup Volkmar Klein Ingrid Pahlmann Thomas Stritzl Dr. Daniela De Ridder Jürgen Klimke Sylvia Pantel Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. Karamba Diaby Axel Knoerig Martin Patzelt Lena Strothmann Sabine Dittmar Jens Koeppen Dr. Martin Pätzold Michael Stübgen Martin Dörmann Markus Koob Ulrich Petzold Dr. Sabine Sütterlin-Waack Elvira Drobinski-Weiß Carsten Körber Dr. Joachim Pfeiffer Antje Tillmann Siegmund Ehrmann Hartmut Koschyk Sibylle Pfeiffer Astrid Timmermann-Fechter Michaela Engelmeier Kordula Kovac Eckhard Pols Dr. Hans-Peter Uhl Dr. h. c. Gernot Erler Michael Kretschmer Thomas Rachel Dr. Volker Ullrich Petra Ernstberger Gunther Krichbaum Kerstin Radomski Arnold Vaatz Saskia Esken Dr. Günter Krings Alexander Radwan (B) Thomas Viesehon Karin Evers-Meyer (D) Rüdiger Kruse Alois Rainer Michael Vietz Dr. Johannes Fechner Bettina Kudla Dr. Peter Ramsauer Volkmar Vogel (Kleinsaara) Dr. Fritz Felgentreu Dr. Roy Kühne Eckhardt Rehberg Christian Flisek Uwe Lagosky Katherina Reiche (Potsdam) Sven Volmering Christel Voßbeck-Kayser Gabriele Fograscher Dr. Karl A. Lamers Lothar Riebsamen Dr. Edgar Franke Andreas G. Lämmel Josef Rief Kees de Vries Dr. Johann Wadephul Ulrich Freese Dr. Norbert Lammert Dr. Heinz Riesenhuber Dagmar Freitag Marco Wanderwitz Katharina Landgraf Johannes Röring Michael Gerdes Nina Warken Ulrich Lange Dr. Norbert Röttgen Martin Gerster Albert Weiler Barbara Lanzinger Erwin Rüddel Iris Gleicke Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Silke Launert Albert Rupprecht Angelika Glöckner Dr. Anja Weisgerber Paul Lehrieder Anita Schäfer (Saalstadt) Ulrike Gottschalck Dr. Katja Leikert Dr. Wolfgang Schäuble Peter Weiß (Emmendingen) Kerstin Griese Dr. Philipp Lengsfeld Andreas Scheuer Sabine Weiss (Wesel I) Michael Groß Dr. Andreas Lenz Karl Schiewerling Ingo Wellenreuther Uli Grötsch Philipp Graf Lerchenfeld Jana Schimke Karl-Georg Wellmann Wolfgang Gunkel Dr. Ursula von der Leyen Norbert Schindler Marian Wendt Bettina Hagedorn Antje Lezius Tankred Schipanski Waldemar Westermayer Rita Hagl-Kehl Ingbert Liebing Heiko Schmelzle Kai Whittaker Metin Hakverdi Matthias Lietz Christian Schmidt (Fürth) Peter Wichtel Ulrich Hampel Andrea Lindholz Gabriele Schmidt (Ühlingen) Annette Widmann-Mauz Dirk Heidenblut Dr. Carsten Linnemann Ronja Schmitt (Althengstett) Heinz Wiese (Ehingen) Hubertus Heil (Peine) Wilfried Lorenz Patrick Schnieder Klaus-Peter Willsch Gabriela Heinrich Dr. Claudia Lücking-Michel Nadine Schön (St. Wendel) Elisabeth Winkelmeier- Marcus Held Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Ole Schröder Becker Wolfgang Hellmich Daniela Ludwig Dr. Kristina Schröder Oliver Wittke Heidtrud Henn Karin Maag (Wiesbaden) Dagmar G. Wöhrl Gustav Herzog Yvonne Magwas Bernhard Schulte-Drüggelte Barbara Woltmann Gabriele Hiller-Ohm Thomas Mahlberg Dr. Klaus-Peter Schulze Tobias Zech Thomas Hitschler Dr. Thomas de Maizière Uwe Schummer Heinrich Zertik Dr. Eva Högl Gisela Manderla Armin Schuster (Weil am Emmi Zeulner Matthias Ilgen Matern von Marschall Rhein) Dr. Matthias Zimmer Christina Jantz Hans-Georg von der Marwitz Christina Schwarzer Gudrun Zollner Frank Junge Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10175

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Josip Juratovic Dr. Ernst Dieter Rossmann Britta Haßelmann Dr. Diether Dehm (C) Thomas Jurk Michael Roth (Heringen) Dr. Anton Hofreiter Klaus Ernst Oliver Kaczmarek Susann Rüthrich Bärbel Höhn Wolfgang Gehrcke Johannes Kahrs Johann Saathoff Dieter Janecek Nicole Gohlke Christina Kampmann Annette Sawade Uwe Kekeritz Annette Groth Ralf Kapschack Dr. Hans-Joachim Katja Keul Dr. André Hahn Gabriele Katzmarek Schabedoth Maria Klein-Schmeink Heike Hänsel Ulrich Kelber Axel Schäfer (Bochum) Tom Koenigs Dr. Rosemarie Hein Marina Kermer Dr. Nina Scheer Sylvia Kotting-Uhl Inge Höger Arno Klare Marianne Schieder Oliver Krischer Andrej Hunko Lars Klingbeil Udo Schiefner Stephan Kühn (Dresden) Sigrid Hupach Dr. Dorothee Schlegel Dr. Bärbel Kofler Christian Kühn (Tübingen) Ulla Jelpke Ulla Schmidt (Aachen) Renate Künast Daniela Kolbe Susanna Karawanskij Matthias Schmidt (Berlin) Markus Kurth Birgit Kömpel Kerstin Kassner Anette Kramme Dagmar Schmidt (Wetzlar) Monika Lazar Katja Kipping Dr. Hans-Ulrich Krüger Carsten Schneider (Erfurt) Steffi Lemke Jan Korte Helga Kühn-Mengel Ursula Schulte Dr. Tobias Lindner Jutta Krellmann Christine Lambrecht Swen Schulz (Spandau) Nicole Maisch Christian Lange (Backnang) Ewald Schurer Peter Meiwald Katrin Kunert Dr. Karl Lauterbach Stefan Schwartze Irene Mihalic Caren Lay Steffen-Claudio Lemme Andreas Schwarz Özcan Mutlu Sabine Leidig Burkhard Lischka Dr. Carsten Sieling Dr. Konstantin von Notz Ralph Lenkert Gabriele Lösekrug-Möller Norbert Spinrath Stefan Liebich Hiltrud Lotze Svenja Stadler Friedrich Ostendorff Dr. Gesine Lötzsch Kirsten Lühmann Martina Stamm-Fibich Cem Özdemir Thomas Lutze Dr. Birgit Malecha-Nissen Sonja Steffen Lisa Paus Birgit Menz Caren Marks Dr. Frank-Walter Steinmeier Brigitte Pothmer Cornelia Möhring Katja Mast Kerstin Tack Tabea Rößner Niema Movassat Hilde Mattheis Claudia Tausend Claudia Roth (Augsburg) Norbert Müller (Potsdam) Dr. Matthias Miersch Michael Thews Corinna Rüffer Dr. Alexander S. Neu Klaus Mindrup Dr. Karin Thissen Manuel Sarrazin Thomas Nord Susanne Mittag Franz Thönnes Elisabeth Scharfenberg Harald Petzold (Havelland) Bettina Müller Carsten Träger Dr. Gerhard Schick Richard Pitterle Detlef Müller (Chemnitz) Rüdiger Veit Dr. Frithjof Schmidt Martina Renner (B) Michelle Müntefering Ute Vogt Kordula Schulz-Asche Dr. Petra Sitte (D) Dr. Rolf Mützenich Dirk Vöpel Dr. Wolfgang Strengmann- Kersten Steinke Andrea Nahles Gabi Weber Kuhn Dr. Kirsten Tackmann Bernd Westphal Dietmar Nietan Dr. Harald Terpe Azize Tank Andrea Wicklein Ulli Nissen Markus Tressel Frank Tempel Dirk Wiese Jürgen Trittin Thomas Oppermann Dr. Axel Troost Waltraud Wolff Dr. Julia Verlinden Mahmut Özdemir (Duisburg) Kathrin Vogler (Wolmirstedt) Doris Wagner Aydan Özoğuz Halina Wawzyniak Gülistan Yüksel Beate Walter-Rosenheimer Markus Paschke Harald Weinberg Detlev Pilger Dagmar Ziegler Dr. Valerie Wilms Stefan Zierke Katrin Werner Sabine Poschmann Birgit Wöllert Joachim Poß Dr. Jens Zimmermann Nein Jörn Wunderlich Florian Post Manfred Zöllmer Hubertus Zdebel Achim Post (Minden) SPD Pia Zimmermann Dr. Wilhelm Priesmeier BÜNDNIS 90/ Sabine Zimmermann Florian Pronold DIE GRÜNEN Cansel Kiziltepe Christian Petry (Zwickau) Dr. Sascha Raabe Marieluise Beck (Bremen) Dr. Simone Raatz Volker Beck (Köln) DIE LINKE Martin Rabanus Dr. Franziska Brantner Enthalten Mechthild Rawert Agnieszka Brugger Jan van Aken Stefan Rebmann Ekin Deligöz Dr. Dietmar Bartsch SPD Gerold Reichenbach Katja Dörner Herbert Behrens Dr. Ute Finckh-Krämer Dr. Carola Reimann Harald Ebner Karin Binder Petra Hinz (Essen) Andreas Rimkus Dr. Thomas Gambke Matthias W. Birkwald Sönke Rix Matthias Gastel Christine Buchholz BÜNDNIS 90/ Dennis Rohde Kai Gehring Eva Bulling-Schröter DIE GRÜNEN Dr. Martin Rosemann Katrin Göring-Eckardt Roland Claus René Röspel Anja Hajduk Sevim Dağdelen Hans-Christian Ströbele 10176 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Ich rufe die nächste Rednerin auf: Heike Hänsel von Ich frage mich, wie Sie sagen können, sie brauchten ein (C) der Fraktion Die Linke. gutes Training und eine Ausbildung, um die Menschen- rechtsstandards gewährleisten zu können. Es gibt doch (Beifall bei der LINKEN) auch eine Mitverantwortung der Regierung, die diese Polizei deckt. Heike Hänsel (DIE LINKE): (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! In diesem Land der Straffreiheit gibt es Morde Deswegen sagen viele Menschenrechtsorganisationen in ohne Mörder, Folter ohne Folterer, sexuelle Gewalt ohne Mexiko, man müsse diese Verhandlungen aussetzen; Vergewaltiger. Ich spreche von Mexiko, einem Land, in denn das Abkommen würde die korrupte Polizei nur dem 98 Prozent Straflosigkeit herrscht. stärken und mehr Gefahren für die Bevölkerung bedeu- ten. Vor allem wollen die Menschenrechtsorganisationen Traurige Berühmtheit erlangte Mexiko letztes Jahr, Zugang zum Text des Abkommens erhalten – das ist das als 43 Lehramtsstudenten der Universität von Ayotzi- Entscheidende; wir fordern es auch –, damit sie sich an- napa durch die Polizei gewaltsam verschwanden. Bis schauen können, was verhandelt wird. Es sollte nicht heute ist dieser Fall nicht richtig aufgeklärt, auch wenn über ihre Köpfe hinweg verhandelt werden. Dafür setzen die mexikanische Regierung den Fall trotz großer wir uns ein. Widersprüche als abgeschlossen ansieht und jede Ver- antwortung zurückweist. Ich habe mich letztes Jahr mit (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten den Angehörigen der Verschwundenen in Ayotzinapa des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) getroffen. Sie sind verzweifelt und haben keinerlei Ver- trauen in die staatlichen Strukturen. Sie fordern mittler- Die Bundesregierung hatte auch keine Skrupel, Waf- weile internationale Hilfe bei der Aufklärung und auch fen nach Mexiko zu liefern, zum Beispiel Gewehre der persönlichen Schutz, weil sie vielen Anfeindungen aus- Firma Heckler & Koch. Sie hat immer behauptet, es gesetzt sind. gehe nur um einige Bundesstaaten. Aber: Als ich in Ayotzinapa war, habe ich am Straßenrand dieses Foto von Die mexikanische Regierung und die Staatsanwalt- einem Polizisten gemacht, der ein G36 von Heckler & schaft, mit der ich ebenfalls gesprochen habe, wollen Koch in Händen hält, diesen Fall als rein lokales Problem korrupter Polizeiein- heiten darstellen. Dabei sagen alle Menschenrechtsorga- (Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE] hält ein nisationen in Mexiko, dass auch die nationale Ebene Bild hoch) verantwortlich ist. Denn auch die Bundespolizei und die (B) mexikanische Armee waren zum Zeitpunkt der Verhaf- und das in einem Bundesstaat, in dem eigentlich nie (D) tung der Studenten vor Ort und haben nicht eingegriffen. G36-Gewehre auftauchen sollten. Das war bereits ein Im Gegenteil: Sie haben sogar ebenfalls die Studenten Skandal. Die Bundesregierung muss auch für diese Ex- bedroht. Sie waren zu jeder Zeit vom Sicherheitsdienst porte die Verantwortung übernehmen. Wenn man Ex- über die Lage vor Ort informiert. porte nach Mexiko genehmigt, dann ist man auch verant- wortlich für das, was mit diesen Waffen passiert. Damit Ayotzinapa ist aber nur die Spitze des Eisbergs sind Sie verantwortlich dafür, dass diese Gewehre auch brutalster Menschenrechtsverletzungen in Mexiko: über beim Verschwindenlassen der Studenten eingesetzt wur- 26 000 gewaltsam Verschwundene und fast den. 100 000 Menschen, die seit 2006 ermordet wurden. Immer wieder sind alle Ebenen der Polizei und das (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Militär in diese Verbrechen verwickelt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was macht nun die Bundesregierung? Wir haben Au- ßenminister Steinmeier mehrfach zu Venezuela reden Vizepräsidentin Ulla Schmidt: gehört; da macht er sich große Sorgen. Zur Menschen- Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit? rechtssituation in Mexiko sagte er nichts. Im Gegenteil, gebetsmühlenartig sagt die Bundesregierung: Mexiko ist Heike Hänsel (DIE LINKE): unser strategischer Partner, und wir teilen die gleichen Werte. – Ich muss sagen, ich finde das unerträglich. Ja. – Zum Schluss möchte ich daran erinnern, dass Mexiko das Land mit den meisten Freihandelsabkom- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und men ist und die Europäische Union derzeit das Freihan- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) delsabkommen mit Mexiko noch ausweiten will. Wir lehnen das ab, weil die Freihandelspolitik in den letzten So verhandelt die Bundesregierung bereits seit Jahren 20 Jahren in Mexiko zu enormen sozialen Verwerfungen über ein Sicherheitsabkommen ausgerechnet mit der me- geführt hat. Sie ist eine Ursache für die Gewalt in diesem xikanischen Bundespolizei. Es sollte eigentlich selbst- Land. Freihandel tötet, und deswegen brauchen wir ei- verständlich sein, dass eine Polizei die Grundwerte ver- nen neuen Handel, auch mit Mexiko. innerlicht und Entführungen, Folter und Überfälle nicht durchführt. Danke. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10177

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: neralstaatsanwaltschaft vorgesehen ist, die als ver- (C) Vielen Dank. – Nächster Redner ist Professor gleichsweise zuverlässige Institution im Lande gilt. Dr. Egon Jüttner, CDU/CSU-Fraktion. Wir verlangen von der mexikanischen Seite, dass (Beifall bei der CDU/CSU) Korruption und Straffälligkeit auf allen Ebenen be- kämpft und Menschenrechtsverteidiger geschützt wer- den. Außerdem ist es so, dass das Bundesinnenministe- Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): rium als Verhandlungsführer den Text der Vereinbarung Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im De- mit dem Justizministerium und dem Auswärtigen Amt zember des vergangenen Jahres wurden die nun zur Ab- abstimmen muss. Schließlich ist für die Ratifikation stimmung stehenden Anträge bereits beraten. Heute wie noch die Zustimmung des Deutschen Bundestages erfor- damals vertreten wir als CDU/CSU-Fraktion die Auffas- derlich. sung, dass die Verhandlungen über das geplante Sicher- heitsabkommen zwischen Deutschland und Mexiko wei- Seit der ersten Beratung im Dezember 2014 hat es aus tergeführt und zu einem positiven Abschluss gebracht Mexiko auch gute Nachrichten gegeben. So ging den werden sollten. mexikanischen Fahndern erst jüngst, am 7. Mai 2015, der flüchtige Vizepolizeichef von Iguala ins Netz. Die Gerade die schleppende und mangelhafte Aufklärung Polizei- und Justizreform von Präsident Nieto wird in- des unglaublichen Verbrechens in Iguala zeigt, dass Me- zwischen im Senat diskutiert. Wir sollten Mexiko dabei xiko Hilfe benötigt bei der Bekämpfung von Unrecht, unterstützen, künftig größere und schnellere Schritte bei Kriminalität, Straflosigkeit und Korruption. Diese Hilfe der Aufklärung und bei der Bekämpfung von organisier- können wir nicht gewähren, wenn wir uns zurückziehen tem Verbrechen und Korruption zu machen. und den mexikanischen Behörden die Aufklärung dieses Ich danke Ihnen. und anderer Verbrechen sowie die Eindämmung der kri- minellen Strukturen selbst überlassen. Die mexikanische (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Polizei, das mexikanische Militär und die mexikanische neten der SPD) Verwaltung benötigen unsere Hilfe; gerade seit Iguala benötigen sie diese Hilfe dringender denn je. Die Verqui- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ckung von Gewalt, Straflosigkeit, Kriminalität und orga- Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nisiertem Verbrechen, die sich wie ein Krebsgeschwür nen hat jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbele das durch die mexikanische Gesellschaft zieht, kann von den Wort. Institutionen des Landes alleine offensichtlich nicht auf- gebrochen werden. (B) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE (D) Meine Damen und Herren, Sicherheitsabkommen GRÜNEN): zwischen zwei Ländern werden gerade deswegen abge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schlossen, damit ein Staat seine Erfahrungen, seine Herr Kollege Jüttner, so einfach kommen Sie aus diesem Technologie und sein Know-how einem anderen Staat in Widerspruch nicht heraus. Das fürchterliche Verbrechen vertrauensvoller Zusammenarbeit zur Verfügung stellt. in Iguala zeigt, dass überhaupt nicht verhindert werden kann, dass deutsche Waffen, die unter der Bedingung (Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nach Mexiko geliefert wurden, nicht an bestimmte Re- NEN]: Wer hat das aufgeschrieben?) gionen ausgehändigt zu werden, sogar in Iguala Verwen- Nach Auffassung der CDU/CSU-Fraktion wäre es ein dung finden. Das wurde nicht verhindert. falsches Signal gegenüber den Opfern von Iguala und ih- Auch ich war in den Tagen nach Ostern vor Ort und ren Angehörigen, wenn Deutschland die ihm zur Verfü- habe mit einem Studenten, der dem Massaker gerade gung stehenden Mittel nicht anbieten würde, sondern noch entkommen ist, weil er sich unter einem Bus ver- sich vielmehr abwenden und der Bitte Mexikos um Zu- stecken konnte, und mit dem Vater von verschwundenen sammenarbeit nicht nachkommen würde. Außerdem ist Studenten geredet. Sie sagen auch: Das Schlimmste, was es Ziel eines Sicherheitsabkommens und im Interesse man im Augenblick machen kann, ist, mit der Polizei beider Länder, also auch im Interesse Deutschlands, die und den Sicherheitsbehörden zusammenzuarbeiten, de- Zusammenarbeit bei der Bekämpfung grenzüberschrei- nen Waffen zu geben und sie dadurch noch effektiver zu tender organisierter Kriminalität zu verbessern. machen. Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass Polizei, Justiz und Militär unzuverlässig sind. Es sind Die Bedenken der Opposition, dass die Mittel, die vielleicht nicht alle unzuverlässig, aber man weiß eben Deutschland im Rahmen des Sicherheitsabkommens zur nicht, wer. So ist es unvermeidbar, dass Hilfen in die fal- Verfügung stellen würde, in die falschen Hände gelan- schen Hände kommen; das haben Sie vorhin bereits ge- gen und damit eine kontraproduktive Wirkung erzeugen sagt. könnten, müssen natürlich ernst genommen werden. Wir verlangen deshalb von der mexikanischen Seite die Ga- G36-Gewehre gibt es nicht nur auf dem Foto, das Sie rantie, dass nur solche Personen Vertrauensträger des ge- gerade gezeigt haben, sondern G36-Gewehre wurden in meinsamen Sicherheitsabkommens sein dürfen, die über der Polizeistation gefunden, in die die Studenten, die jeden Verdacht von Straffälligkeit oder Bestechlichkeit entführt wurden und jetzt verschwunden sind – wahr- erhaben sind. Ein gutes Zeichen ist, dass als Partner des scheinlich wurden sie massakriert –, zunächst gebracht Sicherheitsabkommens auf mexikanischer Seite die Ge- wurden. Man konnte anhand der Nummern auf den Waf- 10178 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Hans-Christian Ströbele (A) fen feststellen, dass es sich um die G36-Gewehre han- Straflosigkeit, sowie gegen die Massentötungen, die dort (C) delte, die von der Bundesregierung unter der Bedingung in den Auseinandersetzungen jedes Jahr stattfinden, vor- nach Mexiko geliefert worden sind, dass sie keinesfalls zugehen. nach Iguala bzw. in die dortige Provinz geliefert werden dürfen. Das ist der falsche Weg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Wenn wir die Aussage der Bundeskanzlerin von heute Morgen, dass die G-7-Staaten für Grundwerte stehen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: und sie das überall auf der Welt anhand ihrer Politik zei- gen, ernst nehmen wollen, dann können wir nicht über- Vielen Dank. – Als letzte Rednerin zu diesem Tages- sehen, dass in Mexiko auf allen Ebenen der Politik, von ordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Anita Schäfer, der örtlichen über die staatliche bis hin zur zentralen CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Ebene, Korruption vorherrschend ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich habe vor Ort mit Vertretern von zwölf Menschen- rechtsorganisationen geredet. Darunter waren Anwalts- Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): vertreter, Feministinnen und Menschenrechtler. Ich habe Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und mit Vertretern der interamerikanischen Menschenrechts- Herren! Nachdem wir bereits ausführlich über das Si- kommission geredet, die die Menschenrechtssituation cherheitsabkommen mit Mexiko gesprochen haben, und die Verbrechen in Iguala untersucht. Alle sind skep- möchte ich noch eine etwas grundsätzlichere Frage be- tisch. Sie sagen, sie weisen darauf hin – das ist schon ge- handeln, nämlich die, wie wir generell mit bilateralen Si- sagt worden –, dass 98 Prozent der Taten nicht aufge- cherheitsabkommen umgehen wollen. Die Grünen for- klärt werden. Das heißt, aufgrund der Impunidad werden dern dazu in ihrem Antrag, dass sich die Vertragspartner nur 2 von 100 Taten aufgeklärt und führen zu einer Ver- bei derartigen Abkommen unter anderem zur Einhaltung urteilung. Das ist Straflosigkeit bei schwersten Verbre- menschenrechtlicher Standards unter Beachtung rechts- chen. staatlicher Prinzipien verpflichten. Als ich da war, gab es wieder eine Auseinanderset- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE zung mit Schusswaffen in einer Stadt in der Nähe von GRÜNEN]: Kontrolliert!) Mexiko-Stadt, bei der 20 Menschen getötet worden sind. Die Polizei hat sich überhaupt nicht darum gekümmert. – Korrekt. – Geschehen soll dies durch Vertragsklauseln Sie hat auch keine Untersuchung eingeleitet, weil sie ge- mit Überprüfungscharakter. sagt hat: Das bringt sowieso nichts. – Das heißt, auf- (B) grund der Impunidad darf man an ein solches Land in Wie immer in internationalen Verhandlungen stellen (D) der jetzigen Situation weder Waffen liefern noch Unter- sich aber die Fragen, welches Ziel man erreichen will stützung für das Militär oder die Polizei geben. und welche Forderungen man noch durchsetzen kann, wie viele Bedingungen man an den Partner stellen kann, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenn es um das Erreichen gemeinsamer Interessen geht. und bei der LINKEN) Beide Seiten wollen ja von einer Vereinbarung profitie- ren. Sind die Bedingungen für eine Partei unannehmbar, Jetzt fragen Sie sich: Was wollen wir machen? Ich gibt es eben kein Abkommen. Nun könnte man sagen: habe nur noch wenige Sekunden Zeit. Da kann ich nur Wer unsere deutschen Standards nicht erfüllt und sich Folgendes sagen: Sie müssen die Kreise stützen und un- nicht von uns überprüfen lässt, mit dem wollen wir auch terstützen, die die Regierung auf den verschiedenen Ebe- keine Sicherheitszusammenarbeit haben. Allerdings geht nen kontrollieren. Es gibt wie in kaum einem anderen das dann auch eventuell zulasten unserer eigenen Sicher- Land Lateinamerikas eine sehr wache Zivilgesellschaft. heit. Zusätzlich berauben wir uns der Chance, durch eine Es gibt sehr wache und sehr emsige Menschenrechtsor- solche Zusammenarbeit tatsächlich auf die Verhältnisse ganisationen. Es gibt in Teilen noch eine Presse. Aber im Partnerland einwirken zu können. auch die Pressefreiheit ist äußert bedroht. Gerade als ich da war, wurde eine bekannte unabhängige Journalistin Es ist ja nicht so, als ob beispielsweise Menschen- entlassen und kann nicht mehr dort wirken. rechtsfragen bei solchen Abkommen bislang keine Rolle spielten. Schon heute verpflichtet sich die Bundesregie- Diese Institutionen, Presse, Parlament, die neu aufzu- rung nur nach der Maßgabe deutscher Gesetze zur Zu- bauende Justiz, Menschenrechtsorganisationen und Zi- sammenarbeit. Sicherheitsabkommen stellen stets aus- vilgesellschaft, müssen wir unterstützen. drücklich klar, dass sich diese Zusammenarbeit nach den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorschriften unseres innerstaatlichen Rechts richtet. und bei der LINKEN) Dies umfasst auch Fragen des Datenschutzes. Demnach ist eine Übermittlung von Daten an Abkommenspartner Denn nur sie können dort im Land kontrollieren, solche ausgeschlossen, wenn die Verletzung von Menschen- Massaker öffentlich machen und um internationale Un- rechten droht, bzw. ist die Übermittlung an Bedingungen terstützung bitten. Sie legen großen Wert darauf, dass geknüpft, die eine solche Gefahr ausräumen. wir hier im Deutschen Bundestag darüber diskutieren, weil ihnen die öffentliche Aufmerksamkeit in Europa (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE und gerade auch in Deutschland hilft, um für ihre Sache, GRÜNEN]: Das ist doch nicht wahr! Sie ha- für die Menschenrechte und gegen die Impunidad, die ben nicht zugehört!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10179

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) Es ist der Bundesregierung also durchaus bewusst, wel- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) che Konsequenzen Sicherheitsabkommen für Menschen- Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Ausspra- rechte und Fragen des Datenschutzes in Partnerstaaten che angelangt. haben können. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Ähnliches gilt für die Forderung im Antrag, bei der empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Ausbildungsunterstützung Schwerpunkte auf Menschen- Humanitäre Hilfe auf Drucksache 18/3952. Der Aus- rechts- und Rechtsstaatsausbildung zu legen. Diese schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- Punkte sind ohnehin regelmäßig Inhalt von Schulungen empfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die im Rahmen der Partnerschaften. Dass die Ausbildung Linke auf Drucksache 18/3548 mit dem Titel „Men- von Polizeikräften in Partnerstaaten Ermittlungstechni- schenrechte in Mexiko schützen, Verhandlungen zum Si- ken zur Aufklärung von Straftaten beinhalten sollte, cherheitsabkommen aussetzen“. Wer stimmt für diese muss, glaube ich, nicht eigens in einem Antrag gefordert Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer werden. enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Deutschland hat seit jeher Verhandlungen zu Sicher- der Opposition angenommen. heitsabkommen mit Partnerstaaten im Lichte von Pro- blemen geführt, die in diesen bestehen. Verhandlungen Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- aber durch unrealistische Forderungen zu gefährden, lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- würde den Menschen dort in keiner Weise helfen. nen auf Drucksache 18/3552 mit dem Titel „Iguala ist kein Einzelfall – Zur Menschenrechtslage in Mexiko“. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer GRÜNEN]: Fragen Sie mal!) stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und – Ja. – Sicherheitsabkommen sind vielmehr für unsere SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bünd- eigene Sicherheit ebenso unverzichtbar wie für den Auf- nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die und Ausbau rechtsstaatlicher Strukturen im jeweiligen Linke angenommen. Land. Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Wir müssen auch zukünftig den Dialog mit Ländern Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti- führen, die in dieser Hinsicht noch Verbesserungsbedarf tel „Sicherheitsabkommen brauchen Standards“. Der Aus- haben, um ihnen Hilfe bei der Entwicklung des Rechts- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf staates zu leisten. Ein funktionierender Rechtsstaat ist Drucksache 18/3933, den Antrag der Fraktion Bünd- (B) nämlich nicht nur eine Voraussetzung für die Einhaltung nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/3553 abzulehnen. (D) menschenrechtlicher Standards, sondern auch die Basis Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer für die wirtschaftliche, zivilgesellschaftliche und soziale stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- Entwicklung eines Landes und wirkt damit nicht zuletzt empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- Flüchtlings- und Migrationsbewegungen entgegen. nen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom- Wie wichtig das ist, zeigt sich aktuell an der Flücht- men. lingskatastrophe im Mittelmeer. Daher sollten wir der Bundesregierung beim Aushandeln derartiger Abkom- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatz- men keine unnötigen Steine in den Weg legen, gerade punkt 6 auf: weil wir selbst in nicht unerheblichem Maße von diesen Partnerschaften profitieren, etwa indem unsere Sicher- 16 – Zweite und dritte Beratung des von den Frak- heitsbehörden Hinweise im Zusammenhang mit interna- tionen der CDU/CSU und SPD eingebrach- tionaler Kriminalität erhalten, von der auch wir betroffen ten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur sind. Änderung des Erneuerbare-Energien-Ge- setzes Wenn Deutschland auf diesem Wege zudem dazu bei- Drucksache 18/4683 tragen kann, dass sich auch andere Staaten demokratisch und im Sinne der Menschenrechte entwickeln, sollten – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- wir auch mit kleinen Fortschritten zufrieden sein. Daraus desregierung eingebrachten Entwurfs eines kann im Ergebnis dann mehr entstehen. Diese Chance Zweiten Gesetzes zur Änderung des Er- sollten wir nicht gefährden. neuerbare-Energien-Gesetzes Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir Drucksache 18/4891 werden daher Ihrem Antrag in dieser Form nicht zustim- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- men können. schusses für Wirtschaft und Energie (9. Aus- Danke. schuss) Drucksache 18/4968 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Hans-Christian Ströbele ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Über die Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Form können wir reden!) Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der 10180 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Abgeordneten Oliver Krischer, Dr. Julia jetzt aktuell ist, nur gerecht, diese beiden Branchen mit (C) Verlinden, Annalena Baerbock, weiterer Ab- in die Besondere Ausgleichsregelung aufzunehmen. geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Europarechtskonforme Regelung der In- dustrievergünstigungen auf strominten- An dieser Stelle würde ich gerne mit dem Gerücht sive Unternehmen im internationalen aufräumen, die Wirtschaft sei von der EEG-Umlage be- Wettbewerb begrenzen und das EEG als freit und nur die Bürgerinnen und Bürger müssten diese kosteneffizientes Instrument fortführen zahlen, weshalb die Befreiung bei der Besonderen Aus- gleichsregelung ungerecht sei. 96 Prozent der Unterneh- Drucksachen 18/291, 18/515 men, die in der Bundesrepublik Deutschland wirtschaf- Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU ten, zahlen die EEG-Umlage in voller Höhe. 4 Prozent und SPD liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der Unternehmen zahlen den verringerten Satz durch die Bündnis 90/Die Grünen vor. besondere Ausnahmeregelung. Industrie, Handel, Ge- werbe und Dienstleistungsbranche zahlen circa 50 Pro- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für zent der EEG-Umlage; das muss uns bewusst sein. Pri- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- vate Haushalte zahlen ungefähr ein Drittel der EEG- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Umlage. Auf jeden Fall kann man nicht sagen, nur die Bürgerinnen und Bürger würden die EEG-Umlage tra- Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist gen. Johann Saathoff, SPD-Fraktion. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) NEN]: Die verbrauchen auch viel weniger!)

Johann Saathoff (SPD): Der zweite Bereich, den wir regeln, ist die anteilige Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Direktvermarktung. Die wollten wir eigentlich – das Kollegen! Never change a running system, oder, wie muss man ehrlicherweise sagen – schon im letzten Jahr man in Ostfriesland auf gut Deutsch sagt: Nooit an klü- bei der grundsätzlichen Novelle zum EEG regeln. tern, wenn wat löppt. Es gilt normalerweise: Wenn etwas (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gut funktioniert, dann soll man das eigentlich nicht ver- Da hättet ihr uns zustimmen können!) ändern. Aber das haben wir so nicht einrichten können. Jetzt ist (B) Das gilt allerdings nicht bei der Energiewende; denn es also möglich, dass in mehreren Anlagen produzierter (D) es liegt in der Natur der Sache, dass bei der Energie- Strom – zum Beispiel mehrere Windenergieanlagen in wende ständig nachjustiert werden muss, weil die ver- einem Windpark – über eine gemeinsame Messeinheit schiedenen Phasen in der Energiewende unterschiedli- aufgeteilt werden kann, in mehrere Veräußerungsformen che Maßnahmen erfordern, die man eben jeweils wirken überwandern kann. Es kann also der Verkauf an große lassen muss. Direktkunden oder der Verkauf an unterschiedliche Was wird jetzt mit den Gesetzentwürfen neu geregelt? Stromhändler organisiert werden. Das hilft – Stichwort Es werden zwei Branchen neu in die Besondere Aus- „Akteursvielfalt“, die wir erhalten möchten – den Produ- gleichsregelung im EEG aufgenommen: einmal die zenten von erneuerbaren Energien, bei der Vermarktung Branche „Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und ihrer Energie jeweils eigene Wege zu finden, und gibt Stanzteilen“, zum Zweiten die Branche „Wärmebehand- damit eine gewisse Evolution frei. lung von Stahl“. Erstere ist wichtig für den Karosserie- Ich sagte eingangs, dass bei der Energieklimapolitik bau. Das ist überhaupt keine Frage. Die gesamte Auto- ständig nachjustiert werden muss. Das Verständnis dafür mobilbranche hängt letzten Endes an dieser Branche. ist nicht überall vorhanden, um das einmal ganz vorsich- Die zweite Branche ist beispielsweise für Armaturen tig zu sagen. Deswegen möchte ich noch einige Worte zu wichtig. Sollten Sie einmal einen Wasserhahn aufdrehen, dem Vorschlag von Frau Aigner zum Energieleitungsbau dann haben Sie es mit dieser Branche zu tun. sagen. Ich gebe zu und kann an dieser Stelle berichten: Es (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gab zwischenzeitlich noch weitere Begehrlichkeiten; NEN]: Sehr gut!) denn wenn man erst einmal eine solche Dose aufmacht, dann gibt es weitere Begehrlichkeiten. Das System Im Bundestag haben wir neulich eine Debatte über orientiert sich nicht daran, um das ganz deutlich zu sa- die größtmögliche Erdverkabelung geführt, um Bürger- gen, welches Produkt ich herstelle, und zwar egal wie; akzeptanz herzustellen. Jetzt haben wir den Vorschlag das System orientiert sich an der Handelsintensität und aus Bayern vorliegen, Leitungen um Bayern herum zu der Stromkostenintensität. legen. Immerhin haben wir einen Fortschritt; denn vor (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vier Wochen haben wir darüber debattiert – übrigens auf Wer hat noch nicht, wer will nochmal?) breiter Basis –, ob die Leitung überhaupt erforderlich ist. Nun sind wir nicht mehr auf der Ebene, dass wir die Er- Jetzt gibt es in dieser Frage eine eindeutige Daten- forderlichkeit der Leitung anzweifeln, sondern nur noch lage. Aus meiner Sicht ist es aufgrund der Datenlage, die die Art und Weise, wie wir das machen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10181

Johann Saathoff (A) (Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/CSU]: den Gewerkschaften und mit den Energieunternehmen (C) Ihr wollt doch auch keine Leitungen!) darüber, wie wir den Strukturwandel in der Energiepro- duktion so hinbekommen, dass die Bürgerinnen und Wie ist dieser Vorschlag von Frau Aigner zu bewer- Bürger und vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und ten, wie ist er zu verstehen, wie soll ich das in die nor- Arbeitnehmer in der Energiebranche sich mitgenommen male Welt der Bürgerinnen und Bürger übertragen und fühlen. umsetzen? Das will ich an dieser Stelle mit einem Bei- spiel illustrieren. Stellen Sie sich vor: Meine Tochter Sie sehen, meine Damen und Herren, liebe Kollegin- Johanna, neun Jahre alt, hat eigentlich kein Einsehen in nen und Kollegen: Wir haben viele Zukunftsaufgaben. die Notwendigkeit, ihr Zimmer aufzuräumen. Jeder, der Heute stimmt die SPD-Fraktion für den Gesetzentwurf Familie hat, kennt diese Situation. Sie wäre aber bereit, zur Änderung des EEG, weil das vom System her richtig die Notwendigkeit des Aufräumens ihres Zimmers nicht und vor allen Dingen gerecht ist. weiter anzuzweifeln, wenn ihr Bruder Jona die Arbeit Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. dafür übernehmen müsste. Nach ihrem Jurastudium wird meine Tochter Johanna dann später den Begriff „Vertrag (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zulasten Dritter“ damit verbinden. Die Reaktion ihres Bruders ist allerdings so wie die Reaktion von Hessen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: und Baden-Württemberg: verständlicherweise besten- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva falls Kopfschütteln. Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU) Einige Akteure bei der Energiewende sind überzeugt Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): von Ausschreibungen. Wir haben die ersten Ergebnisse Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! aus der Pilotausschreibung vorliegen. 150 Megawatt Bald ist das EEG, das heute noch ein klein wenig verän- sind ausgeschrieben worden. Angebotsseitig ist vierfach dert wird, in dieser Form ein Jahr in Kraft. Und ich muss überzeichnet worden. Ich bin mir aber nicht sicher – das feststellen: Die Energiepolitik der Regierung ist ziellos, sage ich an dieser Stelle ganz klar –, ob der Beweis wirk- strategielos lich erbracht ist, dass mit der Ausschreibung die Ziele erreicht wurden, die eigentlich erreicht werden sollen. (Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: So ist die Politik der Linkspartei!) (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nein, eben nicht!) und schädlich für die erneuerbaren Energien, die eine (B) der Branchen mit den größten Potenzialen ist. (D) Die Ziele unserer Fraktion sind: Akteursvielfalt erhal- ten und Preise zumindest nicht steigen lassen, am besten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten senken. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Erneuerbaren haben große Möglichkeiten, große (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Potenziale für unseren Arbeitsmarkt. Das geht aus einer NEN]: Die Preise sind gestiegen!) Studie des Wirtschaftsministeriums hervor, die aber un- Eine Ausschreibung allein – das weiß ich auch – ist noch ter Verschluss gehalten wird. nicht aussagekräftig genug. Wir behalten diese Ziele fest (Matthias Ilgen [SPD]: Ach was!) im Auge. Wir haben schriftlich nachgefragt: Warum veröffent- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lichen Sie diese Studie nicht? – Wollen Sie der Öffent- NEN]: Preise gestiegen! Eigentor!) lichkeit nicht sagen, welch großartiger Jobmotor die Er- Diskussionsbedarf gibt es weiterhin beim Klimabei- neuerbaren sein könnten? Ich sage „sein könnten“; denn trag. Beim ersten Mal habe ich noch Alternativvor- natürlich wird sich das nicht automatisch einstellen. Die schläge vermisst. Mittlerweile ist klar, dass es einen Bundesregierung müsste dann schon die richtige Politik kompletten Alternativvorschlag nicht geben kann. Zu machen, die die Erneuerbaren auch voranbringt – so wie den einzelnen Elementen muss es Alternativvorschläge sie es irgendwann einmal eigentlich in Aussicht gestellt geben. Dafür haben wir mittlerweile durchaus eine große hat und in Sonntagsreden immer wieder behauptet. Anzahl an alternativen Vorschlägen. Wir sind jetzt end- Doch was bisher gelaufen ist, bringt den Jobmotor lich Gott sei Dank – das war im Dezember letzten Jahres „erneuerbare Energien“ nicht zum Laufen, sondern zum nach dem Kabinettsbeschluss noch nicht der Fall – in Stottern. Diese Politik macht ihn vielleicht sogar kaputt – einer gesamtgesellschaftlichen Debatte, und in dieser so wie ein Motor ohne Öl: Kolbenfresser ist dann ange- gesamtgesellschaftlichen Debatte werden wir auch Lö- sagt. sungen zum Erreichen der Klimaziele bekommen. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was heißt das denn?) Was macht diese Bundesregierung mit den Erneuer- baren? Jetzt deklinieren wir es mal durch: Die Bioener- Für die Zukunft würde ich mir allerdings noch eine gie wird komplett plattgemacht. weitere gesamtgesellschaftliche Debatte wünschen, die die Energiebranche betrifft, nämlich eine Debatte mit (Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Pfui!) 10182 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Eva Bulling-Schröter (A) Die Photovoltaik erreicht ihr Ausbauziel nicht, bleibt um Natürlich müssen wir auch über Arbeitsplätze reden, (C) ein Viertel unter der Zubaurate. Die PV-Ausschreibun- über den Strukturwandel; der Kollege von der SPD hat gen funktionieren nicht, weil sie mit durchschnittlich es angesprochen. Dann lassen Sie uns jetzt endlich diese 9,17 Cent teurer sind als die Förderung bislang. Natür- Debatte ernsthaft führen und nicht, wie es passiert, den lich ist auch die Bürgerenergie draußen geblieben. Über Vorschlag, den Herr Gabriel gemacht hat, immer weiter KWK reden wir sicher morgen. Die wollen Sie jetzt verwässern. auch noch plattmachen. (Beifall bei der LINKEN) (Florian Post [SPD]: Das stimmt doch gar nicht!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Und was macht diese Bundesregierung mit den Indus- Danke schön. – Nächster Redner ist Dr. Andreas trierabatten, die sie ursprünglich mal einschränken Lenz, CDU/CSU-Fraktion. wollte – das muss man immer wieder sagen: vor der Bundestagswahl war das so –, um die Belastung für die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- privaten Haushalte zu reduzieren? neten der SPD)

