Gesellschaft

POLITIKER Die Unbeugsamen Es ist eine Zeit des Umfallens: Kurt Beck und Andrea Ypsilanti haben Wortbruch begangen. Auch macht eine ganz andere Politik, als sie angekündigt hat. Doch es gibt auch Politiker, die immer bei ihrer Position bleiben. Ist das sinnvoll? Von Dirk Kurbjuweit

enn sich der Abgeordnete Josef Göppel nach einer Woche in Ber- Wlin besinnen will, geht er in sei- nen Wald, setzt sich an den Wegesrand und befragt die Käfer. Er sitzt reglos da und lauscht. Dann hört er etwas, was nur die Stillen und Beharrlichen hören kön- nen. Er hört die Käfer auf dem Wald- boden, ihr Gekrabbel, ihr Geknacke. Was sie ihm sagen, ist: Es ist gut, es ist richtig. Josef Göppel, Mitglied des Deutschen Bun- destags und der CSU, fühlt sich wohl in diesen Minuten. Es ist sein Wald. Er gehört ihm nicht, aber hier hat er eine Waldarbeiterlehre gemacht, hier hat er als Förster gearbei- tet, Bäume gepflanzt und Sauen geschos- sen. Es ist ein Wald in Mittelfranken, nahe Herrieden, wo Josef Göppel lebt. Eichen, Tannen, Wildschweine, Käfer. Die Befragung der Käfer ergibt seit vier Jahrzehnten für Josef Göppel immer die gleiche Antwort: Es lohnt sich, du musst weitermachen. In München, wo er Land- tagsabgeordneter war, und in Berlin hat er ganz andere Sachen gehört: Kauz, Spin- ner, lass es sein, hör auf damit. Er hat nicht aufgehört, er wird nie auf- hören. Er ist ein Umweltschützer, und er ist in der CSU. Das passt nicht gut zusam- men, aber Göppel ist das egal. Eine an- dere Partei als die CSU kann er sich nicht vorstellen, und wenn seine Fraktion etwas beschließen will, was der Umwelt schaden könnte, stimmt er halt dagegen. Dann hat er wieder großen Ärger in Berlin und freut sich auf den Freitag, wenn es nach Hause geht zu den Käfern. Josef Göppel hat ein weiches Gesicht, aus dem der Bube wohl nie weichen wird. Es gibt darin keine Kanten, keine Ecken, keine Schärfe. Dieses Gesicht lässt Göppel sanft wirken, aber nicht gemütlich. Das liegt an den Augen. Die Augen sind wie zwei Steine im Wasser, man sieht: Beharrung. Dann gibt es noch die Langsamkeit. Wenn Göppel redet, könnten die Zuhörer in den Pausen zwischen den Worten und Sätzen die Zei- tung lesen und wären damit bald fertig. Josef Göppel ist einer jener Politiker, die man die Unbeugsamen nennen könnte. Sie haben ein großes Thema, und sie wackeln und wanken nicht. Sie kämpfen seit Jahr- zehnten für dieses Thema, ob es nun Kon-

junktur hat oder nicht, und sie lassen sich / OSTKREUZ MICHAEL TRIPPEL 60 von niemandem von ihrem Weg abbrin- der verlassen, manchmal in rascher Folge. nicht verdrängen und hat alle Kampf- gen. Göppel ist so einer, Norbert Geis Ovids Metamorphosen sind nichts gegen abstimmungen um Mandate gewonnen. gehört dazu, ebenfalls CSU, und Ottmar eine Legislaturperiode des Deutschen Bun- „Am Anfang hat es mich verletzt, dass ich Schreiner von der SPD. Es gibt noch mehr destags oder ein paar Wochen Koalitions- mich so dumm habe anreden lassen müs- Unbeugsame im , in allen Par- suche in Hessen. Es ist ein nervöses, fast sen, aber ich habe mich daran gewöhnt.