DER HAUPTSTADTBRIEF 26. Februar 2007 Hintergrund-Dienst aus Berlin für Entscheider und Multiplikatoren 85. Ausgabe

Anna und ihre drei Männer Dreizehn Werke von Tilman Riemenschneider, zusammengetragen vor allem von Wilhelm von Bode – das war bisher der stolze Berliner Bestand. Nun ist ein vierzehntes Werk des großen Meisters hinzugekommen – dank großzügiger Hilfe der Kulturstiftung der Länder, der Ernst-von-Siemens-Kulturstiftung und der Deutschen Bank. Es ist die Lindenholz-Skulpturen- Gruppe „Hl. Anna und ihre drei Männer“ (Abbildung oben). Fachleute sprechen von der wichtigsten Erwerbung für Berlin seit Jahrzehnten. Der nächste HAUPTSTADTBRIEF berichtet von Berlins jetzt 14 „Riemenschneidern“ und ihrer oft hochinteressanten Geschichte.

Airbus-Streit: Die wahren Gründe Wer darf die neuen Zukunftswerkstoffe produzieren? – Ab Blatt 3 „Jamaika“ doch eine Option?

DER HAUPTSTADTDerBRIEF Ruf Nr. nach 85 Schwarz – Grün – Gelb verstummt nicht – Ab FebruarBlatt 2007 7 Blatt  DER 85. HAUPTSTADTBRIEF

3 Airbus-Streit: Es geht, neben vielen Auf den Punkt Arbeitsplätzen, um Faserverbundwerkstoffe, denen die Zukunft gehört Beharrung ade ! 6 Impressum Wir Deutschen können weltweit begehrte Autos bauen. Und gute Maschinen. Oft sind wir sogar 7 Schwarz-Grün-Gelb – technisch führend. Auch sonst dürfen wir stolz sein Utopie oder doch einmal eine Option? auf manches. Aber im übrigen? 10 Die Bundesregierung hat jetzt ein Nicht allein, dass anderswo viele über unsere respektables Gästehaus: Schloss Meseberg Ernährungsgewohnheiten spotten. Nicht nur, dass unser Gesundheitswesen, gemessen am 13 Wo die Sympathien liegen finanziellen Aufwand, eher nur mäßig ist. Und unser Steuersystem überbürokratisch und 14 Die neuesten Umfrage-Werte (forsa): oft ungerecht. Nein – auch sonst sind wir im Zuletzt nur wenig Bewegung weltweiten Vergleich entsprechender Staaten oft eher schwach (Pisa etwa) und/oder rückständig. 15 Messe, Kulturfest und Karneval: die Berlinale 07 Weshalb? Weil wir uns mit Vorliebe ans Althergebrachte 19 Die „Schwangere Auster“ wird 50 Jahre alt klammern und nicht sehen – und soll im August wiedereröffnet werden wollen, dass der Mensch mit der ihm gegebenen Vernunft 22 Abschied von der alten Berliner Landesbank ständig an Optimierungen – der Countdown läuft arbeiten muss. Und dass man bei Veränderungen nicht zu kurz 24 Rheinsberg lockt Gesangstalente springen darf. sogar aus dem fernen an Die derzeitige Diskussion 27 Hertha BSC ununterbrochen Bruno Waltert um die Formen der Betreuung seit zehn Jahren in der Chefredakteur kleiner Kinder, von Ursula von der Leyen angestoßen, ist ein Beispiel dafür. Da gibt 30 Wie gemütlich war wohl es jene, die sich – was das Erziehungs-Engagement das Berliner Biedermeier? der Mütter angeht – aufs (vermeintlich!) Althergebrachte berufen (und damit nur zeigen, 33 Die Seligmann-Kolumne: dass sie keine 100 Jahre zurückdenken können). Anna Nicole Smith und die Grenzen Dass es anderswo – in Skandinavien, Frankreich des amerikanischen Traums und den Niederlanden etwa, selbst in den so tradi- 36 ITB 2007 im März: Vor neuen Rekorden? tionalistischen USA – längst allgemein akzeptierte wegweisende Modelle gibt, interessiert sie nicht. 36 Hannover präsentiert Kultur Dem tritt Ursula von der Leyen verdienstvoll 37 Kunst-Werke Berlin zeigen Ausstellung entgegen. Aber wir dürfen nicht zu kurz springen. Denn es geht nicht allein um das Wahlrecht der zu Fassbinders Epos „Berlin Alexanderplatz“ Frauen zwischen unterschiedlichen Modellen. 39 Der Ausnahme-Fotograf Brassaï – Noch wichtiger ist, dass bewiesenermaßen eine Retrospektive im Gropius-Bau Kinder, die schon in sehr frühen Jahren eine Vorschule besuchen, später deutlich bessere Chancen haben. Und ein klar besseres Sozialverhalten. Deutsche Beharrungs-Vorliebe darf uns nicht hindern, dies endlich wahrzunehmen – in voller Breite. Und, vor allem, entsprechend zu DER HAUPTSTADTBRIEF im Internet: handeln. www.derhauptstadtbrief.de Ihr

DERfoto: andreas HAUPTSTADT schoelzel BRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt  foto: andreas schoelzel Airbus-Streit: Es geht, neben vielen Arbeitsplätzen, um Faserverbundwerkstoffe, denen die Zukunft gehört

Von JENS FLOTTAU

Beim Luftfahrtkonzern EADS ist derzeit, so scheint es, nur Eines sicher: Es wird nie langweilig. Monatelang hatten EADS und Airbus Zeit, um an dem Sanierungsplan Power 8 zu feilen und diesen dann am 20. Februar den Betriebsräten mitzuteilen; in den Tagen zuvor war die Spannung mit den Händen zu greifen. Doch dann platzte die Ankündigung, weil EADS/Airbus-Chef Louis Gallois sich nicht gegen seine Widersacher Thomas Enders (EADS-Co-Chef) und Manfred Bischoff (EADS-Co-Aufsichtsratsvorsitzender) durchsetzen konnte.

Alle Flugzeuge von Airbus werden aus Elementen zusammengebaut, die aus verschiedenen Ländern kommen – hauptsächlich aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Spanien. Das Airbus-Schaubild zeigt die Segmentierung anhand des Erfolgsmodells A320. Jetzt wird heftig darüber gestritten, welche Verteilung für den geplanten supermodernen Langstrecken-Jet A350 gelten soll.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt  Mit dem geplanten A350 Was sich da hinter den Kulissen des Konzerns abspielte und will Airbus gegen das hoffnungsvolle und schon abspielt, ist nichts anderes als ein Machtkampf. Es geht um vielfach vorbestellte Arbeitsplätze und Anteile an wichtigen Programmen, Konkurrenzflugzeug Boeing 787 angehen. aber auch um die persönlichen Interessen der Protagonisten. Dabei sieht es so aus, als hätte die deutsche Seite plötzlich Spaß am Thema Industriepolitik gefunden. Selten zuvor versuchten sich Vertreter der Bundes- und Landesregierungen so sehr in eine unternehmerische Entscheidung einzumischen, wohingegen ausgerechnet in Frankreich die Airbus-Debatte lange untergegangen war in der öffentlichen Wahrnehmung.

Airbus ist wegen der zweijährigen Verspätung beim A380- Programm in eine schwere wirtschaftliche Krise geraten. Die Schwierigkeiten in der Produktion offenbarten zudem ein System voller Ineffizienz und politisch bedingter Doppelungen, das dringend abgeschafft werden muss, will Airbus die Wettbewerbsfä- higkeit wiedererlangen.

All diese Fragen sollte und soll das „Power 8“-Restrukturierungs- programm angehen. Durch Power 8 sollen bis 2010 die Kosten um fünf Milliarden Euro und dann jährlich weiter um mindestens 2,1 Milliarden Euro sinken. Airbus will die Produktivität um 20 Prozent verbessern, Entwicklungszyklen verkürzen und mehr Arbeiten nach außen vergeben.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt  computersimulation: picture-alliance/dpa/DB Airbus – HCSGM Vor allem die deutschen Betriebsräte schlagen Alarm. Sie befürchten, dass konzernweit rund 10 000 Stellen gestrichen werden sollen, etwa ein Fünftel aller Jobs. Ihre Befürchtungen erhielten durch Äußerungen des französischen Premierministers Dominique de Villepin neue Nahrung. Villepin will ebenfalls von 10 000 zu streichenden Arbeitsplätzen wissen. „Villepin weiß mehr als ich“, sagte dazu Enders knapp. Und auch die Bundesregierung will nichts von dieser Zahl wissen.

Das Thema Airbus stand Ende der vergangenen Woche (23. Februar) auch auf der Tagesordnung bei einem Treffen zwischen Frankreichs Staatspräsident und Bundeskanzlerin im brandenburgischen Schlösschen Meseberg.

Der Streit zwischen Enders und Gallois übrigens entzündete sich nicht am Stellenabbau, sondern daran, wer künftig für welche Arbeiten beim neuen Langstreckenjet A350 zuständig sein soll. Das Flugzeug, das 2013 erstmals ausgeliefert werden und dann der Boeing 787 Konkurrenz machen soll, ist für Airbus nicht Der riesige A380, durch dessen Fertigstellungs-Verzögerungen irgendein Projekt. Airbus in die jetzigen großen Schwierigkeiten geriet.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt  foto: vario-images/L. Berns Der A350 stellt vielmehr technologisch einen größeren Sprung dar als viele seiner Vorgänger. Es gibt sogar genügend Vertreter der These, dass die für den A350 geplanten Neuerungen so anspruchsvoll sind wie diejenigen des A380. Die Technologien, die bei dem Flugzeug verwendet werden sollen, sind gleichzeitig Basis für jedes künftige Airbus-Modell, etwa die Weiterentwicklung des bisherigen Erfolgs-Fliegers A320, um die ebenfalls heftig gestritten wird. Wer also beim A350 ein großes Stück vom Kuchen abbekommt, der steht auch bei anderen Vorhaben gut da. Im Mittelpunkt stehen die Faserverbundwerkstoffe, aus denen der Rumpf und das Cockpit gebaut werden soll.

Das Problem wird so beschrieben: „Es gibt bei den Airbus- und EADS-Werken keines, das darauf spezialisiert wäre, so große Rumpfteile oder das Cockpit aus Verbundwerkstoffen herzustellen“, so der ehemalige Airbus-Manager Udo Dräger in einem Interview mit dem Fachmagazin Aero International. Dräger hat unter anderem den Airbus-Spezial-Transporter Beluga konstruiert.

Der Konzern muss sich also für einen Standort entscheiden, an dem kräftig in die Technologie investiert wird und der dann voraussichtlich das konzernweite Kompetenzzentrum für diesen Bereich wird.

Während Enders behauptet, die A350-Arbeiten seien in dem Gallois-Entwurf zu Power 8 ungerecht verteilt gewesen, werfen Insider ein, dass die deutsche Seite mehr fordere, als sie technologisch derzeit leisten könne. „Wir können die Umsetzung von Power 8 nicht länger verzögern“, fordert Gallois. Doch nach der vertagten Entscheidung ist erst mal wieder alles offen: Zeitplan und Inhalt.

IMPRESSUM DER HAUPTSTADTBRIEF erscheint seit Oktober 1999 monatlich Herausgeber Detlef Prinz Redaktionelle Konzeption und Chefredaktion Bruno Waltert Bildredaktion Paul Maria Kern Gestaltung Witt & Kern.Design Titel Winfried Berberich, Kunstschätzeverlag Satz und Bildbearbeitung Gordon Martin, Manuel Schwartz, Mike Zastrow Anzeigen es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 5 vom Juni 2006 Verlag HAUPTSTADTBRIEF Berlin Verlagsgesellschaft mbH Inhaber: Detlef Prinz, Verleger Tempelhofer Ufer 23/24, 10963 Berlin Telefon 030 - 21 50 54 00, Fax 030 - 21 50 54 47 [email protected] www.derhauptstadtbrief.de Druck Fiedler Druck GmbH & Co. KG Lossaustraße 3, 96450 Coburg Telefon 0 95 61 - 55 213, Fax 0 95 61 - 55 21 50

Redaktionsschluss 23. Februar 2007

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DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt  Schwarz-Grün-Gelb – die Farben des karibischen Inselstaates Jamaika. Der Farben wegen spricht man bei uns von Jamaika- Koalitionen. Schwarz-Grün-Gelb – Utopie oder doch einmal eine Option?

