Thomas Thränert Finden und Formen – Landschafts-Architekturen um 1800

Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742 – 1792) stellt in seiner Theorie der Gartenkunst fest: „Wenn gleich Gebäude Werke von der Hand des Men- schen sind, so gehören sie doch mit zur Landschaft, als ein fast unentbehr- 1 liches Zubehör.“ Die Landschaft, um die es hier geht, soll demnach nicht 1 Hirschfeld 1780: 41. unberührt erscheinen, sondern bewohnbar. Schon deswegen wird sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem mit Eifer bearbeiteten ge- stalterischen Handlungsfeld. Dieses umfasst nicht nur die landschaftliche Konzeption von Gärten, sondern auch die Erschließung und Umwertung aufgesuchter Gegenden mit gartenkünstlerischen oder architektonischen Mitteln. Dieses zweite kulturelle Phänomen, dessen Gestaltungsweise ver- kürzt als ein Finden und Formen zu beschreiben ist, prägte das Verständ- nis von Landschaft um 1800 nachhaltig. Doch wie sind ganze Gegenden durch einzelne Bauten umzuwerten? Wie sind Gebäude konzipiert, die an der Konstruktion von Landschaft um 1800 beteiligt waren?

Um dies darzustellen, ist zuerst auf den hier zugrunde liegenden Land- schaftsbegriff einzugehen, wofür der Blick auf die Malerei unumgänglich erscheint. Sie lieferte als traditionsreiche kulturelle Praktik für die Aneig- nung von Gegenden entscheidende Impulse für das Bauen, das sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstmals in größerem Maße aktiv mit der Landschaft auseinandersetzte. Dementsprechend basiert die Land- 2 Die Tragfähigkeit und Reichweite dieser Formulierung zeigt sich daran, dass auch schaftsvorstellung dieser Zeit auf einem Bildbegriff. Landschaften, das wa- sie als Titel seiner „ästhetische[n] Behandlung naturhistorischer 2 ren Ansichten von Natur. Bildhaft stellten sie sich dar, indem sie auf Se- Gegenstände” wählte. Humboldt 1808: VI. lektion, Ordnung und Sinngebung beruhten. 3 Zugleich wurde damit ein 3 Buttlar 1990: 7. Bezug auf den Betrachter impliziert, der für die Landschaft um 1800 kon- stituierend war. Sie fügte sich – wie Joachim Ritter (1903 – 1974) in seiner Vorlesung zur Ästhetik 1962 formulierte – aus der gegenwärtigen Natur „im Horizont eines sie empfindend betrachtenden Subjekts.“ 4 Demnach 4 Ritter 1962, zitiert in Bülow und Schweda sind Landschaften um 1800 treffender als ästhetische Landschaftsvor- 2010: 136.

Wolkenkuckucksheim | Cloud-Cuckoo-Land | Воздушный замок 20 | 2015 | 34 Thränert | 217 stellungen zu bezeichnen, die von der Sichtweise der Stadtbürger und des ländlichen Adels bestimmt wurden. Für beide war dies mit dem Hinausge- hen „aus der Werkwelt“ verbunden, was auch Ritter als weitere Bedingung 5 5 A. a. O.: 137. für das Landschaftserleben benannte. Beide Gruppen beschäftigten sich intensiv mit der baulichen Formulierung von Landschaften durch die Mit- tel von Architektur und Gartenkunst und richteten ihr Interesse dabei auf 6 Kirchhoff ; Trepl 2009: 20–22 und Gröning 2003: 62. die tatsächlich unberührte Natur wie auf besiedelte ländliche Gegenden. Landschaftskonstruktionen dienten demnach um 1800 dazu, einen Kon-

7 Der zeitgenössische Diskurs um diese takt zu diesen Kontexten herzustellen und sie – jenseits ihrer Komplexität ästhetischen Topoi dokumentiert in der 6 Gartenkunst der zweiten Hälfte des 18. sowie ihrer Problematik – geordnet und ästhetisch zu erfahren. Als Spa- Jahrhunderts das Interesse an der Erklärung ziergänger traten Bürgertum und Adel in der Landschaft jedoch in weit unterschiedlicher Wirkungen von Landschaft sowie an deren gestalterischer Nutzung. Dabei mehr als einen Bildraum oder eine Folge von Bildern. Die Grundlagen der wurde das Schöne vor allem durch Schriften von Edmund Burke, Immanuel Kant und von ihnen genutzten Ordnung und Ästhetik reichen über das Bildkonzept Friedrich Schiller in Bezug zum Erhabenen (Sublimen) gesetzt und dieses Begriffspaar – hinaus. So motivierte sich der baulich formulierte Blick in die Natur nicht federführend von William Gilpin und Uvedale Price – um das Pittoreske (Ma- nur durch die Erfahrung des Schönen, Malerischen (Pittoresken) oder Er- lerische) ergänzt. Entscheidend für die 7 gartenkünstlerische Praxis war, dass erhabene habenen, sondern durch landwirtschaftliche, botanische, geologische, to- Wirkungen dabei als auf den Werken der Natur pographische oder geschichtliche Interessen sowie – nicht zuletzt – über (Gebirge, Wasserfälle) beruhend und pittores- ke Erscheinungen als von Zeit und Zufall Bedürfnisse der Repräsentation, Kontemplation und Geselligkeit. 8 befördert angesehen wurden, so dass beide eher erschlossen als tatsächlich gestaltet werden konnten. Weinberg 2006: 97; Walter 2006: 40 – 83 und Hirschfeld 1782: 90, 116 f. Diesem sich öffnenden Spektrum entsprechend verweist die konkrete Frage nach der Landschaftstauglichkeit einzelner Gegenden um 1800 auf 8 Küster 1999: 112 – 116. Wilhelm Gottlieb Becker bemerkt dazu in seiner Schilderung etwas in keiner Weise Feststehendes, sondern ist vor allem durch die Ent- des Plauenschen Grundes bei : „Auch begnügt sich der wahre Freund der Natur nicht deckung von Potentialen mit lokaler oder überregionaler Reichweite ge- bloß an ihrem äußern Gewande: er dringt, so viel er vermag, in alles, was sie merkwürdig prägt. Immer neue Gegenden werden als Landschaften etabliert, ein kon- macht; beschäftiget sich mit den Producten, tinuierlich ausgeweitetes Spektrum von Naturqualitäten begründet dies, die sie erzeugt und ernährt (...). Mit neuem Vergnügen kehrt er dann zum Anschaun ihrer und immer weitere Bevölkerungsschichten nehmen Anteil daran. 9 Damit Reize zurück: er weiß sie nun noch höher zu würdigen. Seine Empfindungen sind itzt mit dies geschehen kann und indem dies geschieht, wird der landschaftliche Betrachtungen durchwebt, denn sein Geist schwebt über dem Ganzen.” Becker 1799: 26. Bezugsraum zum Gegenstand der gartenkünstlerischen und architektoni- schen Umwertung. Wenn Natur durch die „im Anblick empfindend und 9 Großklaus 1983: 178–190. Zur Parallele 10 von künstlerischer Entdeckung und touris- fühlend auffassende […] Subjektivität“ der Akteure zu Landschaft wird, tischer Erschließung am Beispiel englischer Gegenden, vgl. Andrews 1989: 85 – 240. dann sichern die in der Folge errichteten Bauten diesen Status, indem sie vorhandene Sichtweisen manifestieren und kanonisieren. In diesem Sinne 10 Ritter 1962, zitiert in Bülow und Schweda 2010: 139. ist Hirschfelds eingangs zitierte Feststellung gültig.