“ teien, aber viele sind es nicht. hysterisches Spiel, in dem sich gerade die Und hinter dem Schmerz liegt die Freiheit. Sie sind das Gegenprogramm, so wie Erfolgreichen mit der Zeit um ihre Kennt- Er tut das, wovon er überzeugt ist, sollen Dagmar Metzger in Hessen, die auf kei- lichkeit bringen. Oder weiß jemand, wel- sie doch reden und lachen. Das sind nicht nen Fall mit der Linken kooperieren will. che Überzeugungen Angela Merkel hegt? die Stimmen, auf die es ihm ankommt. Er Für die meisten anderen ist Politik zu ei- Kurt Beck? hört den Kuckuck in seinem Wald, die nem Spiel geworden, in dem Beweglich- Es geht jetzt um Erholung, weg von den Spechte und die Käfer. keit das Wichtigste ist. Positionen werden Umfallern, Dauerwacklern und Nase-in- Göppel hat für Änderungen am Er- je nach Lage der Dinge bezogen und wie- den-Wind-Haltern. Es geht jetzt um Über- neuerbare-Energien-Gesetz gestimmt, ob- zeugungen in der Politik. Wo sie herkom- wohl das ein Projekt der rot-grünen Re- men, welche Folgen sie haben und welchen gierung war. Er hat beim Fluglärmgesetz Sinn. Die große Frage ist: Wäre Politik bes- gegen den Gesetzentwurf der Großen ser, wenn sie mehrheitlich von Überzeu- Koalition gestimmt, weil die effektiveren gungstätern gemacht würde? Grenzwerte nicht für die alten Flughäfen Drei Abgeordnete – Geis, Schreiner, gelten, sondern nur für die neuen. Er ist Göppel –, jeder war bereit, die Wurzeln für ein Tempolimit, und damit ist man seiner Überzeugungen zu zeigen. Und bei schon fast Ketzer in der BMW-und-Audi- allen drei Begegnungen waren Klänge Partei CSU. Als im Bundestag über ein wichtig, die Musik eines Milieus. Tempolimit debattiert wurde, hat ihn die Norbert Geis, 69, steht in seiner Kirche Fraktionsspitze nicht auf die Rednerliste in und singt, während die gesetzt. „Es wäre ein Zeichen von Größe Orgel braust, mit einer schönen und klaren gewesen“, sagt Göppel. Stimme „Jauchzet dem Herrn“. Er kämpft Er hockt sich auf den Boden. Ein Bach für den Erhalt der klassischen Familie und murmelt, ein paar Sonnenstrahlen fallen verficht ein christliches Weltbild als Grund- schräg zwischen den Baumstämmen hin- lage der Politik. durch und lassen das Moos in der Düster- , 62, sitzt am Steuer nis grün glimmen. Göppel zeigt Gabel- seines alten Mercedes und biegt nach zahnmoos, Treppenmoos und Goldenes Schwarzenholz ein, und schon erklingen Trillerpfeifen und Protestgesänge von Leu- ten, die sich gegen ihren Abstieg wehren. Wer sich heute Schreiner ist ein klassischer Sozialpoliti- festlegt, ist morgen ker, der gegen Armut und für die Rechte von Arbeitnehmern kämpft. ein Spinner und Josef Göppel, 57, führt durch seinen Wald, dessen Stimmen er alle kennt. „Die übermorgen Prophet. Vögel singen am Abend völlig anders als am Morgen“, sagt er. Göppel trägt Gummi- Frauenhaar. Moos sei ein Zeichen frucht- stiefel und schreitet kräftig aus für einen barer Böden, sagt er. Mann, der so langsam redet. Ihm folgt sein Der Waldboden ist ein Speicher von Hund Linus, ein Deutsch Stichelhaar. CO2, er bindet das Gift, aber man dürfe Göppel schlägt sich ins Dickicht, stellt ihn nicht überfordern, sagt Göppel. Er sich unter eine Tanne und schaut nach kämpft für den Klimaschutz, er war auf oben. Er sagt: „Es ist gut, dass man den der Konferenz auf Bali im Dezember ver- Himmel nicht sieht.“ Der Wipfel ist dicht, gangenen Jahres, und eigentlich ist er ganz die Tanne ist gesund. „Hier, sehen Sie die zufrieden mit seiner Kanzlerin. „Es geht in Ebenmäßigkeit der Rinde.