Sonntag, 4.Oktober 2020 15.04 – 17.00 Uhr

Ludwig van Beethoven Eine Sendereihe von Eleonore Büning

40. Folge: „Wahrheit nie, auch sogar am Throne nicht verleugnen“

Willkommen zu einer neuen Folge, ich grüße Sie! Es gibt viele schöne Anekdoten rund um Ludwig van Beethoven, einige sind frei er- funden, diese hier dürfte authentisch sein: Im Sommer des Jahres 1817 traf sich Christoph Kuffner, seines Zeichens Redakteur der „Wiener Zeitschrift für Kunst, Li- teratur und Mode“, im Gasthaus „Zur Rose“ in Nussdorf mit Beethoven zum Mittag- essen. Es gab frischen Fisch, und er befragte ihn, beiläufig, nach seiner Lieblings- Symphonie: „Ganz vergnügt antwortete Beethoven, ‚Eh, eh, die Eroica’. ‚Ich hätte gedacht, die C-Moll‘, sagte Kuffner. ‚Nein, die Eroica‘, entgegnete Beethoven.“

DG Musik 1): Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr.3 Es- 6:22 479 3106 Dur, op. 55 („Eroica“). Daraus: 3.Satz („Scher- zo. Vivace“) LC 0173 CD 7 Berliner Philharmoniker Ferenc Fricsay (Leitung) Track <3> (1957/2014)

Hörnerschall im Wienerwald: Der Held geht auf die Jagd. Das war der dritte Satz, „Scherzo.Vivace“, aus der dritten Symphonie op. 55 Es-Dur von Ludwig van Beethoven. Ferenc Fricsay dirigierte die Berliner Philharmoniker. Eine schlanke In- terpretation– klar, unbeschwert, ohne auftrumpfendes Pathos, und ohne jede Spur von „arisch“ vernebelter Heldentümelei, wie sie noch eine Generation vorher zum guten Beethoven-Ton gehört hatte: Ferenc Fricsay dirigierte anno 1957 eine Nach- kriegs-Eroica. Beethovens „Lieblingssymphonie“ ist, anders als, zum Beispiel die fünfte Sympho- nie, kein Instrumentalstück, dem der außermusikalische Titel erst nachträglich an- gedichtet wurde. Eigentlich handelt es sich um eine zünftige Programmsymphonie mit einem Sujet, darin vergleichbar der „Pastorale“ oder sogar der Schlachtsym- phonie „Wellingtons Sieg“. Auch die „Eroica“ erzählt eine Geschichte, sie hat einen Protagonisten. Von Beethoven selbst gibt es dazu mehrfach schriftliche Hinweise.

rbbKultur Ludwig van Beethoven – 40. Folge Seite 2 von 12

Ob er wirklich in dieser Symphonie hatte porträtieren wollen? Und die Widmung wütend ausradiert hat, als der sich zum Kaiser krönte? Das ist wieder so eine schöne, erst posthum ausformulierte Anekdote. In der Originalausgabe er- gänzte er den Titel mit dem Zusatz: „composta per festeggiare il sovvenire di un grand Uomo“ – „komponiert, um die Erinnerung an einen großen Mann zu feiern“. Wer ist dieser „große Mann“, an dessen Kampfeslust, Jagdvergnügen, Trauer, Tod und Überwindung in dieser Symphonie erinnert werden soll? Wen hat Beethoven gemeint? Darauf gibt es bis heute keine eindeutige Antwort. Neben dem nach wie vor populärsten Kandidaten Napoleon kommen auch noch andere in Frage, bei- spielsweise Prinz Louis Ferdinand von Preußen. Und jede Generation hat sich dann, je nach dem Zeitgeist, ihre eignen „Eroica“-Helden imaginiert. Es war , der sich 1926 aus politisch-polemischen Gründen rabiat aus dieser Debatte verabschiedete: Dirigenten, so Toscanini, sollten sich gefälligst nur an das halten, was in der Partitur steht. Wörtlich sagte er. „Für einige ist es Na- poleon; für andere ist es Hitler oder Mussolini. Für mich ist es einfach: Allegro con brio.“

Naxos Musik 2): Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr.3 Es- ca 1:00 8.110802-3 Dur op.55 („Eroica“).Daraus: 1.Satz „Allegro LC 05537 con brio“

CD 2 NBC Symphony Orchestra Arturo Toscanini (Leitung) Track <2> (1939/1998)

AUSSCHNITT langsam ausblenden nach 0:54, ganz weg bei 1:02, evtl. unter die Abmod.legen

