Designierte Bundeskanzlerin Merkel, Partner*: Die Große Koalition ist im Moment ein Exposé mit vielen Fußnoten Die Mechanik der Macht Neun Wochen haben Parteien und Politiker um Strategien und Personen gerungen, viele nahmen Schaden dabei. Bisweilen schwankte auch , die nun an der Spitze einer Großen Koalition als erste Frau ins Kanzleramt einziehen wird. Von Matthias Geyer und Dirk Kurbjuweit

ngela Merkel hätte jetzt gern ein hoch, bedeutsam. Und nun: kein Wein, den Tisch. „Also, zum Wohl“, sagt Ange- Glas Wein. Aber es gibt keinen kein Bier. la Merkel. Von rechts pendelt Edmund AWein. möchte Ein Kellner schnürt heran, er stellt zwei Stoiber heran, fröhlich, lässig, als wäre nie Bier trinken. Es gibt auch kein Bier. Eine Gläser Sekt auf den Tisch. Platzeck schüt- etwas gewesen. große Stunde ist das hier, eben wurde der telt den Kopf. „Nein?“, fragt Merkel. „Sooo“, sagt Stoiber. Er stellt sein Ge- Vertrag der Großen Koalition unterschrie- „Nein, besser nicht“, sagt Platzeck. Sekt ist tränk ab. Sekt. Er sieht das Mineralwasser ben, ein Festakt der Demokratie. Merkel das Getränk einer Laune, etwas für einen und schiebt seinen Sekt an den Rand. Er und Platzeck stehen an einem kleinen run- leichten Augenblick. Man kennt doch die- hätte jetzt auch gern ein Mineralwasser. den Tischchen, über ihnen wölbt sich die se Bilder, 1998, Rot-Grün an der Macht, Vorn in der Halle liegen die Verträge, Halle des Paul-Löbe-Hauses, unendlich Lafontaine, Schröder, Fischer mit Sektglä- blauer Einband, „Koalitionsvertrag 2005 – sern in der Hand, feixend, unernst. Und 2009“ steht da drauf, 191 Seiten dick. Die * Nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags im danach? Keinen Sekt also. Der Kellner Große Koalition ist im Moment ein Expo- Paul-Löbe-Haus in Berlin am vergangenen Freitag. stellt zwei Gläser mit Mineralwasser auf sé mit vielen Fußnoten. Sie muss jetzt

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Briefe ich bekomme, wenn ich zweimal in Der Wahlabend ist so leise im Konrad- der Woche dasselbe anhabe?“ Adenauer-Haus, als wäre es eine Totenfei- Eine große blaue Wand steht am Kopf er. Schwarz-Gelb ist tot. 35,2 Prozent für der Halle, man kann die Überschrift dieses die Union sind zu wenig. Koalitionsvertrags darauf lesen. „Gemein- Wolfgang Schäuble ist einer der Ersten, sam für Deutschland – mit Mut und der darauf kommt, das geplante Bünd- Menschlichkeit“. nis über eine dritte Farbe zu beleben. Es ist ein Versuch. , der Schwarz-Gelb-Grün. Plötzlich gibt es eine kommende Landwirtschaftsminister, steht Hoffnung. Man ist sich schnell einig. vor dem Plakat, er guckt es lange an. „Was Die Wähler haben den Politikern an die- steht da?“, fragt er. „Gemeinsam? Aha.“ sem Tag ein großes Geschenk gemacht. Es Es klingt nach Zweifel. Es gab schon heißt Freiheit. Sie können sich lösen aus zum Auftakt Krach, der leidige Haushalt. ihren Lagern, sie können sich öffnen für Mit Mühe hat man sich geeinigt. Die Ge- eine Vielzahl von Koalitionen. Ein unge- sundheitspolitik ist das nächste Feld der ahnter Möglichkeitsraum tut sich auf: Zwietracht. Schwarz-Gelb-Grün, Schwarz-Rot, Rot- Aber immerhin gibt es jetzt einen Ko- Gelb-Grün, Rot-Rot-Grün. Politik ist plötz- alitionsvertrag, und am Dienstag wird An- lich wie ein Blumenstrauß, farbenfroh, es gela Merkel sehr wahrscheinlich zur Kanz- blüht die Phantasie. lerin gewählt. Man muss ja vorsichtig sein Selten war Politik so spannend, so auf- mit Prognosen über sie seit dem Wahltag. regend. Am Montag und Dienstag treffen Alles schien möglich zu sein nach diesem sich Politiker und Journalisten bei den ers- Wahlergebnis vom 18. September, nichts ten Pressekonferenzen nach der Wahl, am sicher, Bündnisse erblühten und verwelk- Rand der ersten Fraktionssitzungen. Alle ten, Figuren erschienen und verschwanden, haben sich im Wahlausgang getäuscht, aber Inhalte purzelten, mal nach links, dann schon wieder traut sich fast jeder eine Pro- nach rechts. Ein Tag konnte so ereignis- gnose zu: Die Farben werden wild ge- reich sein wie sonst eine Woche, ein Monat. mischt. Hat nicht auch Stoiber gesagt, dass Es war die höchstmögliche Verdichtung er sich Schwarz-Gelb-Grün vorstellen von Politik. Es war auch die Entschleie- kann? „Jamaika“ heißt das jetzt, nach den rung von Politik. In der Dichte, der Schnel- Farben des Landes, irgendwie ein fröhli- ligkeit, der Wirrnis offenbarten sich Struk- ches Wort. turen und Menschen. Das System wurde Doch eine Woche, die verheißungsvoll kenntlich, in seiner sturen Mechanik, sei- beginnt, nimmt einen typischen Verlauf. ner Härte, seiner Beschränkung, einmal Politik ist Verkleinerung, Begrenzung von sogar, kurz, in seiner Schönheit. Ideen. Politik ist die ewige Verführung Der Blick zurück auf die vergangenen durch das Naheliegende. Schon am Mon- neun Wochen ist deshalb auch ein Blick tag nach der Wahl, während die Köpfe nach vorn. Denn das System ändert sich noch voller Blütenträume sind, beginnt die nicht. Es bleibt. Angela Merkel wird als übliche Mechanik des Systems.

MARC-STEFFEN UNGER MARC-STEFFEN Kanzlerin auf die gleichen Strukturen, die- Sie funktioniert nach zwei Regeln. Die selben Menschen treffen, die ihr schon die erste heißt Personalisierung. Die Personen Deutschland aufrichten. Ihre Politiker haben Kanzlerwerdung schwer gemacht haben. nehmen sich so wichtig, dass ihre persön- eben mit Tintenschreibern ihre Unterschrift lichen Abneigungen Koalitionen verhin- geleistet, es war ein Beginn, es muss jetzt dern. Plötzlich taucht wieder das Argu- Woche 1, 19. bis 25. September weitergehen, sie müssen eine gemeinsame ment auf, ein Jürgen Trittin könne sich Sprache finden. Worüber reden sie jetzt? VERENGUNG niemals mit einem an Platzeck sagt, dass er selten Sekt trinke. einen Kabinettstisch setzen. Ein Stoiber Merkel sagt, dass sie auf ihre Kleidung ach- s ist eine Idee, die aus dem Entsetzen nicht mit einem Fischer. Ein Schröder so- ten müsse, „was glauben Sie, wie viele Eheraus geboren wird, aus der Stille. wieso nicht mit einem Lafontaine. Und

Kurzer Marsch durch die Instanzen Die politische Karriere von Angela Merkel

REGIERUNG März 1990 1991 – 1994 1994 – 1998 22. Novem- Stellvertr. DDR- Bundesministerin Bundesministerin für ber 2005 Regierungs- für Frauen und Umwelt, Naturschutz Bundes- sprecherin Jugend und Reaktorsicherheit kanzlerin

FRAKTION Dezember 1990 September 2002 Direktkandidatin für den Wahlkreis Stralsund, Unions-Fraktions- Rügen, Grimmen; Bundestagsabgeordnete vorsitzende

PARTEI Eintritt in August 1991 1993 – 2000 Nov. 1998 April 2000 den Demo- 1990 Stellvertreten- Landesvorsitzende General- Parteivorsitzende kratischen Eintritt in de Vorsitzende der CDU Mecklen- sekretärin der CDU Aufbruch die CDU der CDU burg-Vorpommern der CDU 1989 1990 1991 1993 1994 1998 2000 2002 2005