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Versprechen Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): gebrochen, jedes Mal!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Sie macht das Gegenteil dessen, was sie behauptet hat. und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hat- Die Industrierabatte wurden ausgeweitet und werden es ten gestern ein Gespräch mit einer Schweizer Delegation noch, auch mit dieser heutigen Gesetzesänderung. über die Energiewende. Ich kann gleich zu Beginn sa- gen: Ich habe die Herrschaften des Nationalrats sprach- Die 5 Milliarden Euro Industrierabatte kommen Un- lich besser verstanden als das Platt von Herrn Saathoff. ternehmen zugute, die vor allem glaubwürdig behaupten können, im internationalen Wettbewerb zu stehen. (Johann Saathoff [SPD]: Was?) (Matthias Ilgen [SPD]: Wir haben das Nach der heutigen Eingangsrede muss ich sagen: Ich geprüft!) habe immer gedacht, dass wir uns wenigstens inhaltlich verstehen, aber mittlerweile bin ich auch da nicht mehr In einem Merkblatt des BAFA ist zu lesen: so sicher. Da kommt ein konstruktiver Vorschlag aus Die Wettbewerbsfähigkeit in der Bundesrepublik Bayern, Deutschland ansässiger Unternehmen auf den inter- (B) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- (D) nationalen Märkten wird durch eine Vielzahl von wie bei Abgeordneten der SPD – Dirk Becker zum Teil nur schwer objektiv messbaren Einfluss- [SPD]: Da muss er selber lachen! Wer’s faktoren bestimmt. glaubt!) Ich entnehme der verschwurbelten Formulierung: und Ihnen, Herr Saathoff, fällt nichts Besseres ein, als Wer es schlau anstellt, wird natürlich immer nachweisen diesen konstruktiven und wirklich diskussionswürdigen können, dass sein Unternehmen im internationalen Wett- Vorschlag gleich zu Beginn zu zerreden. bewerb steht. Die Industrierabatte sorgen außerdem da- für, dass sich Effizienz nicht lohnt. Das wird mir aus der (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Praxis berichtet, zum Beispiel von einer Gießerei in Johann Saathoff [SPD]: Jetzt muss er selber la- Bayern. Weil der Betrieb sonst zu wenig verbrauchen chen! – Dirk Becker [SPD]: Das war jetzt die würde, um als stromintensiv zu gelten – da nützt auch die Liebeserklärung an Ilse Aigner! Reicht! Set- Pflicht zu einem Umweltmanagementsystem nichts –, zen!) spart man eben keinen Strom mehr ein, da man sonst we- sentlich mehr bezahlen würde. Das ist auch bestätigt. Ich Spaß beiseite: sage Ihnen: Hier wird Verschwendung belohnt. Ich halte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der es für pervers; denn die Betriebe wollen eigentlich Strom SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- einsparen. NEN) (Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie sich das Schreiben und auch die Stellung- Der wesentliche Kern des Erfolgs des EEG war ja die nahme zum Netzentwicklungsplan in Bayern anschauen, Investitionssicherheit. Das sagen uns alle möglichen dann stellen Sie fest, dass darin sehr sinnvolle Vor- Betriebe immer wieder. Das wissen Sie auch. Die Bun- schläge enthalten sind, desregierung hat es geschafft, eine wachstumswillige (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und -fähige Branche tief zu verunsichern, und setzt da- Wo?) mit die Tendenz der Vorgängerregierung fort. Ich halte es einfach für traurig. Das ist eine Kolbenfresserpolitik. die eben auch zur wirklichen Lösung dieses Problems Der Jobmotor „erneuerbare Energien“ stottert. Ich sage beitragen werden. Ihnen: Machen Sie da endlich etwas, bevor es zu spät ist. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der LINKEN) Hallo? Haben Sie das mal gelesen?) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10183

Dr. Andreas Lenz (A) Wir werden gemeinschaftlich – davon gehe ich aus – bis lastungswirkung voraussichtlich bei rund 4,8 Milliarden (C) zum Sommer eine gute Lösung finden. Ich lade natürlich Euro. auch alle ein, dazu beizutragen. Wir haben klare Kriterien geschaffen, nach denen die (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Branchen die Besondere Ausgleichsregelung nutzen NEN]: Das ist Populismus und Egoismus in können. Das ist ein wichtiger Schritt für die deutsche Schriftform!) Wirtschaft. Die Kriterien werden nachweislich auch von den Härtereien und Schmieden erfüllt. Es ist daher rich- Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den tig, die Besondere Ausgleichsregelung auch bei diesen Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Er- Branchen anzuwenden. Die Mehrbelastung hinsichtlich neuerbare-Energien-Gesetzes der Koalitionsfraktionen. der EEG-Umlage beträgt lediglich 0,001 Cent, also ein Herr Saathoff hat es gesagt: Wir sorgen dafür, dass ener- Tausendstel Cent pro Kilowattstunde. Der Nutzen für die gieintensive Unternehmen aus den Bereichen Schmie- betroffenen Unternehmen und die damit verbundenen den, Härtereien und Oberflächenveredelung die Beson- Arbeitsplätze ist jedoch umso höher. dere Ausgleichsregelung in Anspruch nehmen dürfen. Es geht dabei um rund 80 Unternehmen einer Branche mit Auch zukünftig muss es möglich sein, Branchen in rund 50 000 Arbeitsplätzen und rund 8 Milliarden Euro die Besondere Ausgleichsregelung aufzunehmen, wenn Umsatz. Für diese schaffen wir Planungs- und Investi- die Kriterien „internationale Wettbewerbstätigkeit“ und tionssicherheit. Zudem nehmen wir eine klarstellende „Stromintensität“ erfüllt werden. Das Bundeswirt- Änderung bei der anteiligen Direktvermarktung vor. schaftsministerium wird in solchen Fällen in Koopera- Auch künftig wird es möglich sein, bei der anteiligen Di- tion mit der Europäischen Kommission eine entspre- rektvermarktung eine gemeinsame Messeinrichtung zu chende Prüfung vornehmen. Uns war es wichtig, dies im verwenden. Mit der Reform des EEG im vergangenen parlamentarischen Verfahren herauszustellen. Ohne die Jahr sind wir bei der Energiewende einen wichtigen Besondere Ausgleichsregelung würde ein privater Haus- Schritt vorangekommen. Wir haben einen planbaren und halt mit vier Personen zwar im Schnitt circa 60 Euro im verlässlichen Ausbaupfad geschaffen. Wir werden den Jahr weniger an Strom zahlen. Wegen der zu erwarten- Anteil der Erneuerbaren im Strombereich bis 2025 auf den Wohlstandsverluste würde das real verfügbare Ein- 40 bis 45 Prozent und bis 2035 auf 55 bis 60 Prozent kommen jedoch im Durchschnitt um rund 500 Euro sin- ausbauen. Das Sinken der EEG-Umlage auf 6,17 Cent ken. pro Kilowattstunde sowie der Rückgang der Strompreise Gerne wird auch die Mär verbreitet, Deutschland sind gute Signale. Millionen privater Haushalte profitie- habe im Vergleich niedrige Industriestrompreise. ren davon. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) (D) Der Erfolg der Energiewende muss sich aber auch da- NEN]: Genau!) ran messen lassen, dass Deutschland ein wettbewerbsfä- higer Wirtschafts- und Industriestandort bleibt. Dazu Lassen Sie mich hier kurz aus dem Fortschrittsbericht sind Sonderregelungen für die stromintensiven Indus- zur Energiewende zitieren: trien schlichtweg erforderlich. Die europafeste Refor- Die durchschnittlichen Strompreise für Industrie- mierung der Besonderen Ausgleichsregelung war des- kunden liegen in Deutschland in weiten Teilen über halb ein Schwerpunkt bei der Novelle zum EEG im dem EU-Durchschnitt und deutlich über den Strom- letzten Jahr. Wir kümmern uns um den Industriestandort preisen in den USA. Deutschland. Uns sind die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätze im Industriebereich wichtig. Es besteht die Gefahr, dass hohe Stromkosten zu einer schleichenden Deindustrialisierung und zu Arbeitsplatz- (Beifall bei der CDU/CSU) verlusten in Deutschland führen. Wenn die betreffenden Die Grünen fordern in ihrem Entschließungsantrag, Branchen erst einmal weg sind, kommen sie auch nicht den Kreis der privilegierten Unternehmen einzuschrän- wieder, wie man in Großbritannien sieht. ken; die Industrie leiste keinen ausreichenden Beitrag. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Saathoff, darin sind wir uns einig – um dies ein NEN]: Wir haben die günstigsten Preise seit weiteres Mal zu entkräften –: Die deutsche Industrie zehn Jahren!) zahlt 7,4 Milliarden Euro EEG-Umlage. Das ist nahezu so viel, wie die privaten Haushalte insgesamt zahlen. Die Da hilft auch der Ausbau von anderen Branchen wie des Industrie trägt somit knapp ein Drittel der Gesamtkosten Dienstleistungssektors nichts. So viele Haare kann man der EEG-Umlage. Zusammen zahlen Industrie, Handel gar nicht schneiden, um diesen Verlust auszugleichen. und Gewerbe über die Hälfte der EEG-Umlage. Zwar (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – lag die Zahl der antragsberechtigten Unternehmen 2014 Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit 2 461 um etwa 5 Prozent höher als im Vorjahr. Dies NEN]: Was? Welche Haare wollen Sie schnei- ist aber auch dadurch bedingt, dass die Schienenbahnen den?) im letzten Jahr noch privilegiert wurden, was auch Ihre Zustimmung gefunden hat. Hingegen blieb die Anzahl Wie eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft der antragsstellenden Industrieunternehmen in etwa zeigt, wurde im vergangenen Jahrzehnt nicht einmal aus- gleich. Das gesamte Entlastungsvolumen lag im letzten reichend investiert, um den Verschleiß der Produktions- Jahr bei rund 5,1 Milliarden Euro. Im Vergleich zu 2014 stätten bei den energieintensiven Unternehmen auszu- ist nun ein Rückgang zu verzeichnen. 2015 liegt die Ent- gleichen. 10184 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Andreas Lenz (A) Wir haben also im letzten Jahr einen klaren Rahmen Es geht vor allem darum, auch künftig ein Höchstmaß (C) für Arbeitsplätze und für Investitionen geschaffen. an Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Gleichzeitig gilt es, die damit verbundene Kapazitätsreserve so aus- Die Grünen fordern in ihrem Entschließungsantrag, zugestalten, dass die notwendigen Kapazitäten auch flä- die geltenden Importzölle für chinesische Photovoltaik- chendeckend verteilt vorhanden sind. Wir brauchen Re- module nicht fortzuführen; darüber kann man diskutie- servekraftwerke zur Netz- und Systemabsicherung. ren, wenn auch nicht im Rahmen des EEG. Aber das geht nur, wenn sich alle Beteiligten an die Regeln für fairen Wir stehen zu den nationalen und europäischen Kli- Handel halten. Die Dumpingpolitik aus China, das Un- maschutzzielen. Dazu muss auch der Strombereich einen terschlagen von Zöllen in Millionenhöhe, Beitrag leisten. Dem Klima ist es allerdings egal, in wel- chem Bereich die CO -Einsparungen erfolgen, und dem (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 2 Klima hilft es auch nichts, wenn die deutsche CO2-Bi- NEN]: In anderen Bereichen machen wir das lanz aufgebessert wird und sich im Gegenzug die der eu- nicht, nur bei Solar!) ropäischen Nachbarn verschlechtert. muss zumindest als Problem erkannt werden. (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer Sie fordern eine Anhebung der jährlichen Zubau- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bisher hat menge bei der Photovoltaik auf 5 000 Megawatt. Die sich immer die deutsche CO2-Bilanz ver- Verdoppelung der Ausbauziele soll dann wohl am besten schlechtert!) mit chinesischen Paneelen erfolgen. Eng damit verknüpft – wir haben es vorhin ja schon (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gehört – sind die Entscheidungen im Bereich der Kraft- NEN]: Sie haben die aus dem Land getrieben! Wärme-Kopplung. Die hocheffiziente KWK muss auch Da ist es kein Wunder!) künftig eine wichtige Rolle spielen. Ich denke, wir tun gut daran, die Ausbaupfade so zu las- Jetzt vielleicht noch einen Satz zum bayerischen sen, wie sie sind. Brief, zur bayerischen Stellungnahme. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Julia (Matthias Ilgen [SPD]: Jetzt geht es wieder los!) Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bayern fordert den Ausbau von Bestandstrassen, neue Das ist doch peinlich! – Oliver Krischer Möglichkeiten bei der Erdverkabelung – das fordern Sie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie ja auch –, neue Möglichkeiten, um Wechsel- und Gleich- schon mal mit einem Handwerker gesprochen? stromsysteme auf einem Mastgestänge zu führen. Das Kennen Sie überhaupt einen?) (B) alles ist auch sinnvoll. (D) Die erste Runde der Pilotausschreibungen bei den Bei allen nationalen Anstrengungen ist zudem die Photovoltaik-Freiflächen ist zwischenzeitlich abge- enge Koordinierung im europäischen Konzert notwen- schlossen. Wir werden die Ergebnisse nun auswerten. dig. Natürlich werden wir dabei auf die Sicherung der Ak- teursvielfalt achten. Das steht ja auch im Koalitionsver- Meine Damen, meine Herren, es gibt viel zu tun. Wir trag. Es darf nicht zu einer Bevorzugung von großen stellen uns den Aufgaben und finden – wie jetzt bei den Projekten kommen. Härtereien und der anteiligen Direktvermarktung – ver- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- antwortliche Lösungen. NEN]: 40 Prozent! Wenn das keine Bevorzu- Herzlichen Dank. gung von großen Unternehmen ist!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Hier sollten in jedem Fall die Bagatellgrenzen der EU- ten der SPD) Beihilferichtlinien ausgenutzt werden. Das werden wir auch machen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- NEN]: Wurde so angekündigt!) nen hat jetzt Dr. Julia Verlinden das Wort. Weiterhin fordern Sie ein Modell zur Vermarktung (Dirk Becker [SPD]: Jetzt geht es ab! Jetzt von sogenanntem Grünstrom. Auch hier wird an der kommt die Generalabrechnung!) Umsetzung gearbeitet. Wir müssen das Richtige aber auch richtig machen. Wir schauen uns also zunächst die Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): erstellten Gutachten und unterschiedlichen Modelle an. Auch hier brauchen wir eine europarechtskonforme Lö- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten sung. Aber Sie können hier gern mithelfen. Damen und Herren! Heute wollen Sie ja mehrere Punkte im Erneuerbare-Energien-Gesetz ändern. Zum einen Zahlreiche weitere Schritte stehen an. Wir brauchen geht es da um diesen Fehler bei der sogenannten anteili- mehr Systemdienlichkeit bei den erneuerbaren Energien. gen Direktvermarktung. Es ist auch dringend nötig, dass Die Vorschläge für ein neues Strommarktdesign liegen Sie diesen Fehler korrigieren. Aber das hätten Sie ja vor. Diese bieten eine gute Grundlage, sind allerdings auch schon im Dezember haben können, nicht? – Im De- weiter zu diskutieren. zember haben wir Grünen einen inhaltlich gleichen Ge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10185

Dr. Julia Verlinden (A) setzentwurf eingebracht, und Sie haben diesen damals fallene Ökostromprivileg, damit der Ökostrom aus deut- (C) abgelehnt. schen EEG-Anlagen auch als solcher verkauft werden kann. (Dirk Becker [SPD]: Da waren auch Fehler drin!) Wir brauchen endlich ein Mieterstrommodell, bei Ich sage jetzt einmal: besser eine späte Einsicht als gar dem auch Mieter, die sich keine eigene Solaranlage auf keine Einsicht. das Dach setzen können, mehr von der Energiewende profitieren. Das war doch für Sie von der SPD immer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Ihrer zentralen Forderungen gewesen. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) (Johann Saathoff [SPD]: Kommt noch!) Außerdem wollen Sie heute noch mehr Branchen Ich frage mich jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen von beim Strompreis begünstigen, indem Sie die Indus- der SPD: Warum setzen Sie sich hier nicht einmal trieprivilegien erweitern. durch? (Dirk Becker [SPD]: Stimmt nicht! Nur an- (Matthias Ilgen [SPD]: Kommt noch! Das stel- wenden auf weitere Branchen!) len wir in zwei Wochen vor!) Minister Gabriel hat vor einem Jahr angekündigt, die In- Ihnen war das Mieterstrommodell sehr wichtig. Die dustrieprivilegien zurückzufahren. Damals hatte er ge- CSU aber kann in der Koalition jede noch so blödsinnige meint, dass die Bundesregierung gut sei, wenn sie die Forderung durchsetzen. anderen Stromkunden – also die privaten Verbraucher und kleine Unternehmen – um 1 Milliarde Euro entlas- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) tet. Inzwischen wissen wir: Dieses Ziel hat die Bundes- Jetzt fordert Frau Aigner auch noch, die Stromtrassen regierung klar verfehlt. Nach Auskünften des BAFA ist um Bayern herumzulegen. Ich hoffe, dass Sie sich nicht es gerade mal ein Drittel, nämlich nur 300 Millionen wieder über den Tisch ziehen lassen. Euro. Herr Gabriel kann sich hier also nicht auf die Schulter klopfen. Seine Entlastung um 1 Milliarde Euro (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – für die privaten Kunden hat er nicht erreicht. Michael Brand [CDU/CSU]: Nein, das soll kein Kreisverkehr werden!) Aber anstatt nun nachzubessern, begünstigen Sie gleich noch zwei weitere Branchen bei der EEG-Um- Es muss doch möglich sein, auch einmal etwas Vernünf- lage. Damit sind wir dann schon bei 221 befreiungsbe- tiges zu beschließen. (B) rechtigten Branchen angekommen. (D) Wir brauchen einen verlässlichen Ausbau aller erneu- (Dirk Becker [SPD]: Das ist falsch!) erbaren Energien, auch der Photovoltaik. Nachdem die Politik in den letzten fünf Jahren schon die Modulher- Und wer zahlt dafür die Zeche? – Die bezahlen die Bür- steller aus Deutschland vertrieben hat – das waren übri- gerinnen und Bürger, der Handels- und Dienstleistungs- gens 20 000 Arbeitsplätze, die Sie vernichtet haben; sektor und die vielen kleinen Unternehmen. Das hat 20 000 –, nichts mit einer gerechten Energiewende zu tun. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Solarma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fia! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Irgendwo sowie bei Abgeordneten der LINKEN) haben Sie Wahrnehmungsschwierigkeiten!) Wir Grüne haben in unserem Antrag einen prakti- kablen Vorschlag gemacht. Wir haben gesagt: Die Be- gehen jetzt viele kleine Handwerksunternehmen reihen- sondere Ausgleichsregelung könnte so ausgestaltet sein, weise pleite, die ihr Geld mit der Installation von Solar- dass wirklich nur energieintensive Unternehmen, die anlagen verdient haben. Da müssen Sie doch etwas un- wirklich im internationalen Wettbewerb stehen, profitie- ternehmen. ren. Dafür gibt es bei der EU eine gute Vorlage, nämlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die EU-Richtlinie zur Strompreiskompensation. Anhand sowie bei Abgeordneten der LINKEN) derer könnte man das hier definieren. Das wäre zweck- mäßig und vernünftig. In unserem Antrag machen wir einen konkreten Vor- schlag zur Erreichung der energie- und klimapolitischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ziele. Wir brauchen einen Ausbaupfad von 5 000 Mega- sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE watt Solarstrom pro Jahr. Wir brauchen keine „Atem- LINKE]) pause“, wie Frau Merkel die Sabotagepolitik der Bun- Es ist wirklich hochinteressant, wie viel Tatkraft Sie desregierung gegen die Photovoltaik verharmlosend nun schon wieder in die Begünstigung von weiteren nennt. Branchen stecken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Dirk Becker [SPD]: Stimmt nicht!) Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU: Ah!) Dabei gibt es im EEG doch noch ganz viel wichtigen Reformbedarf. Den benennen wir auch in unserem An- – Ja, es ist echt verharmlosend, hier von einer Atem- trag. Wir brauchen endlich einen Ersatz für das wegge- pause zu sprechen. – Außerdem müssen wir endlich die- 10186 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Julia Verlinden (A) sen unsäglichen Ausbaustopp bei 52 Gigawatt Photovol- tionalen Wettbewerb begrenzen und das EEG als kosten- (C) taik streichen. effizientes Instrument fortführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Bei der anteiligen Direktvermarktung haben Sie ein che 18/515, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die halbes Jahr gebraucht, um unsere Forderungen als rich- Grünen auf Drucksache 18/291 abzulehnen. Wer stimmt tig zu erkennen. Machen Sie es doch beim Ausbau der für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Photovoltaik, beim Grünstrom- und Mieterstrommodell Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den und bei den Industrieausnahmen besser, und stimmen Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Sie unserem Entschließungsantrag gleich heute zu. Stimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Vielen Dank. Grünen angenommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- LINKE] – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: richts des Ausschusses für Menschenrechte und Nein, das machen wir nicht!) Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem An- trag der Abgeordneten Tom Koenigs, Cem Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Özdemir, Annalena Baerbock, weiterer Abge- Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck- Verfolgt, vertrieben, vergessen – Völkermord sache 18/4683. Es geht um den Entwurf eines Gesetzes an den Rohingya verhindern zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt unter Drucksachen 18/2615, 18/3951 Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für che 18/4968, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Angelika tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen Glöckner, SPD-Fraktion. die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bündnis 90/Die Grünen angenommen. (B) (D) Dritte Beratung Angelika Glöckner (SPD): und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Kollegen! Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- nen ist heute Anlass für die Debatte, in der wir uns mit entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis ange- der Volksgruppe der Rohingya in Myanmar, dem ehema- nommen. ligen Burma, beschäftigen. Welche Aktualität dieses Thema heute hat, haben die Antragsteller zum Zeitpunkt Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- der Formulierung des Antrages nicht gewusst. Viele tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4979. Wer Menschen in unserem Land dürften bis vor wenigen Ta- stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt gen überhaupt nichts von der Existenz, geschweige denn dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsan- von der besorgniserregenden Situation dieser 1,4 Millio- trag ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Frak- nen Menschen in Südostasien gewusst haben. tion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Durch die tragischen Irrfahrten von Hunderten Flüchtlingen aus der Gruppe der myanmarischen Rohin- Abstimmung über die Beschlussempfehlung des gyamuslime im Golf von Bengalen und den umliegen- Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem Entwurf den Gewässern, welche in den letzten Tagen zunehmend eines Gesetzes der Bundesregierung auf Drucksache mediale Beachtung fanden, hat sich das massiv geändert. 18/4891 zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Geset- An dieser Stelle gilt es einmal mehr festzuhalten, dass zes. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner es, wie schon so oft, die Bilder von humanitären oder Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4968, den Ge- menschenrechtlichen Katastrophen sind, die für diese setzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für Art der Öffentlichkeit und Betroffenheit sorgen. Aber diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – neu, Kolleginnen und Kollegen, ist die Flüchtlingspro- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den blematik der Rohingya in Südostasien nicht. Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Seit vielen Jahren leiden sie unter extremen Men- Wir kommen zu Zusatzpunkt 6. Beschlussempfehlung schenrechtsverletzungen, Verfolgung und Perspektivlo- des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem An- sigkeit in ihrem Heimatland. Auf der Flucht vor diesen trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel Umständen werden sie durch Schleuser in die Nachbar- „Europarechtskonforme Regelung der Industrievergüns- länder Myanmars verbracht, wo sie als illegale Arbeits- tigungen auf stromintensive Unternehmen im interna- migranten unter Bedingungen, die an moderne Sklaverei Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10187

Angelika Glöckner (A) erinnern, in der Fischerei-, Agrar- und auch der Touris- Im politischen System Myanmars wird die Dimension (C) musindustrie arbeiten oder – in den schlimmsten Fällen – der Menschenrechtsverletzungen noch immer kleingere- als Geiseln für Lösegeldforderungen missbraucht wer- det. Deshalb gilt es, Druck durch die internationale Öf- den. Jetzt, da die Nachbarstaaten der Region massiv ge- fentlichkeit zu entwickeln. Hier möchte ich auch explizit gen die Schleuser vorgehen, wird das Ausmaß dieses die Opposition in Myanmar in die Pflicht nehmen, wel- skrupellosen und verwerflichen Vorgehens deutlich. che während der Junta-Regierung durch die internatio- nale Öffentlichkeit unterstützt wurde, die Lage der Heute geht es aber vor allem um die Ursachen dieser Rohingya aber seit 2011 vernachlässigte. Ich bin davon Flüchtlingswelle, und dies sind die Menschenrechtsver- überzeugt, dass dies am besten auf multilateraler Ebene letzungen an der Volksgruppe der Rohingya in Myan- funktioniert. Die vorgelegten Berichte der Sonderbe- mar. In bin den Antragstellern dankbar, dass sie dieses richterstatterin der Vereinten Nationen für Menschen- wichtige Thema heute aufgegriffen haben und es somit rechte in Myanmar, Frau Yanghee Lee, vom September auf die Tagesordnung brachten. 2014 und vom März 2015 sowie die am 19. Mai 2015 Die Rohingya sind eine der am stärksten von Men- verlautbarte Forderung nach mehr Rechten für die schenrechtsverletzungen betroffenen Volksgruppe der Rohingya durch Aung San Suu Kyi verdeutlichen dies. Welt. Das muss ohne Umschweife so festgestellt wer- den. Auch nach der beginnenden Liberalisierung Myan- Das Europäische Parlament hat sich der Situation be- mars seit dem Ende der Militärdiktatur 2011, der Freilas- reits 2013 in einer Entschließung angenommen, in der es sung zahlreicher Oppositioneller, der Zulassung einer die Menschenrechtsverletzungen an den Rohingya ver- politischen Opposition und der zu begrüßenden Verbes- urteilt und ihre Anerkennung als Staatsbürger fordert. serung der allgemeinen menschenrechtlichen Situation Wir als SPD setzen uns gemeinsam mit unseren europäi- im Land hat sich daran nichts geändert. In vielen Fällen schen Schwesterparteien in der S&D-Fraktion für eine hat sich die Situation der Rohingya in den letzten vier Resolution im Europäischen Parlament ein. Diese Reso- Jahren sogar noch verschlechtert. Den Rohingya wird lution verurteilt die Situation der Rohingya. Sie fordert noch immer die Staatsbürgerschaft Myanmars und damit ein Ende der Gewalt und ruft auf zu einer gemeinsamen die Teilhabe an grundlegenden Rechten verwehrt. Auf- Lösung durch Myanmar, aber vor allem auch durch die grund der daraus folgenden Staatenlosigkeit besteht für Gemeinschaft der ASEAN-Staaten. Denn das Problem sie zudem keine Möglichkeit, legal aus Myanmar auszu- kann nur durch das gemeinsame Vorgehen aller beteilig- reisen. ten Staaten gelöst werden. Dieses gemeinsame Vorgehen muss unser Weg sein. In ganz Myanmar sind derzeit noch immer ethnische (B) Konflikte und Vertreibungen an der Tagesordnung. Ins- Zuletzt muss auch ganz klar gesagt werden, dass die (D) gesamt zählen die Vereinten Nationen 240 000 Binnen- Flüchtlingskatastrophe und auch die Menschenrechts- flüchtlinge im Land, mehr als die Hälfte davon Rohin- verletzungen an den Rohingya nur ein Symptom von gya in Rakhine, die dort in 40 Flüchtlingscamps unter entwicklungspolitischen und wirtschaftlichen Problemen widrigsten Bedingungen leben. Ihre Bewegungsfreiheit, vor Ort sind. Der Rakhine-Staat in Myanmar ist eine der der Zugang zu Wasser, zu Nahrung, zu Gesundheitsvor- ärmsten Regionen eines Landes, das selbst von großer sorge sowie zu Bildung und Ausbildung werden seitens Armut geprägt ist. Hier liegt die zugrunde liegende Ur- der örtlichen Sicherheitsbehörden massiv eingeschränkt. sache, die durch die gesamte Bevölkerung Myanmars bekämpft werden muss. Es gilt, sie dabei zu unterstüt- Immer wieder aufflammende ethnische Konflikte und zen. Aber diesen Umstand vernachlässigt der vorlie- gewalttätige Übergriffe zwischen der muslimischen gende Antrag weitestgehend. Deshalb möchte ich an die- Minderheit der Rohingya und der radikalen Gruppen der ser Stelle dafür werben, die gesamteuropäische Initiative buddhistischen Bevölkerungsmehrheit in Rakhine seit der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament zu unter- 2011 haben bisher mehrere Hundert Opfer aufseiten der Rohingya gefordert. Die lokalen Sicherheitsbehörden se- stützen. Denn hier müssen wir als Europäer gemeinsam hen tatenlos zu. Die Politik duldet weder religiöse noch agieren und mit gemeinsamer Stimme sprechen, um den ethnische Mischehen. Auch Überlegungen zu Vorgaben Menschenrechtsverletzungen an den Rohingya, aber einer Zwei-Kind-Politik und die Meldepflicht von Hoch- auch ganz besonders den ihnen zugrunde liegenden Ur- zeiten sind hier zu nennen. All dies sind Menschen- sachen erfolgreich entgegenzutreten. Meine Fraktion rechtsverletzungen, die klar zu benennen sind. Hier muss wird daher den vorliegenden Antrag ablehnen. die internationale Staatengemeinschaft geschlossen und Vielen Dank. eindringlich vorgehen und aufzeigen, dass dies keines- falls hingenommen wird. Hier gilt ganz klar die Schutz- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verantwortung des Staates Myanmar gegenüber seinen der CDU/CSU) Bürgern, und diese schließt explizit die Rohingya mit ein. Es ist Aufgabe der internationalen Staatengemein- schaft, auf die Umsetzung dieser Schutzverantwortung Vizepräsidentin Ulla Schmidt: hinzuwirken. Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Annette Groth, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) 10188 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Annette Groth (DIE LINKE): „Goldgräberstimmung in Rangun“ titelte die FAZ (C) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ende letzten Jahres und beschrieb den Boom in der ehe- Wir sind derzeit Zeugen von drei Flüchtlingskatastro- maligen Hauptstadt Burmas, die inzwischen zu den teu- phen: die erste vor unserer Haustür im Mittelmeer, die ersten Städten der Welt gehört. So zahlen UNICEF und zweite im südostasiatischen Meer – das haben wir ge- die WHO 1 Million Dollar Jahresmiete für ihre Büros, rade gehört –, und die dritte Flüchtlingskatastrophe was für große Kritik sorgte. Da die meisten Bürohäuser spielt sich im Roten Meer ab, wo Tausende von Afrika- den Militärs gehören, wandert dieses Geld in deren Ta- nern auf Booten aus dem Jemen in ihre Heimatländer schen, was auch ein Skandal ist, finde ich. flüchten. Darüber wird bei uns allerdings kaum berich- Gleichzeitig hat Myanmar in der Region die niedrigs- tet. ten Löhne, sodass Textilunternehmen ihre Produktion Wir haben es gerade gehört: Ein Großteil der Boots- aus anderen Billiglohnländern nach Myanmar verlagern. flüchtlinge im südostasiatischen Meer sind die Rohin- Die Investitionen von Textilunternehmen haben sich im gya. Das ist eine muslimische Volksgruppe, die seit über letzten Jahr verfünffacht. Myanmar wird zum zweiten 150 Jahren verfolgt und diskriminiert wird. Im burmesi- Bangladesch, allerdings auf noch niedrigerem Niveau. schen Staatsangehörigkeitsgesetz von 1982 werden sie Laut der Kampagne für Saubere Kleidung, die die men- ausdrücklich nicht als nationale Minderheit anerkannt, schenverachtenden Zustände in der Bekleidungsindus- sondern als Bengalis bezeichnet, was „Einwanderer“ be- trie anprangert, liegt der Monatslohn für die Beschäftig- deutet. De facto sind sie staatenlos, weshalb die burmesi- ten in Myanmar bei 35 Dollar, halb so viel wie in sche Regierung sich auch weigert, die Geflüchteten wie- Bangladesch. Davon kann kein Mensch leben. der einreisen zu lassen. Die Unterdrückung und Verfolgung der Rohingya Seit gestern gibt es einen Hoffnungsschimmer für die wird durch die bittere Armut im Land zusätzlich ange- Bootsflüchtlinge: Die Regierungen von Malaysia und In- feuert. Soziale Mindeststandards, menschenwürdige donesien haben angekündigt, die Geflüchteten an Land Löhne, das Recht auf Gesundheitsversorgung und Bil- zu lassen. Gleichzeitig machten beide Staaten aber deut- dung sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine Ver- lich, dass sie hierfür internationale Hilfe erwarten und besserung der sozialen Situation in Myanmar. andere Länder die Flüchtlinge spätestens nach einem Wir, die Fraktion Die Linke, werden dem Antrag von Jahr aufnehmen müssen. Bündnis 90/Die Grünen zustimmen. Wir hoffen, dass die dramatische Lage der Rohingya nicht in der medialen Zu betonen ist, dass indonesische Fischer bisher über Vergessenheit landet. 1 300 Flüchtlinge gerettet und gegen den Willen der Be- hörden an Land gebracht haben. Fischerfamilien haben Vielen Dank. (B) (D) die erschöpften Flüchtlinge versorgt, bevor Behörden (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten und Hilfsorganisationen eingesprungen sind. Es waren des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Fischer, die nach treibenden Booten suchten, um die Flüchtlinge zu retten – und das, obwohl das indonesische Militär darauf drängte, nur Menschen von gesunkenen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Booten aufzunehmen. Diese Fischer und ihre Familien Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht haben meinen höchsten Respekt. jetzt der Kollege Dr. Bernd Fabritius. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und neten der SPD) der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, aufgrund der Ge- Dr. Bernd Fabritius (CDU/CSU): walt und der strukturellen Diskriminierung sind allein in Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und den letzten drei Jahren etwa 100 000 Rohingya geflohen, Herren Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir in diesem Jahr fast 30 000. In Thailand fallen sie skru- thematisieren zu später Stunde das Schicksal der Rohin- pellosen Menschenhändlern in die Hände, die sie als Ar- gya in Myanmar, auf Antrag der Grünen. Die im Süd- beitssklaven ausbeuten; viele Flüchtlinge bezahlen das westen Myanmars ansässige muslimische Volksgruppe mit ihrem Leben. der Rohingya gilt laut einer Feststellung der Vereinten Bis vor fünf Jahren wurde Myanmar von einer Mili- Nationen als die am meisten verfolgte Minderheit der tärdiktatur regiert. Die internationale Gemeinschaft hat Welt. dies mit scharfen Sanktionen geahndet. Seit der Einset- Auch wenn die öffentliche Wahrnehmung bei uns zung einer Zivilregierung unter Präsident Thein Sein ha- größtenteils durch die abscheulichen Verbrechen der ben die westlichen Staaten die Sanktionen gelockert. Terrorgruppe „Islamischer Staat“, den weiterhin vor un- Seitdem gilt das Land als Eldorado für Investoren und serer Haustür schwelenden Ukraine-Konflikt und die Topdestination für Touristen. An der langen Küste wer- weltweite Flüchtlingskrise mit mehr als 50 Millionen den Hotels für internationale Touristen hochgezogen. Schutzsuchenden und Vertriebenen beherrscht wird, dür- Die Vertreibung der lokalen Bevölkerung von ihrem fen wir die dramatische Situation der Rohingya auf kei- Land ist an der Tagesordnung. Davon ist in unseren Me- nen Fall aus den Augen verlieren. Das ist unstreitig. dien aber leider nichts zu lesen; auch das ist ein Skandal. Im Schatten des atemberaubenden politischen Wan- (Beifall bei der LINKEN) dels, der in dem noch bis vor kurzem von einer Militär- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10189