Abb. 1 Grundriss der Stadt Tharand mit der umliegenden Gegend, Carl Gottlob Kühlemann (1799)

218 | Thränert Das Bauen in den auf diese Weise entdeckten Gegenden ist von der Ent- wicklung der zeitgleich für Gärten geschaffenen Architekturen nicht zu trennen, doch gewinnen diese im Kontext der freien Landschaft eine ver- änderte oder erweiterte Bedeutung. Sie sind in Erschließungsstrukturen eingebunden, die – wie der Kunstschriftsteller Wilhelm Gottlieb Becker 11 (1753 – 1813) formulierte – kein „umschlossenes Ganzes“ bilden ( Abb. 1). 11 Becker 1799: 3.

Als Wahrnehmungsräume bringen diese Spazierwege den Betrachter in Kontakt mit einer vielleicht gestalterisch modifizierten doch als ‚echt’ er- fahrenen Gegend oder dem ‚ Landleben’. Dabei sind sie als Teil einer ab- gesicherten Infrastruktur kenntlich, die zugleich die für die ästhetische Wahrnehmung des Umfeldes notwendige Distanz erzeugt. Hirschfeld deu- tet diese Funktion von Gebäuden an, wenn er sie in seiner Theorie der 12 Hirschfeld 1780: 41. Gartenkunst als Zeichen für die „Belebung einer Gegend“ beschreibt. 12 Die von ihnen ausgehende „Idee der Bewohnung und der Gegenwart des Menschen“ wirkt vor diesen Hintergründen besonders bedeutsam, zumal der „Mensch, dessen Anwesenheit angekündigt wird, […] nicht der zur Be- schwerde und Sclaverey herabgesetzte […], sondern der Mensch [ist], der hier mit Freyheit, mit Geschmack und Vergnügen wohnt, der sich an den 13 Ebd. mannigfaltigen Scenen der Natur behagt.“ 13 Das Gebaute fungiert demnach als Zeichensystem unter Gleichgesinnten zu deren gegenseitiger Vergewis- serung. So wie Gebäude Zeichen an sich sind, dienen sie um 1800 verbrei- tet dazu, Sinn aufzunehmen, indem sie denkmalhaft mit einer Person oder Sache verbunden werden. Erforderlich sind sie, um Nutzungen in entle- genen Gegenden einzurichten. Sie fungieren als Wetterschutz, Rastplatz und Aussichtspunkt. Sie bieten das Potential, zum Refugium mit Distanz zu gesellschaftlichen Zwängen, zum Ort kreativer Betätigung oder gesel- 14 Oesterle 2012: 68-71. ligen Austauschs und Zeitvertreibs zu werden. 14 In der Struktur der Spa- ziergänge sind die baulich gefassten Orte zugleich Orientierungspunkte. Mit ihnen werden potentiell interessante Lagen markiert. Sie sind aus der Ferne optisch erfassbar und bieten dem Spaziergänger somit Ziele, die ihn durch die Gegend leiten. Besonders prägend für die Gestaltungskonzep- te dieser Architekturen war, dass sie „als Mittel zur Charakterisirung der 15 Hirschfeld 1780: 49. verschiedenen Naturplätze“ gesehen wurden. 15 Grundlage ist die „einwir- 16 kende Kraft der Gebäude auf die sie umgebende Gegend“ und damit der 16 Ebd. Wirkungszusammenhang zwischen Naturraum und baulicher Interventi- on. Durch Stil, Typus, Dimension und Materialität bieten Baulichkeiten – wie der Gartentheoretiker Thomas Whately (1726 – 1772) feststellte – das ideale Gestaltungsmittel, „den Charakter ihrer Szene zu bestimmen, zu er- höhen, oder zu verbessern: und sie sind so deutlich und so unterscheidend, 17 Whately 1771: 151. daß man ihre ganze Stärke unmittelbar und nachdrücklich empfindet.“ 17

