. J. KÖHLER-KAESS Juso-Aktivisten Wieczorek-Zeul, Scharping*: Von den Personen bis zu den Allüren – alles noch wie damals

SPD Die ewigen Rebellen Jürgen Leinemann über die 68er-Generation der Sozialdemokraten und ihre Schaukämpfe um die Macht

anchmal singen sie noch. „Brü- Ja, aber wo mag nur Björn Engholm nämlich „meine Generation, die jetzt der, zur Sonne, zur Freiheit“, sein? Warum wird sein Name so ver- 50jährigen, in der SPD doch in auffälliger Mklingt es eher zage als freudig schämt erwähnt? Und warum deutet Weise versagt“. über die Alpenveilchen auf den weißge- Piecyks Vorgänger Günther Jansen, 59, Sie wollten die SPD der Achtziger sein. deckten Kaffeetischen des Restaurants bitter seinen Parteiaustritt an? Nun, in den Neunzigern, drohen die Ma- Legienhof in Kiel. Nur die Frauen und Ministerpräsidentin Heide Simonis, cher ihrer Partei den Garaus zu machen. Männer in der ersten Reihe, die zusam- 52, die sich – wohl in Vorfreude auf den Gewiß, mit dem Zusammenbruch des men über 2000 Mitgliedsjahre in der SPD von ihr gewünschten „Zoff“ auf dem Ostblocks scheint der sozialistische Welt- repräsentieren, atmen kräftig. Viele Mannheimer Parteitag in dieser Woche entwurf endgültig diskreditiert. In kämpfen sich durch Tränen in der Stim- – höchst unfein mit ihrem Bonner Vor- Deutschland sind die großen Milieus der me. sitzenden angelegt hatte, schweigt viel- Arbeiter- und Angestellten-Gesellschaft Was sie bewegt, ist nicht Sentimentali- sagend. Norbert Gansel, 55, der sich zerfallen, das Land quält sich aus dem In- tät. „Der Zerfall dieser Partei“, hat ihnen von den Genossen in Kiel wie in dustrie- ins Informationszeitalter, mit die 80jährige Genossin Rosa Wallbauer um seine politische Zukunft gebracht schmerzhaften sozialen Kosten. Anstatt aus der Seele gesprochen, „macht uns wähnt, brütet düster vor sich hin. Gert aberindieser Situation alleKräfte zusam- traurig, bringt uns zum Weinen.“ Börnsen, 52, der Kieler Fraktionschef, menzuraffen, agiert die SPD nach den Da nicken mit den Alten auch die paar der gerade abgesägt wird, streift vor- Worten Oskar Lafontaines, „als ob sie Jungen im Saal. „Zweifel kommen mir wurfsvoll durch den Saal. der Rinderwahnsinn erfaßt hat“. immer häufiger“, sagt Melanie Hein, 24. „Politische Kultur“? Auch in Kiel ist Jeder gegen jeden und alles hausge- Die flottgrauen Macher der Partei aber, Ende Oktober zu besichtigen, was der macht. Ob Gerhard Schröder im Streit die etwa so alt sind wie die nach der Nazi- einst kräftig mitraufende Johano Stras- mit Rudolf Scharping in Bonn, ob Albert Zeit wiedergegründete SPD, die sie an ser, stellvertretender Juso-Vorsitzender Schmid in Konkurrenz zu Renate diesem Tage feiern, blicken verdruckst der Jahre 1971 bis 1975, der freilich Schmidt in München – allzu viele wollen vor sich hin. In vorausahnender Defensi- längst vom Rivalen-Karussell der Ge- sich im Zusammenspiel mit den Medien ve hat der SPD-Landesvorsitzende von nossen abgesprungen ist und als freier ihrer Partei alsHandlungsträger aufzwin- Schleswig-Holstein, Willi Piecyk, 47, be- Schriftsteller kenntnisreich zuguckt, in gen. Allzu viele glauben offenbar, daß ihr reits ihre wunderbare „politische Kultur“ Bayern wie in Bonn bemerkt hat: daß Leben verpfuscht wäre, wenn sie nicht gefeiert: „Bei uns macht man sich nicht jetzt noch ganz schnell Staatssekretär, gegenseitig fertig“, tönt er. Und: „Wir * Mit (l.) in Dortmund im März Minister, Ministerpräsident oder gar lassen keinen fallen.“ 1976. Kanzler würden.

