ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK, WIRTSCHAFT UND KULTUR NORDEUROPA JOURNAL OF POLITICS, ECONOMICS AND CULTURE

Ralph TuchtenhagenRalph Nora Kauffeldt & Nora Kauffeldt Christian Oertel 1–2 Ainars Dimants Edith Timm forum Das Fallbeispiel Lettland Das Fallbeispiel Lettland dem EU-Beitritt nach Staaten Medien indenbaltischen 2012 und13.zwölften Jahrhunderts imSchweden desspäten Erik heiligen GedankenQuellenkritische zumKult des VorfahrHeiliger undrex perpetuus? Grundriss Ein historischer Ostseeraumforschung schaftlichen Hamburg inNorwegen undNationalismus Indigenität "We were you" here before als Zentrum derhumanwissenals Zentrum - Herausgeber: Jan Hecker-Stampehl, Bernd Henningsen, Stephan Michael Schröder, Ralph Tuchtenhagen Chefredakteur: Jan Hecker-Stampehl Chefin vom Dienst: Karina Henschel Redaktion: Florian Brandenburg, Izabela Dahl, Inken Dose, Krister Hanne, Hendriette Kliemann-Geisinger, Lill-Ann Körber, Peer Krumrey, Michael Penk, Anna-Lena Pohl, Katharina Pohl, Ebbe Volquardsen, Matthias Weingard, Antje Wischmann, Jana Windwehr. Wissenschaftliche Mitarbeit: Nils Erik Forsgård (Helsinki), Jorunn Sem Fure (Oslo), Norbert Götz (/Greifswald), Jörg Hackmann (Greifswald), Helge Høibraaten (Trondheim/Berlin), Ella Johansson (Lund/Stockholm), Martin Krieger (Kiel), András Masát (Berlin/Budapest), Henrik Meinander (Helsinki), Richard Mole (London), Kazi- mierz Musial (Gdansk), Klaus Petersen (Odense), Jan Rüdiger (Berlin), Mai-Brith Schartau (Stockholm), Henrik Stenius (Helsinki), Øystein Sørensen (Oslo), Stefan Tro- ebst (Leipzig), Uffe Østergaard (Kopenhagen/Århus), Bernd Wegner (Hamburg)

Die Neue Folge erscheint zweimal jährlich in elektronischer Form auf dem edoc- Server der Humboldt-Universität zu Berlin und hat einen Umfang von etwa 100 Sei- ten. Redaktionssitz ist am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Ein internationaler wissenschaftlicher Beirat unterstützt die Redaktion bei der Aus- wahl und Bewertung der Beiträge. Über die Veröffentlichung von Manuskripten ent- scheiden Herausgeber und Redaktion auf der Grundlage eines externen Gutachtens in einem anonymisierten Verfahren. Für unverlangt eingesandte Manuskripte können wir leider keine Haftung übernehmen. The Neue Folge (New Edition) appears twice yearly in electronic form on the edoc- Server of the Humboldt-Universität zu Berlin and has an extent of 100 pages. The edi- torialship is based at the Nordeuropa-Institut of the Humboldt-Universität zu Berlin. An international scientific committee supports the editors with the selection and evalu- ation of contributions. The decision to publish manuscripts is made by the publisher and the editors upon the basis of external expert opinion in an anonymous procedure. We are unfortunately not able to take any responsibility for non-commissioned manu- scripts sent to us.

NORDEUROPAforum Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur 22. Jahrgang (15. der N.F.) ISSN 1863-639X Redaktionsanschrift: NORDEUROPAforum, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, D–10099 Berlin, Telefon: +49 (30) 20 93-53 96, Fax: +49 (30) 20 93- 53 25, E-Mail: [email protected] Homepage: www.nordeuropaforum.de INHALTSVERZEICHNIS

B E I T R Ä G E

Ainārs Dimants Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt Das Fallbeispiel Lettland 7

Nora Kauffeldt und Edith Timm „We were here before you“ Indigenität und Nationalismus in Norwegen 31

Ralph Tuchtenhagen Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung Ein historischer Grundriss 43

Christian Oertel Heiliger Vorfahr und rex perpetuus? Quellenkritische Gedanken zum Kult des heiligen Erik im Schweden des späten zwölften und frühen 13. Jahrhunderts. 87

R E Z E N S I O N E N

Ann-Sofie N. Gremaud Marion Lerner: A Litmus Test Case of Modernity. Landnahme-Mythos, kulturelles Gedächtnis und nationale Identität. 115

Christian Rebhan Jón Th. Thór, Daniel Thorleifsen, Andras Mortensen, Ole Marquardt (Hgg.): Naboer i Nordatlanten. Færøerne, Island og Grønland. Hovedlinjer i Vestnordens historie gennem 1000 år. 118

Ebbe Volquardsen Kristín Loftsdóttir, Lars Jensen: Whiteness and Postcolonial-ism in the Nordic Region. Exceptionalism, Migrant Others and National Identities Lars Jensen: Danmark – rigsfællesskab, tropekolonier og den postkoloniale arv. 122

NORDEUROPAforum 22 (2012:1─2) 1 Michael Penk Meike Stommer: Europa-Skeptiker oder Europa-Pragmatiker? Die isländische Europapolitik zwischen Machtpolitik, nationalen Interes-sen und normativen Orientierungen.. 131

Ann-Sofie N. Gremaud Sumarliði Ísleifsson and Daniel Chartier (eds.): Iceland and Images of the North 134

Florian Brandenburg Vibeke Moe, Øivind Kopperud (Hgg.): Forestillinger om jøder. Aspek-ter ved konstruksjonen av en minoritet 1914-1940. 137

Ebbe Volquardsen Firouz Gaini (ed.): Among the Islanders of the North. An Anthropology of the Faroe Islands. 141

Michael Penk Katrin Rupprecht: Der deutsch-isländische Fischereizonenstreit 1972-1976. Krisenfall für die NATO? Anhand der Akten des Auswärtigen Amtes 145

Michael März Kjell-Olof Feldt: En kritisk betraktelse om Socialdemokratins seger och kris. 148

Emma Bentz Kjetil Fallan (Hg.): Scandinavian Design. Alternative Histories. 152

Inken Dose Robert von Lucius: Drei baltische Wege. Litauen, Lettland, Estland – zerrieben und auferstanden. 156

Bernd Henningsen Gesine Herrmann: Die deutsche Baltikumspolitik 1988-2004. Zwischen Ablehnung, Unterstützung und Zurückhaltung. 159

Carsten Jahnke Jens E. Olesen (Hg.): Dänemark und Pommern. Sachthematisches Archivinventar zu den Beständen an Pomeranica und Sueco-Pomeranica im dänischen Reichsarchiv in Kopenhagen. 160

2 NORDEUROPAforum 22 (2012:1─2) Reinhold Wulff Gisela Graichen, Rolf Hammel-Kiesow: Die deutsche Hanse. Eine heimliche Supermacht. 163

Frank Nesemann Michael Jonas: NS-Diplomatie und Bündnispolitik 1935-1944. Wipert von Blücher, das Dritte Reich und Finnland. 166

Michael Penk Bengt Gustafsson: Sanningen om ubåtsfrågan. Ett försök till analys. 170

Klaus Neumann Kristina Boréus, Ann Ighe, Maria Karlsson, Rikard Warlenius (Hg.): Ett sekel av syndikalism. 173

Reinhold Wulff Jörg-Peter Findeisen: Die schwedische Monarchie 178

A N N O T A T I O N E N

Florian Brandenburg Joachim Grage, Stephan Michael Schröder (Hgg.): Literarische Praktiken in Skandinavien um 1900 – Fallstudien 183

Krister Hanne Jan Hecker-Stampehl: Vereinigte Staaten des Nordens. Integrationsideen in Nordeuropa im Zweiten Weltkrieg. 186

Michael Penk Marko Lamberg, Marko Hakanen, Janne Haikari (eds.): Physical and cultural space in pre-industrial Europe. Methodological approaches to spatiality. 186

Krister Hanne Joachim Tauber, Ralph Tuchtenhagen: Vilnius. Kleine Geschichte der Stadt Karsten Brüggemann, Ralph Tuchtenhagen: Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt. 186

NORDEUROPAforum 22 (2012:1─2) 3

BEITRÄGE

Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt

Das Fallbeispiel Lettland

Ainārs Dimants

Zusammenfassung Im vorliegenden Artikel werden die Prognosen baltischer Kommunikationswissenschaftler in Bezug auf die Entwicklung der Medienlandschaft in den baltischen Ländern nach dem EU- Beitritt am Beispiel Lettlands einer Überprüfung unterzogen. Es bestätigen sich die Annah- men, dass die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der lettischen Medien von der Beendigung unkritischen parteipolitischen Engagements abhängt, dass dafür die redaktionelle Autonomie gewährleistet und Transparenz in Bezug auf die Eigentumsverhältnisse hergestellt werden muss sowie dass den öffentlich-rechtlichen Medien und der journalistischen Professionalisie- rung eine besondere Rolle zukommt. Entgegen der erwarteten westlichen Investitionen kam es im Zuge der Wirtschaftskrise jedoch vorübergehend zu einem Rückgang westlichen und einer Zunahme russischen Engagements.

Summary In this article the predictions made by communication scientists from the Baltic countries regarding the development of the Baltic media scene after the accession of the countries to the EU are reconsidered. In general, the initial assumptions have been confirmed: that the long-term competitiveness of the Latvian media is in fact dependent on bringing uncritical political commitment to an end, that to this end editorial autonomy has to be safeguarded and that the media under public law as well as the development of professional standards for jour- nalists are playing a crucial role in this process. In contrast to the predictions investments from Western countries temporarily decreased during the economic crisis while investments from Russia increased.

Prof. Dr. phil. Ainārs Dimants ist Direktor des Promotionsstudiengangs in Kommunikationsmanage- ment der Turība University in Rīga, Lettland, und Vorsitzender des lettischen Nationalen Rates für die elektronischen Medien. Kontakt: [email protected]

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 7 Ainārs Dimants

Seit der EU-Mitgliedschaft im Jahr 2004 haben sich die anfänglichen Prognosen einiger balti- scher Kommunikationswissenschaftler zu den Entwicklungstrends und Problemen der Mas- senmedien in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen1 im Wesentlichen bestätigt – so lautet die wichtigste Behauptung dieses Beitrags. Der Medienmarkt der baltischen Staa- ten wurde jedoch durch die Weltwirtschaftskrise seit 2008 sowie durch die neuen Medien, insbesondere das Internet und die sozialen Medien, einer starken Korrektur unterzogen. Vornehm- lich am Beispiel Lettlands2 werden hier der aktuelle Stand und die Perspektiven geschildert. Die Prognosen über die Entwicklung der Massenmedien in den baltischen Staaten entstanden vor dem Hintergrund der ökonomischen Theorie des Journalismus,3 die den Journalismus nach den Gesetzmäßigkeiten und Spielregeln der Ökonomie erklärt. Dabei spielt insbesondere die ökonomische Interaktion zwischen dem Journalismus, der seinen Publika veranwortlich bleibt, und der Öffentlichkeitsarbeit (Public Relations, PR) als der interessengeleiteten Kom- munikation, die primär ihren Auftraggebern verantwortlich ist, eine Rolle. Die Spezifik der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen, die Corporate Social Responsibility (CSR), im Medienbereich4 äußert sich in der Wertschöpfungskette etwa als strukturelle Vor- kehrungen für die redaktionelle Autonomie (innere Pressefreiheit) oder Einrichtung von Om- budsstellen für Rezipientenbeschwerden.

1 Vgl. z. B. Dimants, Ainārs: „The Future of Latvia’s Mass Media in Enlarged Europe“. In: Tālavs Jundzis (Hg.): Latvia in Europe. Visions of the Future. Collection of Articles. Rīga 2004, 334–352; Bærug, Richard (Hg.): The Baltic Media World. Rīga 2005. 2 Die entsprechende Literaturliste zu allen baltischen Staaten siehe: „Research publications and articles“ (http://www.balticmedia.eu/publications, 11. März 2013). 3 Vgl. u. a. Fengler, Susanne und Stephan Ruß-Mohl: „Der Journalist als ,Homo oeconomi- cus‘“. Konstanz 2005; Ruß-Mohl, Stephan und Susanne Fengler: „The Market Model. PR and Journalism in the Attention Economy“. In: Bernd Merkel, Stephan Ruß-Mohl und Giovanni Zavaritt (Hgg.): A Complicated, Antagonistic & Symbiotic Affair. Journalism, Public Relations and their Struggle for Public Attention. Lugano 2007; Ruß-Mohl, Stephan: Kreative Zerstörung. Niedergang und Neuerfindung des Zeitungsjournalismus in den USA. Konstanz, 2009. 4 Dazu siehe Raupp, Juliana, Stefan Jarolimek und Friederike Schultz (Hgg.): Handbuch CSR. Kommunikationswissenschaftliche Grundlagen, disziplinäre Zugänge und methodi- sche Herausforderungen. Mit Glossar. Wiesbaden 2011, 11f., 245–266; Dimants, Ainārs: „Redakcionālā autonomija kā korporatīvā sociālā atbildība mediju uzņēmējdarbībā [Redak- tionelle Autonomie als gesellschaftliche Verantwortung von Medienunternehmen]“. In: Akadēmiskā Dzīve 45 (2008), 36–39.

8 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt

In diesem Artikel möchte ich über folgende Prognosen diskutieren: 1. dass eine langfristige Wettbewerbsfähigkeit der lettischen Medien von ihrer Distan- zierung von unkritischem parteipolitischen Engagement (im Sinne der Selbstidentifizie- rung mit bestimmten politischen Gruppierungen) abhängig sei, 2. dass die Möglichkeit einer solchen Distanzierung von der Gewährleistung der redak- tionellen Autonomie und der Transparenz der Eigentumsverhältnisse abhängig sei, 3. dass westliche Medienunternehmen auf dem lettischen Markt weiter expandieren würden, 4. dass vor diesem Hintergrund die öffentlich-rechtlichen Medien eine herausragende Ankerrolle im jeweiligen Mediensystem spielen, sowie 5. dass nicht nur die Bedeutung der redaktionellen Autonomie wächst, sondern auch die Rolle der journalistischen Professionalisierung durch Qualität sichernde Standards und Strukturen. Durch diese problemorientierte Herangehensweise offenbaren sich anschaulich und übersicht- lich die Strukturen der baltischen Medienlandschaften. Dazu gehören einerseits die größten Medien jeder Mediengattung und ihre Eigentumsverhältnisse sowie andererseits die journalis- tische Infrastruktur, insbesondere die Berufsverbände als Institutionen der freiwilligen Selbst- kontrolle. Das Ganze wird zudem im jeweiligen Normenkontext betrachtet – vor allem im Kontext der professionellen Standards, der professionellen Selbstkontrolle und des professio- nellen Selbstverständnisses im Medienbereich, die ihrerseits die jeweilige journalistische Kul- tur und die professionelle Identität, letzten Endes also ein Mediensystem insgesamt prägen.5 Die Strukturen und der Normenkontext wachsen aus dem Erbe der älteren und neueren Kom- munikationsgeschichte, die für die drei baltischen Staaten größtenteils gemeinsam, teils aber auch unterschiedlich gewesen ist, u. a. wegen der Besonderheiten der sprachlichen Unter- schiede im jeweiligen Mediensystem. So wurden die historischen sozialen Voraussetzungen für die spätere Massenkommunikation aller drei Nationen zuerst durch die relativ späte Chris- tianisierung im Katholizismus geschaffen (Livländischer Orden bzw. Großherzogtum Litau-

5 Vgl. u. a. Weischenberg, Siegfried: Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medien- kommunikation. Bd. 1: Mediensysteme, Medienethik, Medieninstitutionen. Opladen 1992, 68f.; Lauk, Epp und Marcus Denton: „Assessing Media Accountability – in Europe and Beyond“. In: Tobias Eberwein et al.: Mapping Media Accountability – in Europe and Be- yond. Köln 2011, 218.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 9 Ainārs Dimants en), es folgte für Estland und Lettland die Reformation mit der Verbreitung nationaler Schrift- sprachen (so im Herzogtum Kurland und während der Schwedenzeit im Baltikum) und schließlich die Abschaffung der Leibeigenschaft, die in Estland und im größten Teil des heu- tigen Lettland bald nach den Napoleonischen Kriegen stattfand und früher als im übrigen za- ristischen Russland zu individueller Freiheit und Mobilität führte. Dies waren Voraussetzun- gen für die Entstehung nationaler Zeitungen, die zur Herausbildung einer eigenen nationalen Identität in allen drei Nationen maßgeblich beitrugen. Das 20. Jahrhundert mit der Schaffung eigener nationaler Mediensysteme (wobei demokratische und autoritäre Perioden zu unter- scheiden sind), der lang andauernden sowjetischen Herrschaft mit der damit einhergehenden totalitären/autoritären Informationsdiktatur und Russifizierung sowie der Wiedererlangung von Unabhängigkeit und Demokratie brachte erneut gemeinsame Erfahrungen, die seit 2004 durch die Mitgliedschaft in EU und NATO fortgesetzt werden. Das sehr unterschiedliche historische Erbe aus verschiedenen Epochen ist nicht völlig ver- schwunden, sodass von der historischen Zugehörigkeit der Mediensysteme der baltischen Staaten zum demokratisch-korporatistischen Modell (Democratic Corporatist Model) des Me- diensystems Nord- und Mitteleuropas gesprochen werden kann.6 Heute zeichnen sich die Me- diensysteme der baltischen Staaten – und insbesondere dasjenige Lettlands – jedoch vor allem durch einen ausgeprägten politischen Parallelismus zwischen Medien und politischen Parteien und weniger durch einen journalistischen Professionalismus bzw. durch eine je national ein- heitliche journalistische Kultur aus, obwohl gerade diese beiden Eigenschaften das demokra- tisch-korporatistische Modell ausmachen.

6 Die beiden anderen Modelle demokratischer Mediensysteme sind das liberale nordatlanti- sche Modell sowie das polarisiert-pluralistische oder mediterrane Modell. Die Autoren die- ser Klassifikation, Daniel Hallin und Paolo Mancini, zählen die baltischen Staaten aus- drücklich zu dem Grundtypus des nord- und mitteleuropäischen Modells des Mediensystems. Näheres dazu bei Hallin, Daniel C. und Paolo Mancini: Comparing Media Systems. Three Models of Media and Politics. Cambridge u. a. 2004, 305; Dimants, Ainārs: „The role of Scandinavian investments for the re-integration of Latvian media in the North/Central European model of media system“. In: Informacijos mokslai 47 (2008), 37– 43, verfügbar unter http://www.leidykla.eu/fileadmin/Informacijos_mokslai/47/37-43.pdf, 14. Januar 2013.

10 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt

Strukturen autoritären Erbes

Die erste Prognose lautete, dass die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der lettischen Medien von ihrer Distanzierung von unkritischem parteipolitischen Engagement (im Sinne der Selbst- identifizierung mit bestimmten politischen Gruppierungen) abhängig sei. Andernfalls nehme das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Medien ab.7 Diese These wurde in der Praxis bestätigt, und zwar unter anderem durch den Rückzug des größten Medienkonzerns Skandinaviens, der schwedischen Bonnier Group aus dem größten Medienkonzern Lettlands, der Aktiengesell- schaft Diena, am 3. Juli 2009. Dieser gehören neben der gleichnamigen und früher größten, heute nur noch zweitgrößten lettischen Tageszeitung Diena (Der Tag) auch die nach wie vor größte lettische Wirtschaftszeitung Dienas Bizness (Das Tagesgeschäft), ein Drittel der Lo- kalzeitungen Lettlands sowie mehrere populäre Zeitschriften. Nicht nur der Verlag machte Verluste,8 sondern auch die liberale Tageszeitung Diena, die sich einige Jahre lang (von etwa 1996 bis 2001) mit dem damaligen Ministerpräsidenten Andris Šķēle, einem der sogenannten Oligarchen Lettlands, und seiner regierenden Volkspartei iden- tifiziert hatte bzw. die notwendige kritische Distanz zu ihm nicht wahrte,9 verlor ihren ersten Platz unter den Tageszeitungen an die traditionalistische, konservative Tageszeitung Latvijas Avīze (Lettlands Zeitung).10

7 Vgl. Dimants 2004, wie Fußnote 1, 351. Die soziologischen Umfragen belegen, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Massenmedien stetig abnimmt. So büßten Hörfunk, Fernsehen und Presse in Lettland zwischen Mai 2011 und Oktober 2012 jeweils um 12, 11 bzw. 8 Prozentpunkte an Vertrauen ein, wobei jedoch die Mehrheit den Massenmedien immer noch vertraut; vgl. „Latvijas iedzīvotāji visvairāk uzticas skolām, baznīcai, radio un televīzijai [Lettische Bevölkerung vertraut am meisten den Schulen, der Kirche, dem Hör- funk und dem Fernsehen]“ (Nozare.lv, 15. Januar 2013); siehe auch Fußnote 20. (Anmer- kung: Nozare.lv ist ein kommerzielles Angebot der Nachrichtenagentur LETA, u. a. für abonnierte Firmenkunden. Da es für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, wird hier auf die Wiedergabe vollständiger URLs verzichtet. Ausdrucke der zitierten Meldungen befin- den sich im Besitz des Verfassers.) 8 Siehe u. a. Arāja, Edīte: „Veiktas izmaiņas arī SIA ,Dienas mediji‘ vadībā [Änderungen in der Leitung der GmbH ‚Dienas mediji‘ vorgenommen]“ (Nozare.lv, 26. April 2011). 9 Näher dazu siehe Dimants, Ainārs: Lettlands Mediensystem am Scheideweg: Die Entwick- lung der Massenmedien in Lettland nach der zweiten Unabhängigkeit. Saarbrücken 2010, 173f. 10 Vgl. Latvijas reklāmas gadagrāmata 2008/09 [Jahrbuch der lettischen Werbung 2008/09]. Rīga 2008, 16; Latvijas reklāmas gadagrāmata 2009/10 [Jahrbuch der lettischen Werbung 2009/10]. Rīga 2009, 18; „Lasītākie drukātās preses izdevumi 2010. gadā [Meistgelesene Presseausgaben im Jahr 2010]“

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 11 Ainārs Dimants

Durch den Rückzug der Bonnier Group aus Lettland – wie zuvor, 2001, auch aus der zweit- größten estnischen Tageszeitung Eesti Päevaleht (Estnisches Tageblatt) – wurde eine breite Diskussion über die Offenlegung der Eigentümerschaft der Medien angeregt. Die skandinavi- schen Medieninvestoren – in Lettland vor allem die schwedische Bonnier Group in den Printmedien sowie im Bereich Fernsehen und Rundfunk nach wie vor die ebenfalls schwedi- sche Modern Times Group (MTG)11 – hatten und haben keine Probleme mit der Gewährleis- tung der redaktionellen Autonomie und der Transparenz der Eigentumsverhältnisse und wir- ken damit als Vorbild für nationale Investoren.12 Als klassisches Beispiel des politischen Parallelismus zwischen den Medien und den politi- schen Parteien gilt die drittgrößte lettischsprachige Tageszeitung Neatkarīgā Rīta Avīze (Un- abhängige Morgenzeitung), die seit 1999 dem Bürgermeister der Hafenstadt Ventspils, dem Oligarchen Aivars Lembergs, als wichtiges PR-Projekt dient, wobei die Zeitung die ganze Zeit über finanzielle Verluste macht.13 Durch Schleuderpreise wird der Markt der überregio- nalen Tageszeitungen erheblich verzerrt. Die traditionellen Funktionen der Medien und des Journalismus in der Demokratie – zu informieren, zu unterhalten und zu verkaufen14 – werden

(http://www.tns.lv/?lang=lv&fullarticle=true&category=showuid&id=3341, 29. März 013). 11 Vor allem mit dem führenden Fernsehsender TV3, dem Jugendkanal TV6, dem Sportkanal VIASAT Sport Baltic, dem russischsprachigen Filmkanal TV3+ und der Radiostation Star FM, einem von fünf Hörfunksendern mit überregionaler Reichweite; siehe „Radio“ (http://www.neplpadome.lv/lv/padome/raidorganizacijas/radio/, 02. Mai 2011); „Ziemā ra- dio vismaz reizi dienā klausījušies vidēji 63 % Latvijas iedzīvotāju [Im Winter haben 63 Prozent der lettischen Bevölkerung mindestens einmal pro Tag Radio gehört]“ (http://www.tns.lv/?lang=lv&fullarticle=true&category=showuid&id=3393, 29. März 2013) 12 Dimants 2008, wie Fußnote 6, 39ff. 13 Siehe z. B. Dimants 2010, wie Fußnote 9, 149f.; Ceplis, Kristaps: „Preses nama un Mediju nama zaudējumus skaidro ar reformām un biznesa principu neievērošanu [Verluste von ‚Preses nams‘ und ‚Mediju nams‘ werden durch Reformen und Nichtachtung der Ge- schäftsprinzipien erklärt]“. In: Diena, 29. Juni 2007; „,Mediju nama‘ vadība izpērk uzņē- muma kapitāldaļas [Leitung vom ‚Mediju nams‘ löst die Kapitalanteile am Unternehmen ein]“ (Nozare.lv, 14. Januar 2010); Rulle, Baiba und Aigars Lazdiņš: „Dažādas versijas par Mediju nama īpašnieku maiņu [Verschiedene Versionen zur Änderung der Eigentümer- schaft von ‚Mediju nams‘]“. In: Diena, 15. Januar 2010; „,Mediju nama‘ pārdošanas cena bijusi zem 60 000 latu [Verkaufspreis von ‚Mediju nams‘ war unter 60 000 Lats]“ (http://www.delfi.lv/bizness/biznesa_vide/mediju-nama-pardosanas-cena-ir-bijusi-zem-60- 000-latu.d?id=29282483, 22. April 2013). 14 Vgl. z. B. Siebert, Fred S., Theodore Peterson und Wilbur Schramm: Four Theories of the Press. Urbana 1956, 7, zitiert nach Weischenberg 1992, wie Fußnote 5, 87.

12 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt hier nicht vollständig wahrgenommen: Nicht das Publikum ist der Kunde, sondern der Auf- traggeber, gerade wie in der PR. Daraus ergibt sich ein Problem für die Verwirklichung der inneren Pressefreiheit, der redakti- onellen Autonomie – einer freiwilligen Maßnahme der Medieneigentümer also, die als eine Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung durch Medienunternehmen (Corporate So- cial Responsibility) zu sehen ist.15 Alltägliche redaktionelle Entscheidungen sollen nicht au- ßerhalb, sondern innerhalb der Redaktionen und zwar ausschließlich von den Journalisten und Redakteuren getroffen werden, damit die Glaubwürdigkeit des Journalismus und der Medien, die ihren wichtigsten Wettbewerbsvorteil auf dem Medienmarkt darstellt, gewährleistet wird. Das Beispiel der Neatkarīgā Rīta Avīze illustriert ein grundlegendes Problem in Lettland, nämlich dass es in vielen Fällen gar nicht um das Mediengeschäft geht, sondern um die In- strumentalisierung der Medien für andere geschäftliche und politische Ziele.16 Dieses Problem ist auch insbesondere für die russischsprachigen Medien in Lettland charakteristisch17 – u. a.

15 Näher dazu Dimants 2008, wie Fußnote 4. 16 Vgl. dazu u. a. Rožukalne, Anda und Valdis Krebs: „Mediji un politiķi: vienā tīklā saistīti [Medien und Politiker: in einem Netz verbunden]“ (http://www.ir.lv/medijukarte, 22. April 2013). 17 Der politische Parallelismus – um nicht zu sagen die politische Korruption – ist in den rus- sischsprachigen Medien Lettlands noch viel ausgeprägter als in den lettischsprachigen. So kandidierte z. B. im Jahre 2010 der Eigentümer des großen russischsprachigen Medien- konzerns Izdevniecības nams Petits und damalige Herausgeber u. a. der populären Tages- zeitung Čas [Die Stunde] und der Wochenzeitung Subbota [Der Samstag] Aleksejs Šeiņins (Aleksej Šejnin) zusammen mit den Oligarchen Andris Šķēle und Ainārs Šlesers auf der Liste der Partei Par labu Latviju [Für ein gutes Lettland] für das nationale Parlament. Siehe dazu „Ziņas par deputāta kandidātu“ [Informationen zum Kandidaten] auf der Webseite der Zentralen Wahlkommission (http://www.cvk.lv/cgi-bin/wdbcgiw/base/komisijas2010.cvkand10.kandid2?NR1=8&cbut ton=36078338328, 22. April 2013). Im Juni 2011 wurde die ukrainische Legbank Eigen- tümerin des Konzerns und bereits im Dezember das in Zypern registrierte Unternehmen Lanchrome Limited; Šeiņins verließ dann den Vorstand. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Mord an Grigorijs Ņemcovs (Grigorij Nemcov), dem mächtigen örtlichen Medienverleger sowie Vorsitzenden der regionalen Partei Latgales tauta [Lettgalens Volk] und stellvertre- tendem Bürgermeister der zweitgrößten lettischen Stadt, Daugavpils, am 16. April 2010. Näher dazu Ščerbinskis, Guntis und Baltic News Service: „Daugavpili šokē vicemēra slep- kavība [Mord an Vizebürgermeister schockiert die Stadt Daugavpils]“. In: Latvijas Avīze, 17. April 2010; „Mēra vietnieku nošauj pilsētas centrā: Grigoriju Ņemcovu viņam piede- rošā mediju biznesa dēļ uzskatīja par Daugavpilī ietekmīgu cilvēku [Stellvertretender Bür- germeister in der Stadtmitte erschossen: Wegen seines Mediengeschäfts galt Grigorijs Ņemcovs als einflussreicher Mann in der Stadt Daugavpils]“. In: Diena, 17. April 2011;

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 13 Ainārs Dimants für Zeitungen wie die inzwischen größte russischsprachige Wochenzeitung Lettlands MK Lat- vija und für die Fernsehanstalt Pirmais Baltijas kanāls (PBK, Erster baltischer Kanal), die demselben Medienkonzern, der Baltic Media Alliance, gehören und auf den im autoritär re- gierten Russland produzierten und in vieler Hinsicht staatlich kontrollierten redaktionellen Inhalten basieren; z. B. sendet Pirmais Baltijas kanāls (PBK) für die baltischen Staaten von Riga aus praktisch dasselbe Programm wie der staatliche russische Pervyj kanal (Erster Ka- nal). Zudem sind diese Medien, wie auch die größte russischsprachige Tageszeitung Lett- lands, Vesti segodnja (Nachrichten heute), und die Wochenzeitung Vesti (Nachrichten) durch die u. a. personalpolitisch sehr ausgeprägte Nähe zu der stark an Russland orientierten Partei Saskaņas centrs (Harmoniezentrum) sowohl außen- als auch innenpolitisch im Sinne der offi- ziellen Positionen Russlands hinsichtlich der baltischen Staaten (Nichtanerkennung ihrer rechtlichen Kontinuität usw.) engagiert und genießen dabei in der russischsprachigen Bevöl- kerung größte Popularität.18

Smagare, Silvija: „Ņemcovs mediju biznesa un politikas epicentrā [Ņemcovs im Epizent- rum des Mediengeschäfts und der Politik]“ (http://www.ir.lv/2010/4/18/njemcovs-mediju- biznesa-un-politikas-epicentraa,18. April 2010); Rancāne, Anna: „Uzticība partijai – Ls 300 000: Ņemcovs pirms nāves grasījies laist atklātībā kompromitējošus dokumentus [Ver- trauen in die Partei – Ls 300 000: Vor seinem Tod kündigte Ņemcovs an, der Öffentlich- keit kompromittierende Dokumente zu übergeben]“. In: Diena, 21. Mai 2010. 18 Vgl. Pelnēns, Gatis (Hg.): The „Humanitarian Dimension“ of Russian Foreign Policy To- ward Georgia, Moldova, Ukraine, and the Baltic States. 2., erw. Aufl. Rīga 2010, 182ff., 312ff., 327ff.; „Lasītākie drukātās preses izdevumi 2010. gadā [Meistgelesene Presseaus- gaben im Jahr 2010]“ (http://www.tns.lv/?lang=lv&fullarticle=true&category=showuid&id=3341, 09. Dezember 2010); „TV kanālu auditorijas 2010. gadā [Zuschauerschaft der Fersehkanäle im Jahr 2010]“ (http://www.tns.lv/?lang=lv&fullarticle=true&category=showuid&id=3351, 10. Januar 2011); Dimants, Ainārs: „Krievijas masu mediji Latvijā [Russische Massenme- dien in Lettland]“. In: Acta Prosperitatis: Biznesa augstskola Turība, Zinātniskie raksti, Nr. 1/2010: Komunikācija publiskajā telpā [Kommunikation im öffentlichen Raum], 31ff.; Spriņģe, Inga, Sallija Benfelde und Miks Salu: „Nezināmais oligarhs“ [Unbekannter Oli- garch]. In: Ir, 15/2012, 16f.

14 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt

Undurchsichtige Eigentumsverhältnisse

Die Eigentumsverhältnisse in der lettischen Medienlandschaft sind ausgesprochen undurch- sichtig. Die Öffentlichkeit kann praktisch nur aus entsprechenden Medieninhalten erahnen, welche Eigentümer hinter den jeweiligen Medien stehen. Bis Oktober 201119 bestand zudem keine gesetzliche Pflicht, die Eigentümerschaft zu offenbaren. Auf diese Weise wird nicht nur der faire Wettbewerb auf dem Medienmarkt durch politisch motivierte Subventionen ruiniert. Durch unkritisches parteipolitisches Engagement der Medien und ohne die notwendige Transparenz bezüglich der Eigentümerschaft und der Einhaltung professioneller Prinzipien geht die Glaubwürdigkeit der Medien für die Wahrnehmung ihrer zentralen Rolle in einer funktionierenden Demokratie, die Lieferung unabhängiger Information nämlich, verloren.20 War der lettische Gesetzgeber schon gemäß dem bisherigen (übrigens noch aus dem Unab- hängigkeitsjahr 1991 stammenden) Medienrahmengesetz nicht imstande, die Offenlegung der Eigentumsverhältnisse im Medienbereich bis auf die Ebene des eigentlichen Nutznießers (true beneficiary) einzufordern,21 konnte von einer tatsächlichen Gewährleistung dieser Anforde-

19 „Grozījumi likumā ,Par presi un citiem masu informācijas līdzekļiem‘ [Änderungen des Gesetzes ‚Über die Presse und anderen Massenmedien‘]“ (http://www.likumi.lv/doc.php?id=237253, 07. Oktober 2011). 20 „Zema uzticība medijiem [Geringes Vertrauen in die Massenmedien]“. In: Diena, 19. Sep- tember 2009; Dimants, Ainārs: „Transparenz im Mediensektor. Erfahrung in Lettland und in Europa.“ In: Axel Reetz (Hg.): Aktuelle Probleme postsozialistischer Länder: Das Bei- spiel Lettland. Wittenbach SG 2007, 129–133. Da dieses Problem insbesondere die Tages- presse betrifft, korreliert damit das sinkende Vertrauen der lettischen Bevölkerung in die Zeitungen, was die regelmäßigen Eurobarometer-Umfragen der Europäischen Kommission seit 2004 belegen; das Vertrauen sank von 2004 bis 2008 um 6 Prozentpunkte (in Litauen um 2 Prozent, während es in Estland es um 4 Prozent zunahm). Weiter korreliert es auch mit der sinkenden verkauften Auflage. Näher dazu siehe Kalniņa, Ruta: Auditorijas uz- ticēšanās Latvijas laikrakstiem [Vertrauen der Leserschaft in lettische Zeitungen]. Diplom- arbeit, Turība University, Fakultät für Öffentlichkeitsarbeit, Lehrstuhl für Kommunikati- onswissenschaften; Rīga 2009. 21 Vgl. u. a. „Kāpēc svarīgi zināt patiesos mediju īpašniekus [Warum es wichtig ist, die ei- gentlichen Eigentümer der Medien zu kennen]“ (http://lv.ejo-online.eu/?p=601#more-601 (08. März 2011), 02. Mai 2011); Vilemsons, Mārtiņš: „Saeima atbalsta ideju atklāt mediju īpašniekus un patiesā labuma guvējus [Saeima unterstützt die Idee, die Medieneigentümer und eigentlichen Nutznießer offenzulegen]“ (leta.lv, 21. Juli 2011). (Anmerkung: Leta.lv ist ein kommerzielles Angebot der Nachrichtenagentur LETA, u. a. für abonnierte Firmen- kunden. Da es für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, wird hier auf die Wiedergabe vollständiger URLs verzichtet. Ausdrucke der zitierten Meldungen befinden sich im Besitz des Verfassers.)

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 15 Ainārs Dimants rung schon gar nicht die Rede sein: Nach wie vor gibt es in Lettland Medien, deren Eigentü- mer Offshore-Firmen sind und die Öffentlichkeit scheuen, darunter sogar die inzwischen größte lettische Tageszeitung Latvijas Avīze.22 Dies betrifft auch die Offenlegung der verkauf- ten Auflagen und insbesondere der Abonnentenzahlen. Selbst der Verband der Presseverleger in Lettland war nicht zu einer Einigung imstande.23 Das Beispiel Diena, die zurzeit vor allem mit dem dritten der lettischen Oligarchen, Minister a. D. Ainārs Šlesers, verbunden wird,24 gilt inzwischen als Lackmustest für das lettische Me- diensystem am Scheideweg zwischen Autoritarismus, Unterordnung und Instrumentalisierung auf der einen Seite und auf der anderen Seite einer selbstständigen Rolle mit ihrer spezifi- schen Funktion im Rahmen der Organisation der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssys- tems25 in einer funktionierenden modernen Demokratie.26 Das gesellschaftliche Subsystem

22 Jemberga, Sanita: „Kam pieder mediji? [Wem gehören die Medien?]“. In: Ir 16/2010, 19; Brauna, Anita: „200 tūkstoši! Darījums noslēgts! [Zweihunderttausend! Geschäft abge- schlossen!]“. In: Ir 19/2011, 13; Rulle, Baiba: „Kontrole Ventbunkerā dod tālāku ietekmi [Kontrolle über ‚Ventbunkers’ gibt weiteren Einfluss]“. In: Diena, 31. März 2010. 23 Ščerbinskis, Guntis: „Uzpūstu skaitļu burbulis plīsīs: Preses izdevējiem jāvienojas par skaidriem datu uzskaites un atspoguļošanas principiem [Aufgeblähte Zahlenblasen werden platzen: Presseverleger müssen sich auf klare Prinzipien für Datenerfassung und -wiedergabe einigen]“. In: Latvijas Avīze, 17. März 2010. 24 Zumindest im Oktober 2010 gehörten ihm angeblich 36 Prozent der Aktien der Tageszei- tung Diena, 24 bzw. 20 Prozent kontrollierten Andris Šķēle und Aivars Lembergs; vgl. u. a. „KNAB naktī uz ceturtdienu veicis kratīšanu ,Dienā‘ [In der Nacht zum Donnerstag führte KNAB [die lettische Korruptionsbekämpfungsbehörde; der Verf.] eine Durchsu- chung bei ‚Diena‘ durch]“ (http://www.ir.lv/2011/5/27/knab-nakti-uz-ceturtdienu-veicis- kratisanu-diena, 10. Juli 2011); „Portāls: ,Oligarhu lieta‘ rāda – ,Dienu‘ caur RTO nopir- kuši trīs ,A‘ [Portal: Sache ‚Oligarchen‘ zeigt – ‚Diena‘ wurde über RTO [Rigaer Handels- hafen GmbH] von den drei ‚A‘ [Ainārs, Andris, Aivars bzw. Šlesers, Šķēle, Lembergs; der Verf.] gekauft]“ (http://www.delfi.lv/news/national/politics/portals-oligarhu-lieta-rada- dienu-caur-rto-nopirkusi-tris-a.d?id=41125991, 12. Oktober 2011); Kluinis, Arnis: „Noplūdina stāstu par ,Dienas‘ īpašniekiem [Geschichte über Eigentümer von ‚Diena‘ wird verraten]“. In: Neatkarīgā Rīta Avīze, 13. Oktober 2011; Ščerbinskis, Guntis: „Pārbauda oligarhu sarunu noplūdi [Durchsickern der Gespräche von Oligarchen wird überprüft]“. In: Latvijas Avīze, 26. Oktober 2011. 25 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 2., erw. Aufl. Opladen 1996, 173. 26 Hier geht es um eine nationale und internationale sozialwissenschaftliche Bewertung des Zustands der Demokratie nach gewissen Parametern gemäß der international anerkannten Methodologie von IDEA – Institute for Democracy and Electoral Assistance mit Sitz in Stockholm, Schweden; vgl. z. B. Rozenvalds, Juris (Hg.): How Democratic is Latvia? Mo- nitoring of Democracy 2005–2007. Rīga 2007.

16 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt der Medien muss seine Autonomie u. a. vom politischen und vom ökonomischen Subsystem wahren und hohe Qualitätsstandards erfüllen, um die ihm zukommende Funktion des Dirigie- rens der Selbstbeobachtung der gesamten Gesellschaft leisten zu können. Nach dem 3. Juli 2009 hieß es zunächst, die Finanzierfamilie Rowland aus Großbritannien werde neue Eigentümerin des Medienkonzerns Diena.27 Diese Behauptungen gaben umge- hend Anlass zu berechtigten Zweifeln. Pauls Raudseps, der bis zu seinem Rücktritt am 9. Ok- tober 2009 als Redakteur die Meinungsseite der Zeitung Diena verantwortete, schrieb für das Flaggschiff der Bonnier Group, die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter, dass „the widely respected British magazine The Economist wrote about Diena’s sale and noted that the Rowland family ‚declines to say whether it is the ultimate beneficial owner‘ of Diena. In other words, despite all the waiting and the drama, we really had not moved any closer to discover- ing who is the real owner of Diena.“28 Die substanziellen Eigentumsfragen blieben anfangs ungeklärt: „Diena has made many enemies among the rich and powerful people who control a significant percentage of Latvia’s politics and economy. It was an open secret that these so- called ,oligarchs‘ were interested in buying Diena so that they could shut its mouth. Maybe they were behind this deal? Or maybe a resurgent Russia might be interested in silencing one of Latvia’s most powerful pro-Western voices?“29 Zunächst wurde Diena als unabhängige, politisch liberale Zeitung neutralisiert. Zu mehr Klarheit kam es ein Jahr später, insbesondere vor den nationalen Parlamentswahlen am 2. Oktober 2010: Am 12. Juli wurden in der Chefredaktion politisch engagierte, mit den jeweiligen

27 Sloga, Gunta: „Neskaidrību plīvurs nenokrita: Tralmaks nevar dokumentāli apliecināt, ka Roulendi ir Dienas īpašnieki [Schleier der Unklarheiten fiel nicht: „Tralmaks [Direktor; Anm. d. Verf.] kann nicht dokumentarisch bestätigen, dass Rowlands die Eigentümer von ‚Diena‘ sind]“. In: Diena, 10. Oktober 2009; dies.: „Roulendu ģimenei nav saistības ar mediju biznesu [Familie Rowland hat keine Beziehungen zum Mediengeschäft]“. In: Die- na, 10. Oktober 2009; Krūmiņa, Linda: „Ar Dienu un DB plāno pelnīt: Dž. Roulends: vie- nošanās noteic, ka laikrakstu neatkarību nedrīkst apdraudēt [Man plant, mit ‚Diena’ und ‚D[ienas] B [izness]‘ zu verdienen: J. Rowland: Übereinkommen bestimmt, dass man die Unabhängigkeit der Zeitungen nicht gefährden darf]“. In: Diena, 15. Oktober 2009; „Vai tad mēs slēpāmies? Džonatans Roulends intervijā Dienas reportierei Vitai Dreijerei un db.lv redaktorei Dacei Preisai [Hatten wir uns wirklich versteckt? Jonathan Rowland im Interview mit Reporterin Vita Dreijere von ‚Diena‘ und Redakteurin Dace Preisa von db.lv]“. In: Diena, 17. Februar 2010. 28 Raudseps, Pauls: „Bonnier kastade Lettlands bästa tidning på sophögen“. In: Dagens Ny- heter, 03. Dezember 2009. 29 Ebd.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 17 Ainārs Dimants politischen Gruppierungen verbundene Personen eingestellt, die erst nach heftigen Protesten der Redaktionsmitarbeiter abgelöst wurden – am gleichen Tag, als der finanziell schwer belastete und mit Ainārs Šlesers engstens verbundene lettische Unternehmer Viesturs Koziols offiziell die Aktienmehrheit der Familie Rowland übernahm.30 Der gegenüber „nationalen Unternehmern“, die angeblich vor den Parlamentwahlen die späteren Oppositionsparteien vertreten hatten, freundliche Ton der Zeitung war bereits gegeben und der Schaden dieser hinsichtlich des Medienmanagements äußerst unprofessionellen Aktivitäten war nicht mehr zu beheben – mit Recht gilt Diena heute als das Sprachrohr der Oligarchen.31 Anfang 2012 be- stätigte die zum Teil Viesturs Koziols, welcher zuvor die Aktien der Rowlands vollständig übernommen hatte, gehörende Rīgas Tirdzniecības osta GmbH (Rigaer Handelshafen) ihre

30 „Izmaiņas Dienas mediju vadībā [Veränderungen in der Leitung von ‚Dienas mediji‘]“. In: Diena, 13. Juli 2010; Jemberga, Sanita: „Pasaka par Dienu [Das Märchen über ‚Diena‘]“. In: Ir 16/2010, 15–19; Dreijere, Vita und Guna Gleizde: „Mainās Dienas īpašnieks: Kozi- ols atzīst: viņa draugs ir Šlesers, taču tādēļ acis nepievēršot [Eigentümer von ‚Diena‘ wechselt: Koziols gibt zu: Šlesers ist sein Freund, das ist aber kein Grund, ein Auge zuzu- drücken]“. In: Diena, 06. August 2010; Lapsa, L[ato]: „Koziola biznesa rādītāji: uzņēmē- jam nevarēja būt savas naudas Dienas iegādei [Geschäftsdaten von Koziols: Unternehmer konnte kein eigenes Geld für den Kauf von ‚Diena‘ haben]“ (http://www.pietiek.com/raksti/koziola_biznesa_raditaji_uznemejam_nevareja_but_savas_ naudas_dienas_iegadei (22. November 2010), 04. Mai 2011); dies.: „Koziola uzņēmumi iedzīvojušies milzu parādos [Unternehmen von Koziols stürzten sich in riesige Schulden]“ (http://www.pietiek.com/raksti/koziola_uznemumi_iedzivojusies_milzu_parados (24. No- vember 2010), 04. Mai 2011). 31 Dazu u. a. Rulle, Baiba: „Šķēles runasvīrs Romāns Meļņiks kļuvis par Dienas mediju val- des locekli [Pressesprecher von Šķēle, Romāns Meļniks, Vorstandsmitglied von ‚Dienas mediji‘ geworden]“ (http://www.pietiek.com/raksti/skeles_runasvirs_melniks_kluvis_par_dienas_mediju_valde s_locekli (28. Januar 2011), 04. Mai 2011); Koziols, Viesturs: „Attīstīsimies un pilnveido- simies [Wir werden uns entwickeln und vervollständigen]“. In: Diena, 31. Januar 2011; „A/S Dienas mediju redaktoru atklātā vēstule [Offener Brief der Medienredakteure der Diena AG]“ (http://www.diena.lv/sabiedriba/politika/a-s-diena-mediju-redaktoru-atklata- vestule-765945 (02. Februar 2011), 29. April 2011); Krauze, Arnis und Anete Ugaine: „Bojārs: par Koziolu, viņa darījumiem un parādiem mēs nerakstīsim [Bojārs[Chefre- dakteur; Anm. d. Verf.]: Über Koziols, seine Geschäfte und Schulden werden wir nicht schreiben]“ (http://mansmedijs.lv/saturs/bojars-par-koziolu-vina-darijumiem-un-paradiem- mes-nerakstisim (22. Februar 2011), 07. März 2011); „Portāls: ,Oligarhu lieta‘ rāda – ,Dienu‘ caur RTO nopirkuši trīs ,A‘ [Portal: Die Sache ‚Oligarchen‘ zeigt – ‚Diena‘ wurde über RTO [Rigaer Handelshafen GmbH] von den drei ‚A‘ [Ainārs, Andris, Aivars bzw. Šlesers, Šķēle, Lembergs] gekauft]“ (http://www.delfi.lv/news/national/politics/portals- oligarhu-lieta-rada-dienu-caur-rto-nopirkusi-tris-a.d?id=41125991, 12. Oktober 2011).

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Eigentumsrechte an der Aktiengesellschaft Diena, und Koziols selbst verließ den Vorstand.32 Offiziell aber blieben die natürlichen Personen hinter dem Geschäft mit dem größten letti- schen Medienunternehmen nach wie vor unbekannt.

Investitionen und Werbeeinahmen

Die Weltwirtschaftskrise, welche auch Lettland hart traf, hatte ihr Gutes und Schlechtes: Die Redakteure und Journalisten, die Diena verlassen hatten, gründeten am 8. April 2011 mit Ir ein neues, erfolgreiches Nachrichtenmagazin, das auch über eine eigene Internetplattform verfügt,33 und zwar unter Offenlegung aller Aktionäre sowie der jeweiligen ethischen Kodizes der Journa- listen und Aktionäre.34 Ein Abkommen zwischen dem Redaktionsrat und den Eigentümern über die redaktionelle Autonomie existiert nur noch bei der Zeitung Latvijas Avīze.35 Im Gegensatz zu den anfänglichen Prognosen hinsichtlich des Beitritts zur Europäischen Uni- on kam es während der Weltwirtschaftskrise anstelle westlicher Investitionen im Medienbe- reich – welche zum Teil sogar abflossen – zunächst zu Investitionen aus Russland, und auch der Anteil der nationalen Investoren, teils aus dem eigenen Medienmanagement, wuchs erheb-

32 „Koziols ieguvis savā īpašumā iepriekš Roulendiem piederošās ,Dienas‘ akcijas [Koziols hat die zuvor den Rowlands gehörenden Aktien von ‚Diena‘ erworben]“ (Nozare.lv, 01. Februar 2012); „Lembergs: ,Diena‘ man nepieder ne tieši, ne pastarpināti [Lembergs: ‚Diena‘ gehört mir nicht, weder unmittelbar noch durch Vermittlung]“ (Nozare.lv, (23. Februar 2012), 12. März 2012); „AS Diena ievēlēta jauna valde“ [Neuer Vorstand bei Diena AG gewählt]. In: Diena, 18. April 2012. 33 „Par graudiem! Vēstule lasītājiem [Für die Körner! Brief and die Leser]“. In: Diena, 10. Oktober 2009; Burve-Rozīte, Anda und Ieva Alberte: „Izliek uz ielas. Dažās minūtēs: No Dienas aizgājušajiem pārbauda mantas, liedz tikties ar bijušajiem kolēģiem [Man setzt sie auf die Straße. In wenigen Minuten: Man untersucht die Sachen derer, die ‚Diena‘ verlas- sen haben, verbietet ihnen, ihre ehemaligen Kollegen zu treffen]“. In: Diena, 10. Oktober 2009; Stepe, Sandra: „Žurnāla ,Ir‘ un interneta projektā ,Ir.lv‘ izveidē ieguldīti 130 000 la- tu [130 000 Lats in Gründung von Zeitschrift ‚Ir‘ und Internetprojekt Ir.lv investiert]“ (No- zare.lv (07. April 2010), 08. April 2010); Jemberga, Sanita: „Kā no ,bija‘ sanāca ,ir‘: Šis ir stāsts par to, kā sešu mēnešu laikā tapa jauns žurnāls un interneta sarunu terminālis Ir.lv [Wie aus ‚War‘ ‚Gibt‘s‘ wurde: Eine Geschichte darüber, wie in sechs Monaten eine neue Zeitschrift und der Internet-Terminal Ir.lv entstanden]“. In: Ir 1/2010, 28f. 34 „Par ir.lv [Über Ir.lv]“ (http://www.ir.lv/par (08. April 2010), 04. Mai 2010); „Ētikas ko- dekss [Ethischer Kodex]“ (http://www.ir.lv/kodekss (08. April 2011), 04. Mai 2011). 35 Rožukalne, Anda: „Plašsaziņas līdzekļu īpašnieki: regulācija, problēmas, risinājumi [Ei- gentümer der Massenmedien: Regulierung, Probleme, Lösungen]“ Präsentation auf der Tagung der lettischen Journalistenassoziation in Rīga, 13. Juni 2011.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 19 Ainārs Dimants lich. Nach dem Ende der lettischen Wirtschaftskrise trat 2011/2012 jedoch der zunächst prog- nostizierte Trend wieder zutage. So verkaufte die News Corp. von Rupert Murdoch (USA) den führenden Fernsehsender LNT (Latvijas Neatkarīgā Televīzija – Unabhängiges Fernsehen Lettlands) und den russischspra- chigen Fernsehkanal TV5, welche sie im Mai 2007 bzw. 2008 erworben hatte, im März 2010 an das Management des Senders unter Führung von Andrejs Ēķis.36 Noch krasser als im Fall Diena wurden die beiden Sender, insbesondere LNT, ganz offen für die Wahlkampagne der- selben Oligarchen (Andris Šķēle, Ainārs Šlesers und auch Aivars Lembergs) sowie der auf Russland orientierten Partei Saskaņas centrs instrumentalisiert.37 Dieser Trend galt im Hin- blick auf russisches Engagement übrigens auch für Litauen. Im März 2011 gab es allerdings auch eine gegensätzliche Nachricht: Der renommierte norwe- gische Medienkonzern Schibsted hatte das zweitgrößte lettische Nachrichtenportal Tvnet.lv, das auch mit LNT verbunden war, erworben, und es gab Hoffnung auf die redaktionelle Au- tonomie dieses Mediums;38 im September 2011 kaufte der finnische Medienkonzern Sanoma News das drittgrößte lettische Nachrichtenportal Apollo.lv;39 und im Mai 2012 erlaubte das lettische Kartellamt die Übernahme von LNT und TV5 (welche in der Lage sind, dem PBK Konkurrenz zu machen) durch die schwedische Modern Times Group.40

36 Stepe, Sandra: „Telekompānijas LNT un ,TV5‘ iegādājies menedžments [Fernsehsender LNT und TV5 vom Management gekauft]“ (Nozare.lv (10. März 2010), 11. März 2010). 37 Cālīte-Dulevska, Aija: „Ētera valdnieks vai ,zicdirektors‘: Aiz nacionālās mediju kompāni- jas, iespējams, slēpjas polittehnologu bizness [Herrscher des Äthers oder ,Sitzdirektor‘: Hinter dem nationalen Medienunternehmen steckt möglicherweise ein Geschäft der Polit- technologen]“. In: Latvijas Avīze, 13. März 2010; Stepe, Sandra: „Ēķis iecerējis veidot vietējo mediju apvienību [Ēķis plant die Vereinigung lokaler Medien]“ (Nozare.lv (23. März 2010), 31. März 2011); Jemberga, Sanita: „Aizveriet muti! [Mund zu!]“. In: Ir 2/2011, 15–18. 38 Lunde, Zita: „Portālu TVNET iegādājies mediju koncerns ,Schibsted‘ [Portal TVNET vom Medienkonzern Schibsted gekauft]“ (http://www.tvnet.lv/zinas/latvija/369730-portalu_tvnet_iegadajies_mediju_koncerns_schibsted (15. März 2011), 05. Mai 2011); Rožukalne, Anda: „Mīli savu īpašnieku kā ... [Liebst Dei- nen Eigentümer als...]“ (http://politika.lv/article/mili-savu-ipasnieku-ka (03. März 2011), 05. Mai 2011); Jemberga, Sanita: „Ko vēl vērts pirkt? [Was ist noch wert zu kaufen?]“. In: Ir 2/2011, 19. 39 „Somijas mediju koncerns ,Sanoma News‘ iegādājies portālu ,Apollo.lv‘ [Portal Apollo.lv vom finnischen Medienkonzern ,Sanoma News‘ gekauft ]“ (leta.lv, 16. September 2011). 40 „Konkurences padome atļauj MTG pārņemt LNT [Wettbewerbsrat erlaubt der MTG, LNT zu übernehmen]“ (leta.lv, 11. Mai 2011).

20 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt

Den skandinavischen Investitionen im Medienbereich und denen des estnischen Medienmag- naten Hans Luik (Ekspress Grupp), dem neben der zweitgrößten estnischen Tageszeitung Eesti Päevaleht sowie der größten Wochenzeitung Eesti Ekspress u. a. auch das größte Nach- richtenportal in den baltischen Staaten, Delfi, gehört,41 ist es zu verdanken, dass die innere Pressefreiheit in Estland nicht so bedroht ist, wie sie es insbesondere in Lettland ist. Die jour- nalistische Kultur in estnischen Medienunternehmen unterscheidet sich in dieser Hinsicht von der lettischen maßgeblich: Unter anderem wird die redaktionelle Autonomie wird in Estland, anders als in Lettland, gewährleistet. Während man in Lettland von einem echten Wettbewerb auf dem Tageszeitungsmarkt zwi- schen Diena und Latvijas Avīze sprechen kann, da die Wirtschaftskrise und die strukturellen Veränderungen der Medienlandschaft (Stichwort Onlinemedien) die zuvor dominierende grundsätzliche Aufteilung beider Zeitungen zwischen Stadt und Land im Wesentlichen auf- hoben, ist der Pressemarkt in Estland oligopolistisch strukturiert: Die Ekspress Grupp von Hans Luik und die Eesti Media des norwegischen Schibsted-Konzerns haben praktisch den gesamten Markt unter sich aufgeteilt. Die größte Tageszeitung Postimees (Der Postbote) und die fünf größten estnischen Regionalzeitungen gehören Eesti Media, die zweitgrößte Tages- zeitung Eesti Päevaleht sowie die beiden größten Wochenzeitungen Eesti Express und Maa- leht (Das Landblatt) zur Express Grupp. Den beiden Konzernen gehören auch jeweils 50 Pro- zent des einzigen überregionalen Boulevardblatts Õhtuleht (Abendblatt), der größte Zeitschriftenverlag, der 23 Zeitschriften herausgibt, sowie vier Webportale. Seit der Wirt- schaftskrise gibt es in Estland auch keine selbstständigen russischsprachigen Tageszeitungen mehr (verblieben ist nur die russischsprachige Ausgabe des Postimees); vielmehr orientiert sich der Medienkonsum der russischsprachigen Bevölkerung in Estland nach Russland.42 In Lettland sondierte ein in Schweden als fragwürdig geltender russischer Investor, der Milli- ardär Vladimir Antonov, welcher 2009 bereits 34 Prozent der zweitgrößten litauischen Zei- tung Lietuvos rytas (Der litauische Morgen)43 zusammen mit dem gesamten Medienunter-

41 Pāsa, Kadri: „Mediju haizivs [Haifisch der Medien]“. In: Ir 8/2001, 39–41; Jemberga 2011, wie Fußnote 37, 18; vgl. Luit, Urmas, Epp Lauk und Halliki Harro-Loit: „Estonia: Frag- mented Accountability“. In: Tobias Eberwein (Hg.) 2011, wie Fußnote 5, 38. 42 Vgl. Luit/Lauk/Harro-Loit 2011, wie Fußnote 41, 38. 43 Wobei, zumindest bisher, ein Charakteristikum des litauischen Mediensystems darin be- steht, dass gerade auf dem Markt der überregionalen Tagespresse (nicht so im Fernsehbe- reich usw.) kein westliches Kapital vertreten ist. Zudem lässt sich im Unterschied zu Est- land und Lettland im Falle Litauens kaum von seriöser Presse sprechen. Die größte Tageszeitung Respublika ist eine populistische Boulevardzeitung; vgl. Vaišnys, Andrius:

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 21 Ainārs Dimants nehmen kaufte,44 ganz im Sinne der offiziellen russischen Doktrin der „Soft Power“ im so genannten Nahen Ausland (ehemalige Sowjetrepubliken)45 über die ihm gehörende litauische Snoras Bank die Investitionsmöglichkeiten auch in den lettischen Medien. Erfolg hatte er bei der seriösen russischsprachigen Tageszeitung Telegraf sowie der neuen Musikstation Radio 101;46 diese beiden, insbesondere der Telegraf, waren aber nach dem Zusammenbruch von Antonovs Bank im November 2011 schweren Turbulenzen ausgesetzt. Die Zeitung ging zu- nächst in den Besitz des usbekischen Staatsbürgers Yashar Kasumov über,47 dann wurde sie, wie auch der Medienkonzern Petits mit den russischsprachigen Zeitungen Čas und Subbota sowie der Medienkonzern Fenster mit Vesti segodnja und Vesti, mehrheitlich von dem russi- schem Milliardär Andrej Molčanov übernommen.48 Auf diese Weise kam es also zu einer uneingeschränkten Konzentration aller Rīgaer russischsprachigen Tageszeitungen in einer einzigen Hand in Russland. Die Weltwirtschaftskrise und die strukturellen Veränderungen auf dem Medienmarkt durch die zunehmende Verbreitung der Onlinemedien (sowohl Internetplattformen als auch elek- tronische Versionen der traditionellen Medien) führten einerseits zu einem drastischen Rück- gang der Werbeeinnahmen der Medien insgesamt und zu einem deutlichen Wachstum des Werbemarkts für Onlinemedien andererseits; zu Letzteren gehören auch die sogenannten So- zialen Medien wie das im Wettbewerb mit Facebook sehr erfolgreiche lettische Portal Drau-

„University journalism study programme in the context of higher education and science re- form“. In: Journalism Research / Žurnalistikos tyrimai, Nr. 2/2009, 90. 44 Jastramskis, Deimantas: „Economic situation of Lithuanian media“. Präsentation auf der Tagung der Baltic Association for Media Research (BAMR) in Tartu, 07. Mai 2010; Jem- berga, Sanita: „Krievijas nauda Baltijas medijos [Russisches Geld in den Medien des Bal- tikums]“. In: Ir 2/2011, 18f. 45 Vgl. dazu z. B. Pelnēns 2010, wie Fußnote 18, 38ff. 46 Jemberga, Sanita: „Ko jau kontrolē Antonovs? [Was wird schon von Antonov kontrol- liert?]“. In: Ir 2/2011, 18; „Lietuvieši nāk mediju biznesā [Litauer kommen ins Medienge- schäft]“. In: Diena, 07. August 2010. 47 Rutule, Elizabete: „Notikušas izmaiņas ,Telegraf‘ valdē [Veränderungen im Vorstand von ‚Telegraf‘ stattgefunden]“ (Nozare.lv, (28. März 2012), 07. Mai 2012); Kursiša, Gunta: „,Telegraf‘ pilnībā iegādājies Uzbekistānas pilsonis, līdzšinējā valde atlaista [‚Telegraf‘ vollständig von einem usbekischen Staatsbürger gekauft, der bisherige Vorstand entlas- sen]“ (http://www.db.lv/citas-zinas/telegraf-pilniba-iegadajies-uzbekistanas-pilsonis- lidzsineja-valde-atlaista-251834 (07. Februar 2012), 07. Mai 2012); „,Telegraf‘ varētu ap- vienoties ar ,Čas‘ [‚Telegraf‘ und ‚Čas‘ könnten sich zusammenschließen]“ (Nozare.lv, (06. Februar 2012), 07. Mai 2012) 48 Siehe u. a. Ivanovs, Sergejs: „Plāns B“ [Plan B]. In: Ir 33/2012, 18–19; Dragiļeva, Olga: „Klusais monopols“ [Stilles Monopol]. In: Ir, 49/2012, 18ff.