Dr. Bernd Fabritius (A) diktatur beherrschten Myanmar stattfindet, werden die selbstverständlich nicht besser macht oder gar als Recht- (C) Rohingya weiterhin ausgegrenzt und ihrer Bürgerrechte fertigung missverstanden werden darf. beraubt. Deshalb gehören viele von ihnen inzwischen zu Meine Damen und Herren, auch die Nachbarländer den gerade erwähnten mehr als 50 Millionen Schutzsu- Myanmars müssen ihrer humanitären Verantwortung ge- chenden weltweit – sowohl als Binnenvertriebene in recht werden. Die gestrige Entscheidung der Außen- Myanmar selbst als auch als Flüchtlinge in den Nachbar- minister Indonesiens und Malaysias, die circa 7 000 wei- staaten. terhin auf hoher See ausharrenden Flüchtlinge nun doch Man muss sich das einmal vorstellen: Im Vielvölker- zumindest zeitweise aufzunehmen, ist ein Schritt in die staat Myanmar gibt es 135 staatlich anerkannte Minder- richtige Richtung. heiten, aber diese eine mit geschätzt immerhin 1 Million (Beifall des Abg. Omid Nouripour [BÜND- Angehörigen im Land wird nicht anerkannt. Im Gegen- NIS 90/DIE GRÜNEN]) teil: 1982 wurde den Rohingya durch eine Regelung im Staatsangehörigkeitsrecht sogar allgemein die Staatsan- Darüber hinaus sollten die Länder in der Region auch gehörigkeit entzogen. Die Folgen sind unerträglich: gegen die kriminellen Schlepperbanden vorgehen. Wie Rohingya werden wie Rechtlose behandelt, sie erhalten im Mittelmeer verdienen skrupellose Menschenschmugg- beispielsweise keine Ausweise, ihr Zugang zum Ge- ler auch dort mit dem Leid der Flüchtlinge ein Vermö- sundheits- und Bildungssystem ist eingeschränkt, und gen. Die Internationale Organisation für Migration in wenn sie heiraten wollen, dann brauchen sie eine Geneh- Asien geht davon aus, dass Schmuggler allein in dieser migung, die oft erst nach Jahren erteilt wird. Region an diesem menschlichen Desaster eine Viertel- milliarde Dollar jährlich verdienen. Der Ursprung dieser Ausgrenzung liegt unter ande- rem in der Behauptung, die Rohingya seien nicht in My- Vor allem jedoch muss Myanmar – die dortige Regie- anmar beheimatet, sondern – das wurde schon erwähnt – rung und die Gesellschaft – seine Haltung gegenüber den aus Bengalen eingewandert. Als Konsequenz dieser Rohingya ändern; denn letztlich ist das Leid der Flücht- Sichtweise droht den Rohingya sogar die vollständige linge ein Symptom der verfehlten Minderheitenpolitik in Vertreibung aus Myanmar. diesem Land. Wirkliche Veränderungen und Verbesse- rungen kann dort nur die Regierung erreichen, und dabei Leider hört der Albtraum damit nicht auf. Seit Juni müssen wir sie in die Pflicht nehmen. 2012 kam es vermehrt zu gewalttätigen Übergriffen auf die Rohingya. Es gab Misshandlungen und sogar Tote. Selbstverständlich möchte ich die in den vergangenen Ganze Dörfer und Siedlungen wurden niedergebrannt. Jahren durchgeführten Reformen nicht verschweigen: Auf dem Weg zur Demokratie wurden in Myanmar in- Weil fatalerweise auch die Polizei die Gewalt nicht (B) nerhalb kurzer Zeit auch Fortschritte gemacht, beispiels- (D) verhindert, bleibt den Rohingya meist nur die Flucht. So weise im Bereich der Pressefreiheit. leben weit über 100 000 von ihnen als Vertriebene im ei- genen Land in Flüchtlingslagern. Die Zustände in diesen Solche positiven Entwicklungen dürfen nicht darüber Lagern sind katastrophal. Es fehlt an nahezu allem, was hinwegtäuschen, dass die Dinge an anderer Stelle, in der zum Leben und zum Überleben notwendig ist. Minderheitenpolitik, im Argen liegen und sogar weitere Rückschritte drohen. Anstatt auf Betreiben radikaler Seit vielen Jahren suchen Rohingya auch Schutz in Gruppen ein neues diskriminierendes Gesetz zu erlassen, den umliegenden Ländern. Schätzungen zufolge sind in welches Frauen in armen Regionen, damit natürlich den den letzten Jahrzehnten weit über 1 Million Mitglieder Rohingya, etwa bei der Familienplanung enge Grenzen der Volksgruppe vor Gewalt und Diskriminierung aus setzt, sollte sich die Regierung vielmehr für die Beseiti- Myanmar geflüchtet. Der Weg aus dem Land heraus gung von Diskriminierungen einsetzen. führt meist über das Meer und ist mit großen Risiken verbunden. (Beifall des Abg. Dr. Andreas Lenz [CDU/ CSU]) In den vergangenen Tagen häuften sich Berichte über verzweifelte Bootsflüchtlinge vor den Küsten der Anrai- Sie muss darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass die nerstaaten, vor allem vor Indonesien, Malaysia und Polizei bei stattfindenden Hetzjagden gegen Rohingya Thailand. Auch unsere Nachrichtensender haben dieses tatsächlich eingreift, Thema in den letzten Tagen bereits aufgegriffen. (Beifall des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]) Die Praxis der genannten Staaten, die an ihren Küsten die Opfer schützt und nicht etwa noch mitmacht. Letzt- anlandenden übervollen Flüchtlingsboote mit halbver- lich müssen die Rohingya als Minderheit anerkannt wer- hungerten und -verdursteten Menschen zurück auf das den, sie müssen ihre Staatsangehörigkeit und ihre weite- offene Meer zu schicken, ist unglaublich und erschüt- ren Rechte wiedererlangen. ternd. Bei alledem müssen wir berücksichtigen, dass sich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- natürlich nicht ausschließlich die offiziellen Vertreter wie des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/ des Landes der Diskriminierung und des Rassismus DIE GRÜNEN]) schuldig machen. Zumeist religiöse Extremisten nutzen Sie zeugt aber auch von der Überforderung dieser Län- vorhandene Vorurteile und schüren Hass und Miss- der angesichts des nicht abreißenden Flüchtlingsstroms trauen. Es ist klar, dass auch die Anfeindungen aus der Abertausender Schutzsuchender, was die Situation Bevölkerung aufhören müssen. Genau an dieser Stelle 10190 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Bernd Fabritius (A) ist auch die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Deshalb machen wir nichts. – Haben Sie uns gefragt, ob (C) Kyi gefordert. Selbst wenn der Einsatz für die muslimi- wir gemeinsam einen Antrag vorlegen wollen? Frau sche Minderheit der Rohingya offenbar keinen Stim- Glöckner sagt: Wir warten auf die SPD-Initiative. – Wo menvorteil in dem mehrheitlich buddhistischen Land ist sie? Wir unterstützen einen diesbezüglichen Ent- bringt, muss die Oppositionsführerin als Ikone des Wan- schließungsantrag im Europäischen Parlament, und hier dels und der Demokratiebewegung in Myanmar klar machen wir nichts? Nehmen wir uns so wenig ernst, dass Stellung gegen Gewalt und Diskriminierung beziehen, wir angesichts dieses schreienden Unrechts, dieser Kata- und das tut sie bisher leider nicht. strophen, dieses Desasters, über das wir täglich in den Zeitungen lesen, einfach sagen: Nein. – Herr Fabritius Zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen sagt: Die Bundesregierung wird es richten. – Prima. Und von den Grünen, muss ich allerdings sagen: Auch wenn wir? Wir verabschieden nicht einmal eine Resolution die Situation der Rohingya verheerend und durch nichts dazu. Hätten wir diese Debatte nicht gefordert und da- zu entschuldigen ist, warne ich davor, solche Geschehen rauf bestanden, dass sie nicht zu Protokoll geht, wären vorschnell als Völkermord einzustufen. Völkermord ist Sie alle schon zu Hause. ein klar definierter Tatbestand, und den sehe ich hier – das sage ich ausdrücklich – zum Glück nicht erfüllt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dieser Meinung sind übrigens auch Nichtregierungsor- ganisationen wie etwa Amnesty International, Human Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Rights Watch oder die Gesellschaft für bedrohte Völker, Herr Kollege Koenigs, gestatten Sie eine Zwischen- (Michael Brand [CDU/CSU]: Mit langjähri- frage des Kollegen Wunderlich? ger Erfahrung!) die in ihren teils sehr ausführlichen Berichten zur Situa- Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tion der Rohingya in Myanmar das Geschehen minutiös Ich gestatte eine Zwischenfrage, auch zwei. Wer will aufzeigen und dennoch nicht von Völkermord sprechen. sie haben? Die Leiden der Rohingya und die nicht hinnehmbare Haltung der Regierung Myanmars werden in keiner Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Weise beschönigt oder gar negiert, wenn wir Sorge dafür Bitte schön, Herr Kollege Wunderlich. tragen, dass tatsächliche Völkermorde durch eine ab- schwächende Verwendung des Begriffs auch für andere Unrechtsgeschehen nicht relativiert werden. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege (B) Meine Damen und Herren, ich habe deutlich gemacht, Koenigs, ich bin weder im Ausschuss für Menschen- (D) was wir von der Regierung Myanmars erwarten. Sie rechte noch in einem anderen mitberatenden Ausschuss muss künftig garantieren, dass die Menschenrechte der Mitglied, konnte die Debatten dort also nicht verfolgen. Rohingya nicht weiter mit Füßen getreten werden. Ich Deswegen habe ich heute aufmerksam gelauscht und die bin mir darüber hinaus sicher, dass unsere Bundesregie- Forderungen in Ihrem Antrag gelesen. Angesichts der rung in dieser Sache das Nötige unternimmt und auch Ablehnung im Ausschuss war ich erstaunt über die Aus- gegenüber Vertretern Myanmars den richtigen Ton trifft. führungen von Dr. Fabritius hier. Im Ausschuss ist der Unsere Regierung ist gerade international bekannt dafür, Antrag abgelehnt worden, aber Dr. Fabritius hat hier ei- Menschenrechte überall dort zu thematisieren, wo dies gentlich nur Argumente geliefert, warum man dem An- notwendig ist, und das meist mit Erfolg. Anträge wie trag von Bündnis 90/Die Grünen zustimmen sollte. diesen braucht sie dafür bestimmt nicht. Jetzt habe ich von Ihnen gehört, dass das Ganze im Danke. Ausschuss ohne Begründung von den Koalitionsfraktio- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen abgelehnt wurde, obwohl sich alle darüber einig neten der SPD) sind, dass diese Situation schlimm ist. Alle sagen: Wir müssen einschreiten; es sterben nicht nur Leute im Mit- telmeer, sondern auch im Pazifik. Über diese Situation Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ist hier ausgiebig debattiert worden. Jetzt erfahre ich, Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt dass man sich im Grunde nur an der Begrifflichkeit Tom Koenigs das Wort. „Völkermord“ stößt. Warum, frage ich mich dann, hat die Koalition in den Beratungen im Ausschuss, die in- Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): haltlich in die Tiefe gehen sollten, nicht einen Ände- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir rungsantrag gestellt, um diesen Begriff auszutauschen? diskutieren zu so später Stunde über diesen Antrag, weil Warum hat man nicht versucht, diese komischen Befind- er im Ausschuss einfach ohne Begründung abgelehnt lichkeiten – so sage ich es einmal – wegzuräumen, um wurde. den Leuten dort zu helfen? Dass man sich an so etwas hochzieht, um die Hilfe, die in diesem Antrag gefordert Heute sind wir uns bei der Schilderung des Desasters wird, abzulehnen, ist für mich schier unerträglich. Kön- der Rohingya, ihrer Unterdrückung und Verfolgung völ- nen Sie mir da zustimmen? lig einig. Alle Vorrednerinnen und Vorredner haben zu dieser Schilderung etwas beigetragen. Das war alles (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ richtig. Darin sind wir uns einig. Aber die Mehrheit sagt: DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10191

(A) Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sehen, dass es mit dieser Diskriminierung weitergeht. (C) Herr Kollege, diese Frage habe ich mir auch gestellt. Das sind die Vorboten eines möglichen Völkermordes. Der Menschenrechtsausschuss hat eine Information der Das müssen wir mit allen Mitteln verhindern, egal ob Bundesregierung erhalten über all die Tatsachen, die in das Europaparlament da etwas macht. diesem Antrag stehen. Herr Fabritius, Frau Groth und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Glöckner haben sie vorhin geschildert. Darüber ist und bei der LINKEN) man sich völlig einig. Dann wurde der Antrag zur Ab- stimmung gestellt. Da hat keiner etwas gesagt. Die Ko- Es ist gut, dass das Europäische Parlament etwas macht. alitionsfraktionen waren dagegen, und die Opposition war dafür. Ende. – Das ist zu wenig. Wenn Sie sagen, dass die Bundesregierung es schon richten wird, dann frage ich mich: Wo ist denn Ihre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Selbstachtung? Wir müssen selbst etwas machen. Wir und bei der LINKEN) können nicht nur die Zeitung lesen und sagen: Hoffent- Herr Fabritius, jetzt zum Thema Völkermord. In dem lich ist das bald wieder – was es vor einem Jahr war – Antrag steht nicht, dass dort ein Völkermord passiert, eine vergessene Krise. – Wir machen uns schuldig. Wir sondern dass man ihn verhindern muss. Vor einem Jahr sehen das. Wir müssen den Bürgern deutlich sagen: Wir habe ich ein Gespräch mit dem Sonderberater des Gene- beziehen Stellung. Wir unterstützen unsere Regierung ralsekretärs der Vereinten Nationen für die Verhütung darin, dass sie da etwas macht. Wir unterstützen die von Völkermord geführt. Diese Institution ist geschaffen Kämpfer vor Ort, die für die gerechte Sache kämpfen. worden, um ein Instrument zur Durchsetzung der Kon- Wir fordern die Nobelpreisträgerin auf, sich eindeutig zu vention über die Verhütung und Bestrafung des Völker- äußern. mordes zu haben, der wir vor 60 Jahren zugestimmt ha- So viel können Sie doch machen. Lassen Sie das nicht ben, die wir ratifiziert haben. Herr Adama Dieng hat auf einfach vorbeigehen, indem Sie sagen: „Jetzt sind wir es meine Frage: „Was glauben Sie denn, wo am ehesten die endlich los und gehen nach Hause“, sondern formulieren Gefahr besteht, dass ein Völkermord begangen wird?“, Sie – meinetwegen zusammen mit der SPD – eine Reso- auf Myanmar hingewiesen. Das haben auch Sie, Herr lution. Wir werden mit Sicherheit daran mitarbeiten. Fabritius, geschildert. Dort besteht die größte Gefahr, Wenn sie in diesem Tenor ist, dann werden wir sie unter- weil die Repression, die Diskriminierung und die Ver- stützen. brechen so zahlreich sind. Dabei geht es übrigens auch um religiöse Fragen, um die Zerstörung von Moscheen Vielen Dank. usw. Daher muss man befürchten, dass es in Myanmar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einem Völkermord kommt. Das ist die Fluchtursache: (B) und bei der LINKEN) (D) Die Leute haben Angst vor einem Völkermord. Deshalb trägt der Antrag den Titel „Verfolgt, vertrieben, verges- sen – Völkermord an den Rohingya verhindern“. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet. Ja, wir können dort nicht sehr viel tun. Wir könnten im Mittelmeer sehr viel mehr tun. Was wir aber tun kön- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- nen, das sollten wir auch tun. schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Titel „Verfolgt, vertrieben, vergessen – Völkermord und bei der LINKEN) an den Rohingya verhindern“. Wir sollten nicht sagen, dass das Europaparlament oder Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- die SPD-Fraktion irgendwo etwas machen sollen. Des- lung auf Drucksache 18/3951, den Antrag der Fraktion halb haben wir diesen Vorschlag erarbeitet. Sie können Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/2615 abzu- ihn gerne erweitern. Sie können auch sagen: Wir müssen lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – eine gemeinsame Resolution des Bundestages erreichen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- Das hat Gewicht. schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- Unsere Stimme hat in Myanmar Gewicht. Die Dele- fraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenom- gationen kommen hierher. Wir sind der wichtigste euro- men. päische Wirtschaftspartner. Die Europäische Gemein- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: schaft hat für die nächsten fünf Jahre 700 Millionen Euro für die Förderung des Wiederaufbaus von Myan- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- mar eingesetzt. Das war eine vergessene Krise. Jetzt ist regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- es ein Boomland. Da müssen und können wir eingreifen, zes zur Neuregelung der Unterhaltssicherung und zwar auch durch die Instrumente der Resolution und sowie zur Änderung soldatenrechtlicher Vor- des Appells. schriften Die Konferenz der Minister der Nachbarstaaten, die Drucksache 18/4632 Sie erwähnt haben, soll nächste Woche fortgesetzt wer- Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi- den. Myanmar ist eingeladen. Die Generäle dort haben gungsausschusses (12. Ausschuss) aber gesagt: Wenn auch nur das Wort „Rohingya“ er- wähnt wird, dann kommen wir nicht. – Da können Sie Drucksache 18/4851 10192 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU- und (C) gemäß § 96 der Geschäftsordnung SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Drucksache 18/4852 nen angenommen. Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) – Ich sehe keinen Widerspruch. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungs- nen auf Drucksache 18/3916 mit dem Titel „Resolution ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Vereinten Nationen für ein multilaterales Rahmen- Drucksache 18/4851, den Gesetzentwurf der Bundesre- werk zur Restrukturierung von Staatsschulden umsetzen – gierung auf Drucksache 18/4632 in der Ausschussfas- Jetzt aktiv den Arbeitsprozess der Vereinten Nationen sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- mitgestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung tionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition ange- mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion und nommen. Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Wir kommen zur Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur dritten Beratung Neuordnung des Rechts über das Inverkehr- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem bringen, die Rücknahme und die umweltver- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – trägliche Entsorgung von Elektro- und Elek- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- tronikgeräten wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenom- Drucksache 18/4901 men. Überweisungsvorschlag: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) – – zu dem Antrag der Abgeordneten Niema Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. (B) Movassat, Dr. Axel Troost, Wolfgang Gehrcke, (D) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- LINKE wurfs auf Drucksache 18/4901 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Für ein internationales Staateninsolvenz- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. verfahren Dann ist so beschlossen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Kekeritz, Dr. Gerhard Schick, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Albani, Anette Hübinger, Albert Rupprecht, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Resolution der Vereinten Nationen für ein CSU sowie der Abgeordneten René Röspel, multilaterales Rahmenwerk zur Restruk- Dr. Ernst Dieter Rossmann, Hubertus Heil turierung von Staatsschulden umsetzen – (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Jetzt aktiv den Arbeitsprozess der Verein- der SPD ten Nationen mitgestalten Forschung und Entwicklung für die Bekämp- Drucksachen 18/3743, 18/3916, 18/4233 fung von vernachlässigten armutsassoziierten Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) – Erkrankungen stärken Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Drucksache 18/4930 Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.4) – empfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. 18/4233. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3743 mit dem Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache Titel „Für ein internationales Staateninsolvenzverfah- 18/4930. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- Stimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion bei Enthal-

1) Anlage 3 3) Anlage 5 2) Anlage 4 4) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10193

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) tung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü- dürfe. So nämlich wird die Delegierung der Auswahl an (C) nen angenommen. den Wahlausschuss gewertet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass wir in einem fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf die- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- ser Kritik begegnen und Änderungen vornehmen. Es nen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜND- bleibt zwar auch künftig bei dem zwölfköpfigen Wahl- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ausschuss. Dieser wählt aber nicht mehr die Richter des eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichts; stattdessen beschließt er mit Bundesverfassungsgerichtsgesetzes mindestens acht Stimmen einen Wahlvorschlag. Die (9. BVerfGGÄndG) Richter werden auf diesen Vorschlag hin im Plenum Drucksache 18/2737 ohne Aussprache gewählt und müssen dort eine Zwei- drittelmehrheit erhalten. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Dennoch – der Änderungsantrag der Grünen macht es ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- deutlich – konnten wir trotz des fraktionsübergreifenden schuss) Gesetzentwurfs nicht in allen Punkten Einigkeit errei- Drucksache 18/4963 chen. Die Grünen fordern zum Beispiel eine Frauen- quote von 37,5 Prozent in jedem der beiden Gerichts- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- senate. nis 90/Die Grünen vor. Meine Damen und Herren, die SPD ist die Partei der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Quote. die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der SPD – Lachen beim BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Renate Künast Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich erzähle gleich mal was aus dem Nähkästchen! – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Richard Pitterle [DIE LINKE]: Ihr wollt also Dr. Matthias Bartke, SPD-Fraktion. 40 Prozent?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben das Gesetz zur Frauenquote in Führungsposi- der CDU/CSU) tionen durchgesetzt. Aber das Gesetz war auch sorgfältig vorbereitet und wurde vorher intensiv und medial disku- (B) Dr. Matthias Bartke (SPD): tiert. Genau das ist hier nicht der Fall. Hier soll quasi im (D) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen Vorbeigehen kurz vor Ende der zweiten Lesung ein Sie sich vor, Politiker würden sich des makellosen Rufes Schnellschuss abgefeuert werden, der mehr grundsätzli- erfreuen, den die Richter des Bundesverfassungsgerichts che Fragen als Antworten aufwirft: Warum eine 37,5-Pro- haben. Ich glaube, jeder der hier versammelten Abgeord- zent-Quote? Warum sollen nur die Senate des Bundes- neten wäre begeistert. verfassungsgerichts quotiert werden? Warum sollen nicht auch andere Gerichte quotiert werden? Warum soll (Richard Pitterle [DIE LINKE]: Bei uns ist das nicht zum Beispiel auch die Finanzgerichtsbarkeit, die der Fall!) bislang den geringsten Frauenanteil aller Gerichtsbarkei- ten aufweist, quotiert werden? Das hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts ist von unschätzbarem Wert, der nicht aufgewogen werden (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kann. Unser Anspruch muss es daher sein, die hohe Le- Weil die nicht im Bundesverfassungsgerichts- gitimität des Bundesverfassungsgerichts zu erhalten. Die gesetz geregelt wird!) Frage der Richterwahl trifft dabei den Kern des Ganzen. Grundsätzlich geregelt ist sie in Artikel 94 Grundgesetz, All das sind Fragen, die man lösen kann, aber nicht, konkretisiert wird sie in § 6 des Bundesverfassungsge- indem man kurz vor Ultimo eben einen kleinen Ände- richtsgesetzes. Diese Konkretisierung im Bundesverfas- rungsantrag mit gravierender Tragweite einbringt. Und sungsgerichtsgesetz trat 1951, also vor fast 65 Jahren, in natürlich hätte man vorher eine umfängliche Anhörung Kraft; und sie ist seither hochstrittig. Selbst der amtie- zur Thematik durchführen müssen. Nein, ein solcher rende Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle Schnellschuss entspricht keiner verantwortungsvollen hat die geltende Regelung der Richterwahl in seiner Politik. Kommentierung von Artikel 94 Grundgesetz noch im (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Jahr 2010 mit deutlichen Worten als verfassungswidrig CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ deklariert. Seltsamerweise hat er aber dann zwei Jahre DIE GRÜNEN]: Das würde ich einmal bei der später den Beschluss mitunterzeichnet, nach dem das Vorratsdatenspeicherung berücksichtigen!) Gericht die Regelung zur Richterwahl als verfassungs- konform ansieht. Lassen Sie mich aber am Ende doch festhalten: Mit dem heute zu beschließenden Gesetz werden wir ein Die Kritiker der jetzigen Rechtslage bemängeln, dass Wahlverfahren für das höchste deutsche Gericht korri- sich das Bundestagsplenum der zentralen Aufgabe der gieren, das seit Jahrzehnten verfassungsrechtlich und Auswahl der eigenen Kontrolleure nicht entledigen verfassungspolitisch hochstrittig war. Meine Damen und 10194 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Matthias Bartke (A) Herren, daher gilt: Heute ist ein guter Tag für unseren (Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Ullrich (C) Rechtsstaat! [CDU/CSU]: Weil es ein Verfassungsorgan ist!) Ich danke Ihnen. Wir sollten auch darüber nachdenken, wie wir unserer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verantwortung für die Richterinnen und Richter am der CDU/CSU) Bundesverfassungsgericht gerecht werden. Das Bundes- verfassungsgericht ist in den letzten Monaten und Jahren Vizepräsidentin Ulla Schmidt: in die Rolle eines Ersatzgesetzgebers gedrängt worden. Deswegen sollten wir uns als Ziel vornehmen, hier künf- Vielen Dank. – Nächster Redner ist Richard Pitterle, tig mehr verfassungskonforme Gesetze zu verabschie- Fraktion Die Linke. den. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Johannes Richard Pitterle (DIE LINKE): Fechner [SPD]: Das machen wir doch!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Hätten Sie in der Vergangenheit auf uns gehört, dann nen und Kollegen! Mit meiner Zustimmung zu dem vor- wäre den Richtern des Bundesverfassungsgerichts viel liegenden Gesetzentwurf schaffe ich mich ab, natürlich Arbeit erspart geblieben. Das sage ich jetzt aus aktuel- nicht als Person, sondern als privilegiertes Mitglied die- lem Anlass. Wenn das Bundesverfassungsgericht im ses Bundestags, das bisher bereits an der Wahl der Rich- letzten Dezember entschieden hat, dass Teile des Erb- ter am Bundesverfassungsgericht beteiligt war. Künftig schaftsteuergesetzes verfassungswidrig sind, weil eine sollen, wie wir bereits gehört haben, die Richter vom nicht zu rechtfertigende Privilegierung der deutschen Plenum des Deutschen Bundestages gewählt werden. Oligarchen dadurch stattfindet, Das ist richtig und wichtig. Damit brechen wir mit einer 34 Jahre alten Tradition. Das ist aus meiner Sicht keine (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ reine Formsache. Wenn wir die Richterinnen und Richter CSU) im Plenum wählen, wird das vielmehr der Bedeutung dann sollten wir nicht im nächsten Schritt versuchen, dieses Gerichts, das Entscheidungen mit Gesetzeskraft diese Privilegien zu erhalten. trifft und das auch Entscheidungen des Bundestages re- vidieren kann, erst wirklich gerecht. (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Das gibt es bei Putin!) (Beifall bei der LINKEN) (B) So würde das Bundesverfassungsgericht von Arbeit ent- (D) Ich finde es auch gut, dass dieser Weg über Fraktions- lastet. grenzen hinweg bestritten wird, was sich in einem ge- Vielen Dank. meinsamen Gesetzentwurf aller vier Fraktionen des Bundestages widerspiegelt. (Beifall bei der LINKEN) Bei der großen Freude über die Einigkeit, was diesen Schritt angeht, bleibt ein Wermutstropfen. Angesichts Vizepräsidentin Ulla Schmidt: der Tatsache, dass nur 5 von 16 Mitgliedern des Bundes- Vielen Dank. – Als Nächste spricht Elisabeth verfassungsgerichts weiblich sind, hätten wir uns schon Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion. eine verbindliche Quotierung gewünscht, wie es auch im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Änderungsantrag der Grünen gefordert wird. neten der SPD) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum ist mir dieser Punkt wichtig? Jedem Urteil des „Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes werden Bundesverfassungsgerichts geht ein Abwägungsprozess je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate ge- zwischen der Lebensrealität und den verfassungsrechtli- wählt“, so besagt es Artikel 94 Absatz 1 Satz 2 unseres chen Ansätzen voraus. In einen solchen Abwägungspro- Grundgesetzes. Der Bundesrat hat das für seine Hälfte zess gehen unterschiedliche Sichtweisen ein. Wir wis- gleich von Anfang an so umgesetzt, wie man das erwar- sen: Sichtweisen sind durch Lebenserfahrung geprägt. tet. Wenn vom Bundesrat die Rede ist, dann denkt man Wir wissen auch, dass Männer und Frauen unterschiedli- ans Plenum, und dort werden auch die vom Bundesrat zu che Lebenserfahrungen haben. Ich hätte mir gewünscht, wählenden Richter ausgewählt. dass diese unterschiedlichen Erfahrungsansätze in diesen Abwägungsprozess Eingang finden. Der Bundestag ist von Anfang an einen anderen Weg gegangen – wir haben es gerade gehört –: Ein zwölfköp- Die Vertreter der Regierungskoalition müssen sich figes Gremium übernimmt das für uns. Das ist nicht so schon fragen, warum eine Frauenquote, die wir vor eini- richtig transparent, nicht jeder bekommt mit, was da pas- gen Wochen hier ja tatsächlich für DAX-Unternehmen siert. Es wird so gut wie keine öffentliche Notiz davon beschlossen haben, ausgerechnet für das höchste Organ genommen. Dabei ist es durchaus von Bedeutung, wel- der Rechtsprechung nicht gelten soll. che Persönlichkeiten diese Aufgabe beim Bundesverfas- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10195

Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) sungsgericht für uns alle wahrnehmen. Sie legen für uns (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) die Verfassung verbindlich aus, sie entscheiden auch Dr. Matthias Bartke [SPD]) teilweise über unsere gesetzgeberischen Entscheidun- Ein Stück weit ist es auch dieser Transparenz geschul- gen. Da macht es nicht nur einen Unterschied, welche det, dass wir heute Abend hier diese Debatte sozusagen rechtliche Qualifikation man mit sich bringt, sondern in Wort und Bild führen und die Reden nicht nur zu Pro- auch, welche Lebenserfahrung man mitbringt, welches tokoll geben. Ich denke, das ist eine kleine Reminiszenz Geschlecht man mitbringt, vielleicht auch, aus welcher an die Bedeutung dessen, was in dieser Debatte beraten Region des Landes man kommt. Deshalb hat das durch- wird. aus mehr Aufmerksamkeit verdient. Nun kann man im Rückblick sicher sagen, dass die Es ist gut, dass wir heute dieses Verfahren ändern, es Entscheidungen, die der kleine Wahlausschuss bisher ge- aus diesem kleinen Gremium herausholen und ins troffen hat, im Ergebnis gut waren. Das Bundesverfas- Plenum verlagern und dass wir hier demnächst mit sungsgericht hat ein hohes Renommee, und das liegt an Zweidrittelmehrheit im gesamten Rund der Abgeordne- der Qualität der Entscheidungen, die dort getroffen ten entscheiden. Mindestens die Hälfte der Mitglieder worden sind, und auch an dem hohen Renommee der des Bundestages muss sich dann für einen Richter aus- Richter, die dort tätig sind. sprechen. Stellen wir uns das Anforderungsprofil vor: Dazu ge- Was erreichen wir damit? Wir nähern uns vor allem hören sehr gute rechtliche Kenntnisse, ein sehr gutes zunächst einmal dem Wortlaut von Artikel 94 des Standing, eine sehr gute Überzeugungskraft und auch Grundgesetzes. Es hat schon öfter Streit gegeben, ob das die Bereitschaft, sich auf die Argumente der anderen, bisherige Verfahren überhaupt diesem Artikel genügt. auch der anderen Kollegen, einzulassen. Es gehört si- Seinerzeit hat auch Herr Voßkuhle – das muss er sich cherlich nicht dazu, dass man immer die große Bühne jetzt noch öfter anhören – eine andere Meinung dazu sucht. Das berücksichtigen wir in unserem Verfahren. vertreten als jetzt als Präsident des Bundesverfassungs- Wir schaffen das Mehr an Transparenz, ohne ins glatte gerichts. Gegenteil zu verfallen, ohne also amerikanische Verhält- nisse herbeizuführen. Ich denke, dass wir so diesem Ich denke, es liegt auch auf der Linie des Bundesver- wichtigen Wahlvorgang mehr Aufmerksamkeit verschaf- fassungsgerichts, zu sagen, dass alle wesentlichen Ent- fen, die er auch verdient, und zugleich einen sehr guten scheidungen im Plenum des Bundestages getroffen wer- Rahmen schaffen, sodass wir bei alldem auch in Zukunft den müssen und eben nicht auf die Regierung oder auf die richtigen Kandidaten und Kandidatinnen auswählen. kleinere Gremien übertragen werden können. Es liegt (B) aber vor allem auf der Linie, die Legitimation des Bun- Ich danke Ihnen für das Zuhören. (D) desverfassungsgerichts zu stärken. Wir haben den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Grundsatz, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Das neten der SPD) gilt für uns als Parlament ganz klar, aber es gilt eben auch für das Bundesverfassungsgericht, im Übrigen ge- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: nauso für den Bundesgerichtshof und die anderen Bun- Vielen Dank. – Als Nächstes hat Renate Künast, desgerichte; das sei hier auch noch einmal gesagt. Ich Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. denke, uns Abgeordneten ist das sehr bewusst, weil wir uns dem alle vier Jahre wieder stellen müssen. Es ist aber der Wahlakt, der uns legitimiert, von dem sich letzt- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): endlich auch die Staatsgewalt der Gerichte ableitet. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, gut, Diese Ableitung wird gestärkt und damit auch die Legiti- dass wir hier die Debatte echt führen. Ich glaube, es ist mation, wenn dieser überflüssige Zwischenschritt weg- dem Thema auch angemessen, dass die Reden nicht ein- fällt, nicht mehr das Parlament einen kleinen Ausschuss fach zu Protokoll gegeben werden. bestimmt, der die Richter wählt, sondern das Plenum Ja, heute ist ein guter Tag insoweit, als wir einen ge- unmittelbar die Richter wählt. Das ist ein Mehr an Legi- meinsamen Gesetzentwurf haben, durch den § 6 Bundes- timation, ein Mehr an Transparenz, ein Mehr an Nähe, verfassungsgerichtsgesetz geändert werden soll. Wenn die wir unserem gemeinsamen Souverän, denke ich, Meilensteine unterschiedliche Größenordnungen haben schulden, dem gemeinsamen Souverän, der uns legiti- könnten, handelte es sich immerhin um einen kleinen miert und auch finanziert und der von unseren Entschei- Meilenstein, der auch eine Schieflage beseitigt. dungen auch betroffen ist. Es wäre doch kurios, die höchsten Richterinnen und Die Anforderungen, die an uns als Parlamentarier ge- Richter dieses Landes würden nur in einem Wahlaus- stellt werden, auch in Bezug auf Transparenz, in Bezug schuss gewählt, in dem, ich glaube, mehr Geheimhal- auf unsere Person, auf unsere Entscheidungen, sind tung war als an manch anderen Orten. Zumindest in den hoch. Sie sind nicht zuletzt auch durch die Anforderun- Zeitungsartikeln, die ich immer gelesen habe, kamen gen des Bundesverfassungsgerichts an uns sehr hoch. mehr die vereinigten Kaffeesenate zu Wort. Es taten mir Ich denke, es ist dann konsequent und liegt auch auf der immer die leid, die da gehandelt wurden, es dann aber Linie dieser Entscheidungen, wenn wir heute in einem doch nicht wurden. Das sprach auch ein bisschen für behutsamen ersten Schritt auch mehr Transparenz in die diesen kleinen Wahlausschuss: die Wertschätzung ge- Wahl der Bundesverfassungsrichter bringen. genüber den Personen. 10196 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Renate Künast (A) Heute schaffen wir natürlich eine bessere Vergleichs- eine Lebensweisheit mit auf den Weg geben, weil ich ja (C) situation. Es wäre ja komisch, die höchsten Richterinnen weiß, was die SPD in der letzten Legislaturperiode ge- und Richter würden nicht im Plenum gewählt, aber der macht hat: Nicht jeder, der auf einen fahrenden Zug auf- Wehrbeauftragte zum Beispiel würde dort gewählt. springt, ist deshalb auch gleich Lokomotivführer. Nichts gegen selbigen, aber man muss ja irgendwie eine (Dr. Matthias Bartke [SPD]: Ein ganz schlech- ausgleichende Linie hinbekommen. ter Vergleich!) Wir als Grüne hätten uns mehr gewünscht. Herr Zu sagen: „Wir sind die Partei der Quote“, das geht dann Bartke, wir hätten uns natürlich mehr gewünscht, schon doch zu weit. Dass Sie am Ende im Ministerium die allein für das Bundesverfassungsgericht. Aber das ist ja Funktion hatten, das federführend vorlegen zu müssen, schon einmal etwas nach all der Kritik der letzten Jahre. gestehe ich Ihnen zu. So war es. Ich sage Ihnen: Ich Ich meine, wir sind natürlich freie Bürgerinnen und Bür- finde, eine Quote mit dem Inhalt: „Mindestens drei Män- ger und Abgeordnete in einem freien Land. Wir dürfen ner oder Frauen müssen in einem Senat vertreten sein“, auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist nicht zu viel verlangt, nachdem wir eine Quote für kritisieren. Aber wenn dann zu oft gesagt wurde: „Da Aufsichtsräte börsennotierter mitbestimmungspflichtiger sind die zu weit gegangen, das steht denen gar nicht zu“, Unternehmen beschlossen haben. kriegte das doch manchmal einen Unterton, bei dem ich dann dachte, obwohl auch ich frech losreden kann: Das Ich weiß nicht, wen man zu dieser Frage noch hätte geht jetzt eigentlich zu weit. Da fehlt der Respekt vor der anhören können. Sie hätten natürlich auch eine Anhö- dritten Gewalt. rung beantragen können und sagen können, dass Ihnen die Beratungen noch nicht reichen. Aber eins nehme ich Wir hätten noch mehr machen können. Ich hätte mir, auf, Herr Bartke: Wir werden Sie beim Wort nehmen. weil wir ja wollen, dass es ein selbstbewusstes und unab- Hier und an vielen anderen Gerichtsstellen sind Sie jetzt hängiges Gericht ist, was Deutschland ja auszeichnet in der Pflicht, mit uns dafür zu sorgen, dass in dieser und worauf wir an der Stelle stolz sein können, natürlich Wahlperiode noch etwas passiert. Ich sage Ihnen: Ich auch noch vorstellen können, dass es so geregelt worden finde die Aktion des Deutschen Juristinnenbundes rich- wäre, dass tatsächlich öffentliche Anhörungen, Anhö- tig, der gefordert hat: Mehr Frauen in die roten Roben! – rungen im Rechtsausschuss usw. hätten stattfinden müs- Das wäre ein weiterer kleiner Fortschritt. So ist es ein sen. Da gibt es noch manche Verbesserungsmöglichkei- kleiner Meilenstein, ein Schritt vorwärts. ten. Was wir Ihnen heute jedenfalls nicht ersparen konnten, ist unser Änderungsantrag, der zwei Punkte Sie dürfen sicher sein: Wir stimmen zu, um dem Ver- enthält. Ich will darauf kurz eingehen. fassungsgericht mehr Würde zu geben, aber wir werden Sie ab morgen früh wieder fragen, was Sie, Herr Bartke, (B) Der erste Punkt ist das Zählverfahren für die Beset- (D) dafür tun, dass mehr Frauen an den Gerichten in Füh- zung der Sitze. Hier wird immer noch das Verfahren rungspositionen und nicht nur in unteren Positionen nach d’Hondt angewandt. Wir wollen das Verfahren sind. Wenn das so ist, dann ist es ein guter Tag. nach Sainte-Laguë/Schepers. Ja, ich gebe zu, das ergibt für die kleine Opposition – je kleiner, desto mehr – mehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Plätze. Aber das ist ja wohl in heutigen Zeiten, in denen sowie bei Abgeordneten der LINKEN) wir über Minderheitenschutz und auch über die demo- kratische Legitimation der Bundesverfassungsrichter re- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: den, keine falsche Überlegung. Da, glaube ich, ist es gut, Vielen Dank, Frau Kollegin Künast. – Nächste Red- wenn am Ende alle Fraktionen, wie viele wir auch im- nerin ist jetzt Dr. Katarina Barley, SPD-Fraktion. mer haben, daran beteiligt sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Herr Harbarth, der jetzt nicht hier ist, hat im Aus- Dr. Katarina Barley (SPD): schuss gesagt: Jedes Sitzverteilungsverfahren hat seine Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Vorzüge und Nachteile. Das mag stimmen. Er hat daraus und Kollegen! Liebe Gäste, die zu dieser späten Stunde jedoch abgeleitet, dass er keine Notwendigkeit für eine noch da sind! Ich muss zugeben, ich hätte mir ge- Änderung sieht. Ich sage Ihnen: Sie müssten begründen, wünscht, dass wir diesen Tagesordnungspunkt an einer warum dieser Richterwahlausschuss für das Bundesver- etwas prominenteren Stelle der Tagesordnung diskutie- fassungsgericht das einzige Gremium ist, das noch nach ren; denn es geht hier ein Stück weit um etwas sehr d’Hondt besetzt wird. So herum sollte es sein. Grundsätzliches. Es geht um die Balance der Gewalten in unserem Staat. Das ist etwas, was enorm wichtig ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich ei- und bei der LINKEN) niges dabei gedacht, als sie die Struktur so geschaffen Der zweite Punkt ist die Frage nach einer Frauen- haben, wie sie jetzt ist. Sie haben dem Bundesverfas- quote. Lassen Sie mich Ihnen, Herr Bartke, sagen: Ich sungsgericht eine sehr starke Stellung gegeben. Das war war in der letzten Legislaturperiode dabei und habe die- ja durchaus ein Risiko. Die Verantwortung liegt nun- ses Geschäft sehr systematisch vier Jahre betrieben, auch mehr in den Händen von 16 Einzelpersonen. Das hätte mit CDU-Frauen, zum Beispiel mit Rita Pawelski, die auch schiefgehen können. Aber jetzt können wir konsta- leider jetzt nicht mehr dabei ist. Lassen Sie mich Ihnen tieren – ich glaube, da sind wir alle einer Meinung –, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10197