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Schröder-Fans in der Union sympathisch Emnid-Umfrage für den SPIEGEL; 1400 Befragte, 6. bis 8. November 1995 „Welche Eigenschaften können Sie den kompetent folgenden Politikern zuordnen?“ kann sich durchsetzen bei 42% der befrag- bei 53% der befrag- ten SPD-Wähler nicht ten SPD-Wähler bekannt nicht bekannt

RUDOLF OSKAR GERHARD JOHANNES HEIDE HEIDEMARIE SCHARPING LAFONTAINE SCHRÖDER RAU SIMONIS WIECZOREK-ZEUL 55 61 52 86 46 30 SPD- 52 72 SPD- 60 83 42 32 Wähler Wähler 34 70 57 65 38 24

CDU/ 63 Torschlußpanik? Daß es diesen he- CSU- 69 haft wie eine griechische Tragödie. Er- chelnden Konkurrenzkampf gibt, be- Wähler 68 hard Eppler, 68, Minister unter Brandt streitet auch Heide Simonis nicht, die – wie Schmidt und damals einsamer Mah- 48 sollte sie „erst mal“ die Wahl in Schles- Grüne- ner gegen Rüstung und für Ökologie, er- wig-Holstein gewonnen haben – Bonner Wähler 63 lebt die Vorstellung dagegen wie ein Bal- Ambitionen nicht leugnen mag. Nur deu- 57 lett: als „Tanz um das vergoldete Ego“. tet sie den lähmenden Wettbewerb posi- Daß die Inszenierung an das Juso- tiv: „Wir sind zu viele, zu ehrgeizig, zu 57 Theater der siebziger Jahre erinnert, be- gleichaltrig und zu gut.“ Mit einer gewis- Männer 66 streitet niemand. Von den Personen bis sen Berechtigung glaube jeder, er sei der 68 zu den Allüren ist alles noch wie damals. Richtige. Hier der wackere Schröder, dort die kon- Wahr ist ja –wenn das inzwischen auch 51 spirative Feind-Truppe: Scharping, die fast untergeht im allgemeinen Erschrek- Frauen 56 „rote Heidi“ und Ulrich Maurer. ken über den jähen Sturz der Partei ins 51 Damals „Refos“ gegen „Antirevis“. Bodenlose, über den Zynismus im Um- Heute „Sozialfuzzis“ gegen „Medien- gangston und die erbarmungslose Selbst- hüpfer“. Nichts ist vergessen. Jede Ver- zerfleischung –, daß die „Enkel“-Gene- frauen und -männer ist auch durch eige- letzung von früher schmerzt weiter und ration, die als Schüler und Studenten in nes Zutun beträchtlich getrübt. Das Bild muß immer aufs neue gerächt werden. Verehrung für vor 25 bis 30 ist so gründlich verwackelt, als sei die Jeder taktische Winkelzug ist geläufig, Jahren in die SPD eintraten, der Partei Erfolgsriege plötzlich vor einen Zerr- jede Floskel bekannt. auf Landesebene spektakuläre Erfolge spiegel geraten: eben noch pathetische Verhaltensmuster laufen ab wie einge- verschafft haben. Sieger, nun ein zänkischer Haufen stanzt. Proteste gegen Atomversuche? Noch zum Zeitpunkt des Rücktritts grämlicher Wichtigtuer, die in verbisse- Heidemarie Wieczorek-Zeul, 52, schip- von Willy Brandt – 1987 – stellte die SPD nen Eifersüchteleien mit sich selbst be- pert anklagend nach Mururoa, als wäre lediglich 4 Ministerpräsidenten. Heute schäftigt sind. sie noch heute unter 30 und amtierende regieren seine „Enkel“ in 10 von 16 Bun- Ausgedörrt wirken sie jetzt als Grup- Juso-Funktionärin. Sie ist aber stellver- desländern, in 4 weiteren sind Sozialde- pe, bitter geworden und kindisch ver- tretende Vorsitzende der Sozialdemo- mokraten an Koalitionen beteiligt. Nie greist über dem angestrengten Versuch, kratischen Partei Deutschlands, die sie vorher war die SPD im föderalistischen