der spiegel 47/2005 25 MICHAEL RIEHLE / LAIF MICHAEL RIEHLE FDP-Chef Westerwelle, „Jamaika“-Fans*: Eine interessante Idee auf dem Müllhaufen der Albernheiten ein Westerwelle kann mit überhaupt nie- sind. Es herrscht jetzt das fatale Wort Mach- Woche 2, 26. September bis 2. Oktober mandem von Rot-Grün an einem Kabi- barkeit. Machbar ist in der Politik immer nettstisch sitzen. Weil es ihm, nach tau- nur das, was gerade gemacht wird. SEKUNDENPOLITIK send Wendungen in seinem politischen Le- Die Spannung, die Phantasie sind schon ben, diesmal so vorkommt, dass es am verschwunden, als sich am Donnerstag und ls Christoph Schwennicke zum ersten nützlichsten ist, keine Wendung zu ma- Freitag die Spitzen der Union mit den Spit- AMal im Parlament des Deutschen Bun- chen. Das politische Personal wirft jetzt zen von SPD, FDP und Grünen zu ersten destags war, arbeitete er bei der „Badi- ganz breite Schatten, über die man nicht Gesprächen in der Parlamentarischen Ge- schen Zeitung“, und war springen kann. sellschaft treffen. Bundeskanzler. Schwennicke saß auf der Im scheinbaren Widerspruch dazu steht Eine interessante Idee landet auf dem Pressetribüne und blickte hinab ins Ple- die zweite Regel der politischen Mecha- Müllhaufen der Albernheiten, ohne dass num. Er wollte beobachten, womit sich nik, die sich auch in dieser ersten Woche sie jemals ernsthaft erörtert wurde. Die Politiker beschäftigen, mit wem sie reden, nach der Wahl offenbart. Die Politiker mit Gespräche zwischen Union und FDP sowie was sie so tun da unten. dem großen Ego haben Angst vor der Ba- Grünen verlaufen in geplanter Leere. Man Die Politiker lasen Zeitung. sis, vor der Bündelung der kleinen Egos. will nichts voneinander. Sie arbeiteten sich durch die Politiksei- Für die grünen Spitzen ist die Aussicht Eine Große Koalition muss ja nichts ten, sie informierten sich über ihr eigenes auf einen Parteitag, bei dem sie für Jamai- Schlechtes sein, aber die erste Annäherung Geschäft. Schwennicke bekam eine Ah- ka werben sollen, plötzlich wie die Aus- der großen Parteien geschieht in Lustlo- nung davon, welche Funktion Medien in sicht auf das Fegefeuer. sigkeit. Der Begründungszwang fällt weg. der Mechanik des Politikbetriebs haben. Es , der sich noch am Man muss nicht mehr sagen, was inhalt- kam ihm vor, als wäre eine Tageszeitung so Sonntag für Schwarz-Gelb-Grün ausge- lich-visionär für eine Große Koalition etwas wie der Branchendienst der Politik. sprochen hat, ist am Mittwoch vehement spricht. Man schmiegt sich in die Rolle des Inzwischen leitet Schwennicke die Par- dagegen. Er droht sogar mit einer Spal- Opfers von Zwangsläufigkeit. lamentsredaktion der „Süddeutschen Zei- tung der Union. So bleibt von dieser Woche fürs Erste tung“. Der Morgen des 27. September be- An diesem Tag hat er mit den Abgeord- nur der Streit um die Kanzlerschaft. ginnt, wie jeder Arbeitstag von Christoph neten der CSU im bayerischen Schröder röhrt, dass er Kanzler bleiben Schwennicke beginnt. Er steht um sieben zusammengesessen. Die allermeisten kön- will, obwohl die Union stärkste Partei ist Uhr auf, er hört den Deutschlandfunk und nen sich Jamaika nicht vorstellen. Stoiber, und damit, nach bundesdeutschen Ge- liest Zeitung, „Süddeutsche“, „Frankfurter der größte Angsthase der deutschen Poli- pflogenheiten, den Kanzler einer Großen Allgemeine“, „Tagesspiegel“. tik, kann sich nicht vorstellen, für Jamaika Koalition stellen darf. Er will nicht loslas- Um Viertel nach acht fährt Schwennicke zu werben. sen. Er spricht Merkel die Fähigkeit ab, ins Büro, er ruft Politiker an, manchmal Niemand beginnt damit in dieser Wo- Kanzlerin zu sein. Er personalisiert die bekommt seine Redaktion auch Anrufe che. So wird der Möglichkeitsraum im Lau- Debatte, besetzt die Köpfe mit seinem von Politikern. Heute telefoniert er mit je- fe der Woche rasend schnell kleiner, weil Anspruch. So wird die Sacharbeit, die Su- mandem von der SPD, der immer genau die Möglichkeiten des Personals so klein che nach Ideen erst einmal verschoben. weiß, was sich gerade so tut in seiner Par- Schröder stiehlt Zeit, die Deutschland tei. Der Mann von der SPD sagt, es sei * Am 23. September vor dem Berliner Reichstag. gehören müsste. wahrscheinlich, dass Franz Müntefering

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Vizekanzler wird. Schwennicke weiß, dass Niemand ruft an, als die „Süddeutsche hat, sagt er gern auf Latein. Stiegler, Frak- solche Hinweise nicht ohne Bedacht kom- Zeitung“ mit dem Vizekanzler Müntefe- tionsvize der SPD, wirkt dann wie der men, dass eine Strategie dahintersteckt. Er ring erscheint. Niemand fragt: Was soll der Abgesandte des Bildungsbürgertums in der führt weitere Gespräche, mit jedem Ge- Scheiß? Es stimmt. Politik. spräch werden die Hinweise genauer. Er Auch Gerhard Schröder weiß das. Er Der Eindruck täuscht. In Wahrheit ist weiß, was das bedeutet: Müntefering will wartet, was Müntefering selbst dazu sagt, Stiegler Vertreter einer politischen Spe- Schröders Spiel beenden. Die „Süddeut- ob er überhaupt etwas sagt. Müntefering zies, die man „die Wilden“ nennen könn- sche Zeitung“ veröffentlicht die Nachricht schweigt. Schröder kann es als Bestätigung te. Woche drei ist die Woche der Wilden. am nächsten Tag auf der Seite 1. werten, dass sich in der Architektur der Die Sondierungsgespräche zwischen den Es ist Mittwoch, der Tag, an dem der Macht etwas verschoben hat. Er rückt im Spitzen von Union und SPD verlaufen gut, Deutsche über die Verlänge- Lauf der Woche ab von seinen Ansprüchen, die Große Koalition wird allmählich Wirk- rung des Bundeswehrmandats in Afghani- es gehe nicht um seine Person, sondern um lichkeit. So langsam könnte der Eindruck stan verhandelt. Schwennicke geht ins Par- die Bildung einer stabilen Regierung. aufkommen, dass die Politik konstruktiv lament, er sieht hinab ins Plenum, die Po- In dieser Woche wird der Abschied des wird, dass sie die Schlachten des Wahl- litiker lesen Zeitung. Afghanistan ist nicht Bundeskanzlers eingeleitet. Er wird gehen, kampfs hinter sich lässt und die Probleme so interessant, es geht um die „Süddeut- aber nicht ganz. Es bleibt etwas von ihm. angeht. Politik und Wirklichkeit nähern sche Zeitung“, um Müntefering und um Schwennicke beobachtet Schröder von sich an. die Frage: Was wird aus Schröder? der Pressetribüne aus, der Kanzler wirkt Das ist immer die Stunde der Wilden. Selten ist so deutlich geworden wie an an diesem Mittwoch kregel wie immer. Sie sind die Feinde der Wirklichkeit, die diesem Tag, wie das tatsächlich funktio- Schwennicke fällt ein schöner Begriff ein, Gegner des Konsenses und der breiten niert, wenn Medien Politik machen. Die „Sekundenpolitik“. Schröder hat in den sie- Mehrheiten. Für sie ist Ruhe eine Chance, Politik benutzt Medien im Wortsinn, als ben Jahren seiner Kanzlerschaft die Politik Unruhe zu verbreiten. Mittel, um Tatsachen zu schaffen, sie hat des Augenblicks betrieben, als Sprint, nicht In dieser Woche der aufkommenden Medien die Bedeutung des Mitspielers als Langstreckenlauf. Kaum hatte etwas be- Ruhe läuft wie ein Vor- gegeben. Politiker haben sich mit Zeitun- gonnen, war es schon wieder zu Ende. Poli- schlaghammer durch Berlin und zertrüm- gen, Fernsehen und Rundfunk ein Kom- tik wurde auf den Moment reduziert, sie hat mert die Hoffnungen der Bürger, endlich munikationszentrum geschaffen, das außer- flüchtige Wirklichkeiten hergestellt. wieder regiert zu werden. halb der parlamentarischen Institutionen Schwennicke sagt, der politische Journa- Woche drei beginnt für Stiegler mit Sät- die Arbeit tut. lismus sei diesem Takt gefolgt. Er ist schnel- zen, die ihm nicht gefallen. Franz Münte- fering sagt den einen: „Wir sind dafür, dass Gerhard Schröder Kanzler ist, aber es wird in diesen Verhandlungen über die Ge- samtkonstellation zu sprechen sein.“ Den anderen Satz sagt Gerhard Schröder: „Ich will nicht einer Entwicklung zur Fort- führung des von mir eingeleiteten Reform- prozesses und zu einer stabilen Regierung in Deutschland im Wege stehen.“ Der König kippelt. Aber Stiegler will ihn halten, gegen die Wirklichkeit. Er läuft hin- aus, er hat es eilig. Draußen sagt er: „Die Partei steht zu Gerhard Schröder. Wenn die Union das nicht akzeptiert, wird es kei- ne Verhandlungen geben.“ Angela Merkel, „diese Frau“, sagt er, werde mit den Stimmen der SPD nicht zur Kanzlerin gewählt werden, sie sei gegen al- les, „was die SPD seit 1863 erkämpft hat“. Die Waffe des Wilden ist das Ausrufe- zeichen. Stiegler spricht im Gestus absolu- ter Gültigkeit von ewiger Unversöhnlich- keit. Der Wilde trägt den Wahlkampf auch

ANJA WEBER ANJA in die Zeit der Friedensverhandlungen. Er Parlamentsreporter Schwennicke: „Abgerichtet wie ein Jagdhund“ liefert den Medien Zitate, Zuspitzungen, er baut Kulissen auf, er lässt Politik immer Vizekanzler Müntefering? Es ist ein Ver- ler geworden, hysterischer, alberner auch. wie ein großes, aggressives Spiel aussehen. such, ein Testballon, den die Politik loslässt, „Ich bin auf eine gewisse Art abgerichtet Aber mit jedem Tag dieser Woche läuft um zu sehen, wohin er sich bewegt. Man wie ein Jagdhund. Fass, Schwennicke, hol Stiegler die Wirklichkeit davon. Am Don- kann eine Koalition mit der Öffentlichkeit die Ente“, das, sagt er, sei die Melodie sei- nerstag sagt Schröder, er werde keine „Ver- eingehen, man kann Zustimmung und Ab- nes Berufs. Es ist eigentlich nicht seine Me- handlungsmasse“ sein, von Stiegler ist ein lehnung unmittelbar beobachten, man kann lodie, er sitzt gern am See und angelt. letzter Satz zu hören, ein Zucken eher, er sehen, wie weit man damit kommt. werde Merkel „mit Sicherheit nicht“ zur Es gibt im Zusammenspiel von Politik Kanzlerin wählen. Woche 3, 3. bis 9. Oktober und Medien so etwas wie die Bestätigung „Wozu werde ich verhört?“, fragt Lud- durch Schweigen. „Wenn dich niemand an- WILDE wig Stiegler später, bei einem Gespräch in ruft, wenn niemand sagt: Was haben Sie seinem Büro, das nach dem kalten Qualm denn für einen Scheiß geschrieben, dann udwig Stiegler ist ein eher kleiner von Zigarren riecht. Er läuft zum Humidor, kannst du sicher sein: Es stimmt“, sagt LMann, er hat ein unscheinbares Ge- holt eine Havanna heraus, setzt sich, zer- Christoph Schwennicke. sicht und gütige Augen. Was er zu sagen schneidet die Zigarre in der Mitte, steckt