“ Er klopft gegen die richtige Richtung. Es ist schön zu se- den Stamm, er freut sich über das satte hen, dass vieles von dem, was ich über die Geräusch. Seine Hand fährt zärtlich über Jahre an Ideen hatte, jetzt allgemeine Poli- die Rinde. Was er jetzt empfindet? „De- tik ist.“ Dass Angela Merkel von den Re- mut“, sagt Josef Göppel. formversprechen ihres Leipziger Parteita- 1970 ist er in die CSU eingetreten und in ges weit abgerückt ist, berührt ihn weniger. den Bund Naturschutz. Seine Überzeu- Für die CSU ist Göppel jetzt ein biss- gungen kommen aus dem Wald, hier habe chen weniger Spinner als noch vor Jahren. er „Lebensfülle gespürt, eine Lebenswelt, In diesen Zeiten ist ja mehr oder weniger quasi eine Parallelwelt“. Er wollte und will jeder für den Klimaschutz, da kann ein diese Welt beschützen. Klimaschützer kein Spinner mehr sein. Damit wurde er in seiner Partei zum Politik passiert in Wellen, die Themen Spinner aus dem Wald. Sie haben ihn be- und Wertungen kommen und gehen. Des- handelt, als ob „ich nicht ganz bei Trost halb ist das große Wagnis der Politik die bin“. Sie haben versucht, ihn nicht nach Festlegung. Wer sich heute festlegt, ist mor- oben kommen zu lassen, aber er ließ sich gen ein Spinner und übermorgen ein Pro- phet, bis er wieder Spinner ist. Es gibt nicht Parlamentarier Göppel, Schreiner, Geis viele Politiker, die eine Spinnerphase aus- Im Prinzip dreimal Kirche halten können oder wollen. Spinnertum

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wohnt, wie schon andere Männer seiner Familie. Seine vier Kinder hat er auf das humanistische Gymnasium geschickt, auf dem er selbst war. So wird der Rundgang zu einer großen Erzählung des Bleibens. Dann geht es mit dem Auto in den Spes- sart, wo Geis mit seiner Familie in einem geräumigen Haus lebt. Nach vorn schauen sie auf ein Sägewerk, nach hinten auf Wie- sen und Wald. „Wo ist meine Frau?“, ruft Geis, als er durch die Tür tritt. „In der Küche“, sagt sein Sohn. „Natürlich in der Küche“, sagt Geis, „sie macht ja das Osso- buco.“ Seine Frau kommt, sie ist von einer Eleganz, der auch eine Küchenschürze nichts anhaben kann. Was nun ausbricht, ist nur mit dem Wort Behaglichkeit zu beschreiben. Tiefe Ses- sel, in denen aufs angenehmste Konver- sation gemacht wird, ein Gläschen Sherry dazu, zwei der vier Kinder sind da und zeigen gute Manieren, der große Hund rundet die Familie ab. Ein Korken ploppt, und Geis bittet zu Tisch. Es geht dann um das, was gerade zu er- leben ist: Familie. „Ich bin der Meinung“, sagt Geis, „dass die Ehe eine echte Errun- genschaft unserer Kultur ist. Ehe ist die Voraussetzung für Familie, und Ehe muss offen sein für Kinder.“ Damit sind Schwu- le schon mal nicht ehetauglich für Geis. Nach dem Salat trägt seine Frau das Os- sobuco auf, und es ist wunderbar zart. Mit dem, was Familienministerin (CDU) tut, ist Geis nur begrenzt einverstanden. Er sagt: „Sie macht Fami-