Dr. Katarina Barley (A) dass sich – ich mag diesen Satz sonst überhaupt nicht – fließend. Sie muss und sollte aber bestimmbar sein im (C) diese Konstruktion wirklich sehr bewährt hat. Interesse beider Verfassungsorgane, nicht nur im Sinne eines gegenseitigen Respekts, sondern im Interesse einer Doch auch das Verfahren, so wie wir es bisher in ei- funktionierenden Gewaltenteilung. nem kleinen Ausschuss mit einer relativ späten Beteili- gung der Öffentlichkeit betrieben haben, hat sich be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- währt. Es ist schon gesagt worden: Anhand des neten der SPD) Wortlautes war es immer umstritten, ob die Entschei- Sosehr das Gericht dem Gesetzgeber verfassungsrechtli- dung alleine durch den Wahlausschuss gefällt werden che Schranken im Bereich der Grundrechtsinterpretation kann. Auch ich bin froh, dass wir heute eine entspre- aufzeigt, so sehr darf auch der Bundestag den Wunsch chende Änderung hinbekommen. äußern, dass die reinen politischen Wertentscheidungen Ich muss zugeben, Frau Künast, dass ich mit Ihnen respektiert und berücksichtigt werden. nicht ganz einer Meinung bin, was eine noch weiterge- Meine Damen und Herren, der Änderungsantrag von hende Öffnung im Hinblick auf zum Beispiel öffentliche Bündnis 90/Die Grünen auf Einführung einer Frauen- Anhörungen angeht. Ich glaube, dass ein Verfahren, das quote am Bundesverfassungsgericht ist nicht der richtige dem amerikanischen ähnelt, unserer Art, Verfassungs- Weg. rechtsprechung zu betreiben, nicht gerecht wird. (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich selbst hatte das Privileg, am Bundesverfassungs- Ach!) gericht zu arbeiten. Ich kann nur bestätigen, dass die Par- teizugehörigkeit, wenn es denn überhaupt eine gibt, oder Natürlich gilt der Grundsatz – er hat zu allen Zeiten ge- die Partei, die den jeweiligen Richter oder die jeweilige golten und gilt auch zukünftig –: Wir wollen die besten Richterin nominiert hat, keine Rolle bei der Entschei- Frauen und Männer an diesem Gericht haben. dungsfindung spielen. Es geht tatsächlich um die Per- (Beifall bei der CDU/CSU) sönlichkeiten und ihre Erfahrungen; das wurde schon mehrfach angesprochen. Insofern möchte ich davor war- Es gilt aber auch der Grundsatz: Verfassungsorgane quo- nen, in zu großen Schritten in diese fragile Balance ein- tiert man nicht, man respektiert sie. zugreifen. Ich will das nicht für alle Zeiten ausschließen. (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast Aber ich halte es für sehr gut, wenn wir ganz behutsam [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo steht das vorgehen. Ich glaube, dass wir jetzt einen vielleicht klei- denn? – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen, aber wichtigen Schritt in die richtige Richtung ge- NEN]: Wo steht das denn? – Tom Koenigs hen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo steht das (B) (D) Vielen Dank. denn?) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Am kommenden Samstag feiert unser Grundgesetz den 66. Geburtstag seiner Verabschiedung. Es hat sich im Laufe der Jahre von einem Provisorium zu einer welt- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: weit geachteten Verfassungsordnung entwickelt. Und Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord- das Bundesverfassungsgericht hat mit richtungsweisen- nungspunkt ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/ den Entscheidungen und großartigen Richtern einen sehr CSU-Fraktion. entscheidenden Anteil daran, dass diese Verfassungsord- (Beifall bei der CDU/CSU) nung weltweit respektiert und nachgeahmt wird. Deswe- gen gilt an dieser Stelle dem Bundesverfassungsgericht Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): auch der Dank für die Unterstützung und die Aufrechter- haltung unserer verfassungsgemäßen Ordnung. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Artikel 94 unseres Grundgesetzes besagt, dass (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Richter des Bundesverfassungsgerichts in gleichen Das brauchen wir auch bei den Gesetzen, die Teilen durch den Bundesrat und den Bundestag zu wäh- Sie verabschieden!) len sind. Mit der heutigen Entscheidung gleichen wir die Meine Damen und Herren, man sagt nach einem ge- Verfassungspraxis dem Verfassungswortlaut an. Mit die- flügelten Wort: Mit 66 Jahren fängt das Leben an. ser Entscheidung wird eine stärkere demokratische Legi- timation der Richter des Bundesverfassungsgerichts her- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das war ein beigeführt. Das ist wichtig und notwendig, weil das Lied! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE Verfassungsgericht ein Verfassungsorgan ist und weil GRÜNEN]: Aber nicht, dass Sie das jetzt sin- seine Entscheidungen in bestimmten Bereichen selbst gen! – Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE Gesetzeskraft bekommen können. GRÜNEN]: Sie wissen doch gar nicht, wovon Sie reden! – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/ Mit dieser Entscheidung ist aber kein Auftrag zu einer DIE GRÜNEN und bei der SPD) stärkeren politischen Positionierung des Bundesverfas- sungsgerichts verbunden. Die Grenze verfassungsrecht- Das Leben des Verfassungsgerichts fängt jetzt nicht an, licher Rechtsprechung ist die grundrechtssensible ge- sondern es soll in den kommenden Jahren respektvoll setzgeberische Wertentscheidung des Parlaments. Das und durch Würde getragen weitergehen, damit wir ge- gilt es nach wie vor zu beachten. Natürlich ist die Grenze meinsam, alle Verfassungsorgane, diese Verfassungsord- 10198 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

Dr. Volker Ullrich (A) nung, in der die Würde des Menschen und die Freiheit Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) – (C) der Person festgeschrieben sind, respektieren und weiter Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. fortschreiben. Es handelt sich, glaube ich, um die beste Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Verfassungsidee, die wir haben; wir sollten sie bewah- Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be- ren. In dem Sinne bitte ich um Zustimmung zu diesem schlussempfehlung auf Drucksache 18/4961, den Gesetz- Gesetzentwurf. entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4201 in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Dritte Beratung Fraktionen CDU/CSU, SPD, Die Linke und Bündnis 90/ und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Der Ausschuss Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be- entwurf ist einstimmig angenommen. schlussempfehlung auf Drucksache 18/4963, den Ge- setzentwurf auf Drucksache 18/2737 anzunehmen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4978 vor, über gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Ände- zung der Protokollerklärung zum Gesetz zur rungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Der Änderungs- Anpassung der Abgabenordnung an den Zoll- antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- kodex der Union und zur Änderung weiterer gen die Stimmen der Opposition abgelehnt. steuerlicher Vorschriften Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- Drucksache 18/4902 stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da- Überweisungsvorschlag: gegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist da- Finanzausschuss (f) Innenausschuss mit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Hauses angenommen. (B) Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) – (D) Dritte Beratung Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – wurfs auf Drucksache 18/4902 an die in der Tagesord- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich wurf ist einstimmig angenommen. sehe, es gibt keine weiteren Vorschläge. Dann ist so be- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: schlossen. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- ordnung angekommen. zes zum Internationalen Erbrecht und zur Ich bedanke mich bei Ihnen für die regen Debatten Änderung von Vorschriften zum Erbschein und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundesta- sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften ges auf morgen, Freitag, den 22. Mai 2015, 9 Uhr, ein. Drucksache 18/4201 Die Sitzung ist geschlossen. Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (Schluss: 22.59 Uhr) schusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) 1) Anlage 7 Drucksache 18/4961 2) Anlage 8 Anlagen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10199

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung Liste der entschuldigten Abgeordneten bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU- geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias (Tagesord- entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich nungspunkt 12) Den Antrag der Bundesregierung lehnen wir ab und Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ 21.05.2015 stimmen mit Nein. Wir halten den Einsatz der Bundes- DIE GRÜNEN wehr im Golf von Aden und im ganzen Indischen Ozean politisch für falsch und nicht notwendig zum Schutz der Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 21.05.2015 Schiffe des Welternährungsprogramms vor Piraterie. Vor DIE GRÜNEN allem war er von Anfang an nicht das letzte mögliche Mittel, die Ultima Ratio, um die Schiffe zu schützen und Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/ 21.05.2015 Piraterie wirksam zu bekämpfen. DIE GRÜNEN In der Begründung zum Mandat erklärt die Bundesre- Dr. Bergner, Christoph CDU/CSU 21.05.2015 gierung, dass die niedrige Zahl der versuchten Über- griffe auf Handelsschiffe eine Folge der ständigen Prä- Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 21.05.2015 senz der Kriegsschiffe im Golf von Aden sei. Wie im Vorjahr wird diese Behauptung nicht belegt. Bülow, Marco SPD 21.05.2015 Es ist eine falsche Annahme. Denn zivile Maßnahmen Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/ 21.05.2015 wie das Einhalten der sogenannten Best Management DIE GRÜNEN Practices – Fahren im Konvoi oder mit hoher Geschwin- digkeit sowie die Absicherung von Reling und Außen- Groneberg, Gabriele SPD 21.05.2015 bord, etwa durch Stacheldraht, und das Anbringen von Scheinwerfern – haben die Piratenangriffe verhindert. Grundmann, Oliver CDU/CSU 21.05.2015 Die Bundesregierung hat bestätigt, dass kein einziges Schiff von Piraten aufgebracht wurde, das sich an diese (B) (D) Hartmann (Wackernheim), SPD 21.05.2015 Regeln gehalten hat. Michael Das gilt gerade auch für den Schutz der Schiffe des Hintze, Peter CDU/CSU 21.05.2015 Welternährungsprogramms. In einem Gutachten des In- stituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Jarzombek, Thomas CDU/CSU 21.05.2015 Universität Hamburg wird empfohlen, den Schutz dieser Transporte von Hilfsgütern und Nahrungsmitteln nach Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/ 21.05.2015 Somalia dadurch zu verbessern, dass das WFP mit bes- DIE GRÜNEN seren und schnelleren Schiffen ausgestattet wird.

Lach, Günter CDU/CSU 21.05.2015 Zum neunten Mal entscheidet sich der Bundestag nun schon für diesen Kriegseinsatz, der aber letztlich nur die Mißfelder, Philipp CDU/CSU 21.05.2015 Symptome der Piraterie bekämpft. Deren Ursachen hin- gegen, die man nur politisch angehen kann, werden im- Pflugradt, Jeannine SPD 21.05.2015 mer noch weitgehend ignoriert. In Somalia herrschen Armut, Hunger, Gewalt und politische Unsicherheit. Ein Schlecht, Michael DIE LINKE 21.05.2015 Grund für Hunger und Armut ist die Überfischung der Gewässer vor Somalia. Modern ausgestattete Fangflot- Schwabe, Frank SPD 21.05.2015 ten aus der EU, Japan oder Taiwan rauben den lokalen Fischern die Existenzgrundlage. Zusätzlich kommt es Spiering, Rainer SPD 21.05.2015 durch illegale (Gift-)Müllentsorgung vor der Küste So- malias zu massivem Fischsterben, und Menschen er- kranken. Anlage 2 Kriegsschiffe und Militäreinsätze sind nicht das rich- Erklärung nach § 31 GO tige Mittel, um die Piraterie und ihre Ursachen zu be- kämpfen. der Abgeordneten Christian Kühn (Tübingen), Monika Lazar, Peter Meiwald, Corinna Rüffer Atalanta beeinflusst auch die europäische Debatte da- und Hans-Christian Ströbele (alle BÜND- rum, wie mit der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen umgegangen werden sollte: Die EU-Kommission schlug Abstimmung über die Beschlussempfehlung des jüngst vor, sich dabei an Atalanta zu orientieren. Dies 10200 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) zeigt die drohende Militarisierung der europäischen die Bundeswehr machen Änderungen als Teil der Attrak- (C) Flüchtlingspolitik. tivitätsagenda erforderlich. Die deutschen Streitkräfte sind – spätestens seit Aus- setzung der Wehrpflicht – einsatzfähig, wenn genügend Anlage 3 qualifizierte Reservedienstleistende aus allen Bereichen Zu Protokoll gegebene Reden der Gesellschaft und aus allen Berufsgruppen gewonnen und gehalten werden können. Bundeswehrattraktivitäts- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur steigerungsgesetz und Unterhaltssicherungsgesetz sind Neuregelung der Unterhaltssicherung sowie zur daher als Gesamtprojekt zur Steigerung von Attraktivität Änderung soldatenrechtlicher Vorschriften (Ta- und Leistungsfähigkeit der Bundeswehr zu sehen. gesordnungspunkt 18) Um bisherige Benachteiligungen zu beseitigen, ent- hält das neue USG wesentliche Änderungen: Wilfried Lorenz (CDU/CSU): Auch in der abschlie- ßenden zweiten und dritten Lesung der konstitutiven Neu- Erstens eine angemessene Erhöhung der Mindestleis- fassung des Unterhaltssicherungsgesetzes, USG, komme tungen für Reservistinnen und Reservisten auf ein Ni- ich nicht umhin, den Blick auf die Besonderheiten der veau in Höhe mindestens der Nettobesoldung aktiver deutschen Sprache zu lenken, die gelegentlich Irritatio- Soldatinnen und Soldaten gleichen Dienstgrades; Min- nen hervorrufen. Die in unserem Sprachraum verbrei- destleistungen dienen der Sicherung des Einkommens tete, nicht selten mehrere Textzeilen füllende Aneinan- während des Dienstes – daher die Begrifflichkeit Unter- derreihung einer Vielzahl von Substantiven findet sich haltssicherung; durch deren Erhöhung erreichen wir eine auch im Wort Bundeswehrattraktivitätssteigerungsge- Gleichbehandlung von Reservisten und Aktiven. setz. Von diesem Regelungswerk hat schon jeder gehört. Zweitens können Reservedienstleistende ihren Dienst Über das Unterhaltssicherungsgesetz wird dagegen künftig ohne Gehaltseinbußen tun. Dies gilt auch für Re- kaum berichtet. Zugegeben, die Wortzusammenstellung servisten mit höherem zivilem Einkommen. Sie erhalten lässt auf den ersten Blick eher an Unterhalt für die ge- zusätzlich Wehrsold und gegebenenfalls Verpflichtungs- schiedene Ehefrau oder Alimente für Kinder denken. prämien. Reservisten im gleichen Dienstgrad, aber mit Doch es liegt nun an uns allen, deutlich zu machen, dass unterschiedlicher ziviler Qualifikation erhalten eine un- das USG zu Unrecht weniger im Fokus der Öffentlich- terschiedliche Entschädigung entsprechend ihrem zivi- keit steht. Denn die Reservedienst- und freiwillige len Einkommen. Für Selbstständige werden die Sätze er- Wehrdienstleistenden, um die es geht, leisten denselben höht und der Nachweisaufwand verringert. Dienst wie die aktiven Soldatinnen und Soldaten, für die (B) das Attraktivitätssteigerungsgesetz geschaffen wurde. Drittens wird der Unterhalt von Familienangehörigen (D) freiwillig Wehrdienstleistender durch Nachvollzug von Das Gesetz, das wir heute beschließen, sollte treffen- Änderungen im Unterhaltsrecht gesichert, so die Gleich- der Reservedienst- und Freiwilligwehrdienstleistendeun- stellung nichtehelicher und ehelicher Kinder sowie die terhaltssicherungsgesetz – RDLFWDLUSG – heißen. Aufnahme der Unterhaltsansprüche von Müttern und Auf diese Weise wären nicht nur noch mehr Substantive Vätern nichtehelicher Kinder. in einem durchaus beachtlichen Wortungetüm unterge- bracht und eine stattliche Abkürzung kreiert. Es würde Spiegelbildlich zum Bundeswehrattraktivitätssteige- auch etwas klarer, welche Inhalte sich dahinter verber- rungsgesetz haben wir mit dem neugefassten USG einen gen: weiteren gesetzlichen Baustein zu mehr Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr – hier vor allem des Reser- Erstens. Regelungen, die spiegelbildlich als logische vedienstes – geschaffen. Bisherige Benachteiligungen gesetzgeberische Fortführung des Bundeswehrattraktivi- gegenüber aktiven Soldaten sind beseitigt. Und wir tätsgesetzes, auch den Dienst von Reservistinnen und haben Anreize geschaffen, sich für den Dienst in der Reservistinnen wie freiwilligen Wehrdienstleistenden at- Bundeswehr zu entscheiden, dort zu bleiben und als traktiver gestalten sollen. Multiplikatoren in die Gesellschaft hineinzuwirken. Zweitens. Vorschriften, die die Durchführung des Ge- Doch der Mensch lebt bekanntlich nicht vom Brot al- setzes von den Ländern auf den Bund übertragen und lein. beim Bundesamt für das Personalmanagement der Bun- deswehr in einer Hand zusammenfassen; zuständig sind Und so bedeutet mehr Attraktivität des Dienstes her- ab 1. November 2015 also nicht mehr die Unterhaltssi- zustellen auch, mehr Anerkennung und Wertschätzung cherungsstellen auf lokaler Ebene. des Dienstes in den Streitkräften in unserer Gesellschaft zu verankern. Wir werden hier nicht stehen bleiben, son- Drittens. Die Zusammenfassung und Vereinfachung dern weiter an Verbesserungen arbeiten, wo nötig. aller Leistungen für Reservedienstleistende, die bislang auch im Wehrsoldgesetz, WSG, geregelt waren, zu ei- Dazu gehört, dass wir – wie beim Attraktivitätssteige- nem Anreizsystem. rungsgesetz – auch zusätzliche Haushaltsmittel zur Ver- fügung stellen werden. Für die Erhöhung der Leistungen Der gesetzliche Handlungsbedarf erschließt sich be- werden derzeit zusätzliche Mittel in Höhe von jährlich reits aus der Tatsache, dass das derzeit gültige USG noch 11,9 Millionen Euro veranschlagt. Für die Gesetzes- aus dem Jahr 1957 stammt und zuletzt 1990 geändert durchführung dürften zusätzlich Kosten von 4,25 Millio- wurde. Vor allem neue demografische Anforderungen an nen Euro hinzukommen. Das sind Gesamtkosten von Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10201

(A) 16,15 Millionen Euro, die sich für unser aller Sicherheit rung“ und das Bundeswehrattraktivitätssteigerungs- (C) – immateriell wie materiell – weit mehr als bezahlt ma- gesetz waren wichtige Schritte. Das Unterhaltssiche- chen werden. Denn unsere Soldatinnen und Soldaten, rungsgesetz ist nun der nächste Schritt. Es ist vor allem Aktive wie Reservisten, wissen dann endlich, dass wir es auf die Reservedienstleistenden zugeschnitten. Einzelne ernst meinen, wenn wir sagen: Sie sind uns wichtig! Vor Verbesserungen betreffen auch die freiwillig Wehr- Ihrem Dienst für unser Land stehen wir mit größtem dienstleistenden. Die Kernidee bleibt erhalten: Den Respekt und werden alles dafür tun, dass Sie diesen un- Dienstleistenden wird mindestens der Einkommensver- ter den besten Bedingungen und mit der besten Ausrüs- lust ausgeglichen. Doch der Reservedienst soll attrakti- tung leisten können. ver gemacht werden. Dies wird unter anderem durch drei der Verbesserungen erreicht: Julia Obermeier (CDU/CSU): Seit Beginn dieser Erstens. Die Mindestleistungen für Reservedienstleis- Legislaturperiode haben wir eine Häufung krisenhafter tende werden wesentlich erhöht: Die Vergütung wird an Entwicklungen erlebt: Vor eineinhalb Jahren war noch die Nettobesoldung von Soldatinnen und Soldaten glei- keine Rede von der Ebolaepidemie in Westafrika, dem chen Dienstgrades angeglichen. menschenverachtenden Vormarsch der ISIS-Terrormi- liz, der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und Zweitens. Es wird ein Anreizsystem für die Reserve- dem gewaltsamen Konflikt in der Ostukraine oder der dienstleistung geschaffen. Wer sich vorab verpflichtet, in dramatischen Situation der Flüchtlinge auf dem Mittel- einem Jahr mindestens 19 bzw. 33 Tage Reservisten- meer. In ungeahntem Ausmaß haben sich die bedrohli- dienst zu leisten, erhält Zulagen. chen Ereignisse überschlagen. Sie zeigen uns deutlich: Die Herausforderungen, die Deutschland und die Bun- Drittens. Die Antragstellung wird vereinfacht: Die deswehr zu bewältigen haben, können sich schnell und Kompetenzen werden zentral in der Bundeswehrverwal- wesentlich ändern. tung gebündelt. Die Länder werden von dieser Aufgabe entlastet. Diese Herausforderungen kann die Bundeswehr nur mit dem Rückhalt einer starken Reserve bewältigen. Die Mit dem Unterhaltssicherungsgesetz wird der Reser- Reservisten sind unverzichtbarer Bestandteil der Bun- vedienst attraktiver. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung deswehr. Aktuell sind fast 33 000 Reservedienstleistende für den vorliegenden Gesetzentwurf. beordert. Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Das Unterhaltssiche- Sie sind aus der Bundeswehr nicht mehr wegzu- rungsgesetz, das wir heute beschließen, regelt umfassend denken: ob bei der Aufrechterhaltung der Einsatzbereit- und neu die Versorgung von Reservedienstleistenden (B) schaft in der Heimat, der Hilfeleistung im Katastro- und von freiwillig Wehrdienstleistenden der Bundes- (D) phenfall im Inland oder bei der Unterstützung im wehr sowie von deren Angehörigen. Auslandseinsatz. Wir nehmen mit diesem Gesetz die Dienstleistenden Reservedienstleistende nehmen an Übungen teil. Sie erstmals als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ernst. helfen auch bei Naturkatastrophen, wie zum Beispiel Das wird auch höchste Zeit. Denn mit dem Wegfall der dem Hochwasser im Frühsommer 2013. Reservisten Wehrpflicht ist Freiwilligkeit das Prinzip nicht nur für sind darüber hinaus bei nahezu allen Auslandseinsätzen Zeit- und Berufssoldaten, sondern auch bei den Nachfol- der Bundeswehr vertreten: Sie unterstützen die KFOR- geformen des Grundwehrdienstes und der Wehrübungen, Truppen im Kosovo, die Mission Atalanta am Horn von also bei der freiwilligen und der Reservedienstleistung. Afrika oder die Ausbildungsmission Resolut Support in Afghanistan. Einige Reservisten haben auch Nothilfe im Das USG ist zuletzt 1980 grundlegend novelliert wor- Kampf gegen Ebola geleistet. den. In seiner bisherigen Form geht es von der Wehr- pflicht aus. Die versorgungsrechtliche Gleichstellung der Bei meinen Truppenbesuchen treffe ich neben Berufs- Wehrpflichtigen mit Zeit- und Berufssoldaten ist darin und Zeitsoldaten auch immer wieder Reservedienstleis- nicht vorgesehen. Eine Neufassung, die den Bedingun- tende. In Bad Reichenhall habe ich einen aktiven Reser- gen der Freiwilligkeit gerecht wird, ist deshalb zwingend visten getroffen, der den Kommandeur im Sommer ver- notwendig. treten hat. Besonders beeindruckt war ich von einem Oberstleutnant der Reserve, der in Mali bereits zum Kerngedanke des neuen USG ist es, alle Soldatinnen zweiten Mal als deutscher Militärattaché diente. und Soldaten entsprechend ihrem Dienstgrad gleich zu bezahlen, gleichgültig, in welchem Dienstverhältnis sie Dies zeigt: Die Bundeswehr setzt Reservedienst- leistende entsprechend ihrer speziellen Fähigkeiten auch stehen. Die neuen Tagessätze führen dazu, dass das Net- gezielt auf herausgehobenen Dienstposten ein. Reserve- toeinkommen von freiwillig Wehrdienstleistenden und dienstleistende sind und bleiben ein tragender Bestand- Reservedienstleistenden dem von Zeit- und Berufssolda- teil unserer Streitkräfte. ten generell entspricht. Reservisten, die im Zivilberuf ein höheres Einkommen haben, werden wie bisher für ihren Ich und meine CDU/CSU-Fraktion danken allen Re- Verdienstausfall entschädigt. servisten für ihren Einsatz und für ihr Engagement. Das neue USG ist zeitgemäß, fair und sozial. Die Wir wollen die Bundeswehr als Arbeitgeber noch SPD-Fraktion hätte gerne noch die automatische Anpas- attraktiver machen. Die Agenda „Bundeswehr in Füh- sung der Tagessätze an Tarifsteigerungen im öffentlichen 10202 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Dienst eingebaut, damit sich die Nettoeinkommen gar ligen Wehrdienstleistenden bei einer vom Bund (C) nicht erst wieder auseinanderentwickeln können. Wir einzurichtenden Stelle führen. Grundsätzlich ist es werden diesen Punkt wieder ansprechen, wenn die Not- begrüßenswert, wenn es durch Straffung administrativer wendigkeit sich bestätigt. Insgesamt aber handelt es sich Vorgänge zu einer Entlastung der Länder und einer ra- um ein gutes Gesetz, dem wir gerne zustimmen. scheren Bearbeitung von Anträgen kommt. Das neue USG dient ausschließlich den sozialen Inte- Dennoch lehnt die Linke diesen Gesetzentwurf ab. ressen der Dienstleistenden und ihrer Familien. Seine Wir sind der Auffassung, dass die von der Bundesregie- Ablehnung durch die Fraktion der Linken ist deshalb für rung mit dem Gesetz angestrebte Förderung des Reserve- uns nicht nachvollziehbar. Im Verteidigungsausschuss dienstes in die völlig falsche Richtung geht. Es handelt hat die Kollegin Buchholz die Position ihrer Fraktion da- sich um den Versuch, in der Bundeswehr Personallöcher mit begründet, dass das neue USG den Wehrdienst at- zu stopfen, die durch die unpopuläre Orientierung auf traktiver mache und daher abzulehnen sei. Auslandseinsätze entstanden sind. Reservisten sind längst Teil dieser offensiven Konzeption geworden. Die Logik dieser Begründung bedarf der Analyse. Die Viele wurden auch in Afghanistan eingesetzt. Linke will also keine attraktive Freiwilligenarmee. Die Wehrpflicht, unter der die Attraktivität des Dienstes Die Förderung der Reserve leistet darüber hinaus der möglicherweise zweitrangig bleiben kann, will sie aber Militarisierung im Innern Vorschub. So können seit 2012 auch nicht. Will die Linke also eine unattraktive Freiwil- Reservisten zum „Schutz kritischer Infrastruktur und bei ligenarmee? Das wäre ein Widerspruch in sich. Wenn innerem Notstand“ herangezogen werden. Das läuft auf die Linke die eigene Argumentation ernst meint, verbirgt den Waffeneinsatz im Innern gegen nichtmilitärische sich dahinter folglich die vollständige Ablehnung militä- Ziele hinaus. Einer Reserve mit solchen politischen Vor- rischer Landesverteidigung. Das sollte die Linke dann gaben darf nicht weiter gefördert werden. aber auch so offen formulieren und sich nicht hinter ver- schwurbeltem Gerede über einzelne Gesetze verstecken. Der vorliegende Gesetzentwurf soll die soziale Situa- Dann können die Bürgerinnen und Bürger sich ein klares tion freiwilligen Wehrdienstleistender verbessern. Doch Urteil über das sicherheitspolitische Credo der Linken während zu Zeiten der Wehrpflicht Veränderungen für bilden. Soldaten immer auch zu analogen Veränderungen bei Zi- vildienstleistenden führten, ist dies heute nicht mehr der Vollends unverständlich wird die Haltung der Linken Fall. aus dem Blickwinkel der Familienpolitik. Das neue USG bezieht nämlich erstmals die gesellschaftlichen Verände- So werden diejenigen, die im Bundesfreiwilligen- (B) rungen mit ein, die seit 1980 dazu geführt haben, dass dienst arbeiten, in dem Gesetzentwurf nicht berücksich- (D) unsere Vorstellungen von Familie vielfältiger geworden tigt. Dies, obgleich sie ohnehin schon stark benachteiligt sind. Nichteheliche Kinder, Lebenspartnerinnen und Le- sind. So erhalten freiwilligen Wehrdienstleistende am benspartner werden im neuen USG als Angehörige von Ende ihrer Dienstzeit bis zu 1 146 Euro monatlich. Die- Dienstleistenden definiert, die selbstverständlich einen jenigen, die im zivilen Bundesfreiwilligendienst arbei- eigenen Anspruch auf Versorgung haben. Dass ausge- ten, höchstens 363 Euro. Eine solche Diskriminierung ist rechnet die Linke, die das Bekenntnis zur vollen Gleich- durch nichts zu rechtfertigen. stellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es der Bundesregie- sonst immer lautstark proklamiert, ihre Unterstützung in rung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht um dem Moment verweigert, in dem es sich um schwule und mehr soziale Gerechtigkeit, sondern um die Stärkung lesbische Soldatinnen und Soldaten handelt, lässt erheb- des Soldatentums in Deutschland geht. liche Zweifel an der allgemeinen Aufrichtigkeit ihrer Gleichstellungspolitik aufkommen. Für die SPD gibt es Diese grundlegende Schieflage macht den Gesetzent- keine richtigen oder falschen Lebenspartnerschaften – wurf inakzeptabel, auch wenn er einzelne begrüßens- alle verdienen die gleiche Anerkennung. Die Kollegin- werte Aspekte enthält, wie die Gleichstellung von eheli- nen und Kollegen der Linksfraktion bitte ich daher drin- chen und nichtehelichen Partnerschaften hinsichtlich des gend, noch einmal zu prüfen, ob sie diesem guten Gesetz Leistungsbezuges von freiwilligen Wehrdienstleisten- zusammen mit den anderen Fraktionen dieses Hauses den. nicht doch die angemessene Zustimmung geben sollten. Alle Dienstleistenden der Bundeswehr, alle, die diesen Im Übrigen hat die mangelnde Attraktivität des frei- Soldatinnen und Soldaten für ihren Beitrag zur Landes- willigen Wehrdienstes nichts mit den Fragen der Vergü- verteidigung verpflichtet sind, alle, die zwischen Le- tung zu tun. Die Tatsache, dass über 25 Prozent der frei- benspartnerschaft und Familie keinen Unterschied ma- willigen Wehrdienstleistenden innerhalb der ersten sechs chen, und alle, denen die Rechte nichtehelich geborener Monate abbrechen, ist Ergebnis des Widerspruchs zwi- Kinder am Herzen liegen, würden es ihnen danken. schen militärischer Realität und der Schweinwelt, die die Bundeswehr den jungen Menschen in Werbeshows und Adventure-Camps vorspielt. Christine Buchholz (DIE LINKE): Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung soll zu einer Kon- Die Linke lehnt es ab, Reservistinnen und Reservisten zentration der Bearbeitung von Anträgen auf Leistungen sowie Freiwillige in eine Armee zu rekrutieren, für die durch Reservistinnen und Reservisten sowie von freiwil- es – wenn es nach dem Willen der Verteidigungsministe- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10203

(A) rin geht – keine räumliche und qualitative Grenze mehr Anlage 4 (C) gibt. Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Nach den Beratungen in den Ausschüssen debattieren Berichts zu den Anträgen: wir nun abschließend das Gesetz zur Neuregelung der Unterhaltssicherung sowie zur Änderung soldatenrecht- – Für ein internationales Staateninsolvenz- licher Vorschriften. Es geht in diesem Gesetzentwurf da- verfahren rum, die Leistungen, die Reservedienstleistende, freiwil- – Resolution der Vereinten Nationen für ein ligen Wehrdienstleistende und deren Angehörige multilaterales Rahmenwerk zur Restruktu- erhalten, an die heutigen Rahmenbedingungen anzupas- rierung von Staatsschulden umsetzen – Jetzt sen und zu erhöhen, sie klarer zu strukturieren, deren aktiv den Arbeitsprozess der Vereinten Verwaltung zu zentralisieren und die Antragsverfahren Nationen mitgestalten zu vereinfachen. Das damit verfolgte Ziel, dass freiwillig Dienende eine angemessene Entlohnung erhalten und (Tagesordnungspunkt 19) dass ihr Unterhalt während des vorübergehenden Diens- tes für die Bundeswehr gesichert ist, unterstützen wir ausdrücklich. Wer einen freiwilligen Dienst leistet, soll Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Auch Staaten kön- eine angemessene Vergütung und Versorgung erhalten. nen pleitegehen – und dafür brauchen wir gar nicht auf Griechenland zu schauen, das seit Jahren in besonderer Die Anhebung der Mindestsätze der Unterhaltssiche- Weise im Rampenlicht steht. Deutschland hat diese rung führt dazu, dass Reservedienstleistende für die Zeit, Erfahrung schon mehrfach gemacht, Argentinien war ein in der sie einen Dienst leisten, auch eine Vergütung er- prominentes Beispiel der jüngeren Zeit, und vor allem in halten, die dem Einkommen eines Soldaten und einer den – kapitalistischen! – Vereinigten Staaten von Ame- Soldatin gleichen Ranges nahekommt. Dies ist ein wich- rika ist die Insolvenz von Einzelstaaten und vor allem tiger Schritt hin zu dem Grundsatz, dass gleiches Geld Gemeinden nicht selten – und selbst der Bundesstaat für gleiche Leistung gezahlt wird. Wer im zivilen Beruf USA stand im letzten Jahr ebenfalls am Rande der Zah- ein höheres Einkommen erhält, bekommt im Rahmen lungsunfähigkeit. Was aber bei Staaten anders ist als bei der Höchstsätze eine höhere Entschädigung durch die „normalen“ Schuldnern und insbesondere Unternehmen: Unterhaltssicherung gezahlt. Das ist wichtig, wenn man Es gibt kein geordnetes und allseits akzeptiertes Verfah- Menschen für diesen Dienst auch neben ihrer zivilen ren, in dem eine solche Insolvenz abgewickelt werden (B) Karriere gewinnen möchte. Ein signifikanter Verdienst- könnte. (D) ausfall würde sicherlich viele davon abhalten, sich als Reservist oder Reservistin zu engagieren. So macht auch Bevor wir die Frage näher beleuchten, ob ein solches die Logik der Entschädigung für Verdienstausfälle aus Verfahren auch für Staaten möglich oder sinnvoll ist, unserer Sicht weiterhin Sinn. sollte man sich aber erst noch einmal vor Augen führen, was ein Insolvenzverfahren eigentlich will. Drei Ziele Die Attraktivität der freiwilligen Dienste in der Bun- stehen im Vordergrund: Einmal sollen die Gläubiger ei- deswehr ergibt sich nicht nur aus der Höhe der Unter- nes Schuldners gemeinschaftlich befriedigt werden, haltssicherungssätze. In der ersten Lesung hatte ich be- wenn und weil das Unternehmen seine Verbindlichkeiten reits darauf hingewiesen, dass Attraktivität vor allem nicht mehr bedienen kann. Das bedeutet: Alle Gläubiger auch eine qualitative Frage ist. Freiwillige Wehrdienst- sitzen vor dem Hintergrund begrenzter Mittel in einem leistende müssen einen klaren Mehrwert in ihrem Dienst Boot und müssen gleichermaßen eine Kürzung ihrer For- erfahren. Gleiches gilt für Reservistinnen und Reservis- derungen gewärtigen. Zum Zweiten bedeutet dies, dass ten, die sich im Rahmen von Reservedienstleistungen, der Schuldner vor der Inanspruchnahme durch einzelne auf beorderten Dienstposten oder im Rahmen der frei- Gläubiger nach dem Windhundprinzip – wer zuerst willigen Reservistenarbeit engagieren. Der Aufwand, kommt, mahlt zuerst – geschützt ist. Und drittens soll der hier betrieben wird, muss sich auch für die Bundes- dies – wie heute zu Recht immer häufiger betont wird – wehr rechnen. Die Umsetzung der Konzeption der Re- dazu beitragen, dass der Schuldner saniert wird und an- serve muss aus unserer Sicht regelmäßig evaluiert wer- schließend, typischerweise nach erheblichen Umstruktu- den. Auch hier im Bundestag sollten wir uns regelmäßig rierungsmaßnahmen, wieder am Wirtschaftsverkehr teil- mit der Frage auseinandersetzen, ob die Reserve ihrem nehmen kann. Auftrag, den ihr die Konzeption der Reserve gibt, ge- recht wird. Wir sollten ein Auge darauf haben, dass das Vorsorglich sei aber auch klargestellt, was ein Insol- Geld und der Aufwand, der betrieben wird, auch zu ei- venzverfahren nicht soll: Weder soll es dem Schuldner nem angemessenen Output führt. Dazu bedarf es funk- eine einseitige, unkontrollierte Möglichkeit geben, sich tionierender Strukturen und Prozesse, die realistische seinen Zahlungspflichten zu entziehen, noch kommt ein Ziele verfolgen. Diese müssen regelmäßig überprüft Insolvenzverfahren in Betracht, wenn der Schuldner werden. bloß zahlungsunwillig – und nicht zahlungsunfähig – ist, insbesondere, weil er sich einiger, besonders unliebsa- Da wir diesen Gesetzentwurf zum jetzigen Zeitpunkt mer Schulden entziehen möchte. Und schließlich ist mit für einen richtigen und wichtigen Schritt halten, stim- einem Insolvenzverfahren auch nicht zwingend verbun- men wir ihm zu. den, dass der Schuldner bzw. seine Organe das Ruder 10204 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) aus der Hand geben müssen. Im privaten Insolvenzver- nicht, dass sie zur Wiederherstellung der Schuldentrag- (C) fahren nennt man dies „Eigenverwaltung“. fähigkeit beschnitten werden müssen. Schulden wie die- jenigen Griechenlands, die praktisch weder bedient noch Ist dies alles bei einem Staat als Schuldner anders? verzinst werden müssen, müssen auch nicht – weiter – Die einfache Antwort lautet: Nein! Allerdings fragt es beschnitten werden, und schon gar nicht, um neue Schul- sich dann natürlich, warum es ein Insolvenzverfahren, den machen zu können. Wer andererseits die Einnah- wie es seit Jahrhunderten für private Unternehmer üblich men, vor allem in Form von Steuern, – bewusst – gering ist, für Staaten nicht gibt. Die Antwort ist recht einfach: hält und die Ausgaben nach oben schraubt, kann auch in Denn es müsste in völkerrechtlich verbindlicher Weise einem Insolvenzverfahren für Staaten nicht auf Gnade vorab zwischen eben diesen Staaten verabredet werden. seiner Gläubiger hoffen. Es gibt hier eben anders als bei Und da glauben die Staaten natürlich, dass eine einsei- der Unternehmensinsolvenz keine klar feststehende In- tige Interessendurchsetzung oder eine solche in wech- solvenzmasse. Und vor allem: Ein Insolvenzverfahren selnden Allianzen mehr Chancen bietet als die Unter- für Staaten muss auf eine Gleichbehandlung aller Gläu- werfung unter verbindliche Regeln: So ist es natürlich bigerforderungen ausgerichtet sein – und nicht, wie charmant, einseitig zu versuchen, seine Zahlungsunfä- beide Oppositionsanträge dies tun, zwischen guten und higkeit zu erklären und auf ein Einsehen der Gläubiger schlechten Forderungen unterscheiden: Wenn Sie auf der zu hoffen, wie dies Argentinien getan hat – und wie es einen Seite die Forderungen von bösen Hegdefonds un- jetzt von Griechenland versucht wird. Umgekehrt glaubt ter Verweis auf den Gleichbehandlungsgrundsatz be- jeder Staat im Zweifel für sich, dass er seine Forderun- schneiden wollen, andererseits aber weitere Forderungen gen oder die seiner Staatsbürger im Falle der Insolvenz unter Beteiligung einer breiten Öffentlichkeit vollständig eines anderen Staates besser – sprich mit einer höheren aus dem von Ihnen angedachten staatlichen Insolvenz- Quote – durchsetzen kann, als andere Staaten dies verfahren ausklammern wollen, führen Sie genau die können. Attraktiv ist es auch, einen Gerichtsstandort Differenzierung wieder ein, die Sie eigentlich vermeiden – auch für Schiedsgerichte – vorzuhalten, an dem ein wollen. Es ist – das sei in diesem Zusammenhang dann solch besserer Schnitt möglich ist. auch gesagt – auch nicht so, dass die Durchsetzung sol- Aber: Jedenfalls in einem System, das wie die Euro- cher Forderungen vor privaten Schiedsgerichten leichter päische Union als Rechtsgemeinschaft angelegt ist, soll- möglich ist als vor staatlichen Gerichten. Denn erst vor ten solche Möglichkeiten des Trittbrettfahrens ausge- wenigen Wochen hat der deutsche Bundesgerichtshof schlossen sein – wie dies etwa auch in den Vereinigten unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Bundesverfas- Staaten von Amerika der Fall ist. Das mit den beiden sungsgericht festgestellt, dass Forderungen aus argenti- Oppositionsanträgen verfolgte Ziel ist daher durchaus nischen Staatsanleihen auch in Deutschland durchsetz- (B) dem Grunde nach berechtigt. Wir sollten in der Tat einen bar sind. (D) staatlichen Rahmen schaffen, der die Insolvenz eines Was ist die Alternative? Ich habe es vor einigen Tagen Staates in einem geordneten staatlichen Verfahren er- in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesagt: Es liegt möglicht. Das würde zum Beispiel für einen EU-Staat nahe, ein Resolvenzverfahren in der Euro-Zone in der zugleich die Möglichkeit begründen, trotz eines Schul- Weise einzurichten, dass durch geringfügige Änderun- denschnitts in der Währungsunion zu verbleiben, würde aber – vor allem – den Gläubigern bei ihrer Kreditver- gen des ESM-Vertrages ein Resolvenzgericht in Paral- gabe an Staaten auch abverlangen, zu beurteilen, mit lele zum ESM und unter Einbindung in die vorhandene welcher Wahrscheinlichkeit denn der Staat seine Ver- Finanzarchitektur des europäischen Krisenbewältigungs- bindlichkeiten zurückzahlen kann. Die auch formale mechanismus geschaffen wird. Zweck eines solchen Einführung der Möglichkeit eines Insolvenzverfahrens mehr die Verhandlungen zwischen Schuldnerstaat und führt möglicherweise auch bei gut gerateten Staaten Gläubigern beaufsichtigenden als Streitigkeiten zwi- dazu, dass – allein wegen der theoretischen Möglichkeit schen ihnen entscheidenden Gerichts wäre, künftig einer Insolvenz – höhere Refinanzierungskosten entste- Handlungsungewissheiten und Handlungsunsicherheiten hen; das gilt es gegen das Ausfallrisiko bei den Forde- wie im Falle Griechenlands seit 2010 von vornherein zu rungen gegen andere, weniger solvente Staaten abzuwä- unterbinden. Dieses Gericht würde eine Verfahrensord- gen. nung erhalten, in der sämtliche Schritte von der Stellung eines Antrags über die Verhandlungen zwischen Schuld- Aber – und deshalb werden wir Ihre Anträge ableh- ner und Gläubiger bis schließlich hin zur Abstimmung nen –: Dieser Rahmen kann – soweit es sich um Staaten über das Verhandlungsergebnis sowie zur Umsetzung des Euro-Raumes handelt – wegen des Zusammenhangs der wechselseitigen Verpflichtungen vorgeschrieben wä- mit der Währungsunion nur im europäischen Recht lie- ren. Darauf könnten sich sämtliche Betroffenen schon gen. Das schließt einen weitergehenden, internationalen von Anbeginn an vorbereiten; für Transparenz wäre also Rahmen nicht aus, würde aber einen Konsens über die gesorgt. dabei erforderlichen Rahmenbedingungen voraussetzen, den ich nicht sehe. Festgehalten werden sollte aber auch: Eine solche Regelung wäre neben der gerade eingeführten Banken- Zweitens muss der betreffende Staat zahlungsunfähig union ein – weiterer – Schritt zur Beseitigung von Sys- sein: Da wird man bei der Schuldenlast schon genauer temfehlern in der Euro-Zone. Dass sie nicht den fehlen- hinschauen müssen. Denn allein, dass Schulden unbe- den Gleichlauf von Währungs- und Wirtschaftspolitik quem sind, macht sie nicht belastend und heißt noch herzustellen vermag, liegt auf der Hand. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10205