„Allegro con brio“: So beginnt die dritte Symphonie Beethovens, mit zwei Tut- tischlägen und frischem Mut. Im Kontext unserer Beethovenreihe, im Lauf dieses Beethovenjahres, ist diese Es- Dur-Signalfanfare schon etliche Male erklungen. Diesmal wurde sie gespielt vom NBC Symphony Orchestra unter Leitung von Arturo Toscanini – eine Aufnahme aus dem Jahr 1939. Auch Toscaninis Bonmot, betreffend mögliche „Eroica“-Heldenna- men, kam schon einmal vor, zu Beginn dieser Sendereihe. Allerdings habe ich To- scanini damals in einer anderen Version zitiert, nämlich so, wie sie nachzulesen ist in neueren Beethovenbüchern, die nach 1945 erschienen sind. Da heißt es: „Für ei- nige ist es Napoleon; für andere ist es Alexander der Große; wieder andere sagen, es sei ein philosophischer Diskurs.“ Inzwischen habe ich den originalen Wortlaut dieses Toscanini-Zitats gefunden und festgestellt, dass die deutsche Version eine

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbkultur.de rbbKultur Ludwig van Beethoven – 40. Folge Seite 3 von 12 ziemlich freie Übersetzung ist. Sie geht zurück auf einen Bericht des amerikani- schen Pulitzer-Preisträgers Harold C. Schonberg. Schonberg war Toscaninibio- graph, er hat noch selbst mit ihm gesprochen. Und hier der Wortlaut des Toscanini- Zitats, im Original: „Some say this is Napoleon, some Hitler, some Mussolini. For me it is simply Allegro con Brio.“ Wann und von wem dieser bitterböse Satz von den Spuren der jüngsten Geschichte gereinigt wurde und Adolf Hitler ersetzt wurde durch Alexander den Großen, ist un- klar. Es ist vielleicht auch gar nicht so wichtig. Der Vorgang an sich spricht für sich. Er zeigt, wie nachhaltig nicht nur die Beethovensche Musik, sondern eben auch die Beethovenrezeption politisch vereinnahmt werden kann. Selbst unser kritisches Nachdenken über Beethoven wird immer wieder neu übermalt, bis hin zur inneren Selbstzensur, damals, wie heute. „Allegro - ma non troppo“. So endet Beethovens Klaviersonate f-moll op.5. Maxim Gorki berichtet: Lenin habe zu weinen begonnen, als er diese Musik hörte:

Sony/Co- Musik 3): Ludwig van Beethoven: Klaviersonate f-moll 8:03 lumbia op.57 („Appassionata“) Daraus: 3.Satz („Alle- SM5K gro, ma non troppo“) 87993

LC 06868 Rudolf Serkin (Klavier) CD 3 (1962/2003)

Track <3>

Rudolf Serkin spielte den dritten Satz – „Allegro ma non troppo“ („Nicht allzu hei- ter“) aus der Sonate f-Moll op. 57 von Ludwig van Beethoven. Dieser Sonate wurde, zwölf Jahre nach Beethovens Tod, von dem Hamburger Mu- sikverleger August Cranz der verkaufsträchtige Untertitel „Appassionata“ verlie- hen. Als solche ist sie heute bekannt: als die „Leidenschaftliche“. Reichskanzler Otto von Bismarck liebte sie ganz besonders. Sie erinnere ihn, so sagte er, an „das Ringen und Schluchzen eines ganzen Menschenlebens. Wenn ich diese Musik oft hörte, würde ich immer sehr tapfer sein.“ Auch Wladimir Iljitsch Lenin, der ansonsten mit Musik nicht viel am Hut hatte, ver- fiel dieser f-Moll-Sonate auf Anhieb, als er sie im Oktober 1920 kennenlernte, in ei- nem Moskauer Hauskonzert, gespielt von Issai Dobrowen. Er hängte einen Teil sei- ner Lebensphilosophie daran auf. Lenin sagte: „Ich… könnte sie jeden Tag hören. Eine wunderbare, nicht mehr menschliche Musik! Ich denke mit Stolz, vielleicht nai- vem Stolz; ‚Seht mal, solche Wunderwerke können die Menschen schaffen!‘ Dann kniff er die Augen zu, lächelte, und setzte mit einem Anflug von Traurigkeit hinzu: ‚Doch allzu oft kann ich diese Musik nicht hören, sie greift die Nerven an, man