Von JOACHIM RIECKER

Grünen-Parteichef Reinhard Bütikofer merkte gleich auf: „Deutet sich da der vorsichtige Anfang eines Umdenkens an? Ist der Vorstoß ernst gemeint, oder soll er nur schwarz-grüne Hoffnungen nähren, denen die Substanz tatsächlich fehlt?“, fragte er in einer Pressemitteilung, nachdem der Berliner CDU- Fraktionschef Friedbert Pflüger seine Partei davor gewarnt hatte, den Atomausstieg „grundsätzlich“ in Frage zu stellen.

„Es muss glasklar sein“, so der ehemalige Berliner CDU- Spitzenkandidat in einem Interview, „dass aus Sicht der Union die erneuerbaren Energien die Zukunft darstellen“. Die Probleme der Endlagerung, des Restrisikos technischer Unfälle und möglicher Terror-Angriffe seien so groß, dass er „nicht an die Zukunft der Kernenergie glaube“.

Friedbert Pflüger als Anti-Atom-Kämpfer? In der grünen Parteizentrale war man nicht allzu überrascht vom Vorstoß des Neu-Berliners, denn schon seit Wochen lässt Pflüger kaum eine Gelegenheit aus, den Grünen Avancen zu machen. Mal möchte er Berlin zur „Modellstadt für Integration“ entwickeln, dann gar zur „Öko-Hauptstadt“. Im unionsinternen Streit über den Ausbau der Kinderbetreuung bekennt sich Pflüger zu der Auffassung, dass Kindertagesstätten gerade in Großstädten auch Defizite in der Familie ausgleichen können.

Pflüger, der schon zu Helmut Kohls Zeiten die „Pizza- Connection“ zwischen jungen Unions- und Grünen-Abgeordneten pflegte, hat sich ganz dem Ziel verschrieben, irgendwann einmal eine „Jamaika-Koalition“ aus CDU, Grünen und FDP zu bilden. Mit einem solchen Bündnis, so träumte Pflüger zu Jahresanfang schon in einem Interview, könnte Berlin auch die bundespolitische Landschaft verändern.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt  Der Weg dahin ist allerdings wohl weit für den ehemaligen Redenschreiber und Pressesprecher Richard von Weizsäckers. Denn die Berliner Abgeordnetenhauswahl, bei der die CDU mit Pflüger als Spitzenkandidat auf 21,3 Prozent kam, liegt noch kein halbes Jahr zurück. Geht die Legislaturperiode regulär zu Ende, womit aus heutiger Sicht zu rechnen ist, werden die Berliner erst im Jahr 2011 wieder zu den Wahlurnen gerufen.

Die rot-rote Koalition, die im vergangenen September trotz starker PDS-Verluste im Amt bestätigt wurde, hat allerdings noch nicht wieder Tritt gefasst, was das schwarz-gelb-grüne Liebeswerben spürbar beflügelt. Gemeinsam genossen es die Abgeordneten von CDU, FDP und Grünen im vergangenen Herbst, dass der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) beim ersten Wahlgang im Abgeordnetenhaus durchfiel.

Und mit dem Vorschlag, Wolf Biermann die Berliner Ehrenbürgerwürde zu verleihen, konnte die CDU wenige Wochen später mit Hilfe von Grünen und FDP den Senat erneut in Bedrängnis bringen. Solche gemeinsam in der Opposition erzielten Erfolge machen Lust auf Mehr, auch wenn der grüne Berliner Fraktionschef Volker Ratzmann warnt, für Jamaika gebe es in der Hauptstadt noch keine „tragfähige inhaltliche Grundlage“.

Nicht vergessen hat Ratzmann allerdings auch, wie herablassend Wowereit die Grünen nach der letzten Wahl behandelt hat. Die grüne Parteispitze ist überzeugt, dass er damals nur pro forma rot-grüne Sondierungsgespräche führte, sich innerlich aber schon längst für die Fortsetzung von Rot-Rot entschieden hatte.

Während in Berlin in bürgerlichen Stadtteilen wie Zehlendorf- Steglitz die kulturellen Gräben zwischen CDU und Grünen nicht allzu tief sind und sich in vielen Familien Wähler beider Parteien finden, sieht es in den klassischen Hochburgen der Öko-Partei ganz anders aus. In Kreuzberg etwa, der politischen Heimat des linken Hans-Christian Ströbele, hat das über Jahrzehnte gepflegte Feindbild CDU noch wenig von seinem Schrecken verloren. Und bei den Themen Verkehr, Ausländerpolitik und innere Sicherheit sind in der gesamten Stadt die inhaltlichen Unterschiede zwischen Schwarz und Grün gewaltig.

Doch Pflüger lässt bei seinem Liebeswerben nicht locker und kann dabei offenbar auch auf die Unterstützung von Bundeskanzlerin Angela Merkel rechnen. So wie SPD-Chef Kurt Beck kein Geheimnis daraus macht, dass er sich nach der nächsten Bundestagswahl eine Koalition mit der FDP gut vorstellen kann, möchte auch Frau Merkel die Bündnisoptionen ihrer Partei erweitern.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt  Werber für ein politisches Im Herbst 2005 hat es die CDU-Vorsitzende sehr bedauert, dass „Jamaika“: Der Berliner CDU-Fraktionschef die Sondierungsgespräche zwischen den Parteispitzen von Union und Friedbert Pflüger Grünen auch deshalb so schnell beendet waren, weil eine schwarz- (hier auf einem Empfang von Sabine Christiansen grün-gelbe Koalition noch niemals wenigstens auf Landesebene mit der Gastgeberin). erprobt worden war.

Mit FDP-Chef Guido Westerwelle hatte Frau Merkel damals zwei Tage nach der Wahl bei einem gemeinsamen Abendessen in Merkels Lieblings-Bistro „Chez Maurice“ in Prenzlauer Berg vereinbart, die Möglichkeit eines Jamaika-Bündnisses ernsthaft auszuloten. Doch weil dieser Versuch schon nach wenigen Tagen scheiterte, blieb für Merkel nur noch die Zusammenarbeit mit der fast gleich starken SPD.

Dass eine schwarz-grüne Koalition nur schwer vom Reich der Träume in die Wirklichkeit zu holen ist, musste im vergangenen Jahr auch Baden-Württembergs CDU-Ministerpräsident Günther Oettinger erfahren. Nach der gewonnenen Landtagswahl führte er einen Tag lang ernsthafte Sondierungsgespräche mit den Grünen. An der Basis seiner Partei und bei CDU-Abgeordneten war der Widerstand gegen ein schwarz-grünes Bündnis jedoch teilweise so groß, dass Oettinger rasch zur erprobten Koalition mit der FDP zurückfand.

Zumindest in den westdeutschen Ländern ist – nach der schwarz-roten Nicht-Liebesehe im Bund – in den nächsten Jahren kaum ein Wahlergebnis denkbar, bei dem nicht entweder ein schwarz-gelbes oder ein rot-grünes Bündnis möglich wäre. Dass sich CDU oder SPD nach einer Landtagswahl gegen ihren „natürlichen“ Koalitionspartner entscheiden, ist zumindest nicht sehr wahrscheinlich. Insofern könnte Friedbert Pflüger vielleicht doch zum ersten – oder einem der ersten – Regierungschefs eines Jamaika-Bündnisses auf Landesebene werden, selbst wenn er bis 2011 warten muss.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt  foto: dpa/gero breloer Aufwändig restauriert: Schloss Meseberg, etwa Die Bundesregierung hat 70 km nördlich von Berlin. jetzt ein respektables Gästehaus: Schloss Meseberg

Von TOBIAS von SCHOENEBECK

Als Frankreichs Noch-Staatspräsident Jacques Chirac am 23. Februar 2007 zu einem neuerlichen Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Deutschland gekommen war, konnte er an einem besonderen Ort Quartier nehmen: Auf Schloss Meseberg, der neuen Gästeresidenz der Bundesregierung. Dort konferierte er auch mit der Kanzlerin. Das Schloss ist etwa 70 Kilometer nördlich von Berlin im Landkreis Oberhavel gelegen und gehört zum Gebiet der Stadt Gransee.

Am 26. Januar 2007 erst waren dem Kanzleramtschef Thomas de Maizière (CDU) die Schlüssel des 1737 erbauten Barockschlosses von Hans Heinrich von Srbik, dem Präsidenten der Messerschmitt-Stiftung, überreicht worden. Sie ist Eigentümerin des Schlosses. Die in München ansässige Stiftung hatte das in Kriegs- und DDR-Zeiten verfallene Anwesen 1995 zunächst ohne konkretes Nutzungskonzept gekauft und ließ Schloss und Park in den darauf folgenden zehn Jahren mit einem Aufwand von 25 Millionen Euro denkmalpflegegerecht restaurieren. Der Gründer der Flugzeugbau-Firma gleichen Namens hatte die Messerschmitt-Stiftung 1969 ins Leben gerufen. Als Stiftungszweck wählte Willy Messerschmitt die Pflege und Erhaltung deutscher Kunst- und Kulturdenkmäler im In- und Ausland.

2004 wurde mit der Bundesregierung die zukünftige Nutzung Mesebergs als deren Gästehaus vereinbart. Anschließend investierte die Regierung weitere 13 Millionen Euro für Konferenz-

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 10 foto: ddp/Theo Heimann und Sicherheitstechnik. Jetzt, nach dem kompletten Abschluss der Sanierungs- und Umbaumaßnahmen, überlässt die Messerschmitt- Stiftung der Regierung das Schloss auf 20 Jahre für eine symbolische Miete von einem Euro pro Jahr.

Für den laufenden Unterhalt sowie für anfallende Reparaturen will die Regierung jährlich 100 000 Euro bezahlen. Außer dem Barockschloss selbst gibt es drei Nebengebäude: Das Delegations- und das Unterkunftsgebäude sowie das Kastellan-Haus. In den Parkanlagen steht der Gartenpavillon, das „Maison de Plaisir.“

Neben seiner Funktion als Gästehaus soll das Schloss Meseberg auch für Kabinettsklausuren und für kleinere Konferenzen genutzt werden.

Schloss Meseberg war im Jahr 1737 im Auftrag des Grafen Hermann von Wartensleben errichtet worden. Seine Frau Dorothea von der Groeben hatte das Gut mit der Heirat 1723 in die Ehe gebracht. Der große Schloss Meseberg liegt terrassierte Garten wurde von einem gewissen Münther, einem am schönen Huwenowsee. 2,5 Kilometer des See-Ufers angesehenen „Gartenkünstler“ angelegt und später in mehreren gehören zum Schlosspark. Phasen landschaftlich umgestaltet und nach Süden erweitert. Der Park erstreckt sich zweieinhalb Kilometer entlang dem langgezogenen, landschaftlich bezaubernden Huwenowsee.

1774, zehn Jahre nach dem Tod Wartenslebens, erwarb Prinz Heinrich, der in Rheinsberg lebende Bruder Friedrichs des Großen, das Gut Meseberg – um es, Spekulationen aller Art sind zugelassen, seinem „Günstling“, dem Major Christian Ludwig von Kaphengst, zu schenken. Der „tolle Kaphengst“ war eine schillernde Gestalt in der preußischen Geschichte – laut und unterhaltsam, so wird er beschrieben, verschwenderisch und gerissen.