22 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt giem.lv. Der Werbemarkt der Medien in den baltischen Staaten schrumpfte 2009 um 41 Pro- zent (Lettland 46 Prozent, Litauen 39 Prozent, Estland 36 Prozent)49 und 2010 noch einmal um weitere 7 Prozent (Lettland 13 Prozent, Litauen 2 Prozent, Estland 7 Prozent), wobei der Werbemarkt der Onlinemedien 2010 um acht Prozent zulegte.50 2011 wuchs der lettische Werbemarkt wieder um fünf Prozent, woran Onlinemedien (17 Prozent) und Zeitschriften (15 Prozent) den größten Anteil hatten; das Fernsehen beherrschte mit 45 Prozent nach wie vor den Werbemarkt.51 Dramatische Veränderungen wie diese machen die Medien grundsätzlich stärker vom Verkauf der Inhalte und weniger von der Werbung abhängig. Auch Zeitungen, die relativ viele Abon- nenten und gleichzeitig ein relativ hohes Niveau an Seriosität bzw. redaktioneller Autonomie besitzen, wie z. B. Latvijas Avīze, profitierten davon. Mit der Verbesserung der wirtschaftli- chen Lage und der damit verbundenen wachsenden Nachfrage erwächst eine Chance für Qua- litätsmedien, die sich auch dem investigativen Journalismus widmen. Ein gutes Beispiel dafür ist das neu entstandene lettische Nachrichtenmagazin Ir mit seiner seriösen, unabhängigen und fundierten Berichterstattung, zudem ist sein Angebot im Internet nicht kostenlos. Über- haupt geben Nachrichtenmedien im Internet immer mehr den Ton in der lettischen Medien- landschaft an. Gleichzeitig wächst aber auch der massive Druck von Öffentlichkeitsarbeit/PR auf die Me- dien, die unter einer drastischen Reduktion der Personalkosten in den Redaktionen leiden – in Lettland um 40 Prozent und mehr. Ein katastrophales Beispiel dafür ist die Nachricht eines angeblich in Lettland niedergegangenen großen Meteoriten am 25. Oktober 2009, die im Rah- men einer Marketing-Kampagne des Mobilfunkunternehmens Tele 2 in die Welt gesetzt wur-

49 „Baltijas mediju reklāmas tirgus 2009. gadā samazinājies par 41% [Baltischer Werbemarkt der Medien schrumpfte 2009 um 41 %]“ http://www.tns.lv/?lang=lv&fullarticle=true&category=showuid&id=3164&mark=2009.|gadā (29. März 2010), 29. März 2013); vgl. auch Brikše, Inta (Hg.): Information environment in Latvia: 2009. Rīga 2010 (= Department of Communication Studies of the University of Latvia; Working papers: Communication studies 2010:1), 38ff. 50 Baltijas mediju reklāmas tirgus 2010. gadā samazinājies par 7% [Baltischer Werbemarkt der Medien schrumpfte 2010 um 7 %]“ (http://www.tns.lv/?lang=lv&fullarticle=true&category=showuid&id=3418 (22. März 2011), 05. Mai 2011). 51 „Latvian media advertising market has increased by 5 % during the year 2011“ (http://www.tns.lv/?lang=en&fullarticle=true&category=showuid&id=3758 (14. März 2012), 29. Mai 2012).

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 23 Ainārs Dimants de und von den lettischen Medien teils ohne Überprüfung als wahr verbreitet wurde.52 Man hat in den Redaktionen offenbar kein geeignetes Personal und auch keine Zeit mehr, um derlei Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.

Die Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien

Obwohl insgesamt die Pressefreiheit vom Staat garantiert wird, mehrten sich in den letzten Jahren die Anzeichen unberechtigter staatlicher Einmischung in die Arbeit lettischer Journa- listen wie z. B. durch Abhören von Telefongesprächen oder bei Angriffen auf das Redakti- onsgeheimnis. Ein Bespiel hierfür ist der so genannte Fall Neo, bei dem 2010 der Computer der Fernsehjournalistin Ilze Nagla von der Polizei beschlagnahmt wurde.53 Darunter und auch wegen der oben geschilderten Einschränkungen der inneren Pressefreiheit litt das Ansehen des Landes in den Augen von Aufsichtsorganisationen wie Reporters Without Borders und Freedom House – von denen die Pressefreiheit in Lettland gerade in den letzten Jahren nur als eingeschränkt eingestuft wurde.54 In diesem gesellschaftlichen und medienprofessionellen Kontext spielen – insbesondere für kleine Nationen wie die baltischen Staaten – die öffentlich-rechtlichen Medien eine herausra- gende Ankerrolle im jeweiligen Mediensystem. Für die Medienpolitik lautet die Frage: In- wieweit kann der öffentliche Auftrag im Sinne eines Leitmediums durchgesetzt werden – ein-

52 Z. B. auch Līcīte, Madara: „Mazsalacā nokritis meteorīts, izveidojot 20 metrus platu krāteri [Meteorit in Mazsalaza niedergefallen, dabei ein Krater von 20 Metern Breite geformt]“ (leta.lv (25. Oktober 2009), 10. November 2009). 53 „Atklāta Latvijas mediju darbinieku vēstule [Offener Brief der Medienmitarbeiter Lett- lands]“. (http://www.diena.lv/sabiedriba/politika/atklata-latvijas-mediju-darbinieku- vestule-733021 (14. Mai 2010), 05. Mai 2011); „Kratīšana aizskārusi vārda brīvību“ [Durchsuchung verletzte die Redefreiheit]“. In: Diena, 05. Oktober 2010. 54 Im Ranking der Reporters Without Borders blieb Lettland 2012 auf dem Platz 50/51, wo- bei Estland Platz 3 und Litauen Platz 30/31 belegte; vgl. „Latvijas preses brīvība ir iero- bežota, Igaunija augstajā 3. vietā [Pressefreiheit in Lettland eingeschränkt, Estland auf dem hohen 3. Platz]“ (http://www.tvnet.lv/zinas/latvija/408373-latvija_preses_briviba_ir_ierobezota_igaunija_a ugstaja_3vieta, 25. Januar 2012); „Latvija preses brīvības reitingā noslīdējusi līdz 50. vietai [Lettland im Rating der Pressefreiheit auf Platz 50 abgerutscht]“ (leta.lv, 25. Januar 2012). Im Ranking 2013 gelang es Lettland, seine Position bis auf befriedigend und Platz 39 zu verbessern; vgl. „Latvija ievērojami pakāpusies ‚Reportieru bez robežām’ preses brīvības reitingā“ [Lettland beachtlich aufgestiegen im Rating der Pressefreiheit von Reporters Without Borders] (leta.lv, 30. Januar 2013).

24 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt schließlich der Funktion des Agenda Setting für das gesamte Mediensystem bzw. die jeweili- ge Gesellschaft, hoher journalistischer Standards und redaktioneller Autonomie? In den baltischen Staaten sind die Rundfunkanstalten keine öffentlich-rechtlichen Medien im eigentlichen Sinne, sondern staatliche Institutionen – zumal ihre Finanzierung nicht direkt von Beiträgen der Bürger, sondern vom Staatshaushalt, d. h. von der jeweiligen Regierungsmehr- heit abhängig ist. Insbesondere das lettische Fernsehen hatte seit Jahren unter der politisierten Aufsicht durch den Nationalen Rat für Fernsehen und Hörfunk bzw. für die elektronischen Medien55 gelitten, der auch nach dem neuen Gesetz über die elektronischen Massenmedien56 praktisch nach politischem Proporz im Parlament gewählt wird. Gleichzeitig gab es Probleme bei der Gewährleistung der redaktionellen Autonomie, vor allem in der Nachrichtenredakti- on.57 Eine systemische Reform der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten Lettlands wurde nach dem angesehenen finnischen Vorbild vom neugewählten Nationalen Rat für die elektro- nischen Medien im April 2012 eingeleitet,58 braucht jedoch noch die Unterstützung der Regie- rung und des Parlaments. Währenddessen bleiben seit 2010 die Einschaltquoten sogar der

55 Näheres siehe dessen Webseite www.neplpadome.lv; Dimants, Ainārs: „Nenotikusī atgriešanās Eiropā [Die nicht stattgefundene Rückkehr nach Europa]“. In: Latvija Eiropas Savienībā, Nr. 8/2007, 30–31. 56 „Elektronisko plašsaziņas līdzekļu likums [Das Gesetz über elektronische Massenmedien]“ (http://www.likumi.lv/doc.php?id=214039, 29. März 2013); Cālīte-Dulevska, Aija: „Li- kums ir, gandarījuma nav: Valsts prezidents iestājas par latviešu valodas pozīciju nostiprināšanu [Das Gesetz ist da ohne Genugtuung: Staatspräsident fordert Stärkung der Position der lettischen Sprache]“. In: Latvijas Avīze, 26. Juni 2010; „Likumu mudinās uz- labot [Man wird anregen, das Gesetz zu verbessern]“. In: Diena, 22. Juli 2010; Veikša, Ingrīda: „Jauns, bet ne pilnīgs [Neu, jedoch nicht vollständig]“ (http://lv.ejo- online.eu/?p=300 (19. Dezember 2010), 29. März 2013). 57 Zuletzt siehe z. B. Sprance, Indra: „Aizdomas par Gailīša spiedienu uz LTV Ziņu dienestu“ [Verdacht auf Druckausübung auf LTV-Nachrichtendienst durch [seinen Leiter Mareks; der Verf.] Gailītis] (http://www.ir.lv/2010/8/5/aizdomas-par-gailisa-spiedienu-uz-ltv-zinu- dienestu (05. August 2010), 12. März 2013). 58 Zum Konzept siehe „Latvijas Sabiedriskais medijs“ [Öffentlich-rechtliches Medium Lettlands] (http://www.neplpadome.lv/lv/sakums/sabiedriskie-mediji/sabiedriskais-pasutijums/jaunais- sabiedriskais-elektroniskais-medijs/ (08. Februar 2013), 12. März 2013); in Finnland funkti- oniert YLE (Yleisradio Oy) als einheitliche Institution erfolgreich auf drei technologischen Plattformen: im Fernsehen, im Radio und im Internet, wodurch der größte Teil der Öffent- lichkeit erreicht wird.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 25 Ainārs Dimants

Nachrichtensendungen des lettischen Fernsehens hinter den privaten Sendern TV3 und LNT zurück.59

Professionalisierung des Journalismus

Wegen des oben bereits erwähnten enormen Einflusses der PR auf die Medieninhalte60 wächst nicht nur die Bedeutung der redaktionellen Autonomie, sondern auch die Rolle der journalis- tischen Professionalisierung durch Qualität sichernde Strukturen. Dazu gehören journalisti- sche Bildung, die Einrichtung von Berufsverbänden, die Entwicklung einer Fachpresse für die Medienbranche, Medienjournalismus sowie Medienforschung. Diese Infrastrukturen sind ins- besondere in Lettland schwach entwickelt.61 Aus diesem Grunde werden nicht nur in journa- listischen Kreisen große Hoffnungen auf eine aus der Abspaltung des sehr passiven Lettischen Journalistenverbandes hervorgegangene Organisation, die am 25. November 2010 gegründete Assoziation der Journalisten Lettlands, gesetzt.62 Ein Teil dieser Hoffnungen ging bereits durch die in Lettland erstmalige Schaffung einer Ethikkommission für die Aufsicht über einen journalistischen Ethikkodex am 17. Februar 2011 in Erfüllung.63 Darüber hinaus ist seit Ende

59 Dreifelds, Juris: Latvijas preses un citu masu mediju attīstība no 19. līdz 21. gadu simtenim [Entwicklung der Presse und der anderen Massenmedien in Lettland von 19. bis 21. Jahr- hundert]. Unveröffentlichtes Manuskript, Rīga 2012. 60 Vgl. Rožukalne, Anda: „Hidden Advertising in Latvian Media Content: Reasons, Editorial Strategies and Advertiser Practice“. Präsentation auf der 9th Conference on Baltic Studies in Europe, Hochschule Södertörn, 13. Juni 2011. 61 Vgl. Ruß-Mohl, Stephan: Journalismus. Das Hand- und Lehrbuch. Frankfurt a. M. 2003, 339ff.; Dimants 2010, wie Fußnote 9, 201ff.; ders. 2008, wie Fußnote 6, 40f.; zur Situation der professionellen Selbstregulierung in estnischen und litauischen Medien siehe u. a. Bærug 2005, wie Fußnote 1. In Estland gibt es sogar zwei Presseräte und in Litauen außer- dem einen staatlichen Medienombudsmann, in Lettland gab es bisher keinen Presserat. 62 Vgl. Šulmane, Ilze: „Preses žurnālisti Latvijā: starp sistēmām, ietekmēm, praksēm [Pres- sejournalisten in Lettland: zwischen Systemen, Einflüssen, Praktiken]“. In: Laiku atšalkas: žurnālistika, kino, politika: Asociētā profesora Ābrama Kleckina jubilejas iedvesmots krājums [Rauschen aus vergangenen Zeiten: Journalismus, Film, Politik: Eine vom Jubiläum von Professor Ābrams Kleckins angeregte Sammlung]. Rīga 2010, 50f. (http://academia.lndb.lv/xmlui/bitstream/handle/123456789/6/Laiku%20atsalkas.pdf?seque nce=3, 05. Mai 2011). 63 „Žurnālistu asociācija vienojas par ētikas kodeksu [Journalistenverband einigt sich auf Ethikkodex] (leta.lv, 18. Februar 2011).

26 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt

2010 / Anfang 2011 auch die Webseite des Europäischen Journalismus-Observatoriums (Eu- ropean Journalism Observatory – EJO) auf Lettisch abrufbar.64 Die Einigung der Journalisten des Landes auf gemeinsame professionelle Standards wird da- durch erschwert, dass drei unterschiedliche journalistische Kulturen nebeneinander existieren und die Agenda der jeweiligen Medien maßgeblich prägen: 1. Eine moderne bzw. westliche oder angelsächsische journalistische Kultur wird vor al- lem von einem Teil der lettischsprachigen Medien verwirklicht. Sie ist gekennzeichnet durch die Trennung von Nachricht und Meinung bzw. Kommentar des Autors oder der Redaktion, durch die redaktionelle Autonomie gegenüber dem Verleger oder dem Ei- gentümer des Mediums sowie durch eine gesellschaftliche Verantwortung von Me- dienunternehmen (Corporate Social Responsibility). Die Glaubwürdigkeit und die In- halte, die vom Publikum durch den Kauf unterstützt werden, gelten langfristig als das wichtigste Kapital, wobei zum professionellen Selbstverständnis in erster Linie nicht die Erziehung, sondern die Information der Öffentlichkeit gehört;65 2. Die traditionelle russländische bzw. russische journalistische Kultur ist charakteristisch für einen Teil der russischsprachigen Medien. Hier findet keine klare Trennung von Nachricht und Meinung bzw. Kommentar statt. Dies eröffnet größere Möglichkeiten für politische Manipulation nicht nur in Richtung russischer kultureller Identität, son- dern auch in Richtung nationaler Identität Russlands und nicht der baltischen Staaten. 3. Weit verbreitet (und zwar sowohl in den lettischsprachigen als auch in den russisch- sprachigen Medien) ist eine autoritäre bzw. postsowjetische journalistische Kultur. In dieser Kultur ist die Rolle des Journalismus vor allem instrumentell, propagandistisch und nicht selbstständig, wobei die Funktionsweise des Mediums keine Autonomie von den politischen und ökonomischen Subsystemen des gesellschaftlichen Systems66 wahrt. Die Nichttrennung von Nachricht und Meinung bzw. Kommentar ist aber nicht ausgeprägt, d. h. hier werden immerhin minimale professionelle Standards eingehalten. Es ist leicht zu erkennen, dass sich diese journalistischen Kulturen67 vor allem in Lettland überlappen, wobei in Estland und insbesondere in Litauen einerseits der Anteil der russisch- sprachigen Medien kleiner ist und andererseits die professionellen Verbände der Journalisten

64 http://www.parzurnalistiku.lv/; http://lv.ejo-online.eu/, 08. Mai 2013 65 Vgl. Luhmann 1996, wie Fußnote 25, 174. 66 Ebd., 174–175. 67 Vgl. Šulmane 2010, wie Fußnote 62, 44f., 48f.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 27 Ainārs Dimants und Medienverleger etablierter, stärker und einheitlicher sind. Ein bisheriges Charakteristi- kum des lettischen Mediensystems ist es, dass die aus politischer Motivation subventionierten russischsprachigen Medien68 relativ starke Positionen auf dem Medienmarkt besitzen. Das führt auch zu einem relativ hohen Anteil der in Russland produzierten Popmusik, Filme, Talkshows etc. in den russischsprachigen Medien Lettlands. Die Ergebnisse der Publikums- forschung von TNS Latvia und anderer soziologischer Umfragen belegen, dass die russisch- sprachigen Einwohner mehr fernsehen als die ethnischen Letten – zudem meistens (zu etwa 80 Prozent und mehr) die staatlich kontrollierten Programme Russlands –, hingegen aber we- niger Zeitungen – insbesondere Tageszeitungen – lesen und auch weniger Vertrauen in die Druckmedien haben.69 Dasselbe gilt seit Jahren auch für Estland.70 Es zeichnet sich jedoch ein Trend ab: Die Einschaltquoten der privaten lettischen Sender bei den russischsprachigen Einwohnern und allmählich auch deren Anteil unter den Lesern let- tischsprachiger überregionaler Tageszeitungen, Frauenmagazine und Boulevardpresse steigt (etwa 10–15 Prozent der Leserschaft des jeweiligen Mediums).71 Unter den TOP 10 der in der russischsprachigen Bevölkerung am häufigstem gelesenen Druckmedien gibt es keine Quali- tätszeitung mit seriöser, unabhängiger Berichterstattung, was von gewissen Marginalisie- rungstendenzen der russischsprachigen Presse Lettlands zeugt. Die kostenlose, aus dem Letti- schen übersetzte politisch neutrale Nachrichtenzeitung 5min der Bonnier Group war zwischen 2005 und 2010 die von dieser Bevölkerungsgruppe am meisten gelesene Zeitung, das rus- sischsprachige Programm des öffentlich-rechtlichen Radios Lettlands (Latvijas Radio 4) ist unter den russischsprachigen Einwohnern am populärsten, und die in Russland produzierten Druckmedien sind relativ wenig verbreitet – sie nehmen nur etwa ein Viertel des Verkaufsum- fangs der landeseigenen Presseproduktion auf Russisch ein.72 Aus dieser Entwicklung sowie aus der allmählichen Zunahme der Lettisch-Sprachkenntnisse unter den russischsprachigen Einwohnern erwachsen neue Marktchancen sowohl für die libe- ralen, primär journalistisch professionell gemachten und medienwirtschaftlich orientierten

68 Ebd., 50. 69 Näher dazu Dimants 2010, wie Fußnote 18, 29f. 70 Vgl. u. a. Vihalemm, Peter (Hg.): Baltic Media in Transition. Tartu 2002, 283; Simonjan, Renal’d: Rossija i strany Baltii [Russland und die baltischen Staaten]. Moskva 2005, 371f., 413f. 71 Dimants 2010, wie Fußnote 18, 30. Die regelmäßige Publikumsforschung von TNS Latvia zeigte z. B. im Herbst 2010, dass 13 Prozent der Leserschaft der Zeitung Diena zu anderen Nationalitäten als den ethnischen Letten gehören. 72 Ebd., 33f.

28 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Medien in den baltischen Staaten seit dem EU-Beitritt lettischsprachigen als auch für die russischsprachigen lettischen Medien. So zeigt z. B. die russischsprachige Medienlandschaft der zweitgrößten lettischen Stadt Daugavpils (nur etwa 15 Prozent der dortigen Bevölkerung sind ethnische Letten) deutlicher als in Rīga die Stär- kung einer lokalen bzw. regionalen Identität und eine allgemeine politische Orientierung nicht in Richtung Russland, sondern nach Lettland, was mit dem größeren Anteil lettischer Staats- bürger in den Redaktionen erklärt werden kann.73 Es ergeben sich daher zwei unterschiedliche Marketingstrategien für die russischsprachigen Medien: 1. ein ethnisch zentriertes und auf das autoritär regierte Russland orientiertes politisches Engagement, was sich kurzfristig als erfolgreich erweist, mittelfristig und langfristig aber zur Marginalisierung führt, oder 2. eine von journalistischer Professionalität und nachhaltigem Mediengeschäft geleitete Strategie, welche die gemeinsame nationale Identität der demokratischen lettischen staatsbürgerlichen Nation unterstreicht und gleichzeitig die einzelnen ethnischen Inte- ressen vertritt, so wie es etwa von der Qualitätszeitung Telegraf, von weiten Teilen der lokalen russischsprachigen Medien in Daugavpils und von Latvijas Radio 4 praktiziert wird.

Schlussfolgerungen

Vom Standpunkt der ökonomischen Theorie des Journalismus aus betrachtet, bleibt vor allem eine klare Trennung von Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit/PR auf der Ebene der Akteu- re in der professionellen Praxis entscheidend. Insbesondere die Professionalisierung des Jour- nalismus durch die Stärkung Qualität sichernder journalistischer Strukturen erweist sich auch in den baltischen Staaten als Königsweg sowohl für das Erreichen einer höheren journalisti- schen Qualität und damit für die Wahrnehmung der Funktion von Medien in einem demokra- tischen politischen System als auch für die Konsolidierung der nationalen journalistischen Kulturen in den baltischen Staaten in Richtung des demokratisch-korporativen Modells (De- mocratic Corporatist Model) des Mediensystems in Nord- und Mitteleuropa, dem diese histo- risch angehören und dem sie sich seit ihrem Beitritt zur EU 2004 wieder stärker annähern. Benötigt wird jedoch eine zielgerichtete Medienpolitik zur Einschränkung der Medienkon- zentration, zur Offenlegung der Eigentumsverhältnisse der Medienhäuser sowie zugunsten

73 Ebd., 33, 35.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 29 Ainārs Dimants redaktioneller Autonomie und der Neutralisierung staatlicher Unterstützung seitens Russlands für die russischsprachigen Medien in seinen Nachbarländern. Es geht vor allem darum, positi- ve Alternativen zu schaffen, und zwar einerseits für die russischsprachigen Medien, indem westliche Investitionen in solche Medien gefördert und die existierenden Programme für öf- fentlich-rechtliche Medien auf Russisch gestärkt und weiterentwickelt werden, insbesondere im Internet, wie das in Estland erfolgreich getan wurde;74 andererseits sollten auch alternative Medien in der jeweiligen Nationalsprache gefördert werden, etwa durch die Stärkung der Na- tionalsprache in den elektronischen Medien und im Fernsehen sowie durch die Entwicklung der Inhalte im Medienangebot, darunter kontinuierliche Berichterstattung über das Leben der russischsprachigen Minderheiten. Eine solche Medienpolitik ist in Lettland während der letz- ten Jahre von der Regierung sowie durch den im Februar 2012 neugewählten Nationalen Rat für die elektronischen Medien eingeleitet worden. Letzterer nimmt als staatliche Medienan- stalt nicht nur, wie in der EU üblich, eine Regulatorfunktionen für die audiovisuellen Medien wahr, sondern trägt bisher entsprechend dem Gesetz auch den größten Teil der Verantwortung für die Ausarbeitung staatlicher Politik in diesem Bereich und beaufsichtigt die öffentlich- rechtlichen Medien. Die Ergebnisse dieser Politik bleiben vorerst abzuwarten.

74 Pelnēns 2010, wie Fußnote 18, 94.

30 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) „We were here before you“

Indigenität und Nationalismus in Norwegen

Nora Kauffeldt und Edith Timm

Zusammenfassung Laut Benedict Anderson ist der Nationalstaat heute die einzige denkbare Staatsform. Infolge- dessen werden die Kriterien für politische, kulturelle und ökonomische Zugangsmöglichkei- ten nur im Modell imaginierter Gemeinschaften gedacht. Anhand der norwegischen Samen- Politik und der von Norwegen ratifizierten ILO-Konvention Nr. 169 untersuchen wir das Konzept von Indigenität daraufhin, inwiefern es den Nationalstaat beeinflusst. Die Exklu- sion die in einem Nationalstaat zwangsläufig gegenüber Einwanderern und Fremden gesche- hen, so unsere These, werden durch die Erweiterung Norwegens zu einem Zweivölkerstaat weiter bestärkt und erneuert. Denn auch dem Konzept von Indigenität liegt die Prämisse der lang währenden Verbindung zu Grunde.

Abstract According to Benedict Anderson, the nation-state form of community seems to be the only possibility these days. As a consequence, the criteria for political, cultural and economic ac- cess and participation are based upon the model of imagined communities. Taking cue from the Norwegian Sami policy and ILO Convention No. 169, ratified by in 1991, we analyse the concept of indigeneity with regard to its power to influence the nation-state. The exclusions that are inevitably made towards immigrants and strangers are strengthened and renewed through the extension of the Norwegian state as a bi-national state, since the concept of indigeneity is founded on the premise of having also been there in the past.

Nora Kauffeldt studiert im Masterstudiengang Skandinavistik/Nordeuropastudien am Nordeuropa- Institut an der Humboldt-Universität Berlin. Im Frühjahr 2013 erhielt sie das SIU Stipendium des norwegischen Wissenschaftsministeriums für einen Forschungsaufenthalt in Tromsö. Edith Timm stu- diert im Masterstudiengang der Skandinavistik/Nordeuropa-Studien am Nordeuropa-Institut an der Humboldt-Universität zu Berlin.

NORDEUROPAforum (2012:1-2) 31 Nora Kauffeldt und Edith Timm

„We were here before you“1 „Es obliegt der Regierung des Staates, Verhältnisse zu schaffen, die der samischen Volksgrup- pe ermöglichen, ihre Sprache, Kultur und gesellschaftliches Leben zu sichern und weiter zu entwickeln.“2 Die Aufnahme dieses Paragraphen in das norwegische Grundgesetz schuf 1988 die Basis für das heutige Selbstverständnis Norwegens als ein Zweivölkerstaat. Die Samen3 wurden in Norwegen so zu einem zweiten Nationalvolk. Durch die Ratifizierung der ILO-Konvention Nr. 1694 im Jahre 1991 sind sie in Norwegen zusätzlich als indigenes Volk anerkannt. Die Konvention bildet seitdem die Grundlage der norwegischen Samen-Politik. In Schweden, Finnland und Russland hingegen haben die Samen jeweils einen Minderheitenstatus. Norwe- gen ist damit das einziges Land mit einer samischen Bevölkerung, das die Konvention ratifi- ziert hat. Im internationalen Kontext gilt Norwegen mit dieser Politik als besonders vorbild-

1 Thornberry, Patrick: „Who is indigenous?“ In: Frank Horn (Hg.): Economic, Social and Cultural Rights of the Sami. International and National Aspects. 'Proceedings of the Sym- posium on the Economic, Social and Cultural Rights of the Sami, the Maasai and the Ogoni. Bd 2. Rovaniemi 1998, 1 – 37, hier 4. 2 Det paaligger Statens Myndigheder at lægge Forholdene til Rette for at den samiske Fol- kegruppe kan sikre og udvikle sit Sprog, sin Kultur og sit Samfundsliv.” Justis- og be- redskapsdepartementet: Kongeriget Norges Grundlov. LOV-1814-05-17, §110a (http://www.lovdata.no/all/nl-18140517-000.html, 02. November 2012). 3 Im Folgenden verwenden wir die deutsche Bezeichnung ‘Samen’, da uns dies für unser Thema in einer deutschsprachigen Publikation am passendsten erscheint. Wenn es sich um Eigennamen samischer Einrichtungen oder norwegischer Gesetze handelt, verwenden wir die darin vorkommende Bezeichnung unverändert. 4 International Labour Organisation: Konvention Nr. 169. Übereinkommen über eingebore- ne und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern, 1989 (http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/gc169.htm, 02. November 2012). 5 Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) untersteht den Vereinten Nationen und ist für die Schaffung von Richtlinien über Arbeitsbedingungen und deren Überwachung zustän- dig. In dieser Funktion hat die ILO seit den 1950er Jahren auch Richtlinien zum Umgang mit indigenen Arbeitern aufgestellt. Die ILO-Konventionen haben allerdings nur einen Softlaw-Charakter, da sie der nationalen Gesetzgebung unterstehen. Das heißt, die durch die Konvention eingeräumten Möglichkeiten, werden erst durch zusätzliche nationale Ge- setze verbindlich. Vgl. International Labour Organisation: ILO standards and the UN Dec- laration on the Rights of Indigenous Peoples. Information note for ILO staff and partners (http://www.ilo.org/indigenous/Resources/Publications/WCMS_100792/lang-- en/index.htm, 28. März 2013).

32 NORDEUROPAforum (2012:1-2) „We were here before you“ - Indigenität und Nationalismus in Norwegen lich, weshalb diese von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zur Nachahmung emp- fohlen wird.5 Das haben wir zum Anlass genommen, das Konzept von Indigenität, welches der ILO-Konvention Nr. 169 zu Grunde liegt, zu hinterfragen. Die Ratifizierung der Konvention kann alle 10 Jahre zurück genommen werden. Diese Gele- genheit bot sich in Norwegen zum zweiten Mal im September 2011. Zu diesem Anlass fand im Storting (dem norwegischen Parlament) eine Debatte darüber statt, ob die ILO-Konvention Nr. 169 für die Samen weiterhin zur Anwendung kommen oder ein Minderheitenstatus für sie gelten solle. Diese Debatte wurde im Juni 2011 durch den Vorschlag der dem rechten Partei- enspektrum zuzuordnenden Fremskrittspartiet (Samen, Fortschrittspartei, FrP) angestoßen. Darin wurde die Abschaffung des Sonderstatus der Samen als indigenes Volk gefordert. Ein Fachkomitee des Stortings verfasste nach einer Anhörung samischer Interessenvertreter sowie des norwegischen Zentrums für Menschenrechte eine Stellungnahme an das Storting6. In die- ser wurde die Auffassung von der norwegischen Nation als Zweivölkerstaat verteidigt, und damit die aktuelle Samen-Politik unterstützt.7 Als Hauptargument wird die Anwesenheit der Samen zum Zeitpunkt der norwegischen Staatsgründung angeführt. Damit wird die indigene Gemeinschaft, ebenso wie der Nationalstaat, durch eine gemeinsam tradierte Vergangenheit markiert. In unserer Untersuchung setzen wir diese Markierung in ein kritisches Verhältnis zur gesell- schaftlichen Realität Norwegens als ein Einwanderungsland. Dafür haben wir die Kriterien, die die Anerkennung als „indigen“ ermöglichen, daraufhin untersucht, ob sie den National- staat herausfordern oder ihn eher stabilisieren. Entgegen unserer zunächst bestehenden Ver- mutung, die Konvention würde aufgrund der kolonialen Vergangenheit vieler Länder eine gewisse Autonomie indigener Institutionen vom Staat fördern, garantiert sie im Gegenteil eher den Einfluss des Nationalstaats auf diese. Wir wollen deshalb im Folgenden den Umgang Norwegens mit der ILO-Konvention Nr. 169 darstellen und die Auswirkungen des Konzeptes von Indigenität auf den Nationalstaat aufzeigen. Dafür gehen wir auf das norwegische Modell

6 Stortinget: Innst. 134 S (2011–2012) Innstilling til Stortinget fra kommunal- og forvalt- ningskomiteen (http://www.stortinget.no/PageFiles/310879/inns-201112-134.pdf, 02. No- vember 2012). 7 In der darauf folgenden Debatte im Storting im Dezember 2011 wurde der Vorschlag der FrP mit 77 zu 24 Stimmen abgelehnt. Vgl. Stortinget: Stortinget – Møte tirsdag den 20. desember 2011 kl. 10. Votering i sak nr. 1.

NORDEUROPAforum (2012:1-2) 33 Nora Kauffeldt und Edith Timm des Zweivölkerstaates und die daraus resultierenden Probleme sowie auf das Konzept von Indigenität im internationalen Kontext ein. Es folgt ein Überblick der norwegischen Samen- Politik seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, um abschließend die konkrete Anwen- dung der Konvention in Norwegen zu problematisieren.

Norwegen – ein Zweivölkerstaat

Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat deutlich gemacht, dass der Nationalstaat heute als alternativlose Staatsform erscheint.8 Diesem Ansatz folgend stellt auch das norwegi- sche Modell des Zweivölkerstaates lediglich eine Erweiterung des Nationalstaats als Kultur- nation dar. Charakteristisch für dieses Konzept ist, dass der Nationenbildungsprozess in einer Entwicklung „von der Nation zum Staat“9 verläuft. Auf der Grundlage von ethnischer Identi- fizierung entsteht so eine nationale Identität, die dann zum Zweck der Staatsgründung mobili- siert wird.10 In diesem Verständnis von einem Staat als Kulturnation spielt der Begriff des „Volkes“ als eine homogene Gemeinschaft eine besondere Rolle. Auch das heutige samische Selbstverständnis ist in einem nationalistischen Diskurs zu verstehen. So bezeichnen die Sa- men ihre länderübergreifende Gemeinschaft zum Beispiel als Nation Sápmi mit eigener Nati- onalhymne und Flagge. Wie der britische Rechtswissenschaftler Patrick Thornberry in seinem Ausatz „Who is Indigenous?“11 darstellt, unterstützt auch das Konzept von Indigenität, das in der ILO-Konvention Nr. 169 zur Anwendung kommt, den Nationalstaatsgedanken. Denn auch ihm liegt die Prämisse der territorialen Verbundenheit und damit die Privilegierung bestimm- ter Gruppen aufgrund ihrer historisch bedingten Ansässigkeit zugrunde. Dieser Prozess funk- tioniert tendenziell ausschließend, da die Gemeinsamkeiten der Nationalität nur für eine be- grenzte Gruppe zutreffen. Daher kommt es zwangsläufig zur Bildung von marginalisierten Gruppen und Minderheiten, die entweder systematisch ausgeschlossen oder durch Anerken- nung in das bestehende System integriert werden. Als marginalisiert verstehen wir in diesem Kontext all diejenigen, die aufgrund ihrer Herkunft an den Rand der Gesellschaft gedrängt

8 Vgl. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt am Main/New York 1996, 15. 9 Richards, Jeff: „Ethnicity and democracy – complementary or incompatible concepts?“ In: Karl Cordell (Hg.): Ethnicity and Democratisation in the New Europe. London/New York 1999, 11–23, hier 18. 10 Vgl. ebd. 11 Vgl. Thornberry, wie Fußnote 1.

34 NORDEUROPAforum (2012:1-2) „We were here before you“ - Indigenität und Nationalismus in Norwegen werden. Derzeit leben beispielsweise auf dem norwegischen Territorium ca. 655.000 Perso- nen, die entweder selbst oder deren Eltern eingewandert sind. Sie machen 13,1 Prozent der Bevölkerung aus. Davon besitzen nur 33 Prozent die norwegische Staatsbürgerschaft.12 Einen Minderheitenstatus haben Juden, Kvenen, Roma, Tataren und Waldfinnen. Ihnen wird, im Gegensatz zu den Migranten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Norwegen gekommen sind und keiner anerkannten nationalen Minderheit angehören, ebenso wie den Samen eine lange Verbindung mit dem norwegischen Nationalstaat zugeschrieben.13 Den Sa- men wurden in Folge der Aufstände und Demonstrationen gegen ein geplantes Staudammpro- jekt, die seit 1978 in Alta-Kautokeino stattfanden, durch die Verabschiedung des Samelovs 1988 besondere Rechte als Volk zuerkannt.14 Andere marginalisierte Gruppen aber werden in den Diskurs über die Definition des Staates nicht einbezogen. Dieser Ausschluss scheint in der Forschung zur Indigenität der Samen nicht thematisiert zu werden. Durch die Erforschung samischer Kultur und einer samischen Geschichtsschreibung soll gegen die strukturelle bzw. institutionelle Diskriminierung der Samen gearbeitet werden.15 Trotz der Berücksichtigung postkolonialer Ansätze in die Nordeuropaforschung werden unserer Meinung nach in erster Linie Integrations- und/oder Anerkennungsstrategien bestärkt. Exemplarisch dafür sind die Studien von Else Grete Broderstad16, frühere Direktorin des Senter for samiske studier in

12 Vgl. Statistisk Sentralbyrå: Innvandring og innvandrere (http://www.ssb.no/innvandring- og-innvandrere, 02. November 2012). 13 Vgl. „Nasjonal minoritet: Etnisk, religiøs og/eller språkleg minoritet med langvarig tilknyting til landet“ Kommunal- og Regionaldepartementet: St.meld.nr. 15. Nasjonale minoritetar i Noreg – Om statleg politikk overfor jødar, kvener, rom, romanifolket og skogfinnar (http://www.regjeringen.no/Rpub/STM/20002001/015/PDFA/STM200020010015000DD DPDFA.pdf, 02. November 2012). 14 Vgl. zur ethnischen Mobilisierung der Samen als Volk: Pohl, Katharina: „‚Es lebe alles, was saamisch ist’. Saamische Ethnopolitik zwischen Primordialismus und Instrumentalis- mus“ In: Nordeuropaforum (2007:2), 7–27. Sowie speziell zu den Auswirkungen des Alta- Konflikts: Ebd. 19ff. 15 Baer, Lars-Anders: Samisk forskning. I en postkolonial diskurs. In: Peter Sköld (Hg.). Människor i norr. Samisk forskning på nya vägar. Umeå 2008, 21–27. 16 Broderstad, Else Grete: „Indigenous rights and the limitations of the nation-state“ In: Erik Oddvar Eriksen; John Erik Fossum (Hgg.): Democracy in the European Union. Integrati- on through deliberation? London 2000, 230–255.

NORDEUROPAforum (2012:1-2) 35 Nora Kauffeldt und Edith Timm

Tromsø (Zentrum für samische Studien) oder Eva Josefsen17, Politikwissenschaftlerin am Northern Research Institute in Alta, in denen die ILO-Konvention Nr. 169 thematisiert wer- den.18 Auch diese Strategien erkennen die Prämisse der Privilegierung aufgrund der Anwe- senheit in der Vergangenheit an und verbleiben damit im Konzept des Nationalstaats.

Indigenität im internationalen Kontext

Als indigen werden heute laut der ILO-Konvention Nr. 169 Bevölkerungsgruppen bezeichnet, die auf dem Gebiet der heutigen Staaten, in denen sie leben, schon vor der Eroberung, Kolo- nisierung oder Ziehung der heutigen Staatsgrenzen ansässig waren und dort marginalisiert sind oder waren und sich außerdem in ihrer Lebensweise und Sprache von der übrigen Bevöl- kerung des jeweiligen Landes unterscheiden. Seit Mitte der 1970er Jahre gibt es im internati- onalen Rahmen verstärkt verschiedene Studien und Konferenzen, die sich mit der Definition und der Rechtsstellung von indigenen Bevölkerungsgruppen beschäftigen.19 Eine bis heute als grundlegend geltende Studie stellt der ausführliche Bericht des UN-Sonderberichterstatters José Martínez Cobo zum Problem der Diskriminierung indigener Völker dar, der 1972 begon- nen und 1986 fertig gestellt wurde. In der letzten Arbeitsdefinition von 198620 wird die histo- rische Verbundenheit mit dem Territorium als Hauptmerkmal der Indigenität definiert. „Indigenous communities, peoples and nations are those which, having a historical continuity with pre-invasion and pre-colonial societies that developed on their territories, consider them- selves distinct from other sectors of the societies now prevailing in those territories, or parts of them. They form at present nondominant sectors of society and are determined to preserve, develop and transmit to future generations their ancestral territories, and their ethnic identity,

17 Josefsen, Eva: „Om å skape et mulighetsform for innflytelse. ILO-konvensjon nr. 169 og finnmarksloven.“ In: Peter Sköld (Hg.). Människor i norr. Samisk forskning på nya vägar. Umeå 2008, 65–82. 18 Eine Sammlung weiterer postkolonialer Auseinandersetzungen findet sich beispielsweise in: Sköld, Peter (Hg.): Människor i Norr. Samisk forskning på nya vägar. Umeå 2008. 19 Eine ausführliche Auflistung findet sich in: Miller, Bruce Granville: Invisible indigenes. The politics of nonrecognition. Lincoln 2003, 33. 20 Vgl. Martínez Cobo, José: Study of the Problem of Discrimination Against Indigenous Populations. UN Doc E/CN.4/Sub.2/1986/7. Zitiert nach: Vereinte Nationen: UN Resource Kit on Indigenous Peoples’ Issues (http://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/resource_kit_indigenous_2008.pdf, 02. November 2012).

36 NORDEUROPAforum (2012:1-2) „We were here before you“ - Indigenität und Nationalismus in Norwegen as the basis of their continued existence as peoples, in accordance with their own cultural pat- terns, social institutions and legal systems.“21 Im Laufe der Studie änderte sich die Bezeichnung von indigenen Bevölkerungsgruppen (po- pulations) 198222 über indigene Gemeinschaften bis hin zu indigenen Völkern (peoples) und Nationen. Darin zeigt sich, dass auch die Gemeinschaften indigener Völker heute in dem von Anderson beschriebenen Konzept der historisch vorgestellten Gemeinschaft gedacht werden. Die Veränderung in der Haltung gegenüber indigenen Völkern führte letztlich auch dazu, dass der ILO-Konvention Nr. 10723 von 1957 im Jahre 1989 die ILO-Konvention Nr. 169 folgte. Während in der Konvention von 1957 von einer Rückständigkeit der Bevölkerungsgruppen ausgegangen wurde, die dem Standard des jeweiligen Landes angepasst werden sollten, war das Ziel der Überarbeitungen, die Assimilationsbestrebungen durch neue Normen zum Schutz der indigenen Völker, deren Kultur und Sprache zu ersetzen.24 In der überarbeiteten Konven- tion wird der Selbstidentifikation als indigen eine besondere Rolle beigemessen. Dennoch definiert Artikel 1 der Konvention, wer im internationalen Kontext als indigen anerkannt wer- den kann. Die Konvention soll gelten für: a) „in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern, die sich infolge ihrer sozialen, kul- turellen und wirtschaftlichen Verhältnisse von anderen Teilen der nationalen Gemeinschaft unterscheiden und deren Stellung ganz oder teilweise durch die ihnen eigenen Bräuche oder Überlieferungen oder durch Sonderrecht geregelt ist; [...] 25 sowie für:

21 Ebd. 22 Vgl. Cobo, José Martínez: Study of the Problem of Discrimination Against Indi- genous Populations. E/CN.4/Sub.2/1982/2/Add.6 (http://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/MCS_v_en.pdf, 02. November 2012). 23 International Labour Organisation: Konvention Nr. 107. Übereinkommen über den Schutz und die Eingliederung eingeborener Bevölkerungsgruppen und anderer in Stämmen le- bender oder stammesähnlicher Bevölkerungsgruppen in unabhängigen Ländern, 1957 (http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/gc107.htm, 02. November 2012). Die ILO- Konvention Nr. 107 gilt noch heute in einigen Ländern, sie wurde also nicht automatisch durch die ILO-Konvention Nr. 169 abgelöst. 24 Vgl. ILO-Konvention Nr. 169, wie Fußnote 4, Präambel. 25 Ebd., Artikel 1/1a.

NORDEUROPAforum (2012:1-2) 37 Nora Kauffeldt und Edith Timm b) [...] Völker in unabhängigen Ländern, die als Eingeborene gelten, weil sie von Bevölke- rungsgruppen abstammen, die in dem Land oder in einem geographischen Gebiet, zu dem das Land gehört, zur Zeit der Eroberung oder Kolonisierung oder der Festlegung der gegenwärti- gen Staatsgrenzen ansässig waren und die, unbeschadet ihrer Rechtsstellung, einige oder alle ihrer traditionellen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Einrichtungen bei- behalten.“26 Welche der genannten Faktoren in den jeweiligen Staaten als besonders gewichtig angesehen werden, ist von den politischen Zielsetzungen abhängig. Dies verdeutlicht Thornberry anhand des Kennewick-Fundes: Der sogenannte „Kennewick Man“ ist ein Skelett mit vermeintlich „kaukasischer” Morphologie, das auf ca. 7300 v. Chr. datiert wird und 1996 in Kennewick, Washington entdeckt wurde. Der Fund provozierte in den USA eine Debatte über die Recht- mäßigkeit der Entschuldigungen bei der heutigen indigenen Bevölkerung für die Verbrechen der Kolonisierung. Er sollte angeblich beweisen, dass es vor der heute als indigen geltenden Bevölkerung Amerikas eine „weiße“ Bevölkerung gegeben habe, die ihrerseits ausgerottet wurde.27 Thornberry macht anhand dieser Problematik vier verschiedene Ansätze von Indige- nität aus, die im internationalen Kontext zur Anwendung kommen und mit denen jeweils un- terschiedliche politische Ziele verfolgt werden. Alle Modelle gehen von einem willkürlich gesetzten Zeitpunkt aus, an dem Geschichte begonnen haben soll. Außerdem ist ihnen allen die Prämisse gemein, dass die als indigen anerkannten Völker vor oder gleichzeitig mit der heutigen Majoritätsbevölkerung ansässig gewesen sein müssen und sich auch heute noch von dieser unterscheiden.28 Der indigene Nationenbegriff kann somit als noch geschlossener als der des Nationalstaats verstanden werden: Für Außenstehende gibt es keine Möglichkeit, Teil dieser Gemeinschaft zu werden, da das Ziel der Politik gegenüber indigenen Völkern der Schutz und die Bewahrung ihrer Kultur und Tradition ist.

Samen-Politik in Norwegen

In Norwegen wurde seit Anfang des 20. Jahrhunderts systematisch versucht, diese heute als elementar angenommene Unterschiedlichkeit durch die sogenannte „Norwegisierung“ der Sa- men (Fornorskningspolitikken) zu eliminieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Etablie-

26 Ebd., Artikel 1/1b. 27 Vgl. Thornberry, wie Fußnote 1, 1ff. 28 Vgl. ebd., 3-8.

38 NORDEUROPAforum (2012:1-2) „We were here before you“ - Indigenität und Nationalismus in Norwegen rung der Allgemeinen Menschenrechte veränderte sich die Haltung gegenüber Minderheiten. Dennoch ließ ein Gesetz bis 1965 den Landerwerb nur für Personen zu, die sowohl die nor- wegische Staatsbürgerschaft als auch Norwegisch als Hauptsprache hatten.29 Erst 1988 wur- den den Samen nach langen Auseinandersetzungen zwischen der norwegischen Regierung und samischen Interessenvertretern mit der Aufnahme des eingangs zitierten Paragraphen in das norwegische Grundgesetz sowie durch die Verabschiedung des Samelovs besondere Rech- te als Volksgruppe zuerkannt. Das Samelov stellte die samische Sprache der norwegischen Nationalsprache gleich. Die Stellung der Samen im Staat wurde damit fundamental verändert. Das Gesetz bereitete weiterhin die Gründung des Sametings vor und regelt bis heute dessen Wahlmodalitäten. Das Sameting ist seit der Gründung 1988 das landesweite Repräsentations- organ der Samen in Norwegen und hat eine gewisse Eigenverantwortung für die samische Sprach- und Kulturpolitik. In allen anderen politischen Bereichen, die die Samen betreffen, hat es eine konsultative Funktion gegenüber dem Storting. Die Wahl zum Sameting ist an eth- nische Zugehörigkeit gebunden. Nur wer selbst, wessen Eltern oder Großeltern Samisch als Erste Sprache haben, darf an der Wahl teilnehmen oder sich zur Wahl aufstellen lassen. Dieses Wahlrecht wurde allerdings von nur 13.890 Personen (Stand: Wahl 2009) in Anspruch ge- nommen.30 Über eine genaue Zahl der Sami auf norwegischem Territorium können keine An- gaben gemacht werden. Es wird aber vermutet, dass in Norwegen ca. 50.000 Samen leben.31 Das heißt, dass kaum mehr als ein Viertel dieser vorgestellten Gemeinschaft ihre Interessen durch das Sameting vertreten lassen. Durch die Ratifizierung der ILO-Konvention Nr. 169 im Jahre 1991 sind die Sami in Norwe- gen nicht nur als zweite nationale Volksgruppe, wie durch den Paragraphen 110a des Grund- gesetzes geregelt, sondern auch als „indigen“ anerkannt. Schon mit der Einführung des Para- graphen 110a wurden die Samen aus dem Stand einer bloßen nationalen Minderheit herausgehoben.

29 Vgl. Sametinget: Historikk (http://www.sametinget.no/Om-oss/Bakgrunn/Historikk, 02. November 2012). 30 Vgl. Sametinget: Valg. Statistikk (http://www.sametinget.no/Valg, 02. November 2012). 31 „Es gibt ca. 80.000 Samen in den vier Ländern, Russland 2.000, Finland 8.000, Norwegen 50.000–65.000 und Schweden 20.000.“ („Det finns ca 80.000 samer i de fyra länderna, Ryssland 2000, Finland 8000, Norge 50.000–65.000 och Sverige 20000.“) Samiskt Infor- mationscentrum Sametinget: Kortfakta (http://www.samer.se/1145, 02. November 2012).

NORDEUROPAforum (2012:1-2) 39 Nora Kauffeldt und Edith Timm

Mit der Ratifizierung erkennt der unterzeichnende Staat „die Bestrebungen dieser Völker, im Rahmen der Staaten, in denen sie leben, Kontrolle über ihre Einrichtungen, ihre Lebensweise und ihre wirtschaftliche Entwicklung auszuüben und ihre Identität, Sprache und Religion zu bewahren und zu entwickeln“32 an. Der jeweilige Staat verpflichtet sich damit, die marginali- sierte Stellung indigener Völker zu beseitigen, die sich oftmals aus den kolonialisierenden Prozessen der Staatengründung ergeben hat. Als indigenes Volk haben die Samen deswegen heute im Gegensatz zu nationalen Minderheiten die Möglichkeit, territoriale Anrechte geltend zu machen. In der Konvention heißt es: „Die Eigentums- und Besitzrechte der betreffenden Völker an dem von ihnen von alters her besiedelten Land sind anzuerkennen.“33 Eva Josefsen stellt fest, dass diese Option mit dem 2005 verabschiedeten Finnmarksloven erstmalig ver- bindlich wurde.34 „Das Ziel des Gesetzes ist es, dafür zu sorgen, dass der Grund und die Naturressourcen in dem Bezirk Finnmark auf eine ausbalancierte und ökologisch tragfähige Art und Weise zum Besten für die Einwohner in dem Bezirk und besonders als Grundlage für samische Kultur, Rentierzucht, Weidelandnutzung, Wirtschaftsausübung und gesellschaftliches Leben verwaltet werden.“35 Grundlegend für diese Idee ist, dass die Wahrnehmung der Rechte, die laut Grundgesetz für alle Staatsbürger gelten, für einige Gruppen nur durch eine besondere Behandlung ermöglicht werden kann. Denn, so die Ministerin für Staatsverwaltung und Kirchenangelegenheiten Rigmor Aasrud: „[I]n einer reinen Mehrheitsdemokratie kann es schwierig sein, samische Interessen, samische Kultur und samische Gewohnheiten ausreichend gut zu bewahren.“36 Für uns bleibt allerdings fragwürdig, warum die samischen Interessen hier aufgrund einer histori-

32 ILO-Konvention Nr. 169, wie Fußnote 3, Artikel 34. 33 Ebd., Artikel 14/1. 34 Vgl. Josefsen, wie Fußnote 17, 66. 35 „Lovens formål er å legge til rette for at grunn og naturressurser i Finnmark fylke forvaltes på en balansert og økologisk bærekraftig måte til beste for innbyggerne i fylket og særlig som grunnlag for samisk kultur, reindrift, utmarksbruk, næringsutøvelse og samfunnsliv.“ Justis- og beredskapsdepartementet: LOV 2005-06-17 nr 85: Lov om rettsforhold og for- valtning av grunn og naturressurser i Finnmark fylke (finnmarksloven), §1 (http://lovdata.no/all/hl-20050617-085.html, 02. November 2012). 36 „I et rent flertallsdemokrati kan det være vanskelig å ivareta samiske interesser, samisk kultur og samiske sedvaner på en tilstrekkelig god nok måte.“ Innst. 134 S, wie Fußnote 6.

40 NORDEUROPAforum (2012:1-2) „We were here before you“ - Indigenität und Nationalismus in Norwegen schen Verbundenheit über die Interessen anderer Minderheiten und marginalisierten Personen gestellt werden sollten. Innerhalb des Diskurses über die aktuelle Samen-Politik ist es entscheidend, wer zur Zeit der Nationenbildung ansässig war. Denn den Grundsatz des norwegischen Staates, ein Zweivöl- kerstaat zu sein, begründet die Regierung mit der Feststellung, es sei „unzweifelhaft, dass zu diesem Zeitpunkt sowohl Samen als auch Norweger auf dem Territorium ansässig waren.“37 So wurde es durch die Anwendung des Artikels 1/1b38 der ILO-Konvention Nr. 169 möglich, die Samen in die norwegische Nationalgeschichte zu integrieren. Broderstad stellt sogar fest: „The political rights that the Saami as a people have obtained […] indicate that the Saami as Saami are more strongly and explicitly related to the national constitution than before“39. Sie befürwortet diesen Prozess der Einbindung der Samen in staatliche Strukturen: „The democ- ratic process has to safeguard cultural identity as precondition for individual autonomy and freedom. Thus cultural identity must be connected to the notion of citizenship.“40 Mit der Ra- tifizierung stellt sich der norwegische Staat als Institution selbst die Aufgabe, die Traditionen der Samen vor der Kultur der Majoritätsbevölkerung zu schützen und damit die angenomme- ne Verschiedenheit der beiden Völker zu bewahren. Die Kategorie der kulturellen Zugehörigkeit ist in der Folge für die norwegische Staatskon- zeption entscheidend. Konsequenterweise werden die kulturellen und ethnischen Unterschiede immer wieder mobilisiert und fortgeschrieben. So bestärkt und erneuert die Anerkennung der Samen als indigenes Volk in erster Linie die Idee der Nation, da beide nationalen Volksgrup- pen aufgrund ihrer historischen Verbundenheit mit dem norwegischen Territorium eine beson- dere Position im Staat haben. Broderstad sieht in dieser Mobilisierung eine Herausforderung des Nationalstaats. „The idea of the homogenous nation-state, which is associated with the uniform conception of citizenship, and a common sense of national community and identity, is challenged by ethnic and cultural revival within and among states.”41

37 „Det er uomtvistelig at det på det tidspunktet både fantes samer og nordmenn på territo- riet.“ Ebd. 38 ILO-Konvention Nr. 169, wie Fußnote 4. 39 Broderstad, wie Fußnote 16, 234. 40 Ebd., 234 41 Ebd., 230.

NORDEUROPAforum (2012:1-2) 41 Nora Kauffeldt und Edith Timm

Wir sehen allerdings gerade in dieser ethnischen Mobilisierung der Samen keine Herausforde- rung, sondern eine Bestätigung des Nationalstaats als historische Gemeinschaft. Sie trägt dazu bei, dass sowohl die Identifizierung als samisch bzw. norwegisch als auch die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zugangs- und Beteiligungsmöglichkeiten nur innerhalb des Konzeptes des Nationalstaats gedacht werden. Unsere Kritik setzt an genau dieser Stelle an. Durch das Konzept von Indigenität werden weiterhin all diejenigen aus der imaginierten Ge- meinschaft ausgeschlossen, die nicht Norweger oder Samen sind. Auch in der Forschung werden diese Ausschlüsse durch die überwiegend isolierte Betrach- tung einzelner Gruppen weiter produziert. Um ein alternatives Verständnis von Gemeinschaft denkbar zu machen, halten wir es für notwendig, die Indigenitäts-, Migrations-, und Nationa- lismusforschung vollständig miteinander zu verschränken. Es dürfte nicht das Ziel der jewei- ligen Forschungsbereiche sein, einzelne Gruppen (einfach nur) in das bestehende System zu integrieren, da so die ausschließenden Prämissen eines nationalistischen Diskurses erhalten werden. Unserer Meinung nach sollte es in einem Einwanderungsland wie Norwegen nicht mehr entscheidend sein, wer zu welcher Zeit ins Land gekommen ist. Der Migrationsforscher Mark Terkessidis bemerkt hierzu: „Unter den Bedingungen der Migrationsgesellschaft ist die alte Auffassung des Nationalstaats als einer Gemeinschaft mit einem geteilten Schicksal in der Vergangenheit überholt. Es geht vielmehr um die geteilte Zukunft.“42 Nicht nur in Norwegen trifft das Konzept des Nationalstaats auf die Herausforderungen der Globalisierung. Wir sehen die Aufgabe weiterer Forschung angesichts dieser Problemstellung darin, die Form des Zusammenlebens neu zu überdenken. Dafür müssten alle Personen, die in einem Staat anwesend sind oder sein werden, gleichermaßen involviert werden. So könnte die Frage nach Beteiligungs- und Zugangsmöglichkeiten in Wirtschaft, Politik und Kultur neu gestellt werden.

42 Terkessidis, Mark: „Die permanente Krise ist Bestandteil des Lebens geworden.“ In: Friedrich von Borries et al. (Hgg.): Bessere Zukunft? Auf der Suche nach den Räumen von Morgen. Berlin 2008, 41–47, hier 47.

42 NORDEUROPAforum (2012:1-2) Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung – Ein historischer Grundriss

Ralph Tuchtenhagen

Zusammenfassung Jahrhunderte vor seinem Ruf als „Tor zu Welt“ im späten Kaiserreich war Hamburg ein Tor zum Ostseeraum. Anfängen der katholischen Mission im 9. Jahrhundert folg- ten Handels- und Gesandtschaftsbeziehungen, die eine Investition von Wissenschaft und Geld zur Erforschung der Region erforderlich machten. Obwohl keine kontinuier- liche und einheitliche Institution oder ein besonderer Beauftragter existierten, war die humanwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Ostseeraum zu allen Zeiten ein wichtiges Thema in den Bildungsstätten der Stadt. Nach der Gründung der Hamburger Universität beschäftigten sich mehrere Fachrichtungen mit dem Thema – insbesondere die Germanistik, die Skandinavistik und die Geschichtswissenschaften, aber auch die Finnougristik, Geographie und die Politikwissenschaften. Darüber hinaus waren auch wissenschaftliche Gesellschaften und sozioökonomische Vereinigungen an der Lehre und Erforschung des Ostseeraums beteiligt. Der vorliegende Beitrag erzählt die Ge- schichte dieser Institutionen und untersucht ihre Tätigkeit in Form eines Überblicks.

Abstract Before becoming coined as a „gate to the world“ in the late German Kaiserreich, Hamburg has been a gate to the Baltic Sea region for centuries. Beginning with the Catholic mission in the 9th century, trade and diplomatic relations in the first place were moving factors to engage minds and money with research of the area. Although there has not been even one permanent and consistent institution or at least a referen- tial chargé d’affaires, the Baltic Sea region in its human dimension has always been a central theme in the schools, academies, and other higher education of the free city of Hamburg, even before the humanities themselves were organized as scholarly disci- plines. With the University of Hamburg’s start after the First World War a variety of disciplines dealt with the topic – the German, Scandinavian and History Department prominently, but also the Departments of Finnish Languages, Geography and Political Science. Moreover, scientific societies as well as economic and social clubs were en- gaged in the research and education of Baltic humanities. This journal’s article tells their story and analyses their activities in a rough and thorough overview.