(A) Bettina Kudla (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke lass auch kontraproduktiv wirken kann und die wirt- (C) und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben für ein schaftlichen Möglichkeiten des betroffenen Staates auf- internationales Staateninsolvenzverfahren jeweils einen grund eines Vertrauensverlustes einschränkt. Antrag vorgelegt. In den Anträgen fordern sie, dass die Es muss rechtzeitig vorgebeugt werden, dass Staaten Bundesregierung sich aktiv in die Beratungen der G-77- nicht in eine Überschuldung geraten. Der Kontrolle Staaten bei der UN für ein Staateninsolvenzverfahren durch das Parlament kommt eine zentrale Aufgabe zu. einsetzen möge. Die mittlerweile in unserem Grundgesetz auf Betreiben Die Linke bezieht sich dabei auf eine im September der CDU/CSU-Fraktion verankerte Schuldenbremse hat 2014 verabschiedete Resolution der Generalversamm- eine 40-jährige Entwicklung einer Anhäufung von lung der Vereinten Nationen, in der sich der Staatenbund Staatsschulden gestoppt und zur Trendumkehr gebracht. auf die Einrichtung eines Insolvenzverfahrens für über- Für die Bundesrepublik Deutschland gilt, dass es we- schuldete Staaten festgelegt hatte. Elf Staaten, darunter sentlich ist, dass nun auch die Bundesländer bis zum Deutschland, hatten gegen die Resolution gestimmt. Die Jahr 2020 die Schuldenbremse einhalten und bereits Bundesregierung hat den Prozess in den Vereinten Na- heute die Weichen für die Einhaltung der Schulden- tionen zur Einrichtung eines Staateninsolvenzverfahrens bremse stellen. Nur ein wirtschaftlich gesunder Staat hat konstruktiv begleitet, aber im Ergebnis zuletzt auch ge- entsprechende Möglichkeiten, über eine zielgerichtete gen die sogenannte Modalitätenresolution gestimmt. Entwicklungshilfe die Lage in wirtschaftlich schwäche- Diese Resolution wurde vonseiten der Europäischen ren und damit häufig überschuldeten Ländern zu verbes- Union konstruktiv verhandelt, letztendlich lehnten aber sern. alle EU-Mitgliedstaaten ein formelles, rechtsverbindli- Was ist nun der Unterschied zwischen den Insolvenz- ches Staateninsolvenzverfahren ab. verfahren des IWF und eines Insolvenzverfahrens durch Die bestehenden Verfahren im Pariser Club und im die UN? Ein Insolvenzverfahren in Anlehnung an den IWF zum Thema Schuldenentlastung von Ländern mit IWF bleibt für staatliche wie für private Gläubiger im entsprechendem Bedarf haben sich bewährt. Ein Verfah- Kern freiwillig. Es gibt kein einheitliches Umschul- ren mit einem für alle Beteiligten, also auch für alle dungsforum. Die staatlichen Gläubiger verhandeln im Gläubiger, bindenden Schiedsspruch ist problematisch. Pariser Club, die privaten Gläubiger im Londoner Club. Ein derartiges, formelles Staateninsolvenzverfahren er- Beide Clubs sind Plattformen für Gespräche über den scheint unverändert verfassungsrechtlich und politisch weiteren Umgang mit den Staatsschulden. Dem IWF nicht realisierbar. Insbesondere wären grundlegende par- fällt eine Katalysatorfunktion zu. Die Bereitschaftserklä- lamentarische Budgetrechte beeinträchtigt. rung des Schuldnerstaates zur Vornahme der notwendi- gen Reformen („Letter of Intent“) ist nicht nur Bedin- (B) (D) Die Insolvenz eines Staates hat stets gravierende Fol- gung für den Abschluss eines Standby-Abkommens gen und ist häufig auch nicht die Lösung wirtschaftlicher zwischen IWF und Schuldnerstaat, sondern mit seinem Probleme. Laut einer Statistik des IWF gab es seit dem positiven Votum zum Stabilisierungsprogramm signali- Jahr 1980 allein 90 Insolvenzen von 73 Staaten, einige siert der IWF den im Pariser Club vereinigten Gläubi- Staaten sind demnach mehrfach insolvent geworden. Der gern den ernsthaften Reformwillen des Schuldnerstaates Staat Chile war siebenmal insolvent, Brasilien sechsmal und gibt damit das Signal für den Beginn der Umschul- und Argentinien fünfmal. Eine erneute Insolvenz binnen dungsverhandlungen. Ich halte dieses Verfahren für die so kurzer Zeit zeigt, dass weder die finanziellen noch Gläubiger für sicher und für fair und transparent. volkswirtschaftlichen Probleme dieses Landes durch eine Staateninsolvenz gelöst wurden. Oberstes politi- Bei einem Insolvenzverfahren auf Beschluss der Ver- sches Ziel muss es daher immer sein, der Überschuldung einten Nationen würde politisch weitgehend in die eines Staates vorzubeugen. Ein Staat muss ein verlässli- Rechte der Gläubiger der Staatsschulden und auch in die cher Partner für Bürger und Unternehmer sein. Gute Rechte von Parlamenten eingegriffen werden. Handelsbeziehungen und Investitionen mit bzw. in ei- Gleichwohl bedarf es einer Regelung, falls es tatsäch- nem Staat hängen wesentlich davon ab, ob in dem Staat lich zu einer Insolvenz kommt, damit die Gläubiger best- verlässliche rechtliche, wirtschaftliche und finanzielle möglich geschützt werden. Die sogenannten Collective Rahmenbedingen herrschen. Wirtschaftliche Probleme Action Clauses, CAC-Klauseln, regeln in den Anleihe- in Entwicklungsländern beruhen häufig nicht auf fehlen- bedingungen von Staatsanleihen, dass im Falle der Insol- den finanziellen Möglichkeiten, sondern auf strukturel- venz eines Staates die Gläubiger nach einem bestimmten len Problemen. Mehrheitsverfahren entscheiden können. Dies hat den Vorteil, dass die Sanierung eines Staates nicht durch ei- Die Finanzierungen eines Staates hängen wesentlich nige wenige Gläubiger blockiert werden kann. von dessen Kapitalmarktfähigkeit ab. Die Finanzierung über Staatsanleihen wird erheblich eingeschränkt, wenn Die Bundesregierung setzt daher zu Recht auf die be- aufgrund eines drohenden Insolvenzverfahrens mit ei- stehenden Staateninsolvenzverfahren im Pariser Club nem Ausfall der Staatsanleihen zu rechnen ist. Die Anle- wie auch im IWF mit Unterstützung der Weltbank. Eine ger müssen sich auf Zusagen eines Staates verlassen Verlagerung dieser Verfahren, weg vom Internationalen können. Unberührt bleibt davon die Möglichkeit, dass Währungsfonds zu den Vereinten Nationen ist nicht wohlhabende Staaten individuelle Schuldenerlasse ge- zwangsläufig erfolgreich. Auf die wirtschaftlichen Mög- genüber überschuldeten Staaten aussprechen. Dabei ist lichkeiten der Weltbank zur Leistung von Aufbauhilfe jedoch immer zu berücksichtigen, dass ein Schuldener- möchte ich hinweisen. Zu beachten ist, dass das Verfah- 10206 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) ren bei den Institutionen bleiben sollte, die es auch er- chen Schuldenumstrukturierungsmechanismus beschlie- (C) folgreich durchführen können. ßen. Ein formelles Staateninsolvenzverfahren der Verein- Deutschland hat sich immer für sinnvolle Regelungen ten Nationen wird seitens der Bundesregierung kritisch im Falle einer Staateninsolvenz eingesetzt. Hierfür ist gesehen; dies entspricht auch der Haltung der EU-Staa- aber ein ergebnisoffener, konsensorientierter Prozess ten. Die Anträge sind daher abzulehnen. Ich begrüße, notwendig, der natürlich auch die Gläubiger mit ein- dass durch die IWF-Empfehlungen zu Collective Action schließen muss. Dies war hier nicht der Fall. Deutsch- Clauses, CACs, in Staatsanleihen deren verbreitetere land hat daher gegen die Resolution gestimmt und sich Anwendung ermöglicht und vorangetrieben wird. Auf nicht an der Arbeitsgruppe beteiligt. diesen IWF-Arbeiten sollte weiter aufgebaut werden. Wir bedauern diese Entwicklung, denn die weltweite Verschuldung befindet sich auf einem neuen Höchst- Manfred Zöllmer (SPD): Wie lange sollte man ein stand. Es ist mehr als sinnvoll, sich damit auseinanderzu- totes Pferd reiten? Diese Frage stellt sich, weil die Ver- setzen. Aber dieser Prozess muss anders laufen. einten Nationen nach wie vor versuchen, auf Initiative von Bolivien ein formelles, rechtsverbindliches Staaten- Ein weiterer Kritikpunkt an der Initiative ist die For- insolvenzverfahren zu entwickeln. Dieser Prozess wurde derung der völkerrechtlichen Anerkennung eines Schieds- gegen die Stimmen der EU-Mitgliedstaaten eingeleitet. gerichts, das verbindliche Entscheidungen im Rahmen Hintergrund der Resolution ist eigentlich ein juristi- einer Schuldenrestrukturierung treffen soll. scher Konflikt Argentiniens mit einem New Yorker In den vorliegenden Anträgen der Fraktionen Die Hedgefonds. Infolge der Insolvenz des Landes im De- Linke und der Grünen wird eine solche Forderung nach- zember 2001 führte die Regierung in Buenos Aires in drücklich unterstützt. Damit würden haushaltsrelevante den Jahren 2005 und 2010 große Umschuldungsrunden Fragen auf eine Institution, die keiner parlamentarischen durch. Inhaber von argentinischen Staatsanleihen sollten Kontrolle des Bundestages unterliegt, verlagert. Eine neue Wertpapiere mit veränderten Konditionen erhalten. solche Forderung ist für uns aus politischen und verfas- Über 90 Prozent nahmen damals das Angebot an, ob- sungsrechtlichen Gründen nicht akzeptabel. Wenn Linke wohl das einen Abschlag von durchschnittlich 50 Pro- und Grüne in handelsrechtlichen Fragen bei der Diskus- zent der ursprünglichen Forderungen bedeutete. Einige sion um TTIP Schiedsgerichte entschieden ablehnen, Hedgefonds zogen jedoch vor Gericht. Ein US-Gericht hier aber vehement fordern, dann ist dies nicht nachzu- verurteilte die Regierung in Buenos Aires dazu, dem vollziehen. Hedgefonds NML Capital und Aurelius 1,47 Milliarden (B) US-Dollar – rund 1,1 Milliarden Euro – auszuzahlen. Ein Großteil der Staatsanleihen und weiterer Wertpa- (D) Der Rechtsstreit wird in den USA ausgetragen, weil ar- piere wird unter der Gerichtsbarkeit der großen interna- gentinische Anleihen unter amerikanischem Recht und tionalen Finanzmarktplätze USA und Großbritannien be- in US-Dollar begeben wurden. geben. Ein Verfahren, welches diese Akteure nicht mit einbezieht, ist im Ansatz nicht zielführend. Es war der Aber auch der deutsche Bundesgerichtshof gab im Kardinalfehler dieser Initiative, die Interessen der Gläu- Februar dieses Jahres deutschen Anlegern gegen Argen- bigerländer nicht zu berücksichtigen. Ein Durchmarsch tinien Recht, die gegen die Umschuldungsstrategie Ar- mit einer Resolution bei den Vereinten Nationen hilft gentiniens geklagt hatten. Argentinien hatte die Zahlung nicht, die Probleme real zu lösen. Eine Verständigung seiner Schulden auch in diesem Prozess verweigert und kann es nur geben, wenn es einen fairen und transparen- berief sich zum einen darauf, dass die Mehrheit der ten Prozess unter Einbeziehung der angesprochenen In- Gläubiger damals der Umschuldung zugestimmt habe. stitutionen und der Gläubiger gibt. Ein solcher ergebnis- Zudem gebe es mittlerweile quasi eine völkerrechtliche offener Prozess findet jederzeit unsere Unterstützung. Gewohnheit, zum Beispiel mit Verweis auf die Rettung des Euro-Landes Griechenland und den damit verbunde- Deutschland hat sich an der gemeinsamen EU-Hal- nen Schuldenschnitt. tung orientiert. Wir unterstützen die IWF-Empfehlungen Doch der BGH sieht dies anders: Kein völkerrechtli- zu den Collective Action Clauses, CAC. Diese Umschul- cher Grundsatz berechtigt ein Land dazu, die Zahlung dungsklauseln in Staatsanleihen müssen weiterentwi- fälliger Schulden wegen eines finanziellen Staatsnot- ckelt werden, und dieser Prozess muss vorangetrieben standes oder einer freiwilligen Umschuldung der Gläubi- werden. Die CAC sind gerade nach der Staateninsolvenz germehrheit zeitweise zu verweigern. Auch aus der Argentiniens eingeführt worden. Das Anliegen ist, staat- Weltfinanzmarktkrise und der Rettung Griechenlands sei liche Schuldenkrisen kontrolliert abwickeln zu können, eine derartige völkerrechtliche Regel nicht entstanden. wenn von großen institutionellen Investoren, Bankkon- sortien bis hin zu weltweit verstreuten privaten Anleihe- Die Initiatoren des Beschlusses der Vereinten Natio- gläubigern die Gläubigerinteressen global und kleinteilig nen hatten die massiven inhaltlichen und prozeduralen verteilt sind. Denn häufig waren wenige nicht zustim- Bedenken vieler Länder einfach ignoriert und einen Be- mende Anleihegläubiger der Grund dafür, dass ein schluss in der Vollversammlung der Vereinten Nationen Schuldnerstaat an der Durchsetzung einer von der Mehr- gegen diese Bedenken mehrheitlich durchgesetzt. Mit heit gebilligten Restrukturierung durch eine ablehnende der Bildung eines sogenannten Ad-hoc-Ausschusses Minderheit gehindert war. Wir sprechen hier vom wollte man in drei Sitzungen einen förmlichen verbindli- „Holdout-Problem“. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10207

(A) Solche Klauseln erleichtern Schuldenrestrukturierun- Der globale Süden hat also genügend Gründe, um ge- (C) gen und helfen damit bei der Krisenbewältigung. Die nug von geberdominierten Verfahren zu haben. Multi- Bundesregierung setzt sich deshalb beim IWF dafür ein, laterale Geberprogramme wie die HIPC-Initiative waren die Arbeiten im Bereich vertraglicher Anleiheklauseln hochgradig ineffizient und sind gescheitert. Fast ein fortzusetzen. Ohne eine enge Beteiligung von IWF, Pari- Drittel der 30 Staaten, die diese Verfahren durchlaufen ser Club und eine Berücksichtigung der laufenden haben, weisen schon jetzt erneut ein hohes Überschul- Verhandlungen zur Vorbereitung der Financing-for- dungsrisiko auf. Development-Konferenz im Juli 2015 kann es keine Verständigung auf ein Schuldenumstrukturierungsver- Ein Grund dafür ist, dass neben Staaten auf der Ge- fahren geben. berseite auch immer aggressivere und verantwortungs- losere private Spekulanten auftreten. Das jüngste Bei- Letztlich wird der Aspekt der Schuldenprävention spiel Argentinien zeigt dies überdeutlich. Hier droht ein von der UN-Initiative leider völlig vernachlässigt. Kre- skrupelloser Hedgefonds einen ganzen Staat durch seine ditgeber und Kreditnehmer sollten nur im Rahmen der kompromisslose Haltung im Umschuldungsprozess er- Schuldentragfähigkeit, wie sie im Rahmenwerk von neut an den Rand des Ruins zu treiben. IWF und Weltbank definiert ist, handeln, um übermä- ßige Verschuldung zu verhindern. Wenn wir nicht jetzt zu einem verlässlichen, fairen und effizienten Verfahren finden, das künftig für alle Das laufende Verfahren, wie es in den Anträgen der Gläubiger verbindlich ist und die Bedürfnisse des Opposition gelobt wird, wird zu keinem befriedigenden Schuldnerstaats angemessen berücksichtigt, sind die Ergebnis führen. Die Opposition setzt auf das falsche nächsten Krisen schon vorprogrammiert. Diese haben Pferd. Dieses Pferd ist tot, damit kommen wir leider dann – wie fast immer – die Ärmsten der Armen auszu- nicht ans Ziel. Deshalb sollte man rechtzeitig absteigen. baden. Länder werden um Jahrzehnte in ihrer Entwick- lung zurückgeworfen. Niema Movassat (DIE LINKE): Eines liegt doch Die Linke fordert die Bundesregierung auf, einzulen- klar auf der Hand: Die Welt braucht ein geregeltes und ken und den weiteren Prozess in den Vereinten Nationen unabhängiges Insolvenzverfahren für überschuldete zur Einrichtung eines fairen, partizipativen und trans- Staaten. Im September 2014 hat die Generalversamm- parenten Staateninsolvenzverfahrens nicht weiter zu blo- lung der Vereinten Nationen mit überwältigender Mehr- ckieren, sondern konstruktiv zu unterstützen. heit beschlossen, ein multilaterales Rahmenwerk zur Re- strukturierung von Staatsschulden einzurichten. Diese Ein solches muss einen für alle Gläubiger bindenden Resolution wurde von Bolivien im Namen der Gruppe Beschluss eines unabhängigen Schiedsverfahrens, das (B) der 77 und Chinas eingebracht – also von den Ländern, die Schuldenlast auf ein tragfähiges Niveau senkt, ge- (D) die mehrheitlich am extremsten unter den Schulden- währleisten. Vorrang vor den Ansprüchen der Gläubiger krisen der letzten 30 Jahre zu leiden hatten. Es ist mehr muss die Sicherstellung eines Existenzminimums der als beschämend, dass Deutschland zur kleinen Minder- Bevölkerung im Sinne der sozialen, wirtschaftlichen und heit von elf Staaten gehört, die gegen diese Resolution kulturellen Menschenrechte haben. Um dies sicherzu- gestimmt haben. Die Begründung, die die Bundesregie- stellen und auch um die Legitimität der Schulden zu rung für ihr Abstimmungsverhalten gab, ist mehr als überprüfen, braucht es einen Audit-Prozess unter Betei- kleinlich: Der Vorstoß der G-77-Staaten sei nicht mit den ligung einer möglichst breiten Öffentlichkeit. großen Gläubigerländern abgestimmt gewesen. 2013 ist Norwegen mit gutem Beispiel vorangegan- Das sagt ausgerechnet ein Mitgliedsland der G 7, gen und hat als erster Geberstaat einen Bericht über die einem Bündnis, das meint, über globale Menschheits- Legitimität von Staatsschulden vorgelegt und in der fragen in einem exklusiven Zirkel entscheiden zu kön- Folge auch als illegitim erkannte Schulden erlassen. nen – vorbei an den Vereinten Nationen und ohne dass Denn auch Gläubiger haben eine besondere Verantwor- man sich je groß darum scherte, ob diese Beschlüsse tung bei der Vergabe von Krediten. Norwegen hat sich vorher mit anderen betroffenen Staaten abgestimmt hierbei an den UNCTAD-Prinzipien für eine verantwor- wären oder nicht. Partizipation hatte für den Westen, tungsvolle Kreditvergabe, die auch Deutschland unter- diesem Club ehemaliger Kolonialmächte, noch einen stützt, orientiert. besonders hohen Stellenwert. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Verände- Zurück zur Sache: Die Überschuldung von Staaten rungen. Auch die Bundesregierung darf sich dem nicht hat sich als entscheidendes Hindernis für ihre selbst- verweigern. bestimmte wirtschaftliche und soziale Entwicklung er- wiesen. Im Schuldendienst werden Mittel gebunden, die Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es dann für Investitionen in Bildung, Gesundheit und Infra- gibt zwei gute und zwei schlechte Nachrichten; die guten struktur fehlen. zuerst: Schuldenpolitik war immer auch schon Machtpolitik. Erstens. Es gibt eine neue Initiative in den Vereinten Da werden Schulden als koloniales Instrument einge- Nationen zur Schaffung eines fairen und transparenten setzt, um alte Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhält- Entschuldungsverfahrens, die die Staaten des Globalen nisse aufrechtzuerhalten oder neu zu erlangen. Viele die- Südens – durch die Gruppe der 77 und China in den Ver- ser Schulden müssen wir zudem als illegitim bewerten. einten Nationen – in der Generalversammlung zur Ab- 10208 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) stimmung gestellt haben und die mit großer Mehrheit an- struktur investieren, Löcher im öffentlichen Haushalt (C) genommen wurde. Dieser Prozess verdient jede stopfen, zweifelhafte Geschäfte finanzieren oder andere Unterstützung aus Politik, Wissenschaft und sozialen mehr oder weniger edle Ziele verfolgen. Man muss Bewegungen in Deutschland und ganz Europa. Schon so schon die Augen sehr fest verschließen, um nicht zu er- lange setzen wir uns fraktionsübergreifend für faire Ent- kennen, dass auch diese Kreditwelle zu neuen Staatsplei- schuldungsverfahren ein – dieser VN-Prozess muss von ten führen kann, genauso wie die, die zur „Schuldenkrise uns mitgestaltet werden. der Dritten Welt“ in den 1980er-Jahren führte. Damit müssen wir in einigen oder sogar in vielen Ländern ein- Dass aus dem Prozess in den Vereinten Nationen ein fach rechnen. rechtsstaatliches Verfahren zum Umgang mit öffentli- cher Entschuldung resultieren könnte, ist sicherlich die Denn die neue Kreditwelle stößt nicht etwa auf eine beste Nachricht im Blick auf das Thema in den nächsten schuldenfreie Welt: Die dramatischen Schuldenindikato- Monaten. ren in einer ganzen Reihe von „kleinen Inselentwick- lungsstaaten“ im Pazifik und in der Karibik sind hierzu- Es gibt aus meiner Sicht noch eine weitere – ich zi- lande kaum wahrgenommen worden. Und die anhaltende tiere Joseph Stiglitz –: Schuldenkrise in der Euro-Zone hat dort zu extrem ho- Der Machtwechsel in Griechenland hat die neue hen Schuldenindikatoren und zum Risiko der Staats- Regierung mit dem ausdrücklichen Mandat ausge- pleite geführt. Auffallend hoch ist auch die Anzahl dra- stattet, der desaströsen Sparpolitik der letzten fünf matisch hoher Auslandsschuldenindikatoren in Ländern Jahre ein Ende zu setzen. Eine Lösung für die ganz des früheren Ostblocks. und gar untragbaren öffentlichen Schulden und Insgesamt hat sich die globale Schuldensituation zwi- Auslandsschulden ist eine Voraussetzung für jegli- schen 2011 und 2013 verschlechtert: 54 Prozent der ge- chen wirtschaftlichen Neustart. Die neue Regierung rade erst von Erlassjahr untersuchten Verschuldungsindi- ist bereit, auch unkonventionelle Optionen in Be- katoren sind 2013 höher als 2011. 30 Prozent haben sich tracht zu ziehen, und sie lässt sich von der erfolgrei- verbessert, bei 16 Prozent ist die Situation unverändert. chen Entschuldung Deutschlands im Londoner Das heißt, dass die Verschuldung von Entwicklungs- Schuldenabkommen von 1953 inspirieren. Wir kön- und Schwellenländern weniger tragfähig ist als in den nen nicht absehen, ob sie es tatsächlich schaffen Vorjahren. Insgesamt sind Kapitalmarktfinanzierungen wird. Aber der Einsatz ist hoch – nicht nur für Grie- als Option der Entwicklungsfinanzierung für Entwick- chenland, sondern für uns alle, die wir immer vor lungs- und Schwellenländer immer wichtiger geworden: der verschuldungsbedingten Ungleichheit innerhalb 62 Prozent der Kredite an Entwicklungs- und Schwel- und zwischen Staaten gewarnt haben. lenländer im Jahr 2013 kamen aus privaten Quellen. In (B) (D) Diese beiden Neuigkeiten zeigen, dass Bewegung in einigen Ländern wird es laut Expertinnen und Experten die Frage um Schulden in und zwischen Staaten gekom- beim IWF daher in wenigen Jahren wieder zu Schulden- men ist, und ich erwarte von der Bundesregierung, dass krisen kommen. sie sich aktiv und konstruktiv verhält und nicht in der Aber es steckt in diesen schlechten Nachrichten auch unerträglichen Neinsagerposition verharrt, die sie bis- eine Chance: Wenn die Euro-Zone es schafft, umzusteu- lang an den Tag legt. ern und die Krise durch eine tiefgreifende und durch- Und damit komme ich zu den schlechten, ja bedrohli- dachte Schuldenpolitik zu bewältigen, und wenn die chen Nachrichten: Beratungen in den Vereinten Nationen zu einem erfolg- reichen Abschluss gebracht werden, dann könnte das Die erste ist, dass Deutschland und die USA nichts Schuldenthema am Anfang einer neuer Ära stehen. tun, um den Prozess der VN konstruktiv mitzugestalten, und dass sie ihn durch ihre Blockadehaltung ernsthaft ins Stolpern bringen. Ohne eine andere Haltung vonseiten Anlage 5 Deutschlands wird sich der Prozess über Jahre oder Jahr- zehnte hinziehen, und eine historische Chance wird ver- Zu Protokoll gegebene Reden tan. Für dieses Verhalten sollten Sie sich schämen, Frau Merkel, und vor allem Herr Schäuble. Es gibt dafür auch zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur keinen Grund. Selbst wenn Sie nicht blockieren und sich Neuordnung des Rechts über das Inverkehr- einbringen würden, würde nichts gegen Ihren Willen bringen, die Rücknahme und die umweltver- entschieden, und bis Ende des Jahres würden trotzdem trägliche Entsorgung von Elektro- und Elektro- keine Fakten geschaffen. nikgeräten (Tagesordnungspunkt 20) Die zweite, noch dramatischere Nachricht lautet: Pro- Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Das Elektro- und bleme mit staatlichen Schuldenkrisen könnten in den Elektronikgerätegesetz ist eines der wichtigsten Gesetz- nächsten Monaten zu einem durchaus noch größeren gebungsvorhaben im Bereich der Abfallwirtschaft in Problem werden. Seit mehr als drei Jahren leben wir mit dieser Legislaturperiode. Wir setzen mit diesem Gesetz historisch niedrigen Zinssätzen auf den internationalen europäische Vorgaben um. Und wir setzen unseren Ko- Kapitalmärkten. Deren Folgen für Entwicklungs- und alitionsvertrag um. Schwellenländer sind offensichtlich: Wenn Regierungen günstige Kredite bekommen, dann nehmen sie diese Worum geht es? Ein Großteil der alten Elektrogeräte auch auf, egal ob sie mit diesen Krediten in die Infra- wird heute nicht zurückgegeben. Die Rücknahmemenge Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10209

(A) stagniert in den letzten Jahren. Zu viele alte Elektroge- Fünftens. Ungeachtet der Rücknahmepflichten des (C) räte verschwinden im Ausland oder wandern in den Handels gilt: Bewährte Erfassungs- und Entsorgungs- Restmüll. strukturen werden erhalten und verbessert. Welche Ziele verfolgen wir nun mit dem ElektroG? Sechstens. Um die illegalen Exporte einzudämmen, wird eine Beweislastumkehr eingeführt: Will jemand Erstens. Wir wollen, dass möglichst viele alte Elek- alte Elektrogeräte exportieren, muss er künftig nachwei- trogeräte, die nicht mehr gebraucht werden, getrennt ge- sen, dass es sich nicht um Abfälle handelt, sondern um sammelt und wieder zurückgenommen werden. Und funktionstüchtige Geräte. unser Ziel muss es sein, dass möglichst viel davon hoch- wertig recycelt wird. Sekundärrohstoffe sollen zurückge- Es handelt sich um ein umfangreiches Gesetz. Und wonnen werden. Kupfer, Aluminium und Kunststoffe der Teufel steckt im Detail. Es gibt zahlreiche Hinweise – um nur ein paar Beispiele zu nennen – müssen wieder von verschiedenen Seiten, wie der Gesetzestext noch in den Kreislauf zurück. Das macht umweltpolitisch verändert und gegebenenfalls verbessert werden kann. Sinn, es macht aber gerade für ein rohstoffarmes Land Ich sage Ihnen zu: Wir werden uns alle Änderungswün- wie Deutschland vor allem wirtschaftlich Sinn. Techno- sche sehr genau ansehen und bewerten. Es wird im Juni logisch ist heute schon vieles möglich. Ich habe mir vor im Umweltausschuss zudem eine Sachverständigenan- kurzem eine Recyclinganlage für Elektrogeräte angese- hörung geben. Wir werden diese genau auswerten und Schlussfolgerungen ziehen. Wir werden vor allem auch hen. Das ist absolut faszinierend, zu sehen, welche darauf achten, dass keine unnötige Bürokratie aufgebaut technologischen Innovationen in den letzten Jahren in wird. Das ist mir wichtig. Unternehmen stattgefunden haben. Wir wollen, dass von diesem Gesetz weitere Anreize zu technologischer Inno- vation in Deutschland ausgehen. Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): Jeder kennt die Situation: Das Handy funktioniert nicht mehr, man kauft Zweitens. Unser Ziel ist, dass wir für die Bürgerinnen sich ein neues und das alte, defekte Gerät landet zu und Bürger in unserem Land ein möglichst einfaches Hause in der Schublade. Irgendwann wird es dann ent- und verbraucherfreundliches System schaffen. sorgt – idealerweise bei einer dafür vorgesehenen Sam- melstelle. Schätzungen zufolge werden jährlich rund Drittens. Unser Ziel ist es, dass illegale Exporte von 150 000 Tonnen solcher Elektrokleingeräte nicht ent- Elektroschrott eingedämmt werden. Es ist nicht hin- sorgt, sondern landen in Müllverbrennungsanlagen, wo nehmbar, dass unsere ausgedienten Fernseher, Mikro- sie gar nicht hingehören. Betrachtet man alle Elektroge- wellengeräte und Teile von Kühlschränken in großen räte, dann sind es sogar 500 000 Tonnen. Das muss ein (B) Mengen auf Müllhalden in Afrika landen. Es ist nicht Ende haben. (D) hinnehmbar, dass unsere Abfälle dort erhebliche Pro- bleme verursachen, und zwar für die Menschen und die Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die EU- Umwelt. Das dürfen wir nicht zulassen. Richtlinie über Elektronik- und Elektroaltgeräte umge- setzt und das bestehende Elektrogesetz weiterentwickelt. Was sieht der Gesetzentwurf nun konkret vor? Ich Ziel des Gesetzes ist es, die Sammelquote bei Elektro- will sechs Kernpunkte nennen: und Elektronikaltgeräten zu erhöhen, wertvolle Metalle zurückzugewinnen und die Reststoffe aus den Geräten Erstens. Der Anwendungsbereich des bestehenden ordnungsgerecht und umweltschonend zu entsorgen. Gesetzes wird ausgedehnt. Es ist überfällig, dass etwa Fotovoltaikmodule einbezogen werden. Alte Module Auch der Handel muss zur Erreichung der Ziele einen können künftig zurückgegeben werden. Beitrag leisten. Geschäfte mit einer Verkaufsfläche von über 400 Quadratmetern werden verpflichtet, das Alt- Zweitens. Die Ziele, wieviel Prozent des anfallenden gerät bei Kauf eines vergleichbaren Neugeräts zurück- Elektroschrotts in Deutschland zu erfassen sind, werden zunehmen. Bei kleinen Geräten muss die Rücknahme erhöht: zunächst auf 45 Prozent, 2019 dann auf 65 Pro- sogar ohne Neukauf erfolgen. Ich begrüße, dass der Ge- zent. setzentwurf den kleinen Strukturen des Mittelstands mit dieser 400-Quadratmeter-Regel Rechnung trägt. Denn: Drittens. Die Recycling- und Verwertungsquoten bei Aus eigener Erfahrung aus dem Familienumfeld kann den Altgeräten werden erhöht. ich sagen, dass nicht jeder kleine Dorfladen die räumli- chen Möglichkeiten hat, große Geräte wie Wasch- oder Viertens. Es kommt zu einer Rücknahmepflicht des Spülmaschinen zurückzunehmen und bis zur Entsorgung Handels. Eine Rücknahme durch den Handel erfolgt zu lagern. heute auf freiwilliger Basis. Wir wissen: Viele Geschäfte nehmen alte Elektrogeräte heute schon zurück. Künftig Auch der Onlinehandel, der immer weiter an Bedeu- soll in großen Geschäften mit einer Verkaufsfläche von tung gewinnt, wird einbezogen. Online-Händler werden mehr als 400 Quadratmeter gelten: Kauft jemand ein zukünftig verpflichtet sein, Altgeräte zurückzunehmen. neues Gerät, kann er im Gegenzug sein altes Gerät im Die dafür vorgesehenen Rücknahmestellen müssen in Geschäft zurückgeben. Kleine Altgeräte – mit weniger zumutbarer Entfernung zum jeweiligen Endnutzer einge- als 25 Zentimetern Kantenlänge – müssen auch dann zu- richtet werden. Wie genau das in der Praxis auszusehen rückgenommen werden, wenn kein neues Gerät gekauft hat, werden wir im weiteren parlamentarischen Verfah- wird. ren noch weiter diskutieren müssen. 10210 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Auch diskutieren müssen wir den Erfüllungsaufwand Man könnte also meinen, bei dem heute debattierten Ge- (C) für die Wirtschaft. Die EU-Richtlinie reduziert die An- setz zum Umgang mit Elektroaltgeräten geht es gar nicht zahl der Produktkategorien von ursprünglich zehn auf in erster Linie um Umweltpolitik, sondern eigentlich um sechs Kategorien. Dadurch sind die Hersteller verpflich- Wirtschaftspolitik. tet, ihre Produkte neu in die Kategorien einzusortieren, was wiederum Umsetzungskosten in Höhe von rund Das stimmt natürlich so nicht. Natürlich wollen wir 1 Milliarde Euro im Jahr 2018 entspricht. Auch wenn mehr Elektroaltgeräte sammeln, um die in ihnen enthal- der Normenkontrollrat hier keine Bedenken angemeldet tenen Wertstoffe wieder in den Wirtschaftskreislauf zu- hat, so ist dies aus meiner Sicht problematisch und muss rückzubringen, aber es geht eben auch darum, unsere ebenfalls im weiteren Verfahren genau hinterfragt und natürlichen Ressourcen zu schonen. Wir müssen die so- geprüft werden. zialen und ökologischen Folgen des zunehmenden Roh- stoffabbaus eingrenzen. Wir wollen, dass die Geräte Rohstoffe und Sekundärrohstoffe sind etwas Wertvol- sachgerecht recycelt werden. Wir wollen verhindern, les – vor allem für uns Deutsche, da unser Land wenige dass es durch nichtfachgerechte Entnahme der Wert- Rohstoffe hat. Künftig sollen nur noch überprüfte, funk- stoffe in Deutschland oder im Ausland zu Schadstoff- tionsfähige Geräte als Nichtabfall exportiert werden. emissionen kommt und zu illegaler Deponierung der Durch eine Beweislastumkehr, nach der der Exporteur Reststoffe. Deshalb ist dieses Gesetz eben doch in erster belegen muss, dass es sich um gebrauchsfähige Geräte Linie ein umweltpolitisch bedeutsames. und nicht um Elektroschrott handelt, verleihen wir dieser Natürlich hat aber der Marktwert der in den Altgerä- Regelung Nachdruck. Damit schieben wir der illegalen ten enthaltenen Wertstoffe wie Metalle und seltenen Er- Verbringung von Rohstoffen, insbesondere in Entwick- den trotzdem Auswirkungen. Die Wissenschaftler haben lungsländer, einen Riegel vor, und das ist auch gut so. nämlich festgestellt, dass trotz der wirtschaftlichen Be- Bei all der Diskussion um die Umsetzung der EU- deutung des Elektroschrotts weltweit weniger als ein Richtlinie dürfen wir aber nicht vergessen, dass Deutsch- Sechstel sachgemäß recycelt wird. Das liegt natürlich land die europäischen Zielvorgaben schon heute über- auch daran, dass wegen des Marktwertes die Entnahme trifft. Auch bei der Produktverantwortung im Elektroge- von Kupfer und Gold auch außerhalb der offiziellen Re- rätebereich sind wir sehr weit. Die Hersteller haben eine cyclingwege stattfindet. Eine aktuelle Studie des Um- gemeinsame Stelle, die Stiftung ear gegründet. Die Her- weltprogramms der Vereinten Nationen schätzt den Wert steller holen so bereits heute die Altgeräte analog zu des auf inoffiziellen Wegen entsorgten und teilweise ge- ihrem Marktanteil bei den öffentlich-rechtlichen Sam- handelten Elektroschrotts auf 11 bis 16,5 Milliarden melstellen ab und sorgen für eine umweltgerechte Ent- Euro im Jahr. Diese Art der Entsorgung hat unter Um- ständen verheerende Auswirkungen auf die Umwelt und (B) sorgung und Verwertung der Rohstoffe. (D) besonders den Menschen. Denken wir an die Bilder aus Von dieser Produktverantwortung können wir in wei- Afrika, wo Menschen in meterhohen Lagen Elektro- teren Bereichen lernen. Ich denke hier zum Beispiel an schrott wühlen. Messungen dort haben ergeben, dass die das geplante Wertstoffgesetz, über das wir vorhin hier Schadstoffbelastung in Luft und Boden die zulässigen diskutiert haben. Durch eine Produktverantwortung für Grenzwerte um das 50-Fache überschreitet. Das ist auch stoffgleiche Nichtverpackungen wie die Quietscheente die Folge unserer Sucht nach modernster Elektronik mit oder den Kleiderbügel würden wir zum einen den Anreiz immer kürzerer Nutzungsdauer. Deshalb ist ein ganz setzen, möglichst nachhaltige gut rezyklierbare Materia- wichtiges Ziel dieser Novelle die Eindämmung des ille- lien bei der Herstellung zu verwenden, und zum anderen galen Exports. Gleichzeitig müssen wir hier aufpassen, die stoffliche Verwertung gegenüber der thermischen dass wir damit nicht den grenzüberschreitenden Trans- Verwertung fördern. Ein Ansatz, der sich – wie ich port zum Zweck der Reparatur unmöglich machen. Das finde – lohnt weitergesponnen zu werden. wären dann ökologisch ebenfalls unerwünschte Neben- folgen. Stärken wollen wir auch die Wiederverwendung Es sind noch einige Fragen offen. Zusammenfassend von Geräten. Immer mehr Kommunen setzen diesen möchte ich jedoch sagen, dass das Gesetz ein wichtiger Weg mit lokalen karitativen und sozialen Betrieben um. Baustein zum Schließen von Stoffkreisläufen ist, die stoff- liche Verwertung von Elektroabfällen verbessert und da- Aber es geht bei diesem Gesetz auch darum, den Ver- für sorgt, dass wertvolle Rohstoffe in der Wertschöp- lust der in den Elektro- und Elektronikaltgeräten enthal- fungskette bleiben. tenen Wertstoffe in Deutschland einzudämmen und den Rücklauf in den Wirtschaftskreislauf sicherzustellen. Michael Thews (SPD): 41,8 Millionen Tonnen Elek- Denn bei uns landen immer noch zu viele Geräte in der troschrott sind im vergangenen Jahr weltweit angefallen. grauen Tonne oder schlummern – wie zum Beispiel alte Das sind 2 Millionen Tonnen mehr als im Jahr davor. Handys – in Schreibtischschubladen oder landen manch- Etwa 4 Prozent des weltweiten Aufkommens stammen mal auch in den Händen illegaler Entsorger. Deshalb soll aus Deutschland. das Sammelnetz verdichtet werden, der Handel und auch der Onlinehandel stärker in die Sammlung einbezogen Wissenschaftler der United Nations University schät- werden, die Sammlung insgesamt verbraucherfreundli- zen den Wert der in den Elektroaltgeräten enthaltenen cher gestaltet werden, ohne dass dabei Schlupflöcher für Materialen für 2014 auf 48 Milliarden Euro. Allein der illegale Entsorgung entstehen. So hoffen wir, das von der Wert des enthaltenen Kupfers wird auf 10,6 Milliarden zugrunde liegenden EU-Richtlinie und der hier vorlie- Euro geschätzt und der des Goldes auf 10,4 Milliarden. genden Novelle für 2016 vorgegebene Sammelziel von Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10211