In dieser näheren Bestimmung der Wahrnehmung ist die entscheidende Leistung der gartenkünstlerischen und architektonischen Gestaltung bei der Konstruktion von Landschaft zu sehen. Bildhaft ausgedrückt sollen die-

Wolkenkuckucksheim | Cloud-Cuckoo-Land | Воздушный замок 20 | 2015 | 34 Thränert | 219 se baulichen Setzungen wie ein Filter wirken, durch den ein Aspekt aus der Vielschichtigkeit der Natur hervorgehoben wird. Obwohl das Gebaute als prägend für den Landschaftseindruck beschrieben wird, können durch den mehr oder weniger ausgeprägten Charakter der Naturszene auch Interfe- renzen auftreten. Als Beispiele benennt Hischfeld:

„Was kann widersinniger seyn, als ein bürgerliches Haus in einem Park, eine Einsiedeley mitten auf einem weiten offenen Rasenplatz […], einen edlen Pavillon in einer Wildniß, eine Hütte auf einem mit 18 18 Hirschfeld 1780: 50. herrlichen Bäumen gezierten Hügel […] aufzustellen?“

Ebenso die Unzulänglichkeit ländlicher Bauweisen wird thematisiert.

19 Gilpin 1800: 302. So erklärt sich, dass der Maler und Kunstschriftsteller William Gilpin (1724 – 1804) aus Sicht eines ‚ malerisch Reisenden’ schilderte, dass die „gezwungenen Abtheilungen des Grundeigenthums – die Häuser und Städ- te, diese Wohnsitze der Menschen, […] in der Landschaft weit öftrer eine schlechte, als gute Wirkung, thun.“ 19 Auch Becker kritisierte auf gleicher Grundlage in seiner Beschreibung des Plauenschen Grundes bei Dresden die dort gelegene Buschmühle ( Abb. 2):

„So wie sie ist, scheint sie mehr in die Stadt zu gehören, weil es ihr ganz an dem Ländlichen und Zufälligen mangelt, was in der freien Natur

Abb. 2 Vue prise près du Moulin dit das Auge so sehr vergnügt. […] Das Gebäude an sich leistet zwar seiner Buschmühle dans la Vallée de Plauen près de Bestimmung vollkommen Genüge; aber es würde das Auge nicht wenig Dresde, Johann Gottfried Jentzsch; Johann Friedrich Franz Bruder (1814) ergötzen, wenn die vordere Seite eine malerische Form hätte und mit einigen kleinen Wirthschafts-Gebäuden und mancherlei hierher gehö- 20 20 Becker 1799: 31. rigen Geräthschaften gruppirt wäre.“

Hier zeigt sich, wie als Folge des landschaftlichen Blickes ausschließlich die Bildwirkung der Situation betont wird und zugleich von Seiten der Städter ein ästhetischer Anspruch an die ländlichen Gegebenheiten gestellt wird. Um diese Interferenzen zu umgehen, wird für die gartenkünstleri- sche und architektonische Gestaltung landschaftlicher Zusammenhänge postuliert, dass diese „ zuvörderst mit dem Charakter des Orts, wo sie sich 21 21 Hirschfeld 1780: 50. zeigen, übereinstimmen“ müssen. Das Spektrum der daran anknüpfen- den gestalterischen Lösungen wird damit eher ausgeweitet als beschränkt. Denn der aus der Gegend abgeleitete Charakter ( heiter, feierlich, erhaben, melancholisch, ländlich usw.) kann sowohl durch eine formal angepasste wie kontrastierende Gestaltung gestärkt werden. Den gewünschten Effekt beschreibt Hirschfeld als das gegenseitige Mitteilen der Kräfte von Bau- lichkeit und Gegend: „ […] ihre Charaktere werden deutlicher, und es ent- steht eine Vereinigung von Begriffen und Bildern, die mit einem völlig be- 22 22 Hirschfeld 1779: 227. stimmten und mächtigen Eindruck auf die Seele wirken.“ Verkürzt wäre also von einer Umwertung der Gegend zu sprechen, die auf verschiedenen künstlerischen Strategien beruhen kann. Im Folgenden werden anhand

220 | Thränert von Beispielen drei Prinzipien – Mimesis, Kontrast und Monumentalisie- rung – dargestellt, die dies in Gang setzen und für die Konstruktion von Landschaften um 1800 wesentlich waren.

Umwertung durch Mimesis

Für ein künstlerisches Phänomen, welches durch den Bezug auf die ästhe- tischen Qualitäten seines Umfeldes bestimmt ist, erscheint die Auseinan- dersetzung mit verschiedenen Formen gestalterischer Anknüpfung nahe- liegend. Da der Architekturdiskurs um 1800 vom Prinzip der Nachahmung jedoch generell geprägt ist, hat das zeitgenössische Begriffsverständnis für die im Zusammenhang mit der Umwertung durch Kontrast und Monu- mentalisierung dargestellten Erscheinungsformen eine wesentliche Be- deutung. 23 Demnach bedarf es hier einer näheren – engeren – Differen- zierung. Als Mimesen werden im Folgenden unmittelbare typologische, 23 Bisky 2000: 5 f. formale oder materielle Bezüge auf den Gestaltungskontext beschrieben. Dementsprechend geht es dabei um die nachahmende Verwendung von Ausdrucksmitteln, die am Ort der Intervention vorkommen oder zumin- dest plausibel vorkommen könnten. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der Mimesis von Naturformen, ländlichen Bauweisen und Verfalls- sowie 24 Vgl. König 1996: 34. Alterungserscheinungen. Bewusst wird dabei nicht von Mimikry gespro- chen, da die Aufrechterhaltung der Trennung zwischen vorgefundener und gartenkünstlerisch erschlossener Situation konstituierend für die Wahr- nehmungsweise in den Spaziergängen war und das Maß der Nachahmung daher schon konzeptionell begrenzt war. 24