der spiegel 47/2005 27 Sozialdemokrat Stiegler: „Einer muss den Wilden machen“ die eine Hälfte in Brand, raucht, genießt, Ludwig Stiegler sagt: „Nach einer Pha- wartet auf Fragen. se des antagonistischen Kampfes kommen Was ist die Strategie? wir jetzt in die Phase der kooperativen „Wenn wir die CDU vier Wochen grillen, Verhandlungen.“ dann springt die FDP aus ihrer Katzen- klappe, dann reden wir über die Ampel.“ Woche 4, 10. bis 16. Oktober Was ist seine Rolle dabei? „Einer muss den Wilden machen. Ich KAMPF hätte es bis zum Exzess getrieben.“ Warum hat er gesagt, er wolle Angela lles, was man sehen kann in ihrem Merkel nicht wählen? AGesicht, ist Müdigkeit. Sie hat das „Ich war auf der Suche nach einem neu- Gesicht eines Montagmorgens, es ist ei- en Druckmittel. Ich habe das eben so in gentlich noch nicht ganz da. Sie steht im den Raum geworfen, und dem hat komi- Konrad-Adenauer-Haus, ihre erste Presse- scherweise niemand widersprochen.“ konferenz als designierte Kanzlerin. An- Was hat er gegen Merkel? gela Merkel hört eine Frage, die aus einer „Nichts, gar nichts. Ich könnte mit der anderen Wirklichkeit zu kommen scheint, Frau jederzeit eine Wanderung machen.“ die Frage lautet: „Sind Sie eine glückliche Schadet er der Politik nicht, wenn sie Frau? Come on!“ Eine Journalistin aus Dä- als Kulisse erkennbar wird? nemark hat diese Frage gestellt, die eher „Das war mir egal. Solange verhandelt eine Erwartung war: Freu dich doch, läch- wird, wird verhandelt. Bis aufs Messer.“ le, zeig Gefühle, come on. Sie wartet auf Glaubt er, dass er sich selbst verbrannt ein Gesicht, in dem man erkennen kann, Wartende Journalisten vor der Parlamentarischen hat in diesem Spiel? wie Glück in der Politik aussieht. „Ja mei, das wird man sehen.“ Ein Lächeln fliegt über Merkels Gesicht, kompetenz für Frau Merkel, sagt Stoiber. Der Stumpen seiner Havanna landet im ein flüchtiges Zucken eher. Sie sagt: „Ich Auch Franz Müntefering sagt das. Auch Aschenbecher, das Gespräch ist beendet. bin guter Stimmung.“ . Der Kampf geht weiter. Es war einer jener seltenen Momente, in Stimmung ist das Gefühl eines Mo- Der politische Kampf kennt Gegner, die denen Zauberer ihre Tricks verraten. ments, Glück ein Zustand, insofern hat An- jeder sehen kann, diese Gegner sitzen im- Am Sonntagabend dieser Woche hat gela Merkel eine ehrliche Antwort gege- mer in der jeweils anderen Partei. Und er Ludwig Stiegler sein Spiel verloren. Ger- ben. Sie hat, in langen Wochen, Kämpfe kennt Feinde, die aus dem Hinterhalt ope- hard Schröder, Franz Müntefering, Ange- ausgetragen, schmutzige Angriffe abge- rieren, diese Feinde sitzen in der eigenen la Merkel und Edmund Stoiber treffen sich wehrt, und sie steht, immer noch, für den Partei. Der Kampf gegen die Feinde ist der zu einem Gespräch in der Parlamentari- Moment. Es gibt keine Endgültigkeit im eigentliche Kampf der Politik. schen Gesellschaft, ein Gebäude gleich politischen Betrieb, kein Glück eines Er- Am Anfang dieser Woche zieht eine gegenüber dem Reichstag. Sie sitzen im schöpften, der am Ziel ist. Angela Merkel neue Bedrohung auf, Angela Merkel sieht Raum „Niedersachsen“ auf gelben Sofas, darf sich nicht fallen lassen. den nächsten Feind herankommen, er ist ein Kamin brennt, an der Wand hängt ein Am selben Tag tritt Edmund Stoiber groß, über einsneunzig, und er glüht vor Gemälde, es hat den Titel: „Bismarck ver- abends vor die bayerische Presse und sagt: Willen. Horst Seehofer ist entschlossen, lässt den Reichstag“. Sie einigen sich dar- „Am Ende kann es sein, dass die Kanzle- Minister in Merkels Kabinett zu werden. auf, dass Angela Merkel die nächste Kanz- rin die Richtung vorgibt, aber in einer Seehofer ist ein Mann ohne Amt, aber er lerin der Bundesrepublik Deutschland Großen Koalition ist das nur in dosierter hat Überzeugungen. Er sagt, dass Politik wird. Form möglich.“ Es gibt keine Richtlinien- die Rechte der Schwächeren schützen

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Das war vor einem Jahr, zu einer Zeit, als ich stehe wieder da. Er denkt an das Ende Merkel und Stoiber noch Verbündete wa- des Rückkampfs, an Angela Merkels Ge- ren. Auch Stoiber wollte Seehofer zurück- sicht. lassen, er hatte Angst vor ihm, weil See- Politik ist auch der Reiz des Widerli- hofer in Bayern beliebter ist als Stoiber. chen, so muss man Horst Seehofer wohl Inzwischen sind auf dem politischen verstehen. Er giert nach Rehabilitation, er Schlachtfeld neue Ordnungen entstanden, sieht keinen anderen Weg dahin, als in der andere Allianzen. Stoiber und Seehofer Rückkehr in das System, keine andere Be- sind jetzt Verbündete, sie haben sich an- lohnung als den Triumph über das System. einander gekettet, sie haben das gleiche Er hatte nichts mehr, nur seine Freiheit. Ziel und den gleichen Gegner, eigene Freiheit kann in der Welt des Politischen Größe und Angela Merkel. zur Gefahr werden, weil sie keine Abhän- Horst Seehofer war sechs Jahre Ge- gigkeiten kennt, keine Kabinettsdisziplin, sundheitsminister im Kabinett von Helmut keine zwangsläufigen Loyalitäten. Nur Kohl. Als Kohl 1998 abgewählt wurde, fühl- Ämter machen verlässlich. te sich Seehofer dafür verantwortlich. Er Mitte Oktober bestellte Edmund Stoi- hatte den Bürgern neue Belastungen zu- ber Horst Seehofer in sein Arbeitszimmer gemutet, und er dachte, das sei der Grund der bayerischen Staatskanzlei. Es war nach für die Niederlage. Er wollte das wieder- Mitternacht. Stoiber bot Seehofer drei Pos- gutmachen, er verstand es als Schaden, ten an, Minister, stellvertretender Bundes- den man reparieren muss. Er wollte wieder tagspräsident, Chef der CSU-Landesgrup- Minister werden. pe in Berlin. Stoiber riet ihm, Minister zu Er wartete, lauerte. Sein Haus in Ingol- werden. stadt ist mit Außenkameras ausgerüstet, Seehofer kennt die Sprache der Politik, die überwachen, was draußen passiert. er kann sie dechiffrieren, er weiß, dass es Man kann die Bilder auf einem kleinen immer einen Satz hinter den Sätzen gibt. Monitor ansehen, der in seinem Esszim- Der Satz, den Stoiber nicht sagte, hieß: Ich mer steht. Die Anlage war vom Bundes- kaufe dich. kriminalamt installiert worden, als er Kohls Horst Seehofer denkt nicht darüber Gesundheitsminister war, zu seiner Si- nach, auf welchem Weg er ans Ziel kommt, cherheit. Sie wurde nie abgebaut. Appetitlichkeit ist keine Kategorie im poli- Seehofer hat sie nicht abgestellt. Der tischen Kampf. Er will ankommen. Er will Monitor läuft Tag und Nacht. Er sieht dar- auf dem Monitor in seinem Esszimmer auf keine Beamten mehr, die sein Haus Leute vom BKA sehen, keine leere Wiese. bewachen, er sieht nur seinen Garten. Der Er will Bilder der Bedeutung, die ihm sa- Monitor ist ein Andenken an die Macht. Er gen, dass er gewonnen hat. „Solange man sieht ihn ständig an, der Monitor spricht sich in dieser Welt bewegt, ist es ein Leben stumme Botschaften: Du warst mal was, in Selbsterhöhung, und zwar mit allen jetzt bist du nichts mehr. Er erinnerte ihn Glückshormonen, die dabei ausgeschüttet an sein Ziel. Ohne das Ministeramt fühlte werden“, sagt er. Er kennt den Gestank er Nutzlosigkeit, Leere, Versagen. dieser Welt, aber er wäre glücklich darin. Er sitzt in einem kleinen, schattigen Seehofer hat sich mit Stoiber auf das Büro, es ist sehr aufgeräumt, fast leer. Es Landwirtschaftsministerium geeinigt, er sitzt sieht aus, als wartete er nur noch auf die zu Hause und wartet. Am Freitag ruft Stoi- Umzugsleute. Seehofer hofft auf ein Minis- ber an und sagt: „Horst, ich bleibe dabei.“ terium, irgendein Ministerium, Verteidi- Am Samstag hört er, dass Angela Merkel gung wäre noch möglich oder Landwirt- versucht hat, Michael Glos das Verteidi-