MICHAEL TRIPPEL / OSTKREUZ MICHAEL TRIPPEL lienpolitik zu stark mit Blick auf die CSU-Abgeordneter Josef Göppel Krippen. Wir reden nicht davon, dass es Frauen gibt, die daheimbleiben wollen. Wir und Machtanspruch schließen sich aus. Wenn es in Berlin reden nicht davon, dass Kinder am besten Auch deshalb sind Überzeugungstäter so bei den Müttern erzogen werden.“ selten. Ärger gibt, freut er sich Niemand am Tisch widerspricht. Die Sie brauchen einen Referenzraum, in Kinder hatten es nicht leicht mit diesem dem etwas langfristig gilt, in dem die Be- auf Freitag, wenn Vater, er war dafür, Madonna wegen Ob- dürfnisse bleiben, egal, wie die politische es zu den Käfern geht. szönität ein Auftrittsverbot zu erteilen, er Konjunktur ist. Für Göppel ist das der war für eine Sperrstunde für Jugendliche, Wald, durch den er so kraftvoll schreitet. um Gewaltexzesse zu verhindern. Es hat Im Wald findet er eine Gewissheit, und Nach der Messe schaut er kurz beim viele Diskussionen an diesem Tisch gege- die zeigt sich manchmal in seinem Lächeln. Pfarrer vorbei, ein Espresso, ein Plausch. ben, aber auch ein grundsätzliches Einver- Es ist ein Lächeln, das sich langsam an- Der Pfarrer lobt Geis, er sei ein Politiker, ständnis. Die beiden Kinder, die da sind, schleicht und lange bleibt und das aus ei- auf den sich die Kirche verlassen könne, bekennen sich zur Union. Sie sagen, dass nem höheren Wissen zu kommen scheint. bei der Bioethik, in der Familienpolitik. es wunderbar war, eine Mutter zu haben, Es steckt eine stille Überlegenheit darin, Geis wollte selbst einmal Priester werden, die viel Zeit hatte für ihre Kinder. auch eine Zumutung, weil es sich über Wi- hat dann aber Jura studiert. Die Tochter hat gerade eine Schularbeit derspruch erhebt. Der Überzeugungstäter Beim Rundgang durch Aschaffenburg geschrieben, in der sie Cicero und Ma- schließt den eigenen Irrtum aus, und sein räsoniert Geis darüber, „was eine Gesell- chiavelli verglichen hat. Ihren Vater sieht Lächeln sagt: Die Dinge sind eben so. schaft zusammenhält, was das Seinsver- sie näher bei Machiavelli, also bei der Wenn sie aber nicht so sind? ständnis ausmacht“. Für ihn sind das die Machtpolitik. Er mache ja dauernd Kom- Es ist ein Sonntag, kurz vor halb elf, Nor- christlichen Werte, es ist die „Gotteskind- promisse. Geis tut das sichtbar weh. Das ist bert Geis geht in die Stiftskirche St. Peter schaft aller“. Dieses Bewusstsein zu erhal- der große Schmerz der Unbeugsamen, sie und Alexander in Aschaffenburg, eine Kir- ten sei ein Auftrag an jede Generation. können nicht dauernd gegen die eigene che, die aus romanischer Zeit stammt, dann „Sonst passiert etwas wie ’33.“ Fraktion opponieren und beugen sich hier in anderen Stilen umgebaut und erweitert Er ist ein schmaler, nicht allzu großer und dort. Geis wird für das Krippengesetz wurde. Er macht einen Knicks vor dem Al- Mann mit grauem Haar, ein soignierter stimmen, und da ist das Betreuungsgeld, tar, er bekreuzigt sich und benetzt sich mit Herr, den man sich in Göppels Gummi- das es für Mütter zu Hause geben soll, nur Weihwasser. Er stellt sich in eine mittlere stiefeln nicht vorstellen kann. Beim Rund- ein kleiner Trost. Reihe, rechts. Ungefähr hundert Leute sind gang fällt auf, dass er oft Dinge anspricht, Geis’ Frau sagt, das Geheimnis des Os- gekommen, Geis’ Stimme ist bei den Lie- die geblieben sind, die sich fortsetzen, wie- sobucos sei die Garzeit. Man müsse dem dern immer gut zu hören. derholen. Er hat im Jesuitenseminar ge- Fleisch drei Stunden gönnen. Über ihre