Prinz Heinrich hatte sich – wie auch immer – in den Major verliebt und hielt über lange Zeit fest zu ihm, obwohl dieser ihn immer wieder belog, bestahl und betrog. Kaphengst verstand es jedenfalls, die Gunst Heinrichs in Bares für Meseberg umzumünzen. Beispielsweise: Wann immer Heinrich sich für Rheinsberg Mobiliar oder andere Dinge anschaffte, bestellte Kaphengst das Gleiche für Meseberg noch einmal – auf Heinrichs Kosten.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 11 foto: jürgen rose Das Schloss und der See, hier eine Einheit. Als Kaphengst 1796 im Alter von 57 Jahren plötzlich starb, notierte der Prinz: „Ich bedaure, dass er von seinen überragenden Fähigkeiten, die ihm die Natur gab, nicht einen besseren Gebrauch gemacht hat. Nie habe ich jemanden gekannt, der mehr Anlagen hatte, ein bedeutender Mann zu werden, als ihn. Seine Mätressen aber haben ihn zu Grunde gerichtet.“ Heinrich war oft in Meseberg zu Gast gewesen. Bei den Restaurierungsarbeiten wurde die respektable feste Wohnung wieder gefunden, die der Prinz aus Rheinsberg im Schloss Meseberg hatte.

Zu den späteren Eigentümern des Schlosses gehörte der Herausgeber der „Vossischen Zeitung“, Carl Robert Lessing (1827-1911). Dieser, ein Großneffe des Dichters und Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing, war verheiratet mit Emma von Gelbke, die wiederum für die Literaturgeschichte von Bedeutung ist. Sie berichtete Theodor Fontane die Geschichte der Baronin Elisabeth von Ardenne und lieferte damit die Vorlage für den Roman „Effi Briest“. Für den Sohn dieses Ehepaars, Gotthold Ephraim Lessing d. J. (1860-1919) wurde im Schlosspark ein Mausoleum errichtet.

Unter bis heute nicht eklärten Umständen übrigens verschaffte sich Hermann Göring 1943 Schloss und Gut Meseberg, um damit einen Bauern zu entschädigen, dessen Besitz in der Schorfheide er für sein Jagdrefugium Carinhall haben wollte.

1945 wurde das Schloss durch Dekret der sowjetischen Militär- administration enteignet. Zu DDR-Zeiten waren hier später ein Lebensmittelladen, ein Kindergarten, das Gemeindebüro und andere „Einrichtungen“ untergebracht. Nach der Wende verfiel Meseberg noch mehr als schon zuvor, bis es schließlich die Messerschmitt-Stiftung für eine Million DM erwarb. Und danach mit hohem Aufwand und viel Engagement restaurieren ließ. Jetzt profitiert davon die Bundesregierung, die nun endlich – wie so viele andere Staaten – über eine wahrlich repräsentative Gästeresidenz mit historischem Hintergrund verfügen kann – dank der Großzügigkeit der Messerschmitt-Stiftung.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 12 foto: jürgen rose Wo die Sympathien liegen

Sieht man auf die Kanzlerpräferenzen, dann ist es eindeutig: CDU-Chefin AngelaMerkel steht derzeit klar besser da als ihr Kontrahent Kurt Beck von der SPD. 45 Prozent für Frau Merkel in der 7. Woche dieses Jahres, aber nur 24 Prozent für Kurt Beck – das gibt zu denken. Alle Werte übrigens sind zweifelsfrei repräsentativ: Sie wurden auf der breiten Basis von je 2500 Befragten pro Woche ermittelt. Das heißt: Sie geben verlässlich die aktuelle Stimmung bei allen wahlwilligen Deutschen wieder. 31 Prozent übrigens können sich weder für Frau Merkel noch für Kurt Beck erwärmen.

Kanzlerpräferenzen – Es würden sich entscheiden für: Angela Merkel Kurt Beck keinen von beiden % % % Woche 1/2007 44 24 32 Woche 2/2007 42 26 32 Woche 3/2007 45 26 29 Woche 4/2007 46 23 31 Woche 5/2007 46 23 31 Woche 6/2007 44 24 32 Woche 7/2007 45 24 31 Quelle: forsa

Besonders aufschlussreich sind die Kanzlerpräferenen je nach Parteien-Sympathie: Jene, die angaben, sie wollten nach gegenwärtigem Stand die Union wählen, votierten zu 71 Prozent für eine Kanzlerin Angela Merkel und zu 10 Prozent für einen Kanzler Kurt Beck. 19 Prozent favorisierten keinen von beiden. Ganz anders sieht’s bei den SPD-Sympathisanten aus: Nur 45 Prozent favorisieren einen Kanzler Kurt Beck – weniger als die Hälfte also! Satte 30 Prozent der SPD-Anhänger – ein hoher Wert! – favorisieren dagegen eine Kanzlerin Merkel. Und immerhin 25 Prozent sagen „Weder – noch“.

Kanzlerpräferenzen nach Parteien (Woche 7/2007): Angela Merkel Kurt Beck keinen von beiden % % % Wähler der CDU/CSU 71 10 19 Wähler der SPD 30 45 25 Quelle: forsa

Alle diese Zahlen – sind sie nun für die Union Anlass zum Jubel, für die SPD Grund zur Resignation? Weder, noch. Denn die Parteipräferenzen auf der folgenden Seite zeigen: Noch ist in Deutschland Sympathie für Personen nicht unbedingt identisch mit Sympathie für Parteien. Beispiel: Beim Kanzlerwert liegt Frau Merkel bei 45 Prozent, bei den Parteipräferenzen kommt ihre Union dagegen aktuell nur auf 34 Prozent. Gleichwohl: In der SPD wird man sich viele Gedanken machen müssen … Wt.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 13 Die Parteipräferenzen im Bund Zuletzt nur wenig Bewegung

CDU/ SPD FDP Links- Grüne Sonst. CSU partei Alle Angaben in Prozent Bundestagswahl* 35,2 34,2 9,8 8,7 8,1 4,0

Umfrage-Werte in Woche … 2006 27. (3.7.-7.7.) 32 28 14 10 10 6 Das forsa-Institut 28. (10.7.-14.7.) 33 28 14 10 10 5 ermittelte diese Werte durch wöchentliche 29. (17.7.-21.7.) 33 29 14 10 9 5 Befragung von in der Regel 30. (24.7.-28.7.) 31 29 14 10 10 6 rund 2500 wahlwilligen 31. (31.7.-4.8.) 32 29 13 10 10 6 Deutschen. 32. (7.8.-11.8.) 31 30 14 10 10 5 33. (14.8.-18.8.) 31 29 15 9 10 6 34. (21.8.-25.8.) 30 29 14 12 10 5 35. (28.8.-1.9.) 30 29 14 11 10 6 36. (4.9.-8.9.) 30 28 15 10 10 7 37. (11.9.-15.9.) 32 27 15 10 10 6 38. (18.9.-22.9.) 29 30 15 10 9 7 39. (25.9.-29.9.) 29 30 15 10 10 6 40. (2.10.-6.10.) 29 30 15 10 10 6 41. (9.10.-13.10.) 30 32 14 9 10 5 42. (16.10.-20.10.) 30 29 14 10 11 6 43. (23.10.-27.10.) 28 29 15 11 11 6 44. (30.10.-3.11.) 30 30 14 11 9 6 45. (6.11.-10.11.) 29 29 15 11 10 6 46. (13.11.-17.11.) 29 29 15 10 11 6 47. (20.11.-24.11.) 32 28 12 11 11 6 48. (27.11.-1.12.) 33 26 13 11 11 6 49. (4.12.-8.12.) 32 27 14 10 11 6 50. (11.12.-15.12.) 31 29 14 10 10 6 51. (18.12.-22.12.) 33 28 13 9 11 6 52. (25.12.-29.12.) 32 27 14 10 11 6

2007 1. (1.1.-5.1.) 35 26 13 10 10 6 2. (8.1.-12.1.) 33 28 14 8 11 6 3. (15.1.-19.1.) 34 27 14 9 10 6 4. (22.1.-26.1.) 33 27 14 9 11 6 5. (29.1.-2.2.) 34 28 12 9 11 6 6. (5.2.-9.2.) 35 26 13 9 11 6 7. (12.2.-16.2.) 34 26 12 10 12 6

* Amtliches Endergebnis der Bundestagswahl vom 18. September 2005 Quelle: forsa

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 14 Szene aus dem chinesischen Film ”Tuyas Ehe“, der bei der jüngsten Berlinale den „Goldenen Bären“ holte. Die Tuya wird gespielt von der Schauspielerin Nan Yu (Foto). Messe, Kulturfest und Karneval: die Berlinale 07

Von DIETER STRUNZ

Um 6 Uhr 30 schrillt der Wecker. Ab unter die Dusche. Rein in den kleinen Berlinale-Kampfanzug. Die übrig gebliebene Schrippe vom Vortag muss als Wegzehrung reichen, danach noch ein Kaffee im Stehen in der „Großen Halle des Volkes“, die offiziell Bahnhof Südkreuz heißt.

Fünf Rolltreppen (zwei davon defekt) und ein paar hundert Meter Lauferei später ist der Festival-Palast am Marlene-Dietrich-Platz erreicht. Es ist zehn vor neun, man fällt in den Kinosessel, in wenigen Minuten wird sich der Vorhang heben, wird die Berlinale-Fanfare ertönen, wird ein Film uraufgeführt werden. Top oder Flop – das ist die Frage.

So etwa vollzog sich zehn Tage lang in der Hauptstadt das morgendliche Ritual für rund 19 000 professionelle Festivalgänger aus 117 Ländern. Als da sind: 4000 Journalisten von nah und fern, die Filmwirtschaftler jeder Couleur, die Goldgräber und Verleih- Scouts. Und alle wollen wissen: Gibt es heute eine Entdeckung zu machen, wird das Kinostück aus Argentinien, Korea oder der tschechischen Republik zur Überraschung des Tages, wird es einen Run auf die Verleihrechte geben?

Die Überraschung des Festivals war diesmal aus dem fernen Osten nach Berlin gekommen: Der chinesische Heimat- und Familienfilm „Tuyas Ehe“ gewann den Goldenen Bären, den großen Preis der internationalen Jury (zu der auch die Schauspielasse Mario Adorf und Willem Dafoe gehörten). Ausgezeichnet wurde eine eigentlich ganz private Geschichte von einer fleißigen Bäuerin in der inneren Mongolei, die einen neuen Mann sucht, der auch einen ordentlichen Brunnen bauen kann.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 15 foto: picture-alliance/dpa/Xi ”an Motion-Picture Doch der Hintergrund ist eminent gesellschaftskritisch, denn die Steppe der Hirten und der Jurten, die kleinen Schafherden und das ganze einfache, mit der Natur verbundene Leben ist ins Abseits geraten und von der heranrückenden Industrialisierung bedroht.

Da war sie also schon am zweiten Berlinale-Tag morgens um 9 Uhr, die Entdeckung mit Aha-Effekt. Es empfiehlt sich, bei einem Filmfest vom Zuschnitt der Berliner Gala der siebenten Kunst hellwach zu sein. Dieses Element des Ungewissen gehört alljährlich zu den besonderen Reizen des Festivals in der deutschen Hauptstadt. In diesem Jahr fand es zum 57. Male statt, und zwar mit noch immer wachsender Teilnahme und Begeisterung.

Mehr als 430 000 Tickets wurden diesmal verkauft, davon 200 000 an ganz gewöhnliche Kinogänger ohne professionelle Verpflichtungen, an Leute, die aus reinem Spaß an der Sache kamen. Diese Fans mussten noch ein bisschen früher aus den Federn; die Verkaufscontainer in den Potsdamer-Platz-Arkaden waren täglich schon im Morgengrauen belagert, als ginge es um Eintrittskarten zu einem großen internationalen Fußballmatch. Und es war nicht nur junges, studentisches Publikum, das sich da in der Schlange einfand, auch viele ältere Kinofreunde standen wacker an.