UTE GRABOWSKY (L.); SCHREIBER / AP (R.) MARKUS GRABOWSKY UTE schaft, eigentlich ist es ihm egal. gungsministerium anzubieten. Es ist ihr letz- Gesellschaft: Ungeahnter Möglichkeitsraum „Als Minister bist du ein Wurm“, sagt ter Versuch, Seehofer zu verhindern, ein Seehofer. Er lächelt freundlich. Akt der Verzweiflung. Merkel hofft auf den muss. Dass der Sozialstaat erhalten bleiben Seehofer möchte wieder Wurm werden. lucky punch, den glücklichen K.o.-Schlag in muss, damit die Gesellschaft an ihren Rän- Es ist schwer zu verstehen mit normalen letzter Sekunde. Horst Seehofer bleibt ganz dern nicht erodiert. Dass die Union nur Maßstäben, aber Politik hat andere Gül- ruhig. Stoiber muss Seehofer durchbringen, dann Volkspartei bleiben kann, wenn sich tigkeiten. Sie haben magnetische Kraft für um Merkel zu bezwingen, das gibt Seehofer die Menschen an ihr wärmen können. die, die sie einmal kennen gelernt haben. das Gefühl von Sicherheit. Die kriegen mich Hände weg von den Renten. Hände weg Berlin, so hat es Seehofer immer empfun- nicht auf die Seite, denkt er. vom Gesundheitssystem. Das sind Seeho- den, ist wie ein Stück Speck. Am Sonntag verständigt sich das Partei- fers Sätze. Der lange Seehofer versteht sich Seine Unionsfreunde haben alle Häss- präsidium auf Horst Seehofer als zweiten in der CSU als Vogelscheuche gegen die lichkeiten über ihn gekübelt, zu denen Minister der CSU. Die Woche, die mit ei- Angriffe der Reformmutigen, als Beschüt- Parteifreunde fähig sind. Er zählt ein paar nem großen Sieg begann, endet für Ange- zer des Vorhandenen. davon auf, genussvoll fast. „ la Merkel mit einer Niederlage. Seehofer als Minister würde bedeuten, hat gesagt: Den kann man nicht mehr ernst Glück? Come on. dass Merkels politische Architektur ins nehmen. hat gesagt: Der Wanken geriete. Merkel, die so gern ent- hat einen Kopfschuss.“ Woche 5, 17. bis 23. Oktober schlossene Reformerin wäre, hatte ihn ei- Die Frage ist, warum er in ein System gentlich schon hinter sich gelassen, See- zurückwill, das ihn gefoltert hat. ABSCHIED hofer war im Streit um das Gesundheits- Seehofer möchte Genugtuung. Er möch- system der Union von seinem Posten als te die Gesichter sehen, die ihn bekämpft ie stehen da und warten, warten auf das sozialpolitischer Sprecher zurückgetreten. haben, er will sich sagen können: So, und SEnde. Von links nach rechts: Schröder, der spiegel 47/2005 29 Titel

Finanzpolitiker Steinbrück, Koch „Juristische Winkelzüge“

die Regierung nichts an ihren Kredit- und Ausgabenplänen ändern. Trotzdem han- dele die neue Regierung nun „im Sinne der Verfassung“, so der Jurist, indem sie sich auf eine Sonderregelung des Grund- gesetzes berufe. Danach darf die Regie- rung die verfassungsrechtliche Kredit- grenze ausnahmsweise missachten, wenn damit eine „Störung des gesamtwirt- schaftlichen Gleichgewichts“ abgewendet werden kann. Es war ein denkbar schlechter Start in eine Woche, in der Christ- und Sozialde- mokraten eigentlich Optimismus und Aufbruchstimmung vermitteln wollten. Stattdessen präsentierte sich die künftige Regierung in den vergangenen Tagen, als gehe in Berlin alles so weiter wie unter

MARKUS SCHREIBER / AP MARKUS Rot-Grün: Binnen Stunden wechselten die Koalitionäre in einer politischen Grund- satzfrage gleich mehrfach die Richtung. Als wäre der Wahlkampf noch in vollem Gange bezichtigten sich ihre führenden „Handeln im Sinne der Finanzpolitiker gegenseitig, an der Haus- haltsmisere schuld zu sein. Und Angela Merkel musste schon vor ihrem Amtsan- Verfassung“ tritt einen ihrer Vorsätze verletzen: Eine Politik von „Wahrheit und Klarheit“ hat- te sie angekündigt. Nun will sie den nächs- Bundespräsident Horst Köhler zwingt die künftige Kanzlerin ten Haushalt mit juristischen Winkelzügen zur Kehrtwende beim Haushalt. durchsetzen. Hinter dem versuchten Verfassungs- ngela Merkel und Horst Köhler gesetz schreibt vor, dass der Bund nur so bruch steht ein objektives Dilemma. Seit verbindet ein besonderes Verhält- viel neue Schulden machen darf, wie er Jahrzehnten schon gibt der Bund mehr Anis: Der Bundespräsident hat es gleichzeitig für Investitionen ausgibt. Ge- Geld aus, als er einnimmt. Um die Lücke vor allem der CDU-Chefin zu verdanken, gen diese Vorschrift könne die Regierung zu füllen, werden Schulden gemacht, und dass er im vergangenen Jahr ins höchste nicht ohne stichhaltige Begründung ver- zwar kräftig. Allein Ex-Finanzminister Staatsamt rücken konnte, gegen alle Wi- stoßen, erklärten Köhlers Experten, tue nahm in jedem der vergan- derstände in den Reihen der Union. Im sie es trotzdem, könne vom Präsidenten genen drei Jahre mehr neue Kredite auf, Gegenzug war Köhler stets auf Merkels keine Unterstützung erwartet werden. als die Verfassung erlaubt. Und jedes Mal Seite, wenn seine Hilfe gefragt war. Er Ein Zusammenstoß mit Köhler auf begründete Eichel die höhere Schulden- warb, ganz in Merkels Sinne, für grundle- offener Bühne, das war der Unionsfüh- aufnahme mit einem gestörten Wirt- gende Reformen und eine neue Gründer- rung sofort klar, musste unbedingt zeit. Er segnete auch den Neuwahl-Plan vermieden werden. Und so gab der Theo Hans 40 von Kanzler Gerhard Schröder ab, so wie Parlamentarische Geschäftsführer der Waigel, Eichel, auch sie es gewünscht hatte. Unionsfraktion, Norbert Röttgen, zwei CSU SPD 35 Am vergangenen Donnerstagabend Stunden später vor laufender Kamera die saßen Merkel und Köhler wieder zusam- neue Sprachregelung aus. Zwar werde 30 men, im Dahlemer Gästehaus der Bun- desregierung, gemeinsam mit CSU-Chef Theo 25 Edmund Stoiber und Landesgruppenchef Hans Manfred Waigel, Michael Glos. Es ging um die bevorste- Matthöfer, Lahnstein, CSU SPD SPD 20 hende Kanzlerwahl, die Vereidigung des Finanzminister: , Kabinetts und die Finanzpolitik, genauer: 15 Aus dem 15 die Ankündigung der künftigen Kanzlerin, SPD dass der Haushalt fürs nächste Jahr leider Gleichgewicht 10 nicht der Verfassung entspreche. Investitionen und Köhlers Juristen hatten sich zuvor den verfassungskonform Nettokreditaufnahme des Bundes Wortlaut der Merkel-Erklärung kommen 5 Verstoß gegen das in Milliarden Euro, Ist-Werte lassen und deutlich gemacht, dass der Verfassungsgebot 2005: Schätzung 2006: Planung Bundespräsident kein Haushaltsgesetz un- Regierungen terschreiben werde, das sich einfach über SPD/FDPUnion/FDP SPD/Grüne Union/SPD die Verfassung hinwegsetzt. Das Grund- 1970 75 80 85 90 95 2000 05 06

32 der spiegel 47/2005 Fischer, Schily, die drei Großen dieser Re- gierung, daneben die anderen, die etwas schaftsgleichgewicht – obwohl der von der en Krediten anzukurbeln, um sie zwölf Kleineren, Zypries, Eichel, Clement, das Regierung beauftragte Sachverständigen- Monate später mit der umfangreichsten ganze Kabinett. Ein Kronleuchter scheint rat keine akute Krise entdecken mochte. Mehrwertsteuererhöhung der Geschichte auf sie herab, eine alte Kassettendecke So unglaubwürdig war die Argumenta- der Bundesrepublik wieder abzubremsen? wärmt den Raum, aber es ist eisig hier im tion, dass Union und FDP gegen Eichels „Im nächsten Jahr wird das Wachstum Gästehaus des Bundespräsidenten, nie- „permanenten Verfassungsverstoß“ ver- stimuliert“, warnt Sachverständigenrats- mand spricht. gangenes Jahr eine Klage beim Bundes- chef Bert Rürup, „und 2007 kommt das Ein Mann vom Protokoll schleppt einen verfassungsgericht einreichten. dicke Ende.“ Pilotenkoffer heran, kleines Handgepäck Eine solche Peinlichkeit wollte sich die Dass die neue Defizit-Begründung frag- für das Finale. Er zieht Urkunden aus dem CDU-Chefin ersparen, als sie mit der SPD würdig ist, räumen auch Unionsexperten Koffer, Urkunden zwischen blauen Papp- in den vergangenen Wochen den Haus- ein, aber sie ist formal kaum zu beanstan- deckeln, wie man sie aus dem Schreib- halt für die künftige Große Koalition auf- den. Auch der Bundespräsident, so sind warengeschäft kennt. Es sind die Entlas- stellte. Die Schuldenmisere, so Merkels sie überzeugt, wird die neue Linie durch- sungsurkunden, der Abschied von Rot- Linie, sollte nicht mit windigen juristi- winken – zumal Merkel zum Ende der Grün. schen Argumenten bemäntelt, sondern of- Woche das Wirtschaftsgleichgewicht auch Horst Köhler, der Bundespräsident, fen zugegeben werden. „Wir sagen ganz schon im laufenden Haushaltsjahr für klemmt sich eine Urkunde unter den Arm, ehrlich“, erklärte sie, „dass wir im nächs- gestört erklärte. er öffnet seine Lesebrille mit den Zähnen, ten Jahr keinen verfassungskonformen Möglicherweise braucht sich die Große dann liest er einen Text vor. „Sehr geehr- Haushalt vorlegen können.“ Koalition nicht einmal vor dem Verfas- ter Herr Bundeskanzler, sehr geehrte Bun- Doch nach Köhlers Veto war der „Weg sungsgericht zu rechtfertigen. Für ihre an- desministerinnen und Bundesminister, mit der Wahrheit“ (CSU-Generalsekretär Mar- gekündigte Klage fehlt den Oppositions- dem Zusammentritt des 16. Deutschen kus Söder) verbaut; und so entwickelten die Juristen von Union und Finanzminis- terium in hektischen Telefonaten eine be- sonders spitzfindige Variante der Eichel- schen Störungstheorie. Zwar sei das ge- samtwirtschaftliche Gleichgewicht derzeit intakt, so die neue Koalitionslinie. Es wür- de aber empfindlich gestört, wenn die künftige Regierung plötzlich ein radika- les Sparprogramm auflegte, um den Haus- halt auszugleichen. Ob die neue Argumentationslinie juris- tisch haltbar ist, darf bezweifelt werden. Wie einst Union und FDP wollen nun auch die aktuellen Oppositionsparteien gegen den schwarz-roten Haushalt vor dem Verfassungsgericht klagen; Juristen sehen die Kritiker im Recht. Zum einen hatten die Karlsruher Richter bereits 1989 geurteilt, der Bund könne nicht einfach deshalb auf einen notwendigen Haus- haltsausgleich verzichten, weil das mög-