(A) 45 Prozent, bezogen auf das durchschnittliche Gewicht Mit dem neuen vorliegenden ElektroG wird wohl das (C) der in den letzten drei Jahren in Verkehr gebrachten Ge- nächste duale System geschaffen werden, mit ähnlichen räte, zu erreichen. Wirkungen, genauso schlecht funktionierend. Ich möchte hier aber auch dafür plädieren, schon wei- Dieses Gesetz benachteiligt Kommunen. Die Kom- terzudenken. Wir müssen bei den Elektrogeräten auch munen werden verpflichtet, die Flächen für die Samm- den nächsten Schritt gehen und versuchen, Einfluss auf lung alter Elektrogeräte kostenlos zur Verfügung zu stel- die Produktion der Geräte zu nehmen. So wie es in der len und das Erfassungssystem kostenlos zu betreiben. Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme Die Kommunen müssen auf ihre Kosten Bürgerinnen des Bundesrates auch schon anklingt, müssen wir uns und Bürger umfassend zum ElektroG informieren. auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass Maßnah- Elektronikgeräte sollen grundsätzlich nicht bei Haus- men für die Langlebigkeit von Elektrogeräten getroffen halten abgeholt werden müssen, können es aber. Wenn werden und darüber hinaus auch für die Recycling- ein Hersteller Geräte abholt, darf er Geld dafür verlan- freundlichkeit der Geräte. gen. Wenn ein kommunales Abfallunternehmen das tut, darf es kein Geld fordern. Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Bundesregierung will mit einem neuen Gesetz zur Entsorgung von Elek- Nett, dass die Bundesregierung zulasten der Kommu- trogeräten genannt ElektroG, deutlich mehr Elektroaltge- nen versucht, zu verhindern, dass die Menschen ihre Alt- räte ordnungsgemäß und umweltfreundlich entsorgen geräte aus Kostengründen einfach in den Hausmüll oder lassen und damit einen Beitrag zur Ressourcenschonung die Natur werfen. Da ist zumindest der Anschein einer leisten. So weit die Theorie, denn in der Praxis werden kostenlosen Entsorgungsoption besser. heute selbst über Abfall oder Sperrmüll entsorgte Geräte Sie geben mit diesem Gesetzentwurf den Herstellern später ordnungsgemäß erfasst, weil das Gewinne ab- und Vertreibern eine Lizenz zum Gelddrucken in die wirft – das ist Marktwirtschaft. Wäre das neue ElektroG Hand, indem sie bei Abholung auch noch Geld verlan- gut, würde es wenigstens nicht schaden, aber es hat ei- gen dürfen. nige gravierende Fehler. Weiterhin dürfen die Inverkehrbringer von Elektro- Woran es im Punkte Ressourcenschutz in der Logik geräten zwischen mehreren Entsorgungspfaden wählen; des Gesetzes bereits mangelt, ist, dass anstatt auf Ver- das bedeutet mehr Bürokratie. Nicht umsonst schätzt die meidung auf das Prinzip des Neukaufs eines Elektro- Bundesregierung Bürokratiekosten von 83 Millionen gerätes nach Ablauf einer dreijährigen Nutzungszeit ge- Euro je Jahr. setzt wird. Das spiegelt zwar die Realität wieder, aber (B) die ist alles andere als ressourcenschonend. Denn es ver- Wir kommen nicht umhin: Wenn dieser Gesetzent- (D) stärkt den Eindruck gewollter Obsoleszenz bei den Elek- wurf sozial gerecht werden soll, muss das Verursacher- trogeräten, die direkt nach der Gewährleistungszeit ihren prinzip real und nicht scheinbar durchgesetzt werden. Geist aufgeben, und die Regierung akzeptiert dies. Auch Die Hersteller zahlen eine Ressourcenabgabe. Aus ei- die permanente Suggestion, wer seinen Fernseher oder nem Teil dieser Ressourcenabgabe wird das kommunale Laptop länger als drei Jahre in Gebrauch hat oder sein Rücknahmesystem finanziert. Durch die Ressourcen- Mobiltelefon oder Tablet nach einem Jahr noch nicht abgabe würde der Gesetzentwurf außerdem ressourcen- ausgetauscht hat, sei nicht mehr auf der Höhe der Zeit, schonend. Denn wenn Produkte gut reparierbar oder wirkt definitiv nicht ressourceneffizient. aufrüstbar sind oder wenn sie ressourceneffizient und Aber zurück zum Gesetzentwurf: Nehmen wir den gut recycelbar konstruiert wurden, zahlt der Hersteller Grünen Punkt, der von zehn im Wettbewerb stehenden weniger Ressourcenabgabe. Dann hat er einen Anreiz, so dualen Systemen für alle bestätigten Verpackungen ökologisch und effizient wie möglich zu produzieren. vergeben wird. Die zehn dualen Systeme, diese zehn Fir- Damit eine möglichst vollständige Sammlung und men, streiten um ihren Anteil an der jeweiligen Verpa- Wiederverwendung ermöglicht und bestmögliches Recy- ckungssorte. Bringt die Verwertung einer Verpackungs- cling garantiert wird, bräuchte es nur eine Pfandpflicht sorte Geld, will jede der Firmen einen großen Anteil. auf Elektrogeräte. Das Prinzip der Pfandpflicht ist nichts Kostet die Verwertung einer Verpackung Geld, dann will Neues, und es ist effektiv und garantiert hohe Rückgabe- diese keiner bestätigt haben. quoten. Nahezu kein Elektrogerät wird mehr im Haus- müll oder im Wald landen. Jeder der Zehn verhandelt mit den Firmen, die Verpa- ckungen einsammeln, mit Firmen, die Verpackungen be- Schade, das, was die Bundesregierung hier vorgelegt nötigen, und schließt seine Verträge und rechnet ab. hat, kommt erstens zu spät, löst zweitens nicht existie- rende Probleme und schafft neue Baustellen. Aber in einem Gebiet sammelt nur eine Firma alle Verpackungen ein, aber die muss mit allen zehn dualen Dieses ElektroG bedeutet Mehrkosten für die Ver- Systemen abrechnen. Jede Verwertungsanlage verarbei- braucher und verwirrt diese. Kurz gesagt: Es wird ein tet für alle zehn Firmen Verpackungen und muss mit Remake der dualen Systeme und genauso versagen. jeder einzelnen abrechnen. Das beschreibt ganz kurz die Funktionsweise der dualen Systeme, die größere Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Mengen an Geld für Bürokratie verschlingen, als für die Deutschen werfen pro Jahr 600 000 Tonnen Handys, eigentliche Entsorgung der Abfälle gebraucht wird. PCs, Föhne, Herde und Toaster weg. Alte und kaputte 10212 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Elektro- und Elektronikgeräte gehören aber nicht in den Recycling dadurch möglich wird. Vor allem kleine Ge- (C) Restmüll, egal wie klein sie sind. Sie enthalten wichtige räte landen vielfach in der Restmülltonne. Wir fordern und wertvolle Rohstoffe, die bei der richtigen Behand- die Einführung eines „Handypfandes“ als Test, ob dieses lung zurückgewonnen werden können. Diese zu ver- tatsächlich zu deutlich höheren Rückläufen führt, wie brennen ist reine Ressourcenverschwendung. wir es annehmen. Wenn dieses erfolgreich ist, sollten solche finanzielle Anreize für Rückgaben auch auf an- Elektroschrott enthält außerdem viele Schadstoffe, dere Elektronikgeräte wie Tablets und Spielekonsolen etwa Blei und Kadmium in Akkus, Quecksilber in ausgeweitet werden. Ein solches Pfandsystem sollte ins Leuchtstofflampen, Flammschutzmittel in Kunststoffen. neue Elektrogesetz aufgenommen werden. Diese gelangen nur bei der richtigen Behandlung nicht in die Umwelt. Deshalb ist eine funktionierende, separate Eine verpasste Chance ist es auch, dass keinerlei Vor- Sammlung von Elektroschrott enorm wichtig; da sind gaben für das Produktdesign im jetzigen Entwurf enthal- wir uns alle einig. ten sind, die die Reparaturfähigkeit und Langlebigkeit Doch der Verbleib von zu vielen Elektrogeräten ist von Produkten fördern. Das Umweltbundesamt hat kürz- unklar. Deshalb hat die EU neue Vorschriften verabschie- lich erste Studienergebnisse veröffentlicht, die belegen, det, um die Sammlung und die Verwertung zu verbessern. dass viele Geräte heute immer schneller kaputt gehen. Die Bundesregierung legt heute mit dem aktualisierten Besonders Elektrogeräte sind hiervon betroffen. Dieses ElektroG eine reine 1:1-Umsetzung der europäischen führt zu unnötigen Kosten, Umweltschäden durch Res- Vorgaben vor. Das ist reine Pflichterfüllung, bleibt aber sourcenverschwendung und viel Ärger bei Verbrauche- umweltpolitisch weit hinter dem zurück, was möglich rinnen und Verbrauchern. Warum wird dieses Thema gewesen wäre, um die Ressourcenpolitik in Deutschland von Ihnen nicht im neuen Gesetz aufgegriffen? wirklich voranzubringen. Dazu gehört auch die Vorgabe, dass Ersatzteile über Handys, Laptops, Tablets, es kommen immer mehr einen gewissen Zeitraum vorgehalten werden und den Elektrogeräte auf den Markt, vor allem in den Kommu- unabhängigen Reparateuren auch zur Verfügung gestellt nikationstechnologien. Die Rückläufe, was also über- werden müssen. Verklebte Gehäuse oder fest verbaute haupt ins Recycling gelangen kann, sind viel zu niedrig. Batterien und Akkus führen aber dazu, dass Reparaturen Schätzungen zufolge landet in Deutschland nur etwa die immer mehr erschwert werden. Das ist aus unserer Sicht Hälfte aller elektronischen Geräte vorschriftsgemäß auf nicht akzeptabel, dieses Themas hätten Sie sich anneh- dem Recyclinghof, bei kleinen Geräten ist die Zahl ver- men müssen. mutlich noch viel niedriger. Ein weiteres, bisher leider unberücksichtigtes Thema (B) Etwa ein Viertel unseres Elektroschrotts, circa ist der Zugriff von Weiterverwendern auf die Altgeräte – (D) 150 000 Tonnen jährlich, wird dann illegal nach Afrika denn laut europäischer Abfallhierarchie ist Weiternut- und Asien exportiert. Dem soll jetzt ein Riegel vorge- zung zu fördern. Aber genau das tun Sie mit Ihrem Ge- schoben werden durch die Beweislastumkehr beim Ex- setz nicht, indem Sie die Weiternutzung der Altgeräte port. Dieses ist richtig und wichtig, um die illegalen ausschließen. Dies kritisieren auch alle Umweltverbände Elektroschrottexporte in die Länder des Südens einzu- und die Reparaturwerkstätten und Repair-Cafés, die sich dämmen. Bis zu 20 000 Kinder sollen in Ghana, Nigeria derzeit überall im Land gründen. oder der Elfenbeinküste auf Halden arbeiten und aus Elektroschrott seltene Metalle und andere wiederver- Wir hoffen, dass es im weiteren Beratungsverfahren wertbare Bestandteile herausholen und dabei giftigen hier im Parlament und im Bundesrat noch zu deutlichen Dämpfen ausgesetzt sein. Nun müssen Exporteure von Umweltverbesserungen kommt. Dies betrifft vor allem Altelektrogeräten nachweisen, dass diese noch funktio- die Nutzungsdauer von Elektrogeräten, Vorgaben für nieren. Somit haben Behörden nun erstmals europaweit ökologischeres Design, die Langlebigkeit und Repara- eine Möglichkeit, den illegalen Export effektiv zu ahn- turfähigkeit von Geräten. Liebe Kolleginnen und Kolle- den. gen der Koalitionsfraktionen, wenn Sie bereit sind, an diesen Stellen nachzubessern, sind wir bereit, diese not- Eine weitere wichtige Verbesserung ist die Rück- wendigen Änderungen mit Ihnen zusammen vorzuneh- nahme von Altgeräten im Handel. Hier hat die Regie- men. rung mit dem jetzt vorgelegten Gesetz allerdings nur den ganz großen Läden – ab 400 Quadratmetern Verkaufs- fläche von Elektrogeräten – die Pflicht auferlegt, Elek- Florian Pronold, Parl. Staatssekretär bei der Bun- trokleingeräte wieder zurückzunehmen. Wir setzen uns desministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak- dafür ein, dass die Rückgabemöglichkeiten für Bürgerin- torsicherheit: Alte Elektrogeräte gehören nicht in die nen und Bürger noch einfacher werden, indem jeder, der Restmülltonne, denn sie enthalten sowohl wertvolle Elektrogeräte verkauft, diese auch zurücknehmen muss. Rohstoffe wie seltene Erden, aber auch Schadstoffe. Das Das trifft dann nicht nur die ganz großen Elektromärkte, weiß im Grunde jeder und jede, und den allermeisten ist sondern auch Discounter, über deren Ladentisch mehr eine fachgerechte Entsorgung ein wichtiges Anliegen. und mehr Geräte verkauft werden. Ob es dann auch umgesetzt wird, hängt im Alltag oft Wir Grüne sind davon überzeugt, dass finanzielle An- davon ab, wie groß der Aufwand ist. Dennoch werden reize den Anteil zurückgegebener Geräte deutlich erhö- auch heute schon viele Elektroaltgeräte erfasst, und von hen könnten und längere Verwendung und ein besseres den erfassten Geräten 85 Prozent recycelt. Trotzdem gilt Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10213

(A) es, zukünftig noch deutlich mehr Altgeräte zu erfassen Zweitens führen wir eine Beweislastumkehr ein. Zu- (C) und zu recyceln. künftig muss der Exporteur belegen, dass es sich bei den zu exportierenden Geräten um funktionsfähige Ge- Mit der Novellierung des Elektro- und Elektronikge- brauchtgeräte und nicht um Altgeräte handelt. rätegesetzes, das vor zehn Jahren in Kraft getreten ist, sollen deshalb vor allem die Weichen dafür gestellt wer- Drittens ist es uns in der letzten Woche bei der Ver- den, dass Verbraucherinnen und Verbraucher ihre alten tragsstaatenkonferenz zum Basler Übereinkommen ge- Geräte einfach und unkompliziert zurückgeben können. lungen, internationale Leitlinien zu verabschieden, die ebenfalls solche Instrumente enthalten. Das heißt, dass wir für ein dichtes Netz an Sammel- stellen sorgen müssen – und das kann am besten der Damit weniger Altgeräte im Restmüll landen, sind Handel. Er ist nah an den Verbraucherinnen und Ver- vor allem die Bürgerinnen und Bürger gefragt. Dafür brauchern. wollen wir bessere Rahmenbedingungen schaffen. Satt auf Freiwilligkeit setzt der Gesetzentwurf auf Bei den nun folgenden Diskussionen im Bundestag Pflichten zur Rücknahme von Elektroaltgeräten. Große und seinen Ausschüssen ist es aus Sicht der Bundesre- Vertreiber werden verpflichtet, alte Geräte beim Neu- gierung unabdingbar, im Blick zu behalten, dass die zu kauf eines gleichwertigen Geräts zurückzunehmen. Bei treffenden Regelungen natürlich mit den europarechtli- kleinen Geräten müssen die großen Vertreiber die Altge- chen Vorgaben in Einklang stehen müssen. Zudem gilt es räte sogar ohne Kauf eines entsprechenden Neugeräts zu verhindern, dass die bestehenden, effizienten Struktu- zurücknehmen. Als „große Vertreiber“ gelten Geschäfte ren zur Erfassung und Entsorgung von Elektro- und mit mehr als 400 Quadratmetern Verkaufsfläche, und Elektronikaltgeräten konterkariert werden. auch Internethändler, die einen immer größeren Anteil am Umsatz haben, gehören dazu. Kleine und mittelstän- Die Bundesregierung hat in ihrem Entwurf viele Vor- dische Händler dagegen sind ausgenommen. schläge abgewogen und ist der Auffassung, dass der vor- liegende Entwurf einen ausgewogenen Kompromiss Grundsätzlich halten wir am Konzept der geteilten zwischen den unterschiedlichen Interessen und Erforder- Produktverantwortung, in dessen Rahmen die Kommu- nissen darstellt. Ich bitte daher um Ihre Unterstützung nen eine zentrale Rolle haben, bei der Rücknahme und für die im Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalte- Entsorgung von Elektro- und Elektronikaltgeräten fest, nen Regelungen. denn es ist erfolgreich. Dies zeigen sowohl die Sammelleistungen als auch Anlage 6 (B) die in Deutschland erreichten Recycling- und Verwer- (D) tungsquoten. Mit durchschnittlich 8,11 Kilogramm ge- Zu Protokoll gegebene Reden sammelter Menge pro Einwohner und Jahr in den ver- gangenen sieben Jahren wird die europäische Vorgabe zur Beratung des Antrags: Forschung und Ent- von 4 Kilogramm deutlich überschritten. Auch die Recy- wicklung für die Bekämpfung von vernachläs- cling- und Verwertungsquoten müssen den europäischen sigten armutsassoziierten Erkrankungen stär- Vergleich nicht scheuen. ken (Tagesordnungspunkt 22) Dennoch bietet die Novellierung die Chance, ehrgei- zigere Ziele zu erreichen, Strukturen weiterzuentwickeln Stephan Albani (CDU/CSU): Infolge der Kürze der und praktische Erfahrungen aufzugreifen, um erstens Zeit und der fortgeschrittenen Stunde gleich zum Kern den zukünftigen Vorgaben der EU mit Blick auf die des Themas: Sammlung und das Recycling zu entsprechen – die Sam- Weltweit existieren viele Krankheiten, für die bislang melziele steigen 2016 auf 45 Prozent, 2019 auf 65 Pro- noch keine bzw. nur unzureichende Impfstoffe und auf- zent –, zweitens die Ressourceneffizienz unserer Wirt- wendige bzw. teilweise auch keine Therapien existieren. schaft weiter zu verbessern. Hierzu zählen zum Beispiel „die großen Drei“ – HIV/ Bei der Novellierung des Elektrogesetzes geht es des- Aids, Tuberkulose, Malaria – ebenso wie das Dengue- halb darum, einen größeren Anteil wertvoller Metalle, Fieber, die Schlafkrankheit und verschiedene andere die immer seltener und teurer werden, aus den Altgerä- Tropenkrankheiten, um nur ein paar dieser Erkrankun- ten zurückzugewinnen, die Sammelmenge von Altgerä- gen zu nennen. Bis heute ist es uns allen nicht gelungen, ten weiter zu steigern und eine möglichst hochwertige diese Krankheiten in den Griff zu bekommen, bis heute Verwertung sicherzustellen und den illegalen Export von leidet eine riesige Anzahl von Menschen an diesen Er- Altgeräten ins Ausland zu unterbinden. krankungen. Allein im Fall Tuberkulose sind weltweit 2,5 Milliarden Menschen infiziert, jährlich kommen Wir haben in den letzten Jahren auf nationaler wie in- nach Angaben der WHO 9 Millionen Neuinfektionen ternationaler Ebene an Lösungen gearbeitet, illegale Ex- hinzu, und weit über 1 Million Menschen sterben daran. porte von Altgeräten zu verhindern: Es ist schon schlimm, wenn eine dieser Krankheiten Erstens konkretisieren wir mit dem Gesetzentwurf die getrennt allein auftritt. Doch dort, wo bereits eine Im- Kriterien für die Abgrenzung von gebrauchten Geräten munschwäche etwa durch HIV/Aids besteht, haben wei- und Altgeräten, die Abfall sind. tere Erkrankungen ein nur allzu leichtes Spiel. 10214 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Keiner auf unserer heute durch die Globalisierung im- um die Betroffenen später auch mit diesen Produkten zu (C) mer „kleiner“ werdenden Welt darf sich noch der Illu- versorgen. sion hingeben, dass Krankheiten weit weg sind, für ihn oder sie keine Bedeutung haben, wenn wir sie nicht Das Bundesministerium für Bildung und Forschung überall und für alle in den Griff bekommen. So wurde es unterstützt bereits vier Produktentwicklungspartner- wahrgenommen in Sachen Ebola, und zwischen 2010 schaften, dies sind: erstens „Drugs for Neglected Disea- und 2013 verdoppelte sich hierzulande die – wenn auch ses, DNDi,“ mit Medikamentenentwicklungen gegen die insgesamt noch kleine – Fallzahl der multiresistenten Afrikanische Schlafkrankheit, Viszerale Leishmaniose, Tuberkulose. die Chagas-Krankheit und Wurmerkrankungen, zweitens die „Foundation for innovative new diagnostics, FIND,“ One World – One Health – wir sind eine Welt und wir mit der Entwicklung einer Diagnoseplattform für vier haben eine Gesundheit! parasitäre Erkrankungen: Afrikanische Schlafkrankheit, Chagas, Leishmaniose und Malaria, drittens, die „Euro- In diesem Sinne möchte ich Sie, meine Damen und pean Vaccine Initiative, EVI“ mit der Entwicklung eines Herren, hier daran erinnern, dass solche Krankheiten Malariaimpfstoffes für Schwangere und viertens die keine Grenzen kennen und wir auch am Beispiel von „Dengue Vaccine Initiative, DVI“ zur Entwicklung eines Ebola und auch der Tuberkulose spüren, dass ein weite- multivalenten Impfstoffes gegen das Dengue-Virus. rer Handlungsbedarf dringend notwendig ist. Diese Förderung endet in diesem Jahr. Wir haben die Heilmittel sowie Impfstoffe werden in der Industrie Aufgabe, diese elementar wichtige Fördermaßnahme nachfrageorientiert und für strategisch wichtige Märkte fortzuführen, thematisch zu erweitern und finanziell entwickelt. Die Ärmsten der Armen stehen mangels stärker auszustatten. Dies ist Konsens aller Beteiligten, Kaufkraft hier zunächst nicht im Fokus. Wirtschaftlich und dies findet Ausdruck in dem Antrag, den wir hier agierende Unternehmen dürfen und müssen so verfah- und heute debattieren. ren. Jedoch kann und muss unsere Gesellschaft hier an- ders entscheiden und den Fokus eben auch auf diese Mir sei erlaubt mich anlässlich dieses, meines ersten Erkrankungen lenken und öffentliche Gelder dort einset- Antrages zum einen bei der Kollegin Frau Annette zen, wo diese dringend benötigt werden, aber bislang Hübinger und ihrem Team ganz herzlich zu bedanken, fehlen, um die notwendige Forschungsleistung für Dia- die mich bei der Einarbeitung immens unterstützt haben. gnostika, Impfstoffe und Therapien zu leisten. Und ebenso gilt mein Dank meinem Co-Berichterstatter, Herrn René Röspel, und seinem Team für die gute und Wir in Deutschland können dies, die forschenden konstruktive Zusammenarbeit. Köpfe dazu gibt es hier! (B) Zum Abschluss: Es gibt nur eine Welt-Gesundheit, sie (D) Die Bundesregierung hat dies bereits 2011 erkannt geht uns alle an, wir stehen gemeinsam in der Verant- und das Förderkonzept „Vernachlässigte und armuts- wortung. Durch die Zusammenarbeit von Industrie und assoziierte Krankheiten“ im Bundesministerium für Bil- Wissenschaft in den PDPs ist sicherzustellen, dass For- dung und Forschung auf den Weg gebracht, um die For- schungslücken bei der Bekämpfung von Infektions- schungsförderung zu fokussieren und Forschung hier krankheiten geschlossen werden und schlussendlich die über alle Akteure – aus Wissenschaft und Wirtschaft – Versorgung weltweit verbessert wird. hinweg zu bündeln. Als einen Beitrag zur Weltgesundheit gilt es, die Fort- setzung des Förderkonzeptes „Bekämpfung vernachläs- Allein 2010 bezifferten sich die vom BMBF geförder- sigter armutsbedingter Erkrankungen“ auch über das ten Forschungsprojekte und Maßnahmen auf rund Ende 2015 hinaus sicherzustellen, es auszubauen, zu 11 Millionen Euro. 2011 wurden diese Mittel durch eine stärken und – so sollte es unser Anspruch sein – schluss- Fördermaßnahme für die sogenannten Produktentwick- endlich auch zu verstetigen. lungspartnerschaften – englisch: PDPs – mit einem Vo- lumen von 20 Millionen Euro ergänzt. Zusammenge- nommen wurden 2012 von öffentlicher Seite etwa Anette Hübinger (CDU/CSU): Vernachlässigte, ar- 47 Millionen Euro investiert – laut Internationalem mutsassoziierte Krankheiten – ein Thema und ein Ge- Währungsfonds stand Deutschland damit an vierter sundheits- bzw. Forschungsbereich, dem in Deutschland Stelle im internationalen Vergleich. meist wenig Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit ge- schenkt wird. Ab und zu liest man von Krankheiten, die Dabei sind die vom Bundesministerium für Bildung eigentlich in den europäischen Gebieten nicht auftau- und Forschung geförderten PDPs ein besonders wichti- chen dürften – zum Beispiel, dass seit fast drei Jahren in ges öffentliches „Investment“: Sie schließen eine Versor- Griechenland wieder Menschen an Dengue-Fieber er- gungslücke im globalen Gesundheitssystem und bauen kranken. Ein mediales Ereignis ist dies nicht. Bei der eine Brücke zwischen denen, die ihren forschenden Bei- Ebolaepidemie war es anders. Die Angst ging um, dass trag leisten können, und denen, die es brauchen. die Epidemie sich auch nach Europa ausbreiten könnte, schließlich leben wir in einer globalisierten Welt. Rufe Denn diese international agierenden Non-Profit-Orga- nach Schutzzonen und Sicherheitsmaßnahmen an euro- nisationen entwickeln wichtige Heilmittel, Impfstoffe päischen Flughäfen wurden laut. und Diagnostika gemeinsam mit Pharmaunternehmen und Forschungseinrichtungen. Sie entwickeln auch Prä- Neben Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie ventionsmethoden gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, vor Ort und Behandlung der Kranken wurden zu Recht Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10215

(A) die Forschungsanstrengungen verstärkt. Nach wenigen Evaluationsbericht betont die außerordentliche Bedeu- (C) Wochen flaute dann das mediale Interesse wieder ab, ob- tung der PDPs bei der Entwicklung und dem Einsatz wohl die aktuelle Ebolaepidemie bis heute nicht endgül- besserer und neuer Therapien für die Behandlung ver- tig eingedämmt ist. Circa 26 000 Menschen erkrankten nachlässigter Infektionskrankheiten. Er stellt aber auch am Ebolafieber, über 10 500 von ihnen sind gestorben, deutlich heraus, dass PDPs ihre Arbeit fortsetzen müssen so die WHO. Eine katastrophale Bilanz. und vor allem auch eine langfristig gesicherte Unterstüt- zung benötigen. Für mich ist ganz klar, dass mit der Aber was ist mit all den anderen vernachlässigten tro- positiven Evaluation der ersten Förderperiode eine An- pischen Krankheiten? schlussförderung mit höherer Finanzmittelausstattung Jährlich infizieren sich 50 bis 100 Millionen Men- eine zwingende Folge ist. schen weltweit mit Dengue-Fieber. An Leishmaniose, eine durch Parasiten hervorgerufene Infektionskrankheit, Daher fordern wir auch die Bundesregierung auf, eine erkranken 1,5 bis 2 Millionen Menschen jährlich; pro zweite Förderrunde für PDPs festzuschreiben und die Jahr versterben daran weltweit circa 70 000 Menschen. Förderung auch auf Medikamente zur Diagnose und Prä- An Chagas, einer infektiösen Erkrankung, übertragen vention, inklusive Impfstoffe für TB und HIV/Aids aus- durch Raubwanzen, erkranken jährlich circa 50 000 Men- zuweiten. Für diese wichtige Forschung fordern wir als schen, 15 000 der Fälle enden tödlich. Da fragt man sich: Koalition eine signifikante Erhöhung der Mittel. Damit Wo ist da der mediale Aufschrei, der so ein bedeutsames kann die Bundesregierung ein Zeichen setzen, um das Thema in das öffentliche Bewusstsein rückt? bestehende Engagement zu verstetigen und sich noch klarer zu ihrer Verantwortung für die globale Gesundheit Aus dem politischen Bewusstsein sind diese Krank- zu bekennen. heiten glücklicherweise nie verschwunden. Bereits 2010 hat sich das BMBF zur Erforschung von vernachlässig- Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Ausbau der Ca- ten, armutsassoziierten Krankheiten strategisch neu auf- pacity-Building-Maßnahmen im Allgemeinen sowie im gestellt und ein neues Förderkonzept erarbeitet. Dies ist Rahmen der PDPs, als auch die Förderung des Wissens- deshalb so bedeutsam, da die pharmazeutische Industrie transfers mit Forschern aus den betroffenen Regionen. sich aus vielen Bereichen der Erforschung dieser Krank- Nur so kann eine Stärkung der regionalen Forschungsin- heiten wegen fehlender Gewinnmargen herausgezogen frastrukturen und eine qualitativ angemessene Langzeit- hat. beobachtung der neu eingesetzten Medikamente sinnvoll implementiert werden. Unser staatliches Engagement muss diese Lücke fül- len. Deutschland muss und kann mehr tun. Nicht nur aus Ich habe bereits in früheren Reden erwähnt, dass das (B) humanitärer Verantwortung, sondern auch, damit den be- BMBF mit der Förderung von PDPs einen neuen und (D) troffenen Entwicklungs- und Schwellenländern durch strategisch richtigen Weg gegangen ist. Angesichts der die Folgen dieser Krankheiten nicht noch zusätzliche bereits bestehenden und zukünftig wachsenden Heraus- Entwicklungshemmnisse langfristig aufgebürdet wer- forderungen in diesem Bereich brauchen wir aber wei- den und nicht zuletzt, weil einige dieser Krankheiten tere Partner. Deshalb ist es sehr gut, dass unter der verstärkt in Europa auftreten. In einer globalisierten deutschen G-7-Präsidentschaft 2015 vernachlässigte, ar- Welt, mit vernetzten Wertschöpfungsketten, zunehmen- mutsassoziierte Krankheiten ein Schwerpunktthema sein dem Reise- und Warenverkehr und wachsenden Flücht- werden und vor allem die Forschung zu diesen Krank- lingsströmen, machen Krankheiten nicht an Ländergren- heiten neben der globalen Gesundheits- und Entwick- zen halt. lungspolitik in den Mittelpunkt gerückt wird. Dies ist dringend notwendig, da gegen viele dieser Infektions- Eine klare Tendenz ist erkennbar: Tropische Krank- krankheiten seit Jahrzehnten keine wirksamen Medika- heiten schwappen insbesondere auf unseren Kontinent mente existieren. hinüber. Derzeit sind vor allem südeuropäische Urlaubs- länder wie Spanien, Portugal oder Griechenland betrof- Vielleicht bringt ja der G-7-Gipfel ein neues Bewusst- fen. Doch bereits 2014 entdeckte man die Sandmücke sein für dieses Thema. Ich hoffe jedenfalls nicht, dass – das Überträgertier von Leishmaniose – in Hessen, der eine nächste Epidemie uns wieder für ein paar Monate in bislang nördlichste Fund. Aus Verantwortung gegenüber Atem hält, sondern dass neue Forschungsergebnisse vie- den Menschen weltweit, aber auch gegenüber unseren len Menschen neue Hoffnung und Zuversicht schenken Bürgerinnen und Bürgern, stellen wir heute erneut einen werden. Auch wenn die Erforschung neuer Wirkstoffe Antrag zur Verstärkung der Forschung und Entwicklung kostspielig ist und einen langen Atem benötigt, lassen im Bereich vernachlässigter, armutsassoziierter Krank- Sie uns gemeinsam daran arbeiten, Forschung zu ermög- heiten. lichen, die zum Wohle vieler Millionen Menschen ist und einen wichtigen Schritt zur Erreichung der Millen- Das neue Förderinstrument, die sogenannten Pro- niums-Entwicklungsziele darstellt. duktentwicklungspartnerschaften, PDPs, des Bundes- ministeriums für Bildung und Forschung, ist eine wich- tige Säule des bestehenden Förderkonzepts. Hierfür sind Dr. Karamba Diaby (SPD): 1,4 Milliarden Men- seit 2011 circa 21 Millionen Euro an Fördergeldern sei- schen! Mit unserem Antrag gehen wir einen wichtigen tens des BMBF ausgegeben worden. Ich bin glücklich Schritt, um weltweit circa 1,4 Milliarden Menschen zu darüber, dass die erste Förderrunde in der aktuellen Eva- helfen, die von den vernachlässigten Tropenkrankheiten luierung von März 2015 positiv bewertet wurde. Der betroffen sind. 10216 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Wir alle erinnern uns an die Bilder der schrecklichen sind uns unserer Verantwortung gegenüber den 1,4 Mil- (C) Ebolaepidemie. Bisher forderte sie mehr als 11 000 Op- liarden Betroffen bewusst. fer – und sie ist noch nicht ausgestanden. Wir wissen: Diese Tragödie wäre vermeidbar gewesen, wenn es Fol- René Röspel (SPD): Leider zu einem sehr späten gendes gegeben hätte: ein Gesundheitssystem, Medika- Zeitpunkt am Donnerstagabend behandeln wir ein mente und Impfstoffe, medizinische Versorgung sowie Thema, das viele 100 Millionen Menschen unmittelbar Zugang zu Wasser, Strom und Bildung. betrifft und sie in ihrer Gesundheit oder sogar ihrem Le- Ein weiteres Beispiel: Stellen Sie sich vor, dass ein ben bedroht: vernachlässigte Krankheiten. Als „vernach- Großteil Ihrer Bekannten bereits als Kinder an Malaria lässigt“ werden solche Krankheiten bezeichnet, nicht erkrankt. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die etwa, weil sie „vernachlässigbar“ wären und bedeu- Sterblichkeit bei circa drei Kindern auf 1 000 Gebur- tungslos selten auftreten, sondern weil die damit verbun- ten. In Subsahara-Afrika liegt sie durchschnittlich bei dene Not in der Regel nicht an unsere Ohren in der über 100 Kindern auf 1 000 Geburten. Eine der häufigs- wohlhabenden Welt dringt. Weil diese Krankheiten ten Todesursachen ist nach wie vor Malaria. meistens gemeinsam mit Armut auftreten oder das Ent- stehen durch Armut begünstigt wird, schließt sich ein Das sind Beispiele für das milliardenfache Leid, das Teufelskreis: Es gibt kein kommerzielles Interesse bezie- Krankheiten wie HIV, Malaria und Tuberkulose und hungsweise keine Möglichkeit, Medikamente zur Behand- die Tropenkrankheiten hervorrufen. Die Folgen dieser lung dieser Krankheiten zu entwickeln. Die Folge dieses Krankheiten sind für den Einzelnen aber nicht nur physi- „Marktversagens“ ist ein Forschungs- und Entwick- scher und psychischer Natur. Oft werden Betroffene so- lungsdefizit bei der (Weiter-)Entwicklung von Wirkstof- zial ausgegrenzt; oft nimmt Armut aufgrund von Ar- fen, die den Betroffenen Heilung und Linderung ver- beitslosigkeit zu. sprechen könnten. Die Kosten für die Gesellschaft gehen in die Milliar- Es ist mir daher eine besondere Freude, auch heute den. Allein für die Zeit April bis September 2015 schätzt und in dieser Regierungskoalition einen Antrag der Re- die UN den Bedarf zur Bekämpfung der Ebolaepidemie gierungsfraktionen zur Stärkung der Forschung für ver- auf weitere 1,5 Milliarden US-Dollar. nachlässigte und armutsassoziierte Krankheiten zu de- Und im Übrigen irrt derjenige, der denkt, dass wir battieren. über Krankheiten sprechen, die ausschließlich in Ent- wicklungsländern auftreten oder mit denen man sich Der vorliegende Antrag ist nicht nur als ein klares Be- höchstens während eines Abenteuerurlaubs infizieren kenntnis zur weiteren Förderung von Produktentwick- kann. Viren und Bakterien kennen keine Grenzen. Die lungspartnerschaften im Bereich der vernachlässigten (B) (D) Zahl der Tuberkulosefälle steigt auch in Deutschland und armutassoziierten Erkrankungen zu verstehen, er wieder. Das Robert-Koch-Institut registrierte im Jahr soll die auch die anstehenden G-7-Verhandlungen auf 2013 über 4 000 Fälle. Auch die Industrienationen ste- Schloss Elmau flankieren. Wie bereits seitens der Bun- hen einer der tödlichsten Krankheiten zunehmend desregierung angekündigt, sollen Fragen der Globalen machtlos gegenüber: veraltete Impfstoffe, veraltete The- Gesundheit auf diesem Gipfel explizit adressiert werden. rapien, unwirksame Antibiotika. Vor diesem Hintergrund möchte ich auch nochmals die Arbeit der Leopoldina lobend hervorheben, die in Vorbe- Es ist deshalb erforderlich, dass sich unser Land die- reitung dieses Gipfels deutlich auf Handlungsbedarfe ser großen Herausforderung stärker stellt. Unser Antrag – nicht nur in der Forschung – zur Bekämpfung dieser zeigt, wo Handlungsbedarf ist. Zwei spreche ich an die- Krankheiten hingewiesen hat und in diesem Kontext ser Stelle an: auch eine umfassende wissenschaftliche Bestandsauf- Zum einen müssen wir die Forschung zur Bekämp- nahme zu diesem Themenkomplex erarbeitet hat. Dass fung der Krankheiten stärken. Das schließt die Erfor- die Bundesregierung das Thema auf die Agenda von El- schung von Impfstoffen, Antibiotika und therapeutischen mau gesetzt hat, begrüße ich ausdrücklich. Es zeigt, dass Maßnahmen mit ein. Die Partnerschaften zur Entwick- sich die langjährige Arbeit gelohnt hat und es einen kla- lung der Medikamente sind eine wirksame Strategie. Sie ren Lernprozess gegeben hat hinsichtlich der Bewertung müssen wir ausbauen. des Gefahrenpotenzials dieser Erkrankungen für die glo- bale Stabilität. So bringen diese Erkrankungen nicht nur Zum anderen: Es nützt das beste Medikament nichts, unendliches Leid für die betroffenen Individuen und de- wenn es den Patienten nicht erreicht. Die internationale ren Familien mit sich, sie sind auch eine große Bürde für wirtschaftliche Zusammenarbeit muss einen Schwer- die Länder, deren Bevölkerung eine hohe Prävalenz punkt auf den Aufbau der lokalen Gesundheitssysteme – also eine hohe Krankheitshäufigkeit – aufweist. Die di- legen. rekten und indirekten Folgen für die Volkswirtschaften dieser Länder lassen sich nicht immer genau quantifizie- Verantwortungsübernahme heißt für uns: Forschung ren, die Experten sind sich jedoch weitestgehend einig, dauerhaft fördern, den Aufbau der Gesundheitssysteme dass diese Krankheiten die Wirtschaftsleistung eines unterstützen, Kooperation bei der Ausbildung des medi- Landes verschlechtern und einen nicht zu unterschätzen- zinischen und wissenschaftlichen Personals. Diese Punkte den Einfluss auf die Stabilität der betroffenen Länder müssen Hand in Hand gehen. und Regionen haben. Von den circa 1,4 Milliarden welt- Es ist deshalb auch das richtige Signal, dass der G-7- weit betroffenen Menschen leben – und leiden – viele in Gipfel in Elmau dieses bedeutende Thema aufgreift. Wir Subsahara-Afrika – einer Region, die ihrerseits durch Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10217