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbkultur.de rbbKultur Ludwig van Beethoven – 40. Folge Seite 4 von 12 möchte nette, törichte Dinge sagen und den Menschen, die in dieser schmutzigen Hölle leben und trotzdem solche Schönheit schaffen können, den Kopf streicheln. Heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln, die Hand wird einem sonst abgebissen. Man muss die Köpfe einschlagen, mitleidlos.“ Soweit Lenin über Beethovens „Appassionata“, aufgezeichnet oder vielleicht auch erfunden von sei- nem Weggefährten Maxim Gorki. Diese Hauskonzert-Szene wurde berühmt. Sie wurde in Öl gemalt und im Film nachgestellt – so sind Beethoven-Mythos und Lenin- Legende miteinander verschmolzen. Die Reihe der Politikerzitate ließe sich fortsetzen. Ja, man könnte ein ganzes Büch- lein daraus machen, ein Gruselkabinett der politischen Beethovenrezeption. Und da- bei merken: Es gibt, bei allen Unterschieden, auch Ähnlichkeiten in den Beethoven- bekenntnissen der diversen Diktatoren oder Demagogen – oder auch Demokraten. Ob Beethoven als Menschheitsbeglücker oder als Arbeiterbefreier gerühmt oder als Übermensch herbeizitiert wird – die Denkmuster sind die gleichen. Alle berauschen sich an der Energie dieser Musik. Alle bauen auf den Impuls des „Weitergehens“. Ein „Herzklopfen der Freiheit“ vernimmt der Schirmherr des Beethovenjahrs 2020, Frank-Walter Steinmeier, in den Anfangstakten der Fünften. „Wenn ich Beethoven höre, werde ich tapferer sein“ hieß die Titelgeschichte in der „Deutschen Militär- Musiker-Zeitung“ im Juli 1942. Soviel zur Bandbreite von Beethovens politischer Benutzeroberfläche. Eine andere Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist, lautet: Wie hielt es Beethoven mit der Politik? Und was hielt er von den Politikern seiner Zeit?

Hänssler Musik 4): Ludwig van Beethoven: Fünf Variationen D- 4:58 Classic Dur über „Rule Britannia“ WoO 79 CD 98.599

LC 06047 Florian Uhlig (Klavier) (2007/2009) Track <1>

Florian Uhlig spielte die „Fünf Variationen in D-Dur WoO 79“ über die Hymne „Rule, Britannia!“ von Ludwig van Beethoven. Diese kurze, witzige Variationenfolge mit dem drohend grummelnden hat es in sich. Beethoven schrieb sie im Sommer 1803 aus freien Stücken. Es gab keinen An- lass dazu. Keinen Auftraggeber, keinen Widmungsträger, keine Opuszahl. Jedoch: Entwürfe zu diesen Variationen finden sich bereits in einem der „Eroica“-Skizzen- bücher von 1802. Die „Rule Britannia“-Variationen gehören also, chronologisch be- trachtet, zur sogenannten heroischen Periode – und das gleiche gilt für das parallel entstandene Schwesterwerk, die „Sieben Variationen C-Dur über „God Save The King“ WoO 78. Allerdings passten diese beiden anglophilen, leichtfüßigen Werke

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbkultur.de rbbKultur Ludwig van Beethoven – 40. Folge Seite 5 von 12 nicht recht ins Bild. Vom Sujet her zu konterrevolutionär. Vom Anspruch her zu bil- lig. Beethoven habe, so hieß es, diese Stücke nur aus Geldgründen komponiert, als Gelegenheitswerke, für den klavierklimpernden Hausmusikmarkt. Dagegen spricht, dass er beide Variationenzyklen nacheinander verschiedenen Verlegern anbot, Sim- rock in Bonn und Breitkopf in Leipzig, niemand wollte sie zunächst haben. Wozu hat er sie also komponiert? Eine Antwort liefert der Blick in den Kriegs- und in den Konzertkalender des Jahres 1803. Am 25. Februar tagte in Regensburg der Reichsdeputationshauptausschuss, unter Federführung , des Siegers nach Punkten im zweiten Koalitionskrieg. Ziel dieser Tagung war eine „Flurbereini- gung“ des Heiligen Römischen Reiches, betroffen auch die linksrheinischen Gebiete, Beethovens alte Heimat. Am 5. April brachte Beethoven in Wien sein drittes Klavier- konzert zur Uraufführung, es ist dem preußischen Apoll gewidmet: Prinz Louis Fer- dinand. Am 18. Mai erklärte King George III oder vielmehr sein Premierminister Wil- liam Pitt, gebeutelt von der Kontinentalsperre, Frankreich erneut den Krieg, im Al- leingang. Napoleon besetzt Kur-Hannover, er bereitet die Invasion Englands vor. Wenn in dieser brenzligen Situation, quasi auf dem Pulverfass, ein namhafter Wie- ner Komponist sich mit patriotischen britischen Anthems befasst, ist das ein klares Statement. Es impliziert eine Kritik an Napoleons Eroberungspolitik, lange, bevor der sich zum Kaiser krönte. Es wendet sich auch, ganz im Sinne Louis Ferdinands, gegen den faulen Frieden, zu dem Preußen und Österreich bereit waren. Aber vor allem sind diese Variationen eine Solidaritätserklärung mit dem britischen Löwen: „God Save The King“:

Hänssler Musik 5): Ludwig van Beethoven: Sieben Variationen C- 8:06 Classic Dur über „God Save the King“ WoO 78 CD 98.599

LC 06047 Florian Uhlig (Klavier) (2007/2009) Track <7>

Kurz vor Schluss der Variationen über „God Save The King“ hat der Pianist Florian Uhlig eine eigene Kadenz eingefügt. Was durchaus erlaubt ist; es war seinerzeit nicht unüblich. Beethoven hatte an dieser Stelle eigens zu diesem Zweck einen Dop- pelstrich gesetzt. Wenn Sie also eben den Big Ben haben läuten hören – dieser Joke stammt nicht vom Komponisten, sondern vom Interpreten. Sollte Beethoven diese Variationen auch selbst zum Besten gegeben haben, was höchst wahrscheinlich ist, hat er sicherlich ebenfalls ein paar improvisatorische Korken knallen lassen, viel- leicht sogar ein paar Takte der Marseillaise hineingemogelt. Das wäre, in der von Kriegen zerrütteten, von Widersprüchen geprägten politischen Umbruchssituation, typisch gewesen für ihn und für seine spezielle Art grimmigen Humors.

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbkultur.de rbbKultur Ludwig van Beethoven – 40. Folge Seite 6 von 12

Im Übrigen hat Beethoven die Marseillaise, die zuerst als „Chant de guerre pour l’armée du Rhin“ (als: „Kriegslied der Rheinarmee“) bekannt wurde, zu keiner Zeit in seinen Werken zitiert. Vielleicht: deshalb. Viele andere französische Revolutions- lieder fanden Eingang in seine Musik. Viele andere Komponisten, darunter auch An- tonio Salieri, der immerhin bei Hofe angestellt war, zitierten die Marseillaise, ohne von der Zensur behelligt zu werden. Zwölf Jahre und drei antinapoleonische Koalitionskriege später hat Beethoven dann die beiden britischen Nationallieder noch einmal verwendet. Er setzte, zur Feier des Friedens, einen britischen Militärsieg in Musik – keinen österreichischen. Die Uraufführung dieser bombastischen Symphonie „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria“ fand im Dezember 1813 statt, im Rahmen eines vaterländi- schen Wohltätigkeitskonzerts, zugunsten der invalide aus dem Krieg zurückgekehr- ten Soldaten. Das Stück schildert, mittels drastisch-dramatischer Tonmalerei, ein militärisches Ereignis, das gerade erst ein halbes Jahr zurücklag. Die französische Armee prallt auf die britische Armee. Auf Seiten der Engländer er- tönt das stolze „Rule Britannia“. Die Franzosen halten nicht mit der „Marseillaise“ oder „Ça ira“ dagegen; sie müssen sich begnügen mit einem drittklassigen Spott- lied: „Marlborough s’en va t’en guerre“. Wir hören jetzt den zweiten Teil von „Wellingtons Sieg“, mit prunkvollen Variationen über „God Save The King“. Bevor diese „Sieges-Symphonie“ in die Zielgerade einbiegt, ertönt, zart und inständig, der Anfang der künftigen Ode an die Freude. Und geht dann über in ein flottes Fugato. Es spielt: Die Academy of St.Martin in the Fields:

Philips Musik 6): Ludwig van Beethoven: Wellingtons Sieg oder 7:04 4262392 die Schlacht bei Vittoria op.91. Daraus: Teil II, Siegessymphonie LC 0305

Track <6> Academy of St.Martin in the Fields Sir Neville Marriner (Leitung) als Wav-Da- (1998/2006) tei auf Stick

„Wellingtons Sieg“. Die Academy of St.Martin in the Fields spielte daraus die „Sie- ges-Symphonie“. Die Leitung hatte Neville Marriner. Diese Aufnahme ist aus patriotischen Gründen open air entstanden, am Original- schauplatz, bei dem Städtchen Vitoria, im spanischen Baskenland. Da kennen die Engländer nichts! Nach der Wiener Uraufführung, im Dezember 1813, gab Ludwig van Beethoven in seiner Danksagung an die Mitwirkenden zu Protokoll, dass damit „der schon lange bei mir gehegte sehnliche Wunsch (…) unter den gegenwärtigen