für immer jung zu bleiben. „Wir verbrei- mit ihren Abenteuern lächerlich macht. System so stark. Kein Wunder, daß sie ten alle den Eindruck tiefer Melancho- Einmal „Stamokap-Arsch“, immer 1991 auf dem Parteitag in Bremen ihre lie“, räumt Heide Simonis selbstkritisch „Stamokap-Arsch“. Juso-Rivalen von „schmucke Riege“ von Regionalfürsten ein: „Ich glaube, wir nehmen uns aus einst reagieren auf die Wahl des neuen voller Stolz den Medien präsentierte: al- wie die Greise des Nationalen Olympi- Bremer SPD-Landesvorsitzenden Det- les potentielle Kanzlerkandidaten. schen Komitees beim Betriebsausflug.“ lev Albers auch heute noch mit zornroter Die meisten finden sich noch immer So freundlich mag der alte Gewerk- Fassungslosigkeit. „Die achten nie auf ganz toll. Schließlich ist in Bonn die schaftsrechte Hermann Rappe den Le- das, was einer sagt“, staunt ein Präside, Machtseit13Jahrenweg, und zwarjenem bens- und Politikstil der heutigen SPD- „sondern nur darauf, wer gemeint sein entglitten, gegen den sie Führer nicht sehen. Für ihn sind und könnte.“ in den siebziger Jahren angerannt sind. bleiben seine Gegner von einst „dieser So giftig wie die Reden kann das Sieaber haben durchgezogen: Scharping, Juso-Vorstand da vorne“. Schweigen sein. Sitzungen der Führungs- Schröder, Lafontaine, Engholm, Vo- „Der ewige Juso“ – ist das der Titel je- gremien in der Bonner Baracke – ge- scherau, Simonis, Beck, Eichel, Wede- ner Posse, die den Bundesbürgern als dacht zum Austausch von Meinungen meier und Scherf. In eine siegessatte Um- Dauertheater vorgeführt wird? und Informationen – gelten eingefleisch- gebung sind die nach der Wende dazuge- Dem Niedersachsen Gerhard Schrö- ten Ex-Jusos als untauglich zur Kommu- stoßenen Ost-Regierungschefs Manfred der, der nahezu alle Haupt- und Neben- nikation: „Da sind doch die anderen da- Stolpe und Reinhard Höppner da gera- rollen mit sich selbst besetzt – „nebst bei.“ ten. Hillu und Handy“, wie ein Präside spot- Und doch sind solche Juso-Kinde- Inzwischen sind nicht nur die Zeiten tet –, erscheint sein Bubenstück im reien, unter denen die Sozialdemokratie umgeschlagen, der Glanz der Strahle- nachhinein so dramatisch und schicksal- derzeit leidet, nicht die eigentlichen Ur-

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sachen der Führungskrise. Sie sind le- wurden. 35 von 45 Vorständlern gehö- wesen, ist ihnen als Attitüde geblieben. diglich die extremen Symptome einer ren dieser Generationskohorte an, die Immer vorwärts, „gegen meine blöde Lähmung, die viel umfassender ist: ei- Abweichler – vier jünger, sechs älter – SPD“, wie es sarka- nes Generationenbruchs. variieren um zwei bis drei Jahre. stisch ausdrückt. Der Kieler Sozialdemokrat Hans-Pe- Allein Johannes Rau, Jahrgang 1931, Daß diese Generation sonderlich pro- ter Bartels benennt so die Tatsache, zählt mehr als 60 Jahre, keiner ist unter gressiv gewesen wäre, läßt sich gewiß daß die SPD auf nahezu allen Ebenen 35. Die Genossin Ruth Winkler, die als nicht behaupten. Von Ausnahmen ab- von einer schmalen Alterskohorte der Jüngste im Alter von 34 Jahren in den gesehen, sind sie nicht die Akteure der Nachkriegsgeneration dominiert wird, Vorstand gewählt wurde, scheidet nun – 