Prof. Dr. Ralph Tuchtenhagen ist unter anderem seit 2009 Professor für Skandinavistik und Kulturwis- senschaft am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitherausgeber des NORDEUROPAforum. Kontakt: [email protected]

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Die Erforschung humanwissenschaftlicher Aspekte des Ostseeraums hat im deutschen Sprachgebiet historisch gesehen eine lange Tradition und war entsprechend der territo- rial stark zersplitterten Entwicklung der deutschen Staaten von Anfang an auf mehrere Zentren verteilt. Dabei kam Norddeutschland mit seiner relativen räumlichen Nähe zum Forschungsgegenstand eine herausgehobene Bedeutung zu. Greifswald und Kiel, früher auch Rostock, Königsberg (russ. Kaliningrad) und Dorpat (estn. Tartu) nahmen hier führende Positionen ein. Dass Hamburg mit seinem direkten Zugang zur Nordsee und seinen vor allem nach Nordwesten und auf die Weltmeere gerichteten Handelsbe- ziehungen lange Zeit ein Zentrum humanwissenschaftlicher Ostseeraumforschung war und in eingeschränkter Form bis heute ist, scheint hingegen keine Selbstverständlich- keit. Dies hat seine Gründe abgesehen von wirtschaftsgeographischen Rahmenbedin- gungen auch darin, dass bis heute keine Forschungsinstitution existiert, die die recht zerfaserten, auf Hochschulen, Forschungsinstitute, Privatinitiativen und einzelne For- scherpersönlichkeiten verteilten humanwissenschaftlichen Bemühungen um den Ost- seeraum systematisch zusammenfassen könnte. Dazu kommt, dass eine nennenswerte Kontinuität relevanter Forschungsinstitutionen nie erreicht worden ist. Gleichwohl hätte es zu allen Zeiten Anlass gegeben, diese Defizite dauerhaft zu beheben. Hamburg war durch die Hanse während des Mittelalters und der frühen Neuzeit eng mit der Ost- see verbunden und galt nach dem Niedergang Lübecks seit dem 17. Jahrhundert nicht nur als der neben Danzig wichtigste Umschlagplatz für Waren aus dem Ostseeraum,1 sondern auch als Zentrum für das Postwesen, ja den gesamten vormodernen Nachrich- tenaustausch der Region mit dem übrigen Europa.2 Aber nicht nur kommunikativ, son-

1 Vgl. die Veröffentlichungsreihe Studien zur hamburgischen Handelsgeschichte (hg.v. Ernst Baasch). Hamburg 1897–1902 und die Zeitschrift Studien zur hamburgischen Han- delsgeschichte (Hamburg 1891–1906). Außerdem: Prange, Carsten: Hamburg in der Han- sezeit. Hamburg 1928. 2 Vgl. Reincke, Heinrich: „Zur Vor- und Frühgeschichte des Hamburger Zeitungswesens“. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 44 (1958), 205–218; Ahrens, Gerhard: Das Botenwesen der Hamburger Kaufmannschaft 1517–1821. Frankfurt/M. 1962; Voigt, Fritz: Verkehr. 2 Bde., Berlin 1965, hier Bd.2/2: Die Entwicklung der Ver- kehrssysteme, 844; Klessmann, Eckart: Geschichte der Stadt Hamburg. 8. Auflage, Ham- burg 2002, 185f.; Mehl, Heinrich: Acker-, Markt- und Reisewagen. Unterwegs in Schles-

44 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung dern auch politisch war die Nähe zum Norden in früheren Zeiten spürbarer als heute. Bis zum Gottorper Vertrag von 1768, mit dem die dänische Krone die Reichsunmittel- barkeit Hamburgs anerkannte, war Hamburg keine „freie Stadt“, sondern gehörte zur Landesherrschaft der holsteinischen Herrscher, die ihrerseits dem König von Däne- mark unterstellt waren.3 Zudem hatten Dänemark und Schweden während des 17. Jahrhunderts immer wieder versucht, sich die Stadt direkt einzuverleiben.4 Das Ham- burg unmittelbar benachbarte Altona (Stadtrecht seit 1664) gehörte bis 1864 zum Kö- nigreich Dänemark und war in dieser Zeit die zweitgrößte Stadt des „Gesamtstaates“.5 Die linkselbisch flussabwärts gelegenen Herzogtümer Bremen und Verden mit den Städten Stade6, Buxtehude7 und Verden8 sowie der Festung Carlsburg9 gehörten in der

wig-Holsteins Vergangenheit. Heide 1996 (= Volkskundliche Sammlungen; 1); Sager, Wil- helm: Postgeschichte Schleswig-Holsteins. Heide 2002 (= Kleine Schleswig-Holstein- Bücher; 52); Roessner, Hans: „Die Entwicklung des Postwesens in den Herzogtümern Bremen und Verden zur Schwedenzeit“. In: Stader Jahrbuch 76 (1986), 88–149. 3 Vgl. „Gottorper Vergleich zwischen dem Gesamthause Gottorp und der Stadt Hamburg vom 27. Mai 1768 = Dokument 68“. In: Heinrich Reincke (Hg.): Hamburgs Weg zum Reich und in die Welt. Urkunden zur 750-Jahr-Feier des Hamburger Hafens. Hamburg 1939, 235–250; Reincke, Heinrich: „Hamburgische Territorialpolitik“. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 38 (1939), 28–116. Ders.: „Hamburgs Aufstieg zur Reichsfreiheit“. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 47 (1961), 17–34. 4 Vgl. Jochmann, Werner und Hans-Dieter Loose: Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner. Bd.1: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung. Hamburg 1986, 288f. 5 Vgl. Wichmann, Ernst Heinrich: Geschichte Altonas. 2. Auflage, Altona 1896; Freitag, Hans-Günther und Hans-Werner Engels: Altona. Hamburgs schöne Schwester. Hamburg 1982, 39–271. 6 Schwedisch 1648–1712. Vgl. Jobelmann, W.H. und W. Wittpenning: Geschichte der Stadt Stade (neubearb. v. Max Bahrfeldt). Stade 1897, 16–25; Wohltmann, Hans: „Die Ge- schichte der Stadt Stade an der Niederelbe“. In: Stader Archiv N.F. 32 (1942), 123–154; Bohmbach, Jürgen: Vom Kaufmannswik zum Schwerpunktort. Die Entwicklung Stades vom 8. bis zum 20. Jahrhundert. Stade 1976, 25–38; Die Schweden in Stade in Krieg und Frie- den. Der Dreißigjährige Krieg und die Folgezeit (1618–1712). Begleitheft zur Sonderaus- stellung im Schwedenspeicher-Museum Stade vom 22. Juni – 9. September 1984 (hg. Stadt Stade). Stade 1984 (= Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Stade; 12); Bohmbach, Jür- gen: „Im Spannungsfeld der europäischen Mächte. Die schwedische Herrschaft in den Herzogtümern Bremen und Verden 1645–1712“. In: Stader Jahrbuch 70 (1980), 81–96; Ders.: „Die Politik Stades gegenüber der schwedischen Krone und Verwaltung“. In: Ders. (Hg.): Anspruch und Realität. Wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung in Schweden und seinen deutschen Besitzungen im 17. Jahrhundert. 2. Arbeitsgespräch schwedischer und deutscher Historiker in Stade am 18. und 18. Juni 1987. Stade 1988 (=

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zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu den deutschen Besitzungen der schwedischen Krone. Und am Ende des 17. Jahrhunderts war das Herzogtum Schleswig-Holstein- Gottorf als unmittelbarer Nachbar Hamburgs ein enger Alliierter Schwedens und Split- ter im Auge der dänischen Herrscher. Die „Gottorf-Frage“ löste zusammen mit ande- ren Faktoren den Großen Nordischen Krieg (1700–1721) aus, der u.a. dazu führte, dass die schwedischen Besitzungen an der Elbe an deutsche Fürsten verloren gingen, wäh- rend gleichzeitig Dänemark seinen Einfluss in den Schleswiger und Holsteiner Teilter- ritorien verstärken konnte. Dänemark blieb also für weitere 150 Jahre ein direkter Nachbar Hamburgs.10 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Skandinavien und der Ostseeraum in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht vom 17. bis zum 19. Jahrhundert direkt vor Hamburgs Toren lagen. Mehr noch: Die Konflikte zwischen den beiden Ostseemächten Schweden und Dänemark spielten sich während der frühen Neuzeit sogar innerhalb der Hamburger Stadtmauern ab, denn schwedische und dänische

Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Stade; 8), 25–34; Ders.: „Der Wandel Stades unter schwedischer Herrschaft“. In: Ders. (Hg.): Die Bedeutung Norddeutschlands für die Groß- macht Schweden im 17. Jahrhundert. Kolloquium schwedischer und deutscher Historiker in Stade am 25.6.1984. Stade 1986 (= Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Stade; 3), 103–108; Ders.: „Die schwedische Herrschaft in Stade und den Herzogtümern Bremen und Verden“. In: Die Schweden in Stade in Krieg und Frieden (s.o.), 99–116; Fiedler, Beate- Christine: „Stade als Provinzhauptstadt unter schwedischer und dänischer Herrschaft“. In: Stade. Von den Siedlungsanfängen bis zur Gegenwart (Hg. Stadt Stade). Stade 1994 (= Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Stade; 17), 171–204. 7 Schwedisch 1648–1712. Vgl. Schindler, Margarete: Blick in Buxtehudes Vergangenheit. Geschichte der Stadt (Hg. Stadtsparkasse Buxtehude). Buxtehude 1993, 108–110, 137– 143. 8 Schwedisch 1648–1719. Vgl. Nerger, Karl: Verden unter schwedischer Herrschaft. Verden 1986 (= Geschichte der Stadt Verden in Einzeldarstellungen; 12). 9 Schwedisch 1672–1700. Vgl. Scheper, Burchard: „Die Idealstadt Carlsburg“. In: Bohm- bach 1988, wie Fußnote 6, 55–63. 10 Hoffmann, Gottfried Ernst und Klauspeter Reumann: „Die Herzogtümer von der Landes- teilung 1544 bis zum Kopenhagener Frieden von 1660“. In: Dies.: Die Herzogtümer von der Landesteilung 1544 bis zur Wiedervereinigung Schleswigs 1721. Neumünster 1986 (= Geschichte Schleswig-Holsteins; 5), 3–202, hier 112–117, 134–158, 200; Kellenbenz, Hermann: „Die Herzogtümer vom Kopenhagener Frieden bis zur Wiedervereinigung Schleswigs 1660–1721“. In: Ebd., 203–414, hier 321ff.; Steinwascher, Gerd: Die Olden- burger. Die Geschichte einer europäischen Dynastie. Stuttgart 2011, 118–181, 246–257.

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Agenten und Residenten lieferten sich einen für das hamburgische Kommunikations- system finanziell lukrativen und technisch förderlichen Medien- und Propagandakrieg. Vor diesem Hintergrund wäre wohl davon auszugehen, dass die Geschichte der hu- manwissenschaftlichen Beschäftigung Hamburgs mit dem Ostseeraumes gut erforscht und beschrieben ist. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Man greift zwar nicht ganz ins Leere – einzelne Arbeiten beschäftigen sich durchaus mit personen- oder institutionen- geschichtlichen Aspekten von Fächern, die gelegentlich auch die Ostsee zum For- schungsgegenstand haben. Eine unveröffentlichte Diplomarbeit von Sabine Daß aus dem Jahre 1987 behandelt die Entstehung des Studienfaches Skandinavistik an der Universität Hamburg;11 und auch aus der kürzlich erschienenen, im Auftrag der ZEIT- Stiftung entstandenen Zusammenstellung über skandinavische Aspekte der Geschichte Hamburgs aus der Feder von Michael Grill und Sabine Homann Engel12 lassen sich einzelne Erkenntnisse über die hamburgische Ostseeraumforschung herausfiltern. Aber zu einer systematischen Darstellung, zur Entwicklung zusammenfassender Hypothesen und Aufarbeitung von Forschungskontroversen, zur Dominanz einzelner Themen oder zu einem auf der Grundlage von Debatten hergestellten Forschungskonsens, mit einem Wort: zu einem Diskurs, haben die bisher erschienenen Beiträge nicht geführt. Es versteht sich von selbst, dass auch der folgende historische Abriss13 nicht dazu ge- eignet ist, diesen Mangel zu beheben. Er kann ihn aber definieren und helfen, einen Überblick über mögliche Fragestellungen zu gewinnen und zu Detailforschungen an- zuregen. Die folgende Darstellung basiert auf Recherchen im Archiv der Universität Hamburg sowie auf archivalisch unsystematisierten Materialien, die mir die Direkto- ren der Abteilung für Skandinavistik des Instituts für Germanistik I (Kurt Braunmül-

11 Daß, Sabine: Die Entstehung des Studienfaches Skandinavistik an der Universität Ham- burg von 1919 bis 1986. Eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung mit qualitativen Methoden. Bd.1, Unveröffentlichte Wissenschaftliche Halbjahresarbeit gemäß §7(2) der Prüfungsordnung für Diplom-Soziologen, Universität Hamburg 1987, 5f. Kopie im Besitz des Verf. 12 Grill, Michael und Sabine Homann Engel: Skandinavien in Hamburg (Hg. ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius). Hamburg 2009. 13 Es handelt sich um die stark erweiterte und aktualisierte Fassung meines 2008 in polni- scher Sprache veröffentlichten Beitrags „Rola Hamburga jako centrum badań nad regio- nem morza Bałtickiego [Hamburgs Rolle als Forschungszentrum für den Ostseeraum]“. In: Zapiski historyczne 73 (2008:2/3), 65–75. Eine deutschsprachige Version ist nicht erschie- nen.

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ler) und des Instituts für Finnougristik/Uralistik (Eugen Helimski) der Universität Hamburg freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben. Die dort gewonnenen Daten wurden durch eine Auswertung einschlägiger zeitgenössischer Berichte in Periodika aus Hamburg und dem Hamburger Umland ergänzt oder verifiziert. Die mit der Ham- burger Geschichtsschreibung über den Ostseeraum verbundenen Abschnitte beruhen teils auf Informationen, die mir während meiner Zeit als Historiker an der Universität Hamburg (2003–2009) zugetragen wurden, teils auf der zugänglichen Forschungslite- ratur. Um den Text so kompakt wie möglich zu halten, habe ich auf ausführliche bio- graphische Darstellungen einzelner Forscherpersönlichkeiten verzichtet. Sie wären für eine umfangreichere und tiefer gehende Forschungsarbeit zweifellos geboten und wür- den weitere Archivstudien erfordern, die über die universitäre Archivlandschaft hin- ausreichten. Dies gilt zuvorderst für Personen, die außerhalb der universitären Lehre mit der humanwissenschaftlichen Erforschung des Ostseeraumes zu tun hatten. Auch eine detaillierte Darstellung von Institutionen habe ich unterlassen. Für sie wären die gleichen Maßstäbe anzulegen wie im Falle der personenkundlichen Forschung. Mir kam es bei der vorliegenden Übersicht besonders auf die strukturelle und diskursive Entwicklung der Ostseeraumforschung an: Welche Themen wurden im Laufe der Jahr- hunderte behandelt? – Aufgrund welcher politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Interessen? Wie haben sich diese Themen personen- und institutionenge- schichtlich manifestiert? Welche Gründe lassen sich für die oft anzutreffende Diskon- tinuität von Ostsee-bezogenen Institutionen in Hamburg finden? Bei den in den Fuß- noten angeführten Werken beschränke ich mich in der Regel auf die Nennung einschlägiger Monographien zum Ostseeraum. Aufsätze und andere kleine Schriften sind in der Regel nicht berücksichtigt, in vielen Fällen aber über bibliographische Hinweise (Schriftenverzeichnisse, Festschriften etc.) erschließbar.

1. Die ältesten Forschungen

Wer sehr weit zurückblicken möchte, kann die – nicht ganz ernst gemeinte – These vertreten, dass Hamburg Sitz der ältesten Forschungen für den Ostseeraum überhaupt ist. 831 nämlich ernannte Papst Gregor IV. (im Amt 827–844) den Benediktinermönch Ansgar (801–865) zum Erzbischof und päpstlichen Legaten für die Nordleute und Sla- ven mit Sitz in Hammaburg (dem späteren Hamburg). Seine – nur teilweise erfolgrei- chen – Missionsbemühungen bereiteten den Boden für eine allmähliche Institutionali- sierung kirchlicher Aktivitäten im Ostseeraum, die zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert von Hamburg (und Bremen) ausgingen. Erste schriftliche Produkte dieser

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Bemühungen waren eine hagiographische Biographie über Ansgar aus der Hand seines Nachfolgers, Erzbischof Rimbert (830–888, im Amt 865–888), und die Gesta Ham- maburgensis des Rektors der erzbischöflichen Kathedralschule von Hamburg-Bremen, Adam von Bremen (11. Jh.).14 Sie enthalten zahlreiche wertvolle Nachrichten über Länder und Völker des Ostseeraumes und bilden noch heute eine unverzichtbare Quel- le zur Erforschung der Region für die Zeit des Hochmittelalters. Im letzten der vier Bücher der Gesta Hammaburgensis erscheint eine „Beschreibung der Inseln des Nor- dens“, die sich u.a. mit den Ländern der Rus’, den baltischen Völkern und Skandina- vien beschäftigt und somit als älteste hamburgische Darstellung des Ostseeraums gel- ten kann.15 In der frühen Neuzeit wurde Hamburg wie erwähnt zum größten Nachrichtenum- schlagplatz für den Ostseeraum. Von Hamburg aus gingen seit 1620 nicht nur Postli- nien über Dänemark nach Schweden und über Mecklenburg nach Wismar und Schwe- disch-Pommern, sondern hier entstanden während des 17. Jahrhunderts auch brandenburgische, dänische, schwedische und mecklenburgische Postkontore, die In- formationen, Waren und Menschen in das übrige Europa verfrachteten. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass die Stadt insbesondere während des Dreißigjährigen Krieges, aber auch in Friedenszeiten zum Zentrum des internationalen Agententums und damit zum wichtigsten Nachrichtenmarkt über Nordeuropa und den gesamten Ostseeraum wurde.16 Die Schlüsselstellung Hamburgs zwischen dem Norden

14 Rimbert: Vita sancti Anskarii (876): Vita Anskarii: accedit vita Rimberti. Hannover 1884 (ND Hannover 1998); Adam von Bremen: „Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum (kurz nach 1072)”. In: Bernhard Schmeidler (Hg.): Magistri Adam Bremensis gesta Ham- maburgensis ecclesiae pontificum. Hamburg / Leipzig 1917 (ND Hannover 1993); Vgl. Knibbs, Eric: Ansgar, Rimbert, and the Forged Foundations of Hamburg-Bremen. Farn- ham / Surrey 2011. 15 Vgl. Seegrün, Wolfgang: Das Papsttum und Skandinavien bis zur Vollendung der nordi- schen Kirchenorganisation (1164). Neumünster 1967 (= Quellen und Forschungen zur Ge- schichte Schleswig-Holsteins; 51); Petersohn, Jürgen: Der südliche Ostseeraum im kirch- lich-politischen Kräftespiel des Reiches, Polens und Dänemarks vom 10. bis 13. Jahrhundert. Mission – Kirchenorganisation – Kultpolitik. Köln / Wien 1979 (= Ostmittel- europa in Vergangenheit und Gegenwart; 17). 16 Vgl. Ahrens 1962, wie Fußnote 2; Klessmann 2002, wie Fußnote 2, 185f;. Engeleit, Hans- Gerd: „Das hamburgische Zeitungs- und Zeitschriftenwesen am Ende des 18. Jahrhun- derts: Die Anfänge der Wirtschaftspresse“. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische

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und Süden bzw. Westen Europas schuf außergewöhnlich gute Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Ostseeraum. Das 17. Jahrhundert war auch die Periode, in der erste gelehrte Abhandlungen über den Ostseeraum erschienen – darunter mehrere Schriften des Hamburger Sprachgelehrten Martin Fogel (Martinus Fogelius, 1634–1675)17, der in seiner Schrift „De Finnicae linguae indole observatio- nes“ (1669) zeigte, dass Finnisch, Estnisch, Samisch und Ungarisch verwandte Spra- chen sind.

2. Kaufmannsgeist und Handelswissen

Die Anfänge einer Erforschung des Ostseeraums in der frühen Neuzeit waren durch und durch von den Interessen der Hamburger Kaufleute bestimmt. Dabei haben insbe- sondere vier Institutionen Bedeutung erlangt: 1. das Akademische Gymnasium, 2. der Verein für Hamburgische Geschichte, 3. die Commerzbibliothek und 4. der Hansische Geschichtsverein. Das zwischen Gelehrtenschule und Universität rangierende Akademische Gymnasium (1613–1883) wurde von Anfang an zu einem Schnittpunkt mehrerer Ostsee-bezogener wissenschaftlicher Aktivitäten. Es verfügte Ende des 17. Jahrhunderts über die größte öffentliche Bibliothek Deutschlands (rd. 25.000 Bände), die auch zahlreiche geogra- phische, historische, ökonomische und politische Werke über den Ostseeraum vor-

Geschichte 78 (1992), 101–133. Zum Kontext vgl. Tuchtenhagen, Ralph: „Historische Verkehrsgeographie Nordosteuropas“. In: Jörg Hackmann und Robert Schweitzer (Hgg.): Nordosteuropa als Geschichtsregion. Lübeck 2006 (= Publikationen der Aue-Stiftung; 17), 133–171. 17 Wis, Christina (Hg.): La versione di Hannover delle „De Finnicae Linguae indole obser- vationes“ di Martin Fogel. Rom 1983 (= AION. Dipartimento Studi dell’Europa Orienta- le. Sezione filologica-linguistica; 1). Zu Fogel (auch: Vogel) vgl. Lakó, György: „Martinus Fogelius’ Verdienste bei der Entdeckung der finnougrischen Sprachverwandtschaft“. In: Ural-Altaische Jahrbücher 41 (1969), 3–13; Huldén, Anders: „Martin Fogelius – hambur- garen som upptäckte fennougristiken [Martin Fogelius – der Hamburger, der die Finnoug- ristik entdeckte]”. In: Historiska och litteraturhistoriska studier 60 (Hg. Svenska littera- tursällskapet i Finland). Helsingfors 1985, 109–140; Veenker, Wolfgang (Hg.): Memoriae Martini Fogelii Hamburgensis (1634–1675). Beiträge zur Gedenkfeier in Hamburg am 17. April 1984. Hamburg 1986 (= Mitteilungen der Societas Uralo-Altaica; 7); Ders.: „Die Entwicklung der Finnougristik im deutschsprachigen Raum“. In: Hungarian Studies 2 (1986), 117–151.

50 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung weisen konnte. Günstig für die geistige Entwicklung in der Stadt allgemein, aber vor allem für die wissenschaftlichen Forschungen am Akademischen Gymnasium und speziell für Forschungen über den Ostseeraum wirkte sich aus, dass Hamburg während des 17. Jahrhunderts zu einem Zentrum für das Druck- und Verlagswesen, für die nordeuropäische und gesamteuropäische Diplomatie und, um es leidigerweise zu wie- derholen, für das Nachrichten- und Postwesen des Ostseeraums wurde.18 Trotz dieser hervorragenden Rahmenbedingungen blieb die am Akademischen Gymnasium betrie- bene Forschung über den Ostseeraum aber recht einseitig. Johann Georg Büsch (1728– 1800)19 und Leonhard Wächter (alias Veit Weber, 1762–1837)20, beide Lehrer am Aka- demischen Gymnasium, hielten seit den 1760er Jahren mehr oder weniger regelmäßig

18 Schütze, Gottfried: Geschichte und Verfassung des Hamburgischen Gymnasii und Johan- nei und der Öffentlichen Hamburgischen Gesetze und Verfassungen mit historischen Ein- leitungen. Hamburg 1768; vgl. Kelter, Edmund: Hamburg und sein Johanneum im Wandel der Jahrhunderte 1529–1929. Hamburg 1928, 25–47; Kayser, Werner: 500 Jahre wissen- schaftliche Bibliothek in Hamburg 1479–1979. Von der Ratsbücherei zur Staats- und Uni- versitätsbibliothek. Hamburg 1979, 41–56; Bertheau, Franz R.: Kleine Chronologie zur Geschichte des Zeitungswesens in Hamburg von 1613 bis 1913. Mit einer Einleitung über die Vorläufer der Zeitungen und die Handhabung der Zensur in Hamburg. Hamburg 1914; Lüth, Erich: Zeitungsstadt Hamburg. Hamburg 1961, 11–20. Zur Nachrichten-, Post- und Diplomatiegeschichte vgl. Fußnoten 2 und 3. 19 Büsch, Johann Georg: Kleine Schriften von der Handlung und anderem gemeinnützigen Inhalte. Leipzig 1772 (ND Frankfurt/M. 1972); Ders.: Schriften über Staatswirtschaft und Handlung. Hamburg / Kiel 1780–1784; vgl. auch Ders.: Bemerkungen auf einer Reise durch einen Teil Schwedens: im Jahre 1780. Hamburg 1783; vgl. Stieda, Wilhelm: „Zur Geschichte der hamburgischen Handlungsakademie von Johann Georg Büsch“. In: Zeit- schrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 15 (1910), 1–13; Landwehr, Götz: „Jo- hann Georg Büsch und die Entwicklung des Handelsrechts im 18. Jahrhundert“. In: Hans- Dieter Loose (Hg.): Gelehrte in Hamburg im 18. und 19. Jahrhundert. Hamburg 1976 (= Beiträge zur Geschichte Hamburgs; 12), 59–108; Hatje, Frank: „Patriotismus und Ökono- mie. Zum 200. Todestag von Johann Georg Büsch (1728–1800)“. In: Hamburger Wirt- schafts-Chronik N.F. 1 (2000), 11–51; Zabeck, Jürgen: Johann Georg Büsch (1728–1800). Wirtschaftliches Denken und soziales Handeln. Hamburg 1992; Hempel, Dirk: „Büsch, Johann Georg“. In: Hamburgische Biografie. Bd.5, 2. Auflage, Göttingen 2008, 74. 20 Wächter, Leonhard: Hamburgs Geschichte. Ein Lesebuch für Mädchen und Jünglinge. Lübeck 1788; Ders.: Die Gründung der Bürgerfreyheit Hamburgs. Hamburg 1794; Wurm, Christian Friedrich (Hg.): Leonhard Wächter's Historischer Nachlaß. 2 Bde., Hamburg 1838–1839; vgl. Graewe, Richard: Leonhard Wächter, ein großer Sohn Hamburgs. Dem Dichter und Schriftsteller, dem Schulmann und Patrioten zu seinem 200. Geburtstag am 25. November. Uelzen 1962.

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Vorlesungen zur Geschichte des Hamburger Handels für ein nichtakademisches Publi- kum. Christian Friedrich Wurm (1801–1861), auch er Lehrer am Gymnasium, las 1837–1859 zwar ebenfalls über Hamburger Handelsgeschichte, darüber hinaus aber auch über die allgemeine Geschichte und Verfassungsentwicklung der Hansestädte Hamburg, Lübeck und Bremen.21 Der aus Stralsund zugezogene Publizist und Politiker Jonas Ludwig von Heß (1756–1823) trat mit einer topographischen Beschreibung Hamburgs und einer Schrift Über den Werth und die Wichtigkeit der Freiheit der Hanse- Städte (1814) hervor und bot Vorlesungen über Handelsgeschichte, Handelsge- ographie, Schifffahrt und Wechselrecht.22 Der Journalist, Jurist und Historiker Johann Gustav Gallois (1815–1872) schließlich veröffentlichte eine umfangreiche Geschichte Hamburgs und eine Abhandlung über die Hanse.23 Abgesehen davon, dass die Lehrer

21 Mit Bezug zur Ostseehanse: Wurm, Christian Friedrich: Verfassungs-Skizzen der freien und Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg. Hamburg 1841; Vgl. „Wurm“. In: Lexi- kon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 8, Hamburg 1883, 191–198; Wohlwill, Adolf: „Wurm, Christian Friedrich“. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 44, Leipzig 1898 (ND Berlin 1971), 326–332; Wagner, Doris: Christian Friedrich Wurm (1801–1861). Freiheitskämpfer und germanistischer Querschläger. Bausteine zu einer wissenschaftlichen Biographie. Diss. Bayreuth 1996 (= Bayreuther Arbeiten zur Landes- geschichte und Heimatkunde; 13); Gerber, Barbara: „Christian Friedrich Wurm. Die Mo- dernisierung des ‚hamburgischen Patriotismus‘“. In: Wolfgang Beutin u.a. (Hgg.): Die deutsche Revolution von 1848/49 und Norddeutschland. Beiträge der Tagung vom 15. Bis 17. Mai 1998 in Hamburg. Frankfurt/M. 1999 (= Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte; 27), 197–217; Kopitzsch, Franklin: „Geschichtswissenschaft in Hamburg vor Gründung der Universität“. In: Rainer Nicolaysen und Axel Schildt (Hgg.): 100 Jahre Geschichtswissenschaft in Hamburg. Berlin / Hamburg 2011 (= Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte; 18), 43–64, hier 43ff. 22 Schriftenverzeichnis in: Schröder, Hans (Hg.): Lexikon Hamburgischer Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 3, Hamburg 1857, 232; vgl. Beneke, Otto: „Heß, Jonas Ludwig von“. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 12, Leipzig 1880, 292–295; Grolle, Joist: „Eine Republik wird besichtigt. Das Hamburgbild des Aufklärers Jonas Ludwig von Heß“. In: Zeitschrift für Hamburgische Geschichte 79 (1993), 1–36; Ders.: Kant in Hamburg. Der Philosoph und sein Bildnis. Stuttgart 1995; Ders.: „Hess, Jonas Ludwig von“. In: Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke (Hgg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Bd. 1, 2. Auflage, Hamburg 2008, 132ff. 23 Gallois, Johann Gustav: Der Hansabund von seiner Entstehung bis zu seiner Auflösung. Leipzig 1851 (= Historische Hausbibliothek; 19); Ders.: Geschichte der Stadt Hamburg. Hamburg 1853–1856; vgl. Grolle, Joist: Hamburg und seine Historiker. Hamburg 1997 (=

52 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung des Akademischen Gymnasiums sich mit der Geschichte und Kultur Hamburgs und des Ostseeraums beschäftigten, war das Akademische Gymnasium auch ein Anzie- hungspunkt für Gelehrte aus dem Ostseeraum, darunter der seit 1634 in schwedischen Diensten tätige Rechtsgelehrte Hugo Grotius (1583–1645) und später der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707–1778). Zur Erforschung des Ostseeraums beigetragen haben des Weiteren die 1765 gegründe- te Hamburger „Patriotische Gesellschaft“ und der aus ihr hervorgegangene „Verein für Hamburgische Geschichte“ (VGH, gegr. 1839).24 Bei der Patriotischen Gesellschaft handelt es sich um eine gemeinnützige Gesellschaft, die damals vor allem von den Hamburger Großkaufleuten unterhalten wurde. Aus ihren Reihen stammten auch die meisten Mitglieder.25 Die Bibliotheken der Patriotischen Gesellschaft und des VGH stellten eine unverzichtbare strukturelle Voraussetzung für die Hamburger Ostseefor- schung dar. Die beiden ersten Vorsitzenden des VGH, Johann Martin Lappenberg (1794–1865) und Adolf Benjamin Wohlwill (1843–1916), setzten mit ihren auf Ham- burg und die Hanse gerichteten Forschungen wissenschaftliche Maßstäbe. Lappenberg, der das Akademische Gymnasium besucht hatte, seit 1823 als Archivar des Hamburger Senats arbeitete und 1839 erster Vorsitzender des VGH wurde, ist vor allem als Her- ausgeber von Quelleneditionen zur Geschichte Hamburgs, der Hanse und Nord-

Veröffentlichungen des Vereins für Hamburgische Geschichte; 43), 68–75; Ders.: „Gallois, Johann Gustav“. In: Kopitzsch et al. 2008, wie Fußnote 22, 137. 24 Vgl. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Vereins am 9. April 1939. Hamburg 1939; Loose, Hans-Dieter: „Kontinuität und Wandel. Die letzten 50 Jahre des Vereins für Hamburgische Geschichte“. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 74/75 (1989), 1–21; Hauschild-Thiessen, Renate: „150 Jahre Verein für Hamburgische Geschichte“. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 76 (1990), 1–11; Husen, Sebastian: Vaterstädtische Geschichte im republikanischen Stadtstaat. Studien zur Entwicklung des Vereins für Hamburgische Geschichte (1839–1914). Hamburg 1999; Gabrielsson, Peter: „‚... anstelle einer Historischen Kommission‘. Zum Zusammenwirken von Staatsarchiv und Verein für Hamburgische Geschichte“. In: Hans Wilhelm Eckardt und Peter Gabrielsson (Hgg.): Zwischen Verwaltung und Wissenschaft. Beiträge zur Ge- schichte und Gegenwart des Staatsarchivs Hamburg. Hamburg 1985 (= Beiträge zur Ge- schichte Hamburgs; 26), 23–35. 25 Vgl. Kowalewski, Gustav: Geschichte der Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe (Patriotische Gesellschaft. Gestiftet im Jahre 1765). Hamburg 1897; Schambach, Sigrid: Aus der Gegenwart die Zukunft gewinnen. Die Ge- schichte der Patriotischen Gesellschaft von 1765. Hamburg 2004.

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deutschlands hervorgetreten. Besonders zu erwähnen sind seine 1841 publizierten Geschichtsquellen des Erzstiftes und der Stadt Bremen, darunter die Schriften Adams von Bremen, das Hamburgische Urkundenbuch (1842) und die Bearbeitung und Editi- on einer Schrift von Georg Friedrich Freiherr von Waltershausen Sartorius (1765– 1828), mit dem er weitläufig verwandt war, Urkundliche Geschichte des Ursprunges der deutschen Hanse.26 Adolf Wohlwill, auch er ein Absolvent des Akademischen Gymnasiums, trat dem VGH 1872 bei und arbeitete seit 1887 selbst als Lehrer bzw. (seit 1890) Professor an seiner früheren Lernstätte. Stärker noch als bei Lappenberg beschränkten sich seine Forschungen fast ausschließlich auf die Geschichte Hamburgs, jedoch immer mit Bezügen zur allgemeinen und zur Ostseehansegeschichte.27 Noch deutlicher an den Interessen der Kaufmannschaft orientiert war die Einrichtung der „Commerzbibliothek“ der Hamburgischen Commerzdeputation. Die Commerzde-

26 Lappenberg, Johann Martin und Georg Friedrich Freiherr von Waltershausen Sartorius (Hgg.): Urkundliche Geschichte des Ursprunges der deutschen Hanse. 2 Bde., Hamburg 1830; Lappenberg (Hg.): Geschichtsquellen des Erzstiftes und der Stadt Bremen, Bremen 1841 (ND Aalen 1967); Ders. (Hg.): Hamburgisches Urkundenbuch. Hamburg 1842; Üb- rige Schriften mit Ostseebezug: Ders. (Hg.): Hamburgische Chroniken in niedersächsi- scher Sprache. Hamburg 1861 (ND Niederwalluf 1971); Ders. (Hg.): Hamburgische Rechtsalterthümer. Hamburg 1845 (ND Hamburg 1907); vgl. Frensdorff, Ferdinand: „Lappenberg (Johann Martin)“. In: August Leskien (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. 2. Section H-N, 42. Theil, Leipzig 1888, 112–115; Pauli: „Lappenberg, Johann Martin“. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 17, Leipzig 1883, 707–715 (online: http://www.deutsche-biographie.de/pnd100180930.html?anchor=adb, 29. März 2013); Meyer, Elard Hugo: Johann Martin Lappenberg. Eine biographische Schilderung. Hamburg 1867, 84–91; Postel, Rainer: Johann Martin Lappenberg. Ein Bei- trag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. Lübeck / Hamburg 1972 (= Historische Studien; 432); Ders.: „Johann Martin Lappenberg: Wegbereiter der Hamburgischen Geschichtswissenschaft“. In: Loose 1976, wie Fußnote 19, 155–178; Ko- pitzsch 2011, wie Fußnote 21, 45ff. 27 Ein Verzeichnis seiner größeren Werke stammt von Wohlwill selbst. Wohlwill, Adolf: „Rückblicke auf meine Lern- und Lehrjahre“. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 22 (1918), 511–561; vgl. Bippen, Wilhelm von: „Adolf Wohlwill, ein Nach- ruf“. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 22 (1918), 1–20; Kopitzsch, Franklin und Daniel Tilgner (Hgg.): Hamburg-Lexikon. 3. Auflage, Hamburg 2005, 533; Grolle 1997, wie Fußnote 23, 55–59; Nirrnheim, Hans: „Nachruf“. In: Mitteilungen des Vereins für Hamburgische Geschichte 13 (1917), 29–31; Lorenz, Ina: „Wohlwill, Adolf“. In: Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke (Hgg.): Hamburgische Biografie. Personenlexi- kon. Bd. 4, Hamburg 2008, 385ff.; Kopitzsch 2011, wie Fußnote 21, 47-52.

54 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung putation war 1665 als Exekutivorgan und Interessenvertretung des „Gemeinen Kauf- manns“, der Hamburger Gilde der Großkaufleute (gegr. 1517), gebildet worden. 1735 rief sie die Commerzbibliothek ins Leben. Diese entwickelte sich binnen kürzester Zeit zur bedeutendsten Bibliothek für das allgemeine Wirtschaftsleben, insbesondere aber für den Groß- und Seehandel der Hansestadt. Ernst Baasch (1861–1947), der in Tübin- gen, Berlin und Marburg Geschichte, Geographie und Nationalökonomie studiert hat- te, wurde 1889 zum Leiter der Commerzbibliothek berufen und trat mit mehreren gro- ßen Werken zur hamburgischen und hansischen Handelsgeschichte hervor – darunter Forschungen zur hamburgischen Handelsgeschichte (1889–1902), Hamburgs Convoy- schiffahrt und Convoywesen (1896), Hamburgs Handel und Verkehr im 19. Jahrhun- dert (1901), Geschichte Hamburgs 1814 bis 1918 (1924–1925) und Quellen zur Ge- schichte von Hamburgs Handel und Schiffahrt im 17., 18. und 19. Jahrhundert (1908– 1910). Baasch war ein typischer Vertreter jener bemerkenswerten Ambivalenz aus Kaufmannsstolz und patriotisch grundierter Verletzbarkeit, die er, der Zugezogene, sich in einer Art Hyperakkulturation an seine Wahlheimat zu eigen machte. In einer Replik auf die Antrittsvorlesung des 1907 zum Stiftungsprofessor des seit 1837 etab- lierten Hamburger „Allgemeinen Vorlesungswesens“ am Akademischen Gymnasium berufenen Erich Marcks (1861–1938) hielt er es für notwendig, gegen dessen These von der „merkantilen Einseitigkeit“ Hamburgs zu polemisieren. Gleichzeitig gehörte er in die erste Reihe derjenigen, die sich fast ausschließlich mit einer Geschichte der merkantilen Interessen der Hamburger Kaufmannschaft beschäftigten.28 Am bedeutendsten für eine Ostseeforschung, die über Hamburger Eigeninteressen hin- ausreichte, war und ist der 1870 in Hamburg gegründete „Hansische Geschichtsver-

28 Baasch, Ernst Theodor: Forschungen zur hamburgischen Handelsgeschichte. 3 Teile, Hamburg 1889–1902; Ders.: Hamburgs Convoyschiffahrt und Convoywesen. Ein Beitrag zur Geschichte der Schiffahrt und Schiffahrtseinrichtungen im 17. und 18. Jahrhundert. Hamburg 1896; Ders.: Hamburgs Handel und Verkehr im 19. Jahrhundert. Hamburg 1901; Ders.: Quellen zur Geschichte von Hamburgs Handel und Schiffahrt im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Hamburg 1908–1910. Weitere wichtige Werke: Ders.: Die Handelskam- mer zu Hamburg 1665–1915. 2 Bde. in 3 Teilen, Hamburg 1915 (mit reichem Quellenma- terial); Ders.: Geschichte Hamburgs 1814 bis 1918. 2 Bde., Gotha 1924–1925; Ders.: Ge- schichte des Hamburgischen Zeitungswesens. Von den Anfängen bis 1914. Hamburg 1930; vgl. Grolle, Joist: „Blick zurück im Zorn. Das Revolutionstrauma des Ernst Baasch“. In: Ders. 1997, wie Fußnote 23, 99–122; Ders.: „Baasch, Ernst Theodor“. In: Kopitzsch et al. 2008, wie Fußnote 22, .31f.

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ein“. Der Ertrag seiner Forschungen hat sich in mehreren Buchreihen und in der hoch angesehenen Zeitschrift „Hansische Geschichtsblätter“ (1871ff.) niedergeschlagen, die bis heute erscheint. Als Arbeitsgrundlage diente ihm seit jeher das umfangreiche Quel- lenmaterial zur Hansegeschichte im Hamburgischen Staatsarchiv.29 Nach Lappenberg und Wohlwill haben hier vor allem der VGH-Historiker Karl Koppmann (1839– 1905)30, der Direktor des Hamburger Staatsarchivs Heinrich Reincke (1881–1960)31

29 Vgl. Flamme, Paul u.a. (Hgg.): Kommentierte Übersicht über die Bestände des Staatsar- chivs der Freien und Hansestadt Hamburg. 2., erw. und verb. Auflage, Hamburg 1999 (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg; 14). 30 Veröffentlichungen mit Bezügen zum Ostseeraum: Koppmann, Karl: Die ältesten Urkun- den des Erzbisthums Hamburg-Bremen. Diss. Göttingen / Hamburg 1866; Ders.: Die ältes- ten Handelswege Hamburgs. Hamburg 1873; Ders. (Hg.): Hanserecesse. Die Recesse und andere Akten der Hansetage 1256–1430. 8 Bde., Leipzig 1879–1897 (ND Hildesheim 1975); Ders. (Hg.): Kämmereirechnungen der Stadt Hamburg 1350–1562. 9 Bde., Ham- burg 1869–1894; Ders.: Hansische Wisbyfahrt. Hamburg 1883; Ders.: Die preussisch- englischen Beziehungen der Hanse 1375–1408, o.O. 1884; Ders.: Der Verein für Hambur- gische Geschichte nach seinen Aufgaben, Leistungen und Wünschen. Hamburg 1884. Au- ßerdem zahlreiche Kleinschriften; s. Verzeichniß der Schriften von Karl Koppmann, Stadt- archivar zu Rostock, 1866–1891. Dem Herrn Verf. zur Feier seines 25-jährigen Doctor- Jubiläums am 11. Juni 1891 hochachtungsvoll dargebracht vom Verein für Hamburgische Geschichte. Hamburg 1891; vgl. Husen, Sebastian: „Koppmann, Karl“. In: Franklin Ko- pitzsch und Dirk Brietzke (Hgg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Bd.1, Ham- burg 2001, 228f.; Leesch, Wolfgang: „Koppmann, Karl“. In: Ders. (Hg.): Die deutschen Archivare 1500–1945. Bd.2: Biographisches Lexikon, München u.a. 1992, 329; Witt, Horst: Karl Koppmann (1839–1905). Leben und Wirkung eines Hanse-Historikers und des ersten Stadtarchivars in Rostock, o.O. 1988; Ders.: „Karl Koppmann (1839–1905) – ein bedeutender Hansehistoriker und erster Stadtarchivar in Rostock“. In: Martin Guntau und Kerstin Schmidt (Hgg.): Mecklenburgische Persönlichkeiten und ihre Beiträge zum wis- senschaftlich-technischen Fortschritt in der Geschichte. Rostock 1986 (= Rostocker Wis- senschaftshistorische Manuskripte; 13), 24–28; Wentz, Gottfried: „Karl Koppmann zum 100. Geburtstag“. In: Hansische Geschichtsblätter 64 (1940), 81–110; Wohlwill, Adolf: „Zur Erinnerung an Karl Koppmann“. In: Mitteilungen des Vereins für Hamburgische Ge- schichte 25 (1905:5/6), 57–67; Bippen, Wilhelm von: „Zum Andenken an Karl Kopp- mann“. In: Hansische Geschichtsblätter 32 (1904/05), 11–23. 31 Reincke wurde 1920 zum Archivrat ernannt und erhielt von der Hamburger Universität 1925 eine Venia Legendi für „hamburgische und hansische sowie niederdeutsche Landes- geschichte“. 1928 wurde er Professor, 1931 außerordentlicher Professor der Universität Hamburg. Von 1933 bis 1947 wirkte Reincke als Direktor des Hamburgischen Staatsar- chivs. Für Reincke war die Ostsee Teil des deutschen „Lebensraums“ und der „pangerma- nischen“ Geschichte. Dabei stand Reincke auch dem „SS-Ahnenerbe“ nah. Veröffentli-

56 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung sowie die Universitätshistoriker Friedrich Keutgen (1861–1936)32, Paul Johansen (1901–1965), Norbert Angermann (*1936), Rainer Postel (*1941)33 und Jürgen Sar- nowsky (*1955) Herausragendes geleistet. Sie alle standen und stehen in enger Ver- bindung mit den Aktivitäten des „Hansischen Geschichtsvereins“.34

chungen mit Bezügen zum Ostseeraum: Reincke, Heinrich: Die Hamburger Messe und die Weltverkehrspläne Karls IV. Hamburg 1919; Ders.: Kaiser Karl IV. und die deutsche Han- se. Lübeck 1931; Ders.: Das hamburgisch-lübeckische Recht. Hamburg 1934; Ders.: Zu- stand und Verluste der hansischen Archive (Maschinenschrift vervielfältigt). Hamburg 1947; Ders.: Bevölkerungsprobleme der Hansestädte. Hamburg 1951; Ders.: Die ältesten Urkunden der Hansestadt Hamburg. Hamburg 1951; Ders.: Historisch-politische Betrach- tungen über die Reichsunmittelbarkeit der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg 1952; Ders.: Die Lebensgrundlagen Hamburgs. Hamburg 1955. Schriftenverzeichnis in: Festschrift zum siebzigsten Geburtstag Professor Dr. Heinrich Reinckes am 21. April 1951 (= Sammlung von Aufsätzen Reinckes). Hamburg 1951 (= Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte; 41), 408–415. Reinckes Nachlass befindet sich im Hamburger Staatsarchiv. Zu Leben und Werk vgl. Bolland, Jürgen: „Heinrich Reincke. Hamburg 21.4.1881, Hamburg 3.11.1960“. In: Archivar 14 (1961:3), 308ff.; Ders.: „Prof. Dr. iur. Dr. phil. h. c. Heinrich Reincke, geb. 21. April 1881, gest. 3. Nov. 1960“. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 85/86 (1961), 17f.; Brandt, Ahasver von: „Heinrich Reincke“. In: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Alter- tumskunde 41 (1961), 170ff.; Lehe, Erich: „Heinrich Reincke als Hanseforscher. Ein Nachruf“. In: Hansische Geschichtsblätter 79 (1961), 1–14; Ders.: „Heinrich Reincke 21.4.1881–3.11.1960“. In: Archivalische Zeitschrift 57 (1961), 148f.; Grolle, Joist: „Rein- cke, Heinrich“. In: Kopitzsch et al. 2001, wie Fußnote 30, 248. 32 Keutgen arbeitete seit 1910 am Historischen Seminar. Vgl. Ruppenthal, Jens: Kolonialis- mus als „Wissenschaft und Technik“. Das Hamburgische Kolonialinstitut 1908 bis 1919. Stuttgart 2007 (= Historische Mitteilungen; 66), 227–231. 33 Veröffentlichungen mit Bezügen zum Ostseeraum: Postel, Rainer: Johann Martin Lap- penberg und die hansische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. München 1962; Ders.: Das „Heiligtum“ im Ratskeller. Die Hansestädte und der Wein. Linz 1996. Ver- zeichnis der kleineren Schriften in: Postel, Rainer: Beiträge zur hamburgischen Geschich- te der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze zum 65. Geburtstag (Hg. Lars Jockheck), Hamburg 2006 (= Geschichte: Forschung und Wissenschaft; 18), 233ff. 34 Zu Johansen, Angermann und Sarnowsky s.u. Vgl. Grolle 1997, wie Fußnote 23, 123–150; Borowsky, Peter: „Geschichtswissenschaft an der Hamburger Universität 1933 bis 1945“. In: Eckart Krause u.a. (Hgg.): Hochschulalltag im Dritten Reich. Bd. 3, Berlin / Hamburg 1991 (= Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte; 3), 537–588, hier 547.

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3. Ostseeforschung an der Universität Hamburg

Die akademische Ostseeforschung fand nach Gründung der Hamburger Universität im Jahre 1919 ihren natürlichen Platz in der neuen Hochschule. Diese fungierte teilweise als Symbol gegen eine rein merkantil geprägte Wissenschaft. Ernst Baasch, der dies deutlich spürte, schon bevor die Universität ins Leben gerufen worden war, war des- halb zusammen mit einer Mehrheit in der Hamburger Handelskammer einer der schärfsten Kritiker der Universitätsgründung.35 Andererseits zeigten sich personelle und thematische Kontinuitäten. Die Universität ging ja aus dem Allgemeinen Vorle- sungswesen des Akademischen Gymnasiums hervor, und einige seiner Protagonisten fanden sich ohne weitere Karriererückschläge in der Universität wieder. An der Ostseeforschung hatten vor allem drei Universitätsfächer entscheidenden An- teil: Skandinavistik, Geschichtswissenschaft und Finnougristik. Daneben haben auch die germanistischen Forschungen zum Niederdeutschen eine Bedeutung für die Ost- seeraumforschung erlangt. Skandinavistik wurde nicht als eigenständiges Fach, aber dem Inhalt nach seit Gründung der Universität betrieben, und zwar innerhalb der Ger- manistik. Die beiden „Germanischen Institute“ boten bis zum Wintersemester 1975/76 mehr oder weniger regelmäßig Veranstaltungen zum Altisländischen, Altnordischen, zu den modernen skandinavischen Sprachen und zur älteren und neueren skandinavi- schen Literatur an. Dabei markierte die Berufung Conrad Borchlings (1872–1946) auf einen Lehrstuhl für „Deutsche Philologie“ am Hamburger Kolonialinstitut im Jahre 1910 den Beginn einer akademischen Sprach- und Literaturwissenschaft, die die Er- forschung der „Völkergemeinschaft“ der „um die Nordsee und Ostsee lozierten ger- manischen Stämme“ (Borchling) zum Ziel hatte.36 Borchling hatte in Göttingen Klas- sische Philologie und Germanistik studiert und danach im Auftrag der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen intensive Bibliotheks- und Archivstu- dien zur mittelniederdeutschen Literatur betrieben. Bevor er nach Hamburg kam, war er Privatdozent für „Deutsche Philologie“ in Göttingen und Professor an der Akademie

35 Vgl. Grolle, Joist: „Baasch, Ernst Theodor“. In: Kopitzsch et al. 2008, wie Fußnote 22, 31f., hier 31. 36 Vgl. Bachofer, Wolfgang und Wolfgang Beck: „Deutsche und niederländische Philologie. Das Germanische Seminar zwischen 1933 und 1945“. In: Eckart Krause u.a. (Hgg.): Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945. Berlin / Hamburg 1991 (= Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte; 3), hier Teil II, 650.

58 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung zu Posen gewesen. Die Beschäftigung mit dem Mittelniederdeutschen und seine prak- tischen Spracherfahrungen im Posener deutsch-polnischen Grenzgebiet dürften dazu geführt haben, dass er zum Anhänger groß- und pangermanischer Ideen wurde und die Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Skandinavien aufgrund von Sprache, Kultur und Hanseverbindungen betonte. Mit Gründung der Hamburger Universität ging Borchlings Professur als „Ordentliche Professur für Deutsche Sprachwissenschaft und Deutsche Literatur mit besonderer Rücksicht des Niederdeutschen und Niederlän- dischen“ in den Bestand der Philosophischen Fakultät über und wurde beim neuge- gründeten „Germanischen Seminar“ (1910–1919: „Deutsches Seminar“) angesiedelt. Seine Lehrtätigkeit erstreckte sich außer auf niederdeutsche auch auf skandinavische Themen. So hielt er im Wintersemester 1912/13 eine Vorlesung zur skandinavischen Literatur und organisierte in den 1930er Jahren mehrere „Studienfahrten“ (Exkursio- nen) in nordeuropäische Länder. Auch in der Forschung spielte Skandinavien eine wichtige Rolle. Borchling unterhielt zahlreiche akademische Verbindungen zu skandi- navischen Kollegen und war Mitglied in mehreren skandinavischen Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften. Einige seiner Assistenten stammten aus dem Nor- den, darunter Erik Rooth, der 1915–1916 Schwedischkurse an der Hamburger Univer- sität abhielt.37 Das Hauptaugenmerk von Borchlings Forschungstätigkeit lag allerdings auf der Fortsetzung seiner vorhamburgischen wissenschaftlichen Bemühungen.38 Zu- sammen mit seiner Kollegin und (seit 1923) Professorin für „Niederdeutsche Philolo- gie“ Agathe Lasch (1879–1942)39 rief er 1923 eine am Germanischen Seminar ange-

37 Vgl. Rooth, Erik: „Conrad Borchling und Schweden“. In: Niederdeutsche Welt 17 (1942), 2ff.; Katara, Pekka: „Borchling und Finnland“. In: Ebd., 4ff. 38 Schriftenverzeichnis in: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachfor- schung 55 (1942), 2–21. 39 Agathe Lasch war seit 1910 Mitglied des „Vereins für niederdeutsche Sprache“ und seit 1917 des „Vereins für Hamburgische Geschichte“. Einschlägige Werke zur Ostseephilolo- gie: Lasch, Agathe: Geschichte der Schriftsprache in Berlin bis zur Mitte des 16. Jahrhun- derts. Diss. Universität Berlin 1909, Dortmund 1910; Dies.: Mittelniederdeutsche Gram- matik. Halle 1914; Dies.: Der Anteil des Plattdeutschen am niederelbischen Geistesleben im 17. Jahrhundert. Habilitationsschrift, Universität Hamburg 1919; Dies.: Berlinisch. Ei- ne berlinische Sprachgeschichte. Berlin 1928; Dies.: Mittelniederdeutsches Handwörter- buch. Lieferungen 1–7 (1928–1934). Agathe Lasch gab außerdem ab 1925 zusammen mit Conrad Borchling und Otto Mensing die Schriftenreihe „Sprache und Volkstum. Arbeiten zur niederdeutschen Sprachgeschichte und Volkskunde“ heraus. Über Agathe Lasch vgl.

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siedelte „Mittelniederdeutsche Forschungsstelle“ ins Leben, mit dem Ziel, das Mittel- niederdeutsche Wörterbuch, eine umfassende Sammlung des Wortschatzes der Hanse- zeit auf Grundlage des entsprechenden Wörterbuches der Gymnasiallehrer August Lübben (1818–1884) und Christoph Walther (1841–1914)40 zu publizieren. Die ersten Lieferungen erschienen ab 1928, doch ist das Projekt bis heute nicht abgeschlossen (s.u.). Ein anderes Gemeinschaftsprojekt war die „Sammelstelle für das Hamburgische Wörterbuch“, die ein Hamburgisches Wörterbuch in der Tradition von Michael Ri- cheys (1678–1761)41 Idioticon Hamburgense und Vorarbeiten Christoph Walthers (1841–1914) zusammenstellen sollte. Das Erscheinen dieses umfangreichen Werkes verzögerte sich jedoch aufgrund politischer Verwicklungen der Herausgeber bis 1956. Agathe Lasch, die einen jüdischen familiären Hintergrund hatte, 1933 aber auf Inter- vention von Studenten und schwedischen Kollegen einer Entlassung noch entgangen war, erteilte die NS-Führung 1934 erst ein Lehr-, dann ein Publikationsverbot; 1942 wurde sie verhaftet, nach Riga deportiert und in den Riga umgebenden Wäldern von NS-Schergen ermordet. Borchlings groß- und pangermanische Aktivitäten mündeten 1933 in eine Mitgliedschaft bei der Deutschen Volkspartei und in seine Wandlung zum Nationalsozialisten. Seine mehrfachen Zwistigkeiten mit der deutschen NS-Führung

Schröder, Ingrid: „Agathe Lasch und die Hamburger Lexikographie“. In: Auskunft. Zeit- schrift für Bibliothek, Archiv und Information in Norddeutschland 29 (2009), 1f., 47–62; Dies.: „‚den sprachlichen Beobachtungen geschichtliche Darstellung geben‘ – Die Germa- nistikprofessorin Agathe Lasch“. In: Rainer Nicolaysen (Hg.): Das Hauptgebäude der Universität Hamburg als Gedächtnisort. Mit sieben Porträts in der NS-Zeit vertriebener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Hamburg 2011, 81–111; Dies.: „‚… aus- nahmsweise eine weibliche Kraft‘. Agathe Lasch – die erste Germanistikprofessorin Deutschlands am Germanischen Seminar der Hamburger Universität“. In: Miriam Richter und Mirkko Nottscheid (Hgg.): 100 Jahre Germanistik in Hamburg. Traditionen und Per- spektiven. Berlin / Hamburg 2011, 81–106; Kaiser, Christine M.: Agathe Lasch (1879– 1942). Erste Germanistikprofessorin Deutschlands. Teetz / Berlin 2007 (= Jüdische Minia- turen; 63). 40 Lübben, August und Christoph Walther: Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. Norden / Leipzig 1888 (ND zuletzt 2005). 41 Michael Richey war 1717–1761 Lehrer für Griechisch und Geschichte am Akademischen Gymnasium. Richey, Michael: Idioticon Hamburgense oder Wörter-Buch zur Erklärung der eigenen, in und um Hamburg gebräuchlichen Nieder-Sächsischen Mund-Art. Hamburg 1755 (ND Hamburg 1975); vgl. Rathke, Jürgen: „Richey Michael“. In: Kopitzsch et al. 2008, wie Fußnote 22, 250ff.; Kopitzsch 2011, wie Fußnote 21, 43ff.

60 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung

über Detailfragen einer NS-Germanistik verhinderten zwar nicht, dass er bis 1945 wis- senschaftlich tätig blieb; aber nach der deutschen Niederlage wurde Borchling von der englischen Besatzungsmacht „in den Ruhestand versetzt“. Kurze Zeit später verstarb er.42 Laschs und Borchlings Forschungen zum Niederdeutschen fanden in der Nachkriegs- zeit eine schleppende Fortsetzung: das Mittelniederdeutsche Wörterbuch unter Ger- hard Cordes (1908–1985) und Annemarie Hübner (1908–1996) sowie das Hamburgi- sche Wörterbuch unter Hans Kuhn (1899–1988) und Ulrich Pretzel (1898–1981). Die heutige „Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur“ des Instituts für Germa- nistik I, die sich nach eigener Aussage „der Erforschung des Niederdeutschen in seinen gegenwärtigen und historischen Ausprägungen sowohl unter linguistischem als auch unter literaturwissenschaftlichem Aspekt“ widmet,43 hat erst 2006 die Edition des „Hamburgischen Wörterbuches“ abschließen können. Das Mittelniederdeutsche Wör- terbuch ist weiter in Arbeit und steht seit 2002 unter der Leitung von Ingrid Schröder (*1960). Diese hatte sich mit dem Niederdeutschen bereits an den Universitäten Göt- tingen und Greifswald beschäftigt und war 1988–1993 Mitarbeiterin an der Hamburger Mittelniederdeutschen Forschungsstelle. Schröders weitere Arbeitsschwerpunkte lie- gen in der Erforschung des Mittelniederdeutschen von der Reformation bis ins Aufklä- rungszeitalter und des Hamburgischen als Teilsprache des Niederdeutschen.44 Während das Hamburgische Wörterbuch die traditionelle stadt- bzw. landesgeschichtliche For- schung über Hamburg fortsetzt, repräsentiert das Mittelniederdeutsche Wörterbuch den zweiten Bereich der hamburgischen philologischen Interessen am Ostseeraum – die Erforschung der lingua franca der mittelalterlichen Ostseehanse.

42 Vgl. Bachofer et al. 1991, wie Fußnote 36, 641–704; Bachofer, Wolfgang: „Borchling, Conrad“. In: Kopitzsch et al. 2008, wie Fußnote 22, 57f.; Ruppenthal 2007, wie Fußnote 32, 243ff.; Schröder, Ingrid: „Borchling, Conrad August Johannes Carl“. In: Martin Tielke (Hrg.): Biographisches Lexikon für Ostfriesland. Bd. 4, Aurich 2007, 50–55; Dies.: „‚Mit besonderer Rücksicht des Niederdeutschen und des Niederländischen‘. Conrad Borchling und der Ausbau des Deutschen Seminars“. In: Richter et al. 2011, wie Fußnote 39, 65–80. 43 Eigendarstellung auf der Website: http://www.slm.uni-hamburg.de/ifg1/NdSL/Ueber_uns.html#platt (letzter Zugriff: 12. März 2013). 44 Hennig, Beate u.a. (Hgg.) Hamburgisches Wörterbuch. 5 Bde., Neumünster 1984–2006; vgl. auch das von Schröders Mitarbeitern herausgegebene Kleine Hamburgische Wörter- buch (hg.v. Beate Hennig und Jürgen Meier), Neumünster 2006.

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Dabei beschränkte sich die philologische Erforschung des Ostseeraumes im 20. Jahr- hundert keineswegs nur, wie ehedem, auf hamburgisch-hansische, ja nicht einmal auf ostseehansische Aspekte. Mit Gründung der Universität kamen auch die Sprachen und Literaturen des nichthansischen nördlichen Ostseeraums zur Geltung. Spiritus rector und Motor einer die deutsche Philologie überschreitenden Germanistik war von An- fang an Conrad Borchling. Borchlings Kollege Heinrich Meyer-Benfey (1869–1945), 1923–1938 Extraordinarius für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, bot Lehrveranstaltungen zur skandinavischen Sprache und Literatur und sogar zur li- tauischen Sprache an. Allerdings lagen seine diesbezüglichen Hauptinteressen nicht in der Ostseephilologie, sondern im Norwegischen, für das er spezielle Sprachkurse ein- richtete.45 Dezidierter ostseeskandinavistisch arbeitete der Privatdozent Walter A. Be- rendsohn (1884–1984), der zwischen 1919 und 1936 Schwedisch-Sprachkurse und Lehrveranstaltungen zur nordeuropäischen Literatur abhielt. Im Wintersemester 1922/23 konnte mit Mitteln des Schwedischen Klubs in Hamburg und der „Riksföre- ningen för svenskhetens bevarande i utlandet“ (Reichsvereinigung zur Bewahrung des Schwedischen im Ausland) ein auf zwei Jahre befristetes Schwedisch-Lektorat einge- richtet werden. Gleichzeitig entstand eine schwedische Studienbibliothek. Die finan- ziellen Mittel wurden jedoch noch im laufenden Wintersemester von der Inflation auf- gezehrt. Es sollte bis zum Wintersemester 1938/39 dauern, bis nach mehreren Eingaben Borchlings erneut – und diesmal unbefristet – ein Schwedisch-Lektorat ein- gerichtet werden konnte.46 Der Indologe norwegischer Herkunft Sten Konow (1867– 1948) hingegen hatte schon im Wintersemester 1921/22 ein Norwegisch-Lektorat übernommen. Außerdem brachten norwegische Freunde Konows eine aus Buchspen-

45 Hempel, Dirk: „Heinrich Meyer-Benfey. Frauenbewegung, Tagore und die Allgemeine Literaturwissenschaft zwischen 1919 und 1939“. In: Richter et al. 2011, wie Fußnote 39, 125–148. 46 „Skandinavische Studien in Hamburg“. In: Hamburger Fremdenblatt, 6. Dezember 1921. Abendausgabe, 546; Berendsohn, A.: „Schwedische Studien in Hamburg“. In: Schweden- tum an deutschen Universitäten. Gedenkschrift für Dr. Wolrad Eigenbrodt. Jena 1922, 39ff.; Müller, Hans-Harald: „Vom Freistudententum zur Sozialdemokratie. Walter A. Be- rendsohn: Weltanschauliche Entwicklung und akademischer Werdegang bis zum Ende der Weimarer Republik“. In: Richter et al. 2011, wie Fußnote 39, 149–176, hier 174f.; Nott- scheid, Mirko: „Lektoren und Lektorate. Zur Tätigkeit akademischer Sprachlehrer in der Hamburger Germanistik (Vilma Mönckeberg-Kollmar – Annemarie Hübner – Willy Krogmann)“. In: Ebd., 331–364, hier 337, 341f.

62 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung den bestehende norwegische Studienbibliothek für Hamburg zusammen, die immerhin rund 700 Bände umfasste. Das Norwegisch-Lektorat zeigte im Gegensatz zum Schwe- disch-Lektorat höhere Stabilität. Es wurde in der Regel mit norwegischen Gymnasial- lehrern besetzt, die für ein Jahr angestellt wurden. Zwischen 1921 und 1939 verzeich- nen die Akten insgesamt elf Lektoren. Viele weitere kamen während der NS-Periode und in der Nachkriegszeit hinzu.47 Ein informelles Dänisch-Lektorat entstand, als der Kieler Lektor Harald Skalberg ab dem Wintersemester 1924/25 Dänisch im Nebenamt auch an der Hamburger Universität unterrichtete. Seine bis 1936 ausgeübte Lehrtätig- keit wurde zu gleichen Teilen aus Mitteln der Universitäten Kiel und Hamburg, außer- dem durch einen Zuschuss des dänischen Staates finanziert. Ein formalisiertes Dä- nisch-Lektorat konnte erst im Wintersemester 1938/39 – wiederum auf Borchlings Initiative hin – geschaffen werden.48 Vor diesem Hintergrund gelang es Borchling und seinen Kollegen in den 1920er und 1930er Jahren, Hamburg zu einem der fünf deut- schen Zentren für skandinavistische Studien (neben Greifswald, Leipzig, Berlin und Kiel) auszubauen. Sie gründeten im April 1927 mit einigen Kollegen außerhalb Ham- burgs eine „Nordisch-Akademische Arbeitsgemeinschaft“, die das Ziel verfolgte, eine gesamtdeutsche Skandinavistik als eigenständigen Fachverband zu etablieren.49 In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Hamburger Nordeuropastudien im Rahmen der Konzeption einer „Nordsee- bzw. Hanse-Universität“ „gleichgeschaltet“. Die „geopolitische“ Aufgabe Hamburgs sollte es sein, sich der Kultur des Nordsee- raumes zu widmen. Damit verwaiste die Ostseeforschung zusehends. Nur die Sprach- lektorate bestanden weiter. Eine schwedische Literaturwissenschaft suchte man in dieser

47 „Skandinavische Studien in Hamburg“, wie Fußnote 46; Nottscheid 2011, wie Fußnote 46, 337, 340f. 48 Skalberg, Harald: „Dänische Lektoren und Professoren an der Universität Kiel 1811–1864“, o.O. ca. 1928; Ders.: „Undervisning i dansk ved Universitetet i Kiel og i Hertugdømmer- nes laerde Skoler efter 1864. En Oversigt“ [Dänisch-Unterricht an der Kieler Universität und an den gelehrten Schulen der Herzogtümer nach 1864. Ein Überblick]. København 1932; Ders. (Hg.): „Aktstykker vedrørende det danske Docentur ved Kiels Universitet 1811–1864 [Aktenstücke zur dänischen Dozentur an der Kieler Universität 1811–1684]“. København 1932; vgl. „Skandinavische Studien in Hamburg“, wie Fußnote 46; Nottscheid 2011, wie Fußnote 46, 337. 49 Vgl. „Nordische Studien an deutschen Hochschulen“. In: Hamburger Fremdenblatt, 25. April 1927, 113.

