Geschichte Wissenschaftsbasierte Optik und unternehmerische Vernunft Zum 100. Todestag Ernst Abbes Oliver Lemuth und Rüdiger Stutz

Am 3. März 1905 gedachte der schen Wärme und mechanischer Ar- Jenaer Physiker Siegfried Czapski beit“, widmete sich also wiederum in einer Sitzung der Deutschen einem thermodynamischen Thema. Physikalischen Gesellschaft Abbes weitere berufliche Zu- seines kurz zuvor gestorbe- kunft war damit keinesfalls vor- nen Freundes und Kollegen gezeichnet. Er stand wie viele . Mit ihm habe, seiner Kollegen vor der Wahl, Ernst Abbe in so Czapski, die wissen- entweder in den Schuldienst einer Aufnahme um 1900. (Quelle: schaftliche Gemeinde zu wechseln oder eine akade- Universitätsarchiv ihren „Reformator der mische Karriere zu verfolgen. Jena, Fotosamm- technischen Optik“ und Letztere bedurfte vor allem lung Knauf) einen wichtigen „Vor- eines langen finanziellen kämpfer der auf Wis- Atems, da Privatdozenten senschaft gegründeten allein von den Einnahmen Technik“ verloren. Trotz ihrer Kolleg- und Vorlesungs- des Verlustes sei jedoch gelder leben mussten. Erst Abbes wissenschaftliches in den folgenden Jahrzehnten wie unternehmerisches und bot die Industrie Naturwissen- sozialreformerisches Werk in schaftlern vermehrt alternative Gestalt der Carl-Zeiss-Stiftung Beschäftigungsfelder. Auf Vermitt- weithin sichtbar lebendig [1]. lung seines Lehrers Riemann konn- te Abbe aber schon 1861 die Stelle rnst Abbe, am 23. Januar eines Dozenten am Physikalischen 1840 im thüringischen Eisen- Verein in Frankfurt am Main antre- Each geboren, kam als Sohn des Pädagogen Karl Volkmar Stoy ten. Einrichtungen wie der 1824 ge- eines Vorarbeiters einer Spinnerei (1815–1885) und des Historikers Jo- gründete Frankfurter Verein stillten in vergleichsweise einfachen Ver- hann Gustav Droysen (1808–1884), den Informationshunger des auf- hältnissen zur Welt [2]. Trotz der sodass er sich fächerübergreifend strebenden Bürgertums nach neuen schon in der Bürgerschule und spä- bilden konnte. Besonders bei Snell naturwissenschaftlichen und techni- ter am Realgymnasium auffallenden hinterließ Abbe einen nachhaltigen schen Erkenntnissen und wurden in Begabung, sah sich Abbes Vater Eindruck. Dazu dürfte auch die einigen Städten gleichsam zu Keim- zunächst nicht in der Lage, seinem Lösung einer von der Philosophi- zellen für die später entstehenden talentierten Spross ein Studium schen Fakultät der Jenaer Univer- physikalischen Institute. Abbe setz- zu finanzieren. Davon unbeirrt sität ausgelobten physikalischen te sich deshalb in seinen Vorträgen verdiente sich Abbe das fehlende Preisaufgabe über die „Darstellung vor allem mit technischen und auf Geld mit Privatstunden. Die Wahl des Zusammenhangs, der bei Ga- Anwendungen orientierte Fragen auf den Studienort Jena fiel des- sen zwischen Volumen- und Tem- auseinander, so u. a. zur Funkti- halb nicht von ungefähr. Einmal peraturänderung besteht, wenn onsweise von Galvanometern und gaben die räumliche Nähe zu Ab- Wärme weder zu- noch abgeführt „Über eine Methode zur Bestim- bes Geburtsstadt Eisenach und die wird“ beigetragen haben, ebenso mung des spezifischen Gewichts ungleich geringeren Studienkosten die mathematische Begründung des von Flüssigkeiten“. Er musste sich den Ausschlag. Allerdings haftete Foucaultschen Pendelversuchs. Das jedoch schon nach einem halben der Jenaer Universität damals ein mit der Lösung dieser Aufgaben Jahr eine neue Tätigkeit suchen eher zweifelhafter Ruf an, da die verbundene Preisgeld ermöglichte und reichte schließlich 1863 an der Saalestadt