Ihr Lohn: die spannende Begegnung mit dem Neuen, noch nicht vorher Gezeigten. Die Chance, sich von einer verwegenen britischen Tragikomödie wie „Irina Palm“ begeistern zu lassen oder einzutauchen in den Kostümrausch einer schwelgenden Filmbiographie wie „Angel“. Oder das Vergnügen, mit einem Altmeister wie Jiri Menzel eine Schwejkiade aus finsterer Zeit zu durchleben („Ich habe den englischen König bedient“) oder mit dem deutschen Beitrag „Yella“ eine Frau zwischen ostdeutscher Heimatenge und westdeutscher Glanzverführung im dramatischen Konflikt zu erleben.

373 neue Kinostücke aus 52 Produktionsländern waren in knapp 1200 Vorstellungen zu sehen. Neben dem zentralen Wettbewerb, der wegen seiner begehrten Bärenbeute im medialen Mittelpunkt steht, war der Ansturm auch auf Panorama, Forum, Retrospektive enorm. Aus dem ehemaligen Kinderfilmfest ist unter neuem Namen („Generation“) längst ein eigenes kleines Festival für das junge Publikum geworden, mit separater Jury und eigenem Preis.

Wenn auch das Gesamtniveau des Wettbewerbs und die Dramaturgie des Programmablaufs diesmal vielfach Kritik auslösten – Beachtliches fand sich durchaus zwischen dem 8. und 18. Februar, dem Finale, das mit einem Berlinale-Kinotag die hoch geschätzte Möglichkeit zur Teilnahme nur für „Otto Normalverbraucher“ bietet.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 16 Szene aus der Filmbiographie „Angel“.

• Kinowirksam sind bestimmt die Beiträge „La vie en rose“ über das Leben der Edith Piaf, „Der gute Hirte“ aus den Anfängen des Geheimdienstes CIA , Deutschlands ehrenwerter Beitrag, „Die Fälscher“ und eben jene Londoner Sexarbeiterin wider Willen, „Irina Palm“.

• Wohl eher schwer werden die Beiträge aus Brasilien oder Korea auf die Leinwand finden.

• Bei „Tuyas Ehe“ mag der Goldpreis wohl wenigstens den Weg in Kunstkinos ebnen.

• Manches wird auf dem Bildschirm landen, denn der Moloch Fernsehen ist unersättlich, und die Einkäufer machten im Martin-Gropius-Bau beim Europäischen Filmmarkt Jagd auf Programmperlen. Unverdrossen pendelten die Shuttlebusse von Volkswagen zwischen den großen Hotels und Filmpalästen der Berlinale und dem Gropius-Markt.

Die Nobelkarossen für die Stars, die Fahnenparade, die Poster- Galerien, die Großbildschirme, die rappelvollen Restaurants, der Andrang der Zaungäste und das Zeremoniell der Eitelkeiten auf dem roten Teppich gehören zum Flair und zur Attraktivität der Berlinale, die immer auch ein staunendes Familienpublikum aus Eberswalde oder Kirchhain-Doberlug anlockt.

Es gab viel zu sehen, in jeder Hinsicht. „Die Stadt brummt und die Leute sind gut drauf“, konnte Festspieldirektor Dieter Kosslick vor den Kameras resümieren. Berlin verwandelte sich zeitweilig in eine Hollywood-Dependence mit Stars wie Robert de Niro, Richard Gere, Antonio Banderas, Jeff Goldblum, Matt Damon, Künstlerinnen wie Cate Blanchett, Judi Dench, Marianne Faithful, Jennifer Lopez und Sharon Stone oder Glanznamen wie Clint Eastwood, Arthur Penn (dem „Bonny und Clyde“-Regisseur) oder Lauren Bacall, die einst an der Seite ihres Mann Humphrey Bogart triumphierte.

Aber auch unter den deutschen Aktiven von Film und Fernsehen konnte sich kaum einer Berlin-Abstinenz leisten. Man muss sich einfach sehen lassen im festlichen Trubel des Berliner Filmfestes, und

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 17 foto: ddp/berlinale nicht nur, wenn man wie Nina Hoss einen Bären heimführen darf. „Toll wie Oscar – die Berlinale!“ lautete ein Zeitungskommentar aus der sonst nicht immer ganz neidfreien Bayern-Metropole.

Zum Zauber und Charme eines Filmfestes gehören auch die kleinen Begegnungen am Rande oder die Angebote der ganz speziellen Art. Dass Kulinarik und Kinomatographie vortrefflich harmonieren, konnte man bei der Reihe „Eat, drink, see Movies“ im Spiegelzelt am Gropius-Bau mit Alfred Biolek kosten und abschmecken. Pfiffig und sehr berlinisch die Idee, in Rundfahrbussen Berliner Drehorte berühmter Filme abzuklappern – vom Brandenburger Tor (Billy Wilder drehte hier „Eins, zwei, drei“) über Gendarmenmarkt und Olympiastadion bis hin zum früheren Berliner Zentralflughafen Tempelhof, der schon ganze Rudel von Filmschauspielern und Kameraleuten bei der Arbeit zwischen Rollfeld und Hangar erlebte.

Berlinale-Preisträgerin Nina Hoss als „Yella“ in dem deutschen Ost-West-Stück gleichen Namens.

Auch politische Gespräche fanden abseits der Scheinwerfer statt, wenn etwa Bundesaußenminister Steinmeier und Staatsminister Neumann ein deutsch-indisches Filmabkommen über Koproduktionen im Sony-Center gemeinsam mit Indiens Medien- und Informationsminister Priya Ranjan Dasmunsi unterzeichneten.

Wirtschaftsmesse und Kulturereignis zugleich ist Berlins Kinofest, ein Touristenmagnet ersten Ranges dazu, auch eine große bunte Party. Und Karneval, Kirmes und Oktoberfest in einem – im Februar. Je mehr Karussells umso schöner der Rummel.

Am Potsdamer Platz ist inzwischen Alltag eingekehrt, die mächtigen Dekorationen sind abgebaut, viel Papier wanderte in den Internationale Filmfestspiele Berlin, Potsdamer Straße 5, 10785 Berlin. Reißwolf, die Sieger sind gekürt, belohnt und verdient gefeiert. Aber Tel: 030-25 920 920, schon wird an den nächsten Filmfestspielen gebastelt. Vom 7. bis Fax: 030-25 920 299, E-mail: [email protected], 17. Februar 2008 soll die 58. Berlinale stattfinden. www.berlinale.de

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 18 foto: ddp/berlinale Die „Schwangere Auster“ Die „Schwangere heute … Auster“ wird 50 Jahre alt – und soll im August wiedereröffnet werden

Eines der markantesten Gebäude Berlins aus der Nachkriegs-Zeit begeht in diesem Jahr sein 50. Jubiläum: Die Kongresshalle im Tiergarten. 1956/57 wurde sie nach Plänen des US-Architekten Hugh Stubbins als Beitrag der USA zur Internationalen Bauausstellung Interbau im West-Teil Berlins errichtet und als Geschenk an die Teil-Stadt übergeben.

Mit ihrer außergewöhnlichen Form vermittelte die Kongresshalle nach dem Verständnis des Architekten auch eine Botschaft: Als „Leuchtturm der Freiheit“ (Stubbins) sollte sie in der Zeit des „Kalten Kriegs“ nach Osten ausstrahlen. Damit das auch gut funktionierte, wurde an der Spree extra ein künstlicher Hügel aufgeschüttet, der die flügelförmige Form des Daches als Freiheitsmetapher unterstützte. So war sie nach ihrer Fertigstellung vom Sowjetischen Sektor jenseits der Spree aus groß und deutlich zu sehen.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 19 foto: picture-alliance/ZB/Tom Maelsa Für die Berliner im West-Teil der Stadt symbolisierte die Kongresshalle Ende der 1950er Jahre die Auferstehung Berlins. „Große Berliner Schnauze“ wurde sie stolz genannt. Später setzte sich als Spitzname „Schwangere Auster“ durch. Manche bezeichnen sie auch als „das Lächeln Jimmy Carters“.

Mit der Kongresshalle konzipierte Hugh Stubbins einen Bau, der vor allem durch eine großzügige und sehr offene Raumgestaltung gekennzeichnet war und über ein ungewöhnlich geschwungenes Dach verfügte. Er entwarf sie als eine Konstruktion aus zwei Stahlbetonbögen mit einem gemeinsamen Fußpunkt, die schräg stehend auseinandergeklappt sind und zwischen sich die Dachkonstruktion spannen.

… im Jahr 2001 … Sein ursprünglicher Entwurf sah ein auf nur zwei Säulen liegendes, ansonsten frei schwebendes Dach vor. Doch dieser Plan erwies sich als nicht realisierbar. Eine Abstützung über einen zusätzlichen Ringbalken über den Außenwänden war notwendig, um das Dach zu stützen. Angesichts des äußerst komplizierten und empfindlichen Tragwerks des Daches wurden schon bei der Eröffnung der Kongresshalle von einigen Baufachleuten Sicherheitsbedenken geäußert. Sie sollten, Jahre später, Recht behalten:

Am Vormittag des 21. Mai 1980, 23 Jahre nach Bauabschluss, geschah das Unglück: Das Dach der Halle stürzte in Teilen ein. Und begrub einen Redakteur des „Senders Freies Berlin“ (SFB) unter seinen Trümmern. Der Einsturz wurde, wie ein damaliges Gutachten ergab, „durch konstruktive Mängel bei der Planung

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 20 foto: Caro/A. Bastian und Bauausführung der Außendächer und als Folge davon durch korrosionsbedingte Brüche ihrer den Rand tragenden Spannglieder verursacht.“

1982 beschloss der Berliner Senat den Wiederaufbau der Kongresshalle. Fünf Jahre dauerte die Rekonstruktion unter Leitung der Architekten Hans-Peter Störl und Wolf Rüdiger Borchardt. Sie hatte zum einen die wesentlichen Gedanken von Stubbins zu beachten, zum anderen musste sie den technischen Anforderungen und Sicherheitsbestimmungen genügen.

Die politische Vorgabe war: Die Kosten für den Wiederaufbau durften 40 Millionen DM nicht überschreiten. Das wurde zwar erfüllt, ging allerdings zu Lasten der technischen Infrastruktur, die nicht vollständig modernisiert wurde.

In der Folge kam es in dem Gebäude, das seit 1989 als „Haus der Kulturen der Welt“ firmiert, immer wieder zu technischen Problemen und zu Zwischenfällen, die im Laufe der Zeit immer mehr zunahmen. Schließlich ergab sich zwingend die Notwendigkeit, die bei der Rekonstruktion in den 1980er Jahren versäumten Modernisierungen nachzuholen.

Die Instandsetzung der technischen Infrastruktur begann dann im Sommer 2006 und machte die vorübergehende Schließung des Hauses nötig. Pünktlich zum 50. Jubiläum sollen die Arbeiten nun bald abgeschlossen sein: Am 23. August 2007 soll das „Haus der Kulturen der Welt“ feierlich wiedereröffnet werden. Tobias v. Schoenebeck … und im Mai 1980, nach ihrem Teil-Einsturz.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 21 foto: picture-alliance/dpa/Giehr Abschied von der alten Berliner Landesbank – der Countdown läuft

Von JOACHIM RIECKER

Der Auftakt lief wie geplant: 19 Finanzunternehmen haben bis zum Stichtag Anfang Februar offiziell Interesse am Kauf derBerliner Landesbank (LBB) angemeldet. Deutsche und internationale Großbanken sind ebenso darunter wie Finanzinvestoren, Landesbanken und der Deutsche Sparkassen- und Giroverband (DSGV).

Manche Bieter ziehen es vor, in der gegenwärtigen Phase anonym zu bleiben, andere, wie Commerzbank-Chef Klaus-Peter Müller, machen aus ihrem Kaufinteresse kein Hehl: „Wenn der Preis stimmt, greifen wir zu“, verkündete er kürzlich bei der Bilanzpresse- konferenz seiner Bank in Frankfurt am Main.