62 der spiegel 13/2008 Rolle habe sie sich nie Gedanken gemacht. Es war ihre Rolle. Sie sagt nicht, dass sie die wahre Ernährerin dieser Familie ist. Geis sagt es: Seiner Frau gehöre die Hälf- te vom Sägewerk drüben. Er will, dass etwas bleibt, die alte Fami- lienordnung, die sich bei ihm so ideal fügt. Eigentlich will er, dass Familien so sind wie seine, so wie sie die katholische Kirche gern sieht. Das Eigene soll zum Gesetz werden für die anderen. Daher kommt die Leidenschaft, die einen wie ihn so ange- nehm hervorhebt. Aber viele junge Frauen dieser Zeit wollen auch außerhalb der Fa- milie arbeiten, und sie sind andere Mütter als früher. Die Dinge sind nicht mehr so. Das Problem des Bleibens ist die Bewe- gung der Welt. Daraus kann ein Zurück- bleiben werden. Göppel ist gerade in die Mehrheit gerutscht, Geis in die Minder- heit. Wenn man ehrlich ist, wird der Un- beugsame nur von dem gemocht, dessen Meinung er vertritt. Für den anderen ist er der Gegner, manchmal der Feind. Sowohl Geis als auch Göppel haben schon Hass gespürt, am meisten aber wohl Ottmar Schreiner. Schreiner ist ein Mann, den man zuletzt als etwas unstet erleben konnte. Er hat geraucht, aufgehört, wieder angefangen, er hat zugenommen, abgenommen, aber er blieb unverwüstlich der Sozialpolitiker Ott- mar Schreiner, dessen Stimme jetzt gerade in den Ohren der Schwarzenholzer SPD- Mitglieder schmirgelt. Rau ist diese Stim- me, sehr rau.

Er steht hinter einem Mikrofon und sagt / OSTKREUZ MICHAEL TRIPPEL die Dinge, die für ihn immer fällig sind. Es CSU-Abgeordneter Geis steht schlimm um die soziale Gerechtig- keit in Deutschland, ein würdevolles Leben „Natürlich ist meine „Spinnen die, oder spinnst du?“, hat er sei für viele nicht möglich. Dies ist sozial- sich gefragt. Er hat keinen Wald, keine Kä- demokratische Kirche, zelebriert in einer Frau in der fer, die zu ihm sprechen und Kraft verlei- Turnhalle mit den Schleifspuren von Sport- hen. Es waren die Stimmen derer, dich sich schuhen auf dem Boden. Küche. Sie macht ja von der Agenda bedroht fühlten, die klei- Nach seinem Vortrag steuert Schreiner das Ossobuco.“ nen Leute. Sie schrieben Schreiner Briefe seinen alten Mercedes gemächlich durch und jubelten ihm bei seinen Auftritten zu. seinen saarländischen Wahlkreis. Es ist Heute fühlt er sich bestätigt. Die SPD ist eine Welt, die abhandengekommen schien, ben, und er wurde das erste Kind der Fa- von der Agenda 2010 abgerückt und wie- eine Welt der Schlote, die dem Himmel milie, das Abitur gemacht hat. der da, wo Schreiner geblieben ist, links. Er das Blau bestreiten, eine Welt der Abraum- Aber auch er ist in einem Familienmus- ist nicht mehr für viele Sozialdemokraten halden, der monumentalen Fabrikhallen. ter geblieben, er hat sich das Überwin- der Gegner. Aber hat er deshalb recht be- Es gibt ein Stahlwerk, eine Zeche, und dungsdenken erhalten. Was er geschafft halten? Ford baut hier Autos. Es ist die Gegenwelt hat, sollen auch andere schaffen, raus aus Man muss hier kurz zurückspulen, zu zu Göppels Wald, und Ottmar Schreiner ist dem Elend. So hat auch Schreiner seinen dem Moment, als Schreiners Mercedes das hier aufgewachsen. Referenzraum, die Armut. Ortsschild von Schwarzenholz passiert und Diese so üppige Welt aus Stahl und Stei- Seine schlimmste Zeit als Abgeordneter die Musik seines Milieus ertönt, zorniges nen