Das Konzept der Mimesis von Naturformen veranschaulicht ein 1775 auf der Kuppe des Borsbergs bei Dresden errichteter Bau ( Abb. 3), der als „Grotte“, „Eremitage“ oder „Belvedere“ bezeichnet wurde und im Zu- sammenhang mit den um die kurfürstliche Sommerresidenz in Pillnitz Abb. 3 Der Hügel vom Borsberge hinter geschaffenen Verschönerungen entstand. Das Äußere dieses Gebäudes be- Pillnitz, Anonymus (1800) schrieben Zeitgenossen als das eines „scheinbar wilde[n] Steinhaufens“ oder eines „durch Kunst verfertigte[n] Felsen[s].“ 25 Durch die drapierte

Felsbildung führte eine „versteckte Treppe, deren Lehne ein umgeworfe- 25 Hasse 1804: 158 und Daßdorf 1782: 741. ner Baum“ bildete, 26 zu einem mit einem hölzernen Geländer eingefassten

Altan. Von diesem ursprünglich über den angrenzenden Baumbestand ex- 26 Hasse 1804: 158 f. ponierten Standort eröffnete sich ein umfassendes Landschaftspanorama. Im Inneren des Baus befand sich ein achteckiges, flach überwölbtes Ka- binett mit Empireausstattung, wozu ein Kamin mit einer Einfassung aus Kunstmarmor, ein Spiegel, Inschriften und einige Möbel gehörten. 27 So außergewöhnlich die Schaffung einer Grottenarchitektur in einer Gipfel- 27 Gurlitt 1904: 183. lage erscheinen mag, so wird doch dieser Typus auf dem Borsberg effekt- voll genutzt, indem das Motiv der in der Umgebung verstreut auftretenden Steine und kleineren Felsbildungen aufgegriffen und gesteigert wird. Der

Wolkenkuckucksheim | Cloud-Cuckoo-Land | Воздушный замок 20 | 2015 | 34 Thränert | 221 Bau ist in seinem Grundriss unscharf umgrenzt und dementsprechend als eine künstliche, felsige Bergspitze konzipiert. Die gesteigerte Natursituati- on, die das Äußere des Baus vor Augen führt, ist demnach ohne die Gestalt der angrenzenden Hänge undenkbar. In dem zur Landschaft umgewerte- ten Zusammenhang ist die Grotte nicht als Bauwerk auf dem Gipfel, son- dern erst der Altan als die neugeschaffene und durch eine Treppe ‚ künst- lich’ domestizierte Kuppe des Berges erfahrbar.

Auch der 1781 im Seifersdorfer Tal bei Dresden geschaffene Tempel Mo- ritz und den ländlichen Freuden gewidmet ( Abb. 4) ahmt Naturformen nach, bedient sich dafür jedoch anderer Techniken. Dieser Bau war die ers- te Verschönerung des später intensiv gestalteten Tales der Großen Röder und wurde von Christina von Brühl als Festort zum 35. Geburtstag ihres Mannes Moritz konzipiert. Die für die Errichtung des Tempels gewählte Situation war ein vorhandener Wiesenraum, der zugleich die größte Auf- weitung der Talsohle darstellt und später als Tanzwiese bezeichnet wurde. Abb. 4 Tempel, Moritz und den ländlichen Die Lage ist gerahmt von steil aufragenden Hängen, dem Flusslauf der Rö- Freuden gewidmet, Johann Adolph Darnstedt (1792) der und den Kulissen unterschiedlich dimensionierter Baumgruppen. Aus der motivischen Vorgabe dieser Gehölze wird das Gebäude entwickelt und damit ein Bezugspunkt inmitten des Wiesenraums geschaffen. Der mit ei- ner Pappelpflanzung umgebene Bau wurde als offene oktogonale Holzkon- struktion ausgeführt, sodass er über eine allseitige Orientierung zu seinem Umfeld verfügte. Das Dach ruhte auf 16 ,rohen‘, mit Zapfen umwundenen Säulen. Zwischen diesen waren „Festons von Stroh mit Blättern von grüner Wachsleinewand gezogen.“ 28 Im Inneren des Pavillons befand sich ein aus

28 Becker 1792: 90. Baumrinden und -zapfen gefertigter ‚Kronleuchter‘. Alle diese Bauelemen- te ahmen Erscheinungsformen der angrenzenden Baumkulissen nach oder inszenieren deren Materialität. Gekennzeichnet ist diese Mimesis durch einen Strukturwechsel von ‚topologischen‘ zu geometrischen Formen. So stellte sich der Pavillon als eine aus Naturzitaten zusammengefügte Ar- chitektur dar – als ein Saal, dessen Wände die umliegende Natursituation bildete und der zugleich mit dem größeren Saal des offenen Wiesenraumes korrespondierte.

So wie die Spaziergänger das ‚Landleben’ zum Gegenstand der ästhetischen Betrachtung erhoben, wurden im Zuge der Gestaltung von Landschaften auch ländliche Bauweisen nachgeahmt. Ein Beispiel dieses zweiten mime- tischen Ansatzes ist das Berghäuschen in den Anlagen um die Gutsanlage Gamig bei Pirna ( Abb. 5). Dabei wird ein schlichter Fachwerkbau als Zei- chen einfachen, ursprünglichen und – der Deutung seiner Zeit folgend – ‚ guten‘ Lebens unter dem Einfluss der Natur geschaffen. Mit dieser Form der Mimesis wird ein für alle Spaziergänge relevanter Aspekt in den Vor- dergrund gerückt, den der Philologe Karl Gottlob Schelle mit den Worten beschrieb: „Jeder gebildete Mensch, der mit regem Sinn für die Natur, den Abb. 5 Das Berghäuschen in Gamig, Carl August Wizani und J. Schüller (1803) Beytrag nicht verkennt, den sie zur allseitigen Ausbildung seiner ganzen