(A) wiederkehrende Krisen und Instabilität gezeichnet ist. Nationen und Volkswirtschaften, das eigene Maß und (C) Wer daher künftig globale Stabilität garantieren will, die Prioritäten neu zu ordnen. Um ihre globale Verant- wird an Fragen der globalen Gesundheit nicht vorbei- wortung wird die Bundesrepublik sich nicht drücken kommen. können – nicht nur in der Außenpolitik, sondern eben auch in der internationalen Gesundheitspolitik und der Ergänzend möchte ich an dieser Stelle noch einen Forschung für vernachlässigte und armutsassoziierte Er- Hinweis geben: Grundsätzlich sollte sich die Bundesre- krankungen. gierung die Frage stellen, ob sie sich bei diesem G-7- Agenda-Punkt ausschließlich auf die 17 von der WHO Lassen Sie mich abschließend noch einen kurzen gelisteten NTDs beschränken will. Denn es gibt auch Rückblick auf das bisher Erreichte geben: Dieser Antrag weitere vernachlässigte Krankheiten, die zwar nicht von ist das Ergebnis eines langen – fast zehn Jahre dauern- der WHO gelistet werden, jedoch das Potenzial haben, den – Prozesses, der viel parlamentarische Anstrengung verheerende Folgen mit sich zu bringen. Beispielhaft ist – auch überparteilich – erfordert hat. Vor circa einem an dieser Stelle Ebola zu nennen: Obwohl nicht in der Jahrzehnt noch hat die Forschungsförderung für ver- WHO 17er-Liste aufgeführt, hält uns diese vernachläs- nachlässigte und armutsassoziierte Erkrankungen keine sigte Viruserkrankung in Atem. Die mehr als 10 000 To- wesentliche Projektförderung durch das BMBF erhalten. ten des letzten Ausbruches in Westafrika haben uns deut- Durch gemeinsame überfraktionelle Anstrengungen lich unsere Grenzen vor Augen geführt – im Übrigen konnte bereits in der letzten Legislatur darauf hingewirkt auch die begrenzte Handlungsfähigkeit der westlichen Welt, adäquat auf solche Krisenszenarien zu reagieren. werden, dass sich das BMBF der Förderung von Pro- Es soll auch ein Appell sein, sich nicht in Sicherheit zu duktentwicklungspartnerschaften in diesem Bereich an- wiegen, sondern sich eben auch den Themen bezie- nimmt. Eine erste Förderphase, die in diesem Jahr aus- hungsweise Krankheiten zu widmen, die als gerade nicht läuft, hat es bereits gegeben. Jetzt gilt es, auf dem bisher bedeutend angesehen werden. Erreichten aufzubauen und die Förderung weiter auszu- bauen. Genau hier setzt der vorliegende Antrag an: So Ich möchte an dieser Stelle noch einmal lobend die soll nicht nur die bisherige Förderrichtlinie für vernach- wichtige und notwendige Arbeit der Nichtregierungs- lässigte tropische Krankheiten fortgesetzt, sondern auch organisation Ärzte ohne Grenzen hervorheben, deren der Fokus der Förderung erweitert werden. Richtete sich schnelle und unermüdliche Arbeit während des Aufkom- die erste Fördermaßnahme noch ausschließlich an Pro- mens der letzten Ebolakrise eine umgehende Krisenant- jektmittelnehmer, die Forschung für vernachlässigte Tro- wort Deutschlands überhaupt möglich gemacht hat. Die penkrankheiten betreiben, so sollen künftig zusätzlich Krisenreaktionsfähigkeit Deutschlands in diesem Szena- Forschungsprojekte für armutsassoziierte Krankheitsbil- (B) rio – nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht – sollte uns der wie zum Beispiel die Tuberkulose oder HIV/Aids (D) allen zu denken geben. förderfähig sein. Ich sehe unseren Antrag aber nicht nur als unterstüt- Ich hoffe, dass wir als Regierungsfraktionen mit die- zende Maßnahme für die G-7-Regierungskonsultatio- sem Antrag einen substanziellen Beitrag in der For- nen, sondern auch als Appell an uns alle: Globale Ge- schung zur Bekämpfung dieser Krankheiten und somit sundheit kann und wird es nicht zu Discountpreisen einen kleinen, aber vielleicht essenziellen Beitrag zur geben. Die in diesem Antrag geforderte Öffnung des Weltgesundheit und globalen Stabilität leisten können. PDP-Förderprogramms für armutsassoziierte Erkran- kungen wie HIV/Aids und Tuberkulose muss sich auch Weitere Schritte aber werden folgen müssen. in einer entsprechend adäquaten Aufstockung der dafür bereitzustellenden Haushaltsmittel widerspiegeln. Wir Niema Movassat (DIE LINKE): „Vernachlässigte haben aus den Koalitionsvereinbarungen noch For- armutsassoziierte Krankheiten“ ist im doppelten Sinne schungsmittel zur Verfügung. Auch wenn es für den Ei- ein schreckliches Wortkonstrukt. Millionen von Men- nen oder Anderen vielleicht schwer nachvollziehbar ist, schen leiden auch im 21. Jahrhundert überall auf der so lassen sich Viren, Bakterien, Protozoen und Parasiten Welt nur deshalb an Krankheit, weil der globale Wohl- in ihrer fatalen Wirkung nicht durch vom Bundesfinanz- stand völlig ungerecht verteilt ist. Das alleine ist schon ministerium gesetzte Haushaltsziele beeindrucken. Die schlimm genug und eine Schande. Dass es dann aber erfolgreiche und nachhaltige Bekämpfung dieser Erreger aufgrund der kapitalistischen Wirtschaftslogik schlicht und Parasiten ist eine Verantwortung der reichen Welt zu wenig finanzielle Anreize für die Pharmaindustrie und kann nur durch eine ausreichende Bereitstellung von gibt, wirksame Medikamente gegen die typischen armuts- Haushaltmitteln für die Forschung gesichert werden, zu- assoziierten Krankheiten zu entwickeln, ist eine doppelte mal bei objektiver Betrachtung Deutschland, dank seiner Ungerechtigkeit. Der wohlhabende Teil der Menschheit ökonomischen Potenz, hierzu durchaus in der Lage ist. enthält den Ärmsten der Armen so nicht nur einen Anteil In einem Zeitungsartikel hat der Bundesrichter und an den weltweiten Reichtümern vor, sondern, wenn sie Vorsitzende des 2. Strafsenats des BGH, Thomas an den Folgen erkranken, auch eine adäquate medizini- Fischer, die Bundesrepublik jüngst als „Fettauge auf sche Behandlung. Nur eine andere, gerechtere Weltwirt- dem Ozean der globalen Auszehrungen“ bezeichnet. schaftsordnung kann dieses Problem grundsätzlich lö- Man muss sich diesem drastischen Bild vielleicht nicht sen. Dennoch möchte ich auch einige kurzfristig anschließen, dennoch hilft der Blick über den Tellerrand praktikable Vorschläge nennen, mit deren Hilfe sich die und der Vergleich mit anderen, weniger begünstigten Situation verbessern ließe. 10218 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Vor vier Jahren haben wir einen Bundestagsantrag bleibt aber das beste Mittel gegen armutsinduzierte (C) eingebracht mit dem Titel „Forschungsförderung zur Krankheiten der erfolgreiche Kampf gegen die Armut Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ausbauen – selbst. Die Bundesregierung jedoch betreibt sowohl na- Zugang zu Medikamenten für arme Regionen ermögli- tional als auch international eine Politik der Umvertei- chen“. Leider haben sich seitdem weder die grundlegen- lung von unten nach oben. Sie bleibt deshalb trotz aller den Probleme geändert noch haben sich die vorgeschla- wohlklingenden Maßnahmen und Gipfelankündigungen genen Forderungen überholt. Nach wie vor investiert die Teil des Problems, nicht der Lösung. Bundesregierung viel zu wenig in öffentliche Forschung. Welche fatalen Folgen das haben kann, hat die Ebola- Der vorliegende Antrag beschränkt sich leider nur auf epidemie erst kürzlich gezeigt. Vor vier Jahren hatten Detailfragen, ohne auf den grundsätzlichen Zusammen- wir die Bundesregierung bereits aufgefordert, die nicht- hang zwischen Armut und Krankheit näher einzuge- kommerzielle klinische Forschung mit 500 Millionen hen. Strategien, die den Kern der Problematik zu lösen Euro jährlich zu fördern und einen Förderschwerpunkt suchen, enthält er leider nicht. Stattdessen macht er für vernachlässigte Krankheiten einzurichten. In einer sehr viele Vorschläge zur Behandlung der Symptome. Antwort auf eine Kleine Anfrage stellte sich heraus, dass Da diese in weiten Teilen nicht falsch sind, werden wir 2014 gerade einmal etwas mehr als 500 000 Euro öffent- mit Enthaltung stimmen. liche Gelder in die Ebolaforschung flossen. Mit solchen Summen ist natürlich nichts zu erreichen in der Pharma- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Durch forschung. schlimme und bedrückende Ereignisse wie zuletzt die Ebolaepidemie in Westafrika rücken vernachlässigte und Sogenannte Produktentwicklungspartnerschaften aus armutsassoziierte Krankheiten in das öffentliche Inte- Wissenschaft, Industrie und Zivilgesellschaft, die auf resse. Auch ohne tägliche Schreckensmeldungen muss Non-Profit-Basis an vernachlässigten Krankheiten for- klar sein: Wir dürfen nicht nachlassen bei der Bekämp- schen, haben sich als erfolgreich erwiesen. In der letzten fung von Ebola, HIV/Aids, Tuberkulose, Malaria und Förderrunde von 2011 bis 2015 hat die Bundesregierung anderer Tropenkrankheiten, von denen die Ärmsten der dafür insgesamt 20 Millionen Euro zur Verfügung ge- Armen besonders betroffen sind. Es gilt, die internatio- stellt. Auch das bleibt weit hinter dem zurück, was nale Zusammenarbeit massiv zu verbessern und zu ver- Deutschland gemessen an seiner Wirtschaftskraft beitra- stetigen, damit den Milliarden betroffenen Menschen gen könnte. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt lag weltweit geholfen werden kann. Deutschland 2012 in puncto öffentlicher Investition in Forschung und Entwicklung vernachlässigter und ar- Die Stärkung von Forschung und Entwicklung für die mutsindizierter Krankheiten hinter Kolumbien und In- Bekämpfung dieser Erkrankungen ist dabei eine wich- (B) dien auf Rang 12. Wieviel die Bundesregierung in der tige politische und humanitäre Daueraufgabe. Sie muss (D) nächsten Förderrunde für Entwicklungspartnerschaften mit aller Entschiedenheit fortgesetzt werden, wenn das zur Verfügung stellen wird, ist trotz des bereits vorlie- Auftreten zahlreicher Neuinfektionen einer armuts- genden Evaluationsberichts bisher leider nicht genau be- assoziierten Krankheit aus den akuten Schlagzeilen ver- kannt. schwunden ist. Unsere Haushaltsanträge wurden leider Wenn die Bundeskanzlerin sich jetzt beim G-7-Gipfel erst vor wenigen Monaten von der Koalition schroff ab- und der Weltgesundheitsversammlung als Vorkämpferin gelehnt: Wir hatten zu diesem Zweck für das Haushalts- gegen vernachlässigte Krankheiten in Szene setzt, kann jahr 2015 beantragt, den Titel Gesundheitsforschung um dies über die krassen Versäumnisse der Vergangenheit 20 Millionen Euro aufzustocken, wobei wir speziell für nicht wegtäuschen. Wenn sie jetzt endlich die Wichtig- die Initiative European and Developing Countries Clini- keit des Aufbaus von öffentlichen Gesundheitssystemen cal Trials Partnership, EDCTP, einen Aufwuchs in Höhe in den Ländern des globalen Südens erkannt hat, ist das von 1 Million Euro vorgesehen haben. zwar ein Fortschritt. Die Forderung von Nichtregie- Sie von der Koalition müssen sich hier deshalb die rungsorganisationen, mehr Geld für globale Gesundheit Frage gefallen lassen, warum Sie erst jetzt, noch dazu zu auszugeben, hat sie aber seit Jahren ignoriert. 0,1 Pro- nachtschlafender Zeit, einen solchen Antrag einbringen zent des Bruttoinlandsproduktes sollen reiche Staaten und noch dazu ohne vorherige Beteiligung der Fachaus- dafür aufwenden. Die Ausgaben für globale Gesundheit schüsse sofort abstimmen lassen wollen. Wir könnten je- betrugen seitens Deutschlands zuletzt aber nur 0,03 Pro- denfalls viel weiter sein, wenn Sie unseren parlamentari- zent. Das ist selbst im europäischen Vergleich nur abso- schen Initiativen zugestimmt hätten. lutes Mittelmaß. Außerdem hat Deutschland seinen Fi- nanzierungsbeitrag für die Weltgesundheitsorganisation Die Vorschläge der Koalition sind nicht neu. Sie fin- WHO immer weiter zurückgefahren: von 33 Millionen den überwiegend unsere Zustimmung. Wenn das hier al- Euro 2006 auf heute noch 24 Millionen Euro. Diese lerdings mehr sein soll als ein folgenloser Schaufenster- Bundesregierung ist mitverantwortlich dafür, dass die antrag, dürfen Sie sich bei der Umsetzung der hehren globale Gesundheitskrisenreaktion bei Ebola so schlecht Worte nicht noch mehr Zeit lassen. aufgestellt war. Die Diagnose der strukturellen Mängel fällt zunächst Es bleibt zu hoffen, dass diese Bundesregierung auch nicht schwer: Kurzsichtige wirtschaftliche Abwägungen über wichtige Konferenzen und Gipfel hinaus langfristig insbesondere der großen Pharmakonzerne verhinderten endlich einen angemessenen Beitrag zur Bekämpfung bisher oft medizinische Innovationen und Versorgung, vernachlässigter Krankheiten leistet. Am Ende ist und weil sich Gewinne mit Medikamenten für armutsasso- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10219

(A) ziierte Krankheitsbilder schwerer realisieren lassen – das Anlage 7 (C) ist zynisch und unmenschlich. Eine Alternative sind Produktentwicklungspartnerschaften, die durch gemein- Zu Protokoll gegebene Reden wohlorientierte Forschungsanreize und Entwicklungs- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum prämien zu besseren und erschwinglicheren Medikamen- Internationalen Erbrecht und zur Änderung ten für Menschen in ärmeren Ländern führen. von Vorschriften zum Erbschein sowie zur Än- Es ist gut, dass Sie eine Verstärkung der anwendungs- derung sonstiger Vorschriften (Tagesordnungs- orientierten Grundlagenforschung fordern und europäi- punkt 24) sche Programme wie Horizon 2020 loben. Dann dürfen Sie aber nicht gleichzeitig die Kürzung und Umwid- Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU): Niemand mung gerade dieser Mittel durch die EU-Kommission beschäftigt sich gerne mit seinem eigenen Tod. Aber der Junckers zulassen, sondern müssen sich ihr in Brüssel Tod gehört unausweichlich zum Leben dazu. Will man und Berlin beherzt entgegenstellen. aber beeinflussen, was nach dem eigenen Tod mit den fi- nanziellen Werten geschieht, die man erarbeitet hat, will Nicht nur die Wirksamkeit von Medikamenten darf man das Schicksal seines Nachlasses selbst bestimmen, hinterfragt werden, sondern es geht auch um die Wirk- dann muss man sich zu Lebzeiten mit der Planung des samkeit und den nachhaltigen Nutzen bestimmter Hilfs- eigenen Nachlasses beschäftigen. instrumente: Damit Prävention und Behandlung verbes- sert werden, muss die langfristige Zusammenarbeit mit Durch die EU-Erbrechtsverordnung und das beglei- den Akteurinnen und Akteuren vor Ort im Mittelpunkt tende Gesetz, das wir heute in zweiter und dritter Lesung stehen. Das betrifft Aufklärungs- und Informationsakti- beraten, wird diese Planung des Nachlasses und dessen vitäten über Risikofaktoren und die Vorbeugung von In- Abwicklung in Erbfällen mit Auslandsbezug erheblich fektionskrankheiten durch Verhaltensänderungen. Und vereinfacht. Das Erbschaftsteuerrecht wird durch den das betrifft die dauerhafte und systematische regionale Gesetzentwurf nicht geändert. Versorgung mit Medikamenten, die wichtiger wären als plakative Verteilaktionen für die Kameras der interna- Bisher unterliegt nach deutschem Recht die Rechts- tionalen Öffentlichkeit. Deshalb muss sich die Bundes- nachfolge von Todes wegen dem Recht des Staates, dem regierung auch international für nachhaltige, durch- der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes angehörte. dachte und umsetzbare Strategien einsetzen. War der Erblasser Deutscher, galt also deutsches Erb- recht. Dies ändert sich durch die EU-Erbrechtsverord- Forschungs- und gesundheitspolitische Zusammenar- nung. (B) beit darf nicht von oben herab erfolgen, sondern muss (D) sich an der Lebenswelt vor Ort orientieren. Wenn sie Ausländisches Erbrecht kann erheblich von den deut- keine Einbahnstraße ist, kann sie zu gemeinsamen Lern- schen erbrechtlichen Regelungen abweichen. Wenn effekten beitragen. Es klingt beispielsweise zunächst deutsche Staatsbürger über Vermögen in einem anderen sehr ehrgeizig, wenn die Koalition in ihrem Antrag an- Land verfügen oder wenn sie nicht in ihrem Heimatland regt, durch „Errichtung von Versichertendatenbanken“ leben, können im Erbfall verschiedene Rechtsordnungen in den betroffenen Regionen zur „Etablierung eines Ge- auf den Nachlass Anwendung finden. Dies kann zu ge- gensätzlichen Ergebnissen und unvereinbaren Gerichts- sundheitssystems und zur verbesserten Erhebung von entscheidungen führen, die die Erben möglicherweise medizinischen Statistiken“ beizutragen. Aber es ist doch vor unlösbare Konflikte stellten. Folge können mehrfa- überaus zweifelhaft, wie sinnvoll und wirksam dieses che Nachlassverfahren sein. Das wird mit der Erbrechts- Instrument ist. Sie selbst schaffen es seit Jahren nicht verordnung geändert: einmal in Deutschland, eine elektronische Gesundheits- karte einzuführen. Also ein Vorschlag, der nicht trägt Die EU-Erbrechtsverordnung lässt das materielle und den Ärmsten der Armen nicht weiterhilft. Erbrecht der einzelnen Mitgliedstaaten unberührt. Sie bestimmt aber, dass nur das Erbrecht eines Staates auf Sowohl Akzeptanz als auch Realisierbarkeit müssen den gesamten Nachlass Anwendung findet, egal in wel- generell beachtet werden. Und es geht auch um Prioritä- chem Staat sich das Vermögen des Verstorbenen befin- tensetzung: Besonders dringliche Maßnahmen müssen det. Das führt zu mehr Rechtssicherheit, und für die Er- zuerst angegangen und der Ausbau von Infrastrukturen ben wird die Verwaltung und Auseinandersetzung des mit den internationalen Partnern koordiniert werden, Nachlasses deutlich vereinfacht. Das spart viel Ärger, etwa durch einen globalen Fonds. Zeit und Kosten. Wir brauchen substanzielle Verbesserungen, damit Sofern der Erblasser dies testamentarisch nicht anders Menschenleben gerettet und Zukunftschancen weltweit festgelegt hat, richtet sich künftig die gesamte Rechts- gesichert werden. Meine Fraktion unterstützt deshalb nachfolge von Todes wegen nach dem Recht des Staates, alle sinnvollen Forderungen, aber wir mahnen vor allem in dem der Verstorbene im Zeitpunkt seines Todes seinen konkretes, schnelles und dauerhaft verlässliches Han- gewöhnlichen Aufenthalt hatte. deln der Regierung an. Denn nur so können endlich mehr Menschen vor Neuinfektionen geschützt und er- Ab dem 17. August 2015 werden Bürgerinnen und krankte gerettet werden. Deswegen darf die Bundesre- Bürger ihre Rechte bei grenzüberschreitenden Erbfällen gierung keine Zeit verlieren. leichter durchsetzen können. 10220 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) Der Gesetzentwurf ist politisch nicht brisant. Er dient Das Struck’sche Gesetz gilt aber auch für diesen Ge- (C) vor allem der rechtstechnischen Anpassung des nationa- setzentwurf: Im parlamentarischen Verfahren wurden len Rechts an die EU-Erbrechtsverordnung, die ab dem handwerkliche Fehler behoben. Im ursprünglichen Ge- 17. August 2015 in Deutschland unmittelbar gilt. An- setzentwurf wurde § 2270 BGB geändert, also der Spe- wendbar ist das neue Recht für Todesfälle ab dem zialfall. Es wurde aber versäumt, die Grundvorschrift 17. August. Eine zuvor getroffene Rechtswahl bleibt des § 1941 BGB an die Erbrechtsverordnung anzupas- aber auch danach wirksam. sen. Weil nur die in § 1941 BGB genannten Verfügungen an der den Erbvertrag kennzeichnenden Bindungswir- Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute abschließend kung teilhaben, war eine Ergänzung erforderlich. beraten, werden für das Europäische Nachlasszeugnis eigene Verfahrensregeln vorgesehen. Ziel ist es, die Zu- Mit dem Gesetzentwurf stellen wir sicher, dass das ständigkeit für das Verfahren zur Erteilung eines deut- grenzüberschreitende Erben und Vererben in Europa ein- schen Erbscheins und über die Ausstellung eines Euro- facher wird, und schaffen Rechtssicherheit für die Um- päischen Nachlasszeugnisses möglichst bei einem setzung der Nachlassplanung. Gericht zu bündeln. Dr. Silke Launert (CDU/CSU): In dem Gesetzent- Weiterhin erfolgt eine Anpassung des deutschen wurf, über den wir heute sprechen, heißt es, es sei jähr- Rechts: lich von circa 30 000 Todesfällen von EU-Ausländern in Der Erbrechtsverordnung entgegenstehende nationale Deutschland auszugehen. Etwa genauso viele Deutsche Regelungen werden aufgehoben, es werden einige Durch- würden jedes Jahr im europäischen Ausland versterben. führungsvorschriften erlassen, damit die Erbrechtsver- Von diesen Zahlen nicht erfasst sind die Todesfälle von ordnung in der Praxis problemlos angewendet werden Nicht-EU-Bürgern. kann, und es werden die nationalen Vorschriften zum Gelangen diese Sterbefälle vor ein deutsches Gericht, Erbschein an die Vorgaben der Erbrechtsverordnung müssen sich Richter und Rechtspfleger in Verfahren der zum Europäischen Nachlasszeugnis angepasst sowie ge- freiwilligen Gerichtsbarkeit oder in streitigen Erbrechts- setzessystematische Mängel beseitigt. verfahren zunächst fragen: Bin ich bzw. ist mein Gericht überhaupt zuständig? Und wenn ja: Darf ich hier deut- Im Rahmen der Berichterstattergespräche haben wir sches Recht anwenden? uns im Wesentlichen mit zwei Aspekten befasst. Stirbt beispielsweise ein deutscher Rentner in der Mit dem Ziel, den Gestaltungsspielraum für Erblasser Toskana, wo er seinen Lebensabend in einer kleinen zu erweitern, haben wir diskutiert, ob es sinnvoll ist, die Villa verbracht hat, und entstehen nach seinem Tod (B) Bindungswirkung einer wechselseitigen Verfügung in ei- Erbstreitigkeiten unter den in Deutschland lebenden (D) nem gemeinschaftlichen Testament bzw. in einem Erb- Kindern über das Häuschen in Deutschland, die Villa in vertrag auch auf die Anordnung einer Testamentsvoll- Italien und das Konto in der Schweiz, kann sich ein deut- streckung auszudehnen. Weil die Erbrechtsverordnung sches Gericht nicht per se für zuständig erklären und bereits ab dem 17. August 2015 gilt und das Gesetzge- deutsches Erbrecht anwenden. Es stellen sich vielmehr bungsverfahren rechtzeitig davor abgeschlossen werden konkret immer zwei Fragen, nämlich die nach der inter- musste, haben wir uns mit dem Koalitionspartner darauf nationalen Zuständigkeit und die nach dem anwendbaren verständigt, dass die Frage der Möglichkeit einer bin- Recht. denden Anordnung der Testamentsvollstreckung in einem gemeinschaftlichen Testament oder Erbvertrag durch das Bislang gibt es für das Erbrecht im Internationalen Bundesjustizministerium ergebnisoffen geprüft wird. Das Zivilverfahrensrecht keine und im Internationalen Pri- BMJV wird dazu kurzfristig eine Umfrage bei den Län- vatrecht kaum Regelungen internationalen Ursprungs. dern und den betroffenen Verbänden durchführen mit ei- Die nationalen Gerichte müssen daher immer entspre- ner Frist zur Stellungnahme bis Ende September. Damit chend dem Lex-fori-Grundsatz auf ihr eigenes, nationa- wird etwa im Oktober ein Ergebnis vorliegen, und eine les Recht zurückgreifen. entsprechende Regelung kann im Zusammenhang mit In Deutschland gelangt man so bislang anhand der dem notariellen Nachlassverzeichnis getroffen werden. Vorschriften der ZPO zur internationalen Zuständigkeit und mittels des EGBGB zum anwendbaren Recht. Selbst- Aufgrund der Stellungnahme des Bundesrates haben verständlich sieht es in den anderen Mitgliedstaaten wir vertieft geprüft, ob wir in Deutschland eine Rege- nicht anders aus, auch diese greifen auf ihr nationales lung erlassen können, die nicht nur die Änderung und Recht zurück. Und da alle 28 Staaten verschiedene Rechts- den Widerruf, sondern auch die körperliche Einziehung ordnungen haben, kann es durchaus sein, dass derselbe eines unrichtigen Nachlasszeugnisses ermöglicht. Das Fall zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, je nachdem, BMJV hat deutlich gemacht, dass die Kommission ur- in welchem Staat ein Gericht angerufen wird. sprünglich eine Einziehungsmöglichkeit vorgeschlagen hatte. Dieser Vorschlag fand aber im Gesetzgebungspro- Darüber hinaus kann die aktuelle Gesetzeslage mitun- zess auf europäischer Ebene keine Mehrheit und wurde ter schon einmal dazu führen, dass ein Gericht eine bewusst nicht aufgegriffen. Weil die Erbrechtsverord- fremde Rechtsordnung anwenden muss. Dass also bei- nung insoweit also eine abschließende Regelung trifft, spielsweise ein deutsches Gericht ausländisches Erb- wäre eine entsprechende nationale Regelung nicht euro- recht anzuwenden hat oder sogar teilweise deutsches, parechtskonform. teilweise ausländisches, wenn Vermögen auch im Aus- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10221

(A) land belegen ist. Es versteht sich von selbst, dass hierbei stücke und auch da nur zugunsten deutschen Rechts (C) große Rechtsunsicherheiten entstehen können. möglich. Ab dem 17. August dieses Jahres wird das anders. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, Denn ab dann ist die Erbrechtsverordnung auf alle ein- dass Großbritannien, Irland und Dänemark auch diese tretenden Erbfälle anzuwenden, die in den Mitgliedstaa- Verordnung nicht übernommen haben. Das nach der Ver- ten einheitlich insbesondere die Zuständigkeit und das ordnung maßgebliche Recht ist jedoch auch dann anzu- anzuwendende Recht regelt. Fortan entscheiden also alle wenden, wenn es sich um das Recht eines Drittstaates Gerichte in der EU anhand derselben Rechtsvorschrif- handelt. Die Europäische Erbrechtsverordnung bean- ten, welches Gericht im Einzelfall zuständig und wel- sprucht somit universelle Geltung. ches Recht anwendbar ist. Sie werden im konkreten Ein- Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nun Regelungen zelfall alle zur Zuständigkeit desselben Gerichts und zur vor, dieser Verordnung ab August zur Anwendung zu Anwendung desselben Rechts kommen. Die Zeiten des verhelfen. Gebündelt hat er sie in einem neu zu schaffen- Forum-Shoppings im Erbrecht sind damit passé. den Gesetz, dem sogenannten Internationalen Erbrechts- Anknüpfungsmoment wird bei der Zuständigkeit und verfahrensgesetz. Dessen Anwendbarkeit beschränkt sich beim anwendbaren Recht nach Artikel 4 bzw. Arti- konsequenterweise auf die Fälle, in denen die EuErbVO kel 21 Absatz 1 EuErbVO jeweils der gewöhnliche Auf- gelten wird. Es regelt insbesondere die örtliche Zustän- enthalt sein. Das heißt, entscheidend ist der Ort bzw. das digkeit, die Zulassung von Zwangsvollstreckungen aus Land, in dem der Schwerpunkt der familiären oder be- ausländischen erbrechtlichen Titeln sowie die Entgegen- ruflichen Bindungen des Erblassers zuletzt lagen. Es nahme von Erklärungen der Annahme oder Ausschla- wird also eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände gung einer Erbschaft. des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Schließlich enthält der Gesetzentwurf bzw. das Inter- Zeitpunkt seines Todes vorzunehmen sein, wobei alle re- nationale Erbrechtsverfahrensgesetz auch Vorschriften levanten Tatsachen berücksichtigt werden müssen, ins- zum von der ErbVO neu eingeführten Europäischen besondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Auf- Nachlasszeugnis. Dieses Zeugnis soll, einem Erbschein enthalts in dem betreffenden Staat sowie die damit vergleichbar, zur Umschreibung öffentlicher Register zusammenhängenden Umstände und Gründe. verwendet werden und Erben, Vermächtnisnehmer und Vorteil desselben Anknüpfungsmoments bei Zustän- Testamentsvollstrecker in allen Mitgliedstaaten, in de- digkeit und anwendbarem Recht ist, dass nun das zustän- nen die Verordnung gilt, zu Legitimationszwecken die- dige Gericht – mit wenigen Ausnahmen – sein eigenes nen. Voraussetzung für die Erteilung ist, dass das Zeug- materielles Erbrecht anwenden können wird. nis in mehreren Mitgliedstaaten Anwendung findet und (B) nicht nur innerstaatliche Sachverhalte betrifft. (D) Mit der Verankerung des Aufenthaltsprinzips wird das dem deutschen Recht vertraute Staatsangehörigkeits- Der Gesetzentwurf wird das Europäische Nachlass- prinzip des Artikel 25 EGBGB endlich abgelöst. Vor zeugnis dem deutschen Erbschein in seinen Rechtswir- dem Hintergrund der zunehmenden Mobilität der euro- kungen gleichstellen. Gleichzeitig gleicht er die Vor- päischen Bürger findet sich darin nun endlich eine zeit- schriften zum Erbschein an die Vorgaben der ErbVO gemäße und praktikable Regelung, wie sie in den Haager zum Europäischen Nachlasszeugnis an. Ziel ist es, die Übereinkommen im Übrigen schon längst praktiziert Zuständigkeit für das Verfahren zur Erteilung eines deut- wird. Die Verordnung gewährleistet damit eine ord- schen Erbscheins und über die Ausstellung eines Euro- nungsgemäße Rechtspflege innerhalb der Union und päischen Nachlasszeugnisses möglichst bei demselben eine wirkliche Verbindung zwischen dem Nachlass und Gericht zu bündeln. dem Mitgliedstaat, in dem die Erbsache abgewickelt Bezweckt wird auch hier eine erhebliche Vereinfa- wird. chung bei grenzüberschreitenden Erbfällen. Um das Ganze nun ein wenig anschaulicher zu ma- Abschließend lässt sich sagen, dass die Verordnung chen, möchte ich auf mein eingangs genanntes Beispiel und das vorliegende umzusetzende Gesetz einen weite- zurückkommen: ren wichtigen Baustein liefern, um die Freizügigkeit im europäischen Rechtsraum zu erleichtern. Ab August wird es nun nicht mehr relevant sein, wel- che Staatsangehörigkeit der Erblasser hatte oder wo sein Nachlass belegen ist. Zuständig ist ein italienisches Ge- Dennis Rohde (SPD): Europa wächst zusammen. richt und der Erblasser wird nach italienischem Erbrecht Die alten Grenzen der Nationalstaaten, die die Struktur beerbt. unseres Kontinents lange Zeit bestimmt haben, existie- ren weiter – aber sie haben einiges ihrer traditionellen Will der Erblasser – aus unserem Beispielsfall – nicht, Bedeutung eingebüßt. Wir können in unseren Nachbar- dass sich seine Erbfolge nach italienischem Recht rich- staaten reisen, arbeiten, wohnen – und all dies ohne die tet, kann er nach Artikel 22 Absatz 1 im Testament re- bürokratischen Maßregelungen, die für die Generation geln, dass im Todesfall das Recht des Staates Anwen- unserer Eltern noch selbstverständlich waren und deren dung findet, dem er bei der Rechtswahl oder bei seinem Abschaffung man sich nicht träumen ließ. Auch wenn Tod angehört. In unserem Fall kann er also deutsches reaktionäre Nationalstaatsnostalgiker das nicht einsehen Recht wählen. Auch das ist neu. Nach bisherigem deut- mögen: Diese Einigung ist ein hohes Gut. Sie zu bewah- schen Recht war die Rechtswahl beschränkt auf Grund- ren und weiter voranzutreiben, ist für Europas Zukunft 10222 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) unerlässlich – und damit auch für Deutschland. Denn digt, um gemeinsam vernünftige Gesetze voranzubrin- (C) ohne ein starkes, friedliches, geeinigtes Europa fehlen gen. In diesem Sinne ist der heutige Gesetzentwurf nicht die Voraussetzungen für den Zusammenhalt und den nur bedeutsam, sondern hoffentlich sogar richtungswei- Wohlstand unseres Landes. send. Durch das Schwinden der nationalen Gegensätze ha- ben sich auch die Lebensentwürfe geändert. Bestimmten Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Sehr geehrter Le- vor einigen Jahrzehnten noch Grenzen unsere Lebens- ser, wenn ich hier möglicherweise die Argumente mei- welten, so genießen wir jetzt ungeahnte Freiheiten. Wir nes „Vorredners“ wiederhole, bitte ich um Nachsicht, da studieren im europäischen Ausland, ziehen ungehindert ich diese infolge der vereinbarten Protokollreden ja dorthin oder verlagern unseren Lebensmittelpunkt – und nicht kennen kann. Also: Anlass für diesen Gesetzent- können doch jederzeit nach Deutschland zurückkehren. wurf ist vor allem die Durchführung der Verordnung Auch Freundschaft, Ehe und Familie haben die alten (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Grenzen hinter sich gelassen. Die Europäerinnen und Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzu- Europäer messen einander nicht mehr vornehmlich an wendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung der Staatsangehörigkeit – die europäische Integration hat von Entscheidungen und die Annahme und Vollstre- ganz neue Möglichkeiten des Miteinanders geschaffen, ckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur die unseren Kontinent friedlicher, verzahnter und offener Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses machen. (ABl. L 201 vom 27. Juli 2012, S. 107; L 344 vom 14. Dezember 2012, S. 3; L 41 vom 12. Februar 2013, Dazu gehört aber auch, dass eine zunehmende Zahl S. 16; L 60 vom 2. März 2013, S. 140 – ErbVO), welche von Menschen in einem anderen Land stirbt als dem, ab dem 17. August 2015 anzuwenden ist. Die ErbVO gilt dessen Staatsbürger sie sind. Sei es, weil sie sich im Ru- für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit hestand das ersehnte Haus im Süden geleistet haben, Ausnahme des Vereinigten Königreichs, Irlands und Dä- oder einfach, weil sich der Lebensmittelpunkt irgendwann nemarks. Als Verordnung ist sie in der Bundesrepublik verlagert hat – die Gründe sind vielfältig. Unbestritten da- Deutschland unmittelbar anzuwenden mit der Folge, gegen ist, dass das Zusammenspiel unterschiedlicher dass sie in ihrem Anwendungsbereich das bislang gel- Erbrechtssysteme Schwierigkeiten aufwerfen kann – und tende Recht verdrängt. Gleichwohl bedarf es einiger eine klare Regelung daher überfällig war. Durchführungsvorschriften für die Umsetzung. Die EU-Erbrechtsverordnung, der wir heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf den Weg auch in Deutsch- Die Schaffung der notwendigen Verfahrensregelun- land ebnen, schafft hier Klarheit. Künftig gilt bei inter- gen zum Europäischen Nachlasszeugnis wurde hier zum (B) nationalen Erbfällen – diese liegen zum Beispiel vor, Anlass genommen, auch entsprechend sinnvolle Rege- (D) wenn ein Deutscher im Ausland stirbt und sein dortiges lungen zum Erbschein zu ändern. Haus vererbt – das Erbrecht des Landes, in dem der Ver- Zum einen werden punktuell Vorschriften zum Erb- storbene seinen letzten gewöhnlichen Wohnsitz hatte. schein an die Vorgaben der ErbVO zum Europäischen Entscheidend ist also nicht mehr die Staatsbürgerschaft, Nachlasszeugnis angepasst mit dem Ziel, die Zuständig- sondern der Wohnort. Damit trägt auch das Erbrecht keit für das Verfahren zur Erteilung eines deutschen Erb- endlich dem Prinzip der Bewegungsfreiheit Rechnung, scheins und über die Ausstellung eines Europäischen das zu einer bedeutenden Entwicklung des Zusammenle- Nachlasszeugnisses möglichst bei demselben Gericht zu bens in Europa beigetragen hat – und das wir entschie- bündeln. Zum anderen werden die Anpassungen beim den gegen regelmäßig wiederkehrende Bestrebungen, es Erbschein zum Anlass genommen, derzeit im Bürgerli- aufzuweichen oder zu unterlaufen, verteidigen müssen. chen Gesetzbuch, BGB, enthaltene, rein verfahrens- Zur Einigung in Europa gehört auch, dass Vorschrif- rechtliche Vorschriften zum Erbschein aus systemati- ten und Regularien vereinheitlicht werden, um den ge- schen Gründen in das Gesetz über das Verfahren in genseitigen Austausch zu vereinfachen. Der zweite wich- Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwil- tige Aspekt des vorliegenden Gesetzentwurfes ist daher ligen Gerichtsbarkeit, FamFG, zu übertragen und dabei folgerichtig die Eingliederung des Europäischen Nach- zugleich überflüssige Doppelregelungen in BGB und lasszeugnisses in deutsches Recht. Nicht viel anders als FamFG zu bereinigen. Im Übrigen soll insbesondere beim Erbschein sollen deutsche Amtsgerichte nun auch eine Regelungslücke im Bereich der Gebühren in Grund- europaweit gültige und einheitlich verständliche Nach- buchsachen geschlossen werden, um die Höhe der bei lasszeugnisse sowie beglaubigte Abschriften ausstellen – der Eintragung von Veränderungen eines Gesamtrechts damit in Bezug auf Erbfälle in ganz Europa Rechtssi- bei verschiedenen Grundbuchämtern zu erhebenden Ge- cherheit herrscht. bühren auf ein angemessenes Maß zu begrenzen. Der vorliegende Gesetzentwurf mag im großen Be- Bislang herrschte in grenzüberschreitenden Erb- trieb der Politik auf den ersten Blick nicht besonders be- schaftsfällen eine große Unsicherheit, welches nationale deutsam erscheinen. Aber er ist stellvertretend für eine Recht Anwendung findet. Mit der EU-Verordnung wird Politik der europäischen Einigung, die auch und ganz dahingehend Rechtssicherheit geschaffen, als dass nun- besonders wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra- mehr das Recht desjenigen Staates Anwendung findet, in ten immer vorangetrieben haben. Und er steht für eine dem der Erblasser seinen letzten Wohnsitz hatte. Dies überlegte, ruhige Sachpolitik, in der man sich auch zwi- würde dann aber auch dazu führen, dass zum Beispiel schen Regierungs- und Oppositionsfraktionen verstän- Deutsche, die ihren Lebensabend im Ausland verbrin- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10223