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbkultur.de rbbKultur Ludwig van Beethoven – 40. Folge Seite 7 von 12

Zeitumständen auch eine größere Arbeit von mir auf den Altar des Vaterlandes nie- derlegen zu können“ in Erfüllung gegangen sei. Und in sein Tagebuch notierte er, selbstbewusst: „Ich muss den Engländern ein wenig zeigen, was in der (Hymne) God save the King für ein Segen ist.“ Gewidmet hat er das Werk offiziell dem Prinzre- genten Georg August Friedrich von England, dem späteren Charles IV, der davon noch nicht einmal Notiz nahm. Die vielen kleineren Arbeiten, die Beethoven außerdem noch während des Wiener Kongresses auf dem Altar des Vaterlandes opferte, werden heute überhaupt nicht mehr aufgeführt. Sie gehören nicht gerade zu den raffiniertesten Kompositionen, die er hinterlassen hat. Im April 1814 beteiligte er sich an einem Pasticcio namens „Die gute Nachricht“. Wobei diese gute Nachricht, kurz und bündig, lautet: Die Trup- pen Blüchers sind in Paris einmarschiert. Den Text zu diesem vaterländischen Sing- spiel schrieb Friedrich Treitschke. Die Musiknummern wurden komponiert von Jo- hann Nepomuk Hummel, Joseph Weigl, Adalbert Gyrowetz und Friedrich August Kanne. Beethoven übernahm den Schlusschor. Er ist staunenswert langweilig gera- ten. Aber auch erstaunlich kurz: Dauert nur viereinhalb Minuten:

DG 483 6791 Musik 7): Ludwig van Beethoven: WoO 94. 4:36 Finaleszene zu dem Schauspiel „Die gute LC 0173 Nachricht“ von Friedrich Treitschke

CD 31 Gerald Finley (Bariton) BBC Singers Track <13> BBC Symphony Orchestra Andrew Davis (Leitung) (1991/2020)

„Germania, Germania, wie stehst du jetzt im Glanze da!“ Mit diesem hölzernen Reim wird das Happy End gefeiert in dem Schauspiel „Die gute Nachricht“. Vorsänger war Gerald Finley, außerdem musizierten die BBC Sin- gers und das BBC Symphony Orchestra unter Leitung von Andrew Davis. Nicht minder hölzern ist die Musik zu diesen Versen. Der britische Musikkritiker Norman Lebrecht vermutet, dass Ludwig van Beethoven um 1814 herum, während des Wiener Kongresses, zum Opfer einer Art Gehirnwäsche geworden sei: „caught up in some kind of mass hysteria“ – einer Massenhysterie im Zuge des allgemeinen vaterländischen Glückstaumels nach dem Ende der Befreiungskriege. Anders kann er sich diese schlechte Chorkomposition nicht erklären. Es sei dies, so Lebrecht, die schlechteste Komposition, die Beethoven je geschrieben habe. Dem ist nichts hinzu- zufügen. Sie hören rbbKultur, unsere Beethovenreihe. Am Mikrophon: Eleonore Büning

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbkultur.de rbbKultur Ludwig van Beethoven – 40. Folge Seite 8 von 12