222 | Thränert Menschheit leistet, muß unter ihren veredelnden Einflüssen leben“ – wo- mit er ausdrücklich den zeitweisen Aufenthalt des Städters auf dem Lande 29 Schelle 1802: 119. Hirschfeld zufolge erweckt die ländlichen Situation eine meint. 29 Zumal ähnliche Gebäude dem zeitweiligen Aufenthalt ihrer Besit- Freudigkeit, vor der „die Sorgen und der Verdrus verschwindet, so beruhigt sie die zer oder Gäste dienten, ist die umgebende Naturszene auch hier nicht nur Leidenschaften, und setzt das Gemüth in eine beständige Gleichheit und Mässigung Kontext, sondern Bedeutungsträger und ersehnter Erfahrungsraum. und Zufriedenheit.” Hirschfeld 1771: 63.

Ein drittes mimetisches Prinzip stellt die Darstellung des Verfalls bezie- hungsweise die Förderung materieller Alterungserscheinungen dar. Erste- res zeigt die Vielzahl der um 1800 im Kontext natürlicher und ländlicher Gegenden geschaffenen künstlichen Ruinen. Im Sinne der diesem Beitrag zugrunde gelegten Differenzierung geht es dabei an dieser Stelle ausdrück- lich um Gestaltungsweisen, die zur Vergegenwärtigung lokaler Geschicht- lichkeit dienen und nicht um den Rückgriff auf historische Architektursti- le. Denn in Bezug auf die Konstruktion von Landschaft um 1800 lohnt es, beide – architekturgeschichtlich eng miteinander verbundenen – Tenden- zen zu unterscheiden. So entstand eine ganze Reihe von Ruinenarchitek- turen in Arealen, die Spuren verfallener Wehranlagen aufwiesen. Beispiele dafür sind die künstlichen Ruinen auf dem Pillnitzer Schlossberg bei Dres- den ( Abb. 6) und in der Lausker Skala (Oberlausitz). 30 Auch wenn diese Gebäude Architekturphantasien sind, bezogen sie von dem historischen Abb. 6 Das Raub-Schloss auf dem Pillnitzer Ort doch Authentizität und vermitteln zur Wahrnehmung von dessen His- Vorgebürge, Anonymus (1800) torizität. Dies gilt sogar, wenn ihre Errichtung die teilweise Zerstörung der früheren Substanz zur Folge hatte. Denn die konstruierten Relikte lenk- ten den Blick der Zeitgenossen erfolgreich auf den geschichtsträchtigen Boden. Zugleich bot die Gestaltung von Verfallsszenarien die Möglichkeit 30 So wurde in Pillnitz auf das Areal eines zur Schaffung ‚unscharfer’ Grundrisse und damit zur stärkeren Verschrän- mittelalterlichen Herrensitzes und mit der Lausker Ruine auf eine slawische Wallanlage kung von Baulichkeit und angestrebtem landschaftlichen Zusammenhang. zurückgegriffen. Neben dem konstruierten Verfall zeigt die zeitgenössische Kunsttheorie zur Konzeption des Malerischen um 1800 ein ausgeprägtes Interesse da- für, materielle Alterungserscheinungen zu ästhetisieren. Uvedale Price (1747 – 1829) spricht von dem

„Verfahren, nach welchem die Zeit […] einen schönen Gegenstand in 31 Price 1798: 40 – 42. einen mahlerischen verwandelt. Zuerst vermindert sie durch Wetter- flecken, partielle Uebertünchung, Bemoosung u. dergl. die Einförmig- keit seiner Fläche und zugleich seiner Farbe; daß heißt, sie gibt ihm 32 Viele der in Spaziergängen geschaffenen einen Grad von Rauheit […]. Hernach machen die mannichfachen Ver- Baulichkeiten wurden aus kurzlebigen Materi- alien geschaffen. Oft und sicher nicht zu Un- änderungen der Witterung die Steine selbst lose; sie fallen in unregel- recht wird dies vor allem mit den finanziellen Möglichkeiten der Initiatoren oder dem spon- mäßigen Massen auf einen vielleicht vorher glatten Rasen oder Pflas- tanen Entstehungskontext begründet. Doch bliebe dabei unberücksichtigt, dass Hirschfeld ter, […] und werden nun mit Unkraut und Kletterpflanzen vermischt beispielsweise für die Errichtung von Einsiede- leien fordert: „[…] selbst die Vernachlässigung und überwachsen, die drüber und zwischen den eingefallenen Ruinen der Verhältnisse der Baukunst ist hier eher ein klettern und hervorschießen.“ 31 Verdienst, als ein Fehler. Ein Dach von Stroh und Schiefer […] oder eine von leimigter Erde aufgeführte Wand, woran man die Spuren der Zeit und des Wetters, beschädigte Stellen und Diese Prozesse waren an vielen Bauten in der Gegend bald nach ihrer Ueberzüge von Moos wahrnimmt […] – Alles dieses bezeichnet die äußere Gestalt der 32 Schaffung zu beobachten. Entsprechend Prices Argumentation wurden Einsiedeley.” Hirschfeld 1780: 103.

Wolkenkuckucksheim | Cloud-Cuckoo-Land | Воздушный замок 20 | 2015 | 34 Thränert | 223 sie durchaus auch positiv rezipiert und führten in jedem Fall zu einer neu- en Sichtweise auf das Verhältnis von Gebäude und Landschaft. Ihrem Ver- hältnis zur Natur zufolge ist die wesentliche gestalterische Leistung dieser 33 33 Vgl. Norberg-Schulz 1982: 17. Mimesen in der Visualisierung zu sehen. In der konstruierten Landschaft wird ein materiell vorgegebener – und nicht nur assoziierter – Aspekt der natürlichen oder ländlichen Gegend hervorgehoben.