Hochschullehrern weder es Abbe, im Jahre 1859 an die Uni- Universität Jena seine Habilitation die Aussicht auf ein gutes Einkom- versität Göttingen zu wechseln. Im ein, und zwar zu einem mit der men noch auf gute Forschungsmög- Vergleich zur Jenaer Universität galt praktischen Physik eng verknüpften lichkeiten verhieß. Abbe ließ sich Göttingen mit dem Mathematiker statistischen Thema. Abbe verfei- Oliver Lemuth, 1857 zunächst für Mathematik an und Physiker Bernhard Riemann nerte in seiner Arbeit „Über die stud. phil., Histori- sches Institut, Fürs- der Jenaer Universität immatriku- (1826–1866) und dem Physiker Wil- Gesetzmäßigkeit in der Vertheilung tengraben 13, 07743 lieren. Er besuchte in seinen vier helm Weber (1804–1891) als eines der Fehler bei Beobachtungsreihen“ Jena; Dr. Rüdiger Jenaer Semestern vor allem die der produktiven mathematisch-phy- die von Gauß entwickelte „Methode Stutz, SFB 580 an Vorlesungen und Kolloquien des sikalischen Zentren in Deutschland. der kleinsten Quadrate“ und unter- den Universitäten Mathematikers, Physikers und Na- Abbe schloss 1861 sein Studium mit suchte die Auftrittswahrscheinlich- Jena und Halle, Carl-Zeiss-Straße 2, turphilosophen Karl Christian Snell einer Dissertation bei Riemann und keit systematischer bzw. zufälliger 07743 Jena (1806–1886) sowie des Physikers Weber ab. Seine Arbeit trug den Ti- Messfehler. Ein Thema, dem sich Hermann Schaeffer (1824–1900). tel „Erfahrungsmässige Begründung Abbe auch später verschiedentlich Daneben hörte er auch Vorlesungen des Satzes von der Äquivalenz zwi- wieder annahm.

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In Jena begann er, wenn auch zu verkaufen begann, war es ihm der produzierten Mikroskope zu zunächst vor einem kleinen Publi- jedoch nicht gelungen, seine „Idee erhöhen und die Herstellungskosten kum, Vorlesungen über bestimmte eines streng rationalen Aufbaues zu senken. Abbe entwickelte für Integrale und die Potentialtheorie der optischen Konstruktionen für diese Zwecke verschiedene Messge- zu halten. Für die Ausbildung der das Mikroskop“1) zu verwirklichen. räte, darunter zur Dickenmessung, Jenaer Mathematiker war dies eine Zwar stützte er sich bei der Mikro- zur Messung der Öffnungswinkel wichtige Ergänzung des Lehrange- skopherstellung auf die Berech- von Objektiven, ein Fokometer zur bots. Im Sommersemester 1863/64 nungen seines Freunds Friedrich Brennweitenbestimmung, Spektro- assistierte Abbe zudem Snell in Wilhelm Barfuß (1809–1854), der meter und das nach Abbe benannte dessen Vorlesung zur Experi- 1839 ein weit verbreitetes Lehrbuch Flüssigkeitsrefraktometer. mentalphysik, die er ein Jahr über „Optik, Catoprik und Diop- Abbe begann zunächst, den später selbst abhielt. Abbes tik“ verfasst hatte, die Mikroskope Strahlengang von Mikroskopen 1871 geschlossene Ehe mit wurden jedoch mehr oder weniger mit kleinen Öffnungswinkeln zu Snells jüngster Tochter Else nach dem Prinzip von „Trial and berechnen und zu optimieren. Dazu zeugte von einem engen Error“ gefertigt. Anfang der 1860er- beschäftigte er sich mit Fragen der und innigen Verhältnis Jahre kam Zeiß überdies in eine geometrischen Optik und formu- zur Familie seines prekäre Geschäftslage, nachdem lierte die nach ihm benannte Sinus- Edmund Hartnacks (1826–1891) bedingung: Pariser Optische Werkstätte ein n sina = konst . leistungsstarkes Wasserimmersions- n'sina ' mikroskop auf den Markt gebracht hatte, das den von Zeiß gefertigten Eine wesentliche Voraussetzung für zusammengesetzten Mikroskopen die Konstruktion von abbildungs- überlegen war. Schon 