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Zeit vergeblich.50 Die bis 1933 von Berendsohn durchgeführten Lehrveranstaltungen führten nach seiner Emigration (Berendsohn war jüdischer Herkunft) Conrad Borch- ling und Heinrich Meyer-Benfey fort. Beide konzentrierten sich jedoch auf Norwegen und Dänemark.51 Dennoch fehlte es nicht an „nordischen“ Aktivitäten, die auch den Ostseeraum betrafen. Zwischen 1936 und 1945 etwa vergab die „Hansische Universi- tät“ den Henrik-Steffens-Preis für das „germanische Volkstum“ in Skandinavien. Preiskomitee und Kuratorium waren von Hamburger Germanisten dominiert. Ausge- zeichnet wurden Persönlichkeiten aus Island, Norwegen, Dänemark, Schweden, Finn- land und Deutschland, die sich nach Meinung des Preiskomitees um die deutsch- nordeuropäischen kulturellen Beziehungen verdient gemacht hatten.52 Nach 1945 konnte das skandinavistische Lehrangebot ständig erweitert werden und ermöglichte bis 1985 ein Studium der philologischen Nordeuropawissenschaften auch ohne eigenständigen Studiengang. Der Altgermanist Hans Kuhn, der bis 1945/46 skan- dinavistische Veranstaltungen, etwa zum Altnordischen oder zur Edda, angeboten hatte, wechselte zwar 1946 nach Kiel, um die dortige Skandinavistik aufzubauen. In Hamburg blieb er jedoch mit Gastvorlesungen und -seminaren zur Altnordistik bis 1953 präsent. Auch andere Dozenten beschäftigten sich im Rahmen ihrer germanistischen Lehr- und Forschungstätigkeit wieder mit skandinavistischen Themen.53

50 Vgl. „Die Deutsche Nordsee-Universität“. In: Hamburger Tageblatt, 18. November 1933. Erste Beilage, 286; „Alle Segel setzen!“. In: Hamburger Tageblatt, 4. Oktober 1935. Erste Beilage, 271; Hamburger Hochschulzeitung 17 (1935/36:1); Bachofer et al. 1991, wie Fußnote 36. 51 Zu den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die nordeuropäische Philologie bis 1945 vgl. Engster, Hermann: Germanisten und Germanen. Germanenideo- logie und Theoriebildung in der deutschen Germanistik und Nordistik von den Anfängen bis 1945 in exemplarischer Darstellung. Frankfurt/M. / Bern 1986 (= Texte und Untersu- chungen zur Germanistik und Skandinavistik; 16); See, Klaus von: „Die Altnordistik im Dritten Reich“. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 15 (1984:2), 8–38. 52 Vgl. Zimmermann, Jan: Die Kulturpreise der Stiftung F.V.S. 1935–1945 (Hrg. Alfred Toepfer Stiftung F.V.S.). Hamburg 2000, 747–825; Richter, Myriam und Hans-Harald Müller: „Die Hamburger Germanistik im Nationalsozialismus“. In: Richter et al. 2011, wie Fußnote 39, 229–259, hier 237. 53 Die Nachkriegsgermanistik mit skandinavistischem Schwerpunkt ist bisher kaum er- forscht. Anhaltspunkte finden sich bei: Daß 1987, wie Fußnote 11, 5f.; Nottscheid, Mirko und Myriam Richter: „Hamburger Germanistik und ‚Berliner Schule‘. Ulrich Pretzel und Hans Pyritz“. In: Richter et al. 2011, wie Fußnote 39, 281–309, hier 296.

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1984 beschloss das Universitätspräsidium die Einrichtung eines Arbeitsbereiches Skandinavistik im Rahmen des Fachbereichs Germanistik I. Zum Gründungsdirektor berief die Fakultät den aus der Tübinger und Freiburger Skandinavistik stammenden Linguisten Kurt Braunmüller (*1948), dessen Schwerpunkte in Lehre und Forschung in den Folgejahren auf Fragen der Sprachtypologie, der kontrastiven und historischen Linguistik, der Mehrsprachigkeit, des Sprachkontakts und der Sprachtheorie lagen.54 1999–2011 betrieb er zusammen mit Kollegen anderer philologischer Fächer den Sonder- forschungsbereich „Mehrsprachigkeit“, aus dem auch zahlreiche skandinavistische For- schungsarbeiten hervorgegangen sind.55 Neben der Professur entstanden in rascher Fol-

54 Braunmüller, Kurt (Mitarb. Sabine Stropnicky): Deutsch-skandinavisch im Vergleich. Eine Bibliographie zur Linguistik und Lexikologie (1945–1985). Neumünster 1987 (= Kieler Beiträge zur deutschen Sprachgeschichte; 9); Ders. und Mogens Brøndsted (Hgg.): Deutsch-nordische Begegnungen. 9. Arbeitstagung der Skandinavisten des Deutschen Sprachgebiets in Svendborg. Odense 1991; Braunmüller, Kurt: Niederdeutsch und die skandinavischen Sprachen. 2 Bde., Heidelberg 1993, 1995 (= Sprachgeschichte; 3, 4); Ders.: Beiträge zur skandinavistischen Linguistik. Oslo 1995 (= Studia nordica; 1); Ders.: Die skandinavischen Sprachen im Überblick. Dritte Auflage, Tübingen / Basel 2007. 55 Braunmüller, Kurt: Semicommunication and Accommodation: Observations from the Lin- guistic Situation in Scandinavia. Hamburg 2001 (= Arbeiten zur Mehrsprachigkeit, Folge B; 17); Warter, Per: Lexical Identification and Decoding Strategies in Interscandinavian Communication. Hamburg 2001 (= Arbeiten zur Mehrsprachigkeit, Folge B, 21); Doetjes, Gerard: Auf falscher Fährte in der interskandinavischen Kommunikation. Hamburg 2004 (= Arbeiten zur Mehrsprachigkeit, Folge B; 53); Beuerle, Angela und Kurt Braunmüller: Early Germanic Bilingualism? Evidence from the Earliest Runic Inscriptions and from the Defixiones in Roman Utility Epigraphy. Hamburg 2004 (= Arbeiten zur Mehrsprachigkeit, Folge B; 54); Braunmüller, Kurt: Grammatical Indicators for Bilingualism in the Oldest Runic Inscriptions? Hamburg 2004 (= Arbeiten zur Mehrsprachigkeit, Folge B; 54); Tho- ma, Chrystalla und Ludger Zeevaert: Klitische Pronomina im Griechischen und Schwedi- schen. Eine vergleichende Untersuchung zu synchroner Funktion und diachroner Entwick- lung klitischer Pronomina in griechischen und schwedischen narrativen Texten des 15. bis 18. Jahrhunderts. Hamburg 2006 (= Arbeiten zur Mehrsprachigkeit, Folge B; 70); Höder, Steffen u.a.: Corpus-based Investigations on Word Order Change: The Case of Old Nordic. Hamburg 2007 (= Arbeiten zur Mehrsprachigkeit, Folge B; 81); Braunmüller, Kurt: On the Relevance of Receptive Multilingualism in a Globalised World: Theory, History and Evi- dence from Today’s Scandinavia. Hamburg 2008 (= Arbeiten zur Mehrsprachigkeit, Folge B; 90); Gabriel, Christoph und Conxita Lleó (Hgg.): Intonational Phrasing in Romance and Germanic. Amsterdam 2011 (= Hamburg Studies on Multilingualism; 10).

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ge Sprachlektorate für Schwedisch (Karin Carsten Montén)56, Norwegisch (Unni Lan- gås57, später Astrid Utnes58) und Dänisch (Else Kjaer59). 2006 fasste das Präsidium der Universität vor dem Hintergrund rigider Sparvorgaben des Hamburger politischen Senats jedoch den Beschluss, das Fach Skandinavistik aufzugeben. Mit der Pensionierung von Kurt Braunmüller 2013 wird es nach gut 27jähriger Tätigkeit schon wieder Geschichte sein. Historische Studien zum Ostseeraum lassen sich seit Anbeginn der universitären Ge- schichtsforschung in Hamburg nach verschiedenen Themen und Epochen differenzieren. Ihre wichtigsten Zweige waren die Geschichte der Hanse, die osteuropäische Geschichte, die skandinavische (nordeuropäische) Geschichte, die Wirtschaftsgeschichte und die Re- gionalgeschichte. Die Vertreter der Hansestudien mit ihren jeweiligen Werken sind be- reits erwähnt worden und können hier ausgelassen werden. Das Fach Osteuropäische Geschichte geht in Deutschland auf die Tätigkeit des Berliner Historikers Theodor Schiemann (1847–1921) zurück, der einen bedeutenden Einfluss auf die zeitgenössische

56 Werke: Carsten Montén, Karin: Zur Rezeptionsgeschichte Fredrika Bremers in Deutsch- land. Verlag, Übersetzung, Publikum. Lund 1976 (= Scripta minora Regiae Humaniorum Litterarum Lundensis; 1975/76,2); Dies.: Fredrika Bremer in Deutschland. Aufnahme und Kritik. Neumünster 1981 (= Skandinavistische Studien; 14); Dies. (Hg.): Han tror på Strindberg, han tror på kvinnan. Om det moderna genombrottet i nordisk litteratur [Er glaubt an Strindberg, er glaubt an die Frauen. Über den Modernen Durchbruch in der nor- dischen Literatur]. Kiel 1988 (= Norrøna. Sonderband; 1). 57 Langås, Uni: Kvinnelitteraturhistorier. Rapport fra forskersymposiet Nordiske kvinners litteratur; arrangert ved Høgskolen i Agder, juni 1997 [Frauenliteraturgeschichten. Bericht zum Forschersymposium Nordische Frauenliteratur an der Hochschule Agder, Juni 1997]. Kristiansand 1998 (= Forskningsserien. Høgskolen i Agder; 7); Dies.: Forandringens for- mer. En studie i Liv Køltzows forfatterskap 1970–1988 [Formen der Veränderung. Eine Studie in Liv Køltzows Werken 1970–1988]. Oslo 1999; Dies.: Kroppens betydning i norsk litteratur, 1800–1900 [Die Bedeutung des Körpers in der norwegischen Literatur, 1800–1900]. Bergen 2004 (= LNUs skriftserie; 158); Dies.: Dialogues in Poetry. An Essay on Eldrid Lunden. Bergen 2010; Langås, Uni und Sigrid Bø Grønstøl: Tanke til begjær. Nylesingar i nordisk lyrikk [Gedanke der Begierde. Neulesungen in der nordischen Lyrik]. Oslo 2001 (= LNUs skriftserie; 144). Außerdem zahlreiche Aufsätze. 58 Utnes, Astrid: Følelser i eksil: lesbisk identitet i norsk mellomkrigslitteratur, med en ana- lyse av Borghild Kranes roman Følelsers forvirring [Gefühle im Exil. Lesbische Identität in der norwegischen Zwischenkriegsliteratur, mit einer Analyse von Borghild Kranes Ro- man Følelsers forvirring]. Tromsø 1993 (= Alberte; 4). Außerdem Aufsätze. 59 Kjaer, Else und Wolfgang Grimme: Samtaler på dansk. Dänische Gespräche für den All- tag. Stuttgart 1987. Außerdem mehrere Übersetzungen und Editionen.

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Osteuropaforschung ausübte. Schiemanns Blick auf den Ostseeraum war vom Gedanken einer deutschen Beherrschung der Region gegen die „russische Gefahr“ geprägt.60 An der Universität Hamburg entstand vor diesem Hintergrund ein Seminar für „Geschichte und Kultur Osteuropas“ unter Leitung des Schiemann-Schülers Richard Salomon (1884– 1966) und der Mitarbeit seiner Assistenten Fritz Epstein (1926–1931) und Eberhard Tangl (1897–1979). Zusammen mit Sprachübungen, die als notwendige Grundlage für historische Studien dienten, riefen sie nebenbei auch die Hamburger Slavistik ins Le- ben. Salomon hatte am Hamburger Kolonialinstitut bereits seit 1914 „Geschichte und Kultur Russlands“ gelehrt. Mit Gründung der Universität 1919 wurde seine Professur als Universitätsprofessur für „Geschichte und Kultur Osteuropas“ inkorporiert. 1933 musste er sie wegen seiner jüdischen Herkunft und einer angeblichen Sympathie mit dem Kommunismus aufgeben. Damit waren das Hamburger Osteuropäische Seminar und die Hamburger Slavistik vorerst am Ende. Salomon selbst arbeitete nach seiner Entlassung im Auftrag der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung noch an den „Avignon-Akten“ des Hamburger Staatsarchivs, die den Prozess Hamburgs gegen den Heiligen Stuhl dokumentierten, bevor er Deutschland 1937 endgültig verließ. Es sollte sein einziger Beitrag zu einer Ostseegeschichte im weiteren Sinne bleiben.61 Die Geschichte Nordeuropas wurde zunächst durch den Nationalökonomen, Juristen und Lokalhistoriker Richard Ehrenberg (1857–1921) behandelt. Ehrenberg hatte 1875–

60 Siehe Schiemanns Hauptwerke: Schiemann, Theodor: Rußland, Polen und Livland bis ins 17. Jahrhundert. 2 Bde., Berlin 1886–1887; Ders.: Geschichte Rußlands unter Kaiser Ni- kolaus I. 4 Bde., Berlin 1904–1919; vgl. (mit Abstrichen angesichts der DDR- propagandistischen Thesen:) Zeisler, Kurt: Theodor Schiemann als Begründer der deut- schen imperialistischen Ostforschung. Manuskript Halle/S. 1963. Außerdem: Tuchtenha- gen, Ralph: „Die Rolle des ‚Nordens‘ in der deutschen historischen Osteuropaforschung“. In: Ders. (Hg.): Osteuropaforschung in der nordeuropäischen Historiographie. Lüneburg 2001 (= Nordost-Archiv; N.F. 9, H. 1), 11–50, hier 19f. 61 Salomon, Richard (Bearb.): Rat und Domkapitel von Hamburg um die Mitte des 14. Jahr- hunderts. Teil 1: Die Korrespondenzen zwischen dem Hamburger Rat und seinen Vertre- tern an der päpstlichen Kurie in Avignon 1337–1359. Hamburg 1968 (= Veröffentlichun- gen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg; 9/1); vgl. Epstein, Fritz: „Hamburg und Osteuropa. Zum Gedächtnis von Professor Richard Salomon (1884– 1966)“. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F. 15 (1967), 59–98 (mit Bibliogra- phie); Nicolaysen, Rainer: „Salomon, Richard“. In: Kopitzsch et al. 2008, wie Fußnote 22, 358f.; Golczewski, Frank: „Osteuropäische Geschichte in Hamburg“. In: Nicolaysen et al. 2011, wie Fußnote 26, 65–82, hier 68–72.

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1884 Lehren im Bankgewerbe und im Buchhandel absolviert und 1884–1886 Staats- wissenschaften an der Universität Tübingen, 1887–1889 an der Universität Göttingen und der TU München studiert. 1889–1897 arbeitete er als Sekretär des Königlichen Kommerz-Kollegiums in Altona. Während dieser Zeit widmete er sich der hamburgi- schen Handelsgeschichte, der Geschichte Altonas und seiner umgebenden Dörfer und damit indirekt (für die Zeit vor 1864) auch einigen Teilaspekten der Geschichte des Königreiches Dänemark.62 Nachdem Ehrenberg 1897 zunächst als Außerordentlicher Professor für Versicherungs- und Handelswirtschaft an die Universität Göttingen, 1899 dann als Ordinarius für Staatswissenschaften an die Universität Rostock berufen wor- den war, veröffentlichte er kaum noch Schriften zu Hamburg und Altona, sondern be- schäftigte sich mit allgemeinen Fragestellungen der Handels- und Nationalökonomie. Die Historiographie zur Stadt Altona und ihrem Handel hatte zu dieser Zeit wie dieje- nige Hamburgs schon eine längere Tradition. Ihre erste umfassendere Darstellung er- hielt sie 1747 aus der Feder von Ludolph Hinrich Schmidt. Die Kirchengeschichte er- gänzte der Theologe und Historiker Johann Adrian Bolten (1742–1807), der in Kopenhagen studiert hatte und von 1782 bis zu seinem Tod in Altona als Pastor wirkte.

62 Werke mit Bezügen zum Ostseeraum: Ehrenberg, Richard: Zur Geschichte der Hamburger Handlung im 16. Jahrhundert. Hamburg 1884; Ders.: Hamburger Handel und Handelspoli- tik im 16. Jahrhundert. Hamburg 1885; Ders.: Wie wurde Hamburg groß? Streifzüge in der Hamburger Handelsgeschichte. Hamburg / Leipzig 1888; Ders.: Hamburg und Antwerpen seit 300 Jahren. Hamburg 1889; Ders.: Altona unter Schauenburgischer Herrschaft. 7 Hef- te, Altona 1891–1893; Ders.: Das königliche Commerz-Collegium in Altona. Altona 1892; Ders.: Altonaer Arbeiterstatistik. Altonaer Arbeitslöhne 1891. Ein Versuch lohnstatisti- scher Erhebungen auf Grund wirklich gezahlter Arbeitslöhne. Hamburg 1892; Ders.: Alto- nas topographische Entwicklung. Altona 1893; Ders.: Hamburg und England im Zeitalter der Königin Elisabeth. Jena 1896; Ders.: Der Ausstand der Hamburger Hafenarbeiter 1896/97. Jena 1897; Ders.: Aus der Vorzeit von Blankenese und den benachbarten Ort- schaften Wedel. Dockenhuden, Nienstedten und Flottbek. Hamburg 1897 (ND Hamburg 1969); Ders.: Aus der Hamburgischen Handelsgeschichte. Hamburg 1897 (= Sonderdruck aus Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte; 10 [1899]), 1–40; Ders.: Das Haus Parish in Hamburg. Jena 1925. Schriftenverzeichnis in: Archiv für exakte Wirt- schaftsforschung (Thünen-Archiv) 9 (1918/22), 464–468. Zu Ehrenberg vgl. Beckerath, Erwin von: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Bd. 3, Stuttgart 1961, 32; Buchsteiner, Martin: „‚In der Wissenschaft stehe ich allein‘ – Eine kritische Biographie“. In: Ders. und Gunther Viereck (Hgg.): In der Wissenschaft stehe ich allein“. Richard Eh- renberg 1857–1921. Rostock 2008, 11–52; Ahrens, Gerhard: „Ehrenberg, Richard“. In: Kopitzsch et al. 2008, wie Fußnote 22, 90.

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1847 veröffentlichte der Jurist Hermann Biernatzki (1818–1895) Szenen aus der Ge- schichte der Stadt. Danach musste Altona erst Teil des Deutschen Kaiserreiches wer- den, um wieder eine umfängliche Würdigung zu erfahren. Der Hamburger Lehrer Ernst Heinrich Wichmann (1823–1896) widmete der Geschichte der Stadt anlässlich des 200jährigen Jubiläums der Verleihung des Stadtrechtes 1865 eine auf gründlichem Quellenstudium basierende Monographie. Weitere Gesamtdarstellungen erschienen dann in dichterer Folge.63 An der Universität wurde die Erforschung der Ostseegeschichte nach Ehrenbergs Weggang 1897 im Rahmen einer außerordentlichen Professur für „Preußische und Nordeuropäische Geschichte“ unter Ferdinand Fehling (1875–1945) fortgeführt. Feh- ling, der in der Tradition der borussischen Geschichtsschreibung stand, verstand unter „Nordeuropa“ vor allem Preußen und Norddeutschland. Als er 1937 seinen Hut neh- men musste, weil er eine jüdische Großmutter hatte, wurde auch diese Linie der Ham- burger Ostseeforschung durch nationalsozialistische Einmischungen in die akademi- sche Forschung unterbrochen.64

63 Schmidt, Ludolph Hinrich: Versuch einer historischen Beschreibung der an der Elbe gele- genen Stadt Altona. Altona / Flensburg 1747; Bolten, Johann Adrian: Historische Kirchen- Nachrichten von der Stadt Altona. 2 Bde., Altona 1790–1791; Biernatzki, Hermann: Sce- nen aus der Geschichte der Stadt Altona. Vortrag, gehalten am 13. Februar im Altonaer Bürgerverein. Hamburg 1847; Wichmann, Ernst Heinrich: Geschichte Altonas. Altona 1865; Ehlers, Hans: Aus Altonas Vergangenheit. Altona 1926; Berlage, Hans: Altona – ein Stadtschicksal. Hamburg 1937; Hermann Biernatzki veröffentlichte neben seinen „Sze- nen“ über Altona auch mehrere Werke zur Geschichte und Topographie Schleswigs und Holsteins. Ebenso sein Bruder, der Pastor Karl Leonhard Biernatzki (1815–1899): Bier- natzki, Hermann und Johannes von Schröder: Topographie der Herzogthümer Holstein und Lauenburg, des Fürstenthums Lübeck und des Gebiets der freien und Hanse-Städte Hamburg und Lübeck. Oldenburg (Holstein) 1855, 1856; Biernatzki, Hermann: Schles- wig-Holstein. München 1845; Ders.: Schleswig-Holstein. München, 1847; Biernatzki, Karl Leonhard: Scenen und Geschichten aus Schleswig-Holstein. Altona 1850; vgl. Bier- natzki, Wilhelm: Die Familie Biernatzki. Kiel 1928; Schümann, Bodo: „Biernatzki, Karl Leonhard“. In: Kopitzsch et al. 2008, wie Fußnote 22, 51f. 64 Fehling, Ferdinand: Zur Lübeckischen Ratslinie 1814–1914. Lübeck 1915 (= Veröffentli- chungen zur Geschichte der Freien und Hansestadt Lübeck; 4, H. 1); Ders.: Marksteine lü- bischer Geschichte. Vorträge. Berlin 1919; Ders.: Lübeckische Ratslinie von den Anfängen der Stadt bis auf die Gegenwart. Lübeck 1925 (= Veröffentlichungen zur Geschichte der Freien und Hansestadt Lübeck; 7, H. 1; ND Lübeck 1978); Ders. (Hg.): Urkunden und Ac- tenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Teil 20,1:

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 69 Ralph Tuchtenhagen

Ein Neuanfang für die Hamburger Historiographie über den Ostseeraum kam 1940 mit dem „Lehrstuhl für Hansische Geschichte und Seekriegsgeschichte“, der mit dem Estländer dänischer Herkunft Paul Johansen (1901–1965) besetzt und 1941 in eine außerordentliche Professur für „Hansische und Osteuropäische Geschichte“ verwandelt wurde. Johansen veröffentlichte vor allem Werke zur Geschichte Estlands und Dänemarks. Konzeptionell dachte er jedoch in weit größeren Dimensionen. Ihm schwebte ein Forschungsprogramm vor, das den „Norden“ und den „Osten“ Europas gleichermaßen in die historische Analyse miteinbezog und eine systematische Ostseegeschichte begründen sollte.65 An diesem Projekt hat Johansen bis zu seinem Tod gearbeitet. Thematisch ist es von seinem früheren Assistenten, Norbert Angermann, weiterverfolgt worden. Angermann bekleidete bis 2002 eine eigene Professur für

Auswärtige Acten. Bd. 4,1: Frankreich 1667–1688, Berlin 1911; Ders. (Hg.): Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Teil 20/2, Auswärtige Acten Bd. 4,2: Frankreich 1667–1688, Berlin 1911. 65 Wichtige Werke aus der Hamburger Periode: Johansen, Paul: Balthasar Rüssow als Hu- manist und Geschichtsschreiber (aus dem Nachlass ergänzt und hg.v. Heinz von Zur Müh- len). Köln / Weimar 1996 (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; 14); Johan- sen, Paul und Heinz von Zur Mühlen: Deutsch und undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval. Köln / Wien 1973 (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Ge- genwart; 15); Johansen, Paul: Nordische Mission. Revals Gründung u. d. Schwedensied- lung in Estland. Stockholm 1951 (= Kungl. Vitterhets, Historie och Antikvitets Akade- miens handlingar; 74); Ders.: Nord- und osteuropäische Geschichtsstudien. Hamburg o.J.; vgl. Webermann, O.A.: „Paul Johansen in Memoriam“. In: Ural-Altaische Jahrbücher 1966, 116–121; Brandt, Ahasver von: „Paul Johansen †“. In: Hansische Geschichtsblätter 83 (1965); Angermann, Norbert: „Paul Johansen als Historiker des alten Livland“. In: Zeitschrift für Ostforschung 31 (1982), 561–573; Ders.: „Paul Johansen als Historiker“. In: Eugen Helimski (Hg.): Reden und Vorträge auf der Festveranstaltung am 14. Dezem- ber 2001 aus Anlass des 100. Geburtstages von Prof. Dr. Paul Johansen. Hamburg 2002, 34–46; Pillak, Peep: „Arhivaar ja ajaloolane Paul Johansen – 95“. In: Kleio: Ajaloo ajakiri 1997:1, 57–61 (engl. Summary, .68f); Borowsky 1991, wie Fußnote 34, 561; Weczerka, Hugo (Hg.): Rossica externa. Studien zum 15.–17. Jahrhundert. Festgabe für Paul Johan- sen zum 60. Geburtstag. Marburg 1963 (Bibliographie der Werke Paul Johansens, 179– 188); Johansen, Ulla: „Paul Johansens Lebensweg im Zweiten Weltkrieg“. In: Hackmann et al. 2006, wie Fußnote 16, 85–102; Mühlen, Heinz von zur: „Paul Johansen und die so- genannten Undeutschen in Reval/Tallinn (Aus der Sicht eines Beteiligten)“. In: Ebd., 103- 111; Angermann, Norbert: „Paul Johansen und Leonid Arbusow jun.“. In: Ebd., 112–118; Tarvel, Enn: „Paul Johansen als Siedlungshistoriker Estlands“. In: Ebd., 119–125; Fried- land, Klaus: „Erinnerungen an Paul Johansen“. In: Ebd., 126–130; Golczewski 2011, wie Fußnote 61, 72–75.

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Osteuropäische Geschichte. Seine Schwerpunkte in Lehre und Forschung umfassten neben der Geschichte der Ostseehanse (s.o.) auch Fragen des allgemeinen neuzeitlichen Ostseehandels, der nordosteuropäischen Stadtgeschichte und Biographik.66 Johansens Professur hingegen wurde 1965 in ein Ordinariat für Osteuropäische Geschichte

66 Wichtigste Werke: Angermann, Norbert: Studien zur Livlandpolitik Ivan Groznyjs. Mar- burg/L. 1972. Als Herausgeber: Angermann, Norbert u.a. (Hgg.): Geisteswissenschaften und Publizistik im Baltikum des 19. und frühen 20. Jahrhundert. Berlin / Münster 2011 (= Schriften der Baltischen Historischen Kommission; 17. Baltische biographische For- schungen; 1); Angermann, Norbert (Hg.): Ostseeprovinzen, baltische Staaten und das Na- tionale. Festschrift für Gert von Pistohlkors zum 70. Geburtstag. Münster 2005 (= Schrif- ten der Baltischen Historischen Kommission; 14); Mühle, Eduard und Norbert Angermann (Hgg.): Riga im Prozeß der Modernisierung. Studien zum Wandel einer Ostseemetropole im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Marburg 2004 (= Tagungen zur Ostmitteleuropa- Forschung; 21); Angermann, Norbert (Hg.): Städtisches Leben im Baltikum zur Zeit der Hanse. Zwölf Beiträge zum 12. Baltischen Seminar. München 2003 (= Schriftenreihe Bal- tische Seminare; 10); Angermann, Norbert und Klaus Friedland (Hgg.): Novgorod. Markt und Kontor der Hanse. Köln / Weimar 2002 (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte; N.F. 53); Angermann, Norbert und Paul Kaegbein (Hgg.): Fernhandel und Handelspolitik der baltischen Städte in der Hansezeit. Beiträge zur Erforschung mittelal- terlicher und frühneuzeitlicher Handelsbeziehungen und -wege im europäischen Rahmen. Lüneburg 2001 (= Schriften der Baltischen Historischen Kommission; 11); Angermann, Norbert und Ilgvars Misāns (Hgg.): Wolter von Plettenberg und das mittelalterliche Liv- land. Lüneburg 2001 (= Schriften der Baltischen Historischen Kommission; 7); Anger- mann, Norbert und Klaus Neitmann (Hgg.): Von regionaler zu nationaler Identität. Bei- träge zur Geschichte der Deutschen, Letten und Esten vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Lüneburg 1998 (= Nordost-Archiv; N.F. 7, H.1); Angermann, Norbert und Wilhelm Lenz (Hgg.): Handel und Wandel vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Lüneburg 1997 (= Schriften der Baltischen Historischen Kommission; 8); Angermann, Norbert (Hg.): Die Deutschen in Litauen. Ein geschichtlicher Überblick. Lüneburg 1996; Angermann, Norbert und Joa- chim Tauber (Hgg.): Deutschland und Litauen. Bestandsaufnahmen und Aufgaben der his- torischen Forschung. Lüneburg 1995; Angermann, Norbert (Hg.): Deutschland – Livland – Russland: ihre Beziehungen vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. Beiträge aus dem Histori- schen Seminar der Universität Hamburg. Lüneburg 1988. Zu Angermann vgl. die beiden Festschriften mit Beiträgen zur akademischen Biographie und zum Werk: Pelc, Ortwin und Gertrud Pickhan (Hgg.): Zwischen Lübeck und Novgorod. Wirtschaft, Politik und Kul- tur im Ostseeraum vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Norbert Angermann zum 60. Geburtstag. Lüneburg 1996; Brüggemann, Karsten (Hg.): Kollektivität und Indi- vidualität. Der Mensch im östlichen Europa. Festschrift für Prof. Dr. Norbert Angermann zum 65. Geburtstag. Hamburg 2001 (= Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit; 23).

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umgewidmet und mit Klaus-Detlev Grothusen (1928–1994) besetzt, der sich eher allgemeinen Aspekten der osteuropäischen Geschichte widmete. Die Geschichte Nordeuropas und des Ostseeraums behandelte seit 1955 auch Johannes Paul (1891–1990). Dieser brachte persönliche Skandinavien-Erfahrungen mit, die er nach einer Verletzung im Ersten Weltkrieg als Adjutant des deutschen Militärbevollmächtigten in Schweden gesammelt hatte. Er war zunächst als Lehrer tätig, promovierte 1920 mit einer Arbeit über Lübeck und die frühe Vasa-Dynastie und legte 1921 eine Habilitationsschrift über Engelbrekt Engelbrektsson an der Universität Greifswald vor. Nach akademischen Lehrtätigkeiten in Greifswald und am Herder-Institut in Riga sowie sowjetischer Kriegsgefangenschaft erhielt er in Hamburg 1955 eine Professur, wurde aber bereits ein Jahr später emeritiert. Er gab jedoch noch eine Reihe von Jahren Vorlesungen zur Geschichte Nordeuropas. An Publikationen erschienen in seiner Hamburger Zeit nur einige kleinere Arbeiten, darunter Europa im Ostseeraum und Kurzbiographien über Gustav II. Adolf von Schweden und Ernst Moritz Arndt. Außerdem fungierte er seit 1965 als Mitherausgeber der Zeitschrift für pommersche Landesgeschichte Mare Balticum. Seine Hauptwerke waren alle vor seiner Hamburger Professur entstanden. Paul wurde in der Nachkriegszeit kontrovers beurteilt: im Westen als Patriot und Wahrheitssucher, in der DDR als „aktiver Faschist“. Seine Bedeutung für die Hamburger akademische Nordeuropaforschung ist bisher weitgehend unerforscht.67

67 Über Johannes Paul: „Johannes Paul 75 Jahre“. In: Baltische Studien N.F. 53 (1967), 106; „Johannes Paul wurde 80 Jahre alt“. In: Pommern 9 (1971:2), 32ff.; Johannes Paul. Der Mensch und sein Werk. Festgabe zum achzigsten Geburtstag dargebracht von einem Kreis seiner Freunde. Glückstadt/Elbe 1971; Eggert, Oskar: „Laudation auf Prof. Dr. D. h.c. Jo- hannes Paul“. In: Pommern 11 (1973:4), 3ff.; Friedrich, Günter: „Verleihung der Ernst Moritz Arndt-Medaille. Laudatio für Prof. Dr. D. Johannes Paul, gehalten am 21. Mai 1978 im Landhaus zu Kiel“. In: Pommern 16 (1978:4), 28ff.; Biewer, Ludwig: „Johannes Paul 90 Jahre alt. Ein international bekannter Historiker und treuer VDSter“. In: Akademi- sche Blätter 79 (1981:5), 189f.; Droese, Johannes: „Professor Johannes Paul 93 Jahre alt“. In: Mare Balticum (1984), 108; „Prof. Dr. h.c. Johannes Paul †“. In: Pommern 28 (1990:3), 37; Biewer, Ludwig: „In Memoriam Johannes Paul“. In: Baltische Studien N.F. 76 (1990), 158f.; Grewolls, Grete: „Paul, Johannes“. In: Dies.: Wer war wer in Mecklen- burg-Vorpommern? Ein Personenlexikon. Bremen 1995, 322; Biewer, Ludwig: „Johannes Paul als Biograph von Ernst Moritz Arndt“. In: Werner Buchholz (Hg.): Land am Meer. Pommern im Spiegel seiner Geschichte. Roderich Schmidt zum 70. Geburtstag. Köln 1995 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern. Reihe 5: Forschungen

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Der Staffelstab der historischen Nordeuropaforschung ging 1986 an Kersten Krüger (*1939) über, der seit diesem Jahr eine Professur für „Skandinavische Geschichte“ mit einem Forschungsschwerpunkt zur Stadtgeschichte des Ostseeraums wahrnahm, 1993 jedoch einem Ruf an die Universität Rostock folgte.68 Eine Wiedervereinigung der skandinavischen und osteuropäischen Geschichte erfolgte mit dem Jahr 2003, als Ralph Tuchtenhagen (*1961) auf eine Professur für „Ost- und Nordeuropäische Geschichte mit besonderer Berücksichtigung des Ostseeraums“ berufen wurde.69

zur pommerschen Geschichte; 29), 581–592; Beu, Andrea: „Johannes Paul“. In: Greifs- walder Tafel-Runde. Berlin 1996, 90; „Paul, Johannes“. In: Walther Killy (Hg.): Deutsche biographische Enzyklopädie. Bd. 7, München 1998, 574; Paul, Karl Ernst: „Johannes“. In: Werner Buchholz (Hg.): Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1907-1932. Bad Honnef 2004, 175f. Wichtigste Werke: Johannes, Paul: Lübeck und die Wasa im 16. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte des Unterganges hansischer Herrschaft in Schweden. Lübeck 1920 (= Veröffentlichungen zur Geschichte der Freien und Hansestadt Lübeck; 5) (Disser- tation); Ders.: Engelbrecht Engelbrechtson und sein Kampf gegen die Kalmarer Union. Greifswald 1921 (= Nordische Studien; 1) (Habilitationsschrift); Ders.: Die schwedische Politik im Weltkriege. Greifswald 1921 (= Mitteilungen aus dem Nordischen Institut der Universität Greifswald; 3); Ders.: Nordische Geschichte. Breslau 1925; Ders.: Gustav Adolf. 3 Bde., Leipzig 1927–1932; Ders.: Europa im Ostseeraum. Göttingen 1961; Ders.: Gustav Adolf. Christ und Held. Göttingen 1964 (= Persönlichkeit und Geschichte; 33); Ders.: Ernst Moritz Arndt. „Das ganze Teutschland soll es sein!“. Göttingen 1971 (= Per- sönlichkeit und Geschichte; 63/64). Pauls Nachlass ist verzeichnet im Internetportal Kalli- ope: http://kalliope-portal.de/cgi-bin/kalliope_pnd.pl?116061111. 68 Einschlägige Werke: Krüger, Kersten: Formung der frühen Moderne. Ausgewählte Aufsät- ze. Münster 2005 (= Geschichte, Forschung und Wissenschaft; 14); Ders. und Stefan Kroll (Hgg.): Die Sozialstruktur der Städte Kiel und Altona um 1800. Demographie, Erwerbs- struktur und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Neumünster (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins; 29); Ders. (Hg.): Schweden in Europa. Ham- burg 1990 (= Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte; 3). Zu Krüger vgl. Buchholz, Werner und Stefan Kroll (Hgg.): Quantität und Struktur. Festschrift für Kersten Krüger zum 60. Geburtstag. Rostock 1999 (Literaturverzeichnis 375–380). 69 Einschlägige Werke aus der Hamburger Periode: Tuchtenhagen 2001, wie Fußnote 60; Ders. (Hg.): Aspekte der Reformation im Ostseeraum. Lüneburg 2005 (= Nordost-Archiv; N.F. 13); Ders.: Geschichte der baltischen Länder. München 2005, 2008; Ders. und Joa- chim Tauber: Vilnius. Kleine Geschichte der Stadt. Köln / Weimar 2008; Ders.: Kleine Ge- schichte Schwedens. München 2008; Ders.: Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa. Wiesbaden 2009 (= Veröffentlichungen des Nordost-Instituts; 7); Ders.: Kleine Geschichte Norwegens. München 2009; Ders. und Karsten Brüggemann: Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt. Köln / Weimar 2010; vgl. Golczewski 2011, wie Fußnote 61,

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Tuchtenhagen setzte Ostseeraumschwerpunkte im Bereich der frühen Neuzeit, insbesondere im Zeitalter der Konfessionalisierung und der Aufklärung sowie in Fragen der Nationsbildung und Erinnerungskultur. Nach mehreren Monographien zur Geschichte Nordeuropas und der baltischen Länder bereitet er in Zusammenarbeit mit dem Nordost-Institut, Lüneburg (s.u.), die Publikation eines dreibändigen Handbuchs der Geschichte der baltischen Länder vor, das jedoch seit seinem Weggang an die Berliner Humboldt-Universität 2009 am dortigen Nordeuropa-Institut (und weiterhin in Lüneburg) angesiedelt ist. Heute ruht die historische Ostseeraumforschung der Hamburger Universität jenseits der Hanseforschung in den Reihen der Professorenschaft fast ausschließlich auf den Schul- tern des Mediävisten Jürgen Sarnowsky, der hauptsächlich zur Geschichte des Deutschen Ordens, aber auch zur Ostseehanse forscht. Außerdem betreibt er in Zusammenarbeit mit dem Hamburgischen Staatsarchiv die Digitalisierung des Hamburger Urkundenbuchs.70 Gelegentlich bieten auch Lehrbeauftragte Veranstaltungen zur Geschichte des Ostsee- raums an. Für die jüngere Vergangenheit besonders zu nennen sind Christina Deggim (Niedersächsisches Staatsarchiv Stade, *1966)71, Hans-Dieter Loose72 (Hamburgisches

81; Vogel, Barbara: „Geschichtswissenschaft in Hamburg seit 1970“. In: Nicolaysen et al. 2011, wie Fußnote 26, 295–330, hier 309: hier wird fälschlich das Berufungsjahr 2005 an- gegeben. 70 Einschlägige Werke: Sarnowsky, Jürgen: Die Wirtschaftsführung des Deutschen Ordens in Preußen (1382–1454). Köln 1993 (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz; 34); Ders. und Burkhard Schmidt (Hgg.): Die Kontinuität der hansischen Dimension im baltischen Raum. Hamburg 2008 (= Studien zum Ostseeraum; 2); Ders. (Hg.): Verwaltung und Schriftlichkeit in den Hansestädten. Trier 2006 (= Hansische Stu- dien; 16). 71 Einschlägige Werke: Deggim, Christina: Hafenleben in Mittelalter und Früher Neuzeit Seehandel und Arbeitsregelungen in Hamburg und Kopenhagen vom 13. bis zum 17. Jahr- hundert. Hamburg 2005 (= Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums; 62); Dies. (Hg.): Hamburg und Nordeuropa. Studien zur Stadt- und Regionalgeschichte. Festschrift für Gerhard Theuerkauf zum 70. Geburtstag. Münster 2004 (= Veröffentlichungen des Ham- burger Arbeitskreises für Regionalgeschichte; 20). 72 Einschlägige Werke: Loose, Hans-Dieter: Hamburg und Christian IV. von Dänemark wäh- rend des Dreissigjährigen Krieges. Ein Beitrag zur Geschichte des hamburgischen Reichs- unmittelbarkeit. Hamburg 1963 (= Veröffentlichungen des Vereins für hamburgische Ge- schichte; XVIII); Ders. 1976, wie Fußnote 19.

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Staatsarchiv, *1937), Sabine Bamberger-Stemmann (Landeszentrale für Politische Bil- dung Hamburg, *1964)73 und die Mitarbeiter des Nordost-Instituts, Lüneburg (s.u.). Hamburg wäre nicht Hamburg, wenn neben den allgemeinen arealhistorischen For- schungen die wirtschaftshistorischen und insbesondere die auf den Handel bezogenen Forschungen nicht fortgesetzt worden wären. Im Rahmen des Wirtschafts- und Sozial- geschichtlichen Instituts der Universität war der Ostseeraum vor allem in speziellen Arbeits- und Forschungsstellen ein Thema. Bereits 1946 gründeten Hamburger Unter- nehmen auf Initiative des Göttinger Mediävisten und Hamburg-Historikers Percy Ernst Schramm (1894–1970)74 die „Forschungsstelle für Hamburgische Wirtschaftsge- schichte e.V.“. Geschäftsführender Direktor und wissenschaftlicher Leiter wurde zu- nächst Ernst Hieke (?–1974), ein Spezialist für den Hamburgischen Überseehandel und die deutsche Kolonialgeschichte. Nach seinem Tod übernahm die Hamburger Wirt- schaftshistorikerin Maria Möring (?–1995) diese Aufgaben. Ziel der Forschungsstelle sollte es sein, Quellenbestände Hamburger Unternehmen zu sichten, zu ordnen und zu bearbeiten, die Wirtschaftsgeschichte der Hansestadt zu erforschen und Forschungser- gebnisse zu publizieren. Im Grunde handelte es sich um eine Interessengemeinschaft verschiedener Unternehmen, die ihre eigene(n) Geschichte(n) zum Unternehmens- branding nutzen wollten. Tatsächlich standen Quelleneditionen, der Hamburgische Außenhandel und Aspekte der Hamburger Unternehmensgeschichte im Mittelpunkt der Forschungen. Der Ostseeraum spielte dabei bis zur Jahrtausendwende kaum eine Rolle. Erst mit dem Frühneuzeithistoriker Sven Tode (*1964)75, der selbst Forschungs-

73 Einschlägig: Bamberger-Stemmann, Sabine et. al. (Hgg.) Die deutsche Volksgruppe in Litauen und im Memelland während der Zwischenkriegszeit und aktuelle Fragen des deutsch-litauischen Verhältnisses. Hamburg 1998. 74 Schramm, Percy Ernst: Neun Generationen. Dreihundert Jahre deutscher „Kulturgeschich- te“ im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie (1648–1948). 2 Bde., Göttin- gen 1963–1964; vgl. Brandt, Ahasver von: „Percy Ernst Schramm †“. In: Hansische Ge- schichtsblätter 89 (1971), 1–14; Grolle, Joist: „Percy Ernst Schramm – ein Sonderfall in der Geschichtsschreibung Hamburgs“. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Ge- schichte 81 (1995), 23–60. 75 Veröffentlichungen mit Aspekten zum Ostseeraum: Tode, Sven:. „Zu den Livlandbezie- hungen Herzog Adolfs von Schleswig-Holstein-Gottorf“. In: Angermann 1988, wie Fuß- note 66, 159–174; Ders.: „Glaube und Patria. Theoretisch-methodische Überlegungen zur räumlichen Identität Danzigs in der Frühen Neuzeit“. In: Irene Dingel und Günther War- tenberg (Hgg.): Kirche und Regionalbewusstsein in der Frühen Neuzeit. Konfessionell be- stimmte Identifikationsprozesse in den Territorien. Leipzig 2009 (= Leucorea-Studien zur

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schwerpunkte in der Geschichte des Ostseeraumes setzte und im Jahre 2000 Ge- schäftsführung und wissenschaftliche Leitung der Forschungsstelle übernahm,76 erhielt diese hier eine fachliche Expertise.77 Die Hamburger Stadt- und Regionalgeschichte mit ihren jeweiligen Ostseebezügen wird seit 1992 nach einem Beschluss der Hamburger Bürgerschaft von 1990 in der „Arbeitsstelle für Hamburgische Geschichte“ erforscht. Diese wiederum ist seit 2004 am Historischen Seminar, Abteilung Deutsche Geschichte, Schwerpunkt Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, angesiedelt. Ihr Ziel ist es, die einschlägige universitäre und außeruniversitäre, die hamburgische und außerhamburgische Forschung zusammenzu- führen und zugänglich zu machen. Vergleichbare Einrichtungen gab es bis Anfang der 1990er Jahre in Hamburg nicht. Initiiert wurde die Arbeitsstelle durch Gerhard Ahrens (*1939).78 Ihr aktueller Leiter ist seit 2003 Franklin Kopitzsch (*1947)79, als wissen- schaftlicher Mitarbeiter ist Dirk Brietzke (*1964)80 tätig. Die bedeutendsten Publikati- onen beider Einrichtungen sind das Hamburg-Lexikon und die Hamburgische Biogra-

Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie; 10), 77–112; Ders.: „Die Reformation in Preußen. Einheit und Vielfalt reformatorischer Bewegungen“. In: Tuch- tenhagen 2005, wie Fußnote 69, 201–266. 76 Nach dem Tod Maria Mörings hatte zwischenzeitlich ihr Sohn, Guido G. Möring, deren Aufgaben übernommen. 77 Vgl. Wirtschaftsgeschichtliche Forschungsstelle e. V. (Hg.): 50 Jahre Wirtschaftsgeschicht- liche Forschungsstelle e. V. Hamburg 1997(= Hamburger Wirtschaftschronik; XIV). 78 Ahrens hat selbst mehrere Titel zur Hamburgischen Handels- und Schifffahrtsgeschichte veröffentlicht, darunter Ahrens, Gerhard und Renate Hausschild-Thiessen: Die Reeder Laeisz, Ballin. Hamburg 1989 (= Hamburgische Lebensbilder; 2); Ders.: Krisenmanage- ment 1857. Im Schriftwechsel der Geschwister Jenisch und Godeffroy widergespiegelte Weltwirtschaftskrise und ihre Lösung in Hamburg 1857. Hamburg 1980 (= Veröffentli- chungen der Wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsstelle e.V. Hamburg; 42). 79 Werke mit Bezügen zur Geschichte des Ostseeraums: Kopitzsch, Franklin: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. Hamburg 1978 (= Beiträge zur Geschichte Hamburgs; 21); Ders. (Hg.): Erziehungs- und Bildungsgeschichte Schles- wig-Holsteins von der Aufklärung bis zum Kaiserreich. Theorie, Fallstudien, Quellenkun- de, Bibliographie. Neumünster 1981 (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins; 2). 80 Werke mit Bezügen zum Ostseeraum: Opitz, Eckardt: Schleswig-Holstein. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten. Fotografiert von Reinhard Scheiblich. Hamburg 1997; Brietzke, Dirk u.a. (Hgg.): Hamburg und sein norddeutsches Umland: Aspekte des Wandels seit der frühen Neuzeit. Festschrift für Franklin Kopitzsch. Hamburg 2007 (= Beiträge zur hamburgischen Geschichte; 3).

76 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung fie.81 Weitere Forschungsprojekte mit Bezügen zum Ostseeraum behandeln deutsch- jüdische Beziehungen in Hamburg und politisch Verfolgte in Hamburg während der NS-Zeit.82 Von der „Arbeitsstelle“ wird der ältere und für die Hamburger Ostseeforschung wich- tigere „Arbeitskreis für Regionalgeschichte“ betreut, der heute ebenfalls am Histori- schen Seminar angesiedelt ist. Er wurde 1980 von Gerhard Theuerkauf (*1934)83 ins Leben gerufen. Die Forschungsschwerpunkte des Arbeitskreises liegen auf der Ge- schichte der Stadt Hamburg und ihrer regionalen Beziehungen, insbesondere zur Elb- region, aber auch zum gesamthansischen Raum und nach Übersee. Die Mitglieder des Arbeitskreises sind in der Regel hauptamtlich in Hamburg tätige Historiker und deren Schüler. An Ostsee-bezogenen Themen ist herauszuheben Land am Fluss. Zur Regio- nalgeschichte der Niederelbe (2002)84 und Leben am Wasser. Flüsse in Norddeutsch-

81 Vgl. Kurzinformation Arbeitsstelle für Hamburgische Geschichte und Hamburger Arbeits- kreis für Regionalgeschichte (HAR). Hamburg 2011. 82 Siehe hierzu: „Von der ‚Edzardischen Jüdischen Proselytenanstalt‘ zur ‚Edzardi-Stiftung‘. Jüdisch-christliche Beziehungen, Juden und Konvertiten aus dem Judentum im Spiegel ei- ner Hamburger Stiftung für Judenmission vom 17. bis 20. Jahrhundert“ (Forschungspro- jekt 2005–2008). Internet-Lexikon über Politisch Verfolgte in Hamburg 1933–1945. Pro- jektleiter war Holger Martens. Siehe www.politisch-verfolgte.de. 83 Werke mit Bezügen zum Ostseeraum: Theuerkauf, Gerhard: Lex, speculum, compendium iuris: Rechtsaufzeichnung und Rechtsbewußtsein in Norddeutschland vom 8.bis zum 16. Jahrhundert. Köln / Graz 1968 (= Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte; 6); vgl. Urbanski, Silke (Hg.): Recht und Alltag im Hanseraum. Gerhard Theuerkauf zum 60. Ge- burtstag. Lüneburg 1993 (= De Sulte; 4). 84 Zu diesem Thema fand vom 18. bis 19. Oktober 2002 eine Tagung des Arbeitskreises in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband der ehemaligen (u.a. schwedischen) Her- zogtümer Bremen und Verden (Stade) und der Maritimen Landschaft Unterelbe statt. Ein Tagungsband erschien unter dem Titel: Land am Fluss. Beiträge zur Regionalgeschichte der Niederelbe (hg.v. Hans-Eckhard Dannenberg, Norbert Fischer, Franklin Kopitzsch un- ter Mitarbeit von Michael Ehrhardt und Sebastian Pranghofer). Stade 2006 (= Schriften- reihe des Landschaftsverbandes, Stade; 25).

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land (2011)85; außerdem die Festschrift zum 70. Geburtstag von Gerhard Theuerkauf, in der Beiträge über Hamburg und Nordeuropa publiziert wurden.86 Der schon erwähnte Paul Johansen war nicht nur mit der allgemeinen Ostseegeschich- te, sondern auch mit der Hamburger Finnougristik verbunden.87 1952 richtete die Uni- versität eine Abteilung für Finnisch-Ugrische Sprachen und Finnlandkunde beim Ori- entalischen Seminar ein und berief Paul Johansen zu ihrem Leiter. Diese Abteilung wurde 1959 in ein selbstständiges „Finnisch-Ugrisches Seminar“ verwandelt.88 Bereits vorher war ein Lektorat für Finnische Sprache entstanden, das für mehrere Jahrzehnte (1957–1991) von Mirja Mohtaschemi-Virkkunen wahrgenommen wurde. Sie veröf- fentlichte eine Reihe von Abhandlungen zu Problemen der finnischen Sprache, be- schäftigte sich aber in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Völkerkundemuseum auch mit finnischer Volkskunde und Alltagskultur.89 1967 kam eine Assistentenstelle hinzu, über die bisher nichts weiter bekannt ist. Nach Johansens Tod stand das Seminar in den Jahren 1965–1969 unter der Leitung des Linguisten und Keltologen Hans Hartmann (1909–2000) und 1969–1977 mit einigen längeren Unterbrechungen der des Hungarologen Gyula Décsy (*1925). 1977–1996 hatte der als Spezialist für Ural- und

85 Hierzu fand eine Tagung des Arbeitskreises in Verbindung mit dem Arbeitskreis für Wirt- schafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins, dem Museum für Hamburgische Ge- schichte und dem Landschaftsverband Stade am 18. und 19. Februar 2011 in Hamburg ei- ne Tagung statt. 86 Deggim, Christina und Silke Urbanski (Hgg.): Hamburg und Nordeuropa. Studien zur Stadt- und Regionalgeschichte. Festschrift für Gerhard Theuerkauf zum 70. Geburtstag. Hamburg 2004 (= Veröffentlichungen des Hamburger Arbeitskreises für Regionalge- schichte; 20). 87 Vgl. Helimski, Eugen: „Paul Johansen als Philologe und Etymologe“. In: Ders. 2002, wie Fußnote 65, 34–46; Ders.: „Paul Johansen als Etymologe“. In: Hackmann et al. 2006, wie Fußnote 16, 72–84. 88 Vgl. Veenker, Wolfgang: „Paul Johansen und die Gründung des Finnisch-Ugrischen Se- minars der Universität Hamburg“. In: Zeitschrift für Ostforschung 31 (1982), 579–592; Helimski, Eugen: „Paul Johansen als Philologe und Etymologe“. In: Ders. 2002, wie Fuß- note 65, 34–46; Golczewski 2011, wie Fußnote 61, 75. 89 Z.B. Mohtaschemi-Virkkunen, Mirja: Einführung in die finnische Volkskunde. Hamburg 1970 (= Wegweiser zur Völkerkunde; 10); Dies.: „Die Frau und die Sauna im Spiegel der finnischen Literatur“. In: Norrøna 7 (1991), 39–46; Dies. (Hg.): Terveisiä saunasta. Hel- sinki 1988.

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Altaisprachen bekannte Wolfgang Veenker (1940–1996)90 die Finnougristik-Professur inne. In dieser Zeit erlebte das Seminar eine entscheidende Phase seiner Entwicklung. Bereits 1976 war ein neuer Studienplan in Kraft getreten, der auch Nebenfächer be- rücksichtigte. Mit Hilfe von Lehrbeauftragten und seit Anfang der 1980er Jahre in immer größerem Umfang auch durch internationale Zusammenarbeit und Gastaufent- halte von Dozenten konnte das Seminar ein stetig wachsendes Lehrangebot verzeich- nen. Nach Veenkers Tod stand das Seminar 1996–1998 unter der kommissarischen Leitung des Hungarologen Holger Fischer (*1946). 1998 wurde der aus Moskau stammende Uralist Eugen Helimski (1950–2007) auf die Veenker-Professur berufen. Unter ihm erhielt das Finnisch-Ugrische Seminar 1999 die neue Bezeichnung „Institut für Finnougristik/Uralistik“ (IFUU). Sie unterstrich die Bedeutung des Schwerpunktes „kleinere uralische und sibirische Sprachen“ in der Tätigkeit Helimskis und des Semi- nars. Helimski hat sich außerdem intensiv mit der internationalen Geschichte der Fin- nougristik beschäftigt. Sein früher Tod 2007 beendete diese Aktivitäten jedoch vor- erst.91 Durch die Wiederbesetzung der Professur mit der aus Wien kommenden Beáta Wagner-Nagy (*1970), einer Spezialistin für das Nganasanische und samojedische Sprachen, im Jahre 2010 konnte der Faden nur teilweise wieder aufgenommen werden. Eine Konstante bildete aber Helimskis Mitarbeiterin Anna Widmer (*1967), die sich in den Jahren 2000–2008 vor allem mit historisch-vergleichender Sprachwissenschaft und den obugrischen Sprachen beschäftigte. Eine hauptsächlich philologische Ostseefen- nistik mit den Schwerpunkten Finnisch und Estnisch betrieb in den Jahren 1991–1995 Cornelius Hasselblatt (*1960), zunächst im Rahmen von Lehraufträgen und 1995– 1998 als Assistent.92 Auch Paula Jääsalmi-Krüger (*1952), seit 1992 Lektorin für fin-

90 Zu Veenkers Themen und Werken vgl. Hasselblatt, Cornelius und Paula Jääsalmi-Krüger (Hgg.): Europa et Sibiria. Beiträge zu Sprache und Kultur der kleineren finnougrischen, samojedischen und paläosibirischen Völker. Gedenkband für Wolfgang Veenker. Wiesba- den 2000 (= Veröffentlichungen der Societas Uralo-Altaica; 51). 91 Vgl. Jääsalmi-Krüger, Paula: „In memoriam Eugen Helimski 1950–2007“. In: Finnisch- Ugrische Mitteilungen 30/31 (2008), 1ff. 92 Monographien aus der Hamburger Periode: Hasselblatt, Cornelius: Grammatisches Wör- terbuch des Estnischen. Wiesbaden 1992 (= Veröffentlichungen der Societas Uralo- Altaica; 35); Ders.: Dissertationes Balticae. Verzeichnis der an deutschen Hochschulen verteidigten Doktorarbeiten (1918–1960). Köln 1993; Ders. und Florence-Silvia Lutkat: Estnisch Intensiv. Das Lehrbuch der Estnischen Sprache. Hamburg 1993; Ders. und Kai Ulrich Müller: Estland. München 1994; Ders.: Lehrbuch des Estnischen. Wiesbaden 1995;

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nische Sprache und Kultur, arbeitet außer zum Ostjakischen und zu den Saami- Sprachen zu ostseefinnischen Themen.93 Eine feste Stelle für ostseefinnische Landes- kunde hat es am Seminar bzw. Institut nie gegeben. Sie wurde regelmäßig durch Lehr- beauftragte abgedeckt, darunter Konrad Maier vom Nordost-Institut, Lüneburg (s.u.), der seit vielen Jahren Seminare zur Geschichte und Kultur Estlands gibt. Das Nordost-Institut in Lüneburg verstärkte seit seiner Angliederung an die Hambur- ger Universität im Jahre 2004 die Hamburger Ostseeforschung weiter. Nach einer Vor- geschichte als „Institut Nordostdeutsches Kulturwerk“ für kulturelle und historische Fragen der Vertriebenen und Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen (Nord-) Ostge- bieten war es 2002 neu gegründet worden, um auf einer betont wissenschaftlichen Ba- sis die „Kultur und Geschichte Nordost- und Osteuropas“ und „die verschiedenen Ver- flechtungen dieser Regionen mit der deutschen Geschichte insbesondere in der Neuzeit und der Zeitgeschichte“ zu erforschen. „Die regionalen Schwerpunkte der Erforschung der Geschichte der Deutschen und ihrer ‚östlichen‘ Nachbarn bzw. der Geschichte der Gesellschaften Nordost- und Osteuropas und ihrer ‚deutschen‘ Nachbarn sind die his- torischen preußischen Provinzen (Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen) und Polen, die Ostseeprovinzen Russlands ebenso wie die Staaten Estland, Lettland und Litauen, schließlich die Großmacht Russland, die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten.“94 Das Nordost-Institut arbeitet heute insbesondere mit dem Historischen Seminar und dem Finnougrischen Seminar der Universität zusammen. Lehraufträge an der Univer- sität zu Themen der Geschichte Estlands und Litauens sowie der nordosteuropäischen Geschichtsregion (Ostseeregion) insgesamt nehmen seither vor allem Konrad Maier (*1958)95 und Joachim Tauber (*1958)96 wahr.

Ders.: Minderheitenpolitik in Estland. Rechtsentwicklung und Rechtswirklichkeit 1918– 1995. Hamburg / Tallinn 1996. 93 Karlsson, Fred: Finnische Grammatik. Hamburg 2004. 94 Aus dem Internetauftritt: http://www.ikgn.de (letzter Zugriff 1. Dezember 2011). An Ver- öffentlichungen sind vor allem die Zeitschrift Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalge- schichte im Eigenverlag und die Publikationsreihe Veröffentlichungen des Nordost- Instituts (Harrassowitz Verlag, Wiesbaden) zu nennen. Die Nordost-Bibliothek des Insti- tuts dient als Spezialsammlung für wissenschaftliche Literatur zur nordost-europäischen Geschichte. 95 Einschlägige Werke: Maier, Konrad (Hg.): Konfession und Nationalismus in Ostmitteleu- ropa. Kirchen und Glaubensgemeinschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Lüneburg 1998 (=

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Neben der Germanistik/Skandinavistik, Geschichte und Finnougristik hatte die Ostsee- forschung auch in anderen Universitätsfächern ihre Vertreter. Insbesondere das Geo- graphische Seminar und das Seminar für deutsche und nordische Rechtsgeschichte haben in Lehre und Forschung immer auch Aspekte des Ostseeraums berücksichtigt. Das Geographische Seminar97 konnte in der Vergangenheit in unterschiedlichem Maße zur Ostseeforschung beitragen. Bärbel Leupolt (*1950), seit 1994 Professorin für Geo- graphie, hat in mehreren Werken den Ostseeraum oder Teile davon behandelt.98 Udo

Nordost-Archiv; 7, H.2); Ders. (Hg.): Nation und Sprache in Nordosteuropa im 19. Jahr- hundert. Wiesbaden 2011 (= Veröffentlichungen des Nordost-Instituts; 11). 96 Werke mit Bezügen zum Ostseeraum: Tauber et al 2008, wie Fußnote 69; Tauber, Joachim (Hg.): „Kollaboration“ in Nordosteuropa. Erscheinungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2006 (= Veröffentlichungen des Nordost-Instituts; 1); Gahlbeck, Christian u.a. (Hgg.): Archivführer zur Geschichte des Memelgebiets und der deutsch- litauischen Beziehungen. München 2006 (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im Östlichen Europa; 27); Tauber, Joachim (Hg.): Im Wandel der Zeiten: die Stadt Memel im 20. Jahrhundert. Lüneburg 2001 (= Nordost-Archiv; N.F. 10); Ders. (Hg.): Das Jahr 1945 und das nördliche Ostmitteleuropa. Lüneburg 1996 (= Nordost-Archiv; N.F. 5, H. 1); Ders. (Hg.): Zwischen Staatsnation und Minderheit. Litau- en, das Memelland und das Wilnagebiet in der Zwischenkriegszeit. Lüneburg 1993 (= Nordost-Archiv; N.F. 2, H. 2). 97 Vgl. Fischer, Holger und Gerhard Sandner: „Die Geschichte des Geographischen Semi- nars der Hamburger Universität im ‚Dritten Reich‘“. In: Krause 1991, wie Fußnote 34, 1197–1222. 98 Leupolt, Bärbel und Jürgen Oßenbrügge (Hgg.): Große geographische Exkursion: Polen, Kaliningrad, Litauen, Lettland, 1.–17. September 1996. Hamburg 1996; Leupolt, Bärbel (Hg.): Große geographische Exkursion Estland/St. Petersburg, 1.–6. September 1998. Hamburg 1999; Dies.: „Probleme und Perspektiven der deutsch-polnischen Zusammenar- beit in der Euroregion Pomerania aus deutscher Sicht“. (= Rocznik polsko-niemieck 1998. Warszawa 1999), 135–150; Dies.: High Quality Tourism. Sustainable Development in Sensitive Areas in four Regions around the Baltic Sea. Interreg II C Projekt: Nr. 8. Ham- burg, 2001; Dies.: „Sankt Petersburg – Rußlands Tor nach Europa? / Sankt Peterburg – worota Rossii w Ewropu?“. In: J. Lafrenz (Hg.): Hamburg und seine Partnerstädte Chica- go – Dresden – Leon – Marseille – Osaka – Prag – Sankt Petersburg – Shanghai. Fest- schrift zum 52. Deutschen Geographentag 1999 Hamburg. Hamburg 2002 (= Hamburger Geographische Studien; 49), 87–155; Dies. und W. Görmar: „Raumstrukturelle Entwick- lungen in der Ostseeregion aus historischer Perspektive. Übersicht / Development of Spa- tial Structures in the Baltic Sea Region: An Overview“. In: Raumplanung und - entwicklung in der Ostseeregion (= Informationen zur Raumentwicklung – IzR, H. 8/9, 2009).