68er-Revolte gewesen, sondern Mitge- die als „Juso“ oder „68er“ nur unzurei- als immer noch Jüngste – mit 41 aus. zogene, die sich den bürokratischen chend beschrieben wäre. Auf der Vor- Alle sind sie kurz vor oder nach 1968 Vollzug der Kulturrevolution zur Auf- standstribüne des Parteitages ist das in die SPD eingetreten. Alle empfanden gabe machten. Phänomen in dieser Woche zu besichti- sie – wie aktiv sie auch selbst an der Stu- „Das Machtzentrum der Partei sind gen. dentenrebellion beteiligt gewesen sein die gewählten Gremien“, sagt noch heu- R. WALTER / X-PRESS F. HELLER / ARGUM Genossinnen Wieczorek-Zeul, Schmidt*: Immer vorwärts gegen „meine blöde SPD“

Noch immer spannt sich die Mitglied- mochten –, daß Schluß sein müsse mit te Rudolf Scharping, der – ganz wie sei- schaft der Volkspartei SPD über alle der Adenauer-Zeit und ihrem unpoliti- ne innerparteilichen Konkurrenten – Generationen. Man mag sich zwar fra- schen Motto: keine Experimente. Und den avantgardistischen Anspruch der gen, wo die sich verstecken, aber am 31. alle erlebten sie ihr politisches Engage- überschwenglichen frühen siebziger Jah- Dezember 1994 zählte die Partei unter ment zugleich als individuellen Auf- re durch Standhaftigkeit im innerpartei- ihren damals 849 374 Genossinnen und bruch. lichen Wettbewerb aufrechterhält. Genossen noch immer 128 041, die jün- Sie sind trinkfest geworden und haben Natürlich hat der Beitritt von Zehn- ger waren als 36 Jahre. Und 224 195 wa- gelernt, sich gegen beunruhigende tausenden jungen Akademikern der ge- ren älter als 60. Neuigkeiten durch den Aktionismus ei- werkschaftlich geprägten und sozial Im Bundesvorstand aber, dem umfas- nes 14-Stunden-Tages abzuschirmen. orientierten Traditionspartei SPD ur- sendsten Führungsgremium der SPD, in Jeder redet im Vorstand über sein Beet sprünglich nicht nur Schwierigkeiten be- dem sich die Partei nicht nur durch Pro- im Schrebergarten des Lebens und ach- reitet. Er hat „diesen uralten Laden“ mis wie Ministerpräsidenten und Frakti- tet sorgsam darauf, daß kein anderer auf (Schröder) entscheidend verjüngt und onschefs repräsentiert sehen will, son- die Rabatten tritt. Ihre Aufregungen modernisiert. Die intellektuellen Wort- dern auch durch Funktionsträger und und Entrüstungen sind seit langem ri- führer unter den jungen Genossen dien- gewählte Frauen und Männer aller Ebe- tualisiert. ten als Moderatoren für die neuen sozia- nen, Regionen und Interessenbündnis- Diskussionen? Konzepte? Sachliche len Bewegungen in der Gesellschaft. se, gibt es praktisch nur eine Altersgrup- Statements? Faire Auseinandersetzun- Die Jusos hielten die Brücken zu den pe: jene Kriegs- und Nachkriegskinder, gen? Jeder ist sich selbst der Wichtigste. Altersgenossen offen. die zwischen 1938 und 1948 geboren Der rebellische Gestus, mit dem sie vor Die neuen Sozis trugen pazifistische einem Vierteljahrhundert die Türen zur Elemente in die Partei, bestanden spä- * Auf Tahiti im September; in einem Bierzelt im Partei aufzutreten bereit waren, wären ter auf ökologischem Umbau und öffne- bayerischen Mallersdorf 1994. die nicht längst sperrangelweit offen ge- ten die Gremien – was auf den Partei-