1847 hatte treuen, aplanatischen Mikroskopen Giovanni Battista Amici erste bestand darin, die Winkel von ob- Immersionsmikroskope jektseitigen (a) und bildseitigen (a') vorgestellt, bei denen Strahlen zur optischen Achse und zwischen Präparat den jeweiligen Brechungsindex im und Objektiv ein Objekt- (n) bzw. im Bildraum (n') Wassertropfen ge- zu kennen. Die unter Anwendung bracht wurde, der gleichsam der Sinusbedingung konstruierten die Funktion einer Sammel- Mikroskope zeigten tatsächlich eine linse ausübte. Zeiß schei- bessere Vereinigung der Objekt- Einfaches Mikros- terte jedoch zunächst mehr strahlen im Bild und wiesen einen kop der Optischen oder weniger daran, eigene geringeren Komafehler auf. Zum Werkstätte um 1847 Immersionsmikroskope zu Erstaunen aller Beteiligten lieferten (links) sowie Prä- entwickeln und herzustellen. sie jedoch weniger kontrast- und parier-Mikroskop Vor diesem Hintergrund detailreiche Bilder. Abbe unter- von Zeiss aus dem ehemaligen Jenaer Förderers und forderte Zeiß Abbe 1866 auf, suchte deshalb die Abbildungsfehler Jahr 1870 (Quelle: Unternehmens- Lehrers. Im gleichen Jahr erschien sich wissenschaftlich mit der Be- systematischer. Dabei entdeckte archiv Carl Zeiss) auch Abbes erster Aufsatz, der seine rechnung und Konstruktion von er eine Reihe von allgemeinen Untersuchungen zur Abbildungsthe- Mikroskopobjektiven zu beschäf- Gesetzmäßigkeiten, die schnell orie am Mikroskop zusammenfasste tigen. Diese den Mikroskopbau zum Allgemeingut in der Optik und ihn bald über die engen Gren- revolutionierende Forderung sollte werden sollten. Er zeigte, dass an zen der Saalestadt hinaus bekannt endlich das teure und zum Teil we- der objekttreuen Abbildung nicht machte [3]. nig fruchtbare Herumprobieren bei nur die direkt von der Lichtquel- der Herstellung von Mikroskopen le ausgehenden Strahlenbündel, Theorie des Mikroskops ablösen. Im Ergebnis führte das in sondern unter Beachtung des Huy- Den wesentlichen Anstoß zur der Optischen Werkstätte von Zeiß genschen-Fresnelschen Prinzips Beschäftigung mit Fragen der Op- dazu, dass alle Konstruktionen „auf auch die durch Beugung am Objekt tik gab die Zusammenarbeit mit Grund genauer Untersuchung der entstehenden Strahlen beteiligt Carl Zeiß und dessen Optischer zu verwendenden Materialien, bis waren. Mit diesem wellenoptischen Werkstätte. Zeiß war 1846 nach in die letzten Einzelheiten – je- Ansatz erklärte Abbe die von ihm Jena gekommen und versuchte mit de Krümmung, jede Dicke, jede als „Räthsel des dunklen Raumes“ der Reparatur und Herstellung von Linsenöffnung – durch Rechnung beschriebene Beobachtung. Nach 1) Zit. nach Wittig: Ernst Messgeräten, Mikroskopen und festgestellt“2) ausgeführt wurden. Abbe entsteht zunächst ein gebeug- Abbe [1], S. 97 Sonderanfertigungen im Umfeld Damit hielt in der Optischen Werk- tes primäres Zwischenbild und 2) [5], S. 47 der Universität sein Auskommen stätte das später von Abbe selbst ein weiteres sekundäres (reelles) zu finden [4]. Besonders fruchtbar als „Zusammenwirken von wissen- Zwischenbild, das vom Okular ab- 3) Ernst Abbe, Gedächt- nisrede zur Feier des gestaltete sich die Zusammenarbeit schaftlicher und technischer Kunst“ gebildet wird. Je mehr am Objekt 50jährigen Bestehens zwischen Zeiss und dem Jenaer bezeichnete Prinzip Einzug3). gebeugte Strahlen vom Objektiv der Optischen Werk- Biologen und einem der Mitbegrün- Gleichzeitig beschäftigte sich Ab- erfasst werden, um so genauer wird stätte, in: [6], S. 60–101; S. 64 der der Zelltheorie Matthias Jacob be mit Fragen der Arbeitsorganisati- das Objekt abgebildet. Abbe unter- Schleiden (1804–1881). Obwohl on und schlug Zeiß die Einführung suchte den Einfluss des Öffnungs- Zeiß ab 1856 sehr erfolgreich neben der so genannten Teilarbeit und ge- winkels der Objektive mit Hilfe von einfachen Lupen- auch zusammen- zielte Mess- und Prüfmethoden bei Beugungsgittern und konnte zeigen, gesetzte Mikroskope zu fertigen und der Fertigung vor, um so die Zahl dass das Auflösungsvermögen eines