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Schickhoff (*1960), seit 2004 Professor für Physische Geographie an der Universität Hamburg, betrieb in den Jahren 2001–2004 ein Forschungsprojekt zu Biodiversity dy- namics of salt grasslands in the Bodden landscape of Western Pomerania, Germany, das sich während seiner Hamburger Zeit in mehreren Publikationen niederschlug.99 Das Geographische Seminar hatte zudem beste Beziehungen zur 1873 gegründeten Geographischen Gesellschaft in Hamburg. Deren Ziel war und ist es, Verbindungen zwischen Wissenschaft, Gesellschaft, Staat und Wirtschaft herzustellen und zu pflegen. Dabei standen selbstverständlich zunächst die Interessen der Hamburger Kaufleute und ihrer weltweiten wirtschaftlichen Verbindungen im Vordergrund. In späteren Jahren kam es jedoch zu einem Ausgleich zwischen den Interessen der Hochschulgeographie und der Geographischen Gesellschaft. Auch im Rahmen der Aktivitäten der Geogra- phischen Gesellschaft sind immer wieder Forschungen zum Ostseeraum bzw. Nordeu- ropa durchgeführt worden, darunter umfängliche Beiträge zum ländlichen Hinterland der Ostsee-Teilregionen.100 Das Seminar für deutsche und nordische Rechtsgeschichte stand in der Tradition der Erforschung des „germanischen Rechts“ und besitzt bis heute Schwerpunkte in der deutschen und „nordischen“ (d.h. skandinavischen) Rechtsgeschichte, aber auch in der Stadtrechtsgeschichte (v.a. Hansestädte). Die Fachbibliothek bietet eine umfangreiche Sammlung deutscher und skandinavischer Rechtsquellen und Urkundenbücher vom Mittelalter bis heute.

99 Vgl. die Publikationen Dynamik der Biodiversität in Salzgrasländern der Vorpommer- schen Boddenlandschaft. Naturschutz und Biologische Vielfalt 102 Udo Schickhoff und S. Seiberling (Hgg). Münster 2010; darin: Schickhoff, Udo und E. Held: „Einleitung und Gebietsbeschreibung“, 19–40, und: Seiberling, S. u.a.: „Raum-zeitliche und funktionale Aspekte der Phytodiversität in Salzgrasländern der Vorpommerschen Boddenlandschaft“, 41–116. 100 Vgl. Nordmeyer, Wiebke: Die Geographische Gesellschaft in Hamburg 1873–1918. Geo- graphie zwischen Politik und Kommerz. Stuttgart 1998 (= Mitteilungen der Geographi- schen Gesellschaft in Hamburg; 88); vgl. auch die Mitteilungen der Geographischen Ge- sellschaft in Hamburg (MGGH): Bd. 98: Halama, Angelika: Rittergüter in Mecklenburg- Schwerin. Hamburg 2007; Bd. 96: Zimmermann-Schulze, Kirsten: Ländliche Siedlungen in Estland. Hamburg 2005.

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4. Ostseeforschung außerhalb der Hamburger Universität

In Personalunion mit der Universität verbunden war eine politikwissenschaftliche Ost- seeforschung, die im „Institut für Auswärtige Politik“ (1923–1945, seit 1937 mit dem „Deutschen Institut für Außenpolitische Forschung“ vereinigt) betrieben wurde. Die- sem oblag die Aufgabe, mittels interdisziplinärer und empirischer Forschung die jüngste europäische Geschichte aufzuarbeiten und Leitlinien für eine friedensorientier- te und demokratisch legitimierte Außenpolitik zu entwickeln, um der Öffentlichkeit einen neuen Zugang zu aktuellen außenpolitischen Fragen zu vermitteln. Zum Direktor des Instituts wurde Albrecht Mendelssohn Bartholdy (1874–1936) bestimmt, der kurz vor Gründung des Instituts einen Ruf auf den Lehrstuhl für internationales Privatrecht und Auslandsrecht an der Universität Hamburg erhalten hatte. Mendelssohn Bartholdy unternahm ausgedehnte Forschungsreisen ins Ausland, u.a. an die Universitäten Riga (1924), Stockholm und Uppsala (beide 1931). Die im Institut redigierte Monatsschrift Europäische Gespräche (1922–1933) wurde zu einem der führenden Periodika für in- ternationale Fragen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.101 Sie arbeitete mit einer Reihe ausländischer freier Mitarbeiter zusammen, darunter solchen aus Däne- mark102, Finnland103, Lettland104, Polen105 und Schweden106, die mehrere Beiträge zu

101 Vgl. Gantzel-Kress, Gisela: „Zur Geschichte des Instituts für Auswärtige Politik. Von der Gründung bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme“. In: Klaus-Jürgen Gantzel (Hg.): Kolonialwissenschaft, Kriegsursachenforschung, Internationale Angelegenheiten. Baden-Baden 1983 (= Veröffentlichungen aus dem Institut für Internationale Angelegen- heiten; 12), 23–88; Gantzel, Klaus-Jürgen (Hg.): Wissenschaftliche Verantwortung und po- litische Macht. Berlin / Hamburg 1986 (= Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschich- te; 2); Hecker, Hellmuth: „Die Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht von 1946 (mit ihren Vorläufern), das Institut für Auswärtige Politik und die Vereinigung (1973) zum Institut für Internationale Angelegenheiten“. In: Gantzel 1983 (s.o.), 185–428. 102 Georg Getor, über den bislang nichts weiter bekannt ist. 103 Johan Adolf Törngren (1860–1943, finnländischer Politiker) und Freiherr Rabbe Axel von Wrede (1859–1938, Kanzler der Universität Turku/Finnland und Senator der Finnländi- schen Akademie). 104 Hans von Rimscha (1899–1987, Historiker) und Paul Schiemann (1876–1944, Historiker, Herausgeber der „Rigaschen Rundschau“ und Abgeordneter des lettischen Parlaments). 105 Karol Rose (1843–1940, Diplomat, u.a. Generalkonsul Polens in Berlin).

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Fragen des Ostseeraums beisteuerten. Dabei tauchten die „kleinen Staaten“ des Ostsee- raums in der Darstellung der „Europäischen Gespräche“ während des „Dritten Rei- ches“ allerdings fast nur noch als Verfügungsmasse im Kampf der Großmächte um territoriale Zugewinne auf. Ebenfalls jenseits der Universität Hamburg ist das kurzlebige „Baltic Study Center“ als Forschungsstätte für Ostseefragen zu erwähnen. Es nahm seine Arbeit als akademi- sches Zentrum für Displaced Persons aus den baltischen Ländern 1946 auf und war zunächst in den Räumen des Museums für Hamburgische Geschichte untergebracht, wurde jedoch 1947 nach Pinneberg (nordwestlich von Hamburg) verlegt. Im ersten Semester hatte die auch als Universität titulierte Institution acht Fakultäten, an denen Litauer, Letten und Esten in deutscher Sprache studierten. Den Lehrkörper bildeten 137 Dozenten, von denen 37 Litauer, 72 Letten und 28 Esten waren. Wissenschaftliche Beiträge erschienen in den Contributions of the Baltic University (insgesamt 68 Hefte). 1949 wurde die Baltische Universität nach neun Semestern Lehrbetrieb geschlossen. Die alliierten Behörden zeigten kein Interesse, baltische Institutionen in Deutschland längerfristig zu erhalten. Bis 1949 hatten aber immerhin 76 Studenten (16 Litauer, 53 Letten und 7 Esten) das Study Center erfolgreich absolviert.107

Einige zusammenfassende Bemerkungen und Forschungsfragen Die Hamburger Ostseeforschung war traditionell und ist bis heute zu großen Teilen For- schung über Hamburg als Hansestadt mit Bezügen zur Ostseehanse und über die Ostsee-

106 Helmer Key (1864–1939, Redakteur der renommierten schwedischen Tageszeitung Svenska Dagbladet) und Nathan Söderblom (1866–1931, Theologe und Erzbischof von Uppsala). 107 Vgl. Report on the Structure and Academic Work of the Baltic University, Pinneberg. Pin- neberg 1947; Gertners, V. u.a. (Hgg.): Baltijas Universitāte 1946–1949. Pinneberg 1949; Dammann, Ernst Karl Alwin Hans: „Hubert Koch zum Gedächtnis“. In: Jahrbuch für den Kreis Pinneberg 1975, 189–193; Raun, Alo: „Mälestusi ja andmeid Balti Ulikoolist (Ham- burgist ja Pinnebergist)“. In: Tulimuld (Lund) 36 (1985), 26–32; Dammann, Ernst Karl Alwin Hans: „Erinnerungen an die Baltische Universität in Pinneberg“. In: Jahrbuch für den Kreis Pinneberg 1992, 109–114; Bartusevičius, Vincas: Litauische Flüchtlinge in Deutschland 1944–1951. Einführung. Website der Litauischen Volksgemeinschaft Deutschland (http://www.voklb.de/ger/geschichte_01.htm, nicht mehr aufrufbar); Seifert, Johannes: „Displaced Persons und Baltische Universität – Eggerstedt-Kaserne 1945– 1957“. In: Pinneberger Tageblatt, 24. April 2001; Schulze, Frank: „Kaserne war sogar mal eine Uni“. In: Hamburger Abendblatt, 21. Juni 2003.

84 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Hamburg als Zentrum der humanwissenschaftlichen Ostseeraumforschung hanse selbst. Schwerpunkte außerhalb Hamburgs lagen dabei immer schon auf den Han- sestädten in der unmittelbaren Umgebung, v.a. Lübeck, und den baltischen Hansestädten, insbesondere Reval und Riga. Geographische Schwerpunkte jenseits der Hansethematik bildeten „Nordosteuropa“ (Finnland, Baltikum, Nordwestrussland mit St. Petersburg), außerdem die direkte nichthansische Umgebung Hamburgs. Diese thematische Engführung wirkt in einer Stadt, in der auch die theoretisch unabhän- gige akademische Arbeit so stark von den Interessen des Handels bestimmt ist wie in Hamburg, kaum überraschend. Eher irritiert die Tatsache, dass die Hansestadt die Erfor- schung dieser Themen zu einem bedeutenden Teil nicht aus Hamburg stammenden Ge- lehrten zu verdanken hatte. Und daran hat sich bis heute trotz der jahrzehntelangen sozi- aldemokratischen Verfilzungen zwischen politischem Senat auf der einen und universitärem Senat und Professorenschaft auf der anderen Seite kaum etwas geändert. Auf solche Zusammenhänge konnte in diesem knappen Abriss nicht systematisch einge- gangen werden. Ihre Aufarbeitung wäre jedoch der Mühe wert und würde zu einem ver- tieften Verständnis der stark politisierten (Ostsee-)Forschung in Hamburg führen. Auffällig ist weiterhin, dass der Ostseeraum als Gesamtphänomen in Hamburg fast nie Gegenstand wissenschaftlicher Interessen geworden ist. Auch größere Teile davon, insbe- sondere Skandinavien oder Teile Skandinaviens, sind nur zeitweise systematisch unter- sucht oder gar zu Forschungsprojekten geworden. Die Hamburgische Ostseeforschung beschränkte sich seit jeher stark auf den niederdeutschen Sprachraum entlang der südli- chen Ostseeküste, mit gelegentlichen Ausflügen in die polnischen, baltischen oder russi- schen Ostseegebiete. Sie besaß auch kaum einen wissenschaftlichen Begriff vom Ostsee- raum. Paul Johansen bildete hier eine rühmliche Ausnahme. Diese Tatsache hängt wohl teilweise auch mit der sehr spät etablierten und in der kurzen Zeit ihrer institutionellen Existenz schwach ausgebildeten Skandinavistik zusammen, die als bloßes Anhängsel einer – früher germanischen, heute deutschen – Philologie aufgefasst wurde. Eine dar- über hinaus als Landeskunde betriebene oder, mehr noch, mit Lehrstühlen für Geschich- te, Politik, Literaturwissenschaft, Jura und anderen Teilfächern ausgestattete, kurz: als Arealwissenschaft aufgefasste Skandinavistik hätte ein wichtiges Pendant zu den nieder- deutschen und osteuropäischen Schwerpunkten bilden und damit eine umfassende Ham- burger Ostseeforschung ermöglichen können. Die institutionelle und, damit verbunden, oft auch finanzielle Fragilität der humanwis- senschaftlichen Ostseeforschung steht in einem eigenartigen Widerspruch zu der uralten politischen Rhetorik Hamburger Stadtregierungen von der zentralen Rolle, die der Ost- seeraum angeblich für die Stadt besitzt. Das Widersinnige dieses politischen Diskurses lässt sich nur auflösen, wenn man sich verdeutlicht, dass die zentrale Rolle des Ostsee-

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raums für die politischen und wirtschaftlichen Eliten der Hansestadt vor allem in seiner (handels)ökonomischen Bedeutung liegt. Die Kultur und andere nichtökonomische Di- mensionen der Ostseeregion zählen demgegenüber wenig; von offizieller Seite gelegent- lich zu hörende Mahnungen, man dürfe sie gegenüber der Erforschung der ökonomi- schen Ostseeaspekte nicht vernachlässigen, wirken als hohle Phrase. Noch weniger ist eine Einsicht in den Zusammenhang zu erwarten, dass man über ein Engagement für kul- turelle Verständigung zwischen den Ostseeanrainern und Hamburg außenpolitisches „symbolisches Kapital“ (im Sinne Bourdieus) generieren könnte, das sich langfristig auch in „ökonomisches Kapital“ ummünzen ließe. Möglicherweise fehlt dafür in der ka- pitalkräftigsten aller deutschen Städte auch die ökonomische Notwendigkeit. Vor diesem Hintergrund und in einer historisch „langen“ Perspektive wirken die Ostsee- bezogenen Forschungen in der Hansestadt trotz institutioneller Zersplitterung und Kurz- lebigkeit inhaltlich erstaunlich stabil. Was universitäre und voruniversitäre Forschung und Lehre in Hamburg im Laufe der Jahrhunderte über den Ostseeraum zusammengetra- gen haben, ist durchaus keine Quantité negligeable. Im Rahmen einer deutschen Ostsee- forschung muss Hamburg vielmehr als eines der wichtigsten Zentren gelten – ungeachtet der weitgehenden politischen Ignoranz, mit der die Forscher zu leben lernen mussten.

Nachtrag nach Redaktionsschluss (03. Mai 2013)

Der Beschluss der Hamburger Universität vom April 2013, dass die Literatursamm- lung Walter A. Berendsohns und mit ihr die gesamte Bibliothek des „abgewickelten“ Faches Skandinavistik aufgelöst werden, ja möglicherweise „entsorgt“ werden soll, kann als neuester Akt der Geringschätzung der Nordeuropawissenschaften interpretiert werden (s. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.04.2013, Nr. 89, S. N5).

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Heiliger Vorfahr und rex perpetuus?

Quellenkritische Gedanken zum Kult des heiligen Erik im Schweden des späten zwölften und frühen 13. Jahrhunderts.

Christian Oertel

Zusammenfassung Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, einige kritische Gedanken über die Versu- che zu entwickeln, Erik dem Heiligen bereits im späten zwölften und frühen 13. Jahr- hundert eine Verehrung als heiligen Vorfahr und rex perpetuus zuzuschreiben. Die ers- te Welle der Intensivierung der Eriksverehrung fand nach der Mitte des 13. Jahrhunderts statt und legt die Vermutung nahe, dass der Heilige erst zu diesem Zeit- punkt eine Bedeutung erlangt hatte, die es sinnvoll erscheinen ließ, herrschaftslegiti- matorisch auf ihn zu rekurrieren.

Summary The aim of this investigation is it to express some critical thoughts concerning the at- tempts to ascribe to St. Erik veneration as a holy royal ancestor of the Erik Dynasty and as a rex perpetuus of the kingdom of already in the late 12th and early 13th centuries. The first wave of intensification of the cult of St Erik started after the middle of the 13th century. This suggests that the saint only at this point of time had reached an importance that made it reasonable for a ruler to refer to him in an attempt to legiti- mise a claim of power over the Swedish kingdom.

Christian Oertel hat Mittelalterliche Geschichte, Alte Geschichte und Philosophie in Jena, Jyväskyla und Tampere studiert. Er promoviert zurzeit an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. [email protected]. Die Forschungen zu diesem Aufsatz wurden durch ein Stipendium des DAAD ermöglicht. Der Autor dankt dem DAAD für die großzügige Förderung. Für hoch aufgelöste Abbildungen der im Text disku- tierten Münzen geht der Dank an das Kungelig Myntkabinett, Stockholm.

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Als im zwölften und 13. Jahrhundert die Verehrung heiliger Könige in Mitteleuropa ihren Höhepunkt erreichte und Kaiser Heinrich II. (1146), der englische König Edward der Bekenner (1161), Karl der Große (1165) und der französische König Ludwig IX. (1297) heiliggesprochen wurden, hatte die Verehrung von Heiligen dieses Typs in der nördlichen und östlichen Peripherie des christlichen Abendlandes bereits seit längerem ein hohes Niveau erreicht. Zwar wurde mit Knut IV. von Dänemark nur einer von ihnen (wahrscheinlich 1099) päpstlich kanonisiert, doch die Könige Stephan und Ladislaus in Ungarn, Wenzel in Böhmen, Olaf in Norwegen und – etwas zeitverzögert – Erik in Schweden erlangten, obwohl nicht von der Kurie heiliggesprochen, eine vergleichbare Bedeutung und wurden im Laufe des Mittelalters als Patrone ihrer jeweiligen Reiche verehrt. Im Folgenden wird der Fokus auf den skandinavischen Raum und vor allem auf die Frage gerichtet, ob und, wenn ja, wann Erik der Heilige von Schweden von den Zeit- genossen als heiliger Vorfahr und rex perpetuus betrachtet wurde. Zuvor soll allerdings ein kurzer Überblick über die Entwicklung des Heiligentyps der heiligen Könige ge- geben werden. Am Beispiel der Verehrung Olafs von Norwegen – des ersten und am häufigsten verehrten heiligen König Skandinaviens – wird im Anschluss daran para- digmatisch gezeigt, welche Formen diese Verehrung annahm und welche Denkmuster ihr zugrunde lagen. Schließlich werden die Quellen, die von der älteren Forschung für die Verehrung Eriks des Heiligen als heiliger Vorfahr und rex perpetuus als Belege herangezogen wurden, vor diesem Hintergrund kritisch untersucht. Die ersten heiligen Könige traten bereits im merowingerzeitlichen Mitteleuropa auf. Zu diesem frühen Zeitpunkt war die Tatsache, dass ein bestimmter Heiliger ein König oder eine Königin war, eher nebensächlich. Ein heiligenmäßiges Leben war aus- schlaggebend.1 Dieses Muster begann sich mit den früh- und hochmittelalterlichen angelsächsischen Königsheiligen zu verändern. Könige wie Oswald von Northumbria

1 Graus, František: Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger. Studien zur Ha- giographie der Merowingerzeit. Prag 1965, 398: „Die königliche Herrschaft […] dient dem Hagiographen zur Steigerung des Ruhmes seines Heiligen, sie ist absolut nicht der Grund für die Heiligkeit.“

88 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus? oder Edmund von East Anglia wurden in ihrer vita als rex iustus charakterisiert.2 Als die Britischen Inseln seit dem ausgehenden achten Jahrhundert immer wieder von Wi- kingern – vor allem aus Norwegen und Dänemark – heimgesucht wurden und später skandinavische Königreiche auf britischem Boden entstanden, vertiefte sich der Kul- turkontakt zwischen Angelsachsen und Skandinaviern. Da die Angelsachsen seit Alfred dem Großen in der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts begannen, die Oberhand im Kampf um die Suprematie über Britannien zu gewinnen, wurden verstärkt Skandi- navier zum christlichen Glauben bekehrt. Der spätere norwegische König Håkon I. wurde z. B. am Hof des christlichen englischen Königs Æthelstan erzogen und angel- sächsische Missionare folgten ihm, als er um 935 als König nach Norwegen zurück- kehrte.3 Weitere christliche Könige Norwegens standen unter dem geistlichen Einfluss der Angelsachsen. So wurde etwa Olaf Tryggvasson, der erste König, der die Christia- nisierung Norwegens resolut vorantrieb, in England bekehrt und getauft.4 Im Gefolge der angelsächsischen Missionare erreichte nun der zum rex iustus weiterentwickelte Typus des Königsheiligen Skandinavien. Die ersten heiligen Könige Skandinaviens – St. Olaf von Norwegen zu Beginn der 1030er Jahre und St. Knut von Dänemark in den letzten Jahren des 11. Jahrhunderts – wurden von ihnen den angelsächsischen Kö- nigsheiligen nachgebildet.5 Eine der wichtigen Auswirkungen der Einführung dieser Königsheiligen war, dass die in den nordischen Ländern in regionalen Thingversamm- lungen politisch organisierten sozialen Gruppierung mit dem Gedanken eines „nationa- len“ und stabilen Königtums vertraut gemacht wurden. Eine Neuerung in der Charakteristik der heiligen Könige in Skandinavien war, dass sie von späteren Mitgliedern ihrer Dynastie als herrschaftslegitimierende heilige Vorfah- ren angesehen wurden. Diese neue Funktion der heiligen skandinavischen Könige kann folgendermaßen charakterisiert werden: Der heilige Vorfahr war seinen Nach-

2 Hoffmann, Erich: Die heiligen Könige bei den Angelsachsen und den skandinavischen Völ- kern. Königsheiliger und Königshaus. Neumünster 1975 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins; 69), 19ff. Der Ehrentitel rex iustus ist keine Bezeichnung, die ausschließlich heiligen Königen beigelegt wurde, sondern ein gängiges Ideal in der Herrscherpanegyrik. 3 Abrams, Lesley: „The Anglo-Saxons and the Christianization of Scandinavia“. In: Anglo- Saxon England 24 (1995), 213–249, hier 217f. 4 Sturlusson, Snorri: Heimskringla. Saga Olaf Tryggvassons, Felix Niedner (Hg. )(= Sammlung Thule; 14–16), Jena 1922, Kap. 32. 5 Hoffman 1975, wie Fußnote 2, 62–138.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 89 Christian Oertel kommen besonders verbunden und sorgte, an der Seite Gottes stehend, für ihren Schutz. War ein solcher Nachkomme König, weitete sich der Schutz auf das gesamte Königreich aus.6 Diese Protektion durch den verstorbenen heiligen Vorfahren konnte bei Thronstreitigkeiten für den Nachkommen ins Feld geführt werden. Der heilige Vor- fahr erhöhte seine Herrschaftseignung, seine idoneitas, da er auch dem Reich als Gan- zem Vorteile brachte. Dabei bewegte sich die Gewährung von Schutz und Hilfe des Heiligen zunächst grundsätzlich in den Bahnen des genealogischen Prinzips.7 Ein wei- terer Schritt in der Entwicklung des Typs des heiligen Königs war die Erhebung eines etablierten heiligen Vorfahren zum rex perpetuus, dem ewigen König eines Reiches. Er war dann der ideelle und ewige Herrscher des Königreiches. Dadurch war der Schutz des Reiches durch den heiligen König nicht mehr von der (mit dem Heiligen verwand- ten) herrschenden Dynastie abhängig. Am Beispiel des heiligen Olaf von Norwegen, dem ersten und räumlich am weitesten verehrten heiligen König Skandinaviens, kann die zweistufige Weiterentwicklung des Heiligentyps paradigmatisch gezeigt werden.

St. Olaf als heiliger Vorfahr und rex perpetuus

Das Geburtsjahr Olaf Haraldssons wird in den Sagas mit 995 angegeben.8 Sein Vater Harald Grenske, Kleinkönig in der südnorwegischen Landschaft Grenland, war bei Olafs Geburt bereits nicht mehr am Leben. Seine Mutter Åsta heiratete darauf Sigurd Syr, einen Kleinkönig aus Ringerike, einer Landschaft nordwestlich des heutigen Oslo,

6 In anderen europäischen Räumen (Böhmen, Kiew, Ungarn, Italien) war der heilige Stammvater einer Dynastie darüber hinaus der Ursprung einer Heiligkeit, die sich in dem Auftreten mehrerer Heiliger innerhalb einer beata stirps äußerte. Vgl. Vauchez, André: „‚Beata Stirps’. Sainteté et lignage en Occident aux XIIIe et XIVe siècles“. In: Famille et parenté dans l'Occident médiéval, Ecole française de Rome (Hg.). Rom 1977, 397–407. Dies lässt sich weder in Norwegen noch in Schweden beobachten. 7 Grundlegend dazu: Melville, Gert: „Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealo- gien als dynastische Legitimation zur Herrschaft“. In: Peter-Johannes Schuler (Hg.): Die Fami- lie als historischer und sozialer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit. Sigmaringen 1987, 203–309; zuletzt an einem süditalienischen Beispiel exemplifiziert von Andenna, Cristina: „Wer ist zur Herrschaft geeignet? Konstruktion und Dekonstruktion dynastischer Idoneität und Legitimation am Beispiel der späten Staufer“. In: Hans Vorländer (Hg.): Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen. Berlin 2013, 115–141. 8 Zu Olaf Haraldsson als historischer Person und der Christianisierung Norwegens vgl. Bag- ge, Sverre und Sæbjørg W. Nordeide: „The Kingdom of Norway“. In: Nora Berend (Hg.): Christianization and the Rise of Christian Monarchy. Scandinavia, Central Europe and Rus' c. 900–1200. Cambridge 2007, 121–166, hier 135ff.

90 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus? an dessen Hof Olaf aufwuchs. Seinen ersten Wikingerzug soll er mit zwölf Jahren in der Ostsee unternommen haben. In der Folgezeit unternahm er Heerzüge in England, Spanien und Frankreich, schloss sich dann aber dem englischen König Æthelred an, der vom dänischen König Sven Gabelbart aus England in die Normandie vertrieben worden war, und ließ sich 1014 in Rouen taufen. 1015 begab er sich nach Norwegen, besiegte 1016 eine dänische Streitmacht in der Seeschlacht von Nesjar – Norwegen wurde seit 999 von Dänemark beherrscht – ließ sich auf mehreren der regionalen Thing-Versammlungen zum König wählen und konnte sich schnell eine breite Gefolg- schaft aufbauen. In England und wenig später auch in Dänemark war Knut der Große seinem Vater Sven Gabelbart im Königtum nachgefolgt. Ab den 1020er Jahren ver- schlechterten sich die Beziehungen zwischen Olaf und Knut. Nach einer gegen Knut verlorenen Seeschlacht 1025 oder 1026 und einer damit verbundenen drastischen Ver- ringerung seiner Anhängerschaft in Norwegen floh Olaf nach Nowgorod. Knut der Große wurde nun, nachdem er bereits die englische und dänische Königswürde inne- hatte, auch norwegischer König. Bei dem Versuch, seine Herrschaft zurückzuerlangen, fiel Olaf 1030 in der Schlacht bei Stiklestad. Der Kult um Olaf setzte direkt nach seinem Tod ein. Das Gedicht Glaelognskviða des Skalden Thorarin Lobzunge stammt wahrscheinlich aus der Zeit von 1031/32 und ent- hält bereits wichtige Elemente der späteren Hagiographie.9 Ähnlich verhält es sich mit dem Gedicht Erfidrapa, das der Skalde Sigvat Thordarson wenig später auf Olaf dich- tete.10 Die Quellen des 11. Jahrhunderts schließt der Bericht Adams von Bremen (um 1075) ab, der mehrere, einander widersprechende Versionen über den Tod König Olafs und dessen Vorgeschichte bietet.11 Aus dem Jahr 1153 ist von dem Skalden Einar Sku- lason das Gedicht Geisli überliefert, das dem Kult wieder einige neue Aspekte hinzu- fügte,12 und schließlich wurden Olaf und dessen Kult ausführlich in den norwegisch- isländischen „nationalgeschichtlichen Gesamtdarstellungen“ berücksichtigt, die um 1170 einsetzten und verschiedene Sagas (an erster Stelle die Heimskringla Snorri Stur-

9 „Glaelognskviða“. In: Finnur Jónsson: Den norsk-islandske Skjaldedigtning. Kopenhagen / Oslo 1912/15, 300ff. 10 „Erfidrapa“. In: Ebd., 239f. 11 Adam von Bremen: Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, Bernhard Schmeidler (Hg.) Hannover 1876 (= MGH SS 2), B. II, Kap. 61 (mit Schol. 41 [42]). 12 „Geisli“. In: Jónsson 1912/15, wie Fußnote 9, 427ff.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 91 Christian Oertel lussons),13 die Schrift des Theodoricus Monachus,14 die Historia Norvegiae15 und Ágrip af Nóregs konunga sögum (Kompendium der Geschichte der Könige von Nor- wegen)16 umfassen. Ebenfalls um diese Zeit entstand die Passio et Miracula Beati Olavi.17 In den zuletzt genannten Quellen des zwölften Jahrhunderts taucht Olaf der Heilige erstmals als heiliger Vorfahr auf. Dazu hier nur ein Beispiel: Am Vorabend der Schlacht gegen die Wenden nahe Haithabu im Jahre 1043 erschien Magnus dem Guten sein verstorbener Vater St. Olaf. Theodoricus Monachus schreibt darüber: „Und so ging Magnus am folgenden Tag gestärkt durch diese Vision mutig in die Schlacht. Er marschierte unter der Flagge, die seines Vaters war, und trug in seiner Hand dessen zweischneidige Streitaxt.“18 Snorri Sturlusson fügt in der Saga Magnus' des Guten hinzu: „Und es war sprichwörtlich unter den Leuten, dass niemand es wa- gen würde, gegen König Magnus Olafsson anzutreten, denn sein Vater, Sankt Olaf, stand ihm so nahe, dass seine Feinde ihm deshalb keinen Schaden zufügen konnten.“19 Die enge Verbindung des Sohnes zu seinem als Heiliger verehrten Vater, symbolisiert durch die Benutzung des Feldzeichens und der Streitaxt St. Olafs durch Magnus, er- scheint in beiden Quellen als eine der wichtigsten Siegbedingungen. Doch nicht nur auf seinen direkten Nachfahren, sondern auch auf andere Mitglieder seiner Familie

13 Zur Kategorie der „nationalgeschichtlichen Gesamtdarstellungen“ vgl. Kersken, Norbert: Geschichtsschreibung im Europa der „nationes“. Nationalgeschichtliche Gesamtdarstel- lungen im Mittelalter. Köln / Weimar 1995 (= Münstersche historische Forschungen; 8); Sturlusson, Snorri: „Heimskringla. Saga Olafs des Heiligen“. In: Niedner (Hg.) 1922, wie Fußnote 4. 14 Monachus, Theodoricus: „Historia de antiquitate regum Norwagiensium“. In: Gustav Storm (Hg.): Monumenta historica Norvegiae. Latinske kildeskrifter til norges historie i middelalderen. Oslo 1880, 1–68. 15 Ekrem, Inger u. Lars Boje Mortensen (Hgg.): Historia Norvegiæ. Transl. by Peter Fisher. Kopenhagen 2003. 16 Jónsson, Finnur (Hg.): Ágrip af Nóregs konunga sögum. Halle 1929. 17 Metcalfe, Frederik (Hg.): Passio et Miracula Beati Olavi. Oxford 1881. 18 Monachus, Theodoricus: „Historia de antiquitate regum Norwagiensium“. In: G. Storm (Hg.) 1880, wie Fußnote 14, 49. Kap. 24: „Hac ergo visione confortatus rex Magnus in crastinum viriliter processit ad proelium, subsequens vexillum, quod patris ejus fuerat, tenens manu bipennem ejusdem“. 19 Sturlusson, Snorri: „Heimskringla, Saga Magnus des Guten“. In: Niedner (Hg.) 1922, wie Fußnote 4, Kap. 29: „[...]ok var þat alþýðu mál, at engi maðr mundi þurfa at berjast við Magnús konung Ólafsson, ok Ólafr konungr faðir hans væri honum svá nákvæmr, at úvinir hans mætti enga mótstöðu veita honum fyrir þá sök.“

92 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus? erstreckte sich die Gnade des Heiligen. Olafs Halbbruder und späterer norwegischer König Harald Hardrada (König 1046–1066) etwa, soll – der Hagiographie zufolge – St. Olafs Hilfe bei seinem Ausbruch aus dem kaiserlichen Gefängnis in Konstantinopel erhalten haben,20 und auch spätere Abkömmlinge seiner Dynastie erfuhren von ihm in Visionen und Träumen Hilfe.21 Allerdings ist der Zeitpunkt, wann St. Olaf als hilfrei- cher heiliger Vorfahr den Zeitgenossen bewusst zu werden begann, nicht genau zu er- mitteln, da die Quellen, die ihn in dieser Funktion beschreiben, erst in den 1170er Jah- ren einsetzen und also im Abstand von über 100 Jahren von den Ereignissen berichten.22 Etwa zur gleichen Zeit, nämlich in den 1160er Jahren, wird eine weitere Entwicklung des Typus' des heiligen Königs erstmals in den norwegischen Quellen fassbar. Nach Jahrzehnten, die von Streitigkeiten um den norwegischen Thron geprägt waren, gelang es Jarl Erling Skakke in den frühen 1160er Jahren, seinen minderjährigen Sohn Magnus als norwegischen König krönen zu lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte er die Hilfe der Kirche, namentlich des Erzbischofs Eystein von Nidaros (des heutigen Trondheim), benötigt. Der Preis für die Unterstützung des Erzbischofs war eine (unda- tierte) Krönungsurkunde, in der Magnus Erlingsson das Königreich Norwegen Gott und dem heiligen Olaf schenkte, um es alsbaldig wieder von ihnen als Lehen zu nehmen. In der Urkunde heißt es: „An diesem großen Tag der Wiederauferstehung übergebe ich hiermit das Königreich für alle Zeiten an Gott und in vollständiger und besonderer Verehrung als zweites nach Gott an den glorreichen Märtyrer König Olaf; und ich werde diesem Königreich vorsitzen, sofern es Gott gefällt, als des glorreichen Märtyrers Erbe, unter seiner Lehensherrschaft und als sein Stellvertreter und Vasall.“23

20 Ders.: „Saga Harald Hardradas“. In: Niedner (Hg.) 1922, wie Fußnote 4, Kap. 14. 21 Vgl. etwa Ders.: „Saga Sigurd des Jerusalemfahrers, Eysteins und Olafs“. In: Niedner (Hg.) 1922, wie Fußnote 4, Kap. 20 und „Saga Magnus des Blinden und Harald Gilles“. In: ebd., Kap. 7. 22 Theodoricus Monachus schrieb um 1180, die Heimskringla. Snorri Sturlussons enstand um 1230. 23 Vandvik, Eirik: Magnus Erlingsson Privilegiebrev og Kongevigsele, Vegard Skånland (Hg.). Oslo 1962, 13: „Deo namque in hac die gloriose resurreccionis me cum regno in perpetuum et glorioso martyr regi Olauo [cui] integraliter speciali deuocione secundo post dominum regnum assigno Norwegie, et huic regno, quantum deo placuerit, uelut eiusdem gloriosi martyris possessioni hereditarie sub eius dominio tamquam suus uicarius et ab eo tenens presidebo.“

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 93 Christian Oertel

Mit seiner Krönungsurkunde räumte Magnus Erlingsson der Kirche auf der einen Seite eine starke Machtstellung in Norwegen ein. Auf der anderen Seite erhielt er durch sie eine sakrale Legitimation seiner Herrschaft, die zum einen stark auf den heiligen Olaf abhob und zum anderen in dem Einschub „wenn es Gott gefällt“ den Gedanken des Gottesgnadentums der königlichen Herrschaft aufscheinen lässt. Die aus dieser Le- hensname bezogene Legitimierung wiegt umso schwerer, wenn man bedenkt, dass Magnus Erlingssons nicht vorhandene dynastische Legitimerung durch sie ersetzt wurde. Er konnte sich auf keinen der vor ihm herrschende Könige genealogisch zu- rückführen und benötigte daher eine andere Legitimitätsquelle seiner Herrschaft. Die abstrakt-religiöse Legitimation ersetzte die konkret-genealogische. Auch Erzbischof Eystein hatte ein Interesse daran, den Kult Olafs zu fördern. Erst 1154, also ca. 10 Jah- re vor der Krönung Magnus Erlingssons, war Nidaros von dem päpstlichen Legaten Nikolas Breakspear (dem späteren Papst Hadrian IV.) zum Erzbistum erhoben worden, und St. Olaf war der Schutzheilige des Domes und damit auch des jungen Erzbistums. Obwohl das in der Urkunde festgehaltene Arrangement nicht länger hielt als Magnus‘ Regierung dauerte, zeigt es das Ausmaß des Prestiges, das St. Olaf innerhalb von etwa 130 Jahren seit seinem Tod erreicht hatte. Und obwohl spätere Könige sich nicht mehr auf ihn als Lehnsherrn bezogen, blieb diese Vorstellung doch lebendig. St. Olaf wurde z.B. in der Historia Norvegiae als ewiger König bezeichnet,24 und das Wappen, das König Magnus VI. 1280 einführte, zeigt einen Bären, der eine Axt – das Heiligenattri- but St. Olafs – in den Tatzen hält. Die Charakterisierung Olafs als „perpetuus rex“ in der Historia Norvegiæ wurde von der Forschung übernommen und bezeichnet seine Stellung als Schutzheiliger der norwegischen Könige und des norwegischen Königrei- ches, auch wenn keine weitere Lehensnahme durch einen norwegischen König von Olaf dem Heiligen überliefert ist.

24 Historia Norvegiæ, wie Fußnote 15, 109: „Iste duxit uxorem valde elegantem nomine Asta filiam Gudbrandi culu, quae sibi peperit Olavum perpetuum regem Norwegiae“. Das ge- naue Abfassungsdatum der Historia Norvegiæ ist unsicher. Es liegt zwischen der Mitte des 12. und dem Ende des 13. Jahrhunderts. Vgl. Ekrem, Inger: „Historia Norwegie og erke- bispesetet i Nidaros“. In: Collegium Medievale 11 (1998), 49–67, hier 65: „The medieval text Historia Norwegie has been subject to thorough and frequent scrutiny since its first publication in 1850. Nevertheless it remains to be established when, why, where, for whom and by whom it was written“; Phelpstead, Carl: „Introduction“. In: Anthony Faulkes u. Richard Perkins (Hgg.): A History of Norway and the Passion and Miracles of the Blessed Óláfr. London 2001 (= Text series/Viking Society for Northern Research; 13), ix–xxiv.

94 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus?

Die bisherige Forschung hat die beiden Heiligentypen des heiligen Vorfahren und des rex perpetuus bereits häufig thematisiert. Der Zusammenhang zwischen beiden scheint allerdings noch nicht vollständig aufgeklärt zu sein. Aus dem skandinavischen Materi- al ergibt sich der Eindruck, dass der heilige Vorfahr und der rex perpetuus zwei Ent- wicklungsstufen des gleichen Heiligentyps darstellen, wobei der heilige Vorfahr die Vorstufe zum rex perpetuus bildete. War der Vorfahr zwar nicht mehr lebendig aber doch erinnerbar und eine historisch fassbare Gestalt, die dabei half, die Thronansprü- che ihrer Nachfolger zu legitimieren, so war der rex perpetuus weiter entrückt. Er war der transzendente und abstrakte ewige König, der das Königreich von seinem Sitz un- ter den Heiligen aus beschützte. Der Prozess, der von der einen Verehrungsform zur anderen führte, wurde offenbar durch die zunehmende historische Distanz ermöglicht, die den Heiligen weiter von den Lebenden entrückte und gleichzeitig seine „Zustän- digkeit“ von seinen Nachkommen auf das gesamte Königreich erweiterte. Die Vereh- rung St. Olafs als heiliger Vorfahr ist daher chronologisch vor jene als rex perpetuus, also vor die Mitte des zwölften Jahrhunderts zu datieren. Neben der sakralen Herrschaftslegitimation wirkte die Übertragung des Reiches an einen ewigen König auch in eine weitere Richtung: Sie förderte die Transpersonalisie- rung des Königsamtes und festigte dadurch die Institution des Königtums. Der ewige und der aktuelle König erfüllten in den relativ spät bekehrten Gebieten Nord- und Mit- tel-Osteuropas in gewisser Weise die Funktion der zwei Körper des Königs (eines na- türlichen und eines politischen). Diese Betrachtungsweise hatte sich in der politischen Theorie des mittelalterlichen Westeuropas herausgebildet, um das Problem der theore- tischen (und im Fall der Thronvakanz auch praktischen) Diskrepanz zwischen dem 25 Königsamt und der körperlichen Person des Königs zu lösen. Die heiligen Könige sind in dieser Hinsicht auch als Vehikel der Durchsetzung einer neuen Gesellschafts- ordnung in der europäischen Peripherie des Mittelalters zu betrachten. Während St. Olaf bereits vor der Mitte des zwölften Jahrhunderts als heiliger Vorfahr und seit den 1160er Jahren als rex perpetuus Norwegens verehrt wurde – und diese Verehrung in schriftlichen Quellen gut fassbar ist –, stehen die Versuche der älteren schwedischen Forschung, auch St. Erik die gleichen Formen der Verehrung in diesem Zeitraum zuzuschreiben, auf einer sehr dünnen Quellenbasis.

25 Vgl. Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theo- logie des Mittelalters. München 1990.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 95 Christian Oertel

St. Erik als heiliger Vorfahr

Die Vorstellung Erik Jedvardssons als historische Person muss aufgrund der spärlichen Quellen sehr viel bescheidener ausfallen, als die Olaf Haraldssons. Die einzige relativ sicher überlieferte Episode aus seiner Herrschaft stammt aus einem dänischen Anna- lenwerk, das für das Jahr 1158 von einem Konflikt zwischen seiner Frau Christina und ihm auf der einen und dem västergötlandischen Zisterzienserkloster Varnhem auf der anderen Seite berichtet.26 Sigrid, eine Verwandte Christinas, hatte den Zisterziensern Land für die Errichtung der Klosterbauten überlassen. Nach Sigrids Tod versuchte Christina, in den Besitz dieses Landes zu kommen, und die Mönche mussten ihr Klos- ter verlassen. Die beiden Parteien scheinen sich allerdings recht schnell geeinigt zu haben, denn das Kloster wurde bereits nach kurzer Zeit von Mönchen aus Alvastra (Östergötland) wieder in Besitz genommen, und Eriks Sohn Knut (König1167–1196) richtete in Varnhem die Familiengrablege der Eriksdynastie ein. Eine der Urkunden König Knut Erikssons stellt die erste schwedische Nennung Erik Jedvardssons dar. Er wird dort als Knuts Vater und König genannt.27 Eriks Vatername, Jedvard, wird von einigen isländischen Quellen überliefert und da er die nordische Form des englischen Namens Edward darstellt, besteht die Möglichkeit, dass der Vater Eriks von dort einwanderte.28 Ob der Herrschaftsbereich König Erik Jedvardssons über Götland hinausreichte, ist aufgrund dieser nur punktuellen Überliefe- rung ungewiss. Der dänische Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus, der ausführlich über die schwedischen Verhältnisse um die Mitte des zwölften Jahrhunderts Auskunft gibt, erwähnt ihn zumindest nicht. Alle weiteren Angaben über sein Leben und Wirken (Jahr der Krönung und Todesjahr, Kreuzzug nach Finnland, Gesetzgebungstätigkeit, Ermordung durch einen dänischen Thronprätendenten) entstammen seiner gegen Ende des 13. Jahrhunderts verfassten Legende und sind daher aus quellenkritischer Sicht

26 „De fundatione monasterii Vitæscholæ“. In: Martin C. Gertz (Hg.): Scriptores minores historiae Danicae Medii Aevi. Bd. 2, Kopenhagen 1922, 138, 141. 27 SDHK 268. Die SDHK(=Svenskt diplomatariums huvudkartotek)-Zählung ersetzt nun die Zählungen der älteren Editionen DS (Diplomatarium Suecanum) und SD (Svenskt Diplo- matarium). Die Urkunden sind auf der Website des schwedischen Riksarkivet ediert: http://www.nad.riksarkivet.se/sdhk, 09. Mai 2013. 28 Vgl. z.B. Magnusson, Finnur u. Carl C. Rafn (Hgg.): Saga Sverris konungs. Eptir gömlum skinnbókum útgefin að tilhlutun hins konúngliga norræna fornfræða-fèlags. Kopenhagen 1834, 244f., Kap. 100.

96 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus? sehr problematisch. Auch die Anfänge seines Kultes liegen im Dunkeln. Der Leich- nam, der noch heute im Reliquienschrein im Dom von Uppsala ruht, zeugt von einem analogen Tötungsakt, wie in der Erikslegende für den Heiligen berichtet wird (Ent- hauptung). Es könnte sich daher tatsächlich um seine Überreste handeln, die darüber hinaus Kratzspuren aufweisen, die auf ein Entfernen des Fleisches von den Knochen relativ kurz nach dem Tod hindeuten.29 Dies würde auf eine elevatio der Reliquien zu einem Zeitpunkt hindeuten, zu dem das Fleisch noch nicht vollständig vergangen war. Tore Nyberg nimmt dafür das Jahr 1167 an.30 Die schriftlichen Quellen schweigen al- lerdings zu einem Kult um Erik bis ins Jahr 1198, dem Jahr der erstmaligen Nennung seines Festtages im Kalendarium von Vallentuna, einem Ort südöstlich von Uppsala.31 Dass seine Gebeine im Dom von Uppsala aufgebahrt liegen, wird zuerst von der norwegischen Sverris Saga bezeugt, deren Abfassungszeit für den Anfang des 13. Jahrhunderts angenommen wird.32 Die chronologisch nächsten Erwähnungen des Erikskultes bilden zwei päpstliche Diplome aus der Mitte des 13. Jahrhunderts.33 Sie stehen im Zusammenhang mit dem Umzug des Erzsitzes von (Alt-)Uppsala nach Östra Aros (dem heutigen Uppsala) und bilden den Auftakt zu einer Intensivierung des Erikskultes und einer dichteren Überlieferung desselben. Nach dem Umzug des Erzsitzes im Jahr 1273 entstanden das Eriksoffizium sowie seine Legende und Mirakelsammlung im Umkreis des Erzbischofs und des Domkapitels von Uppsala. Die Frage nach dem frühen Kult um den heiligen Erik wird seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem wegweisenden Aufsatz von Knut Stjerna lebhaft diskutiert.34

29 Ingelmark, Bo E. u. Artur Bygdén: „Skelettdelarna i Erik den heliges relikskrin“. In: Bengt Thordeman (Hg.): Erik den helige. Historia – Kult – Relikter. Stockholm 1954, 233–268. 30 Nyberg, Tore: „Eskil av Lund och Erik den helige“. In Anders Grönvall (Hg.): Historia och samhälle. Studier tillägnad Jerker Rosén. Malmö 1975, 5–22, hier 12–18. 31 Björkvall, Gunilla: „Vallentuna mässbok och kalendarium i forskningens ljus“. In: Staffan Helmfrid (Hg.): Vallentuna Anno Domini 1198. Vallentunakalendariet och dess tid. Väster- vik 1998 (= Vallentuna kulturnämnds skriftserie; 12), 93–99; Schmid, Toni (Hg.): Liber ecclesiae Vallentunensis. Stockholm 1945, 38, 40. 32 Magnusson u. Rafn (Hgg.) 1834, wie Fußnote 28, 244f., Kap. 100: „[…] Eriríks Svíakonúngs Játvarðsonar, hins helga. Eiríkr hvílir í skríni í SvíϷjóðu at Uppsölum [der Schwedenkönig Erik Jevardsson, der heilige. Erik ruht im Schrein in Schweden in Uppsa- la]“. 33 SDHK 740, 866. 34 Stjerna, Knut: Erik den helige. En sagohistorisk studie. Lund 1898 (= Lunds Universitetets Årsskrift 35).

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 97 Christian Oertel

Seit dieser Zeit reichen die Forschungsmeinungen von der Verneinung einer Verehrung vor 119835 bis zur Annahme eines reichen und lebhaften Kultes bereits im zwölften Jahrhundert.36 Beide Meinungen gründeten in erster Linie auf unterschiedlichen An- nahmen bezüglich der Abfassungszeit und Glaubwürdigkeit der Erikslegende. Mitt- lerweile unterstützen jedoch die meisten Historiker die These von der Abfassung der Legende im späten 13. Jahrhundert.37 Über die Bedeutung und den Umfang des frühen Erikskultes gehen die Forschungsmeinungen trotzdem weiterhin auseinander. Während die Forscher der einen Seite darauf beharren, dass der heilige Erik „nicht der ewige König Schwedens war“,38 sind jene der anderen Seite davon überzeugt, dass der Kult St. Eriks bereits im zwölften Jahrhundert in Schweden weit verbreitet war und dass der heilige König seit der Mitte des 13. Jahrhunderts als rex perpetuus verehrt wurde.39 In Ermangelung von Schriftzeugnissen werden sowohl für seine Verehrung als heiliger Vorfahr seines Geschlechts als auch für die als ewiger König Schwedens eine Reihe von bildlichen Quellen ins Feld geführt, die im Folgenden vorgestellt und diskutiert werden sollen. Die Annahme, dass der Kult des heiligen Erik bereits von seinem Sohn Knut Eriksson (König1167–1196) gefördert wurde, ist in der schwedischen Forschung allgemein ak- zeptiert.40 Sie ist auch naheliegend, da – wie am norwegischen Beispiel gezeigt – ein

35 Weibull, Lauritz: „Erik den helige“. In: Aarbøger for nordisk Oldkyndighet og Historie 1917 (3. Raekke, band 7). 36 Westman, Knut B.: Den svenska kyrkans utveckling från S:t Bernhards tidevarv till Inno- centius III:s. Stockholm 1915, 67–100. 37 Lindqvist, Thomas: „Erik den helige och det Svenska kungadömets framväxt“. In: Olaf Skevik (Hg.): Kongemøtte på Stiklestad. Foredrag fra seminar om kongedømmet i vikingtid og tidlig middelalder. Verdal 1999, 119–134, hier 121; Lehtonen, Tuomas: „Finlands eröv- ring och frälsningshistoria: Sankt Henrik, Finlands kristnande och uppbyggandet av det förflutna“. In: Helena Edgren (Hg.): Pyhä Henrik ja Suomen kristillistyminen. Helsinki 2007 (= Suomen Museo 2006), 7–26; Bolin, Sture: „Erik den helige“. In: Svensk Biogra- fiskt Lexikon. Bd. 14, Stockholm 1953, 248–257, hier 250. Ich folge der Forschung hierin. 38 Lindqvist 1999, wie Fußnote 37, 126. 39 Zuletzt: Hernfjäll, Viola: „Via Regia – Kungsvägen – Eriksgatan“. In: Fornvännen 95 (2000), 23–29. 40 Schmid, Toni: „Erik den Helige“. In: John Granlund (Hg.): Kulturhistorisk lexikon för nor- disk medeltid. Bd. 4, Malmö 1959, 13–21; „Erik den Helige“. In: Nationalenzyklopedin. Bd. 5, Höganäs 1991; Nyberg, Tore: „Erik, St.“ In: Medieval Scandinavia. An Encyclope- dia. New York / London 1993, 171; Blomkvist, Nils u. a.: „The Kingdom of Sweden”. In: Berend 2007, wie Fußnote 8, 167–213, hier 189f. Gegen eine führende Rolle der direkten Nachkommen, aber immer noch für deren Mitwirkung bei der Einrichtung des Kultes:

98 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus? heiliger König in der Familie die Herrschaftseignung eines seiner Verwandten in den Augen der Zeitgenossen erheblich erhöhen konnte. Die Nachfolger Eriks des Heiligen standen über Generationen in ständiger Konkurrenz zu denen Sverkers d. Ä. und hät- ten in diesem Konflikt großen Nutzen aus einer zusätzlichen Herrschaftslegitimation ziehen können. Die Quellengrundlage für diese Annahme ist jedoch sehr schmal, be- steht sie doch ausschließlich aus einer Münze Knut Erikssons und einer Kalkmalerei in der Kirche von Eriksberg, deren Interpretationen in beiden Fällen umstritten sind.41 Bei der genannten Münze handelt es sich um einen Brakteaten, der in die Regierungs- zeit Knut Erikssons datiert wird (Abb. 1).42 Er zeigt eine gekrönte Figur, die in der rechten Hand ein Lilienszepter und in der linken einen Turm, eine Kirche oder ein Zi- borium hält. Um die Figur herum sind die Buchstaben IVA angeordnet. Die Münze wurde zuerst von Bengt Thordeman beschrieben.43 Er interpretierte das Objekt, wel- ches die Figur in der linken Hand hält, als Ziborium und schloss aus der Tatsache, dass Erik der Heilige auf einigen späteren Abbildungen mit einem solchen dargestellt wur- de, darauf, dass auch die Figur auf dem Brakteaten den schwedischen heiligen König darstellen müsse. Die Inschrift las er zunächst als Ilianus Västra Aros, was bedeuten würde, dass der Brakteat eine Prägung des Bischofs Ilian von Västerås gewesen wäre. In einem späteren Aufsatz revidierte sich Thordeman dahingehend, dass eine Deutung der Inschrift nicht möglich wäre, da die einzige schriftliche Quelle, die diesen Bischof nenne, eine Fälschung des 17. Jahrhunderts sei.44 Nils Rasmusson schlug dagegen vor, die drei Buchstaben zu [C]IVitas Arosiensis aufzulösen, was allerdings die problemati-

Skórzewska, Joanna A.: „Family Matters? The Cultus of the Scandinavian Royal Martyrs”. In: Gro Steinsland u. a. (Hgg.): Ideology and Power in the Viking and Middle Ages. Scan- dinavia, Iceland, Ireland, Orkney and the Faeroes. Leiden / Boston 2011 (= The Northern world; 52), 329–365. 41 Neben den im Folgenden untersuchten Quellen existieren noch einige weitere, die für ei- nen frühen und über das gesamte mittelalterliche Schweden verbreiteten Erikskult in An- spruch genommen werden. Diese Inanspruchnahme bezieht sich aber nicht auf die hier problematisierte Frage der Verehrung als heiliger Vorfahr oder rex perpetuus; daher werden diese Quellen im hier behandelten Kontext nicht berücksichtigt. 42 Lagerqvist, Lars O.: Svenska mynt under vikingatid och medeltid (ca 995–1521). Stockholm 1970 (= Numimatiska Bokförlagets handboksserie; 4), LL IA 1a. 43 Thordeman, Bengt: „Två fynd av Knut Erikssons Västerås-brakteater från Mackmyra i Valbo socken, Gästrikland“. In: Fornvännen 26 (1931), 207–218. 44 Thordeman, Bengt: „Erik den helige i medeltidens bildkonst“. In: Ders. 1954, wie Fußnote 29, 173–232, hier 198.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 99 Christian Oertel sche Annahme eines fortgelassenen oder verschwundenen „C“ voraussetzen würde.45 Darüber hinaus wurde Östra Aros erst im Jahr 1273 anlässlich des Umzugs des schwedischen Erzsitzes von (Alt)Uppsala dorthin Bischofssitz, was mit der Datierung der Münze nicht in Einklang zu bringen ist. Die am weitesten gehende Interpretation lieferte Ralf Sjöberg mit der entgegen dem Uhrzeigersinn gelesenen Lösung VIA.46 Die Abbildung des Königs nahm er als Substitution des Wortes regia an. Das daraus erhaltene via regia deutete er schließlich als Zitat aus der Erikslegende, in welcher der Reichsumritt des Heiligen mit diesen Worten bezeichnet wird.47 Mit dieser Interpreta- tion versuchte er gleichzeitig, die Datierung der Erikslegende in die Regierungszeit von dessen Sohn zu untermauern.48 Die Identifikation der auf dem Brakteaten abgebildeten Figur mit Erik dem Heiligen ist problematisch, da das Objekt in der linken Hand des Königs nicht zweifelsfrei als Ziborium interpretiert werden kann, und auch wenn dies möglich wäre, kämen andere Deutungen in Betracht.49 Kein anderer Bestandteil des Bildes weist auf den Heiligen hin. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Vorschlägen für die Deutung der Buch- staben IVA erscheint mir diejenige Kenneth Jonssons plausibel, der sie zu Iohannes

45 Rasmusson, „Nils L.: „Rex Upsalie. Till tolkningen av en nyfunnen mynttyp från 1200- talet“. In: Mårten Stenberger (Hg.): Arkeologiska forskningar och fynd. Studier utgivna med anledning av H.M. konung Gustaf VI Adolfs sjuttioårsdag. Stockholm 1952, 283–294, hier 291. 46 Sjöberg, Ralf: „Rex Upsalie et vicarius – Erik den helige och hans ställföreträdere. Något om Erikskulten och de äkta folkungarnas uppror på 1200-talet”. In: Fornvännen 81 (1986), 1–13, hier 6. 47 Schmid, Toni: „Erik den heliges legend på latin, fornsvenska och modern svenska“. In: Thordeman 1954, wie Fußnote 29, IX–XX, hier XI: „Deinde regnum suum circuiens ac populum visitans universum via regia incedens […]“ 48 Zur Datierung der Erikslegende ins 12. Jahrhundert vgl. auch Sjöberg, Ralf: „Via regia incedens”. In: Fornvännen 78 (1983), 252–260. Zuerst wurde dieser Datierungsvorschlag gemacht von: Carlsson, Einar: Translatio archiepiscoporum. Erikslegendens historicitet i belysning av ärkebiskopssätets förflytning från Upsala till Östra Aros. Uppsala 1944. Ich unterstütze diesen Datierungsvorschlag nicht, sondern nehme mit dem Großteil der For- schung eine Entstehung im späten 13. Jahrhundert an (vgl. Fußnote 37). 49 Besonders St. Olaf ist häufig mit einem Ziborium dargestellt, vgl. exemplarisch die Olafs- bilder in den Kirchen von Hubbo (Västmanland) und Glanshammar (Närke) bei Thorde- man 1954, wie Fußnote 44, 185f.

100 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus?

Vpsalensis Archiepiscopus auflöst.50 Die Darstellung des aktuellen Königs Knut Eriksson auf einer Münze des Johannes, Erzbischof von Uppsala (Erzbischof 1185-1187), würde auf eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden höchsten geistlichen und weltlichen Würdenträgern Schwedens und möglicherweise auf eine kurzzeitige gemeinsame Münzprägung hinweisen. Jene oben erwähnte Kalkmalerei, welche ebenfalls für die These, Knut Eriksson habe den Kult seines Vaters propagiert, in Anspruch genommen wird, befindet sich in der Kirche von Eriksberg in der Diözese Skara (Västergötland) und zeigt zwei gekrönte Gestalten auf den beiden Seiten des Bogens, der den Eingang zum Altarraum über- spannt (Abb. 2). In der Mitte dieses Bogens ist ein Engel mit doppeltem Flügelpaar abgebildet. Während lange angenommen wurde, dass sowohl die Kirche als auch deren Ausmalung aus der Regierungszeit Knut Erikssons stammen,51 wurde mit einer Ende der 1980er Jahre vorgenommenen dendrochronologischen Untersuchung nachgewie- sen, dass das Gebäude bereits im Jahr 1153 – also in der Regierungszeit Sverkers d. Ä. oder Eriks des Heiligen – errichtet wurde.52 Die weiterhin aufrecht erhaltene Datierung der Malereien in die 1170er Jahre durch Viola Hernfjäll macht allerdings eine Urheberschaft Knut Erikssons für die Ausmalung möglich.53 Sie hält die Qualität der Malereien für außergewöhnlich hoch. Daraus schließt sie, die Bebilderung der Kirche sei „ordered by a person above the common level“,54 was Knut Eriksson als Auftraggeber wahrscheinlich mache. Dieser Annahme ist von Lars Gahrn widersprochen worden, der angibt, dass Malereien, die denen der Kirche von Eriksberg entsprechen, auch in anderen Pfarrkirchen Västergötlands vor- kämen.55 In einem späteren Aufsatz interpretiert Hernfjäll die Kalkmalerein als eine

50 Jonsson, Kenneth: „Från utlänsk metall till inhemskt mynt“. In: Ders. u. a. (Hgg.): Mynt- ningen i Sverige 995–1995. Stockholm 1995 (= Numismatiska meddelanden; 40), 43–61, hier 56. 51 Schiller, Harald: Med götar genom göternas rike II. Falköping 1933, 403; Nyberg, Tore: „Erik IX Jedvardsson“. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 3, Stuttgart 1986, 2143–2144. 52 Bråthen, Alf: „Den märkliga takstolen i Eriksbergs kyrka“. In: Västgöta-Dal 1989/90, 94– 99, hier 94. 53 Hernfjäll, Viola: Medeltida kyrkmålningar i gamla Skara stift. Skara 1993 (= Skrifter/Skaraborgs Länsmuseum; 16), 29–42. 54 Ebd., 40. 55 Gahrn, Lars: Bland Svear och Götar. Undersöckningar rörande samfärdsel, riksdelar, försvarsbehöv, ledungståg och konungens krigsfolk. Mölndal 1989, 140.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 101 Christian Oertel bildliche Darstellung der via regia, dem später Eriksgatan genannten Umritt der frisch gekrönten schwedischen Könige.56 Im Unterschied zum oben besprochenen Brakteaten, sind die beiden Gestalten durch Krone, Lilienszepter und Nimbus deutlich als heilige Könige zu identifizieren. Dage- gen fehlt, wie im obigen Fall, bei beiden Heiligen ein Attribut, mit dem sie eindeutig identifizierbar wären. Während von der linken Gestalt lediglich die linke Hand er- kennbar ist, in der sie das Lilienszepter hält, weist der rechte König mit einem Objekt, das er auf dem Handteller seiner rechten Hand hält, auf den in der Mitte abgebildeten Engel. Eine Deutung dieses Objekts ist bisher allerdings nicht gelungen. Trotzdem identifizieren Viola Hernfjäll und andere Forscher57 die beiden dargestellten heiligen Könige als St. Olaf und St. Erik. Eine Darstellung Olafs des Heiligen wäre in Väster- götland in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts keine Überraschung, da sich sein Kult sehr schnell über den gesamten nordischen Raum verbreitete und sein Patro- zinium eines der häufigsten schwedischer Pfarrkirchen war.58 Auch wenn sein Attribut, die Axt, nicht zu erkennen ist, wäre es also recht plausibel, in der linken der beiden gekrönten Gestalten den norwegischen Königsheiligen zu sehen. Im Fall der anderen Figur ist eine Zuweisung schwieriger, da das Objekt in ihrer rechten Hand an keines der Attribute der infrage kommenden Königsheiligen erinnert. Mögliche Heilige wären St. Knut (häufigstes Attribut: Speer), St. Erik (häufigstes Attribut: Schwert) oder ande- re dänische Königsheilige wie Knut Magnusson (gest. 1157)59 oder Knut Lavard (gest. 1131).60 In der zweiten Figur Erik den Heiligen zu sehen, ist daher iko- nographisch eine zwar mögliche Option, aber nur eine unter mehreren. Auf der anderen Seite existieren Hinweise darauf, dass Eriksberg zu den Orten gehör- te, die von Angehörigen des Geschlechts Eriks des Heiligen aufgesucht wurden. Dar- auf, dass eines der schwedischen Königsgeschlechter dort Besitz hatte, weisen mehrere Orts- und Flurnamen mit dem Präfix „Kungs-“ hin.61 Dass Knut Eriksson den Ort

56 Hernfjäll 2000, wie Fußnote 39. 57 Vgl. exemplarisch Thordeman 1954, wie Fußnote 44, 182f. mit älterer Literatur. 58 Pegelow, Ingalill: Helgonlegender i ord och bild. Kristianstad 2006, 314. 59 Ahnlund, Nils: „Till frågan om den äldsta Erikskulten i Sverige“. In: Historisk Tidskrift 68 (1948), 297–320 wird angenommen, dass Knut Magnusson ein Heiliger der Sverker-Partei war und in Götland verehrt wurde. Von ihm sind keine Abbildungen bekannt. 60 Knut Lavard verschmolz als Heiliger im Laufe der Zeit zunehmend mit Knut IV., dem Hei- ligen. Er wurde daher auch oft mit einem Speer dargestellt. 61 Gahrn 1989, wie Fußnote 55, 146f.