(A) gen, nicht mehr nach deutschem Recht beerbt werden. Durch die Vereinheitlichung der Verfahrensregeln (C) Dennoch ist diese Regelung vor dem Hintergrund der und die Möglichkeit der Rechtswahl wird es für Hinter- Rechtssicherheit zu begrüßen, zumal ein Erblasser testa- bliebene aber jetzt einfacher, zum Beispiel in Fällen, in mentarisch nach wie vor die Anwendbarkeit deutschen denen der Erblasser oder die Erblasserin zuletzt in einem Rechts festlegen kann. anderen europäischen Land lebte oder in denen Paare mit unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten ein gemein- Auch für Erben bringt die Verordnung eine Erleichte- sames Testament errichten. rung. Denn das durch die Verordnung neu geschaffene Europäische Nachlasszeugnis stellt eine Art internatio- Denn ab dem 17. August 2015 gelten im Erbrecht in nalen Erbschein dar, der in der gesamten EU Geltung be- fast allen EU-Mitgliedstaaten einheitliche Verfahrensre- sitzt mit der Folge, dass der Erbe nicht mehr in all den geln. Die Hinterbliebenen müssen sich beispielsweise Ländern, in denen der Erblasser Vermögen hinterlassen nicht mehr um die Anerkennung ausländischer Gerichts- hat, separat Erbscheine beantragen muss. urteile kümmern, sondern wenden sich an das Gericht Das internationale Nachlasszeugnis kann – wie der am letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers bzw. bisherige Erbschein – beim Notar beantragt werden. der Erblasserin. Die Konzentrierung der Zuständigkeit für das Verfah- Auch ist es nun möglich, durch eine Rechtswahl die ren zur Erteilung eines deutschen Erbscheins und über Nachlassspaltung zu vermeiden. Es ist nur noch ein die Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses Recht anwendbar für den gesamten Nachlass und nicht bei demselben Gericht stellt ebenfalls eine Erleichterung mehr unterschiedliches Recht, je nachdem, ob es sich um dar und ist zu unterstützen. Grund und Boden oder um bewegliches Vermögen han- delt, wie es derzeit in einigen europäischen Rechtsord- Die Übertragung der derzeit noch im BGB enthalte- nungen der Fall ist. nen rein verfahrensrechtlichen Vorschriften zum Erb- schein in das FamFG ist ebenfalls vor dem rechtssyste- Die Einführung des Europäischen Nachlasszeugnis- matischen Hintergrund zu begrüßen. ses vereinfacht und vereinheitlicht den Nachweis im Damit führt die Verordnung im Ergebnis zu deutli- Rechtsverkehr. Der deutsche Erbschein bleibt aber erhal- chen Erleichterungen bei Erblassern und Erben und zu ten. Das ist gut; denn er ist anders als das Europäische mehr Rechtssicherheit und einer besseren rechtssystema- Nachlasszeugnis von seiner Gültigkeitsdauer nicht be- tischen Ordnung. Da der vorliegende Gesetzentwurf grenzt. Beantragt wird das Europäische Nachlasszeugnis letztlich nur der Durchführung der Verordnung im beim Gericht am letzten gewöhnlichen Aufenthalt des deutschen Recht dient und darüber hinaus die Rege- Erblassers oder der Erblasserin. Somit ist es für die Er- (B) lungslücke im Bereich der Gebühren in Grundbuchsa- ben einfacher, zu wissen, an wen sie sich wenden müs- (D) chen zugunsten der Betroffenen schließt, sollte diesem sen, wenn sie ihr Erbe antreten möchten. zugestimmt werden. Bei aller Vereinfachung bleiben aber auch Unsicher- In dem Änderungsantrag geht es im Wesentlichen le- heiten: Bei gemeinschaftlichen Testamenten, wie dem diglich um redaktionelle Korrekturen, Klarstellungen Berliner Testament, muss man jetzt darauf achten, dass und Folgeänderungen, auf die hier nicht näher eingegan- eine Bindung des überlebenden Ehegatten anderswo oft gen werden muss. Es wird außerdem noch eine Begren- so nicht möglich ist. Gleiches gilt für die Testaments- zung der Zusatzgebühr für die Beurkundung in einer vollstreckung. Auch das Pflichtteilsrecht kann sehr un- fremden Sprache auf 5 000 Euro eingeführt. terschiedlich sein. Hier wird es nach wie vor gut sein, sich beraten zu lassen. Wahrscheinlich sind diese Gründe, wie eingangs er- wähnt, auch von meinem „Vorredner“ angeführt werden, Schutzlücken gibt es bei gleichgeschlechtlichen Paa- was ich jedoch leider in Anbetracht der Protokollreden ren. Denn nicht in allen EU-Mitgliedstaaten werden Le- nicht beurteilen kann. Ich gehe jedoch gesichert davon benspartnerschaften gesetzlich anerkannt, sodass sich aus, zumal wir uns im Berichterstattergespräch einig wa- hieraus eine mögliche Diskriminierung ergeben kann ren, dass dem Gesetz zugestimmt werden kann. und die Rechtswahl beispielsweise bei gemeinschaftli- Alles in allem stimmt die Linke dem Gesetz, wie be- chen Testamenten faktisch ins Leere läuft, wenn der hin- reits im Ausschussprotokoll dokumentiert, daher auch in terbliebene Partner oder die hinterbliebene Partnerin die der zweiten und dritten Lesung zu. Nachlassbeteiligung nicht durchsetzen kann. Denn die Frage, ob eine Partnerschaft überhaupt besteht, richtet sich nicht nach der Erbrechtsverordnung, sondern nach Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wol- dem Recht, das an dem Ort des letzten gewöhnlichen len keine Grenzen mehr in Europa. Wir wollen europa- Aufenthalts gilt. Zwar können auch hier die Partner oder weit wohnen, arbeiten, leben und sterben und deswegen Partnerinnen von der Möglichkeit der Rechtswahl Ge- am Ende auch europaweit erben. brauch machen, doch kann es sein, dass Pflichtteilan- Aber keine Sorge: das materielle Erbrecht wird jetzt sprüche anderer Angehöriger bestehen bleiben. nicht europäisiert. Eine Lösung für diese Fragen des Personenstands- Wer von wem in welcher Reihenfolge und in wel- rechts hätte eigentlich schon auf europäischer Ebene chem Umfang erbt, bleibt, wie es ist. Allerdings ändert gefunden werden sollen, doch wurden auch bei den sich das Verfahrensrecht. Durchführungsbestimmungen auf nationaler Ebene die 10224 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) verbleibenden, kleinen Gestaltungsspielräume leider nicht einige Regelungen bei den zukünftigen Beratungen be- (C) genutzt. sonderer Aufmerksamkeit. Es gibt sicher noch viele weitere Baustellen im Erb- Klärungsbedarf gibt es für uns beispielsweise bei der recht, über die es sich lohnen würde zu debattieren. Ich geplanten Schließung von Lücken im Umwandlungs- denke zum Beispiel an die Berücksichtigung von Pflege- steuergesetz, explizit beim § 20 Absatz 2 UmwStG. leistungen beim Pflichtteilsrecht. Wir halten die vorgesehene Änderung des UmwStG Mit dem heutigen Gesetz wird das Erbrecht zwar nicht für zwingend erforderlich, da eine systemwidrige nicht revolutioniert, aber eine sinnvolle Anpassung von Lücke – die geschlossen werden muss – überhaupt nicht Verfahrensvorschriften an die europäische Verordnung vorliegt. Nun ist die Änderung im Koalitionsvertrag ver- vorgenommen. Dem wird auch die grüne Fraktion ihre einbart, wir sollten aber nochmals prüfen, ob tatsächlich Zustimmung erteilen. ein reales Bedürfnis hierfür besteht. Gerade bei diesem Thema bin ich auf eine Anhörung der Sachverständigen gespannt, zumal die Maßnahme Anlage 8 allein aufgrund eines prominenten Einzelfalls Einzug in Zu Protokoll gegebene Reden die politische Diskussion und die vermeintliche Notwen- digkeit einer Lückenschließung gefunden hat. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklärung zum Gesetz Weiterhin werden wir über eine Anhörung und die zur Anpassung der Abgabenordnung an den Beratungen klären müssen, ob wir mit der vermeintli- Zollkodex der Union und zur Änderung weite- chen Lückenschließung gestaltende steuerfreie Umstruk- rer steuerlicher Vorschriften (Tagesordnungs- turierungen tatsächlich verhindern können. punkt 25) In den zukünftigen Beratungen ist von uns ebenfalls zu klären, ob die vorgesehene Mittelstandskomponente Olav Gutting (CDU/CSU): Wir beraten heute in ers- ausreichend für Umstrukturierungen im Mittelstand ist. ter Lesung einen Gesetzentwurf, welcher 13 Maßnah- men aufgreift, die der Bundesrat im Zollkodex-Anpas- Bedeutend ist unter Steuervereinfachungsaspekten sungsgesetz vorgeschlagen hatte und die nach der auch der Wegfall des Funktionsbenennungserfordernis- zugesagten fachlichen Prüfung umgesetzt werden kön- ses. nen. Gleichzeitig wollen wir aber auch andere, aus unse- Wir von der Union setzen uns seit Jahren für Steuer- rer Sicht notwendige Änderungen mit diesem Gesetz vereinfachung und Entbürokratisierung ein. Wir wollen (D) (B) vornehmen. mit dieser Regelung bei den Unternehmen Anwendungs- Ganz glücklich bin ich mit dem aktuellen Gesetzent- unsicherheiten nehmen und gegebenenfalls Erleichterun- wurf noch nicht. Das fängt schon bei der Namensgebung gen bei der Finanzierung zukünftiger Anschaffungen er- an. Während die jährlichen notwendigen Anpassungen reichen. an das Steuerrecht in der Vergangenheit in den jeweili- Leider haben sich die Länder zu dieser Steuerverein- gen Jahressteuergesetzen vorgenommen wurden, geschieht fachung bereits negativ geäußert. dies nunmehr zunehmend in Trägergesetzen, die nicht zwingend im Titel auf den steuerlichen Bezug, wie zum Das Gesetzgebungsverfahren steht jedoch noch ganz Beispiel im Kroatiengesetz, dem Zollkodex-Anpas- am Anfang, und auch die Länder haben in ihrer Stellung- sungsgesetz oder wie in dem hier beratenen Protokoll- nahme weitere 27 Maßnahmen gefordert, die überwie- erklärungsumsetzungsgesetz hinweisen. gend auch schon im Zollkodex-Anpassungsgesetz gefor- dert und bereits geprüft wurden. Es gibt daher zwischen Mit diesem Gesetz werden nun vorrangig Wünsche allen Beteiligten noch genügend Gesprächsbedarf. des Bundesrates umgesetzt. Wir geben damit auch ein Signal an die Länder, dass wir bereit sind, sinnvolle steu- Der Gesetzentwurf ist deshalb in den Finanzaus- erliche Anpassungswünsche des Bundesrates aufzugrei- schuss zu überweisen. fen. Ich freue mich dort auf eine aufschlussreiche Sach- Dies ist jedoch keine Einbahnstraße, und ich appel- verständigenanhörung und auf eine erfolgreiche Bera- liere an den Bundesrat, bei anderen Gesetzgebungsvor- tung. haben des Bundestages auch einzulenken und die immer wieder gefahrene Blockadepolitik aufzuheben. Dr. Jens Zimmermann (SPD): Wir beraten heute in Ich denke dabei insbesondere an zwei wichtige Ge- erster Lesung das Gesetz zur Umsetzung des Protokolls setzgebungsverfahren – steuerliche Absetzbarkeit der zum Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den energetischen Sanierung und Abbau der kalten Progres- Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuer- sion – der letzten Legislaturperiode, die aufgrund der licher Vorschriften. Der Name des Gesetzentwurfes sagt Blockade des von Rot-Grün dominierten Bundesrates es schon: Viele der im vorliegenden Gesetzentwurf for- scheiterten. mulierten Maßnahmen enthielt schon das Zollkodex-An- passungsgesetz, das Jahressteuergesetz 2015. Mit vorlie- Auch wenn der vorliegende Gesetzentwurf überwie- gendem Gesetzentwurf wird die Protokollerklärung der gend unproblematische Maßnahmen enthält, bedürfen Bundesregierung zum Zollkodex-Anpassungsgesetz um- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10225

(A) gesetzt und viele der Länderanträge aus diesem Verfah- teilstausch wie im Falle des VW-Porsche-Deals nicht (C) ren nach Prüfung durch die Bundesregierung in einem mehr systemwidrig steuerfrei gestaltet werden kann. Ich eigenen Steuergesetz aufgegriffen. freue mich in dieser Frage auf konstruktive Verhandlun- gen. Denn Bund und Länder können hier gemeinsam ein Wie im Jahresssteuergesetz 2015 finden sich auch in wichtiges Zeichen gegen Steuervermeidung und Steuer- diesem Vorschlag wieder eine Reihe an redaktionellen hinterziehung setzen. Hier gilt unverändert die Devise: Änderungsvorschlägen durch das deutsche Steuerrecht Je früher, desto besser. hindurch, die politisch unstrittig sind. Es ist deshalb nicht nötig, auf jeden einzelnen Änderungsvorschlag Dieser Grundsatz gilt auch für andere gesetzgeberi- einzugehen. Auch die unstrittigen Änderungen sind al- sche Schritte gegen Steuertricks: Im Gesetzgebungsver- lerdings wichtig, um den Finanzbehörden in den Län- fahren zum Zollkodex-Anpassungsgesetz haben sich die dern ihre Arbeit zu erleichtern. Regierungskoalitionen gemeinsam mit den Ländern da- rauf geeinigt, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzu- Auch wenn das Protokollumsetzungsgesetz einen richten, die konkrete Vorschläge für einen Gesetzentwurf nicht ganz so umfangreichen Maßnahmenkatalog enthält zur Umsetzung des BEPS-Maßnahmenpaketes der OECD wie das Zollkodex-Anpassungsgesetz: Hier gibt es eben- erarbeitet. Wir begrüßen die Einrichtung der Arbeits- falls wieder einige wichtige inhaltliche Punkte, über die gruppe ausdrücklich. wir im Gesetzgebungsverfahren sicherlich intensiv mit unserem Koalitionspartner, mit den Ländern und mit den Wir teilen aber auch die kritischen Hinweise der Län- Sachverständigen diskutieren werden. der in ihren Empfehlungen zu dem vorliegenden Gesetz- entwurf. Denn bisher hat die Bund-Länder-Arbeits- Einige dieser Punkte möchte ich kurz ansprechen. gruppe schlicht nicht oft genug getagt, um eine Vorlage Bereits in den Verhandlungen zum Kroatien-Anpas- für einen Gesetzentwurf auszuarbeiten. In der Protokoll- sungsgesetz und zum Zollkodex-Anpassungsgesetz ha- erklärung zum Zollkodex-Anpassungsgesetz ist aber ben wir als SPD-Bundestagsfraktion gezeigt, dass wir es festgehalten, dass die Arbeitsgruppe zeitnah einen Vor- ernst meinen damit, den Missbrauch des Steuerrechts zu schlag vorlegt. Das war eine der Bedingungen für die verhindern und der Ausnutzung von Regelungslücken SPD-Bundestagfraktion und die SPD-geführten Länder, im deutschen Steuerrecht einen Riegel vorzuschieben. auf eine Regelung gegen hybride Finanzierungen im Steuersparmodelle, mit denen jeder ehrliche Steuerzah- Steuerrecht im Verfahren zum Zollkodex-Anpassungs- ler verhöhnt wird, können und wollen wir nicht länger gesetz zu verzichten. Jetzt muss die Arbeitsgruppe auch tolerieren. Deshalb werden auch in diesem Gesetzge- liefern. Und das funktioniert nur, wenn diese regelmäßig bungsverfahren die vorgeschlagenen Änderungen zur tagt. Schließung von Lücken im Umwandlungssteuerrecht für (B) Sicherlich intensiv diskutieren werden wir innerhalb (D) uns als SPD-Bundestagfraktion eine wichtige Rolle spie- der Regierungskoalition über eine Maßnahme im Ge- len. setzentwurf, die die Abschaffung des Investitionsbenen- Der im Jahre 2012 abgelaufene „Porsche-Deal“ kann nungserfordernisses beim Investitionsabzugsbetrag – ge- als Musterbeispiel für solche Steuervermeidungsmodelle regelt im § 7 g im Einkommensteuergesetz – vorsieht. gelten. Im Jahre 2012 hat Volkswagen den Automobil- Bisher war es für den Abzugsbetrag notwendig, dass hersteller Porsche übernommen, und zwar dadurch, dass die Funktion des begünstigenden Wirtschaftsgutes ange- VW eine einzelne Stammaktie auf die Porsche Holding geben werden musste. Auf diese Angabe soll nunmehr SE übertragen hat. Das Finanzamt Stuttgart hat den verzichtet werden. Das hätte zur Folge, dass der Steuer- Erwerb nicht als Kauf bewertet, bei dem die üblichen pflichtige zukünftig ohne weitere Angaben Abzugsbe- Steuern angefallen wären. Stattdessen wurde dies als träge für künftige Investitionen bis zu einem unveränder- Umstrukturierung nach dem Umwandlungssteuergesetz ten Höchstbetrag von 200 000 Euro gewinnmindernd eingestuft. Dies hatte eine Steuerbefreiung zur Folge. abziehen könnte. Auch wenn diese Gestaltung nach geltendem Recht legal war: Gewünscht ist sie nicht. Denn bei dieser ge- Auch wenn sich an den sonstigen Regelungen zum zielten Steuervermeidung sind dem Staat 1,5 Milliarden Investitionsabzugsbetrag nichts ändert: Es gibt gute Euro vorenthalten worden. Wir müssen solche Fälle zu- Gründe dafür, die in der Gesetzesbegründung angegebe- künftig vermeiden. nen steuerlichen Mindereinnahmen von 40 Millionen Euro jährlich anzuzweifeln. Dass die Angabe der Inves- In den Berichterstattergesprächen zum Zollkodex- titionsabsicht wegfällt, birgt die Gefahr, dass Investi- Anpassungsgesetz konnten wir uns mit unserem Koali- tionsabzugsbeträge missbräuchlich in Anspruch genom- tionspartner bereits auf konkrete Eckwerte für eine Neu- men werden, um beispielsweise Steuerzahlungen um bis regelung bei Einbringungen nach dem Umwandlungs- zu drei Jahre hinauszuzögern. Wir teilen hier deshalb die steuerrecht einigen. Der jetzige Vorschlag sieht vor, dass Bedenken der Länder. die Gegenleistungen bei Einbringungen auf 25 Prozent oder 300 000 Euro des Buchwerts des eingebrachten Be- Bei der Anwendung der 44-Euro-Freigrenze für Sach- triebsvermögens begrenzt werden sollen. bezüge wird es auch weiterhin bei der bisherigen Praxis bleiben. Der Bundesrat schlägt hier erneut – wie im Ver- Ich erwarte, dass es bei diesem Punkt nur noch um fahren zum Zollkodex-Anpassungsgesetz – vor, die Detailfragen gehen wird. Auch unser Koalitionspartner Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes bei der Abgren- sollte ein großes Interesse daran haben, dass ein An- zung von Sachbezügen und Geldleistungen einzuschrän- 10226 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) ken. Dieser hat mit einigen Urteilen Gutscheine, die dem aus Streubesitzanteilen haben Sie auf die lange Bank ge- (C) Arbeitnehmer vom Arbeitgeber gestellt werden, den schoben, obwohl hier ein bekanntes Steuerschlupfloch Sachbezügen zugeordnet. Damit sind diese Leistungen besteht. Ob Sie Ihre Ankündigung, dies dann in der Re- bis 44 Euro monatlich für den Arbeitnehmer steuerfrei. form des Investmentsteuergesetzes anzugehen, auch Viele Beschäftigte freuen sich über diese kleine finan- wahrmachen, bleibt noch abzuwarten. zielle Entlastung. Diese Steuerfreiheit wieder abzuschaf- fen, würde Arbeitnehmer unnötig belasten. Hier teilen wir An dieser Stelle müssen Sie sich mal wieder fragen die Einschätzung der Bunderegierung uneingeschränkt. lassen, meine Damen und Herren von der Bundesregie- Diesen Antrag des Bundesrates werden wir deshalb er- rung, für wen Sie eigentlich Politik machen in diesem neut ablehnen. Land? Für die vielen ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler oder für grenzüberschreitend tätige Kon- Ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende der Verhand- zerne, denen Sie weiterhin Zeit geben, um weiter auf lungen zu einer guten Lösung kommen werden. Kosten der Allgemeinheit Kasse zu machen. Damit ist die Liste Ihrer Versäumnisse leider noch Richard Pitterle (DIE LINKE): Hinter diesem „Ent- nicht am Ende. Auch um eine Befassung mit der vom wurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklä- Bundesrat wiederholt angemahnten Erhöhung des Ar- rung zum Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung beitnehmer-Pauschbetrages und der Pauschbeträge für an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer behinderte Menschen haben Sie sich gedrückt. steuerlicher Vorschriften“ verbirgt sich ein weiteres Jah- Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, ressteuergesetz. Leider scheut sich die Bundesregierung bei den Beratungen haben Sie die Gelegenheit, meine mal wieder, das Kind dann auch beim Namen zu nennen Kritik durch Taten zu widerlegen. Daher bin ich auf die und wählt stattdessen diesen umständlichen Namen. kommenden Beratungen bereits gespannt. Aber auch das lenkt nicht davon ab, dass die Steuerpoli- tik der Großen Koalition ein einziges Chaos ist. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Sie Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schleppen sich von Jahressteuergesetz zu Jahressteuer- NEN): Hinter dem Namen Zollkodex-Anpassungsgesetz gesetz, ohne dass Sie nennenswert vorankämen – das ist verbirgt sich das Jahressteuergesetz der Bundesregie- eine Flickschusterei sondergleichen! rung aus dem letzten Jahr, in dem verschiedene steuerli- che Änderungen vorgenommen wurden. Dieses Gesetz Diese Flickschusterei geht zudem zum Teil auf einen hat mal wieder bestätigt, dass die Bundesregierung steu- traurigen Zweikampf zwischen Bundestag und Bundes- erpolitisch keinerlei Ambitionen hat. Dabei sind eine rat zurück. Mit seinem Entwurf eines Steuervereinfa- Reihe von wichtigen Themen längst überfällig, auf die (B) chungsgesetzes hat der Bundesrat bereits 2013 verschie- wir auch in unserem Entschließungsantrag hingewiesen (D) dene Vorschläge in den Bundestag eingebracht. Doch die hatten: zum Beispiel bei der Umsatzsteuer die unsinni- Große Koalition im Bundestag hat sich bisher sehr gen Branchensubventionen abzuschaffen oder bei den schwergetan, angemessen darauf einzugehen, und auch Unternehmensteuern die Bevorzugung großer Konzerne dieser Gesetzentwurf ist da ein eher halbherziger Ver- zulasten der kleinen und mittleren Unternehmen zu be- such. Zu Recht hat sich der Bundesrat beschwert, dass seitigen. Es ist schon bemerkenswert, wie untätig der Fi- seine Vorlage in verfassungsrechtlich fragwürdiger nanzminister sich hier gibt. Weise einfach ignoriert wurde. Denn nach Artikel 76 des Grundgesetzes hat der Bundestag über Vorlagen in ange- Auch die Bundesländer sahen zu Recht viele ihrer messener Frist zu beraten und Beschluss zu fassen. An wichtigen Anliegen, insbesondere zur Bekämpfung von dieser Stelle möchte ich Ihnen, meine Damen und Her- Steuergestaltung, nicht berücksichtigt und wollten daher ren von Union und SPD, raten, vielleicht etwas öfter ei- den Vermittlungsausschuss anrufen. Dazu kam es aber nen Blick ins Grundgesetz zu werfen; Sie scheinen da nicht. Anstelle von zeitgerechten und wichtigen Korrek- stets ein wenig unsicher zu sein, wenn es um dessen Ein- turen einigte man sich nach langem Hin und Her darauf, haltung geht. dass die Bundesregierung in einer Protokollerklärung versprach, noch offene und zu prüfende Ländervor- Von diesem chaotischen Verfahrensgang einmal abge- schläge Anfang 2015 in einem Steuergesetz aufzugrei- sehen, erscheint Ihr Gesetzentwurf, meine Damen und fen. Herren von der Bundesregierung, bislang auch inhaltlich Über dieses Projekt diskutieren wir heute. Es heißt wenig überzeugend. Auffallend ist vor allem, dass Sie „Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung zum Ge- Maßnahmen gegen Steuerumgehung mal wieder ver- setz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollko- schieben, anstatt hier endlich Handfestes zu liefern. Zum dex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Beispiel versäumen Sie es, sich endlich der Neutralisie- Vorschriften“ – man muss sich dieses Wortungetüm ein- rung der Effekte hybrider Gestaltungen anzunehmen und mal auf der Zunge zergehen lassen. Die zentrale Bot- ermöglichen es grenzüberschreitend tätigen Unterneh- schaft dieser Überschrift ist: Nur etwas für Spezialisten, men, auf diese Weise weiterhin eine doppelte Nichtbe- nichts für den normalen Bürger. steuerung oder einen doppelten Betriebsausgabenabzug zu erreichen. Stattdessen errichten Sie zu diesem Thema Wir Grünen erwarten jetzt, dass die Bundesregierung erst mal eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die bisher den Kampf gegen Steuergestaltung nicht länger ver- noch keine nennenswerten Ergebnisse hervorgebracht schleppt, sondern gute Vorschläge vorlegt. Aber ist dies hat. Auch die Steuerpflicht für Veräußerungsgewinne der Fall? Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015 10227

(A) Die Gestaltungsmöglichkeiten im Umwandlungssteu- beteiligen. Es zeigte sich, dass die Regelungen der Ge- (C) errecht werden mit diesem Gesetz eingeschränkt. Dies werbesteuerzerlegung nicht sachgerecht sind und die begrüßen wir; damit ist eine unserer Forderungen umge- Zielsetzung einer angemessenen Beteiligung der Stand- setzt worden. ortkommunen am Steueraufkommen mit der bisherigen Regelung nicht erreicht wird. Die Bundesländer schla- Ein zweiter wichtiger offener Punkt war, hybride Ge- gen deshalb vor, statt des Buchwertes des Sachanlage- staltungen endlich zu besteuern. Auch hierauf haben wir vermögens künftig die installierte Leistung als Maßstab in unserem Entschließungsantrag Ende letzten Jahres zu nehmen. Dies soll zu einer gerechteren Verteilung des hingewiesen. Aktuell werden diese Finanzinstrumente Steueraufkommens zwischen den Gemeinden führen. vielfach nicht besteuert, weil die Steuersysteme der ein- zelnen Länder sehr unterschiedlich sind. So ist zum Bei- Wir halten das für einen guten Ansatz, der aber im spiel in einem Land eine Zinszahlung eine abziehbare weiteren Verlauf der Beratungen noch einmal sorgfältig Betriebsausgabe und in dem anderen Land wird diese als geprüft werden muss. Wir sollten uns bei diesem wichti- Dividendenertrag freigestellt. Diese Unterschiede bei gen Detail, das zu einer höheren Akzeptanz der Kommu- der Qualifizierung bestimmter Zahlungen sind seit vie- nen in Hinblick auf die Belastungen durch den Betrieb len Jahren bekannt. Die Lösung ist, sogenannte Korres- von Erneuerbare-Energie-Erzeugung führen soll, wirk- pondenzregelungen einzuführen, das heißt die unter- lich vergewissern, dass die vom Bundesrat vorgeschla- schiedlichen Regelungen der Länder zu verzahnen. gene Regelung sachgerecht ist. Wenn wir uns die Unsi- Hierzu hat die OECD im Rahmen des BEPS-Projektes cherheit anschauen, die die CSU bei den Kommunen mit Vorschläge gemacht. Das würde bedeuten, den Betriebs- ihrem unsäglichen Zirkus um Trassen und die Abstands- ausgabenabzug von Zahlungen ins Ausland zu versagen, regelung bei Windrädern – Stichwort 10 Horst – entfacht wenn diese Zahlung beim Empfänger steuerfrei gestellt hat, so ist hier Sorgfalt und Augenmaß gefragt. ist. So wird verhindert, dass Unternehmen in keinem der Wir Grünen werden bei dem vorliegenden Gesetz beiden Länder Steuern zahlen. sorgfältig darauf achten, dass längst überfällige Maßnah- Die Bundesregierung hatte in ihrer Protokollerklä- men zur Verhinderung von Steuergestaltung auch auf na- rung versprochen, Anfang 2015 eine Bund-Länder-Ar- tionaler Ebene umgesetzt werden. Darum wird es in den beitsgruppe ins Leben zu rufen. Wenn wir hier etwas anstehenden Beratungen zu diesem Gesetz gehen. misstrauisch sind, dann aus gutem Grund: In den Bund- Länder-Arbeitsgruppen wurde in der Vergangenheit der Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär beim Bun- politische Prozess nicht unbedingt beschleunigt, zudem desminister der Finanzen: Mit dem vorliegenden Ge- war die Arbeitsweise oft intransparent. Es verstreichen setzentwurf soll die Protokollerklärung der Bundesregie- (B) Wochen und Monate – und das Ziel gerät aus dem Blick- rung vom 19. Dezember 2014 gegenüber dem Bundesrat (D) feld. zum Zollkodex-Anpassungsgesetz umgesetzt werden. Dies scheint auch hier wieder die Taktik zu sein. Die Der Gesetzentwurf enthält insbesondere Maßnahmen, Arbeitsgruppe wurde zwar einberufen, tagte allerdings die der Bundesrat bereits im Rahmen des Zollkodex-An- erst ein Mal, und zwar am 16. Januar – ohne irgendwel- passungsgesetzes vorgeschlagen hatte, deren fachliche che inhaltlichen Ergebnisse zu erzielen. Zeitnah sollte Prüfung zum Abschluss des damaligen Gesetzgebungs- ein Gesetzentwurf erarbeitet werden – dieser liegt bisher verfahrens noch andauerte. Nachdem die von der Bun- nicht vor. Das ist ein untragbarer Zustand und ein wei- desregierung zugesagte Prüfung nunmehr abgeschlossen teres Indiz dafür, dass diese Bundesregierung und ins- ist, werden diese Maßnahmen – wie in der Protokoll- besondere Bundesfinanzminister Schäuble bei der Ein- erklärung angekündigt – jetzt umgesetzt. dämmung von Steuergestaltung und Steuervermeidung keineswegs eine Vorreiterrolle einnimmt, sondern im ab- Dies betrifft unter anderem folgende Maßnahmen: soluten Schneckentempo dahinschleicht. Erstens. Schließung von Lücken im Umwandlungs- Wir fordern die Bundesregierung auf, das Thema Ein- steuergesetz (§ 20 Absatz 2, § 21 Absatz 1, § 24 Absatz 2 dämmung von Steuergestaltung endlich anzugehen und und § 27 Absatz 11 UmwStG): Das Umwandlungssteu- Korrespondenzregelungen zur Vermeidung von hybriden ergesetz verfolgt den Zweck, betriebswirtschaftlich sinn- Gestaltungen nun zeitnah umzusetzen, um weitere Steu- volle Umstrukturierungen nicht durch steuerliche Folgen erausfälle zu verhindern, und diese Maßnahmen nicht zu behindern. In einzelnen Punkten ist das Umwand- wieder zu verschleppen. lungssteuergesetz aber nicht folgerichtig ausgestaltet. Es hat sich gezeigt, dass die daraus resultierenden Gesetzes- Der Bundesrat hat in das vorliegende Gesetz in seiner lücken gezielt für Steuergestaltungen ausgenutzt werden. Stellungnahme sein Steuervereinfachungspaket von 2013 Vor diesem Hintergrund hatten wir in unserem Koali- eingebracht. Dieses wurde bisher nicht im Bundestag tionsvertrag vereinbart, zu prüfen, wie verhindert werden parlamentarisch beraten. Es enthält einige begrüßens- kann, dass im Umwandlungssteuerrecht Anteilstausch werte Vorschläge. und Umwandlungen mit finanziellen Gegenleistungen systemwidrig steuerfrei gestaltet werden können. Herausgreifen möchte ich dabei heute die Nachbesse- rungen bei der Gewerbesteuerzerlegung bei Erneuer- Mit der Änderung des Umwandlungssteuergesetzes bare-Energien-Anlagen. Hier geht es darum, die Stand- wird die bisherige Möglichkeit, sonstige Gegenleistun- ortgemeinden von Wind- oder Sonnenenergieanlagen gen in Höhe des Buchwerts des eingebrachten Wirt- angemessen an der Gewerbesteuer des Betreibers zu schaftsguts erbringen zu können, ohne die Steuerneutra- 10228 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 106. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 21. Mai 2015

(A) lität der Einbringung zu gefährden, eingeschränkt. Dabei sung an die BFH-Rechtsprechung. Damit wird die für (C) wird die Zuzahlungsmöglichkeit auf 25 Prozent des den Rechtsanwender dringend erforderliche Rechts- Buchwerts des eingebrachten Betriebsvermögens oder sicherheit geschaffen. auf maximal 300 000 Euro begrenzt. In begrenztem Umfang werden außerdem auch Rege- Die Änderungen greifen ein Petitum des Bundesrates lungen umgesetzt, die nicht bereits Gegenstand der Be- zum Entwurf des Gesetzes zur Anpassung der Abgaben- ratungen zum Zollkodex-Anpassungsgesetz waren. Dies ordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung betrifft beispielsweise die Abschaffung des Funktionsbe- weiterer steuerlicher Vorschriften auf und setzen einen nennungserfordernisses beim Investitionsabzugsbetrag Vorschlag um, den eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe er- (§ 7 g EStG): Investitionsabzugsbeträge nach § 7 g EStG arbeitet hat. ermöglichen die Vorverlagerung von Abschreibungsvo- lumen in ein Wirtschaftsjahr vor Anschaffung oder Her- Zweitens. Verlustabzugsbeschränkung bei Körper- stellung eines begünstigten Wirtschaftsgutes. schaften; Ausdehnung der Konzernklausel (§ 8 c Ab- satz 1 Satz 5 KStG): Mit der Neuregelung wird die Durch die vorgesehene Neuregelung ist es künftig Konzernklausel – das heißt die Ausnahme von der Ver- nicht mehr erforderlich, dass bei der Anwendung des lustverrechnungsbeschränkung – unter anderem auf Fall- § 7 g EStG das Wirtschaftsgut, für das der Abzugsbetrag konstellationen ausgedehnt, in denen die Konzernspitze in Anspruch genommen werden soll, seiner Funktion Erwerber oder Veräußerer ist. Außerdem wird generell nach zu benennen ist. Kurz: Das Funktionsbenennungs- auch eine Personenhandelsgesellschaft als Konzern- erfordernis beim Investitionsabzugsbetrag wird abge- spitze zugelassen. Die Änderung entspricht der bereits schafft. Dadurch wird die Wettbewerbssituation kleiner bei Einführung der Ausnahmeregelung bestehenden ge- und mittlerer Betriebe verbessert, deren Liquidität und setzgeberischen Intention, Verlustvorträge bei konzern- Eigenkapitalbildung unterstützt und die Investitions- und internen Umstrukturierungsmaßnahmen zu erhalten. Innovationskraft gestärkt. Insgesamt wird die Anwendung der Vorschrift verein- Drittens. Grunderwerbsteuer bei Änderungen im Ge- facht: Dies wird daran deutlich, dass sich der Erfüllungs- sellschafterbestand (§ 1 Absatz 2 a Satz 2 bis 4 GrEStG): aufwand für die Wirtschaft durch die Abschaffung des Die Regelung präzisiert den für die Tatbestandserfüllung Funktionsbenennungserfordernisses um jährlich rund der Grunderwerbsteuer notwendigen Umfang einer mit- 162 000 Euro verringert. telbaren Änderung der Beteiligungsverhältnisse. Die Änderung des § 1 Absatz 2 a GrEStG erfolgt zur Schlie- Ich möchte Sie daher ganz herzlich um Unterstützung ßung der bestehenden Regelungslücke und zur Anpas- dieses Gesetzentwurfs bitten. (B) (D)

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