licherweise die Konjunktur gefährde. PRESS / ACTION HAAS ROBERT Schließlich könne sich in den folgenden CSU-Politiker Seehofer, Stoiber Jahren die staatliche Finanzmisere „noch parteien die notwendige Mehrheit von „Als Minister bist du ein Wurm“ verschärfen“. einem Drittel der Abgeordnetenstimmen. Zum anderen bezweifeln Juristen, ob FDP-Fraktionsgeschäftsführer Jörg van Bundestages endet nach dem Grundgesetz es den Berliner Koalitionären überhaupt Essen fordert deshalb, den für eine Klage auch Ihre Amtszeit.“ um Krisenbekämpfung geht. Die aktuellen notwendigen Anteil der Abgeordneten- Schröders Augen jagen durch den Kredite hätten „nichts mit einer Störung stimmen auf 25 Prozent zu senken – und Raum, er guckt so, wie er Politik gemacht des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bekommt Unterstützung von prominen- hat, rastlos. Schily streckt den Bauch nach zu tun“, urteilt zum Beispiel der müns- ten Staatsrechtlern. „Eine Minderheit von vorn, er braucht Raum, viel Raum. tersche Finanzrechtler Dieter Birk. Sie 25 Prozent der Abgeordneten könnte Als der Bundespräsident seinen Text dienten „teilweise neuen Ausgabenpro- genügen“, meint die Hamburger Politik- vorgelesen hat, verteilt er die Urkunden, grammen, die schlicht und einfach die Ein- wissenschaftlerin Christine Landfried. er lächelt freundlich und sagt dann, dass nahmen überschreiten“. Auch der Frank- „Die Große Koalition ist der Anlass, über alle noch mal raus sollen, auf die große furter Haushaltsrechtler Joachim Wieland eine entsprechende Grundgesetzänderung Freitreppe. Im Garten warten die Foto- betont, dass die Konjunkturdaten „dau- nachzudenken.“ grafen auf das letzte Bild, auf entlassene erhaft aus dem Gleichgewicht geraten Der Haken: Um die Verfassung zu än- Minister mit Urkunden, die jetzt aussehen sind“. Die Ausnahme sei „längst der Re- dern, sind im Bundestag zwei Drittel der wie Souvenirs. gelfall geworden“. Abgeordnetenstimmen notwendig. So viel irrt durch den Saal. „Ohne Nicht weniger kritisch werten Ökono- Parlamentarier bringen aktuell nur zwei Urkunde“, sagt er, „nicht mit Urkunde.“ men den schwarz-roten Finanzfahrplan. Fraktionen zusammen: SPD und Union. Er sucht jemanden, der ihm seine ver- Worin liegt der Sinn, so fragen sie, die Sven Afhüppe, Petra Bornhöft, dammte Urkunde festhält, er will sich da- Konjunktur im kommenden Jahr mit neu- Dietmar Hipp, René Pfister mit nicht fotografieren lassen. Schily will ewig bleiben.

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Gerhard Schröder läuft mit seinen klei- nen, schnellen Schritten, er guckt nicht hoch, der Kanzler der Bilder. „Und tschüss“, rufen die Fotografen.

Woche 6, 24. bis 30. Oktober DARTSPIELE

n der Schwelle zum Konrad-Adenauer- AHaus wird Gesundheitsministerin von einem Journalisten gefragt, ob sie zum ersten Mal hineingehe. Sie sagt „Ja“, dann stutzt sie, guckt zu Boden, wo die Schwelle ist, und zieht ihren roten Schal fes- ter. Sie macht einen Schritt und ist drin. Es ist Montagabend, es regnet, zweite Runde der Koalitionsverhandlungen. Sie sit- zen in dem Saal, in dem sonst der Bundes- vorstand der CDU tagt, mehr als 30 Poli- tiker, und plötzlich geht das Licht aus. Jetzt

UTA RADEMACHER UTA wird gekichert wie früher auf den Partys, Entlassung des rot-grünen Kabinetts*: Schmetterlinge, die mal Raupen waren wenn jemand in die Stehlampe gefallen war und man unbedingt sofort küssen musste. „Wieso“, fragt , „die Ur- und bedeutend, man vergisst schnell, Merkel würde gern anfangen, aber die kunde gehört doch dazu.“ dass es eine geliehene Größe ist. Kameraleute wollen nicht gehen, und sie „Ach, so ein Quatsch“, sagt Schily. Macht ist, wenn die Regeln des Nor- sagt zu Müntefering: „Ich habe hier kein Er findet jemanden, der ihm seine Ur- malen nicht mehr gelten. Man muss nur Glöckchen, haben Sie ein Glöckchen?“ kunde festhält, dann geht er hinaus. Auf einmal im Autokonvoi des Bundeskanz- Kopfschütteln, nein, Franz Müntefering hat dem Foto sieht er aus wie jemand, der lers mitgefahren sein, um einen Ge- auch kein Glöckchen. noch einmal davongekommen ist. schmack davon zu bekommen. Der Auto- Merkel wedelt kurz mit der Hand, ein Wenn man Otto Schily so beobachtet, konvoi eines Bundeskanzlers breitet sich Zeichen an die Sicherheitsleute, das Pack bekommt man eine Vorstellung davon, was aus wie ein gefährliches Tier, er hupt, rauszuschmeißen. Es ist eine verächtliche, der Antrieb war für die Abwehrkämpfe blinkt, macht sich dick, es gibt keinen herrische Geste, einer der seltenen Mo- der vergangenen Wochen, wogegen Ange- Gegenverkehr, keine Staus, keine Hinder- mente, in denen Merkels Härte sichtbar la Merkel wirklich angekämpft hat, war- nisse. wird. Dann ist die Tür zu, und bald ist die um zuerst das Personal verhandelt worden Wenn der Kanzler unterwegs ist, macht Stimmung dahinter frostig. ist und dann die Inhalte. die Wirklichkeit Platz. Es ist, als entstünde Es geht jetzt um die ganz große Frage: Zu den Wesentlichkeiten der Demokra- ein Loch in der Welt. Das Loch öffnet sich, Was ist mit dem Haushalt, und dahinter tie gehört der Verlust von Ämtern, der man rast hindurch, das Loch schließt sich stecken auch die Fragen nach den Sozialsys- Wechsel. Gerhard Schröder, seine Regie- wieder. Es ist sehr angenehm. Abschied temen, nach der staatlichen Ordnung, dem rung, seine Partei haben Wechsel anders von Ämtern heißt auch, dass man wieder Verhältnis von Fürsorge und Eigenverant- verstanden, als Verlust von Besitz. Sie im Stau steht. wortung. machten den Eindruck von Leuten, denen Angela Merkel hat gegen eine fremde Es wird eine Woche der Vorschläge, der etwas weggenommen werden soll. westdeutsche Generation gekämpft, die angekündigten und dementierten Maß- Jetzt stehen sie da, sehen den Bundes- von der Geschichte überholt worden ist. nahmen: Mehrwertsteuer rauf, Rentenalter präsidenten, die Urkunden und klammern Merkels Gegner haben sich gegen den Ab- rauf, Mehrwertsteuer für Lebensmittel run- sich an letzte Momente. Es fällt schwer, schied gestemmt, weil er Scheitern bedeu- ter, ein Solidarbeitrag für Reiche. Jeder hat sich vorzustellen, wie Schröder, Schily, Fi- tete, Leere, das Eingeständnis, genauso einen Vorschlag, aber keiner ein Konzept. scher zurückkehren wollen in die Norma- geworden zu sein wie die, gegen die man Politik wirkt in dieser Woche wie ein Irr- lität. Sie leben in der Selbstverständlichkeit einmal losgezogen ist. lauf, bei dem alle losrennen, obwohl nie- eines Schmetterlings, der mal eine Raupe Sie verlassen das Gästehaus des Bun- mand weiß, wo das Ziel liegt. war. despräsidenten durch den vorderen Ein- Braucht der Staat mehr Geld, um den „Die Verwandlung des Amts durch den gang, draußen warten 20 gepanzerte Haushalt zu sanieren? Braucht er mehr Menschen dauert etwas länger als die Ver- Limousinen, die Straße ist abgesperrt. Geld, um die Lohnnebenkosten zu drü- wandlung des Menschen durch das Amt“, Wenn die Chauffeure sehen, dass ihre cken? Und hinter allem die Frage: Was ist hat einmal gesagt, der Chefs rauskommen, lassen sie die Moto- das Projekt einer Großen Koalition? Kopf einer Regierungsgeneration, die ren aufheulen. Am Donnerstagmorgen dieser Woche durch die 68er politisiert wurde. Die mehr Die Minister, die keine mehr sind, kom- sitzt die Schauspielerin Veronica Ferres in Mitbestimmung wollte, weniger Herr- men eilig heraus, als gäbe es noch etwas der Lobby des Berliner Hotels Adlon. Sie schaft. zu tun. Es kann nicht einfach zu Ende spricht mit einer Literaturagentin, es sieht Das Amt hat die Personen verwandelt. sein. aus, als stünde ein Buch von ihr bevor. Um Die Personen konnten nichts dagegen tun. Joschka Fischer kommt heraus und zehn Uhr kommt ein Mann, der groß ist, Man verwächst mit der Größe, mit der Be- pfeift, sein spitzer Mund sagt: Ich bin grau, Mitte sechzig. Er ist bekannt als deutung des Amts, man wird selbst groß ganz cool, das macht mir gar nichts. Aus „merkwürdige Gestalt“, als „Mann der dem Pulk der Fotografen kommt ein spöt- Kälte“, als „der Professor aus Heidelberg“. tisches Pfeifen zurück, die Fotografen äf- Sein Name ist Paul Kirchhof. * Bundespräsident Horst Köhler überreicht die Entlas- sungsurkunden an Gerhard Schröder, Joschka Fischer und fen ihn nach. Fischer hört sofort auf zu Die Titulierungen stammen von Ger- Otto Schily am 18. Oktober in Berlin. pfeifen. hard Schröder, der es richtig fand, Kirch-