102 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus?

(mindestens einmal) besuchte und dort starb, bezeugt Äldre Västgötalagens konunga- längden, eine Königsliste mit kurzen Einträgen zu jedem Herrscher, die zu Knut Eriks- son u. a. vermerkt: „Und 23 Winter war er König und er ließ sein Leben in Eriksberg in Gäsinge und liegt [begraben] im [Kloster] Varnhem.“62 Daraus allerdings zu folgern, „Eriksberg […] war der Stammsitz des Eriksgeschlechts. Es kann kein Zufall gewesen sein, dass Eriks des Heiligen Sohn, Knut Eriksson, dort starb,“63 ist eine zu weit ge- hende Interpretation der Quellen. Erik als heiligen Vorfahren zu propagieren, wäre für seinen Sohn Knut Eriksson zwei- fellos von Vorteil gewesen im Kampf mit dem Sverker-Geschlecht. Die bisher unter- suchten Quellen geben jedoch keinen Hinweis darauf. Eine bisher von der Forschung in diesem Zusammenhang nicht befragte Quellengruppe bilden die Urkunden der Kö- nige der Eriks-Dynastie. Wenn die Nachkommen Eriks des Heiligen versucht haben sollten, den Kult ihres heiligen Stammvaters zu fördern, wäre zu erwarten, dass dies bei Nennungen ihres Vorfahren in ihren Urkunden Berücksichtigung fand. Leider sind nur zwei Urkunden aus diesem Kreis erhalten, in denen auf Erik den Heiligen Bezug genommen wird. Die erste stammt von Knut Eriksson und kann um 1192 datiert wer- den.64 Die intitulatio des Diploms, in dem Knut den Kauf von Fischereirechten durch das Kloster Nydala bestätigt, lautet: „Knut, von Gottes Gnaden König der Schweden, Sohn des Erik ebenso König.“65 Sie setzt der Nennung des Namens von Knuts Vater also kein zu erwartendes sanctus oder beatus hinzu. Ebenso verhält es sich mit der zweiten Urkunde. Es handelt sich hierbei um ein Diplom Erik Knutssons (König1208– 1216), des Sohnes Knut Erikssons. Er bestätigt darin die Schenkung von Waldstücken an das gleiche Kloster, die bereits von seinen Vorgängern ausgeführt wurde. Diese Vorgänger nennt er: „Meine Vorgänger S.[verker], E.[rik], K.[arl] und Knut sowie

62 Collin, Hans Samuel u. Carl Johann Schlyter (Hgg.): Samling af Sweriges gamla lagar. Teil 1, Bd. 1 (= Westgötalagen). Stockhholm 1827, 302: „oc thre wintaer oc tyghu war han konungaer. Oc laet sit liff .i. Erexbaerghi .i. giaesini. oc liggaer i warnem“. 63 Thordeman 1954, wie Fußnote 44, 183: „[...] Eriksberg […] varit den Erikska ättens sta- mort. Det kan icke vara en tillfällighet att Erik den heliges son Knut Eriksson avled där.“ 64 Gejrot, Claes (Hg.): Diplomata Novevallensia. The Nydala Charters 1172–1280. Stock- holm 1994, 139. 65 SDHK 268; die veraltete Edition (Liljegren, Johann Gustav (Hg.): Diplomatarium Sueca- num, Bd. 1, Stockholm 1829) wurde ersetzt durch Gejrot 1994, wie Fußnote 64, Nyd. 1, 73: „Kanutus, Dei gratia Swerorum rex. Filius Herjcjs itjdem regis”, Kommentar zur Urkunde ebd., 139.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 103 Christian Oertel

Sverker“.66 Erik der Heilige erscheint wieder ohne Hervorhebung seiner Heiligkeit als König zwischen zwei Vertretern des Geschlechts der Sverker, nämlich dem namensge- benden Sverker d. Ä. und dessen Sohn Karl Sverkersson. Die erste erhaltene Urkunde, in der Erik als heiliger Vorfahr angesprochen wird, stammt interessanterweise von Valdemar Birgersson (König1250–1275) aus dem Bjäl- bo-Geschlecht. Valdemars Vater, Birger Jarl, war über seine Mutter, Ingrid Ylva, mit dem Sverker-Geschlecht verwandt und heiratete 1234 die Tochter König Erik Knuts- sons und Schwester des regierenden Königs Erik Eriksson, Ingeborg Eriksdotter. Sein Sohn Valdemar war somit mit beiden konkurrierenden Königsgeschlechtern über die weibliche Linie verwandt und es gelang Birger Jarl, ihn nach dem Tod des letzten Kö- nigs aus dem Eriksgeschlecht, Erik Eriksson, 1250 als neuen König zu installieren.67 In die Regierungszeit Valdemars fiel der Umzug des Erzsitzes von (Alt)Uppsala nach Östra Aros, dem heutigen Uppsala.68 Die dort neu zu bauende Kirche sollte neben dem heiligen Laurentius auch den heiligen Erik als Schutzpatron erhalten. Gleichzeitig mit der Verlegung des Doms und der Ernennung Eriks zum (Co)Patron der neuen Kirche wurde im Umfeld des Erzbischofs und des Domkapitels von Uppsala damit begonnen, die notwendigen Schriften zu verfassen, um seinen Kult in gebotener Weise ausüben zu können. Durch das dadurch zu erwartende Bekanntwerden des neuen Schutzheili- gen und seiner Wunder konnte man auf eine höhere Anzahl von Pilgern hoffen, die wiederum einen finanziellen Faktor beim Bau des neuen Doms darstellten. Darüber hinaus hatte man in der Person des heiligen Erik die Möglichkeit, einen Stiftsheiligen zu etablieren, der zu Lebzeiten die gleiche hohe soziale Stellung wie der des Erzbis- tums Nidaros (St. Olaf) eingenommen hatte. Dies war deshalb von besonderer Bedeu- tung, da das Erzbistum Uppsala rechtlich dem von Nidaros nicht gleichgestellt war,

66 SDHK 317; Neuedition: Gejrot 1994, wie Fußnote 64, Nyd. 8, 82: „predecessores mei Suerco Ericus Karolus & Kanutus atque Swerco”. Kommentar zur Urkunde ebd., 146. Beide Urkunden stellen Empfängerausfertigungen dar. Zur Herausbildung der königlichen Kanzlei in Schweden vgl.: Schück, Herman: „Kanzler och capella regis under folkungati- den“. In: Historisk Tidskrift 83 (1963:2), 133–187, hier 141ff. 67 Harrison, Dick: Sveriges Historia. Bd.: 2, 600–1350. Stockholm 2009, 247ff. 68 Der Forschungsstand zur (reichhaltigen) Literatur über die Verlegung des Erzsitzes wurde zuletzt zusammengefasst von: Lovén, Christian u. a. (Hgg.): Uppsala domkyrka, Vol. 3. Byygnadsbeskrivning, byggnadshistoria, domkyrkans konsthistoriska ställning. Uppsala 2012, 274ff.

104 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus? sondern nach seiner Einrichtung im Jahr 1164 unter dem Primat des Erzbischofs von Lund verblieb. Doch nicht nur die Kirche von Uppsala konnte sich Vorteile vom Ruhm Eriks des Hei- ligen versprechen. Die neue schwedische Königsdynastie der Bjälbo konnte sich nur in weiblicher Linie auf die beiden vorherigen Herrschergeschlechter zurückführen und benötigte daher weitere Argumente, mit denen ihre Herrschaft legitimiert werden konnte. Ein solches Argument konnte die Verwandtschaft mit einem Heiligen sein. Die erwähnte Urkunde Valdemars aus dem Jahr 1270 verkündete die Entscheidung zur Verlegung des Erzsitzes „aus Ehrfurcht vor Gott und dem heiligen Laurentius und dem heiligen Erik, König und Märtyrer, unserem Vorfahr.“69 Valdemar betont hier seine Verwandtschaft mit Erik dem Heiligen und einige weitere Umstände lassen den Schluss zu, dass diese Betonung nicht zufällig geschah. Erikskrönikan informiert uns darüber, dass Birger Jarl in Varnhem, der Familiengrablege des Eriks-Geschlechts, be- graben wurde.70 Darüber hinaus findet der Name Erik seit der Mitte des 13. Jahrhun- derts Eingang in den Kreis der Leitnamen des Bjälbo-Geschlechts:71 Birger Jarls dritter Sohn, der im Jahr 1250 geboren wurde, erhielt den Namen Erik ebenso wie der älteste (und einzige) Sohn König Valdemars und zwei Söhne von König Magnus Ladulås (König1275–1290), von denen einer früh verstarb, der zweite aber („Herzog Erik“, ca. 1282–1318) zum Namensgeber der Erikskrönikan wurde. Ich möchte festhalten: Die in der Forschung weithin akzeptierte Annahme, dass der Kult Eriks des Heiligen bereits von seinem Sohn Knut Eriksson und weiteren direkten Nachfahren gefördert wurde, wäre zwar naheliegend, ist aus den Quellen aber nicht zu belegen. Darüber hinaus fällt auf, dass eine Betonung seiner Heiligkeit in den Urkun- den seiner Nachfolger unterbleibt. Diese wäre jedoch zu erwarten, wenn seine Nach- kommen tatsächlich ihre Verwandtschaft mit einem heiligen König hervorzuheben ver- sucht hätten.

69 SDHK 901 (DS 546): „ob reuerenciam dei & beati laurencij & beati Erici regis & Martiris progenitoris nostri“, wie Fußnote 27 70 Pipping, Rolf (Hg.): Erikskrönikan. Enligt cod. Holm. D2 jämte avvikande läsarter ur andra handskrifter. Uppsala 1963 (= Svenska Fornskriftsällskapet, Ser. 1; 68), 30. 71 Sands, Tracey R.: „The Cult of St Eric, King and Martyr in Medieval Sweden”. In: Thomas A. DuBois (Hg.): Sanctity in the North. Saints, Lives and Cults in Medieval Scandinavia. Toronto 2008 (= Toronto Old Norse-Icelandic series; 3), 203–238, hier 210.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 105 Christian Oertel

St. Erik als rex perpetuus

Die zweite Entwicklung, die im Norwegen des zwölften Jahrhunderts zu beobachten ist, war die Weiterentwicklung des historisch und materiell erinnerbaren heiligen Vor- fahren zum transzendenten ewigen König des Reiches. Wie im Fall des heiligen Vor- fahren gibt es auch für die Verehrung St. Eriks als rex perpetuus Forscher, die den Be- ginn dieser Verehrung sehr zeitig, nämlich bereits in die Mitte des 13. Jahrhunderts datieren. Die Quellengrundlage für diese Annahme ist wiederum eine numismatische. Seit den 1950er Jahren wurden an vier verschiedenen Fundplätzen fünf Brakteaten mit der Umschrift REX UPSALIE entdeckt (Abb. 3).72 Im Zentrum der Münzen stehen drei verschiedene Symbole: entweder ein „A“, eine Krone oder ein Kreuz. Die Brak- teaten wurden in die Mitte des 13. Jahrhunderts datiert, daher kommen mehrere Herr- scher als Münzherren in Betracht: Erik Eriksson (König1222–1229, 1234–1250), Knut Långe (König1229–1234) sowie Valdemar Birgersson (König1250–1275). Die Um- schrift REX UPSALIE weckte bei einigen Forschern Assoziationen zu solchen auf den ältesten schwedischen Münzen aus der Zeit Olaf Skötkonungs und Anund Jakobs um die Jahrtausendwende. Auf ihnen wurde von einem Rex Zitune (König von/in Sigtuna) gesprochen.73 Nils Rasmusson vermutete, dass hinter der antikisierenden Inschrift möglicherweise ein politisches Programm stand, das, im Gegensatz zum Zustand in der Mitte des 13. Jahrhunderts, auf eine Zeit verwiesen habe, in der eine stabile Kö- nigsmacht mit Zentrum in Uppsala existiert hätte. Er schrieb die Münzgruppe daher Knut Långe zu – der sich durch den sog. Folkunger-Aufstand an die Macht gebracht und Erik Eriksson ins Exil getrieben hatte – und sah in der Umschrift eine Kritik am schwachen Königtum Erik Erikssons. Rasmusson schloss einen Zusammenhang mit dem Erikskult allerdings explizit aus.74 Erik Lönnroth nahm dagegen an, dass St. Erik, der noch zu Beginn des 13. Jahrhunderts ein sehr provinzieller Heiliger gewesen sei, in der Mitte des Jahrhunderts ein Symbol dargestellt habe, unter dem sich die rebellieren-

72 Lagerqvist 1970, wie Fußnote 42, LL VIII 1–3; Redelius, Gunnar: „De upplänska folklan- den och inskriften REX UPSALIE“. In: Myntstudier (2006:1), 1–17. 73 Rasmusson 1952, wie Fußnote 45; Thordeman, Bengt: „Rex Upsalie“. In: Numismatiska Meddelanden 30 (1965), 83–91. Zur frühesten Münzprägung in Schweden vgl. Malmer, Brita: The Sigtuna coinage c. 995–1005. Stockholm 1989 (= Commentationes de nummis saeculorum IX–X in Suecia repertis; N.S.; 4). 74 Rasmusson 1952, wie Fußnote 45, 294: „En hänsyftning på Erikskulten vid denna tid synes mig utesluten på grund av att hans namn ej nämnes”.

106 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus? den uppländischen Magnaten als perpetuus rex gesammelt hätten.75 Der REX UPSALIE habe als Symbol für ganz Schweden gestanden und kann, wie Bengt Thor- deman hinzufügte, „kaum ein anderer gewesen sein als Erik der Heilige.“76 Die am weitesten gehende Interpretation lieferte wiederum Ralf Sjöberg.77 Er verband die REX UPSALIE-Brakteaten mit einer weiteren Münze, die dem Regime Knut Långes zuge- schrieben wird und (möglicherweise) die Inschrift VICA trägt (Abb. 4).78 Diese In- schrift erweiterte er zu VICArius und erhielt in der Kombination der beiden Münzen, die er dem gleichen Münzherrn zuschrieb, eine komplette Parallele zur oben diskutier- ten norwegischen Krönungsurkunde Magnus Erlingssons, in welcher sich Magnus als vicarius des heiligen Olaf bezeichnet. Zwar ist Erik Lönnroth zuzustimmen, wenn er schreibt, dass die Stellung des Erikskul- tes in der Mitte des 13. Jahrhunderts eine deutlich andere war, als an dessen Anfang. Von einer reichsweiten Bedeutung war der Kult des Königsheiligen aber noch immer weit entfernt. Eine solche reichsweite Verankerung oder zumindest Bekanntheit des Kultes wäre aber die Voraussetzung dafür gewesen, dass er die integrierende Funktion eines ewigen Königs hätte annehmen können. Wenn die Vorstellung von St. Erik als rex perpetuus bereits in der Mitte des 13. Jahrhunderts so weit verbreitet gewesen wä- re, dass die Anspielung auf den REX UPSALIE-Brakteaten von allen verstanden wor- den wäre, müsste man erwarten, dieses Motiv auch in der Erikslegende vom Ende des 13. Jahrhunderts vorzufinden.79 Dies ist aber nicht der Fall. Erik der Heilige wird als König beschrieben, der Kirchen baute und den Gottesdienst verbesserte, der Gesetze erließ und durchsetzte und der mannhaft gegen die Feinde des Glaubens und des Rei- ches kämpfte. Auf seinem Reichsumritt habe er als Vermittler zwischen sich feindlich gegenüberstehenden Männern gewirkt und jene befreit, die von den Mächtigen unter- drückt worden seien, er habe asketisch gelebt und seinen Körper gepeinigt und habe schließlich zusammen mit Bischof Heinrich von Uppsala einen Kreuzzug nach Finn- land unternommen, bevor er in Östra Aros von Magnus, einem dänischen Thronprä- tendenten, erschlagen worden sei. Allerdings erscheint er weder in der Beschreibung

75 Lönnroth, Erik: „Kring Erikslegenden“. In: Septentrionalia et Orientalia. Studia Bernhar- do Karlgren dedicata. Stockholm 1959, 270–281, hier 270ff. 76 Thordeman, Bengt: Nordens Helgonkonungar. Helsingfors 1960 (= Årsbok- Vuosikirja/Societas Scientiarum Fennica; 38, Bd. 2), 23. 77 Sjöberg 1986, wie Fußnote 46, 5. 78 Lagerqvist 1970, wie Fußnote 42, LL IV A8a. 79 Schmid 1954, wie Fußnote 47.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 107 Christian Oertel seines Lebens noch in jener der Wunder, die er nach seinem Tod bewirkt haben soll, als ewiger König Schwedens. Aufgrund dieser Befunde ist die Annahme, St. Erik sei bereits im 13. Jahrhundert als rex perpetuus verehrt worden, zurückzuweisen. Im Zusammenhang mit der Frage nach St. Erik als dem rex perpetuus Schwedens soll nun der Blick statt auf das 13. Jahrhundert auf die Zeit der Kalmarer Union gelenkt werden. Im Jahre 1397 erreichte Königin Margarethe von Dänemark einen Zusam- menschluss der drei skandinavischen Königreiche Norwegen, Dänemark und Schwe- den unter der Führung Dänemarks. Obwohl sie selbst de jure lediglich als Regentin ihres Großneffen Erik von Pommern regierte,80 war sie diejenige, in deren Händen die Fäden der Macht zusammenliefen. Erst nach ihrem Tod im Jahre 1412 übernahm Erik von Pommern die Macht tatsächlich. In seiner Regierungszeit wuchs die Unzufrieden- heit mit der Kalmarer Union in Schweden. Die königliche Macht und ihre von vielen Schweden als überzogen empfundenen finanziellen Forderungen wurden lokal durch dänische und norddeutsche Vögte durchgesetzt und von vielen als Fremdherrschaft wahrgenommen.81 Der Unmut der Schweden machte sich 1434–1436 im Engelbrekts- Aufstand Luft. Unter anderem als Folge dieses Aufstandes wurde Erik von Pommern 1439 in allen drei Reichen der Kalmarer Union als König abgesetzt und zog sich auf die Insel Gotland zurück. In den folgenden Jahrzehnten war Schweden von Kämpfen zwischen schwedischen Reichsverwesern (Riksförestandare) und den dänischen Unionskönigen geprägt, „und es war in dieser Situation, dass ein Sigillum regni Swecie aufkam“.82 Dieses Siegel zeigte nicht das Porträt des aktuellen Königs, sondern Erik den Heiligen in Ritterrüs- tung sowie mit Banner und dem Wappen der drei Kronen auf dem Schild. Die Um- schrift lautet: Sanctus Ericus sveorum gothorum rex. Der Ansicht Herman Schücks ist daher zuzustimmen, nach der das Aufkommen der Verehrung St. Eriks als rex perpe- tuus zu diesem Zeitpunkt (1439) und nicht in der Mitte des 13. Jahrhunderts zum ers- ten Mal in den Quellen zu fassen ist. Sie entwickelte sich in der Zeit der Unzufrieden- heit mit dem als Fremdherrscher und als ungerechtem König empfundenen Erik von

80 Der ursprüngliche Name Eriks war Bogislaw. Ob seine nochmalige Taufe auf den Namen Erik in Verbindung mit Erik dem Heiligen steht, ist unsicher. 81 Ferm, Olle: State formative Tendencies, Political Struggle and the Rise of Nationalism in Late Medieval Sweden. Stockholm 2002 (= Runica et mediævalia, lectiones; 2). 82 Schück, Herman: „Sweden as an Aristocratic Republic”. In: Scandinavian Journal of His- tory 9 (1984:1) 65–72, hier 67.

108 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus?

Pommern und brach sich in einer Situation Bahn, in der, nach dessen Absetzung, das Amt des Königs (zunächst) nicht wieder neu besetzt wurde. Stattdessen wurde St. Erik der ewige König Schwedens, dessen irdische Stellvertreter die schwedischen Reichs- verweser waren. Dies kommt nicht nur im Reichssiegel von 1439 zum Ausdruck, sondern auch in der Münzprägung der Reichsverweser, bis hinein ins 16. Jahrhundert. Als Beispiel mögen zwei Münzen zweier Reichsverweser aus dem Geschlecht der Sture genügen (Abb. 5.1 und 5.2). Beide tragen, wie das Reichssiegel, an Stelle des Abbilds des aktuellen Kö- nigs – und in Ermangelung eines solchen – das Bildnis St. Eriks. Auch beide Um- schriften kennzeichnen ihn als den König Schwedens. Jene auf der Münze Sten Stures d. Ä. (Reg. 1470–1497/1501–1503) lautet: SUS ERICUS REX (Abb. 5.1) und um- schließt ein gekröntes Haupt. Auf der Prachtmünze Sten Stures d. J. (Reg. 1512–1520) lautet die Inschrift: S: ERICUS REX:SWERIG (Abb. 5.2). Erik der Heilige ist als bär- tiger Ritter mit Schwert und Reichsapfel dargestellt. Er trägt einen Plattenpanzer und einen Umhang. Sein Haupt krönt neben einer Krone auch ein Heiligenschein. Bereits bei der Vorstellung Olafs des Heiligen und seines Kultes ist in Ergänzung der bisherigen Forschung festgestellt worden, dass zwischen der Verehrung eines heiligen Königs als heiliger Vorfahr und der als rex perpetuus eine gewisse historische Distanz lag, während der sich der heilige König von der konkret erinnerbaren Figur zum ent- rückten Heiligen entwickelte. Dieser Prozess der Entrückung wurde in Schweden wahrscheinlich im frühen 15. Jahrhundert durch die Unzufriedenheit großer Teile der schwedischen Bevölkerung mit dem König der Kalmarer Union abgeschlossen. Seinen ersten Niederschlag fand er in den Quellen, die im Zusammenhang mit der Erhebung Engelbrekt Engelbrektssons in den 1430er Jahren stehen. Seinen Platz als rex perpe- tuus verteidigte St. Erik von diesem Zeitpunkt an bis zur Reformation, was ihm vor allem dadurch erleichtert wurde, dass Schweden über lange Zeiträume von Reichsver- wesern regiert wurde, das Reich also keinen realen König hatte.

Eine auffällige Parallele zwischen den Kulten des heiligen Olaf und des heiligen Erik ist es, dass sie ihren entscheidenden Aufschwung in Situationen erlebten, in denen eine neue Königsdynastie ohne starke Erbansprüche auf das Königsamt versuchte, sich zu etablieren und damit auch Erfolg hatte. Das legitimatorische Potential der Heiligen wurde nicht von den direkten Nachfahren genutzt, sondern von lediglich in kognati-

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 109 Christian Oertel scher Linie mit ihnen verwandten, die einer Alternative zur genealogischen Legitima- tion ihrer Herrschaft bedurften. Ebenfalls in beiden Situationen war die Gründung oder Verlegung eines Erzbischofs- sitzes kurz vorausgegangen, dessen Vertreter ebenfalls daran interessiert waren, den Kult ihres Stiftsheiligen zu fördern. Die Zusammenarbeit der beiden Institutionen Kö- nigtum und Erzbischof/Domkapitel scheint daher auf der einen Seite für die Propagie- rung beider Kulte von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein. Auf der anderen Seite scheinen Königsheilige in besonderer Weise geeignet gewesen zu sein, die höchsten Institutionen und Personen eines Königreiches zu legitimieren und zu prote- gieren.

Abbildungen:

Abb. 1: IVA-Brakteat aus der Regierungszeit Knut Erikssons (König1167–1196), ver- mutlich eine gemeinsame Prägung mit dem Erzbischof Johannes v. Uppsala (Ebf. 1185–1187).

Abb. 2: Kalkmalerei in der Kirche von Eriksberg, Västergötland. Das Original der Wandmalerei ist heute nicht mehr sichtbar. Diese von Viola Härnfjell (Medeltida kyrk- målningar i gamla Skara stift, Skara 1993, S. 33) angefertigte Umzeichnung beruht auf einer Fotografie um 1900, nach deren Aufnahme die entsprechende Wand geweißt wurde.

110 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Heiliger Vorfahr und rex perpetuus?

Abb. 3: REX VPSALIE-Brakteaten, Mitte 13. Jahrhundert.

Abb. 4: VICA-Brakteat, Mitte 13. Jahrhundert.

Abb. 5.1: Münze Sten Stures d. Ä. (1470–1497/1501–1503), Umschrift: SUS ERICUS REX.

Abb. 5.2: Prachtmünze Sten Stures d. J. (1512–1520), Umschrift: S: ERICUS REX:SWERIG:.

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REZENSIONEN

Rezensionen

Marion Lerner: Landnahme-Mythos, kulturelles Gedächtnis und nati- onale Identität. Isländische Reisevereine im frühen 20. Jahrhundert. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2010, 390 S.

In this book Marion Lerner investigates associations and the 20th century cult of the symbolic and physical recolonization the homeland in Scandinavia and North- of the Icelandic landscape by three national ern Europe. travel associations: Ferðafélag Íslands (Icelandic Touring Association), The analyses begins with an introductory Bandalag íslenskra farfugla chapter about the cultural and historical (International Youth Hostel Federation) preconditions including myths of origin and Fjallamenn (Mountaineers). and settlement. Subsequently an outline of theories of nationalism and collective As the title indicates Lerner focuses on identity follows where both generalized processes in the early 20th century where theories by Bernhard Giesen and Bene- Icelandic society was undergoing sub- dict Anderson and specific Icelandic stud- stantial changes due to increased urbani- ies by Jón Karl Helgason, Guðmundur zation and industrialization. The com- Hálfdanarson and Jón J. Aðils are parative analyses of the material, mostly included. texts, is carried out on a solid foundation of theories from the field of cultural The following chapters consist of anal- memory studies, theories of nationalism yses of the extensive source material from and collective identity, literary studies, the archives of the travel associations, cultural geography, theories of European which is discussed in a continuous dia- aesthetic and theology. logue with its political and ideological context. The importance of these physical The goal of the book is to investigate the archives as well as the intangible cultural linkage between cultural memory and the reservoirs of cultural remembrance is image of the land created in travel litera- made clear especially through the fruitful ture. The book can be placed in a tradition syntheses of the concluding chapters. of studies of nationalism but it is also re- Lerner uses, amongst others, the theories lated to recent studies of similar travel of Jan and Aleida Assmann to point out

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 115 Rezensionen an important dynamic between the latent By the fundamental distinction between potential of cultural canon and the refer- space and place Lerner can unfold the ences that are actually used in the period cultural meaning of certain patterns of and sources examined. This is done to movement and interaction with nature clarify the different ideological or cultural (space) and the layers of cultural meaning agenda of the travel associations. In these on specific sites (place). chapters Lerner accounts for the devel- opment and activities of the travel associ- Both Ferðafélag Íslands and Fjallamenn ations as well as for many of their written had a scientific and exploratory approach and visual sources. to the land in the early 20th century as well as a focus on popular education. The One of the central focuses in the analyses Farfugla movement is described as hav- of the relationship between the sources ing valued subjective descriptions of from the travel associations and Icelandic common experiences and resumption of cultural and literary history is the image myth telling. They come to represent a of landnám (settlement) – a cultural myth romantic attitude towards the national that synthesizes movement and domesti- remembrance inscribed in the landscape cation. Lerner demonstrates how this is though myths, tales and legends. In this interconnected with the literary canon, way the analyses of the travel writings which is used as intertextual references in illustrate how travelling through the land many travel descriptions as a means to as well as textual accounts of the land- replenish the sites of the highlands with scape secure cultural remembrance. cultural meaning. Even though the main focus is on the She points to this as a strategy, which en- travel associations Lerner draws up inter- forces what Giesen calls the boundaries esting perspectives to related cultural of the Innen and Außen (inside and out- phenomena that help a general under- side) of the national community since standing of Icelandic modernity and na- most references require a thorough tionalism. These perspectives include knowledge of Icelandic culture. Lerner amongst others the 1930 celebration of outlines the differences in the attitudes to the anniversary of the parliament, the ex- nature, that are expressed in the extensive pansion of infrastructure, landscape paint- material from the three associations and ing and handicrafts, the Fjölnir journal, thereby she illustrates that there have the connotations of farming and fishing been different instrumentalizations of the and cartography. landnám myth.

116 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen

The book is a revised version of Lerner’s doctoral thesis from 2008 and the form is an elegant mixture of description, a thor- ough focus on the many sources, and a consideration of theoretical discussions of modern conceptions of nature and the notion of the sublime. It reflects an im- pressive archival investigation and is an important contribution to research on re- cent Icelandic cultural history. With its focus on literary establishments of conti- nuity between country, nation and lan- guage the book contributes substantially to the study of the role of travel literature as well as to the study of Icelandic mo- dernity in general and will be of interest to numerous scholars in these fields.

Ann-Sofie N. Gremaud (Copenhagen)

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 117 Rezensionen

Jón Th. Thór, Daniel Thorleifsen, Andras Mortensen, Ole Marquardt (Hgg.): Naboer i Nordatlanten. Færøerne, Island og Grønland. Hovedlinjer i Vestnordens historie gennem 1000 år. Tórshavn: Faroe University Press 2012, 487 S.

„Er det overhovedet muligt at skrive en nen bereits in drei Tagungsberichten, die i fælles vestnordisk historie“ (21), fragt auch online zugänglich sind. 2006 ent- sich der isländische Historiker Jón Th. schieden sich die Historiker, ihre For- Thór zu Beginn des ersten Sammelbandes schung zur gemeinsamen westnordischen über die Geschichte des „Westnordens“, Geschichte zusätzlich in Form eines also einer gemeinsamen Geschichte Is- „Lehrbuchs“ (grundbog) einer breiteren lands, Grönlands und der Färöer. Dies ist Öffentlichkeit zu vermitteln. Bis Naboer i die Kernfrage dieses Sammelbandes, sie Nordatlanten endgültig erschien, sollten zieht sich wie ein roter Faden durch das jedoch noch sechs weitere Jahre vergehen. Buch hindurch und an ihr muss sich jedes Kapitel messen lassen. Für Thór und seine Im Sammelband zeichnen die 17 beteilig- Mitherausgeber Daniel Thorleifsen, And- ten Autoren nun in sechs Teilbereichen ras Mortensen sowie Ole Marquardt lautet die Hauptlinien der 1000-jährigen Ge- die Antwort auf die Frage eindeutig ja, zu- schichte der drei westnordischen Länder mindest was die Zeit von 985 bis 1400 be- nach. Dabei ist die Struktur des Buches trifft und von 1721 bis heute (22–23). alles andere als streng, es mischen sich chronologische Abrisse mit thematischen Naboer i Nordatlanten basiert auf der Einschüben. Teil I setzt sich mit dem mehr als zehnjährigen Forschungsarbeit Konzept „(West-)Norden“ auseinander, von Historikern aus Island, Grönland, Teil II widmet sich chronologisch der Zeit Dänemark, Norwegen und von den Färö- von der ersten Besiedlung bis zum Be- ern. Auf Initiative des Westnordischen ginn der „Marginalisierung“ (31) Islands, Rates etablierten sie bereits im Jahr 2000 Grönlands und der Färöer im dänisch- ein fachliches Netzwerk und trafen sich norwegischen Staatenbund. Teil III ist ein zwischen 2002 und 2006 einmal jährlich etwas abrupter Einschub über die demo- in einem ihrer fünf Herkunftsländer. Eini- grafische Entwicklung der drei westnor- ge der dort gehaltenen Vorträge erschie- dischen Nationen im Verlauf ihrer mehr

118 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen als 1000-jährigen Geschichte. Teil IV Das Neue an dem Sammelband ist, dass widmet sich dann den Jahren 1550 bis sich die Autoren mit dem Schreiben einer heute, hat allerdings vor allem die wirt- gemeinsamen Geschichte Westnordens schaftliche Entwicklung Westnordens im auf bisher unbekanntes Terrain begeben. Blick. Teil V gibt einen Überblick über Naboer i Nordatlanten ist ein „historisch- unterschiedliche Facetten des gesell- methodologischer Versuch“(21), die erste schaftlichen Lebens im Westnorden, von „Synthese einer Geschichte Westnordens“ Religion, Sprache, Literatur und Kunst zu (12). Diese Synthese vollziehen die Auto- Schulformen, Sport und Vereinen. Im ren schon rein formal dadurch, dass alle letzten Teil VI geht es dann um (si- Teilbereiche von mehreren Autoren, dabei cherheits-)politische Faktoren, die Rolle jedoch von mindestens einem Autoren Westnordens in den drei Großkriegen der aus Island, Grönland und, bzw. oder der letzten 200 Jahre (Napoleonische Kriege, Färöer behandelt werden. Dass der Sam- Erster und Zweiter Weltkrieg) sowie die melband auf Dänisch erscheint, hat „prak- Unabhängigkeitsbestrebungen, die bis in tische Gründe“(12), unterstreicht aller- die Gegenwart fortwirken. dings auch die Hauptaussage des Werkes, dass nämlich die Nationen im Westnorden Da es sich bei Naboer i Nordatlanten um durchaus eine gemeinsame Vergangenheit ein Lehrbuch handelt, werden Historiker, teilen – zumindest ab der Zeit der däni- die sich bereits intensiv mit der Geschichte schen Kolonialherrschaft. Islands, Grönlands und der Färöer befasst haben, in diesem Sammelband nicht viel Widmet man sich den einzelnen Teilbe- Neues finden. Die einzelnen Kapitel ge- reichen genauer, wird jedoch nicht immer ben lediglich einen Überblick über die klar, ob man wirklich eine gemeinsame existierende Forschungsliteratur. Kontro- Geschichte der westnordischen Staaten verse Forschungsdebatten wie über das schreiben kann. Leider verzichten die Au- ungeklärte Verschwinden der nordischen toren darauf, die in der Einleitung positiv Siedlungen in Grönland um 1400 werden bestätigte Frage in einem resümierenden nur kurz angerissen. Den Autoren ist be- Kapitel zu diskutieren. Denn die Unter- wusst, dass sie auf knapp 500 Seiten nicht schiede zwischen Island, Grönland und alle für die Geschichte Westnordens zent- den Färöern sind auffällig und werden ralen Themen bis in das kleinste Detail immer wieder deutlich, egal ob es Han- darstellen können (12). Sie haben es sich del, Demographie, Religion oder das ge- viel mehr als Ziel gesetzt, einen Anreiz sellschaftliche Leben im Allgemeinen für weitere Forschungen über die im betrifft. Das Wissen voneinander und Buch angerissenen Themen zu schaffen. Kontakte untereinander bleiben selbst

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 119 Rezensionen dann gering, als Island, Grönland und die Dazu trägt nicht nur der einfach gehaltene Färöer schon länger Teile des dänischen Schreibstil bei, sondern auch etwa 40 In- Königreiches sind (24-29). Das macht es foboxen, die im Inhaltsverzeichnis noch den Autoren schwer, tatsächlich eine „ge- einmal separat aufgeführt sind und The- meinsame“ Geschichte zu schreiben. Die men wie die Isländersagas, den grönlän- Teilbereiche sind deswegen auch nahezu dischen Robbenfang oder die färöische durchgehend in Einzelabschnitte zu Is- Segelfischerei näher erläutern. land, Grönland und den Färöern unter- gliedert, was mögliche Verbindungen Zu kritisieren ist, dass – wohl der besseren zwischen den einzelnen Geschichten der Lesbarkeit geschuldet – in den Texten kei- drei Nationen nicht gerade hervorhebt. ne direkten Bezüge zur Forschungslitera- tur hergestellt werden, sondern diese nur Größere Parallelitäten zwischen den Na- jeweils am Ende der sechs Teilbereiche tionen Westnordens sind erst ab dem aufgeführt wird. Das erschwert die Suche 19. Jahrhundert in ihrer Entwicklung zu nach einzelnen Quellen, auf die sich be- unabhängigen Fischereinationen erkenn- stimmte Abschnitte konzentrieren. Nichts- bar. Die essentielle Bedeutung von Roh- destotrotz ist Naboer i Nordatlanten als in stoffen für ihre wirtschaftliche Entwick- seiner Form einzigartiges Nachschlage- lung, fischereipolitische Probleme sowie werk zur Geschichte der drei westnordi- die Folgen von mehr Unabhängigkeit und schen Nationen für alle, die sich geistes- Autonomie von Dänemark sowie der Ab- und sozialwissenschaftlich mit der Regi- lehnung einer EU-Mitgliedschaft sind on beschäftigen, hervorragend geeignet. allen drei Nationen gemein. Man kann Der Sammelband bietet sich an zum ers- mit Fug und Recht behaupten, dass die ten und wiederholten Nachschlagen von Lebensumstände in Island, Grönland und Aspekten der westnordischen Geschichte. den Färöern noch nie so ähnlich, der Kon- Der Überblick über die Forschungslitera- takt untereinander noch sie so groß war tur liefert genügend Anhaltspunkte zur wie heute. Nur heißt das nicht zwingend, weiteren Vertiefung. dass das auch in der Vergangenheit so gewesen sein muss. Naboer i Nordatlanten klärt jedoch nicht abschließend, ob eine gemeinsame Ge- Das Verdienst von Naboer i Nordatlanten schichte der westnordischen Staaten liegt darin, die zentralen Themen der überhaupt geschrieben werden kann. Da- 1000-jährigen westnordischen Geschichte zu ist weitere Forschung dringend vonnö- auf knapp 500 Seiten auch einer breiteren ten. Interessant wäre es dabei, nicht nur Öffentlichkeit zugänglich zu machen. auf die seit dem 18. Jahrhundert existie-

120 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen renden Parallelen in der Entwicklung Is- lands, Grönlands und der Färöer hinzu- weisen, sondern auch zu untersuchen, ob es lediglich Parallelen waren oder ob sich diese Entwicklungen gegenseitig beding- ten. Inwieweit diente zum Beispiel Islands Unabhängigkeitskampf als Vorbild für die Unabhängigkeitsbewegungen in Grönland und auf den Färöern und beeinflusste da- durch deren späteren Verlauf? Eine solche Untersuchung wäre ein starkes Argument dafür, dass man – zumindest in der Neu- zeit – wirklich von einer gemeinsamen Geschichte Westnordens sprechen kann.

Christian Rebhan (Berlin)

i Thorleifsen, Daniel u.a. (Hgg.): De vestnordiske landes fælleshistorie. Udvalg af indledende betragtninger over dele af den vestnordiske fælleshistorie (= Inussuk. Arktisk forskningsjournal 2/2003). Nuuk 2003. Mortensen, Andras u.a. (Hgg.): De vestnordiske landes fælleshistorie II. Udvalg af foredrag holdt på VNH-konferencerne i Ísafjördur 2003, Tórshavn 2004 og Oslo 2005 (= Inussuk. Arktisk forskningsjournal 2/2006). Nuuk 2006. Mortensen, Andras u.a. (Hgg.): København som Vestnordens hovedstad. Udvalg af foredrag holdt på VNH-temakonference i København 2006. Nuuk 2007.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 121 Rezensionen

Kristín Loftsdóttir, Lars Jensen (Hgg.): Whiteness and Postcolonial- ism in the Nordic Region. Exceptionalism, Migrant Others and Na- tional Identities. Farnham/Burlington: Ashgate 2012, 182 S.

Lars Jensen: Danmark – rigsfællesskab, tropekolonier og den postko- loniale arv. København: Hans Reitzels Forlag 2012, 312 S.

Bezugnehmend auf Frantz Fanon, der in Randeria kommt zu dem Schluss, die seinem Hauptwerk Die Verdammten die- Frage zu bejahen, da die Welt zu Beginn ser Erde (1961) Europa als Produkt der des 21. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit „Dritten Welt“ bezeichnet und mit dieser als „postkolonial“ zu bezeichnen sei – die Einsicht eine grundlegende Prämisse für Schweiz (und Nordeuropa) inklusive. Da- die von Edward Said (Orientalismus, mit schreibt sie sich ein in eine Tradition 1978) entwickelte These setzt, nach wel- innerhalb der postkolonialen Theoriebil- cher die diskursive Konstruktion eines dung, die den Terminus „postkolonial“ positiv besetzten europäischen Selbst auf nicht als Bezeichnung der Zeitspanne seit das Vorhandensein einer zumeist kolonia- der formalen Beendigung kolonialer Ab- len Alterität angewiesen ist, fragte die hängigkeitsverhältnisse versteht, sondern Sozialanthropologin Shalini Randeria un- ihn für die Beschreibung sämtlicher kultu- längst, inwieweit derartige Muster auch reller und politischer Phänomene fruchtbar für Länder ohne formalen Kolonialbesitz macht, in deren Zusammenhang sich eine Gültigkeit haben, die einer direkten he- Fortschreibung der in der Ära von Kolo- gemonialen Machtausübung unverdächtig nialismus und Imperialismus generierten geblieben sind.i In dem Sammelband, aus Machtasymmetrien ablesen lässt. dessen Einleitung Randerias Frage stammt, geht es um Phänomene von Post- Ursprünglich disziplinär innerhalb der kolonialität in der Schweiz, die nicht nur Literaturwissenschaft und regional inner- durch ihre untergeordnete Rolle innerhalb halb des britischen Commonwealth veror- des europäischen Imperialismus, sondern tet, erhält postkoloniales Denken somit auch durch ihren Wohlstand und ihr über Gelegenheit, eine transdisziplinäre und die Maxime der Neutralität generiertes ex- globale Dimension zu entfalten, die der zeptionelles Image manches mit den skan- Komplexität der Analyse einer durch räum- dinavischen Ländern gemeinsam hat. liche Verschränkung und zeitliche Verdich-

122 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Rezensionen tung gekennzeichneten Weltgemeinschaft Der Sammelband Whiteness and Post- in der jüngsten Phase der Globalisierung colonialism in the Nordic Region. Excep- gerecht wird. tionalism, Migrant Others and National Identities, herausgegeben von Lars Jensen Das damit einhergehende Ablegen euro- und Kristín Loftsdóttir, ist das Ergebnis zentristischer Scheuklappen und die Ein- einer dreigliedrigen Workshopserie, die ordnung nationaler Historiografie und unter dem Titel „Decoding the Nordic Co- Epistemologie in eine globalgeschichtli- lonial Mind“ an den Universitäten Islands che Perspektive sollte jedoch nicht als und Roskilde stattfand. Absage an eine auf lokale und regionale Phänomene fokussierte Kulturwissenschaft Die zehn Beiträge, verfasst von Kultur- missverstanden werden. Im Gegenteil: Die und Sozialwissenschaftlern aus den fünf eingangs genannte Anthologie bietet ein nordischen Ländern und den USA, bil- wärmstens zur Lektüre empfohlenes Bei- den eine stringente Einheit, indem sie spiel dafür, dass zeitgemäße Forschung zu sich unter Bezugnahme auf eine, strikt älterer, neuerer und neuester Mentalitäts- konstruktivistische Vorstellung von und Nationalgeschichte den globalen „nordischen Exzeptionalismen“ und auf Blick bedingt. Damit befindet sie sich in Ansätze der Kritischen Weißseinsfor- guter Gesellschaft mit den zahlreichen schung rekurrierend diskursanalytisch Forschungs- und Publikationsinitiativen, bearbeiteten Fallstudien zuwenden, die in den vergangenen Jahren von For- die – stets um historische und gegenwär- scherinnen und Forschern der Abteilung tige skandinavische Begegnungsgeschich- für Interkulturelle Studien an der däni- ten kreisend – den höchst unterschiedli- schen Universität Roskilde ausgegangen chen Positionen der nordischen Länder sind, die aus dem stetig wachsenden Um- im Gefüge von Kolonialismus und Post- feld der Postkolonialen Studien in Nord- kolonialismus gerecht werden. europa nicht mehr wegzudenken ist. Ne- ben den lesenswerten Beiträgen der So lesen wir etwa in Erlend Eidsviks Bei- institutseigenen Zeitschrift KULT, die trag über norwegische Siedler in der Kap- zunächst im Print-Format erschien, seit kolonie, denen es nicht zuletzt aufgrund 2009 aber als open access-Publikation auf ihrer ambivalenten Position als selbst aus der Webseite www.postkolonial.dk einzu- einem nicht-souveränen Territorium stam- sehen ist, sind hier in erster Linie zwei mende Kolonisatoren gelang, zu wichtigen Buchprojekte zu nennen, die im folgen- ökonomischen Akteuren im kolonialen den näher vorgestellt werden. Südafrika zu avancieren.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 123 Rezensionen

Wie Norwegen verfügten auch Island und ße Europäer als Norm verstanden wird Finnland zu keinem Zeitpunkt über eige- und die Rolle seiner Physiognomie für die ne Kolonien. „But how could they (we) Einordnung in diskursiv hergestellte have done that?“ (90) fragt die finnische Machthierarchien unhinterfragt bleibt. Sozialwissenschaftlerin Anna Rastas tref- Wie Anna Rastas und Tobias Hübinette in fend und pointiert, womit sie jegliche ihren Fallstudien zur Verwendung von Vorstellung eines Exzeptionalismus, der rassistisch vorbelastetem Vokabular (etwa sich über Narrative einer ethisch- dem Wort neger/neekeri) in Finnland und moralischen Überlegenheit aufgrund der Schweden darlegen, scheint das sich über offensichtlichen Nichtbeteiligung dieser Werte wie Gleichheit, Toleranz und Vorur- Länder am kolonialen Projekt konstitu- teilsfreiheit konstituierende pannordische iert, als banal enthüllt. Schließlich war Selbstverständnis – nicht zuletzt von einer Finnland bis 1809 Teil des schwedischen vermeintlichen kolonialen Schuldfreiheit Königreichs, bis 1917 dann Großherzog- abgeleitet – in diesem Zusammenhang tum im russischen Zarenreich und Island besonders problematisch zu sein, da sich mindestens bis 1918 Teil des dänischen durch den Rekurs auf ein exzeptionelles Gesamtstaats. Dennoch gelingt es den in Gebaren in Relation zu den imperialisti- der Anthologie versammelten Beiträgen, schen Großmächten Europas ein Kontext allen Ländern der behandelten Region herstellen lässt, innerhalb dessen diese unabhängig von ihrem jeweiligen staat- Begriffe in Schweden und Finnland als lich gelenkten kolonialen Agieren das zu semantisch neutral erscheinen können. attestieren, was Ulla Vuorela mit dem Begriff der „kolonialen Komplizen- Hübinette führt die zähe Präsenz rassisti- schaft“ii bezeichnet hat – sei es durch die schen Vokabulars in der schwedischen direkte Beteiligung der Skandinavier und Alltagssprache und die teilweise wüten- Finnen an der belgischen Eroberung des den Debatten über einen geforderten Ver- Kongo oder durch das mangelnde Be- zicht auf eben dieses in Anlehnung an wusstsein für das eigene privilegierte Paul Gilroy auf eine »white melancholia« Weißsein (52f.) zurück, welche sich gleichzeitig mit der Wut auf nicht-weiße Schweden Eines der Hauptanliegen der Kritischen ausbreite, die auf deren permanente Prä- Weißseinsforschung ist es, darauf hinzu- senz im Lande zurückzuführen sei. Die weisen, dass in den zumeist euro- Vorstellung einer „specific Swedish antic- zentrististischen Diskursen zu Rassismus racist whiteness“ (45), basierend auf Nar- und Diversität allein people of colour eine rativen von Neutralität und Objektivität Rassifizierung erfahren, während der wei- sowie Schwedens vermeintlicher kolonia-

124 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Rezensionen ler Schuldfreiheit und seiner Unterstüt- einer kritischen Analyse unterzieht, mit zung der politischen Dekolonisierungs- einem ganz realen kolonialen Abhängig- bewegungen, trug zur Zeichnung eines keitsverhältnis. Umso bemerkenswerter Images der Schweden als „the whitest ist es, dass sie dabei mittels der Dechiff- of all whites“ (45) einerseits und ande- rierung einer Vorstellung von einem un- rerseits der „good westerners“ im Gefü- gewöhnlich benevolenten dänischen Ko- ge von Globalem Norden und Globalem lonialismus, partielle Analogien zum Süden bei. Indem er aufzeigt, dass sich Narrativ von der Abwesenheit der ande- ein derartiges Selbstverständnis – generiert ren Skandinavier bei kolonialen Expansi- im Zusammenspiel von Auto- und Hete- onsvorhaben herzustellen weiß. Anne roimages – nur bei gleichzeitiger ethni- Heith wendet sich in ihrer Studie zu sami- scher Homogenität aufrecht erhalten lässt, scher und tornedalischer Kunst und – auf entlarvt Hübinette jegliche Vorstellung Fredrik Barth verweisend – deren Nutz- von einem anti-rassistischen „schwedi- barmachung von ethnischer Identität zur schen Exzeptionalismus“ als eine wohl- Aneignung subalterner Handlungsmacht feile soziale Konstruktion. dem nordskandinavischen Sonderfall des „inneren Kolonialismus“ auf dem Gebiet Was den vorliegenden Band so interessant der Nordkalotte zu, der bezeichnender- macht und ihn gleichzeitig als eine Art weise bei der diskursiven Selbststilisie- Einführungswerk in postkoloniale und rung der Schweden zu anti-kolonialen weißseinsrelatierte Fragestellungen in Anti-Rassisten keine Rolle zu spielen Bezug auf Nordeuropa geeignet erschei- scheint. nen lässt, ist die Tatsache, dass er die ge- samte Region des Nordens abdeckt und Kristín Loftsdóttir und Suvi Keskinen dabei sowohl frappierende Parallelen auf- stellen angesichts der Funktionalisierung zeigt als auch die erstaunlich große von Weißsein in Island und Finnland er- Bandbreite verdeutlicht, die sich aus den staunliche Parallelen fest, die auf der ge- höchst unterschiedlichen Rollen ergibt, meinsamen Vergangenheit dieser Länder die die skandinavischen Länder und Finn- als seitens der skandinavischen Metropo- land gerade in Bezug auf das globalge- len minderwertig konnotierte Abhängig- schichtliche Phänomen des Kolonialis- keitsgebiete fußt. Loftsdóttir legt dar, dass mus spielen. die historische dänische Repräsentation der Isländer als „uncivilized savage peo- So befasst sich Christina Petterson, indem ple“ (57) trotz des ewigen Bestrebens der sie jüngere dänische Forschung zu histo- vormals kolonisierten Inselbewohner, sich rischer Rassenanthropologie in Grönland durch eine Distanzierung von Grönlän-

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 125 Rezensionen dern und „Westindern“ den Dänen inner- stellt Keskinen hier einen Zusammen- halb der kolonialen Hierarchie anzunähern, hang zu Finnlands historischer Verortung dazu führt, dass Isländer bei gegenwärtigen im Grenzgebiet zwischen Westen und migrationsbedingten Kulturkontakten mit- Osten (Orient) fest – eine zunächst über- tels des Verweises auf die eigene Ge- raschende Feststellung, der sie durch den schichte der Unterdrückung und rassifizie- Hinweis Plausibilität verleiht, dass die renden Diskriminierung argumentieren, Finnen seinerzeit in pseudowissenschaft- neokoloniales und rassistisches Denken lichen Rassentypologien – nicht zuletzt sei der isländischen Gesellschaft fremd. auch im Nachbarland Schweden – „as non-Europeans and [...] part of the Mon- Keskinen analysiert in ihrem Beitrag die golian race“ (86) und somit als minder- Debatte um genderrelatierte Gewalt in wertig eingeordnet wurden. Den Wunsch muslimischen Einwandererfamilien und nach deutlicher Markierung der finni- die durch sie transportierten Orientalis- schen Zugehörigkeit zum Zentrum eines men im Zuge der Veröffentlichung zweier modernen aufgeklärten Europas führt finnischer Romane, deren Protagonisten Keskinen auf diese historische Demüti- somalische Zuwanderer sind. Angesichts gung zurück. der noch immer überschaubaren Menge muslimischer Einwanderer im gegenwär- Wie in Kirsten Hvenegård-Lassens und tigen Finnland deutet sie die erhebliche Serena Maurers Beitrag zur Präsentation Aufmerksamkeit, die das vermeintliche vermeintlich genuin dänischer Werte in Problem der patriarchalen Gewalt gegen an Zuwanderer gerichteten staatlichen muslimische Frauen auf Basis seiner fik- Informationsbroschüren, definiert sich tionalisierten Schilderung erhielt, als die Vorstellung von einem „nordischen Ausdruck für ein Streben der finnischen Exzeptionalismus“ auch in Keskinens Ar- Gesellschaft danach, sich unwiderruflich gumentation über die Inkorporierung von in der westlichen Welt „among the mo- aufgeklärter Geschlechtergleichstellung – dern European nations“ (74) zu positio- oftmals Hand in Hand mit vermeintlich nieren, für die das Vorhandensein der toleranten Haltungen gegenüber Homose- „Problematik des Multikulturalismus“ xuellen – als „national characteristic [...] inzwischen als typisch angesehen zu wer- and a discursive resource in the formation den scheint. In Analogie zu Lóftsdóttirs of distinction between the national self and Ausführungen zur Beeinflussung gegen- the migrant other“ (122), eine Instrumen- wärtiger isländischer Debatten um Kul- talisierung, die auch führende Genderthe- turkontakte durch die eigene Marginali- oretikerinnen wie Judith Butler und Jasbir sierung in der (Kolonial-)Vergangenheit, K. Puar unlängst problematisiert haben.

126 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Rezensionen

Selten zuvor sind die Phänomene Weiß- verortete Kulturwissenschaftler an rund sein und „Nordischer Exzeptionalismus“, 400 Jahren dänischer Interventionsge- der sich von den üblichen – auf différance schichte ab. Thematisiert werden – frei- fußenden – nationalen Identitätskonstruk- lich in unterschiedlichem Umfang – der tionen dadurch unterscheidet, dass er sich dänische Kolonialismus in der Karibik zugleich über positive Fremdbilder von (auf den heutigen Amerikanischen Jung- den nordeuropäischen Ländern konstitu- ferninseln), im indisch-tamilischen Tran- iert, derart multiperspektivisch verquickt quebar und im Nordatlantik, wobei die worden wie in dem vorliegenden Sam- notwendige Akzentuierung der Unter- melband, der damit eine wertvolle Mate- schiede zwischen der Kolonisierung einer rial- und Ideensammlung für all jene bie- indigenen Bevölkerung (Grönland) und tet, die sich in einem nordeuropäischen der – zweifellos mit Kolonialherrenmen- Kontext mit Theorien zu Postkolonialität, talität geführten – Verwaltung historischer Spatialität, Nationalismus und Gender Abhängigkeitsgebiete (Island, Färöer) befassen. Durch die Kürze der Aufsätze zuweilen unscharf gerät. Die Klassifizie- und ihre durchweg gute Lesbarkeit bei rung letzterer als dänische Kolonien, die gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines dem Rezensenten durchaus akzeptabel hohen theoretischen Niveaus ist der Band, erscheint, dürfte vor allem in isländischen indem er Wege des Transfers internatio- und färöischen Forschungsmilieus erheb- naler Kulturtheorie auf konkrete skandi- liche Kontroversen evozieren. navische Fallbeispiele aufzeigt, zudem von großem Wert für die universitäre Fernerhin befasst sich Jensen mit den Lehre. Dieses Werts ist sich offenbar auch Humanitäts- und Modernisierungsdiskur- der Verlag bewusst. Dass der insgesamt sen in Zusammenhang mit der in den doch eher schmale Band mit fast 72 Euro 1960er Jahren große Ausmaße annehmen- zu Buche schlägt, sei der einzige Kritik- den dänischen „Entwicklungshilfe“ in Af- punkt, der an dieser Stelle angeführt wer- rika, deren Motivation er im internationa- den soll. len Macht- und Interessengefüge der Ära des Kalten Krieges zu platzieren versteht, Ein ähnlich innovatives Vorhaben führte und deren Argumentation er mit jener der im Fall von Lars Jensens fast zeitgleich zeitgleich einsetzenden Modernisierungs- erschienenen Monografie Danmark – rigs- politik im seit 1953 als offiziell gleichbe- fællesskab, tropekolonier og den postko- rechtigter Landesteil in das dänische Kö- loniale arv Feder. Auf knapp 300 Seiten nigreich eingliederte Grönland vergleicht, arbeitet sich der innerhalb der Postkolo- wobei er bezüglich der jeweiligen däni- nialen Studien und der cultural studies schen Repräsentation „des Anderen“ auf

NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) 127 Rezensionen frappierende Gemeinsamkeiten stößt. Es lich dezimierten Nationalstaates halt sind diese eigentlich naheliegenden und machte, erscheint in Jensens Studie als dennoch innerhalb der dänischen Kultur- Akteur innerhalb einer Globalgeschichte; und Geschichtswissenschaft nie zuvor zuvor oft im verborgenen gebliebene Ver- vorgenommen Parallelisierungen, die den flechtungsgeschichten werden in den Fo- eigentlichen Gewinn von Jensens Studie kus gerückt – ein weiteres Verdienst von ausmachen. So suchte man – von man- Jensens Arbeit. chen eher den Quellen zuzurechnenden Jubelschriften auf vergangene dänische Ausgesprochen wohltuend ist übrigens, Großmachtzeiten – bislang vergebens dass Jensen bei der Auswahl seines Mate- nach einer diskursanalytischen Abhand- rials zu den gegenwärtigen Kulturkontak- lung, die etwa die wirkmächtigen Narra- ten nicht etwa auf die bereits häufig ana- tive um die vermeintlich humane kolonia- lysierten politischen Aussagen aus dem le Performanz Dänemarks in Grönland Kreis der dänischen Rechtspopulisten und im ehemaligen „Dänisch Westindien“ zurückgreift. Der Nachweis einer Fort- sowie die Prozesse der Veräußerung bzw. schreibung (neo-)kolonialer und zuweilen der Entkolonialisierung dieser territoria- offen rassistischer Diskurse wäre hier len Besitzungen gemeinsam und in ihrem allzu einfach. Jensen begibt sich vielmehr Verhältnis zueinander behandelt. auf die Suche nach subtileren Parallelen zu den aus dem historischen Material zur Ebenso stringent wie originell ist gleich- Kolonialgeschichte in Grönland und der falls Jensens Entscheidung, das letzte Ka- Karibik herausgearbeiteten hegemonialen pitel seiner dänischen Interventions- und Repräsentationen „des Anderen“. Fündig Begegnungsgeschichte der Analyse von wird er in zeitgenössischen sozial- und Ausgrenzungsdiskursen im gegenwärti- kulturwissenschaftlichen Abhandlungen gen Dänemark zu widmen, die die Ange- zu Migration und Einwanderung, etwa in hörigen ethnischer Minderheiten im den essayistischen Überhöhungen der Land – neben Grönländern vor allem europäischen Aufklärung aus der Feder Muslime – betreffen. Migration als Aus- des Jyllands Posten-Apologeten und drucksform der Globalisierung wird somit vormals linken Intellektuellen Frederik als direkte Folge des europäischen Kolo- Stjernfelt. nialismus gedeutet, der wiederum den Beginn der Globalisierung markiert. Dä- So überraschend und innovativ die Mate- nemark, dessen Historiografie bis in die rialauswahl, die Jensen seiner Studie zu- jüngste Zeit allzu häufig an den Grenzen grunde legt, auch erscheinen mag, birgt des heutigen über die Jahrhunderte erheb- sie dennoch auch einige der zentralen

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Schwächen des in seiner Gesamtheit un- idealisierten dänischen Selbst und einem eingeschränkt lobenswerten Vorhabens. mangelhaften (kolonialen) „Anderen“ gespielt hat, ein Topos, den Jensen in den Jensen gliedert seine Untersuchung an- späteren „Entwicklungshilfediskursen“ und hand der Chronologie der Ereignisse in im Rahmen der Debatte um Zuwanderung fünf Kapitel. Zunächst erfahren wir über und Integration im gegenwärtigen Däne- Dänemarks koloniale Expansion in der mark wiedererkennt, erschwert ein derar- Karibik, den transatlantischen Dreiecks- tiger auf das Quellenmaterial bezogener handel sowie die anderen Besitzungen im Anachronismus die Nachvollziehbarkeit Globalen Süden. Kern der Analyse bilden der Genealogie der wirkmächtigen Dis- Mogens Brøndsteds populärwissenschaft- kurse um dänische Interventionsgeschich- liches Mammutwerk Vore gamle tropeko- te(n), deren Offenlegung eines von Jen- lonier aus den 1950er Jahren und Thorkild sens Hauptanliegen zu sein scheint. Hansens kolonialismuskritische Sklaven- Bedauernswerterweise zieht sich das Prob- Trilogie, die zwischen 1967 und 1970 er- lem bis in das mit „Magtoverdragelse“ schienen ist. Im zweiten Kapitel widmet überschriebene dritte Kapitel fort, das die sich Jensen dann der langen Phase der Zeit der Unabhängigkeitsbewegungen in Entkolonialisierung, deren Beginn er auf Grönland und auf den Färöern beschreibt 1848 – das Jahr der Einführung des däni- und schwerpunktmäßig auf einen Bericht schen Grundgesetzes – datiert und die er des Dänischen Instituts für Internationale mit Etablierung der rigsfællesskab im Studien (DIIS) aus dem Jahr 2007 Bezug Jahr 1953 beendet sieht. nimmt. Theoretisch verortet sich Lars Jensen in einer Tradition, die von Edward Zeitlich nach den im ersten Kapitel ge- Saids binären imaginierten Geografien als schilderten Ereignissen gelegen, greift Voraussetzung für die Konstruktion von Jensen in seiner Analyse dieser Epoche Identitäten und Alteritäten zu Dipesh allerdings auf Quellen zurück, die gut Chakrabarty führt, der koloniale Situatio- hundert Jahre älter sind als Brøndsteds nen als „waiting room of history“ (Pro- und Hansens Werke – besonders promi- vincializing Europe, 2000) bezeichnet, nent auf die Schriften des in der zweiten „der, hvor man venter på kolonimagtens Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkenden signal om, at man er blevet moden nok til dänischen Kolonialinspektors in Grön- at overtage styringen af sit eget samfund. land, H.J. Rink. Unabhängig von der Men som Chakrabarty viser, er det et ven- zweifellos zentralen Rolle, die Rink für tesal uden døre“(66). die diskursive Manifestierung einer ima- ginierten Dichotomie zwischen einem

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Die diskursive Herstellung einer derartigen ikke-europæiske relationer er [nu ikke ambivalenten – und für die Betroffenen længere] parkeret i hver sit forskningshjør- ausgesprochen unbefriedigenden – Positi- ne med hver sine tilhørende arkivskuffer, on weist Jensen nicht nur in Bezug auf hvilket [inden Lars Jensen skrev Danmark die Gesellschaften der ehemaligen däni- var] med til at gøre dem til isolerede satelit- schen Kolonien im Nordatlantik, sondern ter frem for en del af en overordnet mosaik, auch auf die Empfänger von dänischer der tilsammen danner et mere dækkende „Entwicklungshilfe“ und die vermeintlich billede af Danmark“ (59-60). zu „nordisch exzeptioneller“ Modernität und Aufgeklärtheit zu „erziehenden“ Zu- Ebbe Volquardsen (Gießen) wanderer nach, wodurch seine Studie nicht nur einen stringenten Rahmen erhält, sondern gleichzeitig vielfältiges Anknüp- i fungspotenzial zu den in der oben bespro- Vgl. Randeria, Shalini: „Verflochtene Schweiz. Herausforderungen eines Kolonialis- chenen Anthologie versammelten Arbei- mus ohne Kolonien“. In: Patricia Purtschert u.a. ten eröffnet. Dennoch würde man sich bei (Hgg.): Postkoloniale Schweiz. Formen und Fol- gen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Biele- der Lektüre zuweilen eine schlüssigere feld 2012, 7–12, hier: 7. Argumentation und vor allem deutlichere Übergänge wünschen. Die Vielfalt der ii Vuorela, Ulla: „Colonial Complicity: The thematisierten Weltregionen – einerseits Postcolonial in a Nordic Context“. In: Suvi Ke- skinen u.a. (Hgg.): Complying with Colonialism: ein großes Plus der Arbeit – und die häu- Gender, Race and Ethnicity in the Nordic Region. figen geografischen Wechsel zwischen Aldershot 2009, 19–33. Karibik, Grönland, afrikanischer „Gold- küste“, Island und Nørrebro lassen den Leser bedauerlicherweise mehr als einmal den Überblick verlieren. Völlig unver- ständlich bleibt, warum Jensen gänzlich auf eine konkludierende und resümieren- de Zusammenfassung verzichtet. Diese partielle Kritik allerdings soll dem Lob der Originalität und Innovation der vor- liegenden Arbeit keineswegs Abbruch tun. Ihr größtes Verdienst ist es, dass das, was Jensen in seiner Skizzierung des For- schungsstands selbst kritisiert, nunmehr obsolet erscheint: „De respektive dansk

130 NORDEUROPAforum 22 (2012:1-2) Rezensionen

Meike Stommer: Europa-Skeptiker oder Europa-Pragmatiker? Die isländische Europapolitik zwischen Machtpolitik, nationalen Interes- sen und normativen Orientierungen. Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2012 (Schriften zur Europapolitik; 14), 314 S.