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Mikroskops, d. h. die minimale, sorten nicht die notwendigen opti- Eigenschaften methodisch zu stu- abbildbare Strukturbreite eines schen Eigenschaften aufwiesen. Ein dieren“5). Solche systematischen Objekts (d), von der Wellenlänge von Abbe stattdessen vorgeschla- Untersuchungen konnte Schott in des verwendeten Lichts und des genes System mit Flüssigkeitslinsen dem 1882 in Jena errichteten und von ihm als numerischer Apertur war technisch nicht durchführbar größtenteils von Abbe finanzierten A bezeichneten Produkts aus dem und wurde deshalb verworfen. Versuchslaboratorium vornehmen. Brechungsindex und dem Sinus des Allerdings wandte sich Abbe Nachdem der preußische Staat halben Öffnungswinkels a des Ob- Ende der 1870er-Jahre wieder dem durch die Vermittlung Wilhelm Ju- jektivs abhängen: Immersionsmikroskop zu. Er wähl- lius Foersters (1832–1921) und Für- d = l / (2n « sin a) = l / (2A).

Dieser Zusammenhang zeigte deutlich die Leistungsgrenzen der normalen Lichtmikroskopie, wes- halb Abbe schon 1878 die Verwen- dung von kurzwelligem Licht vor- schlug. Darüber hinaus untersuchte er neben dem Einfluss des Öff- nungswinkels eingehend die nach ihm klassifizierten Abbildungsfeh- ler: die „chromatische Aberration“ und die „sphärische Aberration“. Bei ersterer handelt es sich um die wellenlängenabhängige Brechung des Lichts, die dazu führt, dass das abgebildete Objekt nur verschwom- men und von farbigen konzentri- schen Ringen umgeben erscheint. Seit dem 18. Jahrhundert war allerdings bekannt, dass sich die chromatische Aberration durch Lin- Blick in die Astronomischen Werkstätten von Zeiss (1904). (Quelle: Unternehmens- sensysteme mit unterschiedlichen archiv Carl Zeiss) Glassorten ausgleichen ließe. Abbe begann deshalb die verfügbaren op- te jedoch nicht Wasser, sondern sprache von Hermann Helmholtz tischen Gläser nach ihrem Disper- Zedernöl und andere Ölmischungen (1821–1894) Subventionen in der sionsverhalten zu klassifizieren, um als Immersion, die in etwa den glei- Gesamthöhe von 60 000 Mark ge- so gezielt achromatische Objektive chen Brechungsindex wie das für währt hatte, begann am 18. Septem- berechnen zu können. Das Ergebnis die Objektive verwendete Kronglas ber 1884 die Produktion optischer bildete die heute als Abbesche Zahl besaßen. Damit erfüllten diese opti- Gläser in der inzwischen erheblich bekannte Stoffgröße, die die Abhän- schen Systeme zum einen die Sinus- erweiterten Versuchsanstalt. Nur gigkeit des Brechungsindizes eines bedingung und wiesen zum anderen ein Jahr später wurden die Jenaer transparenten Stoffes (z. B. Glas) auch noch einen großen Öffnungs- Glaswerke Schott & Gen. offiziell von der Wellenlänge angibt und ge- winkel auf. gegründet, an denen neben Schott geben ist durch Abbe musste jedoch einsehen, auch Zeiß und Abbe beteiligt waren n −1 dass die „fernere Vervollkommnung und die 1886 mit einem Produkti- V = D . des Mikroskops“ auf „die Fort- onsverzeichnis und einer ganzen nnFC− 4) [6], S. 72 schritte der Glasschmelzkunst“ an- Reihe neuer optischer Gläser auf- 5) Brief Abbes an Schott Dabei