Umwertung durch Kontrast

Ebenso selbstverständlich zitierte die baulich formulierte Nachahmung zur Konstruktion von Landschaft ferne Orte und Zeiten. Indem die aufge- suchte Gegend jenseits der Alltagswelt des Bürgers und Adligen lag, ließ sie sich als Möglichkeitsraum für zeitliche und räumliche Projektionen 34 34 Gamper 2001: 58 – 61. ausschöpfen. Befördert wurde dies durch das gestalterische Experimen- tierfeld, das die für die Erschließung und Umwertung von Landschaft not- 35 35 Oesterle 2012: 74 f. wendigen oft miniaturhaften Baulichkeiten boten. Deren typologisches Spektrum reicht von Brücken, Felsentreppen und Aussichtsplateaus über Steinsetzungen und ausstaffierte Bäume bis zu Tempeln, künstlichen Rui-

36 Vgl. Norberg-Schulz 1982: 17. nen, Türmen und Grabmalen. Im Gegensatz zu den beschriebenen mime- tischen Gestaltungsansätzen steht dabei eine Symbolisierungsleistung im Vordergrund. 36 Grundlage dafür bildet die Wahrnehmung einer Sinner- fahrung und deren Übersetzung in ein anderes Medium. Dabei zielt die Bauidee auf eine Abstraktion von den unmittelbaren Gegebenheiten des Ortes zugunsten einer anthropogen vermittelten Referenz, die den Be- trachter mittels seiner Einbildungskraft in neue Zusammenhänge verset- zen sollte. Initial des Umwertungsprozesses zur Landschaft ist demnach in diesem Fall die Wahrnehmung eines geographischen oder zeitlichen Kon- trasts. Ein Beispiel dafür ist das 1848 oberhalb des Müglitztales bei Maxen unweit von Dresden errichtete Blaue Häusel ( Abb. 7). Dieser Bau entstand unter dem Einfluss und wahrscheinlich unter Beteiligung des javanischen Abb. 7 Das Blaues Häusel in Maxen (Chiosk), Hans Hartmann (1858) Prinzen und Malers Raden Saleh (1811 – 1880), der sich zu dieser Zeit auf dem nahegelegenen Gut der Familie Serre aufhielt. Tatsächlich verbinden sich in der Architektursprache orientalische und klassizistische Motive mit 37 37 Rolka 2007: 147. regionalen Bautraditionen. Im Möglichkeitsraum des Spaziergängers um 1800 boten diese hinreichend Gelegenheit, sich vor der Kulisse des Osterz- gebirges in exotischen Gefilden zu wähnen.

Auf gleiche Weise wird das gestalterische Initial zur zeitlichen Distanzie- rung des Spaziergängers aus seiner Gegenwart vermittelt. Wesentliche Aus- löser dafür sind der Rückgriff auf Architekturformen des Mittelalters oder der Antike und die Schaffung entsprechender künstlicher Ruinen. Letzte- re können demnach sowohl die Historizität eines Ortes visualisieren wie Abb. 8 Die Altensteiner Höhle mit dem auch übergeordnete Geschichtskonzepte ihrer Initiatoren transportieren. Papiernen Tempel (Die Höhle zu Liebenstein), O. Wagner und J. Carter (o. J.) Ein Beispiel, das dies in außergewöhnlicher Lage umsetzte, war der 1802

224 | Thränert geschaffene Papierne Tempel in der Altensteiner Höhle bei Bad Lieben- stein im Thüringer Wald, der zu den von Herzog Georg I. von Sachsen- Meiningen (1761 –1803) ausgelösten Verschönerungsmaßnahmen im Um- feld seiner Sommerresidenz in Altenstein zählt (Abb. 8). Es handelt sich dabei um einen klassizistischen Portikus am Rande des zu dieser Zeit für Kahnfahrten genutzten Höhlensees. Das Bauwerk verblendet eine kleine Höhlennische und evoziert nicht nur Bedeutung, sondern auch Raum. Eine Schilderung des Dichters Ludwig Storch (1803–1881) verdeutlich die Be- züge der von dieser Kulisse ausgehenden Wahrnehmungslandschaft:

„Der Eindruck, unter der roth angestrahlten mächtigen Felsenwöl- bung auf der dunkeln Fluth hinzuschiffen, ist so ungemein schauer- lich und ergreifend, daß Worte ihn nicht wieder zu geben vermögen; aber alle in unsrer Jugend empfangenen ungewissen Bilder der grie-

chischen Unterwelt erhalten hier plötzlich Leben, und Farbe und be- Abb. 9 Dorestans Denkmal, Johann Adolph Darnstedt (1792) stimmte Gestalt.“ 38

Hier deutet sich an, dass die zeitliche und räumliche Entrückung den Spa- ziergänger um 1800 nicht nur zufällig in fiktive Bezüge versetzt. Unmiss- 38 Storch 1839: 224. verständlich und intendiert geschieht dies im Seifersdorfer Tal, wo Dore- stans Denkmal und die Hütte der Hirtin der Alpen mit dem zugehörigen Garten den Betrachter in die fiktionale Landschaft einer Novellenhandlung versetzen (Abb. 9 und 10). Den Hintergrund bildet in diesem Fall Jean- 39 Warnke 1992: 112. François Marmontels (1723 – 1799) La Bergère des Alpes (1761).