Im Zuge der isländischen Finanzkrise ge ist, warum Island, das sie am äußersten kam es 2009 in Island zu Neuwahlen, bei Rand von Europa verortet, in einigen Po- denen das Bündnis aus sozialdemokrati- litikfeldern enge Beziehungen mit der EU scher Allianz und Links-Grüner Bewe- entwickelt hat und in anderen nicht. Diese gung die absolute Mehrheit im Parlament und die Frage nach der zukünftigen islän- gewann. Bereits wenig später beantragte dischen EU-Politik diskutiert sie im die neue isländische Regierung die Auf- Rahmen des Theorieangebots der Interna- nahme von Beitrittsverhandlungen mit tionalen Beziehungen (IB) bzw. der Au- der Europäischen Union. Bisher konnte ßenpolitikanalyse. Neben ihrer leitenden ein Drittel der Beitrittskonferenzen bzw. Fragestellung möchte Stommer mit ihrer Screeningverfahren abgeschlossen wer- Arbeit einen Beitrag zur Untersuchung den. Das eher als problematisch einzu- der Kleinstaaten im Kräftefeld von schätzende Kapitel Fischerei ist bisher Großmachtpolitik und ihrer wissenschaft- nicht eröffnet worden. Die abschließende lichen Analyse leisten. Frage wird aber ohnehin sein, ob die isländische Bevölkerung überhaupt für Als Erklärungsansätze der isländischen einen EU-Beitritt im vorgesehenen Refe- EU-Politik wählt sie Neoliberalismus, rendum stimmen wird oder ob die Ver- Liberalismus und Konstruktivismus, die handlungen nur eine bürokratische Übung sie einleitend systematisch diskutiert, um gewesen sein werden. so ihren Erklärungswert bestimmen zu können. Die verschiedenen von ihr analy- Meike Stommer untersucht in ihrer poli- sierten Politikbereiche Sicherheitspolitik, tikwissenschaftlich angelegten, 2011 in Wirtschafts- und Außenhandelspolitik Greifswald im Rahmen des interdis- sowie die isländische Kultur- bzw. Bil- ziplinären DFG-Graduiertenkollegs Kon- dungspolitik ordnet sie diesen Theorien in taktzone Mare Balticum vorgelegten Dis- einem weiteren Schritt in drei Kapiteln sertation die Grundzüge der isländischen mit jeweiliger theoretischer Schwer- EU-Politik, worauf sie die isländische punktsetzung zu. Europapolitik einengt. Ihre leitende Fra-

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 131 Rezensionen

Keinesfalls beschränkt sich ihre Arbeit bisher weiterhin Bestand hat. Im Bereich auf einen Vergleich theoretischer Erklä- der isländischen Luftraumkontrolle, Luft- rungsansätze. In ihren Fallstudien unter- sicherheit und Luftpolizeidienste unter- sucht sie vielmehr die relative Gewichtung stützen zudem die europäischen NATO- einzelner politischer Faktoren und ihr Partner die isländischen Behörden spora- Zusammenspiel, die im fünften und letz- disch. An Erklärungskraft steht auch die ten Kapitel in der Gesamtheit beleuchtet Theorie des Liberalismus hinter der kon- werden. struktivistischen Theorie zurück. Die is- ländischen Eliten verfolgen zwar eine Island verfolgt, so Stommer, eine am Politik der Kooperation, letztlich sind sie ehesten von gesellschaftlichen Normen aber im Bereich Wirtschaft und Handel geleitete pragmatische Außenpolitik, die auf ihre Eigeninteressen bedacht. Stom- sie in Übereinstimmung mit der konstruk- mer charakterisiert die Politik als „Ge- tivistischen Theorie als normengeleitete winnpolitik“ (S. 284). Zudem agieren Politik charakterisiert (S. 286). Dieses isländische politische Akteure in Bezug Ergebnis ist nicht ganz überraschend und auf die staatliche Europapolitik abgeson- reflektiert den Stand der Forschung (Eirí- dert von öffentlichen Diskursen und ver- kur Bergmann Einarsson, „Hið huglæga folgen in Einzelfällen ihre eigenen Inte- sjálfstæði þjóðarinnar.“ Áhrif þjóðernis- ressen. Stommers Arbeit empfiehlt sich hugmynda á Evrópustefnu íslenskra nicht nur als gelungenes Beispiel, wie das stjórnvalda: Diss., Reykjavík 2009 [Die Theorieangebot der IB methodisch sinn- ureigene Souveränität der Nation. Vom voll auf die Analyse der Außenpolitik von Einfluss nationalistischer Ideen auf die Kleinstaaten angewendet werden kann, Europapolitik isländischer Regierungen; sondern auch als detaillierter Einblick in Übersetzung des Rezensenten.]), wie sie die Grundlagen und vielschichtigen As- selbst einräumt (S. 21). Stommer gelingt pekte der isländischen Europapolitik. in ihrer methodisch-theoretisch fundierten Arbeit jedoch pointiert der Nachweis, dass In Hinblick auf das letzten Endes erforder- sicherheitspolitische Erwägungen inner- liche isländische Referendum zu einem halb der isländischen Europapolitik eine EU-Beitritt wirft ihr Ergebnis einen dunk- nur untergeordnete Rolle spielen, da Island len Schatten in Richtung Brüssel. Denn es auf verteidigungspolitischem Gebiet seit erscheint fraglich, ob es der Minderheit an 1951 mit den USA über das amerikanisch- isländischen EU-Befürwortern kurzfristig isländische Verteidigungsabkommen be- gelingen wird, die Bedeutung von tradier- sondere Beziehungen unterhält, das auch ten Vorstellungen von Unabhängigkeit, nach dem Abzug der US-Garnison 2006 der zentrale Begriff im isländischen nati-

132 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen onalen Narrativ, und Souveränität durch neue normative Leitvorstellungen zu er- setzen und damit die Mehrheit der Islän- der, die geologisch gesehen auf der nord- amerikanischen Kontinentalplatte lebt, von einer vollständigen Mitgliedschaft in der EU zu überzeugen. Da Island ohnehin in eine Vielzahl von Integrationsprozes- sen vorteilhaft eingebunden ist, besteht an sich auch wenig Anlass, diese durch et- waige Nachteile einer EU-Mitgliedschaft aufzuwiegen.

Michael Penk (Berlin)

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 133 Rezensionen

Ísleifsson, Sumarliði and Daniel Chartier (eds.): Iceland and Images of the North, Québec: Presses de l’Université du Québec 2011, 611 p.

The extensive anthology Iceland and Im- stereotypes of the North, Sumarliði R. ages of the North is edited by Icelandic Ísleifsson also contributes with an article historian Sumarliði R. Ísleifsson (Univer- on early foreign accounts of Iceland and sity of Iceland) in collaboration with lit- Greenland. This article is a rare example erary scholar Daniel Chartier (Université of a comparative review of how dystopian du Québec à Montrèal, Canada). The and utopian associations connected to the book contains contributions by scholars periphery have shaped accounts of the in the fields of imagology, images of the imagined geographies of these two coun- North and Icelandic culture who cooper- tries to this day. The approach is in line ated on the international INOR research with Ísleifsson’s earlier imagological stud- project. ies, and focuses on European accounts from before the 19th century. In these ac- The book consists of a wide range of arti- counts, Iceland and Greenland both ex- cles covering various topics and time peri- hibit similarities and distinctions. In both ods divided into the two chapters „Histori- cases, Ísleifsson argues, projections as cal Images“ and „Contemporary Images“. well as idealisations have governed the Some of the primary issues discussed are descriptions. Ísleifsson shows, how many national stereotypes and narratives, rela- of the early descriptions connected both tions between national, regional, and in- countries with diabolic, uncivilised and ternational ideas about the North, ranging magical powers – a tendency that de- from the Middle Ages to today’s brand- creased in the late 1700s. When Iceland is ing, tourism, and banking industries. The concerned, the dominating image of the disciplines and approaches represented are North went from being distanced from the e.g. imagology, ethnography, literary stud- civilised European centre towards an ide- ies, branding theory and cultural studies. alisation – what Ísleifsson calls the notion Several of the contributions in the chapter of a „Hellas of the North“. on „Historical Images“ focus on the ori- gins and utilisations of dominating narra- Through the ages there have, however, tives about Nordic and Icelandic identity. existed both negative and positive descrip- tions, reflecting an ambivalence that still Aside from his introduction on ideas exists in current accounts. Some of the about national identity and various descriptions emphasise the simple lives of

134 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen both Greenlanders and Icelanders in har- and nationalism. In this way, Loftsdóttir monic coexistence with nature – images nuances the republishing of the children’s that are still used internally and externally. book The Ten Little Negroboys in 2007 to Many of the descriptions are characterised let it transcend its national specificity as by a liminality of otherness, and a key well as using it as an optic for the analy- question has been: are the populations sis of the cultural history of a potential human, non human or even diabolic? national blind spot.

Ísleifsson ascribes much of the develop- In the chapter „Contemporary Images“ ment of the external images to the several writers contribute with articles mechanism of associating the unfamiliar about developments in Icelandic self- with floating boundaries and abnormality. representation and the aggressive brand- The points of his article concerning ideas ing policies leading up to the recent eco- about connections between climate and nomic crisis. They analyse the use of nar- identity as environmental determinism ratives and symbols of ethnicity and resonate in several of the other contribu- cultural heritage – several of them ad- tions in both chapters showing ima- dress how foreign ideas about the island gological leitmotifs through history. are used for profit.

Ideas about the North have formed no- In his contribution, geographer and tour- tions of the role of Iceland in relation to ism scholar Edward H. Huijbens presents Europe, but, as literary scholar Julia Zer- a critical analysis of the simplifications of nack argues in her article, it has also heterogeneity in the current image build- formed principal ideas about Germanic ing of Icelandic companies and institu- culture. Zernack contributes with an ac- tions. By emphasising the elements of count of how Icelandic or Old Norse lit- violence in the act of forcing certain im- erature and mythology have been central ages to the foreground, Huijbens chal- within ideas about Germanic culture and lenges nation branding with an approach the formation of German national con- that focuses on a complex and ever- sciousness. changing sense of place. He argues against the governing logic of a fabricated In her article on racist caricatures in the image used when Iceland is branded as a early 20th century, anthropologist Kristín tourist destination and highlights the im- Loftsdóttir links globalised racism, Scan- portant issue of the continued influence of dinavian exceptionalism and the inherent neo-environmental determinism. The role of racism in Icelandic ideas of purity connection between people and land is

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 135 Rezensionen often emphasised to create the chosen approaching ideas about place and collec- country – and nation brand – a continua- tive identity, literature, branding of heri- tion of the historical narratives of other- tage and landscape and social issues the ness and purity used in the strategic proc- volume is an important contribution to the ess of commodification. field and has the potential to inspire and challenge its readers. Assisting editor and literary scholar Daniel Chartier contributes with an article Ann-Sofie N. Gremaud (Copenhagen) about the use of stereotype in children’s drawings representing „the North“. Here, Chartier discusses the benefits of a cross- disciplinary study on how discourse in- fluences ideas about geography – specifi- cally ideas about Iceland as place and the North as concept. Chartier analyzes how the artworks draw on the North as a shared idea and how the discourses of the North and Iceland influence each other. Furthermore, he discusses the role of sci- entific reflection and criticism in proc- esses of change or strengthening of stereotypisation. The focus on ima- gological perpectives and idées recues draws parallels with articles in the previ- ous chapter. The examination of the inter- section of national and universal ideas is also in line with Loftsdóttir’s approach.

The anthology’s contributions are not only of a high quality, but what is more, they form a whole through interconnected themes and theories resulting in mutual expansions. The book offers a broad – as well as deep – insight into the cultural history and continued development of stereotypes about Nordic geographies. By

136 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen

Vibeke Moe, Øivind Kopperud (Hgg.): Forestillinger om jøder. Aspek- ter ved konstruksjonen av en minoritet 1914-1940. Oslo: Unipub 2011, 159 S.

Der hier zu besprechende Sammelband zeption des Bandes verschuldet sind. Ein stellt das Ergebnis zweier internationaler erster Blick soll darum zunächst den ein- Seminare im Kontext des Forschungspro- zelnen Beiträgen gelten, um abschließend jektes Jøden som kulturell konstruksjon i den Sammelband als Ganzes zu betrachten. norsk offentlighet 1814-1940 dar, welches bis 2012 am HL-senteret. Senter for stu- Der Artikel von Claudia Lenz stellt kei- dier av Holocaust og livssynsminoriteter nen Forschungsbeitrag im eigentlichen in Oslo durchgeführt wurde. Der vorlie- Sinne dar, sondern soll vermutlich der gende Sammelband mit seinem Vorwort theoretischen Einführung und Verortung und seinen sechs Beiträgen ist die bisher des Sammelbandes samt der zugehörigen einzige Publikation, mit der das For- Beiträge dienen. Im Rückgriff auf ein schungsprojekt sich in der Öffentlichkeit spezifisches Arsenal alteritätstheoretischer präsentiert. Ganz in Verlängerung des Zugänge möchte Lenz Konstruktionspro- Forschungsprojektes ist es das Ziel des zesse von kollektiver Identität auf Grund- Sammelbandes, der Konstruktion von lage naturalisierter, biologisierter Diffe- Vorstellungen des „Juden“ in verschiede- renzen darlegen. Dem Rezensenten stellt nen Bereichen der norwegischen Öffent- sich die Frage, ob eine solche Einführung lichkeit wie Literatur, Kirche und Presse für das Verständnis der restlichen (For- nachzugehen und dabei besonders auf schungs-)Beiträge des Sammelbandes Strukturen und Institutionen zu fokussieren. wirklich notwendig und sinnvoll gewesen ist. Diese wären durchaus aus sich heraus Vielleicht ist es gerade jener Entstehungs- ausreichend verständlich gewesen. kontext, der hohe Erwartungen weckte und auf neue Forschungsergebnisse zu Hinzu kommt, dass sich zu der notwendi- einem bisher nur unzureichend erforsch- gen übermäßigen Verkürzung der im Bei- ten Gegenstand hoffen ließ. Dass dieser trag vorgestellten theoretischen Zugänge Sammelband den hohen Erwartungen nur eine in Teilen zumindest als eigensinnig eingeschränkt gerecht wird, hat verschie- aufzufassende Interpretation derselben dene Ursachen, die einerseits einigen der gesellt; auch lässt sich der Eindruck des Artikel, aber zum anderen auch der Kon- Namedroppings kaum vermeiden: so fin-

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 137 Rezensionen den sich auf den knapp 22 Textseiten konstruiert worden, dass sich häufig aus Ausführungen zu Stuart Hall, Judith But- einer theologischen Konzeption von ler, Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Christentum in expliziter Abgrenzung Jacques Derrida, Gayatri Chakravorty zum Judentum nährte. Daran anschlie- Spivak, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, ßend widmet sich Kopperud der Positio- Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, nierung von Pfarrern, die als Abgeordnete Hannah Arendt, Zygmunt Baumann so- in Konstituante und Parlament in die Dis- wie zu Homi Bhabha und Shulamit Vol- kussion um Einführung und Abschaffung kov – ersterer erscheint im Text durchweg des Paragraf 2 der Eidsvoll-Verfassung als ‚Bhaba‘, letztere mehrfach als ‚Vol- von 1814 (sog. „jødeparagrafen“), der Ju- kow‘. Dies hinterlässt zumindest einen den zwischen 1814 und 1851 den Aufent- störenden Eindruck. halt in Norwegen verbot, involviert waren. Kopperud betont, dass sich die Aussagen Einhart Lorenz' historischer Überblick und Positionierungen der Pfarrer nicht von der verfassungsgebenden National- von denen anderer Abgeordneter unter- versammlung in Eidsvoll 1814 bis in die schieden haben. 30er Jahr des 20. Jahrhunderts verdeut- licht anhand ausgewählter Beispiele aus Der umfangreichste Beitrag des Sammel- Kirche, Medien und Populärliteratur bandes stellt mit 56 von 159 Textseiten schlaglichtartig den Problemaufriss des Ragnhild Hendens Untersuchung der frü- Sammelbandes, der in den folgenden Bei- hen norwegischen Kriminalliteratur dar. trägen näher beleuchtet werden soll. Im Rückgriff auf Archivtheorien und mit besonderer Betonung Foucaults möchte Øivind Kopperuds Artikel untersucht, Henden die Produktivität eines von ihr welcher Beitrag der norwegischen Kirche angenommenen antisemitischen Archivs hinsichtlich der Konstruktion eines Ju- anhand der norwegischen Kriminallitera- denbildes zukommt. Zu diesem Zweck tur verdeutlichen. Dieses antisemitische eröffnet Kopperud zwei Perspektiven: Archiv regle, welche judenfeindlichen eine Analyse der kirchlichen Zeitschriften Aussagen zu welchem Zeitpunkt zugelas- Luthersk Kirketidende, Kirke og Kultur sen und in diesem Sinne für die Zeitgenos- und Luthersk Ugeskrift der Jahrgänge bis sen dechiffrierbar und intelligibel gewesen 1920 verdeutlicht Kopperuds Meinung seien. nach die These, innerhalb der norwegi- schen Kirche (und unberührt von der Der Rezensent begegnet diesem Versuch Auseinandersetzung verschiedener politi- mit einem gewissen Unbehagen, das ins- scher Flügel) sei ein negatives Judenbild besondere vier Kritikpunkte betrifft:

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1) Der historische Sprung, den Henden nes Wissens über „Juden“ auf seine eige- von Johann Andreas Eisenmengers juden- nen Weisen produktiv beteiligt ist und feindlicher Schrift ‚Entdecktes Ju- ebenso Möglichkeit für Ambivalenzen, denthum‘ (1700) zu frühen Kriminalauto- wenn nicht vielleicht sogar zu Subversion ren wie Thorvald Bogsrud (1870-1923), einschließt. Sven Elvestad (1884-1934) oder aber auch Friedrich Glauser (1896-1938) vollzieht, Ingjerd Veiden Brakstad untersucht in erscheint zumindest erklärungsbedürftig. ihrem Artikel das antisemitische Bildar- 2) Daran anschließend stellt sich die Fra- senal in den norwegischen Karikaturzeit- ge, ob Henden wirklich eine archivtheore- schriften Hvepsen, Vikingen und Karika- tische Betrachtung unternimmt oder ob turen der Jahrgänge 1916 bis 1926. Als hier nicht vielmehr eine bild- und motiv- populärkulturelle Phänomene seien diese geschichtliche Untersuchung klassischer Zeitschriften an Konstruktion und Ver- Provenienz vorgenommen wird. mittlung antijüdischer Stereotype maß- geblich beteiligt. Brakstad gelangt zu dem 3) Auch scheint der begriffliche Apparat Ergebnis, dass die untersuchten Zeit- zwischenzeitlich verwirrend: während schriften ein homogenes Repertoire anti- Henden auffordert, hinsichtlich archiv- jüdischer Stereotype vermitteln würden. theoretischer Konzepte zwischen konkre- ten und eher poststrukturalistisch inspi- Im Zentrum des Artikels von Kjetil Braut rierten Archivbegriffen zu unterscheiden, Simonsen stehen die Ausgaben der Jahre scheint Hendens „Dokument“-Begriff so- 1920 bis 1925 der Zeitschriften Nationen wohl einzelne konkrete Texte als auch und Namdalen, beides Organe der agrar- überindividuelle, intertextuelle Aussage- romantischen, antimodernistischen und formationen bezeichnen zu wollen. antiliberalen Bauernbewegung. Simonsen 4) Ein letzter Kritikpunkt betrifft den möchte der Frage nach Form und Funkti- Umgang mit literarischem Material: Es on antijüdischer Klischees in beiden Zeit- erscheint fraglich, ob ihr theoretischer schriften nachgehen und resümiert, dass Zugriff geeignet ist, literarische Phäno- beide ein breites Spektrum judenfeindli- mene zu erfassen. Literatur gerät bei cher Vorstellungen aufweisen würden. Henden zu einer Art Widerspiegelung des Während in Nationen antisemitische Kli- antisemitischen Archivs, so dass Literatur schees – nach Simonsen – eher spora- letztendlich nur außerliterarische Wirk- disch in Erscheinung treten, würden diese lichkeit abbildet. Auf diese Weise wird zumindest zwischen Herbst 1922 und das Spezifische des literarischen Diskur- Winter 1924 in Namdalen stark hervortre- ses übersehen, der an der Etablierung ei- ten. Eingesetzt würden antisemitische

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Stereotype vor allem in polemischer Ab- Seiten der Antisemitismusforschung be- grenzung gegen die Arbeiterbewegung rechtigte Kritik an bild- und motivge- sowie gegen die bürgerlichen Parteien, schichtlicher Forschung geäußert, die vor allen voran gegen die Venstre-Partei. Das allem aus diskursgeschichtlicher Sicht der Nationale würde in dieser Hinsicht von Produktivität literarischer und anderer unterstelltem internationalem Kommu- ästhetischer Phänomene nicht gerecht zu nismus bzw. internationalem Kapitalismus werden scheint. Eine Einbindung in inter- abgegrenzt. In diesem Sinne würden anti- nationale Forschungskontexte wäre daher jüdische Klischees zu einem „elastisk wünschenswert gewesen; gerade was die symbol på det antinasjonale“ (S. 154). Behandlung von literarischem Antisemi- tismus betrifft, scheint die Forschungs- Als Leistung des Sammelbandes muss diskussion andernorts schon beachtens- eindeutig anerkannt werden, dass hier ein werte Ergebnisse geliefert zu haben. die Bearbeitung eines Themenfeld be- gonnen wird, welches für Norwegen bis- Florian Brandenburg (Berlin) her ein Forschungsdesiderat darstellt. In dieser Hinsicht gelingt es den unterschied- lichen Beiträgen, auf verschiedenen Ebe- nen Konstruktionsprozesse von antijüdi- schen Klischees, Stereotypen und „Juden- bildern“ (s.u.) zu erhellen. Deutlich zeich- net sich jedoch ab, dass eine vertiefende Anschlussforschung unabdingbar ist.

Gerade die theoretisch-methodische Kon- zeption des Sammelbandes gibt Anlass zur Diskussion und das in mehreren Punkten: Zunächst scheint es fraglich, ob die alteritätstheoretische Grundierung des Sammelbandes in angemessener Weise vorgenommen wurde, um dem Phänomen „Judenbilder“ und Antisemitismus ge- recht zu werden. Außerdem ist vor allem die übermäßige Präsenz des Begriffes „Bild“ auffällig, die den gesamten Sam- melband durchzieht. Mehrfach wurde von

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Firouz Gaini (ed.): Among the Islanders of the North. An Anthropol- ogy of the Faroe Islands. Tórshavn: Fróðskapur/Faroe University Press 2011, 199 S.

Innerhalb der anthropologischen und eth- Eine Studie, die sich der skizzierten Me- nologischen Forschung zur färöischen thode bedient und daher eben jenes ambi- Gesellschaft hat die auf Clifford Geertz valente Urteil evoziert, ist Dennis Gaffins zurückgehende Methode der „dichten Ethnografie In Place – Spatial and social Beschreibung“ nach wie vor Konjunktur. order in a Faeroe Islands community, die Kultur wird in diesem Zusammenhang 1996 erschien, auf intensive Feldstudien als ein großer Bedeutungszusammen- des amerikanischen Anthropologen aus hang verstanden, als ein semiotisches den frühen 1980er Jahren zurückgeht und System, das es mittels Anwendung von ohne Rekurs auf deren Ergebnisse bis Strategien der kulturellen Übersetzung zu heute kaum eine kultur- oder sozialwis- dechiffrieren gilt. Das derartigen Analy- senschaftliche Abhandlung auskommt, sen zugrunde liegende Material sind die die sich auf Mikro- oder Makroebene mit Feldnotizen des Ethnologen, der als teil- Aspekten der färöischen Gesellschaft be- nehmender Beobachter über einen länge- fasst. Dies illustriert einerseits die zwei- ren Zeitraum aktiv am Alltagsleben der fellos hohe wissenschaftliche (und litera- untersuchten Gemeinschaft partizipiert. rische) Qualität der Studie, und offenbart Positiv hervorzuheben sind die beinahe andererseits den eklatanten Mangel an literarischen Qualitäten der anekdotenrei- neueren anthropologischen und soziologi- chen Studien, die auf diese klassisch eth- schen Untersuchungen zu den Färingern nologische Methode zurückgreifen. Kri- und ihren 18 Inseln im Nordatlantik. tisch angemerkt werden muss hingegen, dass die synekdochische Vorgehensweise Umso erfreulicher ist es, dass der färöi- solcher Ethnografien – vom Kleinen (All- sche Anthropologe Firouz Gaini nun mit tagsbeobachtungen) wird aufs Ganze (die seiner Anthologie Among the Islanders Beschaffenheit einer Gesellschaft) ge- of the North erstmals den Versuch unter- schlossen – mitunter zur Konsolidierung nimmt, eine an eine breitere Fachöffent- eines statischen Kulturverständnisses bei- lichkeit gerichtete englischsprachige trägt, das Dynamisierung und Differenz Anthropologie der Färöer vorzulegen. als integrale Bestandteile von Kultur un- Der Band besteht aus fünf Texten von berücksichtigt lässt. drei Autoren: Neben Gaini selbst tragen

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 141 Rezensionen der französische Sozialanthropologe voneinander unabhängigen, nahezu autar- Christophe Pons sowie der Amerikaner ken Dorfgemeinschaften zusammenset- Jonathan Wylie zu dem Sammelband bei. zenden färöischen Gesellschaft identifi- Letzterer dürfte als Autor von The Faroe zieren. Sein Untersuchungsgegenstand ist Islands – Interpretations of History die Praxis gegenseitiger Hausbesuche, (1987) dem an den Färöern interessierten die, wie Wylie darlegt, nicht nur wesent- Kulturwissenschaftler kein Unbekannter liches Bestandteil des sozialen Miteinan- sein. Wylie ist mit zwei Beiträgen in der ders auf den Färöern ist, sondern zugleich Anthologie vertreten. Hinter den Titel einem komplizierten Muster aus unge- seines ersten Texts „Eg Oyggjar Veit“ schriebenen Regeln und Gesetzen folgt („Von Inseln weiß ich“ – der Name der und somit interessante Schlüsse auf über färöischen Nationalhymne) setzt Wylie den Gegenstand hinaus gehende soziale ein Fragezeichen, um nach einem Durch- Mechanismen zulässt. So erfahren wir gang der Geschichte des Tourismus auf etwa, dass eine auf dem Fenstersims ab- den Färöern und der in seinem Zusam- gestellte Schnapsflasche als Einladung an menhang entstandenen Reiseberichte so- unangekündigten Besuch zu verstehen ist, wie einer überblicksartigen Beschreibung dass übertriebene Ordnung in der Küche des gesellschaftlichen Wandels auf dem in jedem Fall zu vermeiden sei, da nur nordatlantischen Archipel vor allem eine eine moderate Unordnung als Beweis für Reihe von anthropologischen For- emsige Geschäftigkeit diene, und dass der schungslücken zu skizzieren (36–37), soziale Kontakt zwischen verheirateten deren Schließung sich der vorliegende Männern und Frauen im Dorfe als un- Band – wie etwa im Fall der näheren Un- schicklich, wenn nicht gar als sittenwidrig tersuchung von sozialer Stratifizierung, gilt: das nordische „Gesetz von Jante“ internen Migrationsbewegungen und po- lässt allenthalben grüßen. Kritisch muss litischer Soziologie – dann leider nur an- festgehalten werden, dass Wylies Unter- satzweise annimmt. suchung auf in den 1970er Jahren vorge- nommene Feldforschung zurückgeht und Wylies zweiter Text „Visiting“ erinnert in dass sich Rituale und soziale Praktiken Stil und Inhalt an Dennis Gaffins Studie seither nicht erst mit dem Einzug des In- und steht in der Tradition des geertzschen ternets und einer auch auf den Färöern zu pars pro toto. Als übergreifendes Thema beobachtenden Urbanisierung und Zent- lassen sich in Wylies persönlich gehalte- ralisierung deutlich geändert haben dürf- ner und durchweg gut lesbarer Kurzeth- ten, was der Autor selbst am Ende seines nografie die zuweilen subtilen Strategien Beitrags anmerkt. sozialer Überwachung in der sich aus

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Die Studie ist daher bestenfalls von histo- Gainis zweiter Beitrag beschäftigt sich rischem Interesse und birgt dennoch die mit historischen und gegenwärtigen so- Gefahr der Fortschreibung jener Exotisie- zialen Konstruktionen von Männlichkei- rung, die Färinger in anthropologischen ten, von denen wir spätestens seit Erschei- Portraits seit Mitte des 19. Jahrhunderts nen von R. W. Connells einflussreicher erfahren haben und die bis zum heutigen Studie gleichen Namens (Masculinities, Tage einen virulenten Repräsentations- 1995) nur noch im Plural sprechen. Dabei modus in Bezug auf die Inselbewohner zeichnet er eine Genealogie von Männ- darstellt. Jene Inselbewohner, die – wie lichkeitstypologien nach, die vom milden, Firouz Gaini in einem seiner Beiträge Konflikte vermeidenden und wenig indi- anmerkt – von außen nie als „free indivu- vidualistischen Mitglied des autarken Dorf- duals in modern connotations of the kollektivs zu einer anti-intellektuellen, world but as parts of corporate family and materialistischen Machokultur führt, für village groups“ (134) dargestellt worden die Gaini anderenorts den treffenden sind. Terminus des „Atlantic Cowboy“ entwi- ckelt hati, und für die er innerhalb der Bezugnehmend auf internationale postko- färöischen Gesellschaft keine Tradition loniale Theoriebildung skizziert Gaini erkennt. Letztere sehe sich allerdings in zunächst eine Geschichte der färöischen jüngerer Zeit mit einer urbanen Gegen- Fremdrepräsentation, innerhalb derer die bewegung konfrontiert, die postmaterielle Insulaner nicht selten die Rolle der „un- Werte verkörpere und sich an internatio- sophisticated, yet noble savages“ (133) als nalen Trends innerhalb von Mode und Alteritätskonstruktion zur „modern world Popkultur orientiere. of the North“ (ebd.) eingenommen hätten. Er widerlegt das gängige Narrativ, wel- Leider fehlt in Gainis lesenswerten Aus- ches von einem „unschuldigen“ und et- führungen jeglicher Bezug auf die vor was naiven Volk erzählt, das kaum je in allem in den Jahren 2005 bis 2007 erheb- Kontakt mit der es umgrenzenden Welt lich an Aufmerksamkeit gewinnende De- gestanden habe und zeigt abschließend batte um Homosexualität und Homopho- anhand von Beispielen aus der Populär- bie auf den Färöern, ein Konnex, den man musik und der Jugendkultur Strategien auch in Christophe Pons’ Aufsatz ver- auf, mittels derer sich eine junge Genera- misst, der den in der Forschung bislang tion von Färingern traditionelle Muster zu eher tabuisierten Topos des erheblichen eigen mache, um sich in der zunehmend Einflusses evangelikaler Freikirchler auf global vernetzten Weltgemeinschaft neu die färöische Gesellschaft thematisiert zu positionieren. und nicht zuletzt deswegen den wohl in-

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 143 Rezensionen novativsten Beitrag innerhalb der vorlie- Machtausübung und Unterdrückung fir- genden Anthologie darstellt. mierte, ließe sich heute die fast wider- sprüchlich erscheinende Feststellung tref- Mit seiner „Anthroplogy of Christianity fen, dass der christliche Glaube in diesen in the Faroe Islands“ legt Pons eine Ge- Ländern als „indigineous property, au- schichte und gleichzeitig eine politische thentically native, to the point of rever- Soziologie der drei religiösen Gruppie- sing the historical movement of evangeli- rungen der Brüderbewegung, der Pfingst- zation from North towards the South“ bewegung und der Inneren Mission vor, (81) fruchtbar gemacht wird. Sind also denen sich zusammen genommen gut ein die Färöer – wie möglicherweise auch Drittel der färöischen Bevölkerung zuge- Grönland – als ein Stück Globaler Süden hörig fühlt. Er analysiert die gesellschaft- zu betrachten, den der Verlauf der Ge- lichen Konflikte zwischen streng gläubi- schichte ironischerweise auf der „falschen gen und säkularen Christen ebenso wie Hemisphäre“ platziert hat? Innerhalb des die Sonderstellung, die die Färöer inner- färöischen akademischen Diskurses, der halb der gemeinhin als besonders säkula- bei der Erklärung gegenwärtiger sozialer risiert geltenden Region Nordeuropas Phänomene bis heute allzu oft historische einnehmen. In dem erstaunlichen Erfolg koloniale Abhängigkeiten zwischen der der evangelikalen Gruppierungen auf dem Metropole und der Peripherie negiert, Archipel erkennt Pons ein Instrument des dürften Pons’ Befunde jedenfalls eine (post-)kolonialen Widerstands. Der christ- ebenso kontroverse wie wünschenswerte liche Glaube erhielt mittels seiner Prakti- Debatte hervorrufen. zierung innerhalb der konfessionellen Abspaltungen Gelegenheit, nicht weiter Ebbe Volquardsen (Gießen) nur in der mit der Kolonialmacht assozi- ierten Staatskirche gepflegt zu werden, sondern konnte fortan als Instrument zur Formierung lokaler Identitäten eingesetzt i Gaini, Firouz: „Once Were Men. Masculin- werden. Somit, argumentiert Pons, dienen ities among young men in the Faroe Islands“. ausgerechnet die Färöer als treffendes In: Fróðskaparrit 54, 2006, 42–61. Beispiel für das globale Phänomen eines religiösen Revivals. Während die Christi- anisierung in den vor allem im Globalen Süden verorteten ehemaligen Kolonien als ein Widerstand hervorrufender Akt eurozentristischer und imperialistischer

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Katrin Rupprecht: Der deutsch-isländische Fischereizonenstreit 1972- 1976. Krisenfall für die NATO? Anhand der Akten des Auswärtigen Amtes. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2011, 329 S.

Die Geschichte der NATO ist keineswegs Großbritannien durchsetzen, wie reagierte frei von Krisen geblieben. Vor 40 Jahren die Bundesregierung darauf und welche stieß das Gründungsmitglieder Island eine Auswirkungen hatte dieser Streitfall auf Auseinandersetzung an, die in den Me- den Nordatlantik-Pakt. Anknüpfend an dien als Kabeljaukrieg (Cod War bzw. diese Leitfragen werden in den folgenden Þorskastríð) bezeichnet worden ist. Hö- sieben Kapiteln vier Fragenkomplexe auf- hepunkte in der Auseinandersetzung wa- geworfen: welche Beweggründe waren für ren die Zusammenstöße isländischer Island im Konflikt tragend, welche Ziele Wachboote mit britischen Kriegsschiffen versuchte die Bundesrepublik Deutschland und der zeitweise Abbruch der diplomati- zu erreichen und inwieweit koordinierte schen Beziehungen zwischen den beiden Bonn dabei sein Vorgehen mit Großbri- europäischen NATO-Staaten. Neben briti- tannien. Des Weiteren untersucht Rupp- schen waren aber auch deutsche Fische- recht den Einfluss des Konflikts auf die reiinteressen betroffen, was angesichts NATO und auch völkerrechtlichen Aspek- des zwischen NATO-Partnern offen aus- te. In diesem Zusammenhang enthält das getragenen Konflikts zugleich übergeord- Buch einen Abriss der historischen Ent- nete außen- und bündnispolitische Inte- wicklung der see- und völkerrechtlichen ressen der Bundesregierung berührte. Gesichtspunkte des Konflikts.

Katrin Rupprecht wendet sich nun in ihrer Wie der Untertitel ankündigt beruht die 2010 an der Universität Bonn eingereich- Arbeit, in der die Autorin methodisch ten Dissertation erstmals diesem deutsch- über weite Strecken einen diplomatiege- isländischen Fischereizonenstreit in den schichtlichen Ansatz verfolgt, fast voll- 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zu und ständig auf Akten des Auswärtigen Amts. richtet dabei ihr besonderes Augenmerk Dies überrascht angesichts der eingangs auf das internationale Umfeld, vor allem gestellten Frage nach den isländischen das innerhalb des NATO-Pakts. Ihre Beweggründen im Konflikt. Die isländi- übergeordneten Fragen sind: wie konnte sche Position versucht die Autorin statt- Island seine Ziele gegenüber den anderen dessen auf zweierlei Weise zu erarbeiten, Konfliktparteien Deutschland aber auch nämlich indem sie isländische Reaktions-

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 145 Rezensionen und Verhaltensweisen im Streitfall aus der In den folgenden Kapiteln zur deutsch- früheren isländischen Geschichte herzu- isländischen Auseinandersetzung zeichnet leiten versucht, und indem sie die Quellen sie die vielschichtigen Konfliktlinien im des Auswärtigen Amts nach Aussagen zur Fischereizonenstreit der 1970er Jahre un- isländischen Politik und Entscheidungen ter Berücksichtigung des internationalen der isländischen Regierung befragt. Kontextes aus der Sicht des Auswärtigen Amts nach. Die Lektüre der Akten macht In ihrem methodischen Vo rg e h en i m e r s - deutlich, dass das Amt in den einzelnen ten Fall beruft sie sich auf Henry Kissin- deutsch-isländischen Verhandlungsrunden gers, der glaubte, dass die Geschichte für deutsche wirtschaftspolitische Erwägun- Nationen das sei, was der Charakter für gen außen- und bündnispolitischen Zielen den Menschen ist. Hier kann kritisch ge- unterordnete, weshalb letztlich Island als fragt werden, welche Reichweite die Be- der Gewinner und die deutsche Hochsee- funde dieses theoretisch nicht reflektier- fischerei als Verlierer aus dem Konflikt ten Ansatzes auf die Bewertung der hervorgingen. späteren isländischen Motive im Konflikt haben können. Leider hat die Verfasserin Der Titel der Arbeit betont den deutsch- bei der Wiedergabe der isländischen Ge- isländischen Konfliktfall. Trat der Kon- schichte und mithin bei der Rekonstrukti- flikt aber nicht eher hinter die westdeut- on des isländischen „Nationalcharakters“, sche Vermittlungspolitik zurück, auch in der sie bei der Besiedlung Islands an- wenn die Konfliktlinie auf den ersten fängt und schließlich Ende der 1960er Blick zwischen Deutschland und Großbri- Jahre endet, neuere Forschungsergebnisse tannien auf der einen und Island auf der insbesondere für die von ihr behandelte anderen Seite verlief? Hier muss die Zeit des Zweiten Weltkrieges und des gleichzeitige völkerrechtliche Entwick- ersten Fischereistreits 1952 unberücksich- lung berücksichtigt werden. Küstenstaa- tigt gelassen. Diesen ersten britisch- ten, darunter die USA, reklamierten für isländischen Konflikt um die Ausdehnung sich exklusive Nutzungsrechte für see- der isländischen Hoheitsgewässer Anfang wärtig an die Küstengewässer anschlie- der 1950er Jahre schildert sie lediglich ßende Seegebiete. Dies war zentraler Ge- aus den Akten des Politischen Archivs des genstand der von 1973 bis 1982 dauernden Auswärtigen Amts, obwohl dazu eine III. Seerechtskonferenz der Vereinten Nati- englischsprachige Arbeit des isländischen onen (UNCLOS III), auf der schließlich Historikers Guðni Th. Jóhannesson vor- auch Islands Maximalposition in Bezug liegt. auf die beanspruchte Fischereigrenze von 200 Seemeilen im Seerechtsübereinkom-

146 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen men kodifiziert wurde. Bonn hätte somit sche Haltung waren vielmehr norwegi- nicht nur Position gegen Island beziehen sche Bemühungen und die Rückwirkun- müssen, sondern auch gegen die USA. gen der Seerechtskonferenz der Vereinten Das Auswärtige Amt erkannte bereits Nationen in New York 1976. Nennens- 1975, dass Washington im deutsch- werte Auswirkungen auf das nordatlanti- isländischen Fischereizonenstreit als Ver- sche Verteidigungsbündnis hatte der bündeter ausfallen würde. Andererseits deutsch-isländischen Fischereizonenstreit, schien sich die Bonner Schwerpunktset- wie Rupprecht selbst einräumt, nicht. zung auf außen- und bündnispolitische Zielstellungen auszuzahlen, da die gemä- Zusammenfassend gibt Rupprechts Arbeit ßigte Haltung gegenüber Island und die interessante Einblicke in die Sichtweisen Vermittlungsversuche im isländisch- westdeutscher Diplomaten und Beamter britischen Konflikt die Bundesrepublik zur Ausdehnung der isländischen Fische- in der Wahrnehmung der Bonner Beam- reigrenze, der isländischen und britischen ten zunehmend in die Rolle eines euro- Position sowie den Reaktionen und Maß- päischen Partners der USA versetzten. nahmen Bonns wieder. Der Leser wird mit einer Reihe von Fragesträngen kon- War also, wie im Buchtitel gefragt, der frontiert, wobei das Zurechtfinden im deutsch-isländische Fischereizonenkon- Buch durch fehlerhafte Seitenangaben im flikt ein Krisenfall für die NATO? Er Inhaltsverzeichnis erschwert wird. Über- wurde es wegen der Zusammenstöße bri- dies fallen beim Lesen einige wenige tischer Kriegsschiffe mit Einheiten der sprachliche Mängel und ungewöhnliche isländischen Küstenwache vor allem 1976. journalistische Ausdrücke für seefahreri- Als Druckmittel im britisch-isländischen sche und militärische Fachbegriffe auf. Fischereistreit beantragte die isländische Insgesamt ist das Buch jedoch lesenswert Regierung die Überprüfung des amerika- und kann wegen der Verschränkung des nisch-isländischen Verteidigungsabkom- Konflikts mit bündnis- und sicherheitspo- mens von 1951. Parallel dazu artikulierte litischen Problemen – ganz so, wie es der Island seine Fischereiinteressen auch mit Untertitel des Buches nahelegt – darüber Hinweis Islands geostrategische Bedeu- hinaus auch Lesern empfohlen werden, tung für die NATO. Das Auswärtige Amt die an der Geschichte der NATO interes- hingegen sondierte verschiedene Mög- siert sind. lichkeiten der Konfliktbeilegung, konnte sich jedoch mit den eigenen Vermittlungs- Michael Penk (Berlin) initiativen zur Konfliktbeilegung nicht durchsetzen. Entscheidend für die briti-

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 147 Rezensionen

Kjell-Olof Feldt: En kritisk betraktelse om Socialdemokratins seger och kris. Stockholm: Albert Bonniers Förlag 2012, 157 S.

Verbaler Ritterschlag oder Kompliment Heute ist es Kjell-Olof Feldt selbst, der von falscher Stelle? – Manchmal liegt mit seiner Partei fremdelt. In seinem beides eng beisammen: Als der schwedi- kritischen Essay über die Triumphe und sche Finanzminister Kjell-Olof Feldt im Krisen der schwedischen Sozialdemokra- April 1987 nach einem Vortrag vor US- tie fasst er die Situation nach dem wie- amerikanischen Ökonomen gefragt wur- derholten Wahlsieg Fredrik Reinfeldts de, ob er nicht den Job als Secretary of und den Ärger um Håkan Juholt mit Sor- the Treasury in Ronald Reagans Regie- ge zusammen: Nicht nur, dass viele der rung übernehmen wolle, vermied er jegli- sozialdemokratischen Visionen mittler- chen Kommentar. Seine Parteigenossen weile ihre Anziehungskraft verloren hät- aus der Sozialdemokratischen Arbeiter- ten, auf einigen Politikfeldern gebe es partei Schwedens (SAP) nahmen die höf- schlichtweg keine mehr und die führen- liche Würdigung jedoch bereitwillig auf, den Persönlichkeiten würden stattdessen um für Feldts energische Sparpolitik zu Behauptungen in die Welt setzen, die sich werben. Für Gewerkschafter und linke widersprächen oder als wirklichkeitsfremd Regierungskritiker ein Unding: In ihren erwiesen. Vor diesem Hintergrund stellt Augen schärfte die wohlwollende Äu- sich Feldt zwei Fragen: Wie kann sich die ßerung der Amerikaner die erklärten Partei erfolgreich für die kommende Wahl Feindbilder. Sie sahen in Feldt einen von aufstellen und was muss sie dazu aus den vielen „Kanzleirechten“ der SAP-Spitze, Miseren der letzten Jahre lernen? die mit der „Wirtschaftspolitik des Dritten Weges“ dazu beitrugen, dass sich die Par- Neben dem subjektiven Eindruck eines tei von ihrer Basis, der Arbeiterbewe- programmatischen und ideologischen gung, zunehmend entfremdete: „Wir er- Verfalls stellt Feldt den scheinbar objek- kennen die Partei nicht wieder“ („Vi tiv belegbaren Vertrauensverlust bei den känner inte igen partiet“, S. 44), klagten Wählern. Ihm geht es dabei nicht um eine mehr und mehr Stammwähler, bis es 1991 Stimmung, die sich in regelmäßigen Um- zur deutlichen Wahlniederlage kam. Die fragen widerspiegelt, sondern um „nack- SAP verlor 250.000 Stimmen ans bürger- te“ Zahlen, sprich: Wahlergebnisse. Wäh- liche Lager. rend die Politikwissenschaft längst er-

148 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen kannt hat, dass unentschlossene Wähler Nachkriegsprogramm und den Rekord- eine immer größere Bedeutung für den jahren, von der Phase 1971 bis 1991, mit Ausgang einer Wahl haben, begeht Feldt den Ölkrisen, dem Einbruch des Wirt- den Irrtum und setzt Wählervertrauen mit schaftswachstums, der Kosteninflation Stimmabgaben gleich. Diese Vereinfa- und dem Ende des Kalten Krieges, und chung kommt ihm sehr gelegen, um seine schließlich von einer dritten Phase, die er These vom Niedergang der SAP weitge- auf die Jahre 1992 bis 2006 begrenzt – in hend unhinterfragt zu vertreten: Der Er- diese fielen u. a. die Haushaltssanierung, folgsära 1932 bis 1976, in welcher seine der Umbau des Wohlfahrtsstaates und der Partei jederzeit annähernd die Hälfte aller EU-Beitritt Schwedens. Wählerstimmen auf sich vereinigte, stellt er eine Phase des Niedergangs gegenüber, Trotz aller Sachlichkeit bleibt Feldt Teil an deren Ende nach seiner Überzeugung seiner erzählten Geschichte und ist nicht nur eine politische Runderneuerung ste- mit einem distanzierten Chronisten zu hen kann: Die SAP müsse wieder hand- verwechseln. Seine Schwerpunktsetzun- feste Inhalte schaffen und den Wählern gen und Verknappungen legen den Ver- gegenüber glaubwürdig vertreten, dass sie dacht nahe, er wolle die Bedeutung der als politische Kraft gebraucht werde. bürgerlichen Parteien bagatellisieren, welche zwischen 1976 und 1994 immer- Feldts Essay gliedert sich in zwei große hin neun Jahre in Regierungsverantwor- Kapitel: Einem eher sachlichen Rückblick tung standen. Dem ist entgegenzuhalten, auf die Geschichte der SAP zwischen dass Feldt seine Argumentationslinie kon- 1930 und 2006 folgt ein von persönlichen sequent vorantreibt und nicht mit kriti- Eindrücken und Einschätzungen gepräg- schen Reflexionen zur sozialdemokrati- ter Ausblick auf bevorstehende Heraus- schen Politik spart, insbesondere, was die forderungen. In Teil 1 untersucht der Au- Phase zwischen 1970 und 1991 betrifft, tor anhand von drei gesellschaftlichen als er selbst tragende Ämter in SAP und Entwicklungsabschnitten, wie die SAP Regierung bekleidete. ihren Status als „selbstverständliche Re- gierungspartei“ („självklara regeringspar- Die Schlussfolgerungen des politik- und tiet“, S. 18) über Jahrzehnte hinweg un- gesellschaftsgeschichtlichen Rückblicks termauerte. Feldt unterscheidet dabei die werden zu Beginn von Teil 2 formuliert: Phase 1930 bis 1970, mit der weltweiten Eine Partei, die das mehrheitliche Wäh- Depression und Massenarbeitslosigkeit in lervertrauen auf Dauer erringen möchte, den 1930er Jahren, der schwedischen solle sich vor dem Versprechen hüten, Neutralität im Zweiten Weltkrieg, dem dass sie mehr ausrichten könne als die

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 149 Rezensionen faktischen Rahmenbedingungen zulassen. Reallöhne und den Ausbau der sozialen Und zweitens: Die schwedische Sozial- Reformen. Dass die Partei eher zögerlich demokratie könne nicht länger von ihrem auf diesen Kurs einschwenkte, hatte meh- alten Vertrauenskapital zehren, das vor rere Gründe. Einer davon war der Wider- allem mit den Attributen „Sicherheit, stand der Gewerkschaften, die eine staat- Wohlfahrt und Kompetenz“ („trygghet, lich erzwungene Lohnzurückhaltung mit välfärd och kompetens“, S. 97) verknüpft aller Macht verhinderten. Feldt ging es war. Feldt unterstreicht beinahe sar- aber nie darum, die Arbeitgeberseite zu kastisch, dass die SAP zu lange den trüge- bevorteilen und die Wohlfahrtspolitik rischen Mythos gepflegt habe, „Wasser in aufzugeben. Stattdessen strebte er nach Wein verwandeln, oder prosaischer, eine einem ausgeglichenen Staatshaushalt, den verschuldete und schlecht strukturierte er als Grundbedingung für den Erhalt des Ökonomie zu neuem Wohlstand führen zu Wohlfahrtsmodells betrachtet. Mitte der können, ohne dass sie oder jemand ande- 1990er Jahren setzte sich diese Denkwei- rer sich ernsthaft dafür abrackern müsse se – vorübergehend – in der SAP durch. („[…]vin av vatten, eller mer prosaiskt, […]föra en skuldsatt och illa samman- Feldts Engagement für eine pragmatische satt ekonomi till nytt välstånd utan att Sozialdemokratie dauert bis heute an und egentligen anstränga sig eller någon an- spiegelt sich deutlich in seinen Aus- nan“, S. 39). führungen wider. Mit dezenter Genug- tuung hebt er hervor, dass die Partei nach Der greifbare Vorwurf, Feldt würde sich wie vor mit ihren wohlfahrtspolitischen im Nachhinein als Besserwisser aufspie- Grundsätzen bei den Wählern punktet. len, führt ins Leere. Wie eingangs ange- Allerdings sieht er dringenden Nachhol- deutet, hatte er in den 1980er Jahren zu bedarf darin, Reformpläne mit wirt- den wenigen sozialdemokratischen Füh- schaftspolitischer Kompetenz zu unterfüt- rungspersönlichkeiten gehört, die gegen tern und so auf eine solide Basis zu die Illusion des ewigen Wachstums und stellen. Wie dies am besten geschehen Wohlstands für eine nüchterne Realpolitik soll, schildert Feldt in Teil 2 anhand zahl- des „Dritten Weges“ eintraten. In der pro- reicher Beispiele, insbesondere der Ren- grammatischen Schrift Den tredje Vägen. ten-, (Voll-)Beschäftigungs- und Steuer- En politik för Sverige (Stockholm 1985) politik. Er informiert den Leser kennt- forderte er, dass die SAP von drei ihrer nisreich über die aktuellen Positionen der wichtigsten Ideetraditionen Abstand neh- SAP und legt in verständlicher Argumen- men müsse: die starke staatliche Investi- tation alle Widersprüche und Defizite of- tionspolitik, die stetige Steigerung der fen, die seines Erachtens einem Vertrau-

150 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen enszuwachs bei der Wählerschaft im We- ge stehen. Abschließend gibt er konstruk- tive Empfehlungen zur Verbesserung der Kommunikationsstrategien, der Mitglie- derwerbung und der Suche nach geeigne- ten Koalitionspartnern.

Im Kern erfüllt Feldts Schrift die klassi- schen Kriterien eines Essays: Sie ist streitbar und subjektiv gefärbt. Für den Außenstehenden kann sie dennoch eine gewinnbringende Lektüre sein – und zwar in zweierlei Hinsicht: Teil 1 bietet einen hellsichtigen Abriss der Geschichte der schwedischen Sozialdemokratie von 1930 bis in die jüngste Vergangenheit. Teil 2 richtet den Fokus auf die Entwicklungen der letzten sechs Jahre und lebt von seiner Aktualität. In summa eröffnen sich inte- ressante Vergleichsperspektiven, nicht nur, was die verschiedenen Hoch- und Krisenzeiten der SAP betrifft, sondern auch mit Blick auf die bundesdeutsche Sozialdemokratie und länderübergreifen- de Parallelen.

Michael März (Gotha)

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 151 Rezensionen

Kjetil Fallan (Hg.): Scandinavian Design. Alternative Histories. Lon- don/New York: Berg 2012, 306 S.

Design ist zentraler Bestandteil des skan- leichten und homogenen skandinavischen dinavischen Selbstbildes. Beispielen die- Designs fördert und erhält, gibt es er- ser Designtradition widmet sich die vor- staunlich wenig kritische Auseinanderset- liegende Aufsatzsammlung. Genau wie in zung mit diesem Phänomen. Stattdessen den 1950ern, als der Begriff „Scandinavi- wird nicht selten eine reduktionistische an Design“ gezielt für die internationale Erfolgsgeschichte wiederholt, in der im- Vermarktung von Gebrauchsgegenstän- mer wieder dieselben Namen und Objekte den und Möbeln vor allem aus Dänemark, vorkommen. Diese Feststellung leitet die Schweden und Finnland erstmals einge- von dem norwegischen Designhistoriker setzt wurde, sind unsere Assoziationen Kjetil Fallan herausgegebene Anthologie mit diesem Begriff heute noch in erster Scandinavian Design - Alternative Histo- Linie mit Attributen wie „hell“, „funktio- ries ein und dient zugleich als Ausgangs- nal“, „naturverbunden“ und „demokra- punkt der weiteren Diskussion in Fallstu- tisch“ verknüpft. Diese Schlüsselwörter dien. Das Buch versucht mit einem Fokus finden sich sowohl in Ausstellungskatalo- auf weniger bekannte Designobjekte an- gen wie auch in aktuellen Ausgaben von dere Sichtweisen zur Geschichte des Wohn- und Einrichtungsmagazinen wie- skandinavischen Designs aufzuzeigen. der. Ein fester Kern von Designobjekten Erst dieser Perspektivenwechsel weg von wird beständig reproduziert, und so sind den vorherrschenden „Master Narratives“ in Reportagen etwa Savoy-Vasen (Aalvar macht den Blick frei für Designgeschich- Alto, 1936) oder PH5-Lampen (Poul Hen- ten, die aus verschiedenen Gründen bis- ningsen, 1958) auf den Couch- oder über lang nur wenig beachtet und marginali- den Esstischen in hellen, weiß gestrichenen siert wurden. Doch gerade hier ist diese Wohnzimmern mit hohen Decken und ge- Fokusverschiebung längst überfällig. pflegten Holzdielenböden allgegenwärtig. Der Einleitung des Bandes folgt eine his- Während eine schier unendliche Menge toriographische Übersicht über die wich- von populären Hochglanzmagazinen und tigsten skandinavischsprachigen Publika- coffee table-Büchern das Renommee ei- tionen zum skandinavischen Design. Die nes in vielerlei Hinsicht besonderen, folgenden zwölf Beiträge sind von etab-

152 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen lierten Forschern des Feldes verfasst und schaftlich eingebettet ist. Ein gutes Bei- gliedern den Band in drei Hauptteile zu je spiel ist in diesem Zusammenhang die vier Beiträgen: Networks, Appropriations Diskussion über den künstlerischen Wert und Mediations. Ein knapper Epilog be- massenproduzierter Waren und den Um- schließt den Band und zeigt den zukünfti- gang mit Kopien oder Plagiaten, den Sti- gen Forschungsbedarf auf. na Teilmann-Lock aus Sicht der Entwick- lung des dänischen Urheberrechtes Die Einzelbeiträge beschäftigen sich mit beleuchtet. konkreten Objekten des öffentlichen Raums wie auch aus dem privaten Bereich; In Appropriations geht es um „Besitzer- sie umspannen das gesamte 20. Jahrhundert greifungen“, quasi „Übergriffe“ des De- bis heute. Nicht selten überrascht die Wahl signs auf nicht-dingliche Bereiche der der Forschungsgegenstände, wie z. B. im Gesellschaft. Nicht selten tangiert dies Falle des Pfandautomaten „Tomra“ (Bei- Weltanschauungen, wie am Beispiel des trag Jørgensen) oder einer norwegischen Beitrags von Christina Zetterlund deutlich Schokoladentafel (Kvaal & Øsby). In wird, in dem sie sich der Entstehungsge- jedem Fall sind die Beiträge lehrreich und schichte des so genannten „Arbeiterservi- oft unterhaltsam. In Übereinstimmung mit ces“ der Manufaktur Gustavsberg aus dem der Zielsetzung der Publikation wird der Jahr 1917 widmet. Dieses schwedische Blick über den Designer hinaus auch auf Service gilt als „gelungenes“ Beispiel Ingenieure und Betriebsleiter, Juristen und eines „demokratischen“ Designs, das auf- Konsumenten gerichtet. Die Beiträge zei- grund seiner schlichten Formgebung und gen in vielschichtiger Darstellung die geringen Produktionskosten breiten Ge- komplexen Beziehungen der einzelnen sellschaftsgruppen zugänglich sein sollte. Akteure untereinander und ihre Anteile in Zetterlund dekonstruiert dieses Bild über- der Designentwicklung sowie -umsetzung zeugend. Die Herstellung des Services auf. Einige Beispiele mögen diese Zu- mit dem Dekor „Lilien Blau“ (inspiriert sammenhänge illustrieren: von Fayencedekoren des 18. Jhds.) wird im Lichte des damaligen sozialpolitischen In Networks zeigt sich deutlich, wie unzu- Kontextes betrachtet, in dem es galt, die treffend das so oft gepflegte Bild des ein- Gruppe der Arbeiter durch die Förderung samen Genies am Skizzentisch ist und in von Traditionsbewusstsein und National- welchen komplexen Beziehungszusam- stolz besser in die Gesellschaft zu integ- menhängen das Designschaffen gesell- rieren. Doch sprach weder das Dekor die

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 153 Rezensionen adressierte Zielgruppe an, noch war das wurde von Vielen als „typisch Mittel- Service erschwinglich. schicht“ und nicht-finnisch abgewertet. Die Möbel versuchten, so Sarantola-Weiss, Kjetil Fallan, Herausgeber des Bandes, einer Sehnsucht nach kosmopolitischen widmet sich am Beispiel norwegischer Leben gerecht zu werden und dabei die Straßenbahnen aus Aluminium (in Betrieb bürgerliche Kultur zu idealisieren. Dieser ab 1937), die von der Bevölkerung um- Trend stand im Widerspruch zu der zeit- gangssprachlich als „Goldfische“ be- gleichen Rückbesinnung auf das ländliche, zeichnet wurden, der Entwicklung eines „echte“ Finnland – materiell manifestiert Designs infolge technischer Anforderun- in Flickenteppichen und abgebeizten gen. Hintergrund war das Bemühen der Bauernmöbeln. Die Autorin zeichnet die Osloer Verkehrsbetriebe, dem Konkur- Geschichte von „Tower“ als Gegenbei- renzdruck entgegenzuwirken, der durch spiel zu den vorherrschenden großen De- den in dieser Zeit rasant anwachsenden signgeschichten, in denen nicht selten Individualverkehr entstanden war. Über gerade die in großen Serien hergestellten die leichtere Aluminium-Bauweise und die Einrichtungsgegenstände anonymer Form- neue Stromlinienform konnten größere geber unsichtbar bleiben. Wagen eingesetzt und höhere Geschwin- digkeiten erzielt werden. Der Beitrag Im letzten Teil des Buches subsumieren macht deutlich, in wie weit Ingenieure Mediations Designbetrachtungen über so aus der technischen Problemstellung her- unterschiedliche Themen wie das sich über aus auch das Erscheinungsbild des Fahr- die Jahrzehnte wandelnde Design einer zeugs prägten. Zudem entsprach die Strom- Schokoladentafel (Kvaal & Østby), die linienform einem modernen, positiven fotografische Präsentation von Designob- und zukunftsgewandten Zeitgeist. jekten (Breunig), das Image der Marke Volvo in den USA (Werner) und finni- Minna Sarantola-Weiss skizziert einen sches Design im Schlachtfeld der Ideolo- gänzlich anderen Fall und analysiert die gien der 1960/70-Jahre (Korvenmaa). Popularität der finnischen Couchgarnitur Ohne dass diese Beiträge hier einzeln „Tower“ in den 1970er Jahren. Die mas- besprochen werden könnten, bleibt fest- senproduzierte Garnitur aus grünem zuhalten, dass jede dieser Betrachtungen Plüsch und Spanplattenrahmen entsprach wichtige Fallstudien zum behandelten in keiner Weise traditionellen Vorstellun- Themenkomplex ausmachen. gen vom „guten Geschmack“. „Tower“

154 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen

Fallan ist mit der vorliegenden Antholo- gie mit ihrer alternativen Sicht auf „das“ skandinavische Design ein längst überfäl- liger und gegenwartsbezogener Beitrag zu einer zeitgemäßen Designbetrachtung gelungen. Die Autoren und Autorinnen haben mit aller wünschenswerten Klarheit zeigen können, welches Potential Studien „jenseits der Ahnengalerie“ für ein erwei- tertes Verständnis der Designgeschichte bieten. Sicherlich aber bleibt der einfachs- te Weg für die internationale Vermarktung des Labels „Scandinavian Design“ bis heute die Herausstellung der Homogenität der Formensprache.