hat nur wenige reich gemacht. Am war 2003, der Kampf um Schröders Agen- Pfeifen und Singen. Dann parkt er vor der Straßenrand stehen die gleichen Häuschen da 2010. Er wollte nicht allen Gesetzen sei- Turnhalle. Rund hundert Leute stehen da- wie im Ruhrgebiet, schmucklos, winzig, ne Stimme geben und sah sich einem „Re- vor und halten Plakate hoch. geduckt, eigene vier Wände, hinter denen pressionsapparat“ ausgesetzt. Schreiner steigt aus, geht los. Er ist über- um den Kredit gebangt wird. „Es gab drei Fraktionssitzungen in ei- rascht, als ihn drei Polizisten stoppen. Sie Schreiners Vater war Kriegsinvalide, ner Woche, um den Druck auf die Ab- sind freundlich und sagen, dass sie zu sei- „die Mutter musste den Groschen dreimal weichler zu erhöhen. Es gab Absprachen, nem Schutz hier seien. „Zu meinem umdrehen“. Es war „ein Leben an der Ar- du und du, ihr müsst denen eins über die Schutz?“, fragt Schreiner verblüfft. Viel- mutsgrenze, es gab eine hohe Selbst- Nuss geben, wir wurden geschnitten, man leicht hatte er manchmal den Eindruck, beschränkung“. Während es bei Geis um musste sich fast als Paria empfinden. Es vor seinen Fraktionskollegen geschützt den Erhalt von Familienmustern ging, wurde blinde Gefolgschaft verlangt, das werden zu müssen. Aber vor diesen Leu- kämpften die Schreiners um deren Über- war entwürdigend, eine Demütigung des ten, die doch sichtbar kleine Leute sind, windung. Der Ottmar sollte es besser ha- Parlaments.“ seine Leute also? „Es ist besser“, sagt einer

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Ottmar Schreiner. Er muss sich nicht ent- scheiden. Es war eine durchaus typische Situation für Politik. Es gab zwei Seiten mit guten Argumenten, und es wäre sehr schwie- rig geworden, einen Kompromiss zu finden. So ist es auch in Berlin jeden Tag. Wer kennt schon das ideale Modell für eine Ge- sundheitsreform? Wer weiß, was dem Kli- ma wirklich hilft? Wer hat die Antwort auf die Frage, wie eine wirksame Menschen- rechtspolitik gegenüber China aussehen muss? Politik ist suchen, zweifeln, einen Kompromiss aushandeln. Niemand hat grundsätzlich recht, nicht einmal die Käfer. Geis, Göppel, Schreiner – dreimal Kir- che im Prinzip, die katholische Religion, der Wald, die Hütte der Armen. Sie haben eine letzte Wahrheit, sie kommen schneller als andere an einen Punkt, an dem sie nicht mehr weichen. Das ist eindrucksvoll und, weil sie keine Eiferer sind, sympathisch. Gegen die Umfallerei von Andrea Ypsi- lanti oder Kurt Beck stehen sie glänzend da, auf den ersten Blick. Auch auf den zweiten, weil Beck so tapsig war und Ypsi- lanti so ruchlos. Auf den dritten Blick braucht Politik viel Beweglichkeit. Kann sich jemand eine Regierung nur mit Göp- pels, Geisens und Schreiners vorstellen? Sie treffen sich an einem frühen Nach- mittag zu einem gemeinsamen Fototermin. Göppel und Geis warten vor dem Reichs- tag, Schreiner kommt mit einem Fahrrad angefahren. Sie gehen hinüber zum Ma- rie-Elisabeth-Lüders-Haus, wo sie auf der großen Außentreppe fotografiert werden