sind nD, nF, nC die Bre- gewiesen war. Eine entsprechende warten konnten. v. 20. Dezember 1880, chungsindizes des Materials bei den Gelegenheit dazu bot sich, als der abgedruckt in [7], S. 14 Fraunhofer-Linien mit den Wellen- gerade 28-jährige Chemiker Otto Abbe als Unternehmer... längen D = 589,2 nm, F = 486,1 nm, Schott (1851–1935) Abbe 1879 auf Abbe hatte bis 1883 nur als stil- C = 656,3 nm. seine Glasschmelzversuche auf- ler Gesellschafter der Zeissschen Auch bei dem von Abbe als merksam machte und den Jenaer Werkstätte fungiert und neben „sphärische Aberration“ beschrie- Physiker bat, die optischen Eigen- seinen Untersuchungen das volle benen Öffnungsfehler des Objektivs schaften der von ihm hergestellten Pensum eines Hochschullehrers zu konnte eine Kombination verschie- neuen Lithiumgläser zu untersu- erfüllen. Zuvor war er 1877 zum dener Linsen die Abbildungsqualität chen. Abbe musste Schott mit Blick Leiter der Jenaer Sternwarte und erhöhen. Für Abbe galt es deshalb, auf die Ergebnisse seiner Untersu- 1878 zum ordentlichen Honorar- Linsensysteme zu berechnen, bei chungen zwar enttäuschen, ermutig- professor ernannt worden. Eine denen sowohl die chromatische als te diesen aber, weitere Versuche zu von Helmholtz in Aussicht gestellte auch die sphärische Aberration be- unternehmen. Wie er Schott erklär- Spezialprofessur für Optik an der friedigend korrigiert wurden. Dies te, „führt der Weg zur Bereicherung Berliner Universität schlug Abbe glich jedoch, wie es Abbe später for- der Optik in dieser Richtung nicht jedoch mit Hinweis auf seine Ver- mulierte, mehr dem Versuch „Phan- in die Glashütte, sondern zuerst pflichtungen gegenüber Carl Zeiß tasieoptik [...] mit hypothetischem in das chemische Laboratorium. aus. Diesem Umstand trug auch Glas“4) zu betreiben, da die bis zu Denn es wird sich darum handeln, der 1883 zwischen Carl Zeiß und diesem Zeitpunkt verwendeten Glas- in kleinem Maßstabe die optischen dessen Sohn sowie Ernst Abbe ge-

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schlossene Gesellschaftervertrag Schottwerken dem Sachsen-Weima- mussten. Dies sollte von vornherein Rechnung, mit dem Abbe zu einem rischen Staat und der Jenaer Uni- kurzfristige Markt- und Spekula- der Geschäftsführer der optischen versität überschreiben, denn seiner tionsgeschäfte verhindern helfen. Werkstätte bestimmt wurde. Über- Meinung nach waren die Betriebe Der 1889 gegründeten Carl-Zeiss- dies verzichtete Abbe mit diesem zu einer Art „öffentlichem Gut“ ge- Stiftung übertrug er nach dem Aus- Vertrag freiwillig auf die Übernah- worden und ihre „Erhaltung, Fort- scheiden von Roderich Zeiß aus der me einer ordentlichen Professur, bildung und dauernde Sicherung“ Geschäftsleitung 1891 seinen vollen die ihm 1882 von der Universität eine „Sache von öffentlichem Inte- Anteil an den Zeiss-Werken und Jena angetragen worden war. 1891 resse“. Abbe stiftete deshalb 1886 die ihm gehörenden 50 Prozent der ließ er sich gänzlich von allen amt- schon einen „Ministerialfonds für Schott-Werke. Der Stiftung standen lichen Pflichten entbinden. In der wissenschaftliche Zwecke“, welcher drei Geschäftsführer mit festem Zwischenzeit hatte sich auch der Gehalt vor, die rechtliche Aufsicht Charakter der Optischen Werkstätte übernahm ein Weimarer Staatsbe- gewandelt, aus der innerhalb von amter als Stiftungskommissar, ohne zehn Jahren ein großes mittelstän- sich direkt in den Geschäftsverkehr disches Unternehmen mit fast 500 einmischen zu können. Die Stiftung Beschäftigten geworden war. Die legte neben der Unternehmens- Verwendung