Umwertung durch Monumentalisierung

So wie Gebäude um 1800 häufig denkmalhaft aufgefasst werden, geschieht dies bei der Konstruktion von Landschaften auch mit Naturelementen. Voraussetzung dafür ist die Existenz eines ausgeprägt körperhaften Ortes, der als sinnaufnehmendes Medium aufgefasst werden kann. Berge, Felsen, Höhlen und Quellen wurden dafür um 1800 ebenso genutzt wie markante Altbäume. Die Umwertung geschieht durch das Anbringen von Inschrif- ten, die skulpturale Überformung, die Errichtung von Anbauten oder die Etablierung von Benennungen. Durch diese Mittel werden die Eigenschaf- ten der Naturelemente für eine Person oder Sache aktiviert. 39

Ein Beispiel dafür ist der Kuhstall, ein Felsentor im Neuen Wildenstein in der Sächsischen Schweiz ( Abb. 11). Durch seine Gestalt bildete es bereits an sich eine eindeutig identifizierbare Lage in der Gegend. Es verfügt über eine Architekturform, die auch einen Wetterschutz bietet und die es präde- stiniert erscheinen lässt, um ‚ Sinn‘ aufzunehmen. Unter diesen Vorzeichen entwickelte sich der Kuhstall um 1800 zu einem der meistbesuchten Ziele Abb. 10 Hütte der Hirtin der Alpen, in diesem Gebirge. Im Zuge dessen wurde im Schutz des Felsentores ein Johann Adolph Darnstedt (1792)

Wolkenkuckucksheim | Cloud-Cuckoo-Land | Воздушный замок 20 | 2015 | 34 Thränert | 225 Ausschank mit Tischen und Bänken geschaffen. Zugleich bürgerte sich un- ter den Besuchern die Praktik ein, Namen oder Initialen in die Wände des Felsen zu ritzen oder einzumeißeln – teilweise sogar mit Teer ausstreichen 40 40 Andersen 1847: 136. zu lassen. Als Folge der Ritualisierung dieser individuellen Gestaltungen wurden das Felsentor und die Felswand darüber mit Schriftzeichen über- zogen, soweit sie mit Leitern erreichbar waren. So wird die topographisch markante Situation zum persönlichen Identifikations- und Erinnerungs- ort. Dies zeigt sich, wenn der Kammerherr Carl von Voß (1779 – 1856) in seiner Reisebeschreibung notierte:

„Ein Zeichen meines treuen Andenkens an Euch, meine Lieben, ließ ich an diesem schönen Orte zurück und malte selbst mit Ölfarbe rechts in dem Gange zum Wochenbett die Anfangsbuchstaben unserer und Carolinens Namen, nämlich C. J. C. L. C. H. A. Kein Fremder wird sie

41 Voß 1986 [1822]: 125. entziffern, wer aber jemals von Euch, Ihr Theuren, dort hinkommt, der wird sich meiner gewiß liebevoll erinnern.“ 41

Abb. 11 Der Kuhstall, E. Schmidt (1840)

Auch diese als Miniatur gefasste Setzung wäre ohne die markante Na- turform gegenstandslos, da diese ihre Schaffung erst auslöst und sie auf- findbar aufnimmt. Schon als einzelner Gestaltungsakt ist er also mit einer Monumentalisierung der Naturform verbunden. Hundertfach ausgeführt verbinden sich für den Betrachter, der diese Praktik der Bezeichnung nicht verurteilt, die „Namen von Naturfreunden aus so vielen Ländern und Ge- genden der Erde, und aus allen Ständen vom Fürsten bis zum Geschäfts- mann,“ 42 jedoch zu einer Gemeinschaft Gleichgesinnter. In dieser Lesart 42 Götzinger 1991 [1812]: 183. Götzingers Beschreibung zufolge waren die Inschriften so gewinnt die Architekturform des Felsentores an Gewicht. Der durch sei- zahlreich, dass sie „binnen zehn Jahren immer wieder durch andre verdrängt wurden, und ne Schriften die Erschließung der Sächsischen Schweiz prägende Pfarrer am Ende kein Platz mehr darzu übrig blieb” (a. a. O.: 189). Wilhelm Leberecht Götzinger (1758 – 1818) schildert dies mit den Worten:

226 | Thränert „[…] zu einer Halle fröhlicher Geselligkeit; zu einem Versammlungs- saale interessanter Bekanntschaften aus allen Nationen; zu einem Tempel, in welchem sich das Herz zu reinen Freuden der Natur und zu Gefühlen von der Nähe des hier überall sichtbaren allmächtigen Urhe- 43 bers des Weltalls erhebt, ist dieser Felsenraum geworden.“ 43 A. a. O.: 196.