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hof im Wahlkampf unentwegt herabzuwür- digen. Es ist Zufall, dass Kirchhof, der Partei- Vor der Schlacht lose, in dieser Woche in Berlin ist. Es ist die Woche der Konzeptlosigkeit, und er ist der In der Außenpolitik können Union und SPD ihre Mann, der es mit einem Konzept in der Differenzen nur mühsam verbergen. Politik versucht hat. Er wollte die Subven- tionen streichen und den Steuersatz auf 25 Wie brüchig die dünne Schicht des Prozent festsetzen. Vertrauens unter den Koalitionären ist, Es geht jetzt nicht darum, ob dieses Kon- wurde vergangene Woche deutlich. zept richtig ist oder falsch. Es geht nur dar- Merkels designierter Sicherheitsberater um, was mit einem Menschen geschieht, Christoph Heusgen, derzeit Planungs- der sich mit einem Konzept in den Wahl- leiter von EU-Chefaußenpolitiker Javier kampf begibt. Solana in Brüssel, bezeichnete das deut- Ein politisches Konzept ist eine umfas- sche Streben nach einem ständigen Sitz sende Festlegung, der ein Weltbild zugrun- im Uno-Sicherheitsrat in einem Zei- de liegt. Da freut sich der politische Gegner, tungsgespräch als „Illusion“ – obwohl denn für ihn ist das Konzept wie eine Dart- in der Koalitionsvereinbarung die Kan- scheibe, also unbeweglich und gut sichtbar.

RAINER UNKEL RAINER didatur ausdrücklich erwähnt bleibt. Man kann bequem seine Pfeile hineinwer- Designierter Außenminister Steinmeier Der Diplomat erklärte leutselig, in wel- fen. Schröder, der sich im Wahlkampf Union will die Koordinaten verschieben che Länder die Kanzlerin künftig reisen kaum festlegen wollte, hat einfach Pfeile müsse, um Deutschlands Einfluss wie- auf Kirchhof und sein Konzept geworfen. s war kein leichter Start für den der zu mehren – etwa nach Polen und in Kirchhof konnte und wollte nicht ent- kommenden Außenminister. Bis die baltischen Staaten. kommen. Er hatte sich ja festgelegt, er hat- Ezur letzten Verhandlungsrunde Steinmeier und seine Leute reagierten te alles aufgeschrieben. Mit sachlicher Kritik der Großen Koalition fand sich auf der indigniert. Sein künftiger Staatsminister konnte er ganz gut leben, aber er fand sich Streichliste zur Sanierung des Bundes- (SPD) schnaubte, es sei in dem, wie ihn seine Gegner beschrieben, haushalts ein Posten, der etwa 135 Mil- „schwer vorstellbar“, dass Beamte wie nicht wieder. Er las seinen Namen in der lionen Euro wert ist: die Steuerbefrei- Heusgen die Koalitionsvereinbarung Zeitung und erkannte sich nicht. Er begann ung für Auslandszuschläge. „korrigieren“. Den Reiseplänen der Uni- anders zu reden: „Wie sage ich es, ohne dass Frank-Walter Steinmeier wusste, dass on setzte Steinmeier selbst eine Ankün- ich verfälscht werden kann.“ er kämpfen musste. Zwei Drittel der digung entgegen: Mer- rund 6600 Mitarbeiter seines künftigen kels erster Flug werde Ministeriums arbeiten im Ausland – und „sicherlich nach Frank- beziehen einen Gutteil ihres Gehalts reich gehen“, diktierte aus diesem Steuerprivileg. Steinmeier er. Rasch bemühte sich wandte sich an den designierten Fi- die andere Seite, die nanzminister. Ob der ihm „die Beine Konfliktlinie zu ver- wegziehen“ wolle, fragte er Peer Stein- wischen. Merkel lud brück; wenn nicht, sollte er auf die Strei- Steinmeier ein, mit ihr chung verzichten. nach Paris und Brüssel Das ist geglückt. Bei der Amtsüber- zu reisen. Heusgens Er- nahme am kommenden Mittwoch im klärungen seien „nicht Weltsaal des Auswärtigen Amts wird abgestimmt“ gewesen, Steinmeier den Diplomaten die frohe hieß es in der Union. Kunde überbringen: Ihre Zulage ist vor Um für künftigen dem Fiskus gerettet. Streit gewappnet zu Die Loyalität seiner Diplomaten ist sein, baut Steinmeier für Steinmeier umso wichtiger, als er nun seine Stellungen

sich auf einen Abwehrkampf gegen sei- aus. Zum Leiter des SEZER / AP MURAD ne Vorgesetzte Angela Merkel einrich- Planungsstabs will er Streitpunkt Außenpolitik: Zu freundlich gegenüber der Türkei ten muss. Denn allen Friedensbeteue- den Unterabteilungslei- rungen der Koalitionäre zum Trotz ter „Auswertung“ beim Bundesnach- Für die politischen Freunde ist ein Kon- zeichnet sich ein Konflikt im künftigen richtendienst Markus Ederer ernennen. zept schwierig. Sie haben Angst vor den Regierungsbündnis ab. Aus dem Kanzleramt nimmt er Stephan Angriffen der Gegner, sie haben Angst vor Die Union will die Koordinaten der Steinlein als Büroleiter und Martin Jäger der Umsetzung. Es ist vollständig, schließt Außenpolitik verschieben, die ihr un- als Sprecher des Auswärtigen Amts mit. also aus. Man kann seine eigenen Ideen ter Gerhard Schröder zu freundlich Um nicht dabei zu sein, wenn der nicht unterbringen, es verstößt gegen tau- gegenüber Russland, auch gegenüber Streit um das Erbe von Rot-Grün aus- send Interessen und bestehende Program- der Türkei war und zu kritisch gegen- bricht, suchen die engsten Vertrauten me. Es stört. Deshalb wurde Kirchhof im über den USA. des scheidenden Außenministers Josch- Wahlkampf von der CDU mehr und mehr Die SPD hingegen will Kurs halten – ka Fischer das Weite. Sprecher Walter kritisiert, redigiert, versteckt. Man setzte auch gegen die Richtlinienkompetenz Lindner wechselt als Botschafter nach ihm eine Maske auf. Er sollte ein Gesicht der Bundeskanzlerin. Keine Seite will Kenia. Büroleiterin Helga Schmid geht haben wie fast alle in der Politik: ein Poker- derzeit eine offene Konfrontation, aber nach Brüssel – auf den frei werdenden face, undurchdringlich, nichtssagend. beide wollen gerüstet sein, wenn es zur Posten des Merkel-Beraters Heusgen. Er sitzt in der Lobby vom Adlon, ein Schlacht kommt. Ralf Beste Brunnen plätschert. Ein Wort, das er oft verwendet, ist „lauter“, positiv und nega-

36 der spiegel 47/2005 Titel tiv. „Im Wahlkampf wird das Unlautere men den Wahlkampf überlebt haben. Es ist ter geworden wäre. Weil man das System honoriert“, sagt Paul Kirchhof. Er denkt Donnerstag, sie werfen mit Vorschlägen kennt. immer noch, dass sich sein Konzept durch- um sich. Man wird sich so durchwursteln. Es ist ein allgemeiner Irrtum, dass Ex- setzen werde. Es dürfe für den Moment Kirchhof wirkt nicht bitter, und trotz- perten die Probleme des Landes lösen nur seinen Namen nicht tragen. Sein Name dem hat ein Gespräch mit ihm etwas Trau- könnten. Das System stößt Experten vom ist jetzt schädlich für das, was seins ist. Das riges. Er ist ein intelligenter, rhetorisch bril- Schlage eines Paul Kirchhof ganz schnell haben ihm die Diffamierungen des Wahl- lanter Mann, aber man ist, als politischer ab. Es wird nur ein Expertentum verlangt: kampfs eingebracht. Journalist, schnell geneigt, ihn für naiv zu Wie überlebe ich im täglichen Kampf? Draußen, jenseits des Pariser Platzes, halten. Man kann sich auch nicht vorstel- Als Kirchhof im Wahlkampf so heftig liegen die Büros der Politiker, deren Na- len, dass er ein erfolgreicher Finanzminis- von Schröder angegriffen wurde, dachte