der neuen optischen verfassung eine ganze Reihe von Gläser schlug sich in den Umsatz- arbeits- und sozialrechtlichen Auf- zahlen für Mikroskope nieder. Im gaben fest: Mindestlöhne, mögliche 6) [6], S. 54 Geschäftsjahr 1889/90 wurden bei Lohnnachzahlungen, Pensionsrech- 7) [6], S. 119–156 Zeiss fast 2000 Mikroskope produ- te für die Beschäftigten, Ansprüche ziert und damit fünf Mal so viel wie auf Kranken-, Invaliden- und Ren- 8) [6], S. 203–261; S. 238 zehn Jahre zuvor. Dieser geschäft- tengeld für Beschäftigte und deren liche Erfolg gründete ohne Zweifel Hinterbliebene, teilweise bezahlter auf der Leistungsfähigkeit der von Urlaub, Abgangsentschädigungen Abbe konstruierten Mikroskope. Er und eine Arbeitnehmervertretung, fiel nicht zufällig mit einem generel- die von der Geschäftsleitung in len Wachstumsschub in den Natur- betrieblichen Fragen anzuhören wissenschaften im zweiten Drittel war. Musste den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts zusammen und und Unternehmerkollegen Abbes zeugte vom Bedarf an leistungsfähi- faktischer Verzicht am Eigentum gen optischen Analyse- und Mess- der Zeiss- und Schottwerke schon geräten. Zu den ersten Nutznießern ungewöhnlich genug erscheinen, der neuen Zeiss-Mikroskope gehör- so war der Katalog betrieblicher ten die sich etablierende Zytologie Sozialleistungen in der Unterneh- und Bakteriologie. Für Robert Koch Ernst Abbe am Gartentor seines Hauses, menslandschaft des Wilhelmini- (1843–1910) bestand deshalb kein nach 1900 (Quelle: Universitätsarchiv schen Kaiserreichs einzigartig. Zweifel daran, dass die von ihm Jena, Fotosammlung Knauf) Allenfalls die von Robert Bosch durchgeführten Erregernachweise initiierte Unternehmensstiftung für Tuberkulose (1882) und Cholera der Jenaer Universität zu Gute kam, oder die „konstitutionelle Fabrik“ (1883) auch ein Verdienst Abbes wobei er sich vom Göttinger Ma- des Berliner Jalousien-Fabrikan- und der Firma Zeiss waren. thematiker Felix Klein (1849–1925) ten Freese wiesen Ähnlichkeiten Aufgrund der gestiegenen Nach- und der Göttinger Vereinigung zur mit Abbes Stiftungsmodell auf. Es frage ging das Unternehmen Zeiss Förderung der angewandten Phy- unterschied sich grundlegend vom zur industriellen Fertigung feinme- sik und Mathematik inspirieren patriarchalischen Unternehmerty- chanisch-optischer Geräte über, zu ließ. Mit Unterstützung einiger pus a la Krupp, das keine rechts- denen neben Mikroskopen auch aufgeschlossener Beamter in der verbindlichen Zusicherungen in der Prüfmittel, Fernrohre, mikrofoto- Verwaltung des Weimarer Fürsten- sozialen Betriebspolitik kannte. Die grafische Apparate und seit 1893 tums und von Rechtsgelehrten an Carl-Zeiss-Stiftung glich dagegen auch die von Abbe entwickelten der Jenaer Universität suchte Abbe einer Unternehmensverfassung mit Prismenfeldstecher mit erweitertem nach einer alternativen Rechtsform einklagbaren Rechten für die Arbei- Objektivabstand gehörten. für das Unternehmen und entschied ter und Angestellten der Stiftungs- sich schließlich für dessen Umge- betriebe. Mit der Formel „Keine ... und Sozialpolitiker staltung in eine Stiftung. Diese Lö- Wohltaten – besseres Recht“6) setzte Abbe betrat als Unternehmer sung wurde Abbes Grundforderung Abbe nach den Maßstäben der mo- aber nicht nur wissenschaftliches gerecht, das Unternehmenskapital dernen Betriebssoziologie auf eine und fertigungstechnisches Neuland, neben betrieblichen auch sozialen geregelte Sozialpartnerschaft zwi- sondern auch neue Gebiete der Un- Aufgaben und darüber hinaus der schen mündigen Mitarbeitern