Und darum geht es heute: Um Beethoven und die Politik. Dass die Politiker aller Couleur und zu allen Zeiten gern Gebrauch gemacht haben von der Beethoven- schen Musik, versteht sich von selbst. Das war und ist seit jeher eine der Hauptauf- gaben der schönen Künste: Sie schmücken die Selbstdarstellung der Herrschenden, akkompagnieren die Feier von Machtfülle und Machterhalt. Aber inwieweit brauchte Beethoven die Politiker? Die Antwort ist so einfach wie naheliegend: Beethoven war, jenseits seiner Kunst, kein Revolutionär – er war Kind seiner Zeit. Weil er in einem wilden, kriegsgebeutel- ten und von Paradigmenwechseln geprägten Zeitalter lebte, sind seine politischen Äußerungen, die es reichlich gibt, oft krass widersprüchlich. Seine Konversations- hefte, nach 1814, weisen ihn aus als einen „konsequenten Gegner der österreichi- schen Staatspolitik“ (Schindler). Dass er sich gleichwohl vor den Karren des europä- ischen Fürstentreffens hatte spannen lassen, ist kein Verrat an den frühen aufklä- rerischen Idealen seiner Jugend, und eben so wenig diskreditiert es die humanisti- sche Botschaft seiner Neunten. Beethovens persönliches Verhältnis zu den Herr- schenden war ambivalent, ebenso wie sein Verhältnis zu den niederen Klassen. Ei- nerseits stand er Zeit seines Lebens auf der Payroll der Vertreter des Ancien Re- gime. Andererseits verachtete er sie, ebenso, wie er die Domestiken verachtete. Im Mai 1927 druckte Karl Kraus in der Fackel ein Beethoveninterview ab, aus Anlass der Wiener Beethovenzentenarfeier. Dem verblichenen Jubilar entlockte er das mi- santhropische Bekenntnis: „Vom Kaiser bis auf den Schuhputzer sind sie alle nichts wert“. Ganz ähnlich hatte sich Beethoven schon 1810, in einem Brief an den Verle- ger Härtel geäußert, er schrieb: „Etwas Kleineres als unsere Großen giebt’s nicht“ – um freilich noch den versöhnlichen Nachsatz hinzuzufügen: „doch nehme ich die Ertzherzoge davon aus.“ Gemeint ist nur einer: Erzherzog Rudolph. Er war Beethovens zuverlässigster, selbstlosester, gescheitester Mäzen und zugleich sein Schüler. Beethoven achtete ihn, er diskutierte mit ihm, er nahm ihn ernst. Ja, mit diesem Fürsten war er, so gut ihm so etwas möglich war, befreundet. Dem Kaiser schrieb Beethoven, zu schlechten Texten, schlecht gebaute, zu laute Huldigungsmusiken. Dem Bruder des Kaisers, Erzherzog Rudolph, widmete er die abenteuerlichsten und experimentellsten Stücke, Herzensergüsse, wie, zum Bei- spiel, die Hammerklaviersonate. Oder: Die Oper Fidelio. Oder: Die Missa Solemnis. Oder diesen Klaviertrio-Satz hier, die Krönung der Beethovenschen Kammermusik, formal weit ausgreifend, in B-Dur, „Allegro Moderato“; dessen appollinisches Haupt- thema sich wie ein Lied ohne Worte selbst fortspinnt und aussingt und nicht enden will, im „piano dolce“ zwischen den harmonischen Medianten hin und her pendelnd:

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbkultur.de rbbKultur Ludwig van Beethoven – 40. Folge Seite 9 von 12

harmonia Musik 8): Ludwig van Beethoven: Klaviertrio B-Dur 12:57 mundi op. 97. Daraus: 1.Satz („Allegro modera- HMC 902125 to“)

LC 07045 Isabelle Faust (Violine) Jean-Guihen Queyras (Violincello) Track <5> Alexander Melnikov (Harmmerflügel) (2011/2014)

Soweit der erste Satz aus dem sogenannten Erzherzog-Trio, dem letzten Klaviertrio überhaupt, das Ludwig van Beethoven komponiert hat: op. 97, B-Dur. Er selbst saß am Flügel bei der Uraufführung, in einem Wohltätigkeitskonzert im Saal des Hotels zum Römischen Kaiser, am 11. April 1814. Da lag die Schlacht um Paris gerade zwei Wochen zurück, ein halbes Jahr später wurde der Wiener Kongress eröffnet. Mit Beethoven zusammen musizierten die vertrauten Freunde Ignaz Schuppanzigh und Joseph Linke, vom Schuppanzigh-Quartett. Was für ein Instrument er benutzt hat bei dieser Darbietung, ist nicht bekannt. In unserer Aufnahme spielte Alexander Melnikov auf einem Graf-Hammerflügel von 1828, wie Beethoven selbst ihn in seinen letzten Lebensjahren besaß. Außerdem spielten Isabelle Faust (Violine) und Jean-Guihen Queyras (Violoncello). Und hier sind sie mit dem zweiten Satz: einem „Scherzo-Allegro“. Ausnahmsweise steht es an dieser Stelle, vor dem langsamen Satz, so, wie es Beethoven dann später auch in der neunten Symphonie hielt. Auch dieses Scherzo, das vom Violoncello angeführt wird, mit einem kindlichen, aus der Tonleiter entwickelten Hauptthema, ist komple- xer ausgeführt, und abgründiger, als es anfangs erscheint. Die verspielte Idylle wird unterbrochen von einem dunkel chromatisch murmelnden Trio, in dem sich Fugato- passagen öffnen und ein diabolischer Wiener Walzer aufglimmt. Und dann taucht die Schauer-Chromatik überraschend noch einmal ganz zum Schluss auf, wie um die Coda ein bisschen zu versalzen:

harmonia Musik 9): Ludwig van Beethoven: Klaviertrio B-Dur 6:16 mundi op. 97. Daraus: 2.Satz („Scherzo-Allegro“) HMC 902125 Isabelle Faust (Violine) Jean-Guihen Queyras (Violincello) LC 07045 Alexander Melnikov (Harmmerflügel) Track <6> (2011/2014)