28 DER SPIEGEL 46/1995 tagstribünen in Mannheim eher optisch Aus Bonn kommt erst recht nichts. ge jugendliche Gestus der Führungsrie- als politisch erkennbar sein wird – für Die Bundestagsfraktion ist nach der lan- ge, daß die Partei noch immobiler, ver- die Mitwirkung von Frauen. gen Oppositionszeit ausgedünnt, „Mit- greister und starrer wirkt, als sie ohne- Ihr Pech ist, daß sie sich innerpartei- telmaß“, wie der Genosse Schröder ver- hin ist. „Wenn ihr Enkel daran denkt, lich vollständig durchgesetzt haben. ächtlich mitteilt. Und der Mann im Zen- Posten zu besetzen, dann denkt ihr nur Außer im klassisch-gewerkschaftli- trum, gegen den nun die Pfeile der Riva- an die, mit denen ihr in den siebziger chen Traditionsgebiet Nordrhein-West- len aus den Ländern gerichtet sind, ist Jahren Politik gemacht habt“, warf Hu- falen prägen sie schon seit Jahren den auch im Landespolitiker ge- bertus Heil, 22, aus Brandenburg un- Diskussionsstil der SPD. Sie verkörpern blieben. längst dem Parteivorsitzenden vor. den Erfolgstypus, sie bestimmen die Doch die Gefahren, die sich aus der Solche Hinweise, kopfnickend und Lebensart. Ihr Tonfall und ihr Habitus Auslieferung der Partei an seine Gene- wohlwollend zur Kenntnis genommen, haben der Partei eine Aufsteigerdyna- ration ergeben, hat Rudolf Scharping bleiben gleichwohl ohne Eindruck. So mik aufgenötigt, die längst zu krampf- erkannt: „Wir um die 50 haben jetzt die jung, links, politisch bewußt und lebens- hafter Pose erstarrt ist. eigentliche Aufgabe, ganz systematisch froh wie die Jungen heute fühlen sich Natürlich gibt es Ausnahmen. Minde- stens ein Drittel der altersgleichen SPD-Vorständler behaupten von sich, daß sie weder mit der Studentenrevolte von 1968 noch mit den Juso-Spielchen der siebziger Jahre direkt etwas zu tun gehabt hätten – der ritualisierte Sog der Mehrheit ist jedoch stärker. Er ebnet persönliche Unterschiede ein. Daß sich etwa Rudolf Dreßler oder Oskar Lafontaine oder Renate Schmidt vom „spontihaften Gerede“ (Dreßler) oder von der Neigung zum „Abmes- sern“ (Scharping) ihrer Kollegen allzu sehr unterschieden, würden sie wohl nicht einmal selbst behaupten. Solche Entkernungen der Individuali- tät gehören zu den paradoxen Ergebnis- sen des Erfolgszwanges dieser Politiker, die sich zunehmend miteinander vom Rest der Welt isolieren. Mit Erstaunen hat der Freiburger Politologe Dieter Oberndörfer registriert, „wie schnell sich diese Burschen von der Universität weg an die Macht gewöhnt haben“, als die Partei in den frühen achtziger Jah- ren noch viele Regierungsjobs in Bonn zu verteilen hatte. Viel zu früh vom Alltag abgeschottet, verloren sie das Gespür für ihre Mit- menschen. Der Umgangston dieser Po- litikergeneration wirkt rüde, ihre Um- „Die SPD auf dem Weg zum Parteitag“ Hamburger Abendblatt gangsformen sind oft rüpelhaft. Die Realität bietet sich den Elitege- die um 30 reinzuholen in die politische die braungebrannten Alterslosen in den nossen nur in vorsortierter Form dar. Verantwortung.