und ternehmensverfassung und -kultur. Förderung der Naturwissenschaften dem Unternehmensvorstand [9]. Schon nach dem Rücktritt von Carl an der Universität Jena verfügbar Die Stiftung übernahm dabei die Zeiß aus der Geschäftsleitung im zu machen [8]. Abbe wollte mit der Aufgaben, die vom Staat, insbeson- Jahr 1886 hatte sich Abbe intensiv Stiftungskonstruktion aber auch dere der Bismarckschen Sozialpo- mit der Frage einer testamentari- die längerfristige Existenz der Zeiss- litik nicht abgedeckt wurden. Von schen Nachfolgeregelung für seine werke sichern und legte fest, dass der Stiftung profitierten aber neben Person beschäftigt. Zunächst wollte sämtliche Unternehmensgewinne den Arbeitern und Angestellten der er seine Anteile an den Zeiss- und der Stiftung zugeführt werden Stiftungsbetriebe und der Jenaer

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Universität auch die Bewohner der sein konnte, wie etwa der Ausbau Literatur Stadt Jena insgesamt. So finanzierte der militärischen Gerätefertigung [1] S. Czapski, Ernst Abbe als wissen- die Stiftung bedeutende soziale Ein- des Unternehmens seit Mitte der schaftlicher Forscher, in: A. Flitner und J. Wittig (Hrsg.), richtungen wie das 1903 eingeweih- 1890er-Jahre zeigte. Schon für die Optik-Technik-Soziale Kultur. te Jenaer Volkshaus und das Jenaer Zeitgenossen gestaltete sich deshalb Siegfried Czapski Weggefährte und Volksbad (1908). eine Bewertung Abbes schwie- Nachfolger Ernst Abbes. Briefe, Abbe betonte immer wieder, dass rig. Dies lag sicher auch daran, Schriften, Dokumente, Rudolstadt er sich bei seinem Stiftungsprojekt dass Abbe politisch nur schwer (2000), S. 442–463 vor allem von sachlichen unterneh- einzuordnen war. Als einer der [2] F. Auerbach, Ernst Abbe. Sein Le- ben, sein Wirken, seine Persönlich- merischen Aspekten leiten ließ und Initiatoren des Jenaer Freisinnigen keit, Leipzig (1918); J. Wittig: Ernst nicht von reiner Menschenfreund- Vereins und der liberalen Volkspar- Abbe 1840–1905, Leipzig (1989) lichkeit. Tatsächlich entsprang das tei sprach er sich für tief greifende [3] E. Abbe, Beiträge zur Theorie des Stiftungskonzept einem hohen Maß steuerrechtliche Reformen aus und Mikroskops und der mikroskopi- unternehmerischer und sozialer plädierte für die Abschaffung aller schen Wahrnehmung, in: Schultze’s Verantwortung. Es folgte aber auch indirekten und direkten Steuern Archiv für mikroskopische Anato- der inneren Logik eines wissen- auf das Arbeitseinkommen. Er for- mie IX, (1873), 413 [4] E. Hellmuth und W. Mühlfriedel, schaftsintensiven und zunehmend derte stattdessen die Erhebung von Zeiss 1846–1905. Vom Atelier für hoch spezialisierten Großbetrie- Kapital- und Vermögenssteuern. In Mechanik zum führenden Unter- bes. So stellte die von Abbe im Abbes Forderungen und der Jenaer nehmen des optischen Gerätebaus, Stiftungsstatut festgeschriebene Stiftung erblickten Anhänger des (Carl Zeiss. Die Geschichte eines Abgangsentschädigung eine Art auf Reformen fixierten Flügels der Unternehmens 1), (1996) „Arbeitslosengeld“ dar und wirk- Sozialdemokratie Schnittpunkte [5] E. Abbe, Gesammelte Abhandlun- gen, Bd. 1: Abhandlungen über die te ihrerseits auf die Strategie der mit eigenen Vorstellungen. Abbe Theorie des Mikroskops, Jena (1904) Stiftungsunternehmen zurück. Sie brachte das wiederholt den Vorwurf [6] E. Abbe, Gesammelte Abhandlun- verhinderte eine unkontrollierte Ex- ein, sozialistischem Gedankengut gen, Bd. 3: Vorträge, Reden und pansion der Stiftungsunternehmen nachzuhängen. Daher sei die Opti- Schriften sozialpolitischen und