hauptete er forsch. Tatsächlich wären derartige Nachlässe rechnerisch nur Spärlicher Vorrat möglich, wenn alle heute bereits privat Versicherten sofort in die AOK umgrup- Die Gesundheitspolitik wird zur Bewährungsprobe für Schwarz-Rot. piert würden – ein abwegiger Gedanke. Vergangene Woche schließlich über- m Sozialministerium an der Berliner tag die Gesundheitspolitik zu einem zen- raschte Gesundheitsministerin Schmidt Wilhelmstraße ist der Steinsaal im tralen Thema ihrer Regierung, sprach mit dem Vorschlag, die Ärztehonorare IErdgeschoss ein besonders unwirt- vom „kompliziertesten und sensibelsten für die Behandlung von Privatpatienten licher Ort. Ein steter Luftzug durchweht Bereich für unsere Gesellschaft“ und dem Niveau der gesetzlichen Kranken- die einst vom Nazi-Propagandisten Jo- machte damit klar, wo es nach ihrer Mei- versicherung anzugleichen. Die Union seph Goebbels genutzte Halle, die sich nung künftig krachen wird. witterte einen planwirtschaftlichen Vor- wegen der enormen Deckenhöhe nur Es scheint, als hätten Union und SPD stoß in Richtung SPD-Bürgerversiche- mühevoll beheizen lässt. Die Akustik ist ihren spärlichen Vorrat an Gemeinsam- rung, der durch den Koalitionsvertrag miserabel. Zwischen den Marmortafeln keiten bereits bei der zaghaften Ge- nicht gedeckt sei. Merkel rief Schmidt knallt jedes Wort wie ein Peitschenschlag. sundheitsreform im Jahr 2002 ausge- zur Ordnung. Kein Wunder, dass es Dabei gäbe es durchaus die Unterhändler der Gro- Gemeinsamkeiten für eine ßen Koalition bei ihren grundlegende Reform. In Konferenzen kurz mach- beiden Lagern sind sich die ten. Während andernorts Sozialpolitiker einig, dass die Fachpolitiker von Union die sozialen Sicherungs- und SPD an Konzepten systeme künftig stärker für die gemeinsame Regie- über Steuergelder finan- rungszeit feilten, ging die ziert werden müssten. So Runde der Gesundheits- möchte die SPD in ihrer experten eine Woche frü- Bürgerversicherung neben her auseinander als ge- Lohn und Gehalt auch plant – und zwar ergebnis- sonstige Einkünfte aus Ka- los. „Wegen grundsätz- pital belasten. Die Union licher Differenzen“, gab denkt zur Finanzierung ih- Gesundheitsministerin Ulla rer Gesundheitsprämie an Schmidt (SPD) bekannt, einen Solidarzuschlag auf sei es leider nicht mög- die Einkommensteuer. lich gewesen, sich auf ei- Ökonomen wie bei-

ne Reform des Kranken- PRESS / ACTION HENNING SCHACHT spielsweise die Wirtschafts- kassenwesens zu verstän- CDU-Chefin Merkel, SPD-Politikerin Schmidt: „Sensibelster Bereich“ weisen halten Steuer- digen. erhöhungen für sinnvoll, Der Bürger reibt sich erstaunt die Au- schöpft. So stieß der SPD-Vorschlag, die wenn damit gesellschaftspolitische Pro- gen. Hatten nicht alle Seiten im Wahl- Krankenkassen sollten künftig Aus- jekte wie die Krankenversicherung kampf beteuert, das marode System schreibungen machen, um möglichst bil- von Kindern finanziert würden. Ein „möglichst rasch“ (Ministerin Schmidt) lig an Arzneimittel heranzukommen, gleichzeitiges Absenken der Sozial- und diesmal „ganz grundlegend“ (CDU- ausgerechnet auf Widerstand bei der beiträge könnte auch dem Arbeitsmarkt Chefin Angela Merkel) reformieren zu CDU/CSU. Dies nutze nur den billig pro- helfen. wollen? duzierenden Pharmafirmen, kritisierte Doch im Gerangel um ihr Programm Tatsächlich zeigt sich bei der Gesund- Unionssprecherin Annette Widmann- ist den künftig Regierenden dieses ge- heitspolitik, wie brüchig das Bündnis der Mauz, offenbar keine Freundin mög- meinsame Ziel offenbar aus den Augen Volksparteien ist. Während die SPD an lichst günstiger Preise. geraten. Anstatt dafür zu sorgen, dass der Idee für eine Pflichtversicherung al- Der SPD-Gesundheitsexperte Karl mehr Steuern ins Gesundheitswesen ler Bürger festhält, hängt Merkels CDU Lauterbach wiederum nervte die Unter- fließen, werden es künftig weniger sein: weiter dem Plan für eine pauschale Ge- händler mit seiner Forderung, die Ein- Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass die sundheitsprämie nach. Jedes Nachden- kommenshürde für einen Wechsel von Milliardenbeträge aus der Tabaksteuer ken über den Formelkompromiss hinaus der gesetzlichen Kasse in die private ab 2007 nicht mehr für das Mutter- stößt umgehend auf den erbitterten Wi- Krankenversicherung möglichst hoch an- schaftsgeld und andere Familienleistun- derstand der jeweiligen Gegenseite. Mer- zusetzen. Die Beiträge könnten auf zehn gen der Krankenkassen zur Verfügung kel selbst erklärte am vergangenen Frei- Prozent des Bruttolohns sinken, be- stehen werden. Alexander Neubacher

38 der spiegel 47/2005 MARCUS BRANDT / DDP BRANDT MARCUS Verhandlungspartner Merkel, Müntefering, Schröder*: „Haben Sie ein Glöckchen?“ er, ein Gespräch unter Männern könne hel- Es ist Montag, Willy-Brandt-Haus, es be- Als klar ist, dass Schröder nicht noch ein- fen. Er dachte, er müsse dem Bundes- ginnt die Woche des Weglaufens. Müntefe- mal Kanzler wird, erkennt kanzler nur mal erklären, was er wirklich ring wird nicht Parteivorsitzender, Stoiber sofort das Vakuum. Da will sie rein. Sie wolle. Dann würde man sich schon verste- wird nicht Wirtschaftsminister. Es ist wieder will Generalsekretärin der SPD werden. hen, dann würde man sich verabreden, eine Woche der Verkleinerung. Während Sie will mehr Einfluss, für die verdrossene weiter miteinander zu streiten, aber fair. Politik sonst immer ein Schauspiel der Basis, für die Parteilinke, für sich. Er macht eine kleine Boxbewegung, Stärke ist, zeigt sich jetzt Schwäche. Die Müntefering will das nicht. Er will seinen sanft, fast schüchtern. So hat er sich den Übermenschlichen werden menschlich. Vertrauten Kajo Wasserhövel zum Gene- Kampf mit Schröder vorgestellt. Aber Es ist nicht schwer, das Allzumenschli- ralsekretär machen. Aber er ist zu Schröder war nie zu sprechen. che in Andrea Nahles zu erkennen. Sie ist schwach, das Vakuum, das Schröder hin- Der Brunnen plätschert, Veronica Fer- lebhaft, sagt gern „Scheiße“, sagt oft „mei- terlässt, zu füllen. Er verliert, er hat die res verlässt die Lobby, und man ertappt ne Fresse“, und wenn sie Abscheu aus- Stimmung seiner Partei falsch eingeschätzt. sich wieder bei dem Gedanken, Paul drücken will, tut sie schon mal so, als wür- Andrea Nahles kann auch das erklären. Kirchhof für naiv zu halten, nur weil er et- de sie in ihren Kakao kotzen. „Die Leute verhalten sich funktionsgerecht“, was erzählt hat, was menschlich ist: Gibt Sie ist sehr intelligent, sie hat sich viele sagt sie. Müntefering gegenüber würde die es einen Konflikt, räumt man ihn aus. So Gedanken über das politische Geschäft ge- Basis längst nicht so offen reden wie zu ihr, ist das Leben, aber nicht die Politik. Schrö- macht, die „Mechanik der Macht“, wie sie aus Respekt, aus Vorsicht. Die Stärke des der war an nichts weniger interessiert als sagt. Ein zentraler Begriff von ihr ist „das Mächtigen wird zu seiner Schwäche. an einer Einigung, einer Verabredung mit Vakuum“. Sie sagt, es könne in der Politik Am Tag nach Münteferings Verzicht kün- Kirchhof. Er wollte ihn gar nicht als Men- kein Vakuum geben, „nicht eine halbe Stun- digt Edmund Stoiber an, dass er nun doch schen wahrnehmen, er brauchte ihn als de lang“. Sie sagt: „Da wo nichts ist, ist so- nicht Wirtschaftsminister werden will. „Tritt- Dartscheibe. fort jemand anderes.“ Das sei das „Brutale brettfahrer“, denkt Andrea Nahles. Sie weiß, an der Politik, aber auch das Phantastische“. dass Stoiber sich nicht zurückzieht, weil er An diesem Montag, als Müntefering das den Parteivorsitzenden Müntefering ver- Woche 7, 31. Oktober bis 6. November Lächeln gefror, ist sie die andere. missen würde. Er hat das Vakuum neben VAKUUM In den Monaten davor ist sie viel durch Angela Merkel falsch eingeschätzt. die Partei gereist. Sie hat 94 Veranstaltun- Er hatte einmal gedacht, neben einer ranz Müntefering steht am Mikrofon gen gemacht, und sie hat herausgehört, Kanzlerin Merkel gebe es ein gewaltiges Fund lächelt vage, entrückt. Er hält die- dass es großen Verdruss gibt gegen den au- Vakuum, das jemand wie er glänzend fül- ses Lächeln lange, es ist wie eingefroren. Er toritären Stil von Schröder und Münte- len könne. Er wollte Superminister wer- will nett zu den Fotografen sein. Jeder soll fering. Aber solange Schröder Kanzler ist, den, heimlicher Nebenkanzler. sein Lächeln bekommen. Dann beginnt er wagt niemand einen Aufstand. Er bekam allerdings nur ein Wirt- zu reden und kündigt an, dass er sich nicht schaftsministerium in Aussicht gestellt, mit mehr zum Vorsitzenden der SPD wählen * Am 24. Oktober im Wintergarten des Konrad-Adenau- ein paar zusätzlichen Referaten, um die lassen werde. er-Hauses auf dem Weg zu Koalitionsgesprächen. er noch kämpfen musste. Angela Merkel