MICHAEL TRIPPEL / OSTKREUZ MICHAEL TRIPPEL sollen. Jeder geht für sich, kein Wort fällt. SPD-Abgeordneter Schreiner Dann stehen sie auf der Treppe, Schrei- ner, SPD, zwischen Göppel und Geis, CSU. der Polizisten, und dann nehmen sie ihn in Sie sind befangen, sie halten Distanz. Sie die Mitte. Sobald die Leute vor der Halle Er hat geraucht, sollen näher zusammenrücken, damit sie Schreiner erblicken, pfeifen sie noch lau- aufgehört, wieder ange- auf ein Bild passen. ter und recken Plakate, auf denen ein „Nicht, dass es abfärbt“, sagt Schreiner. Häuschen in einem roten Kreis zu sehen fangen, er hat zuge- „Wir sind so tiefschwarz in der Wolle ist. Das Häuschen bricht in der Mitte aus- gefärbt, dass nichts abfärben kann“, sagt einander. nommen, abgenommen. Geis. Jetzt lachen sie. Ein zorniger Mann mit einem Mikrofon Norbert Geis trägt einen schwarzen in der Hand stellt sich Schreiner in den ner, schmaler Mann, dem eine ohnmächti- Mantel, als wolle er gleich noch in die Kir- Weg und schimpft lauthals los. Es geht um ge Wut im Gesicht steht und der eine große che gehen. Josef Göppel hat sich in den Folgendes: Wenn im Bergwerk gearbeitet Holzschnarre trägt, plötzlich losstürmt, als Farben des Waldes gewandet, und Ottmar wird, kommt es zu kleineren Beben, die wolle er Schreiner erschlagen, aber er be- Schreiner würde mit seinem Parka zwi- die Häuschen in der Umgebung zerbrö- sinnt sich zum Glück und hält zwei Arm- schen Arbeitern oder Kleinbürgern nicht ckeln lassen. Schon sind sie fast unver- längen vor seinem Ziel inne. auffallen. Drei Unbeugsame in den Klei- käuflich, also wertlos. Die Kapitalanlage Die Leute fühlen sich zunächst abge- dern ihrer Lebensrollen. von Leuten, die sich ihre Häuser vom speist mit Beschwichtigungen und die- Das Foto gelingt, aber es trifft eine Mund absparen, geht dahin. Sie wollen, sen typischen Politikerfloskeln vom In-Ru- falsche Aussage. Die beiden Männer außen dass das Bergwerk seine Arbeit einstellt. he-nachdenken-und-an-einen-Tisch-Setzen, verbindet fast nichts mit dem Mann in Im Bergwerk arbeiten über 3500 Men- aber Schreiner dreht die Stimmung, als er der Mitte. Die Bedürfnisse von Göppels schen. Deren Existenz steht gegen die Exis- vorschlägt, dass er für eine Woche im Erd- Wald und Schreiners Arbeitswelt sind nur tenz der Hausbesitzer, die selbst zum bebengebiet wohnen werde, um selbst zu schwer in Einklang zu bringen. Den Kom- großen Teil Arbeiter sind, nicht im Berg- erleben, wie schlimm die Erschütterungen promiss können Unbeugsame nicht aus- werk allerdings. Arbeiter gegen Arbeiter – sind. Es wird geklatscht, Schreiner zieht handeln. Es ist gut, dass sie da sind, als was macht da Ottmar Schreiner? unbehelligt in die Halle ein. Es ist Zeit ge- Mahnung gegen das allzu Bewegliche, und Was man jetzt mit ihm erlebt, ist der Be- wonnen für die Suche nach einer Lösung, es ist gut, dass sie so wenige sind. ginn von Politik. Er kann diese Sache nicht einem Kompromiss. Sie gehen zurück zum Reichstagsgebäu- sofort entscheiden. Er nimmt das Mikro- Inzwischen ist der Konflikt gelöst, weil es de. Göppel bleibt allein, aber irgendwie fon und versucht zu beschwichtigen, den ein lebensbedrohlich schweres Beben gege- landet Geis neben Schreiner. Schweigen Druck rauszunehmen. Er zeigt Verständ- ben hat und der Bergbau untragbar gewor- erst, dann erklärt Geis, wie man ein gutes nis, und das geht fast schief, weil ein klei- den ist. Ein bisschen ist es die Rettung für Ossobuco zubereitet. ™

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