“ In Mannheim wird der Führungsebenen noch allemal. „Sie behaupten zwar alle“, hat ein Par- Vorstand verjüngt werden. Mit Kerstin Sind sie nicht noch genauso lümmel- teifreund in der Bonner Parteizentrale Griese, 28, und Benjamin Mikfeld, 23, haft provokant wie eh und je? Sind sie beobachtet, „sie fänden sich im Alltag aus Nordrhein-Westfalen sollen noch nicht noch heute so chaotisch und groß- wunderbar zurecht. Sie merken aber zwei Jusos der neunziger Jahre ihre Vor- mäulig wie einst? Nennt man sie nicht nicht einmal mehr, daß ihnen die sitzende Andrea Nahles, 25, unterstüt- wegen ihrer Lebenskunst die Toskana- Marktfrau, die sie natürlich vom Fern- zen, die inzwischen schon mitreden Fraktion? seher kennt, immer nur die besten To- darf. Es ist dieser Generation gelungen, maten aussucht.“ Norbert Gansel aber, der nicht wieder sich den Generationskonflikt mit den Daß sich mit dem Ende der SPD- antreten soll für den Vorstand, fragt Nachwachsenden zu ersparen. Die risi- Herrschaft in Bonn Karrieren und poli- skeptisch, was sich durch Verjüngung kobereiten Altersgenossen und die ih- tische Spielräume in den Ländern öff- wohl ändern solle. Das verletzende Kli- nen folgende politische Generation auf nen, hat den Machtvormarsch der En- ma etwa? „Ja, willst du denn warten“, Distanz zu halten war leicht. Da die sich kelgeneration gewiß befördert. Daß kriegt er darauf von der neuen Juso- bei den Grünen in einem organisierten sich aber ihr Gesichtskreis durch den Chefin zu hören, „bis die ersten mit der Konkurrenzunternehmen zusammen- Blick von den heimischen Kirchtürmen Bahre rausgetragen werden?“ fanden, durften sie, parteipolitisch legi- erweitert hätte, läßt sich nicht behaup- In Wahrheit hält sich mit einem timiert, bekämpft werden. Die nächsten ten. Durchschnittsalter von 50,5 Jahren im Jahrgänge in der eigenen Partei nahmen Keine soziale Gegenbewegung, keine Stichjahr 1991 das Altersniveau im SPD- die ewigen Berufsjugendlichen schon zündende Reformidee, kein außenpoli- Vorstand nur unwesentlich über dem in gar nicht mehr wahr. tischer Anstoß ist aus Hannover, Kiel, den Spitzengremien der Wirtschaft oder Waren 1974 noch 30,9 Prozent aller Mainz oder Saarbrücken zu vermelden. der Medien. Doch bewirkt der krampfi- SPD-Mitglieder in der Bundesrepublik

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unter 36 Jahre, sind es 1994 noch 15,1 Prozent. Bei Wahlen erreichen die Sozi- SPIEGEL-Gespräch aldemokraten nur noch jeden dritten bis fünften Jungwähler. Einladend wirken die Enkel, die längst Väter und Großvä- ter sind, auf den Nachwuchs wahrlich „Aus der Deckung“ nicht. Im Jahr 1995 sind den Sozialdemokra- SPD-Vize Oskar Lafontaine über den Mannheimer Parteitag ten nicht nur die Wähler, sondern bisher auch 20 000 Mitglieder weggelaufen. „Nicht nur solche mit roten Parteibü- chern, sondern auch viele mit blauen, den alten, von vor Godesberg“, wie ein Genosse klagt. Daß in dieser Situation Gerhard Schröder als Herausforderer seinem Parteirivalen Scharping einen Wettbewerb um Fernseh-Popularität aufnötigen will, betrachten die Jusos in einem Thesenpapier als „medialen Showdown eines schleichenden Auflö- sungsprozesses der SPD als Mitglieder- und Reformpartei“. Als ob es ein Delikt wäre, mit den Medien umgehen zu können, wehrt sich der Niedersachse. Als ob man in der Ego-Gesellschaft der Postmoderne noch den traditionellen Schulterschluß der Genossen aus der antikapitalistischen Kampfzeit einfordern könne, spottet Oskar Lafontaine. Haben denn nicht auch die Alten gestritten, daß die Fet- zen flogen? Mit Legenden soll keiner den Machern von heute kommen. Die Partei, die in diesen Wochen landauf, landab ihren 50. Geburtstag nach der Wiedergründung feiert, mit echten Tränen und falschem Efeu, Tra- ditionsfahnen und Kleinbürgermuff – „die gibt es in Wahrheit gar nicht mehr“, meint der Schröder-Vorgänger bei den Jusos, Klaus-Uwe Benneter, 48, der heute Schatzmeister der SPD in Ber-