Bis Ende des Jahres muss sich die Berliner Landesregierung von ihrem 81-prozentigen Anteil an der früheren Bankgesellschaft getrennt haben. Nur unter dieser Bedingung genehmigte die EU-Kommission vor einigen Jahren die milliardenschweren Beihilfen und Bürgschaften des Senats für das angeschlagene Kreditinstitut. Stand das Unternehmen 2001 wegen verfehlter Immobiliengeschäfte vor allem in den neuen Bundesländern kurz vor der Pleite, gilt es heute als saniert. Wichtigster Bestandteil ist die Berliner Sparkasse mit rund 1,9 Millionen Privatkunden. Aber auch die Firmen-, Kapitalmarkt- und Immobiliengeschäfte werfen wieder Gewinne ab.

Mit etwas Glück kann Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) für das Kreditinstitut so viel Geld einnehmen, dass die Belastungen aus den verlustbringenden Immobilienspekulationen der 90er Jahre ganz oder zum Großteil ausgeglichen werden.

Nicht alle 19 Interessenten gelten allerdings als mögliche Käufer. Einige hoffen vermutlich nur, einen genauen Blick in die Bilanzen der Landesbank werfen zu können. An alle Bieter, die als seriös und zahlungskräftig gelten und die gegen kein formales Kriterium verstoßen haben, wird die USB, die Beraterbank des Senats, in diesen Wochen ein Informationsmemorandum mit vertraulichen Informationen versenden.

Auf dessen Grundlage können die angeschriebenen Firmen anschließend ein unverbindliches erstes Angebot für die LBB machen. Anschließend wählen UBS und die Berliner Finanzverwaltung einen engeren Kreis von Interessenten aus, die Zugang zu allen vertraulichen Daten der Bank erhalten und anschließend entscheiden müssen, ob sie ein verbindliches Angebot abgeben.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 22 Der mögliche Verkaufserlös wird von Experten gegenwärtig auf vier bis sechs Milliarden Euro geschätzt. Zudem möchte Finanzsenator Sarrazin vom Käufer Garantien für die knapp 7500 Arbeitsplätze in der Landesbank erhalten. Die EU-Kommission, die jede Phase des Verfahrens in Berlin genau beobachtet, hat allerdings bereits deutlich gemacht, dass der Senat die Bank an den Meistbietenden verkaufen muss.

Nur wenn am Ende zwei Angebote sehr nah beieinander liegen, können zusätzliche Jobgarantien den Ausschlag geben. Als Alternative zum Verkauf hält sich der Senat auch die Platzierung der Landesbank-Aktien an der Börse offen. Als einer der ernsthaftesten Interessenten gilt der italienische Konzern Unicredit, der die LBB über seine Münchner Tochter HypoVereinsbank (HVB) erwerben und auf diese Weise das schwache Privatkundengeschäft der HVB stärken könnte.

Offen ist, über welche Chancen der Sparkassen- und Giroverband verfügt. Der DSGV hat alle deutschen Sparkassen aufgefordert, sich an einem Kaufgebot für die Berliner Tochter zu beteiligen. „Wir sind der Auffassung, dass die Gesamtheit der deutschen Sparkassen am besten geeignet ist, eine echte Sparkasse für Berlin zu erhalten“, begründet DSGV-Präsident Heinrich Haasis diese Initiative.

Neben dem Sparkassen-Dachverband sind auch vier Landesbanken im Rennen. Sie möchten verhindern, dass in Berlin die erste deutsche Sparkasse von einer Privatbank übernommen wird. Hartnäckig halten sich aber auch Spekulationen, die WestLB oder die HSH Nordbank könnten sich mit einem US-Finanzinvestor verbünden.

Dass ausgerechnet das letzte rot-rote Regierungsbündnis in Deutschland nun die erste deutsche Sparkasse zum Kauf anbietet, hat in der Linkspartei einige Unruhe ausgelöst. Der Chef der Bundestagsfraktion, Oskar Lafontaine, der ohnehin nie eine Freund der Berliner Koalition war, hat seine Genossen in der Hauptstadt bereits aufgefordert, die „neoliberale“ Privatisierung zu stoppen, da sie die Glaubwürdigkeit der Partei gefährde.

Werde die Landesbank an eine „Heuschrecke“ verkauft, habe das Berliner Regierungsbündnis seine Berechtigung verloren und müsse beendet werden. Die Berliner PDS lehnt einen Bruch der Koalition wegen des Landesbank-Verkaufs allerdings kategorisch ab und wird in dieser Haltung auch von den übrigen ostdeutschen PDS-Landesverbänden unterstützt. „Über Berliner Belange wird in Berlin entschieden“, sagt Wirtschaftssenator Harald Wolf (PDS).

Im Übrigen hat auch Wolf zur Kenntnis genommen, dass die Beteiligung des Senats an der Landesbank keinen Schutz gegen einen Stellenabbau bietet. Denn dass die frühere Bankgesellschaft wieder lukrativ arbeitet, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Zahl der Arbeitsplätze seit dem Krisenjahr 2001 von damals knapp 16 000 mittlerweile mehr als halbiert wurde.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 23 Rheinsberg lockt Gesangstalente sogar aus dem fernen China an

Man könnte denken, dass zwischen einer verträumten märkischen Kleinstadt wie Rheinsberg und einer chinesischen Millionenstadt wie Shanghai nicht nur Tausende von Kilometer, sondern auch kulturelle und gesellschaftliche Welten klaffen. Weit gefehlt. Da die Musik schon immer Brücken der Verständigung schlug und heutzutage auch das Internet Verbindungen herstellt (wenn auch in China nicht uneingeschränkt), konnte sich Rheinsbergs künstlerischer Chef, Professor Siegfried Matthus, jüngst in der fashionablen Mercedes-Welt am Berliner Salzufer mit einem frisch engagierten Musiktalent aus Fernost schmücken.

Shen Yang, 22jähriger Sohn einer Sängerfamilie, wird im Sommerprogramm 2007 der Kammeroper Schloss Rheinsberg sein Europa-Debüt geben. Durch das Internet wurde der Chinese auf die Karrierechance im Osten Deutschlands aufmerksam.

Bei der Vorstellung des diesjährigen Festivalangebots mit Werken von Donizetti, Verdi, Schumann und Carl Maria von Weber konnte Das schöne Schloss Rheinsberg Matthus ferner die attraktive Israelin Keren Hadar, 1975 geboren, nordwestlich von Berlin, wo vom 30. Juni bis 18. August sowie ein echtes Berliner Eigengewächs, den 24jährigen Rainer wieder das Internationale Festival junger Opernsänger foto: picture-alliance/ Scheerer, auf dem Podium vorstellen. bildagentur Huber/Mehlig stattfindet.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 24 Drei junge Künstler von mehreren hundert Bewerbern, die es geschafft haben, sich durch die strenge Vorauswahl hindurch zu singen und nun mit einer Rolle bei den Rheinsberger Opernfestspielen belohnt werden. Das ist in vielen Fällen ein Türöffner zu größeren Aufgaben und weit über Brandenburg hinausreichendem Ruhm.

Denn: „Von Rheinsberg an die Met“ ist nicht nur ein klangvoller Slogan. Er wurde vielmehr in der Vergangenheit wiederholt durch Verpflichtungen an deutsche Opernhäuser, nach Wien, Stockholm oder eben nach New York traumhafte Wirklichkeit.

Entsprechend groß war auch diesmal wieder der Andrang zum Stimm-Casting, das aktuell an zwei Tagen in Stockholm und eine Woche lang in der Deutschen Oper Berlin stattfand. Insgesamt 450 hoffnungsvolle Stimmenkünstler im Alter bis zu 32 Jahren wollten mit dabei sein. Es hat sich herumgesprochen: Die Rheinsberger haben sich der Förderung junger Opernkünstler verschworen und rufen damit ein wohltönendes Echo in aller Welt hervor.

Die diesjährigen Bewerber kamen aus immerhin 29 Ländern, unter denen auch , Südkorea, Russland und Chile, Polen, Frankreich, Dänemark und Schweden vertreten sind. Erstmals traten auch Sängerinnen oder Sänger aus Panama und Kasachstan in den Ring.

Die Festival-Saison im Grünen beginnt am 30. Juni mit einer konzertanten Aufführung des „Freischütz“ im Heckentheater, dem stimmungsvollen Schmuckstück des Festivals. Schumanns märchenhaftes Oratorium „Der Rose Pilgerfahrt“ gibt es im Schlosstheater (14. und 15. Juli).

Der Publikumsrenner, die beliebte Parkwanderung mit wechselnden Schauplätzen im Schlosspark am Grienericksee (27., 28., 31. Juli, 1., 3. und 4. August), trägt diesmal das vielversprechende Motto „Auf der Suche nach dem Liebestrank“ und endet im Schlosstheater mit einer Aufführung von eben jenem „Liebestrank“ von Gaetano Donizetti in deutscher Sprache.

Wiederum im Heckentheater unter den alten Bäumen wird sich das Publikum in sechs Vorstellungen zwischen dem 10. und 18. August über den kugelrunden „Falstaff“ in Verdis komischer Oper kugeln dürfen.

Sicherlich ein Höhepunkt wird dieses Jahr das Benefizkonzert des Bundespräsidenten zugunsten von „Familien in Not“ im Heckentheater sein, das von diesjährigen Wettbewerbssiegern und früheren Preisträgern der Kammeroper mit berühmten Duetten des Belcanto bestritten wird. Präsident Horst Köhler und Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck geben für alle Konzertgäste zu Beginn einen Empfang.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 25 Schloss Rheinsberg aus Es sind also namhafte Mitstreiter, die Matthus und seine junge einem Blickwinkel, wie er Sängerschar gefunden haben. Nicht nur beim präsidialen Benefiz, sich den Teilnehmern der so genannten „Parkwanderung“ sondern zuvor schon bei einer Operngala vom 5. bis 7. Juli erhalten darstellt. Motto in diesem sie ihren Auftritt und ihre Chance auf Applaus und Entdeckung. Da Jahr: „Auf der Suche nach dem Liebestrank“. sind Herzklopfen und Lampenfieber garantiert.

Gute Zusammenarbeit gibt es wieder mit Institutionen in Mainz und Osnabrück, in Frankfurt an der Oder und Braunschweig – und die entsprechende Werbewirkung für Rheinsberg obendrein.

Weiß man eigentlich dort in der früheren friderizianischen Residenz Rheinsberg, welche Bedeutung das Opernfestival nicht nur für Gastronomie, Handel und Hotellerie, sondern auch für das Image des von Kurt Tucholsky popularisierten Ortes hat? In der Kleinstadt, die wie viele Kommunen im Brandenburgischen mit wirtschaftlichen Problemen und einer hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat, werden zur Festspielzeit alljährlich rund 50 bis 60 junge Leute engagiert – als Helfer und Platzanweiser und für viele technische Arbeiten von der Schneiderei bis zur Beleuchtung. Für manche von ihnen wurde so schon der Weg in einen Lebensberuf geebnet. Das Festival als Wirtschaftsfaktor – Renommée bis hin nach China inklusive . . .

Gewissermaßen die Ouvertüre zum diesjährigen Stimmen-Fest bildet eine Benefiz-Operngala zugunsten der Förderung junger Kammeroper Rheinsberg, Internationales Festival Sänger in der Hauptstadt, bei der man als Besucher sich und anderen junger Opernsänger, Gutes tun kann. Sie findet am 12. April, moderiert von Jochen 30. Juni bis 18. August. Büro: Kowalski, in der Mercedes-Welt am Salzufer statt. Kavalierhaus, 16831 Rheinsberg, Tel: 033931 - 7250, Fax: 033931 - 72515, Weit hinaus in die Zukunft geht am Ende der Blick. Schon basteln E-Mail: info@kammeroper- die Festivalmacher an Plänen für künftige Attraktionen. Wagners schloss-rheinsberg.de Karten: „Meistersinger“ in drei Teilen an drei Abenden in drei Orten Tourist-Information Rheinsberg, Tel: 033931 - 392 96, (Chorin, Neuruppin und Rheinsberg) – das wäre doch was?! www.kammeroper-schloss- Dieter Strunz rheinsberg.de

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 26 foto: picture-alliance/Bildagentur Huber/R. Schmid Hertha BSC ununterbrochen seit zehn Jahren in der Bundesliga

Von HANS-PETER THEURICH

Die alte Dame Hertha hätte allen Anlass, in diesen Wochen ein wichtiges Jubiläum zu feiern: Zehn Jahre ohne Unterbrechung in der Ersten Bundesliga. Aber man übt sich in (ungewohnter) Bescheidenheit. 1997 gelang den Kickern von Hertha BSC mal wieder der Sprung in die Erste Bundesliga. Mit einem 2:1 gegen Unterhaching stand die Mannschaft drei Spieltage vor Saisonschluss neben dem Tabellenführer der 2. Liga, Kaiserslautern, als Aufsteiger fest. Inzwischen spielt Hertha im zehnten Jahr hintereinander in der Ersten Liga.