Isabelle Faust (Violine), Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Alexander Melnikov (Hammerflügel) spielten den zweiten Satz – „Scherzo-Allegro“ – aus dem Klaviertrio B-Dur op. 97 von Ludwig van Beethoven. An diesem Klaviertrio hat Beethoven lange gearbeitet. Erste Entwürfe gehen zu- rück bis ins Jahr 1810. Es hat, wie die mittleren Streichquartette, vom Klangbild her

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbkultur.de rbbKultur Ludwig van Beethoven – 40. Folge Seite 10 von 12 einen Zug ins Symphonische und was die Binnenstruktur der vier Sätze anbelangt, steckt es sowohl harmonisch wie auch motivisch-thematisch voller Überraschun- gen. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, dass der langsame Satz, „Andante cantabile, ma però con moto“, als ein reich figurierter Variationensatz auftritt; aber es sind nur vier Variationen und sie fließen eine aus der anderen heraus, wie in einem lan- gen, bei aller Bewegtheit ruhigen Strom. Dabei wird das festliche Thema in der leuchtenden Tonart D-Dur nicht einmal angegriffen, zerlegt oder gar verlassen. Es bleibt immer gegenwärtig. Der Übergang in den Finalsatz, nach einer langen, selbst- vergessenen, liebenswürdigen Coda, ist ein Meisterwerk für sich. Bezaubert davon ist sogar Walter Riezler, ein nüchterner und gerechter Musikwis- senschaftler, der sonst nicht so leicht ins Schwärmen gerät. Riezler schreibt: „Diese Coda gehört zu den erhabensten Gedanken Beethovens: es ist wunderbar, wie hier einzelne Motivsplitter des Themas aufgenommen und zu einer neuen Melodie von größter Innigkeit entwickelt werden. Wenn dann das Finale mit seinem derben Hu- mor hineinspringt – „mit Peitschenhieb“ – wie Richard Wagner einmal gesagt hat, ist das einer der kühnsten, grellsten Kontraste, die Beethoven je gewagt hat.“ Soweit Riezler. Hier sind Isabelle Faust, Jean-Guihen Queyras und Alexander Melni- kov mit dem dritten und vierten Satz aus dem Erzherzog-Trio op. 97, B-Dur:

harmonia Musik 10): Ludwig van Beethoven: Klaviertrio B-Dur 18:13 mundi op. 97. Daraus: 3. & 4.Satz („Andante canta HMC 902125 bile, ma però con moto“ & „Allegro moderato - Presto“) LC 07045 Isabelle Faust (Violine) Track Jean-Guihen Queyras (Violincello) <7 & 8> Alexander Melnikov (Harmmerflügel) (2011/2014)

Es verklang das Finale – „Allegro moderato - Presto“ - aus dem Klaviertrio B-Dur, op. 97, von Ludwig van Beethoven. Gespielt von Isabelle Faust (Violine), Jean-Gui- hen Queyras (Violoncello) und Alexander Melnikov (Hammerflügel). Dieses sein letztes Klaviertrio war ein Abschied in doppelter Hinsicht: Zum letzten Mal nämlich trat Beethoven bei der Uraufführung 1814 als Pianist öffentlich in Er- scheinung. Im Druck kam das Werk dann erst zwei Jahre später heraus, im Verlag Steiner und Company, mit dem Vermerk: „Seiner kaiserlichen Hoheit, dem durch- lauchtigsten Prinzen Rudolph, Erzherzog von Österreich, in tiefer Ehrfurcht gewid- met.“ Im Jahr 1793 schreibt der dreiundzwanzigjährige Ludwig van Beethoven in das Stammbuch einer jungen Dame einen Satz aus Friedrich Schillers „Don Karlos“, mit dem er sich identifiziert: „Ich bin nicht schlimm – heißes Blut / ist meine Bosheit,