lin ist. FOTOS: J. H. DARCHINGER So mag es sein. Und doch könnte es Lafontaine beim SPIEGEL-Gespräch*: „Ohne Darstellung ist alles nichts“ sich als ein Irrtum der Medienstars er- weisen, wenn sie ihre Seifenopern-Po- SPIEGEL: Herr Lafontaine, folgen Sie stellte: „Die Enkel haben viel vergurkt“ pularität mit politischem Gewicht ver- den Empfehlungen von Henning Vo- und von Ihnen beiden verlangte, aus der wechseln. scherau und Heide Simonis und treten Deckung herauszukommen. „Wer eine Volkspartei, zumal eine auf dem Mannheimer Parteitag doch Lafontaine: Ich bin mehrmals aus der linke, zusammenhalten und zum Erfolg noch zur Wahl um den SPD-Vorsitz Deckung hervorgekommen, bei der Au- führen will“, warnt Erhard Eppler, an? ßenpolitik, der Energiepolitik und der „muß auf das Verbindliche setzen, muß Lafontaine: Der Parteivorstand hat ein- Wirtschaftspolitik. Über Personalia re- dafür sorgen, daß es respektiert wird.“ stimmig Rudolf Scharping zur Wieder- de ich in den Parteigremien. Daß der SPD die Begriffe Freiheit, Ge- wahl vorgeschlagen. SPIEGEL: Wird man Ihnen nicht Untä- rechtigkeit und Solidarität nicht nur SPIEGEL: Warum geben Sie sich mit ei- tigkeit oder Feigheit vorwerfen, wenn Phrasen sind, habe die Partei in ihrer ner Lösung zufrieden, die Sie doch der negative Bundestrend im März auch Geschichte durch leidvolle Schicksale kaum für die beste halten? noch auf die Landtagswahlen in Kiel, bewiesen. Lafontaine: Ich habe für einvernehmli- Mainz und Stuttgart durchschlägt? Langweilig? Unoriginell? Vorgestrig? che Lösungen bei der Verteilung von Lafontaine: Ich habe in der vergangenen Die bayerische SPD-Vorsitzende Rena- Aufgaben in der Führung plädiert. Woche mit anderen ein Wirtschaftspa- te Schmidt – im Talkshow-Business eine SPIEGEL: Einvernehmen schließt eine pier vorgelegt, die Steuerverhandlungen Zugnummer – hat gerade schmerzlich Kampfkandidatur gegen Scharping mit der Bundesregierung aufgenom- die Differenz zwischen persönlichen Po- aus? men, und ich führe ein SPIEGEL-Ge- pularitätswerten und Prozentpunkten Lafontaine: Einvernehmen ist besser spräch. Mir bei soviel Fleiß Untätigkeit für die Partei kennengelernt. Sie erin- als eine Kampfkandidatur. vorzuwerfen, geht zu weit. nert der persönliche Ehrgeiz ihrer Kol- SPIEGEL: Voscherau hatte speziell SPIEGEL: Warum schafft es die SPD legen an das Märchen vom „Fischer und Schröder und Sie im Auge, als er fest- nicht mehr, mit ihren Themen anzu- sin Fru“, die auch immer mehr und kommen? mehr und mehr wollte: „Am Ende sit- * Das Gespräch führten die Redakteure Olaf Ihlau Lafontaine: Die SPD hat ein modernes zen wir, wie die, wieder im Pißpott.“ und Klaus Wirtgen. Programm . . .

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