Wer in der schicken Charlottenburger Geschäftsstelle von Hertha anruft und – angesichts dieses Anlasses – nach eventuellen Partys im Olympiastadion oder nach anderen Freudenfeiern des rund 15 000 Mitglieder zählenden Vereins fragt, bekommt lapidar zu hören: „Nee, deswegen veranstalten wir nix!“ Dabei könnte der Berliner Sport Club (BSC) stolz sein auf ununterbrochene zehn Jahre im Oberhaus des professionellen Fußballs.

Stolz kann der Verein aber auch auf die wechselvolle Geschichte der alten Dame von der Spree sein. Der Name „Hertha“ übrigens ist – typisch Berlin – angeblich im Suff entstanden. Vier 16- und 17-jährige Jungs trafen sich 1892 in einer Kneipe und wollten einen Fußballverein gründen. Einer stierte ins Glas, erinnerte sich angesichts des schwappenden Bieres an eine Schifffahrt mit seinem Vater und an den Namen des Dampfers: Hertha! Von der Anekdote gibt es viele Variationen. Historisch verbürgt sind die Namen der Vereinsgründer: Fritz und Max Lindner, Willi und Otto Lorenz.

Schon in den zwanziger Jahren kämpfte der Klub mit wirtschaftlichen Problemen und gegen den Abstieg. Ein Held aus jener Zeit sei ausdrücklich erwähnt, der Zuschauer Artur Friedemann. Er rannte beim entscheidenden Match gegen den Berliner FV aufs Feld und kickte den Ball, der aufs Hertha-Tor zurollte, ins Aus. Hertha siegte 1:0, der Klassenerhalt war gesichert. Was für Zeiten!

Und was für Erfolge: 1930 und 1931 – Hertha ist zwei Mal Deutscher Meister; und zwar mit dem wohl populärsten Berliner Spieler aller Zeiten, Hanne Sobek. Ihre Wiederauferstehung nach dem Zweiten Weltkrieg können die Blau-Weißen 1949 feiern. Hertha wird wieder als Verein zugelassen. Als Berliner Stadtmeister 1963 gehört die Mannschaft zur neu gegründeten Fußball-Bundesliga.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 27 Wegen der Zahlung überhöhter Spieler-Handgelder rauscht die alte Dame aber schon zwei Jahre später zwangsweise zurück in die Regionalliga. Immerhin schaffen es die Berliner in der Saison 68/69 wieder ins Oberhaus des Profifußballs.

Nach dem Bundesligaskandal 1971 folgen für den Verein die Goldenen Siebziger. Besonders der Mittelfeldspieler Erich Beer sorgt für Furore und sportliche Sternstunden seines Teams. Zwei Mal ziehen die Berliner ins Endspiel um den DFB-Pokal in Hannover ein.

Ältere Hertha-Fans erinnern sich auch gern an die Vizemeisterschaft hinter Borussia Mönchengladbach in der Bundesliga und vor allem an das sensationelle Erreichen des UEFA-Cup-Halbfinales 1979, in dem Hertha BSC gegen Roter Stern Belgrad nur knapp unterliegt. Aber schon ein Jahr später ist Schluss mit lustig, und unter Trainer Helmut Kronsbein steigen die Herthaner wieder einmal ab.

Namen sind neben Ergebnissen beim Fußball das Salz in der Suppe. Hans-Dieter Kluge führt gern durch sein Sportbüro in Berlin-Friedenau. Im Flur hängen zahlreiche Fotos. Der ehemalige Hertha-Kicker und von der Fußballweltorganisation FIFA lizenzierte Spielervermittler zeigt auf Fotos und gerät ins Schwärmen: „Die kenne ich alle von früher – Trainer Helmut ‚Fiffi‘ Kronsbein. Mit habe ich noch gespielt bei Hertha. Der hat mal gesagt: ‚Die sollen sich nicht so anstellen, bei mir zählen nur glatte Brüche als Verletzungen.‘“ Und weiter: „Das ist Jürgen Sundermann, der kannte auf dem Platz auch keine Gnade, in den Achtzigern hat er dann Hertha trainiert. Wundermann haben ihn alle genannt.“

Und ein Wunder brauchte die alte Dame, denn der Verein war zwischenzeitlich sogar drittklassig, dümpelte in der Amateur- Oberliga herum. Erst unter Trainer Werner Fuchs gelang den Herthanern 1990 die Rückkehr in die Erste Bundesliga.

Die Geschichte des Klubs gleicht einer Berg- und Talfahrt, man könnte auch vom Taumeln zwischen Größenwahn und Verzweiflung reden. Denn schon ein Jahr später, 1991, erfolgte wieder ein Abstieg. Der Verein drohte gar zu zerbrechen. Bis die Retter kamen.

Der jetzige Präsident von Hertha BSC, Bernd Schiphorst, hat wohl vor allem diese Lichtgestalten vor Augen, wenn er sagt: „Hertha BSC hat eben eine Berliner Geschichte, mit vielen Tiefschlägen, aber ebenso mit vielen Höhepunkten, vom Kampf um den Klassenerhalt bis hin zu internationalem Ruhm.“

Der energische Trainer Jürgen Röber schaffte es mit den Herthanern 1997 wieder ganz nach oben. Zwei Jahre später kennt die Begeisterung in Berlin kaum noch Grenzen: Die alte Dame wird

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 28 Dritte in der Bundesliga und spielt bis zur zweiten Gruppenphase in der Champions League mit. Siege gegen Chelsea und den AC Mailand dokumentieren einen fußballerischen Höhenflug.

Wegbereiter für den Erfolg sind neben Trainer Jürgen Röber auch Manager Dieter Hoeneß und Manfred Zemaitat, der 1994 das Präsidentenamt übernimmt. Zemaitat sorgt für das finanzielle Unterfutter und gewinnt die Bertelsmann-Tochter Ufa für eine Investition von 4,5 Millionen Mark. Außerdem verkauft Hertha die als Geschäftsstelle dienende Villa an Ex-Präsident Heinz Roloff, einen Bauunternehmer, der, so munkeln damals Insider, rund zehn Millionen in den Verein investiert hat.

Jürgen Röber trainiert inzwischen Borussia Dortmund, Manfred Zemaitat ist ebenfalls Geschichte bei Hertha. Doch Dieter Hoeneß trägt heute den Titel „Vorsitzender der Geschäftsführung“ und gilt, ähnlich wie sein Bruder Uli Hoeneß bei Bayern München, als Mann mit Macht über Millionen.

In einem Interview sagte Dieter Hoeneß: „1996 war der Klub nahezu nichts wert. Heute beläuft sich der Wert, das haben Wirtschaftsexperten berechnet, auf 150 bis 180 Millionen Euro – Tendenz steigend.“ Hintergrund für solche großzügigen Taxierungen sind beispielsweise die Ausflüge von Hertha BSC in die Champions League, die mehrfache Teilnahme am UEFA-Cup und die Bundesliga- Erfolge seit 1997.

Finanz-Geschäftsführer Ingo Schiller bezifferte Ende 2006 die „Verbindlichkeiten“ der Hertha BSC KG auf 45 Millionen Euro. Laut „Tagesspiegel“ nannte Schiller nach der Mitgliederver- sammlung „mit einem Glas Bier in der Hand“ schließlich einen Schuldenstand von „55,4 Millionen Euro“.

Dabei verfügt Hertha BSC über mehrere Pfunde, mit denen man wuchern kann. Zum Beispiel die vereinseigene Fußball- Akademie auf dem Olympiagelände. Bis zu 18 Jugendliche werden dort im Internat auf eine Karriere als Profikicker vorbereitet, in enger Zusammenarbeit mit einer Charlottenburger Oberschule. Damit versucht der Klub, einen Kader aufzubauen, der weitgehend unabhängig ist vom internationalen Karussell des Spielermarktes.

Nach dem 242 Millionen Euro teuren Umbau des Olympiastadions verfügt die alte Dame Hertha über eine wahrhaft gute Stube (die seit 2006 sogar eine ökumenische Kapelle beherbergt). „Ein gelungenes, grandioses architektonisches Werk“ nannte der Offizielle Website: www.herthabsc.de, damalige Bundesinnenminister Otto Schily die Arena bei der Hertha für Frauen: Eröffnungsfeier. Er gehört dem Kuratorium der Berlin-Stiftung www.herthafreundin.de, Fanshop: www.herthashop.de, von Hertha BSC an, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Jugendprojekte Tickets für Hertha-Spiele in Sport und Kultur zu fördern und zur Integration ausländischer unterService-Hotline Tel. 01805-18 92 00, Jugendlicher beizutragen. Service-Fax 01805-18 92 99.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 29 Wie gemütlich war wohl das Berliner Biedermeier?

Von DIETER STRUNZ

Niedlich, neckisch und gemütlich – das sind jene Attribute, die den Begriff „Biedermeier“ gewöhnlich begleiten. Möbel und Mode, Gegenstände der häuslichen Arbeit und des Feierabends waren so kleinteilig und fein ziseliert wie die Ausstattung der Bürgerstuben. Aber die allgemeine Tändelei mit dem Tand, das vielfach verschnörkelte Spiel mit den Fransen, Schnörkeln und Bordüren hatte einen ernsten Hintergrund.

Zwischen dem Wiener Kongress 1814/1815 und dem Revolutionsjahr 1848 stellte das Biedermeier eine Flucht, einen Ausweg hin zum Privaten und eine Abkehr von der Politik dar. War dem Engländer sein home auch sein castle, so fand man in deutschen Landen – von den öffentlichen Angelegenheiten enttäuscht und frustriert – seine Fluchtburg in den eigenen vier Wänden, Das hintere Eckzimmer und begab man sich in die Geborgenheit der Familie und in die das „mittlere Zimmer“ im ersten Obergeschoss des Geselligkeit der Vereine von Gleichgesinnten. Knoblauch-Hauses in Berlin, ausgestattet mit originalen Zwei Berliner Ausstellungen rufen jetzt eine Zeit in Möbeln. Erinnerung, deren Name von dem Spottgedicht „Biedermanns Abendgemütlichkeit“ hergeleitet wird. Der Autor Viktor von Scheffel ironisierte darin den Zug der Zeit mit Versen wie „Die Bienen summen froh und friedlich / und saugen Blütenhonig ein, / Und alles ist so urgemütlich, / dass ich vor inn’rer Rührung wein’.“

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 30 foto: m. richter Besonders ausgeprägt zeigte sich das Biedermeier mit seiner Hinwendung zu Werten wie Häuslichkeit, Sparsamkeit und Bescheidenheit in der Metropole Berlin. Man schrieb einander innige Liebesbriefe in enger, winziger Schrift und legte ein getrocknetes Röschen oder eine kunstvoll gedrehte Haarlocke bei. Sonntags fuhren die Herren gern hinaus zum „Dustren Keller“ auf dem Kreuzberg oder in die Weißbierstuben von Theodor Wüst vor dem Prenzlauer Tor. Und die künstlerisch gesonnenen Bürger höheren Standes setzten sich unter Anführung von Johann Gottfried Schadow im „Verein der Maler, Bildhauer und Kunstgenossen“ zusammen.