Nach dieser Wahrnehmung erschien die Benennung „Kuhstall” unangemes- sen, weshalb Götzinger erfolglos „Wildensteiner Felsenhalle” vorschlug. Damit erscheint die Naturform nicht nur als Architektur, die eine Behau- sung im ursprünglichsten Sinne darstellt, sondern sie wird den architekto- 44 So wurde der östlich von Wörlitz gelegene Elbdeich durch die Gestaltung eines Wallwach- nischen und gartenkünstlerischen Werken in jeder Funktion gleichgesetzt. hauses in Form eines römischen Wachturms zum Limeswall umgewertet. Der schon am Ebenso wie Naturformen wurden um 1800 jedoch auch anthropogene Ele- Beispiel von Pillnitz und Lauske beschriebene mente und Strukturen – wie Halden, Wall- oder Deichanlagen – monumen- Bezug zu historischen Befestigungsanlagen wurde auch bei der Luccaburg in Loccum talisiert. 44 Einige dieser Anlagen vermitteln neue ästhetische Konzepte von hergestellt, deren Burghügel 1820 in ähnlicher Form wie das im Folgenden beschriebene Landschaft. Beispielhaft zeigt dies das Grabmal Herders Ruhe bei Grabmal Herders Ruhe zur Erinnerungsstätte für den Prior Karl Ludwig Franzen umgewertet in Sachsen ( Abb. 12). Diese Stadt war Dienstsitz des Oberberghauptmanns wurde. Heine 2013: 13. August von Herder (1776 – 1838), der die stillgelegte Bergbauhalde Heilige Drei Könige testamentarisch zu seiner Grabstätte bestimmte. Diese Halde befand sich auf einem nördlich der Stadt gelegenen Geländerücken und war zu dieser Zeit bereits teilweise abgetragen worden. Ihr Umfeld war geprägt von anderen stillgelegten und aktiven Schachtanlagen. Nachdem Herder in dem Haldenrelikt beerdigt worden war, wurde ein Komitee zur Gestaltung der Grabstätte gebildet und der Architekt Eduard Heuchler (1801 – 1879) mit der Ausarbeitung von Entwürfen beauftragt. Realisiert wurde eine Neumodellierung des Haldenkörpers als Kegelstumpf. 45 In diesen integrierte Heuchler eine zinnenbekrönte neogotische Monumen- talwand mit der Aufschrift „Hier ruht der Knappen treuster Freund“. Der Abb. 12 Herders Ruhestätte, Fuß der Halde erhielt eine partielle Einfassung mit felsenartigen Partien. Eduard Heuchler und Carl Wilhelm Arldt (1841) Bäume und Sträucher wurden gepflanzt und das Haldenplateau durch eine Treppe erschlossen, sodass die Halde zugleich als Belvedere konzipiert ist. 45 Zur Planungsgeschichte des Grabmals Die Gestaltung dieses Grabmals formulierte damit eine Ansicht der Stadt, vgl. Becke u. a. 2001: 47–54. die deren Wahrnehmung prägen und als Vorlage graphischer Darstellun- gen dienen sollte. Zugleich monumentalisiert Herders Ruhe ein typisches Element der Bergbaulandschaft und knüpft an das Lebenswerk des Ober- berghauptmanns an, zu dessen Leistungen die gezielte Romantisierung 46 des Bergmannsberufs gehörte. 46 Gierth 1990: 78 f.

Die im 18. Jahrhundert in den natürlichen Gegenden und mit dem Blick auf das Landleben begonnenen ästhetischen Erkundungen werden damit auf neue Gegenstände ausgeweitet. Beispiele wie Herders Ruhe verdeutlichen, dass die hier dargestellten Anlagen nicht nur dazu beitrugen, Landschafts- vorstellungen zu bestätigen, sondern auch das Verständnis von Landschaft- lichkeit auszuweiten. Für die im Zuge dieser Entwicklung angewandten künstlerischen Konzepte ist die Gegend nicht nur ein Bezugsrahmen. Sie gibt Lagen, Materialien und Formen vor, liefert Inspirationen sowie anei-

Wolkenkuckucksheim | Cloud-Cuckoo-Land | Воздушный замок 20 | 2015 | 34 Thränert | 227 genbar Elemente. Für den Betrachter gewann sie um 1800 zunehmend an Wirkungen und Bedeutungen. Beachtung verdient, dass die beschriebene Gestaltungspraxis den bewussten Verzicht auf Gestaltung einschließt. So kann und wird ihr Hauptanliegen, die Konstruktion von Landschaft, nur mittelbar durch die Schaffung eines baulichen Gegenübers erreicht. Dar- über hinaus zeigen einzelne Projekte immer wieder die Tendenz zum Zu- griff auf ungestaltbare Qualitäten. Beispielhaft dafür steht die Aneignung erhabener Naturformen oder malerischer Alterungserscheinungen. Das Ausloten der hier zugrunde liegenden Dichotomie zwischen der künstle- risch gesetzten Baulichkeit und der nicht oder in anderem Zusammenhang anthropogen geformten Gegend ist als Wesenszug des hier betrachteten Gestaltungsphänomens anzusehen. Sie bedeutete dem Spaziergänger die Annäherung an eine Grenze und evozierte Ehrfurcht und Begierde.

Zur Person

Dipl.-Ing. Thomas Thränert, Jahrgang 1978, ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Denkmalpflege, Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin und als Freier Landschaftsarchitekt tätig. Er hat Gartenbau an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden und Landschaftsplanung an der Technischen Universität Berlin studiert. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Gartendenkmalpflege, Entwicklung der Gartenkunst um 1800 und Geschichte der Kulturlandschaft. Diverse Veröffentlichungen zu diesen Themen. www.denkmalpflege.tu-berlin.de und www.krt-gartendenkmalpflege.de

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Abbildungen

Abb. 1 Museumsdepot Tharandt Abb. 2 Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB), Kartensammlung, Inv.-Nr.: B5710 Abb. 3 SLUB Dresden, Kartensammlung, Inv.-Nr.: B2778 Abb. 4 SLUB Dresden, Kartensammlung, Inv.-Nr.: B2983 Abb. 5 Heimatmuseum Dohna, Schw. K. 1,39 Abb. 6 SLUB Dresden, Kartensammlung, Inv.-Nr.: B2775 Abb. 7, 8 Privatbesitz Abb. 9, 10 SLUB Dresden, Kartensammlung, Inv.-Nr.: B2989 Abb. 11 SLUB Dresden, Inv.-Nr.: SLUB / 2011 2 001528 Abb. 12 Anonymus (1841): Das Grabmal des königl. sächs. Oberberghauptmann Freiherrn von Herder. In: Saxonia – Museum für sächsische Vaterlands- kunde (Band 5). Dresden, S. 28.

Zitiervorschlag

Thränert, Thomas (2015): Finden und Formen – Landschafts-Architekturen um 1800. In: Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur. Jg. 20, Heft 34. www.cloud-cuckoo.net/fileadmin/hefte_de/heft_34/artikel_thrae- nert.pdf [31.12.2015], S. 215–230.

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