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbkultur.de rbbKultur Ludwig van Beethoven – 40. Folge Seite 11 von 12 mein Verbrechen Jugend /(…) Wenn auch oft wilde Wallungen mein Herz verklagen / Mein Herz ist gut.“ Und, im Anschluss an dieses Zitat, ergänz er, in eignen Wor- ten: „Wohlthun, wo man kann, die Freiheit über alles lieben, die Wahrheit nie, auch sogar am Throne nicht verleugnen.“ In den 1820er Jahren, wiederum im Gespräch mit Freund Christoph Kuffner, der erwiesenermaßen ein Gegner des Metternichsys- tems war, findet sich in den Konversationsheften die hoffnungsvolle Notiz: „Der Geist der Zeit lässt sich durch nichts hemmen. Es ward Licht – und nu kann’s nie mehr ganz Nacht werden.“ Dazwischen liegt ein Leben zwischen allen Stühlen, voller Widersprüche. Beethoven komponierte, lange vor „Wellingtons Sieg“, Marschmusiken für die österreichischen Truppen und Huldigungsmusiken für die österreichischen Kaiser. Er firmierte als freier Komponist, wurde aber zeitlebens finanziert von Vertretern des Ancien Régime, mit denen er ebenso freundschaftlich umging wie mit etlichen republikani- schen Musikerkollegen. Einige Blaublüter achtete er, andere verachtete er. Und er glaubte auch gern dem Gerücht, wonach er selbst adelig und ein illegitimer Sohn des Preußenkönigs sei. Beethoven wusste sehr genau den Wert dessen einzuschät- zen, was er als Künstler schuf. Dass alle Menschen gleich sind und gleich zu behan- deln, diesen aufgeklärten Grundsatz hat er selbst nicht angewendet, jedenfalls nicht gegenüber den niederen Klassen, etwa seinen Dienstmädchen, Kopisten und Boten.

Sony Classi- Musik 11): Ludwig van Beethoven: Ludwig van Beetho 6:27 cal 8869 ven: Symphonie Nr.3 Es-Dur op.55 7927172 („Eroica“). Daraus: 4.Satz (Finale. Allegro Molto“) LC 06868 CD 3 Wiener Philharmoniker Christian Thielemann (Leitung) Track <4> (2009/2011) Ausschnitt: rein bei 6:39, bis Trackende. Oder: irgend wo später einblenden, auf Zeit.

Mit dem Finale der „Eroica“ geht die Beethovenreihe für heute zu Ende. Es spielten die Wiener Philharmoniker unter Leitung von Christian Thielemann.

„Wenn wir Beethovens Musik hören, (…) beispielsweise die Eroica, hören wir mehr Getöse als Musik“, lässt Thomas Bernhard in seiner Komödie „Alte Meister“ den bösartigen, ungerechten, alten Musikwissenschaftler Reger sagen. Was unerträglich sei, traurig, lächerlich, zum Weinen. „Sehen Sie, (sagte Reger), Beethoven, der Dau- erdepressive, der Staatskünstler, der totale Staatskomponist, die Leute bewundern ihn, aber im Grunde ist Beethoven doch eine durch und durch abstoßende Erschei-

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbkultur.de rbbKultur Ludwig van Beethoven – 40. Folge Seite 12 von 12 nung, alles an Beethoven ist mehr oder weniger komisch, eine komische Hilflosig- keit. (…) Ich höre die Eroica, die ja tatsächlich eine philosophische Musik ist (sagte Reger), und auf einmal ist mir alles verleidet und zerbrochen, weil ich, während die Philharmoniker das so selbstverständlich spielen, von einem Augenblick auf den an- deren, Beethovens Scheitern höre, sein Scheitern höre, seinen Marschmusikkopf sehe, verstehen Sie?“ Dies schrieb der österreichische Dichter Thomas Bernhard – oder vielmehr, dies sagte der von ihm erfundene, grantige, alte, österreichische Musikwissenschaftler Reger, der den ultimativen Durchblick hatte – in der Komödie „Alte Meister“. Wer ihn versteht, der versteht auch den politischen Beethoven.

Das Manuskript zur heutigen Sendung finden Sie auf rbbKultur.de, da steht sie kom- plett mit Musik zum Anhören online parat, noch für die ganze nächste Woche, als Podcast sogar noch länger. Mein Name ist Eleonore Büning, ich sage: Adieu und auf Wiederhören. Am nächsten Sonntag geht es um Ferruccio Busoni, den großen Pia- nistenkomponisten und Utopisten, und um seinen Lehrer, Franz Liszt. Sie waren En- kelschüler Beethovens, sie haben seine Fackel weitergetragen. Auch das Motto, pa- thoserfüllt, stammt von Busoni, es lautet: „Frei ist die Tonkunst geboren, frei zu sein ist ihre Bestimmung.“

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.rbbkultur.de