Das zur Poststraße Hausmusik gehörte zum guten Ton, die Jugend musste Klavier gerichtete Eckzimmer des Knoblauchhauses, und Geige malträtieren, und im Papiertheater schrumpften große ebenfalls mit originalen dramatische Verwicklungen zu gefälliger Puppengröße zusammen. Möbeln ausgestattet.

In jenen Jahrzehnten zwischen Tradition und Moderne dominierte aber nicht nur gutbürgerliche Kuscheligkeit im privaten Bereich, in jener Zeit wurden an der Universität auch geistige und wissenschaftliche Hochleistungen hervorgebracht, für die Namen wie Fichte, Hegel, Niebuhr und Ranke stehen.

Die Rückblende in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wird jetzt in Berlin gleich in doppelter Hinsicht möglich. Die Hauptstadt hat nämlich das Glück, im Nikolaiviertel zwei benachbarte Gebäude von großer Authentizität zu diesem Thema zu besitzen:

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 31 foto: m. richter Poststraße 16 im Bezirk Mitte – das ist die Anschrift für das schön geschwungene alte Patrizierhaus des Ephraim-Palais, das einst der Hofbankier und Fabrikant Veitel Heine Ephraim erbauen ließ. Gelegen direkt am Mühlendamm, für dessen Verbreiterung es 1936 abgetragen wurde.

Zu DDR-Zeiten wurde das Palais dann 1985 bis 1987 nach alten Plänen wieder errichtet. Ein geradezu idealer Platz für kulturhistorische und stadtgeschichtliche Ausstellungen, auch äußerlich wieder gesichert hinter frisch sanierter Fassade.

Poststraße 23 – das ist schräg gegenüber das sogenannte Knoblauchhaus, von 1818 bis 1929 Stammsitz der Berliner Familie des Seidenfabrikanten Johann Christof Knoblauch und seiner Nachfahren, die sich auch in der Stadtpolitik und im sozialen Bereich engagierten.

Nach eineinhalbjähriger Restaurierung und Renovierung präsentiert sich das Gebäude heute als einziges erhaltenes Bürgerhaus jener Zeit mit originalen Möbeln und weiterer Ausstattung, die aus der Knoblauch-Familie dem lebendigen Museum zur Verfügung gestellt wurde.

Was sich im Ephraimpalais in Fotos, Gemälden, Figurinen, in Zeichnungen, Büchern, Dokumenten und Porzellan, in Pokalen und Alben, in Briefen, Modellen und Spielzeug manifestiert, wird gegenüber im Knoblauchhaus in einem echten Wohn- und Geschäftshaus erlebbare Realität.

Aber wie „gemütlich“ war eigentlich die Biedermeier-Zeit wirklich? Die engen, steilen, knarzigen Treppen mag man kaum mit einem vollbeladenen Tablett erklimmen, mit der abendlichen

Beleuchtung war das wohl auch so eine Sache, und die Tragfähigkeit „Biedermanns Abendgemütlichkeit der zierlichen Möbelstücke, die meist nur an den Wänden – Berlin von Innen“. Bis zum 29. April im Stadtmuseum aufgereiht waren, möchte man eigentlich nicht austesten. War früher Berlin / Ephraim-Palais, tatsächlich alles so viel besser, wie manche meinen? Poststraße 16, 10178 Berlin-Mitte. Knoblauchhaus, Poststraße 23, bis auf weiteres. Darüber lässt sich vortrefflich nachdenken, zum Beispiel Dienstags, donnerstags bis sonntags 10 bis 18 Uhr, bei der Einkehr in einem der wirklich gemütlichen Restaurants, mittwochs 12 bis 20 Uhr. Tel: 030 - 24 002-0, Weinstuben und Cafés des Nikolaiviertels, das bekanntlich zum www-stadtmuseum.de, Standardprogramm jeder Berlin-Besichtigung gehört. E-Mail: [email protected]

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DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 32 Anna Nicole Smith und die Grenzen des amerikanischen Traums

Von RAFAEL SELIGMANN

Gelegentlich verdrängt eine Klatschmeldung die politischen Neuigkeiten aus den Schlagzeilen. So die Nachricht vom Tod der Anna Nicole Smith. Die Medien zeigten allenthalben Bilder des ehemaligen Models, an das sich viele durch ein einstiges Reklameposter für den Textilgrossisten H&M erinnerten. Der blonde Vamp war 40-jährig jäh verstorben. Fix schrieben viele Journalisten einen Vergleich mit Marilyn Monroe herbei.

Bald aber hatte sich das Medienkarussell weiter gedreht – zur Gesundheitsreform, zu Abgasnormen und Kinderbetreuungs- stätten. Es lohnt jedoch, inne zu halten und sich Gedanken über Anna Nicole Smith zu machen.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 33 foto: picture-alliance/ SCHROEWIG/Cyberimage Auf den ersten Blick ist der Vergleich zwischen Anna Nicole Smith und Marilyn Monroe abwegig. Die Filmdiva Monroe war eine geschulte und bald auch anerkannte Schauspielerin und Sängerin. Marilyn Monroe unternahm große Anstrengungen, sich vom Klischee des blonden Dummerchens zu lösen. Sie bemühte sich, ihren Intellekt und ihre Bildung zu erweitern. Monroe beschäftigte sich intensiv mit Psychologie und Psychoanalyse.

Anna Nicole Smith dagegen erscheint, sieht man von ihren wasserstoffblondgefärbten Haaren ab, geradezu als Negativ zur gefeierten Mimin Marilyn Monroe. Smith besaß kein Talent. Weder als Schauspielerin noch als Tänzerin. Wissen und Intellektualität waren ihr einerlei. Smith, als Vicky Lynn Hogan in Texas geboren, kannte nur ein Ziel, das sie schamlos verfolgte: Geld.

Als Stripteasetänzerin gelang es ihr, in ihrem Heimatstaat die Aufmerksamkeit und Begierde des 85-jährigen Öl-Milliardärs Howard Marshall II. zu erringen, ihn dazu zu bringen, sie zu heiraten, ihr testamentarisch sein Vermögen zu vermachen. Damit hatte der Greis für Anna Nicole Smith seine Schuldigkeit getan. Er durfte sterben, was er auch prompt tat.

Doch da geriet der Teufelsritt der Amazone zum steilen Olymp des Mammons ins Stolpern. Howard Marshalls Kinder aus früheren Ehen fochten das Testament ihres senil-triebhaften Vaters an. Sie waren nicht bereit, dessen Kokotte kampflos die Dollar-Milliarden zu überlassen und deren American Dream zu erfüllen. Ein jahrelanger Kampf ums Geld setzte ein. Die schier endlose Serie von Prozessen war beim Tod der Ex-Stripperin noch lange nicht entschieden. Auch nach ihrem Ende werden Anwälte weiterhin um jeden Dollar der Hinterlassenschaft des Milliardärs ringen.

Keine Ähnlichkeit also zwischen der Filmdiva und der Stripteasetänzerin. Oder? Beim genauen Hinsehen werden Schicht um Schicht doch bemerkenswerte Parallelen – nicht nur in den Lebensläufen der beiden Frauen – sichtbar. Norma Jean Mortenson aus Kalifornien, so Marilyn Monroes Geburtsname, erkämpfte sich mit eiserner Energie ihren Weg nach Hollywood. Nachdem sie durch eigene Leistung längst Geld und Ruhm geerntet hatte, sehnte sie sich auch nach intellektueller Anerkennung. Ein Versuch, diese Akzeptanz im Kurzschluss zu erreichen, war die Ehe mit dem brillanten Intellektuellen Arthur Miller.

Der Dramatiker stammte ebenfalls aus kleinen Verhältnissen. Seine Vorfahren waren jüdische Einwanderer aus Osteuropa. Miller erschrieb sich Geld und Ruhm. Als Intellektueller war er jedoch fähig, nicht nur das eigene Tun, sondern auch das Leben und Streben der amerikanischen Gesellschaft nach Geld und ihr tragisches Scheitern zu begreifen und darzustellen.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 34 In dem Stück „Der Tod des Handlungsreisenden“ entlarvt Miller den amerikanischen Traum: die gnadenlose Jagd nach Geld als bare Münze der gesellschaftlichen Anerkennung. Arthur Miller gelang es, sich dieser Hatz zu entziehen. Nicht nur dem hemmungslosen Versuch, Mammon anzuhäufen, sondern auch der Preisgabe anderer Menschen an das System.

Arthur Miller war einer der wenigen anerkannten Künstlerper- sönlichkeiten Hollywoods, der sich in den frühen 50er Jahren der Treibjagd von Senator Joseph McCarthy und dessen Ausschuss gegen unamerikanische Umtriebe widersetzte, dessen reale Funktion ein Kesseltreiben gegen tatsächliche und vermeintliche Kommunisten war. Eifrige Helfer des paranoiden Senators McCarthy waren unter anderen der aufstrebende Politiker Richard Nixon, der B-Picture-Star und spätere Präsident Ronald Reagan sowie der begabte Filmregisseur Elia Kazan.

Auch der scharfsinnige Schriftsteller Miller war ein Mann. Also konnte er der Versuchung nicht widerstehen, die begehrteste Frau und das unumstrittene Sexsymbol Amerikas zu freien: Marilyn Monroe. Es dauerte eine Weile, ehe Miller erkennen musste, dass auch er der amerikanischen, ja menschlichen Sehnsucht nach Ruhm erlegen war.

Schließlich zerbrach die Ehe zwischen dem sich kühl gebenden Analytiker der amerikanischen Gesellschaft Miller und der Actrice. Der amerikanische Traum von Ruhm, Geist und Geld hatte sie zusammengebracht, aber am Ende auch getrennt. Marilyn Monroe zerschellte daran. Sie nahm sich 1962 wohl das Leben. 45 Jahre später scheiterte auch Anna Nicole Smith’ Jagd nach der Währung des Ruhmes und der Anerkennung.

Anna Nicole Smith und Marilyn Monroe verdienen unser Mitleid als Frauen. Sie waren Teil des herrschenden sozial-ökonomischen Systems. Doch machen wir uns nichts vor: Der Kapitalismus ist weder in Amerika erfunden worden noch haben die Vereinigten Staaten oder gar US-Banken ein Monopol darauf.

Nach dem Scheitern des Kommunismus ist der siegreiche Kapitalismus dabei, seinen sozialen Schleier ungeniert abzustreifen. Dadurch werden auch seine unschönen Züge sichtbar. Das Streben nach Geld verleiht unserer Wirtschaft dynamische Kraft. Doch dieses Unterfangen muss kontrolliert werden. Es darf nicht auf Kosten der Menschen geführt werden.

Eigentum verpflichtet, lautet Artikel 14 unseres Grundgesetzes. Diese Begrenzung muss erhalten bleiben, um die Bürger als Träger des demokratischen Systems zu schützen und zu verhindern, dass sie Opfer werden. Ebenso wie sich dies in der Vita des „Supermodels“ auf tragische Weise kundtat.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 35 ITB 2007 im März: Vor neuen Rekorden?

In den Berliner Messehallen findet in diesem Jahr vom7. bis 11. März wieder die Internationale Tourismus-Börse (ITB) statt. Es wird die 41. ITB sein, und es werden mehr Besucher erwartet als jemals zuvor. Der bisherige Rekord wurde bei der 40. ITB im vergangenen Jahr aufgestellt: Allein 94 553 Fachbesucher wurden gezählt, dazu 68 270 Privatpersonen. Mit 10.856 Ausstellern waren 2006 auch mehr Anbieter zur ITB nach Berlin gekommen als in allen Jahren zuvor. Auch die Zahl der berichtenden Journalisten lag 2006 mit 8016 so hoch wie noch nie. Vor allem aber: Die auf der ITB 2006 generierten Umsätze beliefen sich auf mehr als fünf Milliarden Euro.