der spiegel 47/2005 39 Titel hat ihm dabei nicht geholfen. Sie hat ihm Hoffnungsträger gemacht. Schröder ent- in diesen Wochen, auf ihre leise Art, zu schied sich für Neuwahlen, und Münte- verstehen gegeben, dass sie die Kanzlerin fering entschied sich für Steinbrück als sein werde und er einer ihrer Minister. Finanzminister. „Sie hat ihn langsam erstickt“, sagt je- Er ist ein Bollerkopf, aber er liest auch mand, der sich das aus nächster Nähe an- eine Menge und erzählt Witze. Er gilt als geschaut hat. Pragmatiker, nicht als Selbstdarsteller. Für Deshalb nimmt Stoiber die Beine in die Berlin ist er ein neues Gesicht. In Berlin, Hand und rennt davon. Er rennt bis nach wo alle immer ganz schnell angeödet sind, München, wo es immer so schön gewesen ist es vom neuen Gesicht bis zum Hoff- ist für ihn als Ministerpräsidenten, wo sie nungsträger nicht weit, zumal niemand die alle gekuscht haben, in sein Idyll. Aber das finanzpolitische Kompetenz von Peer gibt es nicht mehr. Mit seiner Ankündi- Steinbrück bezweifeln würde. gung, nach Berlin zu wechseln, hat Stoiber Der Sachzwang sitzt bei den Koalitions- in München ein Vakuum hinterlassen. Da verhandlungen in zwei Gestalten am Tisch. haben sich ganz schnell andere hineinge- Gestalt eins ist die Lage. Die Lage ist schwie- setzt, und die knurren jetzt. rig. Dem Haushalt droht ein gewaltiges Und Stoiber wirkt auf einmal ganz Loch, genauso den Sozialkassen. Deutsch- schwach, ganz menschlich. Er ist empfind- land liegt bei den Wachstumsprognosen für lich, er möchte nicht, dass ihm wehgetan 2006 in der EU mal wieder ziemlich weit wird, er hat Sehnsucht nach Idylle. hinten, vorletzter Platz vor Portugal. ARND WIEGMANN / REUTERS (L.); HENNING SCHACHT / ACTION PRESS (R.) / ACTION (L.); HENNING SCHACHT / REUTERS ARND WIEGMANN Zurückgetretener SPD-Chef Müntefering, Kontrahentin Nahles: Stimmung falsch eingeschätzt

Aber er hatte auch eine große Verant- Sachzwang eins operiert mit Wider- wortung. Er sollte helfen, die wirtschaftli- sprüchen. Es gibt Hunderte dieser Wider- che Krise zu lösen. Er wollte diese Aufga- sprüche. Eine höhere Mehrwertsteuer be, weil sie so groß ist. Spitzenpolitiker bringt höhere Staatseinnahmen, nimmt streben immer nach Größe, das System er- aber auch Kaufkraft. Niemand hat ein zieht zum ständigen Wachstum. Im Konzept gegen diese Widersprüche. Wunsch nach Größe entstehen manchmal Sachzwang zwei ist die Parteilinie. Alle kleine Menschen. wollen am Ende sagen, dass das Koali- tionsprogramm die Handschrift der eige- nen Partei trägt. Deshalb kümmern sie sich Woche 8, 7. bis 13. November weniger um die Lage und die Wider- Sachzwänge sprüche als um die Parteilinie. Am Ende dieser Verhandlungen gibt es ine der interessantesten, aber auch einen Vertrag. Nach Ende der Verhand- Etraurigsten Begegnungen in der Politik lungen sitzt Steinbrück in einem Büro und ist die zwischen Hoffnungsträger und Sach- spielt mit dem Deckel einer Wasserflasche. zwang. Woche acht ist Sachzwangwoche. Er findet die Kritik an diesem Vertrag un- Die Koalitionsverhandlungen sollen abge- mäßig, er flucht und dröhnt und hat keine schlossen werden. Es geht vor allem um Lust, das, wie er sagt, prädestinierte Bord- den Haushalt. arschloch zu sein. So schnell geht das mit Der Hoffnungsträger ist Peer Steinbrück. Hoffnungsträgern. Er war erst Finanzminister von Nordrhein- Die Sachzwänge sind meistens stärker, Westfalen, dann Ministerpräsident. Am 22. vor allem für einen Finanzminister. Am Mai wurde er abgewählt. Das hat ihn zum Ende dieser Woche steht eine Vereinba-

40 der spiegel 47/2005 rung, die im Ruch steht, verfassungswidrig zu sein, weil im kommenden Haushalt die Kreditaufnahme höher sein wird als die Investitionen. Es gibt so gut wie keine Strukturreformen. Man hat sich nicht eini- gen können, wegen der Parteilinien. Trotz- dem streitet man immer weiter. Politisch war mehr nicht drin, heißt es jetzt. Das klingt so, als würde man sagen: Das System wollte es nicht. Aber das System ist nichts anderes als die Summe von Politi- kerverhalten. Was hätten Steinbrück und die anderen leisten können, wenn sie sich neun Wochen lang auf ein Konzept gegen die Krise konzentriert hätten, ohne die Wildheiten und Kämpfe um Personen? Oder ist das jetzt wieder ein naiver Gedanke?

Woche 9, 14. bis 20. November Die Kanzlerin

m Mittwochabend dieser Woche denkt AAngela Merkel darüber nach, wie sie das Kanzleramt einrichten könnte. Sie muss Schröders Schreibtisch übernehmen, weil der so groß ist, dass man ihn nur mit einem Kran hinausbekäme. Sie will ein Bild von Konrad Adenauer in ihr Büro hängen, bald

wird sie sich ein schönes aussuchen. Sie ist PEER GRIMM / DPA sehr fröhlich an diesem Abend. Koalitionärin Merkel*: Das Kanzleramt gewinnen, um nicht alles zu verlieren Merkel hat Journalisten in die hessische Landesvertretung eingeladen, es gibt Wein, Angela Merkel musste das Kanzleramt ge- ist, als könnte man Stoiber beim Ersticken freundliche Gespräche und viel Zeit. Es ist winnen, um nicht alles zu verlieren. Die zusehen. Die, die dabei waren, erzählen die letzte Gelegenheit dazu, ab nächster Partei hätte sie ganz schnell nach ganz un- diese Geschichte fast mit Ehrfurcht. Woche, wenn sie der Bundestag gewählt ten durchgereicht. Sie verhält sich immer so, als kenne sie hat, wird sie unterwegs sein. Paris, War- Sie kann schon deshalb nicht weglaufen, Andrea Nahles Satz vom Vakuum genau. schau, Brüssel, London, ihr neuer Takt. weil sie nicht wüsste, wohin. Das Kanzler- Sie hat nur eine andere Zeitdimension. Sie Sie ist angekommen, sie hat überlebt. amt ist ihr einziger Zufluchtsort vor den lässt durchaus zu, dass der Eindruck ent- Von den vier Großen des Wahlkampfs kam Nachstellungen der Konkurrenz. Auch das steht, es gebe ein Vakuum neben ihr. Aber sie am besten durch die neun Wochen da- macht sie hart, nach außen unempfindlich. dann ist sie doch stark genug, jeden zu ver- nach. Schröders Zukunft ist die Familie, Sie hat in diesen neun Wochen viele treiben, der es ausfüllen will. Müntefering hat den Parteivorsitz verlo- Demütigungen einstecken müssen, durch Mit Konzepten hält sie sich nicht lange ren, Stoiber sein Idyll. Er ist nicht mehr der die Wähler, durch Schröder, durch Stoiber, auf. Sie hatte mal eins, die Gesundheits- unangefochtene Ministerpräsident von durch Stiegler. Sie steckt das weg. prämie, den großen Umbau des Sozial- Bayern. Wenn die anderen wild werden, bleibt staats. Im Wahlkampf ist es schon kleiner Sie wird Kanzlerin sein. sie ruhig. Sie schweigt, sie wartet. Es ist geworden, in den Koalitionsverhandlun- Es war ihr großes Ziel, es ist ihre Ret- fast, als spielte sie das Spiel nicht mit. Doch gen war es kaum noch sichtbar. Sie wollte tung. Merkel hat kein Idyll, wie die Minis- irgendwann kommt der Moment, an dem nicht Dartscheibe sein. Sie war beweglich terpräsidenten oder Chris- sie zurückschlägt. bis zur Selbstverleugnung. Sie hatte nur tian Wulff, ihre Rivalen in der CDU, die Als Stoiber ihre Richtlinienkompetenz ein unverrückbares Ziel in diesen Wochen: sich immer sagen können, in Wiesbaden in Frage stellte, wartete sie eine Woche. das Kanzleramt. oder Hannover sei es auch ganz schön. Dann ist Fraktionssitzung, und sie sitzt ne- Es wird kein Ort der Ruhe für sie. In ben Stoiber, und die Fraktion will wissen, den nächsten Wochen wird es genauso wei- UMFRAGE: STARKE KANZLERIN wie er das gemeint hat mit der Richtlinien- tergehen wie bisher: Wildheiten, Kampf, kompetenz. „Antworte endlich! Steh auf“, zwei Partner, die sich nicht wirklich ver- „Glauben Sie, dass solche Rufe hört er, aber Stoiber bleibt sit- stehen. Ihre Kanzlerschaft ist von Beginn Angela Merkel eine starke zen, er hantiert mit Unterlagen, ziellos, an bedroht. fahrig, er sucht nach Sätzen, aber er findet Es gibt viele Erklärungen dafür, warum und durchsetzungsfähige sie nicht. Dann steht Merkel auf. Sie guckt sie es dahin geschafft hat. Es bleibt aber Kanzlerin sein wird?“ auf Stoiber herab. Er wirkt unendlich klein auch etwas Unerklärliches, Wunderliches in diesem Moment. daran. Sie selbst sieht es so. JA 61 % Merkel sagt: „Ach, das mit der Richt- Am 9. November steht sie an der Bar linienkompetenz ist im Grundgesetz fest- der nordrhein-westfälischen Landesvertre- NEIN % gehalten, und das Grundgesetz gilt auch tung und trinkt ein Glas Wein. Sie sagt: 33 dann, wenn der Kanzler eine Frau ist.“ Es „Mein Gott, heute vor 15 Jahren habe ich zum ersten Mal in meinem Leben den TNS Infratest für den SPIEGEL vom 15. bis 17. November; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ * Bei der Unterschrift unter den Koalitionsvertrag ver- Westen betreten. Und jetzt soll ich dieses gangenen Freitag in Berlin. Land regieren.“ ™

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