ver- in guten Geschäftsjahren und band sche Werkstätte eine „Brutstätte der wandten Inhalts, Jena (1906) gleichzeitig die wertvollen Fach- Sozialdemokratie geworden“. Dem [7] O. Schott, Der Briefwechsel zwi- schen und Ernst Abbe arbeiter an die Stiftungsunterneh- gegenüber konstatierte Abbe apo- 7) über das optische Glas 1879–1881, men . Bei der 1901 beschlossenen diktisch: „Der Klassenkampf findet Bd. 2, bearb. v. H. Kühnert, Jena Einführung des Achtstundentages bei Zeiss nicht statt“. Auch später 1946 ließ sich Abbe von den Erkennt- bot das Jenaer Stiftungsmodell noch [8] J. John, Ernst Abbes Sozialpolitik nissen der gerade entstehenden vielfältige Projektionsflächen für in ihrer Zeit, in: R. Stolz und J. Arbeitssoziologie leiten. Er versuch- Konzeptionen „dritter Wege“ zwi- Wittig: Carl Zeiss und Ernst Abbe. te sein Credo von „8 Stunden Un- schen Staats- und Marktwirtschaft. Leben, Wirken und Bedeutung. Wissenschaftshistorische Abhand- ternehmerdienst, 8 Stunden Schlaf In der frühen DDR wurde es hinge- lung, Jena (1993), S. 458–488 und 8 Stunden Mensch sein“ mit gen als pure Demagogie gegenüber [9] W. Plumpe, Menschenfreundlich- Berechnungen über Ermüdungser- der Zeiss-Arbeiterschaft abgetan. keit und Geschäftsinteresse. Die be- scheinungen in einer „Bedingungs- Abbes wissenschaftliches Werk triebliche Sozialpolitik Ernst Abbes gleichung für das physiologische hat seinen unbestrittenen Platz in im Lichte der modernen Theorie, Gleichgewicht der industriellen Ar- der Wissenschaftsgeschichte und in: F. Markowski (Hrsg.), Der letzte Schliff. 150 Jahre Arbeit und Alltag beitsleistung“ zu unterlegen8). Der Eingang in die physikalischen Lehr- bei Carl Zeiss, Berlin (1997), S. Achtstundentag bei Zeiss bedeutete bücher gefunden. Sein unternehme- 10–33 aber auch kontrollierte Pausen, das risches und sozialpolitisches Enga- [10] G. Buenstorf und J. P. Murmann,: Alkoholverbot am Arbeitsplatz und gement, in vielem seiner Zeit vor- Ernst Abbe’s Scientific Manage- damit das „Abschneiden liebgewor- aus, hinterließ vor allem in seiner ment: Theoretical Insights from a dener Zöpfe“ und die Einführung Wahlheimat sichtbare Spuren. Im 19th Century Dynamic Capabilities Approach, hrsg. vom MPI zur Er- der Akkordarbeit. Im Ergebnis Umfeld der Stiftungsunternehmen forschung von Wirtschaftssystemen, führte das zu einer Effektivitätsstei- etablierte sich ein liberales bürgerli- Jena (2003) gerung in der Produktion und zur ches Milieu, das sich gegenüber so- überdurchschnittlichen Entlohnung zialen, technischen und kulturellen der Zeiss-Mitarbeiter. Die heutige Neuerungen aufgeschlossen zeigte, Wirtschaftswissenschaft erkennt in zugleich aber auch eine selbstbe- Abbes System durchaus aktuelle wusste und gebildete Arbeiterschaft. Parallelen zu erfolgreichen unter- Der Begründer der Carl-Zeiss- nehmerischen Organisations- und Stiftung konnte in seinen letzten Le- Managementmodellen [10]. bensjahren noch verfolgen, wie sich Abbes Jenaer Stiftungsmodell aus der altehrwürdigen Universitäts- erwies sich insgesamt gesehen als stadt Thüringens eine „Residenz“ relativ stabil und überlebte auch des „modernen Industrialismus“ zu die unternehmerische Konversion entwickeln begann. Abbes schlechter nach dem Ersten Weltkrieg. Die Gesundheitszustand zwang ihn im Seele der Stiftung blieb letztlich August 1903, aus dem Vorstand der Abbe. Auch wenn Abbes Person Optischen Werkstätte auszuschei- selbst nicht frei von Widersprüchen den. Nach langer Krankheit verstarb er am 14. Januar 1905 in Jena.

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