Für die diesjährige ITB werden noch bessere Zahlen erwartet – in wiederum nur fünf Ausstellungstagen. Der 7., 8. und 9. März bleibt den Fachbesuchern vorbehalten, am 10. und 11. März sind die Messehallen für Fachbesucher und für interessierte Privatpersonen geöffnet. Öffnungszeiten an allen fünf Messe-Tagen: 10 bis 18 Uhr. Am 10. und am 11. März kostet eine Tageskarte 13 Euro (im Online-Verkauf 11 Euro).

Die ITB gilt als weltweit führende Fachmesse der internationalen Tourismuswirtschaft und ist zugleich die größte Reisemesse für private Besucher. Rund drei Viertel der Aussteller kommen erfahrungsgemäß aus dem Ausland. Die meisten von ihnen bauen in authentischem Stil landestypische Stände auf. So lässt sich auf der ITB die Atmosphäre vieler ferner Länder zumindest erahnen. Ein Land ist jeweils ITB-Partnerland. 2007 ist Indien an der Reihe.

Mehr unter www.itb-berlin.de

Hannover präsentiert Kultur

Zur 41. ITB zündet die niedersächsische Landeshauptstadt ein Marketingfeuerwerk zum Thema Kultur Region Hannover. Mit Großflächen-Plakatierungen in der Berliner City sowie einer Mega-Kooperation mit der Deutschen Bahn AG will Hannover für Aufmerksamkeit sorgen.

Zum Ziel der Kampagne Hans Nolte, Geschäftsführer der Hannover Marketing GmbH: „Nach unserer erfolgreichen Herzschlag-Kampagne zur FIFA WM im letzen Jahr setzen wir 2007 ganz auf das Thema Kultur. Die Region Hannover bietet ein sehr breites kulturelles Spektrum. Das wollen wir in Berlin mit unserer vielseitigen Werbekampagne angemessen präsentieren“.

Mehr unter: www.hannover.de.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 36 Kunst-Werke Berlin zeigen Ausstellung zu Fassbinders Epos „Berlin Alexanderplatz“

Von KLAUS GRIMBERG

„Berlin Alexanderplatz“ gilt als das persönlichste und künstlerisch radikalste Werk von Rainer Werner Fassbinder. Die 1979 gedrehte Fernsehserie in 13 Folgen und einem Epilog sprengte mit ihrer Gesamtdauer von 15 Stunden und 39 Minuten alle bis dahin gekannten Dimensionen. Zum 25. Todestag Fassbinders im Juni dieses Jahres ehren die Kunst-Werke Berlin den visionären Regisseur mit einem außergewöhnlichen Ausstellungsprojekt, das sich intensiv mit der Verfilmung des Döblin-Romans beschäftigt.

Basis der Ausstellung ist die aufwändig restaurierte Kinofassung der Serie „Berlin Alexanderplatz: Remastered“, an der die damalige Cutterin Juliane Lorenz und der Kameramann Xaver Schwarzenberger maßgeblich beteiligt waren. Während der Berliner Filmfestspiele im Februar wurde das von vielen Förderern ermöglichte Projekt bei einer Galapremiere im Berliner Admiralspalast der Öffentlichkeit vorgestellt – in Anwesenheit der Hauptdarsteller Günter Lamprecht, Hanna Schygulla, Barbara Sukowa und Gottfried John.

Die Kunst-Werke eröffnen nun die Möglichkeit, sich jenseits des Berlinale-Trubels intensiv mit der monumentalen Roman- Adaption auseinanderzusetzen. In vierzehn separaten Räumen wird jeweils eine Folge und der Epilog von „Berlin Alexanderplatz“ als fortlaufende Projektion gezeigt. Darüber hinaus werden alle Folgen chronologisch in ihrer Gesamtlänge auf einer Leinwand gezeigt. Der Besucher kann also entscheiden, wie er sich dem Werk nähern will: Man kann sich einzelne Folgen aussuchen oder sich auf den filmischen Marathon einlassen. Möglich ist auch, die Ausstellung mehrfach zu besichtigen – das Eintrittsticket berechtigt zu wiederholtem Besuch.

Durch das Nebeneinander der vierzehn Projektionen wollen die Kunst-Werke den Blick für die visuelle Kraft Fassbinders und seinen innovativen Umgang mit Bildern schärfen. Insbesondere im Epilog, in dem Bild- und Zeitebenen vielschichtig collagiert werden, zeigte sich der Regisseur seiner Zeit weit voraus. Kennern von Fassbinders Gesamtwerk gilt gerade dieser Epilog als das künstlerische Vermächtnis des genialen Filmemachers.

Die Ausstellung präsentiert zusätzlich eine Vielzahl von Standbildern und Stills aus den insgesamt 224 Filmszenen. Auch sie dokumentieren die außergewöhnliche Bildsprache von „Berlin Alexanderplatz“.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 37 Ein sehr persönliches Zeugnis sind die Tonbänder, auf die Fassbinder das gesamte Drehbuch gesprochen hat. Sie werden innerhalb der Ausstellung erstmals öffentlich zugänglich gemacht. Der 600 Seiten starke Katalog enthält neben einigen Essays zirka 650 Filmstills und das komplette Drehbuch, eine Biographie und eine Filmografie Fassbinders sowie eine umfassende Bibliographie.

Das Wiedersehen der Fernsehserie ist für Besucher der Ausstellung auch eine Zeitreise in die ausgehenden 70er Jahre und deren Zeitgeist. Denn „Berlin Alexanderplatz“ wurde während der Erstausstrahlung im Fernsehen 1980 heftig und kontrovers diskutiert.

„Berlin Alexanderplatz“: Schnappschüsse von den Dreharbeiten und Szenenfotos aus dem Fassbinder-Opus.

Die meisten Kritiker zeigten sich begeistert und bescheinigten der Arbeit des damals gerade mal 35- jährigen Regisseurs die Qualitäten eines Alterswerkes. In Boulevard- Medien hingegen brach eine Kampagne gegen den vermeintlichen „Schmuddel-Sex“ in der Serie und die durchgängige Düsternis der Inszenierung los. Mit dem Abstand von fast 30 Jahren und ernüchtert durch die Bilderfluten von Privatfernsehen und Internet erscheinen solche Debatten heute kaum noch nachvollziehbar.

Allen Liebhabern von Alfred Döblins Roman wird sich Fassbinders Film auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts als kongeniale Umsetzung des Stoffes erweisen. Die US-Publizistin Susan Sonntag war schon 1980 dieser Meinung und plädierte dafür, die „Fassbinder: Berlin Alexanderplatz Serie nicht im Fernsehen, sondern im Kino anzusehen. Denn nur – Eine Ausstellung“: Kunst-Werke dort könne „der Film endlich etwas von jener sich Zeit lassenden, – Institute for Contemporary Art (Auguststraße 69, 10117 Berlin), offenen Form und der akkumulierenden Kraft des Romans 18. März bis 13. Mai, geöffnet erlangen, indem er länger dauert, als je ein Film zu sein wagte – und Dienstag bis Sonntag 12-19 Uhr, Donnerstag 12-21 Uhr; indem er theatralisch ist.“ Eintritt 6/4 Euro.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 38 fotos: kw institute for contemporary art Der Ausnahme- Fotograf Brassaï – eine Retrospektive im Gropius-Bau

Von KLAUS GRIMBERG

Das Buch „Paris bei Nacht“ machte ihn 1932 schlagartig weltberühmt: Der Fotograf Brassaï drückte darin seine große Liebe zur französischen Hauptstadt und ihren Menschen aus. Der Berliner Martin-Gropius-Bau zeigt ab dem 9. März eine große Retrospektive auf den begnadeten Künstler mit der Kamera – selbstverständlich wird darin die Hommage an das nächtliche Paris nicht fehlen.

Brassaï auf dem nächtlichen Boulevard Saint-Jacques, um 1932.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 39 foto: estate brassaÏ – rmn/jacques faujour Von Brassaï fotografiert: Liebespaar in einem kleinen Café im Quartier Italie, um 1932. Der US-Schriftsteller Henry Miller sagte einmal über Brassaï: „Wer diesen Mann trifft, der bemerkt sofort, dass er nicht mit gewöhnlichen Augen ausgestattet ist.“ Miller war einer der Gefährten Brassaïs auf dessen Streifzügen in das Nachtleben der französischen Metropole, bei denen er „in die Eingeweide der Stadt hineinstieg und ihnen menschliche Schicksale entlockte, die wir nicht kannten“ – wie es ein Kritiker formulierte. Ermutigt durch den Erfolg seiner Aufnahmen hat Brassaï später immer wieder auch Pariser Straßenszenen bei Tage festgehalten.

Die Ausstellung in Berlin würdigt jedoch nicht allein das fotografische Genie des 1899 geborenen Brassaï, der das Pseudonym von seiner damals ungarischen Heimatstadt Brassó herleitete. Vielmehr öffnet sie den Blick auf einen vielfach talentierten Künstler. So ist ein Kapitel den so genannten „Transmutationen“ gewidmet. Dabei verwendete Brassaï belichtete Glasnegative als Rohmaterial für Zeichnungen, indem er Bilder in die Fotoplatten ritzte und sie ein zweites Mal belichtete. Auf diese Weise gab er vor allem Aufnahmen von weiblichen Akten grafische Formen, indem er sie in Gitarren-, Geigen- oder Mandolinenfrauen verwandelte.

Auch als Zeichner, Grafiker und Bildhauer machte sich Brassaï einen Namen. Überdies drehte er Filme und verfasste Bücher und zahllose Artikel. Viel Aufsehen erregten seine „Conversations avec Picasso“ (1964): Darin reflektiert Brassaï seine Begegnungen und Gespräche mit dem Jahrhundertmaler, dessen langjähriger Freund er war. Alle diese Facetten von Brassaïs Leben und Werk sind in der Berliner Ausstellung berücksichtigt.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 40 foto: estate brassaÏ – rmn/cnac – mnam Ebenfalls ein Brassaï-Foto: Marlene (mit Radfahrer), 1937.

Dennoch liegt der Schwerpunkt auf dem fotografischen Oeuvre: Ausführlich vorgestellt werden seine Arbeiten für die Zeitschrift „Minotaure“ von den 30ern bis in die 80er Jahre, Bilder aus dem Fotobuch „Kamera in Paris“ und die Serie „Graffiti“ aus dem Jahr 1960. In den zufälligen, anarchischen Kritzeleien an verfallenen Häuserwänden sah Brassaï eine Verwandtschaft zu vorzeitlichen Höhlenzeichnungen – dieser Zusammenhang faszinierte ihn.

Sein Anliegen sei, so umriss Brassaï sein künstlerisches Credo einmal selbst, „etwas Neues und Packendes aus dem Banalen und Gewöhnlichen zu schaffen, um den Alltag so abzubilden, als sähe man ihn zum ersten mal.“ In diesem Sinne ist auch seine Fotoserie der „unfreiwilligen Skulpturen“ zu verstehen. Brassaï nahm zufällige Fundstücke wie Fahrkarten, Seife oder Streichholzheftchen als Skulpturen wahr und näherte sich ihnen mit der Kamera aus diesem Blickwinkel. Dieser verfremdende Zugang lässt das Interesse Brassaïs für die Surrealisten deutlich werden.

Brassaï, der für seine Arbeiten vielfach ausgezeichnet wurde, „Brassai (1899-1984) – starb 1984 im französischen Beaulieu-sur-Mer. Mit der Retrospektive, Die große Retrospektive“: Martin-Gropius-Bau, die mit großem Erfolg bereits in Paris zu sehen war, wird nun sein 9. März bis 28. Mai, geöffnet Lebenswerk angemessen gewürdigt. Zu der Ausstellung erscheint Mittwoch bis Montag 10-20 Uhr, Dienstag geschlossen; ein aufwändig gestalteter Katalog mit zahlreichen Fotos von Brassaï. Eintritt 7/5 Euro, Katalog 69 Euro.

DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 85 Februar 2007 Blatt 41 foto: estate brassaÏ – rmn/cnac – mnam