Emma Bentz (Neuwied)

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 155 Rezensionen

Robert von Lucius: Drei Baltische Wege. Litauen, Lettland, Estland – zerrieben und auferstanden. Halle, Mitteldeutscher Verlag GmbH, 2012, 206 S., 2. Auflage

Das Sachbuch des Journalisten Robert Hauptaugenmerk auf Politik, Wirtschaft von Lucius ist eine Reise durch die drei und Kultur. Dabei werden Rückblicke in Staaten Estland, Lettland und Litauen, die geschichtliche Entwicklung, welche die zusammenfassend im deutschen erst das Verständnis der heutigen Situati- Sprachraum – auch vom Autor – häufig on ermöglichen, immer wieder einge- als „baltische Staaten“ beschrieben wer- flochten. den, wenngleich sie sich in Sprache, Re- ligion und Selbstverständnis deutlich Das Buch gliedert sich in acht Kapitel. voneinander unterscheiden (vgl. Erklä- Einer kurzen, aber sehr übersichtlichen rung hierzu S. 11-12). Einführung, in der von Lucius auf die Geschichte und aktuelle wirtschaftliche Der gebürtige Berliner und studierte Poli- und politische Situation eingeht, folgen tologe und Rechtswissenschaftler von einzelne Länderkapitel zu jedem der drei Lucius war von 2001 bis 2006 Nordeuro- Staaten. Auch hier finden sich geschicht- pa-Korrespondent der Frankfurter Allge- liche Rückblicke auf die Zeit der ersten meinen Zeitung (FAZ) in Stockholm. Die Unabhängigkeit, über die Zeit der Besat- Texte im Buch „Drei Baltische Wege“ zung und der erneuten Unabhängigkeit sind Analysen und Reportagen aus vor- der Staaten 1991. Auf die deutschen Spu- nehmlich dieser Zeit, die aktualisiert und ren, politisch und kulturell, wird in jedem ergänzt im journalistischen Stil über die Kapitel eingegangen, vor allem aber auf drei Staaten an der Ostsee berichten. Dass die Gegenwart, auf positive und negative das Buch sich auf verschiedene Artikel Entwicklungen in den Staaten. Den drei aus den Jahren 2001 bis 2011 stützt, Länderkapiteln folgen thematische Ka- merkt der Leser an manchen Wiederho- pitel über deutsche Wurzeln, jüdische lungen oder Sprüngen, die dem Lesever- Spuren, Künstler im Widerstand gegen gnügen jedoch nicht abträglich sind. Die Hammer und Sichel, die Lasten der Ver- Texte lesen sich dank der bildlichen Spra- gangenheit sowie über die Beziehungen che sehr anschaulich und flüssig als eine zu Nachbarn bzw. Nachbarstaaten, haupt- Art Zusammenfassung der Geschichte des sächlich zu den Neuen Unabhängigen Umbruchs der drei Staaten, mit dem Staaten. Neben der Beziehung der drei

156 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen

Staaten zu Russland geht von Lucius ins- herer Stützpunkt der sowjetischen Armee besondere auf die Rolle Litauens als Brü- und Sperrgebiet, oder der Distrikt Limba- ckenbauer (S. 186 ff.), insbesondere nach zi (S. 74), der trotz dünner Besiedlung und Weißrussland, ein, aber auch auf strittige hoher Arbeitslosigkeit gleich fünf Museen Fragen in der Energiepolitik (S. 176 ff.) aufweisen kann, die Dichtern gewidmet oder den „Cyberkrieg“, dem sich Estland sind. Dies sind nur zwei Beispiele für die 2007 nach den Unruhen im Zusammen- zahlreichen kulturell und touristisch inte- hang mit der Versetzung eines sowjeti- ressanten Orte, die der Autor besucht hat schen Kriegerdenkmals in Tallinn ausge- und beschreibt. setzt sah (S. 183 ff.). In den einzelnen Länderkapiteln als auch in den Themen- Ausführlich thematisiert werden die frü- kapiteln wird die Bedeutung von Literatur heren und heutigen ethnischen und natio- und Liedgut hervorgehoben, die bei dem nalen Minderheiten – ob beispielsweise Aufbau der Nationalstaaten, der Wiederer- die Karäer (S. 144 ff.) oder die (Aufarbei- langung der Unabhängigkeit und schließ- tung der) Geschichte und Gegenwart der lich der „singenden Revolution“ (vgl. S. jüdischen Bevölkerung, vor allem in Li- 152 ff.) eine wichtige Rolle spielten. tauen (S. 138 ff.).

Illustriert wird das Buch zum einen von Auch kontroverse Themen wie der Um- schwarz-weiß Fotografien des Autors im gang mit russischsprachigen Minderheiten Textteil, zum anderen von drei eingefüg- werden angesprochen. Dies bezieht sich ten farbigen Bildtafelteilen in den Län- vornehmlich auf Estland und Lettland, derkapiteln des Fotografen Dirk Bleyer. das den größten Anteil an russischspra- In der vorderen und hinteren Cover- chiger Bevölkerung aufweist und zugleich Innenseite befinden sich – eine Neuerung einen hohen Anteil an „Nicht-Bürgern“, in der 2. Auflage – Übersichtskarten der die zwar ein Aufenthaltsrecht genießen, beschriebenen Staaten. Auf diesen sind aber beispielsweise kein Wahlrecht. Bei die Hauptstädte und größere Regionen der Beschreibung der Entwicklung der eingezeichnet, jedoch nicht alle in den Minderheitenpolitik stützt sich von Luci- Kapiteln beschriebenen Orte und Land- us größtenteils auf Veränderungen, die striche. Dies würde die Berichte für die vor dem Beitritt der drei baltischen Staa- Leser noch greifbarer machen, vor allem ten zur EU eingeleitet wurden. Zwar hat dann, wenn von Wohngebieten von Min- sich die Situation der Minderheitenange- derheiten, kleinen Ortschaften und Land- hörigen seit dem EU-Beitritt und verbes- strichen berichtet wird, wie beispielweise sert, doch gibt es immer noch viele Dis- die lettischen Orte Kolka (S. 67), ein frü- kussionspunkte, die sich u. a. bei der

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 157

Sprachengesetzgebung, dem Umgang mit der eigenen Geschichte oder den Erinne- rungskulturen der drei Länder und Russ- lands zeigen.

Die erste Auflage des Buches erschien 2011, die zweite bereits 2012. In der zweiten Auflage wurden hauptsächlich kleine Korrekturen vorgenommen, einige aktuelle politische und wirtschaftliche Daten ergänzt (wie das Gesetz zur Ent- schädigung enteigneten jüdischen Vermö- gens in Litauen oder die lettische Volks- abstimmung zur Sprachpolitik 2012), Landeskarten und Landesnamen in der Originalsprache hinzugefügt.

Für Leser mit geringen Vorkenntnissen ist das Buch eine gelungene Einführung in die bewegte Vergangenheit und Gegen- wart der drei Staaten an der Ostsee, ge- tragen von der Sympathie und dem Inte- resse des Autors an der Region, auch als Reiselektüre zu empfehlen. Aus wissen- schaftlicher Sicht zu kritisieren sind die fehlenden Quellenangaben, gerade in Be- zug auf die zahlreichen historischen und wirtschaftlichen Daten. Zwar enthält das Buch ein Quellenverzeichnis, doch finden sich dort nur Angaben zu den verwende- ten und bereits vom Autor in der FAZ publizierten Artikeln.

Inken Dose (Berlin)

158 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen

Gesine Herrmann: Die deutsche Baltikumspolitik 1988–2004. Zwi- schen Ablehnung, Unterstützung und Zurückhaltung. Hamburg: Dr. Kovač 2012, 122 S.

Die Unterzeile dieses Titels hätte auch erwartenden wissenschaftlichen Genauig- schärfer ausfallen können – Gesine keit und Distanz; andererseits spricht sie Herrmann verwendet im Resümee ihrer die politischen und diplomatischen Ver- trefflichen Untersuchung den Begriff säumnisse mit der nötigen Deutlichkeit Opportunismus. Damit ist benannt, wie an. Mit besonderem Vergnügen liest man deutsche Politik, Diplomatie und Wirt- ihre Kritik an der deutschen Politikwis- schaft seit der Wende auf die neue Situa- senschaft, die sich nicht sonderlich ver- tion im Baltikum reagiert haben: Aus dient gemacht hat um die Aufarbeitung Rücksicht auf Russland hat sich die der zeitgeschichtlichen deutschen Balti- deutsche Politik ausgesprochen zurück- kumspolitik (das gilt schon für die Zeit haltend, bisweilen gar bremsend auf dem vor der Wende). Unserer Innung sind die Weg dieser Länder „in den Westen“ ver- gleichen Vorwürfe zu machen wie der halten. Im Baltikum selbst sind sogar viel deutschen Politik – und Gesine Herrmann schärfere Formulierungen gebraucht wor- tut dies. Sie nennt die vorliegende wis- den – etwa während des Georgien- senschaftliche Literatur „überschaubar“. Krieges, auf dessen Auswirkungen in und In gewisser Weise wird mit dieser Arbeit für Litauen, Lettland und Estland Herr- also wissenschaftliches Neuland betreten. mann allerdings nicht eingeht. Die Paral- Auf die Rolle der skandinavischen Län- lele zum Molotow-Ribbentrop-Pakt von der, hier insbesondere Island und Däne- 1939 wird böse zitiert, wenn baltische mark, hätte sie gerne eingehen dürfen, Politiker auf die deutsche Rücksichtnah- hatte doch deren diplomatisches und poli- me auf russische Interessen zu sprechen tisches Agieren einen entscheidenden, kommen. wenn auch symbolischen Anteil an der Wiedergewinnung der Souveränität der Wie dem auch sei: Mit diesen Andeutun- baltischen Staaten. Am ertragreichen Er- gen ist auf das verminte Terrain, auf dem gebnis der kleinen Untersuchung tut die- sich Herrmann bewegt, hingewiesen. Sie ser Mangel aber keinen Abbruch. tut dies einerseits vorsichtig, mit der zu Bernd Henningsen (Berlin)

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 159 Rezensionen

Jens E. Olesen (Hg.): Dänemark und Pommern. Sachthematisches Ar- chivinventar zu den Beständen an Pomeranica und Sueco-Pomeranica im dänischen Reichsarchiv in Kopenhagen. bearb. Und mit einer Ein- leitung versehen von Joachim Krüger. Greifswald 2010 (= Publikatio- nen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte; 12), 287 S.

Dänemark und Pommern, das ist kein Reichsarchives erstellt hat. Das Ziel des Begriffspaar, welches man auf den ers- vorliegenden Bandes ist nämlich nicht die ten oder zweiten Blick miteinander in archivarische Erschließung neuer Bestän- Verbindung bringen würde. Auch das de, sondern der Bau einer Brücke für Reichsarchiv in Kopenhagen ist nicht un- auswärtige Benutzer, denen die intime bedingt der Ort, an dem man wichtige Kenntnis und auch die Zeit für ausge- Pomeranica vermuten würde; verstreute dehnte Archivrecherchen fehlt. Diesen Einzelbelege selbstverständlich, so wie in Zweck erfüllt der vorliegende Band nicht jedem Archiv, aber Wichtiges? Nein, das nur, sondern er übertrifft die an ihn ge- scheint ausgeschlossen. stellten Erwartungen bei weitem, hat Joa- chim Krüger schließlich nicht einfach nur Insofern ist der vorliegende Band eine Archivsignaturen zusammengestellt, son- Überraschung - und das aus mehreren dern die Bestände auch wirklich gesehen. Gründen. Zum einen, und das sei vorweg Der Bearbeiter ist daher in der Lage, gesagt, da Pommern eine fast ebenso enge nicht nur auf mögliche Fundstellen hin- Verbindung zu Dänemark besaß wie zu zuweisen, sondern auch einen ungefäh- Schweden, und zum anderen, da die Läufe ren inhaltlichen Überblick darüber zu der Zeit auch Bestände anderer Provenienz geben, was den Benutzer bei einem spe- nach Kopenhagen verschlagen haben, die ziellen Bestand erwartet. man dort eigentlich nicht vermuten würde. Selbstverständlich sind Archivrecherchen Aus diesem Grund ist es nur auf den ers- immer von dem jeweiligen Forschungs- ten Blick verwunderlich, dass ein Außen- objekt abhängig, und auch der Bearbeiter stehender, nicht am Archiv Angestellter, hat mit Sicherheit nicht alle Aspekte er- ein Inventar für einen Sachbereich des fassen können, dieses kann nicht erwartet

160 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen werden. Insofern ist es schwer, die Wich- welches 1678 nach Stockholm evakuiert tigkeit oder die Unwichtigkeit des Ko- werden sollte, aber vor Bornholm in ei- penhagener Archives im allgemeinen zu nem Schiffbruch strandete, und dann zum beschreiben. Aber nichtsdestominder soll Teil in Dänemark verblieb. Dieses Archiv an dieser Stelle auf vier Bereiche hinge- wird durch andere zufällige Beutestücke wiesen werden, die allein durch ihre, von ergänzt. Hier ergeben sich sicherlich Joachim Krüger nun erneut öffentlich neue, ergänzende Hinweise zu den in gemachte, Präsenz und ihren Umfang Stockholm verwahrten Dokumenten. einen eigenen Forschungsschwerpunkt ergeben könnten. Abschließend soll viertens auf die Akten des dänischen Konsulates in Stettin ver- Zum ersten, und das mag vielleicht noch wiesen werden, welches, trotz der Zerstö- bekannt sein, gehörte die Insel Rügen seit rung des Konsulatsgebäudes während ihrer Eroberung 1168 bis ins 17. Jahrhun- eines Bombenangriffes, bis 1945 die Ar- dert unter das dänische Bistum Roskilde. beit aufrecht erhielt. Diese Akten ermög- Die aus dieser Situation heraus entstan- lichen einen direkten Einblick in die rein den Dokumente gehen dabei weit über praktische Arbeit eines dänischen Kon- das Staatsrechtliche hinaus, sondern suls während der NS-Zeit und unter den betreffen u.a. ganz konkret z.B. den Bi- Wirren des Krieges und der Besatzung. schofsroggen, den Einfluss des dänischen Königs als oberster Kirchenherr nach der Die vorliegende Auswahl ist selbstver- Reformation und viele andere Dinge. ständlich subjektiv und keinesfalls reprä- sentativ. Sie soll aber zeigen, dass der Zum zweiten soll explizit auf die Bestän- vorliegende Band auch als Katalog zu- de hingewiesen werden, die aus der Er- künftiger Forschungsaufgaben gelesen oberung und Annexion Pommerns durch werden kann. Dieser Eindruck wird dann Dänemark 1716-1721 entstanden sind. noch durch die fundierte Einleitung (S. 9- Hier liegt Material vor, welches die be- 26) verstärkt, die vor allem eine Aufzäh- kannten Archivalien zur schwedischen lung von Desiderata darstellt. Im Schatten Verwaltung dieses Landes ergänzen kann. der alles überragenden Forschungen zum schwedisch-pommerschen Verhältnis ist Zum dritten, und das ist nur eines der das Pflänzchen Dänemark schon vor lan- Beispiele für die unerwarteten Funde in ger Zeit eingegangen. diesem Archiv, beherbergt das Reichsar- chiv in Kopenhagen Teile des schwe- Joachim Krügers „Dänemark und Pom- disch-pommerschen Verwaltungsarchives, mern“ ist ein wichtiges Hilfsmittel für

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 161 Rezensionen alle, die das Reichsarchiv in Kopenhagen besuchen wollen. Seine Erläuterungen zu den einzelnen Beständen geben auch For- schern aus anderen Regionen eine wichti- ge Hilfestellung bei der Vorbereitung ih- res Archivaufenthaltes. Der Band ist zugleich eine einzige Aufforderung, neue, bisher unbekannte Forschungsfelder zu erschliessen. Und zuletzt ist er auch eine Aufforderung dazu, weniger bekannte Archive mehr in den Blick zu nehmen und neue Wege zu beschreiten.

Carsten Jahnke (Kopenhagen)

162 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen

Gisela Graichen, Rolf Hammel-Kiesow: Die deutsche Hanse. Eine heimliche Supermacht. Unter Mitarbeit von Alexander Hesse. Rein- bek: Rowohlt 2011, 410 S.,

Im ZDF wurden 2011 in der populärwis- ein wirtschaftspolitischer Zweckverband senschaftlichen Sendereihe „Terra X“ niederdeutscher Kaufleute und Städte, in zwei Teile über die Hanse gesendet – we- deren Räten niederdeutsche Fernhändler niger „Doku“ als vielmehr „fiction“. entweder die Mehrheit haben oder eine gewichtige Rolle spielen und deren Kauf- Im selben Jahr erschien der von der ZDF- leute seit dem 13. Jahrhundert die Privi- Autorin Gisela Graichen und dem Lübe- legien des gemenen kopmans im Ausland cker Hansehistoriker Rolf Hammel- nutzen.“ Kiesow verantwortete Band „Die deut- sche Hanse“ – leider mit der Übernahme Insgesamt ist feststellbar, dass Filme und des Untertitels aus der Fernsehserie „Die Buch nicht viel gemeinsam haben, wenn heimliche Supermacht“. Ähnlich reiße- auch wichtige geschichtliche Phasen, die risch auch der Text auf dem Schutzum- im Film szenisch geschildert werden, schlag: „Visionär und unerbittlich: Die ebenfalls im Buch dargestellt werden. Hanse, das erste Imperium der Kaufleute. Teilweise wirken Abschnitte des Buches Die Erfolgsgeschichte einer europäischen dann wie ein Drehbuch zum Film (beson- Supermacht, die einen ganzen Kontinent ders deutlich z. B. in den Kapiteln eins prägte.“ Dieser Stil prägte glücklicherweise und sechs, in denen in Film und Buch lediglich die filmische Inszenierung – der Einzelpersonen im Mittelpunkt stehen). hier vorzustellende Text bleibt nüchterner Auch die relativ kleinteilige Gliederung in und der historischen Realität näher, ohne Kapitel und vor allem die üppige, ganz dabei langweilig oder trocken geschrie- ausgezeichnete Bebilderung des Bandes ben zu sein. So findet sich auf S. 119 eine zeigen die Nähe zur filmischen Produktion. wirklich gelungene Beschreibung der Hanse, die inhaltlich Ähnliches wie auf In den Darstellungen geht es hingegen dem Schutzumschlag aussagt, aber viel zumeist sachlicher zu, die Vorgehenswei- prosaischer und exakter ist: „Die dude- se im Text mischt geschickt historische sche hense, die 1358 ausgerufen wird, ist Abfolge und sachliche Zusammenhänge,

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 163 Rezensionen so dass bei Interesse auch jedes Kapitel kommt er nichts auf die Reihe.“ (S. 209), für sich allein gelesen werden kann. Al- er trifft aber schließlich „eine kluge Ent- lerdings fällt beim konsequenten Lesen scheidung“, indem er Selbstmord begeht von Anfang bis Ende auf, dass es einige (S. 210). Diese Wortwahl diskreditiert den Wiederholungen im Text gibt (vgl. z. B. wissenschaftlichen Anspruch, den Autorin S. 20), und dass manchmal auch in ein- und Autor wohl durchaus vertreten möch- zelnen Kapiteln zwischen verschiedenen ten. Zumindest deutet darauf hin, da zahl- Themen unmotiviert gesprungen wird. reiche Quellenzitate in Niederdeutsch und Einige Male ermüden zudem allzu lange auf Latein abgedruckt werden (manchmal Aufzählungen von Namen, Daten oder sogar ohne hochdeutsche Übersetzung, Gegenständen, die zumeist in den Dia- vgl. z. B. viele Beispiele auf S. 57). grammen bzw. Karten auch und dort bes- ser platziert sind. Diese Karten sind zwar Sehr gelungen erscheint das vorletzte 14. leider einige Male recht klein geraten, Kapitel, in dem systematisch die unter- aufgrund der vorzüglichen Druckqualität schiedlichen Erklärungsansätze für den sind sie aber trotzdem vorzüglich les- und Niedergang der Hanse geschildert und interpretierbar. bewertet werden. Etwas enttäuschend hingegen das letzte Kapitel zum Nachle- Bei der Darstellung historisch Handelnder ben der Hanse, hier hätte zur (auch politi- scheint das eine und andere Mal die popu- schen) Rezeption der Hansegeschichte läre Sichtweise des Mediums Fernsehen sicherlich noch weiter ausgeholt werden durch. So wird z. B. von einer „gemeinen können. Intrige“ (S. 143) gesprochen. Manche Analogiebildungen zu modernen Ereignis- Einige Kleinigkeiten sind ärgerlich, so sen und Entwicklungen wirken gezwun- wenn auf S. 140 zunächst steht, dass im gen, gar verunglückt, wenn beispielswei- Laufe der Pestepidemien ein Drittel der se die Bildung einer „corporate identity“ Weltbevölkerung stirbt – und dann im der Hanse unterstellt wird oder die anfäng- folgenden Abschnitt behauptet wird, dass liche Unterstützung des dänischen Königs Norddeutschland besonders hart getroffen einen „Taliban-Effekt“ (S. 131) herbeiführ- wird, denn ein Drittel der Bevölkerung te. Auf diese Formulierungen hätte man wird dahingerafft – also prozentual doch gern verzichten können. Negativ fällt in genauso viel wie insgesamt in der Welt? diesem Zusammenhang besonders das Hier scheinen mir die Bezüge nicht klar zu achte Kapitel auf, in dem es u. a. heißt: sein. Geärgert hat mich zudem die für ein „Volkes Zorn gärt weiter“ (S. 205) oder Nordeuropa behandelndes Buch unmögli- „Hinrich ist ein Loser. Geschäftlich be- che Benennung „Färöer-Inseln“ (S. 328).

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Das ist schon bei einer Fußballreportage nicht zu ertragen. Und verunglückt ist sicherlich die Formulierung: „Wismar […] lag damals [in den 1950erJahren] in der ehemaligen DDR.“

Inhaltlich ist an der Darstellung ansonsten nichts auszusetzen, sogar die in anderen Handbüchern zur Hansegeschichte ausge- sparte Bedeutung der Frauen wird aus- führlich gewürdigt – allerdings wird die- ses Thema fast ausschließlich, dafür aber sehr gründlich, im neunten Kapitel aufge- griffen.

Zusammenfassend ist dieser Band wirk- lich zu empfehlen aufgrund der ausge- zeichneten Abbildungen, Illustrationen und Karten, die nur zu einem Teil auch in allen anderen Übersichtswerken zur Han- segeschichte auftauchen. Ihre Freude wer- den all die an dem Buch haben, die als interessierte Laien den lockeren, teilweise „menschelnden“ Text als Einführung in die neuzeitliche Geschichtsschreibung zur Hanse lesen möchten. Fachwissenschaft- ler hingegen werden sich an dem popula- risierenden, in die Psyche handelnder Personen eindringenden Text eher stören.

Reinhold Wulff (Berlin)

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 165 Rezensionen

Michael Jonas: NS-Diplomatie und Bündnispolitik 1935–1944. Wipert von Blücher, das Dritte Reich und Finnland. Paderborn u.a.: Schö- ningh 2011, 687 S.

Michael Jonas’ äußerst umfangreiche lers „Emanzipationspolitik“ vom Versail- Studie behandelt die diplomatische Tätig- ler Frieden und die Großmachtambitionen keit und die außenpolitischen Zielsetzun- der nationalsozialistischen Regierung gen Wipert von Blüchers, der von 1935 durchaus unterstützten, zu Ideologie und bis 1944 – d.h. bis zum Abbruch der Führungspersonal des NS-Staates aber in deutsch-finnischen Beziehungen infolge spürbarer Distanz verblieben. Seinen Vor- des sowjetisch-finnischen Waffenstillstan- gesetzten in der Wilhelmstraße – in erster des – als deutscher Gesandter in Helsinki Linie Neurath und dem späteren Staats- amtierte. 1883 als Sohn des späteren sekretär Ernst von Weizsäcker – verdankte großherzoglich-mecklenburgischen Finanz- er es auch, dass er 1935 als Gesandter ministers Ulrich-Vicco von Blücher in nach Helsinki versetzt wurde. Schwerin geboren, studierte Wipert von Blücher Jura und trat im Jahre 1911 in Blüchers diplomatische Korrespondenz den Auswärtigen Dienst ein. Während des und seine Denkschriften seit dem Amts- Ersten Weltkrieges mit Aufträgen in Ma- antritt in Helsinki ausführlich analysie- rokko und im Osmanischen Reich betraut, rend, zeigt Jonas, dass die finnlandpoliti- verblieb Blücher auch nach dem Zusam- schen Zielsetzungen des neuen Gesandten menbruch des Kaiserreiches im diploma- in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg tischen Dienst, obwohl er der politischen im Ganzen der Richtung folgte, welche Ordnung der Weimarer Republik wie vie- die deutsche Außenpolitik seit dem ausge- le seiner Berufskollegen prinzipiell ab- henden Kaiserreich eingeschlagen hatte. lehnend gegenüberstand. Deutschland wurde in diesen Denkmus- tern als „Geburtshelfer“ bzw. als „Pate“ des Zum Zeitpunkt von Hitlers Machtergrei- 1917 unabhängig gewordenen Finnland fung zählte Blücher, wie Jonas schlüssig aufgefasst. Im Rahmen der so genannten ausführt, zur „alten Garde“ national- Randstaatenpolitik, die – als Gegengewicht konservativer Diplomaten im Kielwasser zum französischen Bündnissystem – aus des Außenministers von Neurath, die Hit- der Konkursmasse des Russischen Impe-

166 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen riums im Nordosten Europas möglichst Finnland sowie ganz Skandinavien entwi- deutschlandfreundliche Staaten etabliert ckelte, welche der durch den deutschen sehen wollte, spielte das Land sogar eine Einmarsch in Dänemark und Norwegen Schlüsselrolle. Vor diesem Hintergrund praktizierten Okkupationspolitik grund- betrachteten die Verantwortlichen der sätzlich zuwiderlief. Ohne der nationalso- Weimarer Außenpolitik die handelspoliti- zialistischen Ideologie der „nordisch- sche Annäherung Finnlands an Großbri- germanischen Rassegemeinschaft“ selbst tannien, aber auch jegliche intensivere anzuhängen – einem ideologischen Zerr- Anbindung Finnlands an die skandinavi- bild, in welches Finnland aufgrund seiner schen Länder – vor allem an Schweden – sprachlich-ethnischen Eigenschaften ohne- mit Argwohn. Dementsprechend suchten hin nicht hineinpasste –, vertrat Blücher in sie auch dem Einfluss von Personen wie seiner diplomatischen Korrespondenz mit dem dezidiert anglophilen Außenminister der Wilhelmstraße den Standpunkt, dass Rudolf Holsti (1919–1922 sowie Deutschland an der Aufrechterhaltung der 1937/38) entgegenzuwirken. Selbständigkeit der nordischen Länder unbedingt interessiert sein müsse: Diese Jonas zeigt, dass Blücher während seiner seien „autochthone Bauerndemokratien“, ersten Jahre in Finnland die Beziehungen aus deren inneren Angelegenheiten sich zu den traditionell germanophilen Krei- Deutschland weitgehend heraushalten solle sen der finnischen Konservativen und (S. 335). Er registrierte darüber hinaus, in Militärs Stück für Stück ausbaute. An- welchem Maße die deutsche Politik in dererseits wahrte der deutsche Gesandte den besetzten Ländern beim „Waffenbru- ungeachtet gelegentlicher pflichtschul- der“ Finnland Befremden hervorrief. Dies diger Bekundungen in seiner diplomati- machte er auch gegenüber seinen Vorge- schen Korrespondenz eine deutliche setzten deutlich, weswegen er zeitweise Distanz zum institutionellen Nachfolger mit Außenminister Ribbentrop in Konflikt der nationalistisch-faschistischen Lapua- geriet und von diesem im Sommer 1943 Bewegung, der „Vaterländischen Volksbe- vorübergehend aus Helsinki abgezogen wegung“ (Isänmaallinen Kansanliike), und wurde. er zeigte sich insgesamt bestrebt, jeglichem Einfluss der NSDAP auf politische und Andererseits – auch dies macht der Ver- gesellschaftliche Organisationen in Finn- fasser deutlich – stand für Blücher unum- land nach Möglichkeit entgegenzutreten. stößlich fest, dass Deutschland im Ostsee- raum und damit auch für Finnland Jonas zeichnet auf, wie Blücher während zumindest informell Hegemonialmacht des Krieges eine Haltung gegenüber sein müsse. Das Land sollte nach seinem

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Verständnis zwar in seinen innenpoliti- reich vor dem Hintergrund der Hitler- schen Angelegenheiten eigenständig, au- schen Aggressions- und Okkupationspoli- ßenpolitisch aber sehr wohl ein Satellit tik befinden musste – zumal wenn er, wie des Deutschen Reiches sein. Von daher dies bei Blücher zweifelsohne der Fall lässt sich erklären, dass Blücher im Jahre war, dem Land, in welches er entsandt 1944 – als die deutsche Führung einen war, persönliche Sympathien entgegen- Separatfrieden zwischen Finnland und der brachte. Sowjetunion befürchtete – im grundsätz- lichen Einklang mit der nationalsozialisti- Es lässt sich freilich einwenden, dass schen Führung massiven Druck auf Prä- Blücher mit seiner Einstellung im Appa- sident Ryti und die finnische Regierung rat des Auswärtigen Amtes – zumal in auszuüben suchte. Nunmehr trat auch er dessen Nordeuropa-Abteilung – keines- als entschiedener Verfechter unverhüllter wegs allein stand. Vielmehr sind vor al- deutscher Machtpolitik gegenüber dem lem die Ähnlichkeiten zwischen seinen „Waffenbruder“ in Erscheinung. Eine sol- Vorstellungen und denjenigen Werner von che Haltung war für ihn ungeachtet seiner Grundherrs offenkundig – des Leiters Distanz zur nationalsozialistischen Ideo- ebenjener Nordeuropa-Abteilung, der logie in der Prämisse begründet, dass die bereits während der zwanziger Jahre für nationalen Interessen Deutschlands auch die Ausrichtung der deutsch-finnischen gegenüber einem „befreundeten“ Staat Beziehungen eine tonangebende Rolle stets prioritär seien. Dies galt für Blücher gespielt hatte. Das diplomatische Wirken eben auch dann, wenn – wie er es aus der Blüchers in Finnland war in vielem von Rückschau nach dem Kriege formulierte erheblicher Kontinuität gekennzeichnet – „die Interessen des deutschen Volkes und nur zum Teil von originär neuen An- und des Regimes zusammenfielen“ sätzen. Der Analyse des Blücherschen (S. 629). Gedankengutes, das Jonas in denkbar aus- führlicher Form erschließt, wohnt vor Mit seiner detaillierten Studie hat Jonas diesem Hintergrund nicht überall ein eine lückenlose politische Biographie gleichbleibend hoher Erkenntniswert in- Wipert von Blüchers vorgelegt, die vor ne. allem durch ihren imponierenden Quel- lenfundus besticht. Es gelingt ihm, an- Ein Werk, das die deutsch-finnische Dip- hand der Person Blüchers das spezielle lomatiegeschichte zur Zeit des Zweiten Dilemma deutlich zu machen, in dem sich Weltkrieges behandelt, muss nahezu ein nationalkonservativer Diplomat mit zwangsläufig die Frage nach der Natur weltanschaulichen Wurzeln im Kaiser- der „Waffenbrüderschaft“ von 1941 bis

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1944 bzw. nach Mythos und Wahrheit der tige Amt und seinen Vertreter in Helsinki These vom finnischen „Sonderkrieg“ zutraf. Wenngleich natürlich nicht ausge- aufwerfen. Jonas widmet sich dieser Fra- schlossen werden kann, dass die verfüg- ge denn auch in prinzipiell sachkundiger baren Quellen im Hinblick auf dieses Weise (siehe z.B. S. 289–302). Indessen Forschungsdesiderat keinen befriedigen- fällt auf, dass die teilweise enge Zusam- den Aufschluss liefern, wäre hier dennoch menarbeit von Geheimpolizei- und Mili- ein ausführlicheres Eingehen auf die Er- tärbehörden beider Länder bei der gegen- gebnisse der relevanten finnischen For- seitigen Auslieferung von Internierten schung gewinnbringend gewesen. und Kriegsgefangenen – ein Aspekt, der seit einigen Jahren als gut erforscht gelten Angesichts des insgesamt großen Wertes kann (Elina Sana: Luovutetut. Suomen von Jonas’ Studie (die auch in finnischer ihmisluovutukset Gestapolle [Die Ausge- Übersetzung vorliegt: Kolmannen valta- lieferten. Finnische Auslieferungen von kunnan lähettiläs. Wipert von Blücher ja Menschen an die Gestapo]. Helsinki 2003; Suomi. Helsinki: Gummerus 2010) fallen Oula Silvennoinen: Salaiset aseveljet. Su- die hier benannten kleineren Mängel in- omen ja Saksan turvallisuuspoliisiyhteistyö dessen kaum ins Gewicht. Vielmehr muss 1933–1944 [Heimliche Waffenbrüder. Si- betont werden, dass dem Autor eine über- cherheitspolizeiliche Zusammenarbeit zwi- zeugende, vor allem durch ihren Quellen- schen Finnland und Deutschland 1933– reichtum beeindruckende Arbeit gelungen 1944]. Keuruu 2008; außerdem die Er- ist, die sich insgesamt mit großem Ge- gebnisse des am Finnischen Nationalar- winn liest und die unser Wissen über die chiv angesiedelten Forschungsprojektes heikelste, bis heute umstrittenste Periode „Suomi, sotavangit ja ihmisluovutukset in den deutsch-finnischen Beziehungen 1939–1955 [Finnland, Kriegsgefangene wesentlich vertieft. und Auslieferungen von Menschen 1939– 1955]“) – in seiner Betrachtung nur am Frank Nesemann (Speyer) Rande Berücksichtigung findet. Da nachweislich nicht allein die Spitzen von Militär und Sicherheitsorganen, sondern auch Teile der finnischen Regierung, vor allem aber Außenministerium und diplo- matischer Dienst in die Auslieferungen von Internierten und Kriegsgefangenen einbezogen waren, liegt die Frage nahe, inwieweit dies ebenfalls auf das Auswär-

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Bengt Gustafsson: Sanningen om ubåtsfrågan – ett försök till analys. Stockholm: Santérus förlag, 2010, 389 S.

Als am 27. Oktober 1981 das sowjetische gezielt gegen die von Ola Tunander auf- U-Boot S 363 – das in Schweden die fan- gestellte These, die US-Regierung habe in tasievolle und an deutsche U-Boote erin- den 1980er Jahren mit Unterstützung der nernde Bezeichnung U 137 erhielt – etwa britischen Regierung nach der Havarie fünf Seemeilen vor Karlskrona in schwe- des sowjetischen U-Bootes S 363 in der dischen Hoheitsgewässern auf Grund lief, schwedischen Öffentlichkeit unter Einsatz war der Autor des vorliegenden Buches von NATO-Seestreitkräften zusätzlich Offizier der schwedischen Armee und antisowjetische Ressentiments schüren Kommandeur des Pionierregiments Svea- wollen. Ihr Ziel sei dabei gewesen, die land. 1986 stieg Gustafsson zum Oberbe- Regierung Olof Palmes innenpolitisch so fehlshaber der schwedischen Streitkräfte unter Druck zu setzen, dass diese einen auf. Rückblickend diskutiert er in dem außenpolitischen Kurswechsel mit einer Band eines der zentralen Themen der engeren Westanbindung Schwedens ein- schwedischen Öffentlichkeit während der leiten müsse (Ola Tunander: Hårsfjärden 80er Jahre des 20. Jahrhunderts: die See- – det hemliga ubåtskriget mot Sverige. lage vor der schwedischen Küste, in der Stockholm: Norstedts, 2001). insbesondere die angeblichen Aufklä- rungsfahrten sowjetischer U-Boote Wo- Im Einzelnen möchte Gustafsson drei An- gen schlugen. Mit dem Buch, das in der liegen klären, nämlich ob tatsächlich Serie Försvaret och det kalla kriget fremde Kriegsschiffe unbefugt in die (FOKK; Die Verteidigung und der Kalte schwedischen Hoheitsgewässer eindran- Krieg) erschienen ist, verfolgt der Verfas- gen, was ein völkerrechtliches Delikt dar- ser im Wesentlichen zwei Ziele: er trägt stellen würde; wer dafür verantwortlich einerseits aus eigener Erfahrung und Er- zeichnete; und schließlich, ob das besagte innerung zu der in Schweden anhaltenden auf Grund gelaufene sowjetische U-Boot Debatte um die teils immer noch unge- sich absichtlich oder lediglich aufgrund klärten Unterwasserkontakte in schwedi- eines Navigationsfehlers in schwedischen schen Gewässern bei, hauptsächlich soll Gewässern aufhielt. aber das alte Argument einer sowjetischen Bedrohung, der Schweden in den 80er- Die Überschrift des einführenden Kapi- Jahren ausgesetzt gewesen sei, aufge- tels weist bereits auf den Anspruch des frischt werden. Hiermit richtet er sich Buches hin, das eine Interpretation zu den

170 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen fraglichen Handlungen fremder U-Boote den das Marinebudget verhandelt werde, in schwedischen Gewässern anbieten ein deutsches U-Boot zur Unterstützung möchte: „Sanningen finns i betraktarens in Richtung der schwedischen Schären- öga“ („Die Wahrheit liegt im Auge des küste in See steche. Die Beziehungen Betrachters“, S. 11). Das dafür in Augen- zwischen der schwedischen und der schein genommene archivarische Quel- westdeutschen Marine waren schließlich lenmaterial ist überwiegend schwedischer freundschaftlicher Art, worauf Gustafsson Provenienz, ergänzt durch Fernsehinter- auch selbst hinweist, wenn er kurz die views des schwedischen Fernsehens. militärische Zusammenarbeit beschreibt Sowjetisches bzw. russisches staatliches (S. 142). Archivmaterial stand dem Verfasser je- doch nicht zu Verfügung. Von Interesse So wendet sich der Verfasser auch wieder dürften hier die Logbücher sowie Einsatz- schnell der vermeintlichen sowjetischen befehle der U-Bootwaffe der Baltischen Bedrohung zu. Die zentrale Hypothese Flotte und der sowjetischen Spezialein- des Buches – und damit auch schon fast heiten im Ostseeraum sein, aber auch jene die vorgegebene Antwort auf die eingangs der anderen Seestreitkräfte in der Ostsee, gestellte Frage – lautet, dass die schwedi- die im Betrachtungszeitraum U-Boote sche Neutralität in den sowjetischen mili- unterhielten. Dies wären insbesondere tärischen Planungen während der Ost- Logbücher und Einsatzbefehle der Bun- West-Auseinandersetzung bestenfalls als desmarine und der dänischen Marine, die unzuverlässig eingeschätzt worden ist. der Verfasser ebenfalls nicht eingesehen Daraus habe sich aus sowjetischer Sicht hat. Beide verfügten in den 80er Jahren die Notwendigkeit ergeben, verschiedene über U-Boote, die sich aufgrund ihrer nachrichtendienstliche Aktivitäten in Be- geringen Größe hervorragend für Einsätze zug auf Schweden zu entwickelten, wozu in Küstengewässern eigneten. eben auch verdeckte Aufklärungsmission der Baltischen Rotbannerflotte gehört Die Spur der westdeutschen U-Boote hätten. Um diese Hypothese zu unterstüt- wird kurz aufgenommen, jedoch wieder zen, führt der Autor die in die Zeit des verworfen, ohne eine überzeugende Ant- Zweiten Weltkriegs zurückreichenden wort zu geben, warum nicht auch diese militärischen Absprachen zwischen den auf Tauchfahrt in schwedische Gewässer Westalliierten und Schweden aus, welche eingedrungen sein könnten. Die Spur in die sowjetische Sichtweise bestärken die Bundesrepublik ist ohnehin überaus mussten. Um dieses Argument zu unter- interessant, da in der Bundesmarine der mauern, gibt er im zweiten Hauptteil eine Witz ging, dass, immer wenn in Schwe- seiner eigenen früheren Arbeiten zum

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 171 Rezensionen

Thema wieder (Bengt Gustafsson: Det sovjetiska hotet mot Sverige under det kalla kriget. Stockholm: Försvarshögsko- lan, 2007).

Nach der durchaus unterhaltsamen Lektü- re des Buches muss sich der Leser fragen, ob mit der schwachen Quellenbasis und dem gewählten methodischem Zugriff eine eindeutige Antwort auf die Frage gegeben werden kann, was denn von der schwedischen Marine in ihren Heimatge- wässern überhaupt geortet und gejagt wurde. Aber vielleicht wollte darauf schon damals kein schwedischer U- Bootjäger eine konkrete Antwort geben.

Michael Penk (Berlin)

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Kristina Boréus, Ann Ighe, Maria Karlsson, Rikard Warlenius (Hgg.): Ett sekel av syndikalism. Sveriges Arbetares Centralorganisation 1910–2010. Stockholm: Federativ 2012, 399 S.

Schweden gilt für viele als das sozialde- Der 2012 im hauseigenen Federativs för- mokratische Land par excellence. Esping- lag erschienene, in Umfang und Gestal- Andersen beschrieb 1990 in seinem wir- tung opulente Band handelt in rund 50 kungsmächtigen Buch The three worlds Beiträgen und auf 400 Seiten die ver- of welfare capitalism Schweden als sozi- schiedensten Aspekte der Geschichte des aldemokratisches Modell, und auch neue schwedischen Syndikalismus von 1910 Standardwerke zum schwedischen Wohl- bis 2010 ab. Ziel der SAC ist es laut fahrtsstaat behandeln fast ausschließlich Vorwort, „seine Geschichte [zu] erzählen die sozialdemokratische Arbeiterbewe- und sich selbst in der Geschichte [zu] gung (vgl. Klas Åmark: Hundra år av verorten“ („[att] berätta sin historia och välfärdspolitik. Umea 2005; Francis Se- placera sig själv i historien“) (S. 8). jersted: The age of social democracy. Princeton 2011). Damit soll ein Grundstein für weitere his- torische Forschung gelegt, aber auch die Doch es gibt auch eine Geschichte der Reflexion über Gegenwart und Zukunft schwedischen Arbeiterbewegung jenseits angeregt werden (ebd.). Die Autoren der der Sozialdemokratie. Seit nunmehr 100 Einzelbeiträge sind teils etablierte schwe- Jahren existiert eine Bewegung, die zu- dische Forscher, teils mit dem Syndika- mindest phasenweise einen nicht zu ver- lismus verbundene Journalisten sowie nachlässigenden Einfluss auf die schwe- aktive Mitglieder. Hinzu kommen einige dischen Arbeiter hatte. Die Rede ist vom wieder abgedruckte Texte aus der Ge- schwedischen Syndikalismus, dessen schichte des Syndikalismus, beispielswei- Dachorganisation Sveriges Arbetares Cen- se Auszüge aus wichtigen syndikalisti- tralorganisation (SAC) anlässlich des schen Publikationen, Manifeste oder 100jährigen Bestehens der Bewegung einige Gedichte Stig Dagermans. Das einen voluminösen Jubiläumsband he- Herzstück des Bandes bildet der gut 80 rausgegeben hat. Seiten umfassende Aufsatz von Maria Karlsson und Rikard Warlenius Ett sekel

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 173 Rezensionen av syndikalism (Ein Jahrhundert Syndika- nismus und der Sozialdemokratie einen lismus). Die Autoren beschreiben den Weg zu einem freiheitlichen Sozialismus Syndikalismus anhand von Quellen eher zu finden, indem die Schulung der Arbei- als eine Bewegung und Taktik denn als ter und das Prinzip der Selbstverwaltung Ideologie. Er sei entstanden, als sich die eine zentrale Rolle spielten. Kampfmethoden der Mainstream- Gewerkschaften als immer ineffektiver Warum der Syndikalismus schon gegen erwiesen, was durch die Niederlage der Ende der 1920er Jahre in eine ideologi- Arbeiterbewegung im „Großen Streik“ sche Krise geriet (S. 32), wird von den (Storstrejken) 1909 offensichtlich wurde Autoren aber nicht ausreichend erklärt. (S. 10). Die Syndikalisten setzten im Ge- Sie führen hier zwar den Wechsel wichti- gensatz dazu auf spontane Aktionen wie ger Ideologen wie Frans Severin und wilde Streiks, „Bummelstreiks“ oder den Ragnar Casparsson zur Sozialdemokratie Boykott von Unternehmen, um sich Vor- an, warum diese sich aber auch ideolo- teile zu erkämpfen (S. 21). gisch vom Syndikalismus abwandten, bleibt offen. Im Gegensatz zu anderen Wichtig ist der Hinweis der Autoren auf Ländern wurde der Syndikalismus in die soziale Basis der Syndikalisten. Sie Schweden nicht von Diktaturen gewalt- organisierten vor allem Gruppen, die in sam zerschlagen. Trotz (oder wegen?) den reformistischen Gewerkschaften eine einer grundlegenden Umorientierung in schwache Verhandlungsposition hatten, den 1950er Jahren, als die SAC sich vom insbesondere ungelernte und mobile Ar- Ziel der sozialen Revolution verabschie- beiter, beispielsweise im Steinbruch oder dete und ihre Fundamentalopposition ge- in der Forstwirtschaft. Diese waren eher gen den Staat aufgab, wurde der schwedi- zu spontanen, direkten Aktionen bereit als sche Syndikalismus in der Nachkriegszeit Arbeiter, die an einen Arbeitgeber gebun- zunehmend marginalisiert (S. 52–58). den waren und zudem eine Position zu verlieren hatten. Auch die 68er-Bewegung und der Zu- sammenbruch des sowjetischen Staatsso- Erst in den 1920er Jahren sei, unter dem zialismus kehrten diesen Trend nicht Einfluss des britischen guild socialism, nachhaltig um. Stattdessen hatte die SAC auch die Theorie des Syndikalismus aus- mit inneren Auseinandersetzungen und gefeilter geworden (S. 26): Der schwedi- Abspaltungen zu kämpfen. Das Fazit der sche Syndikalismus versuchte in Abgren- Autoren nach 100 Jahren Syndikalismus zung zu den aus seiner Sicht zu sehr auf lautet, dass die SAC heute zwar eine sehr den Staat fixierten Ideologien des Leni- kleine Gruppe – sie hat aktuell rund 5.000

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Mitglieder –, aber eine immer noch exis- krieg und ihrem Weiterwirken im Exil tierende und funktionierende Alternative sowie der Beitrag Christer Lundhs zum gewerkschaftlicher Aktivität bildet. Einfluss des britischen guild socialism auf den schwedischen Syndikalismus sind Die anderen knapp 50 Einzelbeiträge hervorzuheben, da sie zu den wenigen können im Rahmen dieser Rezension Beiträgen des Bandes gehören, die auch nicht im Einzelnen behandelt werden. Sie die internationale Dimension des Syndi- bilden ein Panorama unterschiedlicher kalismus beschreiben. Ola Larsmo be- Themen und bestehen auch aus unter- schreibt, ausgehend vom verwitterten schiedlichen Textsorten, vom wissen- Grab eines Syndikalisten auf dem Fried- schaftlichen Aufsatz über autobiografi- hof in Västervik die Problematik „verges- sche Erinnerungen bis hin zum Interview sener Helden“. mit heute aktiven Syndikalisten. Die Bei- träge sind einzeln lesbar, so dass hier das Insgesamt gibt der Band einen guten Interesse des Lesers über die Auswahl Überblick über die Geschichte des Syndi- bestimmt. Positiv hervorheben möchte kalismus in Schweden. Es gab bisher kein ich allerdings den Beitrag Eva Blombergs Werk zum schwedischen Syndikalismus, „Aus der Gruft der erniedrigenden Skla- das auch nur ansatzweise eine solche verei“ (Ur den förnedrande träldomens Vielfalt von Themen in einem einzigen grift), die einen sozialpsychologischen Band abhandelt. Die Integration ver- Aspekt in die Debatte einbringt: Die Pro- schiedener Textsorten bietet dem Leser tagonisten des Syndikalismus seien vor eine Menge Abwechslung. Einmalig ist allem junge Männer gewesen, die in ihrer das verwendete Bildmaterial, das den Biografie Erfahrungen von Erniedrigung Band nicht nur schmückt, sondern auch und Gewalt ausgesetzt waren, insbeson- zum Erkenntnisgewinn beiträgt. So zeigt dere in der Familie und am Arbeitsplatz. eines der Bilder eine Hungerdemonstrati- Kristian Falk beschreibt in seinem Artikel on von Arbeitern in Västervik im Jahr „Als die SAC Tarifpartner wurde“ (När 1917, als der Syndikalismus noch Gene- SAC blev avtalspart) ein wichtiges Grund- ralstreik und soziale Revolution propa- problem des Syndikalismus: Um zu über- gierte (S. 146f.). Gut vierzig Jahre später leben, musste er sich in den schwedischen hatte sich die SAC professionalisiert, Wohlfahrtsstaat integrieren. Dabei kam er zentralisiert und im Wesentlichen vom jedoch in Konflikt mit seinen anarchisti- Gedanken der Revolution verabschiedet: schen Wurzeln. Auch die beiden Beiträge Zwei andere Bilder (S. 261) zeigen, wie Per Lindbloms zum Wirken internationa- Vertreter der Syndikalisten an langen ler Syndikalisten im Spanischen Bürger- Tischen den Vertretern der Arbeitgeber

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 175 Rezensionen gegenübersitzen; alle Teilnehmer waren te man beispielsweise die Sicht der LO in Anzug und Krawatte erschienen. Sie auf die innergewerkschaftlichen Kämpfe handelten zunächst branchenweite Löhne mit einbeziehen oder die Auseinanderset- aus, bevor man sich an den gleichen Ti- zung der SAC mit der anderen Minorität schen zum anschließenden Souper setzte. innerhalb der schwedischen Arbeiterbe- wegung, den Kommunisten, thematisie- Umso bedauerlicher ist, dass der Band ren können. Letzteres hat für den deut- auf die Angabe der Bildquellen verzich- schen Syndikalismus Hans Manfred Bock tet. Ebenso sind Literatur- und Quellen- geleistet (Syndikalismus und Linkskom- angaben in einigen Beiträgen sehr spar- munismus von 1918 bis 1923, 1969, aktu- sam eingesetzt. Hier ist ein klarer al. Neuaufl. Darmstadt 1993). Dadurch Unterschied zwischen Beiträgen von Wis- hätte vielleicht der Niedergang, aber auch senschaftlern und den Beiträgen von Ak- das Fortbestehen des schwedischen Syn- tiven erkennbar. Sicher ist die For- dikalismus besser erklärt werden können. schungslage zum Syndikalismus in Insofern stand der Band vor der höchst Schweden sehr dünn: Die Forscher, die interessanten, aber für einen Jubiläums- zum Syndikalismus publiziert haben, las- band sicher schwierigen Aufgabe einer sen sich an zwei Händen abzählen (neben Geschichtsschreibung der eigenen Margi- den genannten v.a. Wayne Thorpe, Marcel nalisierung. van der Linden und Lennart K. Persson). Übergreifende Problemstellungen hätten Dennoch ist der Band für die Geschichte aber dennoch öfter und klarer herausge- der schwedischen Arbeiterbewegung und arbeitet werden können. Das größte Man- des Sozialstaats allgemein relevant. Zum ko des Bandes ist jedoch, dass die Au- einen als Gegengewicht zur immer noch ßenperspektive auf den schwedischen dominierenden sozialdemokratischen Ge- Syndikalismus fast völlig fehlt, was gera- schichtsschreibung in Schweden: Zwar ist de bei einer solchen dezidiert internatio- der Fakt, dass die dortige Geschichts- nalen Bewegung erstaunt. Die SAC er- schreibung eine starke sozialdemokrati- reicht somit zwar das im Vorwort sche Prägung aufweist. in der aktuellen angegebene erste Ziel, ihre eigene Ge- Forschung bekannt (vgl. Åsa Linderborg: schichte zu schreiben, das zweite Anlie- Socialdemokraterna skriver historia, gen, sich selbst in der Geschichte zu ver- Stockholm 2001). Publikationen zur Ge- orten, wird aber nur teilweise erfüllt. schichte jenseits der Sozialdemokratie Dabei hätte es für die Integration von Au- sind aber nach wie vor Mangelware. Da ßenperspektiven auf den Syndikalismus es sich bei dem rezensierten Werk um die zahlreiche Ansatzpunkte gegeben: So hät- Geschichtsschreibung einer Minderheit

176 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen

über sich selbst handelt, wirft der Band automatisch Fragen der Erinnerungskultur auf (vgl. o.g. Beitrag Ola Larsmos); die „Außenseiterpositionen“ der SAC können zudem zum Hinterfragen eigener An- schauungen der Leser beitragen. Manch- mal reichen dafür schon Begriffe: Wäh- rend im etablierten Sprachgebrauch Unternehmer als „Arbeitgeber“ bezeichnet werden, werden diese im Einleitungsbei- trag konsequent „Arbeitskäufer“ („ar- betsköpare“) genannt. Schließlich bleibt die Grundfrage des Syndikalismus nach der Freiheit der „Lohnabhängigen“ im Wohlfahrtsstaat heute noch so aktuell wie damals.

Klaus Neumann (Berlin)

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Jörg-Peter Findeisen: Die schwedische Monarchie. Bd. 1: 950-1611, Bd. 2: 1612 bis heute, Kiel: Verlag Ludwig 2010, 411 S., 447 S.

Findeisen motiviert seinen Ansatz, die zunächst in allgemeine Probleme einer Grundzüge schwedischer Geschichte an- Epoche ein und stellte dann die einzelnen hand ihrer Könige zu schildern, zum ei- Königspersönlichkeiten mit knappen nen mit der Möglichkeit, damit „einem Grunddaten (Geburt, Ehen, Kinder, Krö- breiteren deutschen Lesepublikum die nungs- und Herrschaftsdaten o. Ä.) und Geschichte Schwedens“ „möglichst far- etwas ausführlicheren Schilderungen zu big darzustellen“ (I, S. 13), zum anderen deren politischen Agieren vor. Findeisen mit der Monarchiefreundlichkeit der befindet sich in diesen Abschnitten nahe Schweden: „Denn das scheint ziemlich an einem (Übersetzungs-)Plagiat (vgl. sicher: Selbst die überzeugten Sozialde- insbesondere I, S. 180f). Das Buch von mokraten zwischen Trelleborg und Kiru- Lagerkvist erschien bereits 1976 (Findei- na stehen relativ einmütig hinter ihrem sen gibt als Erscheinungsdatum regelmä- Königshaus.“ (I, S. 11). Eine wohl arg ßig 1979 an) in Stockholm – und viel ak- gewagte These, betrachtet man z. B. Par- tueller ist ein Großteil der Literatur, die teiprogramme und politische Debatten der Findeisen zitiert, in der Tat nicht. Kein letzten Jahre. Wunder dann, dass Findeisen zu Behaup- tungen kommt, die wissenschaftlich heute kaum mehr haltbar sind, z. B. meint er, Insgesamt wirken beide Bände wissen- der „gängigen Periodisierung gefolgt“ zu schaftlich schludrig, können als Über- sein (Bd. I, S. 13f) – wobei es diese si- sichtswerke zur schwedischen Geschichte cherlich aktuell gar nicht gibt und einige nur genutzt werden, wenn man sehr groß- seiner Einordnungen fragwürdig zu nen- zügig über zahlreiche handwerkliche nen sind. Mängel hinwegsieht.

Am meisten verzweifelt man aber an den Die Ausgangsstruktur für beide Bände, formalen Unzulänglichkeiten in der Ar- insbesondere aber für den ersten Band hat beit. Findeisen entscheidet sich bei seinen Findeisen dem Werk „Sverige och dess Nachweisen für das sog. Harvard-System, regenter under 1000 år“ von Lars O. La- d.h. er nennt nur Autor und Seitenzahl gerkvist übernommen. Schon er führte

178 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Rezensionen

(kein Jahr) – eine gebräuchliche, aber und ähnlich öfter) gefallen sind. Schließ- vollends unbrauchbare Methode, wenn lich bezieht er sich z. B. auf Grimberg dann im Text auch mit „ebd.“ gearbeitet als „moderne schwedische Historiogra- wird – und man gezwungen wird, zum phie“ – seine Geschichte stammt aus den Teil mehrere Seiten zurückzublättern, um 1920er Jahren! Meist berichtet Findeisen herauszubekommen, auf welchen Titel von historischen Positionen „anonym“, Bezug genommen wird. Vollends ver- d.h. er nennt nicht einen schwedischen His- zweifelt man, wenn hierbei Abkürzungen toriker beim Namen, sondern nennt sie benutzt werden, die sich nicht sofort ganz allgemein (I, S. 58, „Die bedeutenden erschließen (wieso „NG“ für „Den Historiker“; I, 404) und pauschaliert dabei, svenska historien“ 1979-87?) bzw. in ohne eine Überprüfung möglich zu ma- vielfältigen Formen angeführt werden chen: „die moderne schwedische Historio- (SBL, Svbiolex, SvBioLex), sich nur graphie ist eins in der Einschätzung[…]“ mühsam im Literaturverzeichnis finden (I, 409). Vielleicht ein Höhepunkt: „Ge- lassen (so steht z. B. „Königsbuch, I“ rechter das Urteil der modernen Historio- unter „Snorri“) und sich zu einem Teil graphie!“ – er bezieht sich hier auf Grim- gar nicht im Literaturverzeichnis auflö- berg aus dem Jahre 1924. sen lassen (z. B. „Sv Ub“, „DH“). Die letzte Formulierung weist auf ein Das Literaturverzeichnis enthält bei weiteres, diesmal inhaltliches Problem weitem nicht alle Literatur, die in der hin: Mit subjektiven Einschätzungen hält Harvard-Zitation angeführt wird, ist un- sich der Autor nicht zurück, belegt Han- einheitlich in der Form, weist Tippfehler delnde mit Urteilen („von einfältigen Na- auf, ist in Orts- bzw. Zeitangaben teilwei- turen“ I, 232), treibt Motivforschung se unvollständig und weist vor allem Titel („herrschsüchtige norwegische Prinzessin aus, die aus dem letzten Jahrhundert […] konnte zufrieden sein“ I, 130) und stammen. Die Titel aktuelleren Datums wertet die historischen Ereignisse („Ver- stammen von Findeisen selbst – mit we- leumdungen“, „feudale Anarchie“, I, 173). nigen, an einer Hand abzählbaren Aus- Abschreckend möge man sich einmal die nahmen. Seite 163 in Band I vornehmen: „Drei Söhne, höchst ehrgeizig, skrupellos, ent- Diese sehr betagte Literaturbasis führt schlossen, sich alleine die Macht im Kö- zum Nachdenken, wenn Findeisen von nigreich Schweden anzueignen, koste es, Diskussionen und Feststellungen berich- was es wolle! […] An Eriks Seite stand tet, die „erst kürzlich“ (I, S. 122, S. 237 später eine machthungrige, nicht weniger

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 179 Rezensionen selbstbewusste Herzogin […] Und auch diese war herrschsüchtig und zielbe- wusst[…] Erfreulicherweise für beide brachte der mächtige Mann bald auch die Kirche gegen sich auf. In den Bistümern vermerkte man höchst verärgert, […]“Zudem passen einige Zeitangaben im Text nicht zueinander (der 1370 gebo- rene Olav führt demnach seit 1285 den Titel „Rechter Erbe in Schweden“).

Insgesamt zwei ärgerliche, schlampig recherchierte und offensichtlich nicht lek- torierte Bände.

Reinhold Wulff (Berlin)

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ANNOTATIONEN

Annotationen

Joachim Grage, Stephan Michael Schröder (Hgg.): Literarische Prak- tiken um 1900. Fallstudien. Würzburg: Ergon 2012 (= Literarische Praktiken in Skandinavien; 1), 278 S.

Der hier zu annotierende Sammelband grenzüberschreitend vernetzt waren, er- entstand im Kontext des gleichnamigen möglichten ihren Mitgliedern nicht nur, DFG-Forschungsprojektes Literarische günstig Bücher, Zeitungen und Zeitschrif- Praktiken in Skandinavien um 1900, das ten auszuleihen, sondern boten durch den an den Universitäten in Köln und Frei- zu Verfügung gestellten Raum die Mög- burg verortet ist. lichkeit für Vernetzung der Mitglieder untereinander und Austausch sowie durch Wie der Untertitel bereits vermittelt, ein Begleitprogramm, das u. a. Vorträge werden im Rahmen des vorliegenden beinhaltete, Anlass zu Begegnung und Sammelbandes sechs Fallstudien zu lite- Diskussion. Insgesamt dienten die Lese- rarischen Praktiken in Nordeuropa vor- vereinigungen nicht nur der Einübung gestellt, ergänzt um einen einleitenden demokratischer Regeln und erfüllten damit Beitrag von Joachim Grage und Stephan eine emanzipatorische Funktion, sondern Michael Schröder, der die theoretisch- ermöglichten es ebenso, weibliche Aktan- methodologische Konzeptualisierung des ten im literarischen Feld zu positionieren. Sammelbandes wie des Forschungspro- jektes selbst darlegen soll. In diesem Der Beitrag von Esther Prause widmet erarbeiten Grage und Schöder nach einer sich der Verhandlung kindlichen und ju- Kritik des Performativitätsbegriffes und gendlichen Lesens im Zeitraum zwischen seiner Anwendbarkeit das für das For- 1870 und 1916 in Schweden. Quellen- schungsprojekt zentrale Begriffsrepertoire; grundlage bilden vor allem reformpäda- literarische Praktiken werden von ihnen als gogische Schriften der Zeit. Neben der „situativ applizierbare, habitualisierte und Frage, welche Form von Literatur für damit relativ stabile und iterabile Hand- Kinder und Jugendliche angebracht sein lungsschemata“ (S. 31) begriffen. könne, konzentrieren sich die von ihr verwendeten Schriften auf die Erziehung Katharina Müller untersucht die weibli- zu einem verantwortungsbewussten Um- chen Lesevereinigungen in Skandinavien gang mit Literatur, der erlernt und ange- um 1900. Jene Lesevereinigungen, die eignet werden müsse. Im Hinblick auf innerhalb der skandinavischen Länder potentiell schädlich eingeschätztes kindli-

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 183 Annotationen ches Genusslesen seien dementsprechend ve zu öffnen: zum einen geht es ihm dar- Kontrolle, Beschränkung und Disziplinie- um, die Etablierung des Liederabends als rung im Kontext einer umfänglichen Le- literarische Praktik seit 1870 nachvoll- seerziehung gefordert worden. In dieser ziehbar zu machen; ebenso soll aber die sei nicht nur die Frage der angemessenen Vielfalt des Phänomens im Zeitraum Lesegeschwindigkeit zu verorten, sondern zwischen 1895 und 1924 anhand von drei ebenso die Praktiken des Lesens im Sinne Beispielen aufgezeigt werden. von eigenständigem Lesen, Vorlesen oder mündlicher Erzählung. Jan-Philipp Holzapfels Beitrag untersucht die frühe Phonographie in Dänemark als Christian Barrenberg betrachtet in seinem literarische Praktik. Als Quelle dienen Beitrag handgeschriebene Zeitungen der ihm die sog. Ruben-Tonaufnahmen, die Arbeiterjugendvereinigungen in Norwe- zwischen 1889 und 1897 entstanden sind. gen als literarische Praktik unter besonde- 15 Prozent der erhaltenen Aufnahmen rer Berücksichtigung einer medien- und könnten als Realisierung einer literari- milieuorienierten Perspektive. In Anleh- schen Praktik verstanden werden. Einem nung an ein Modell von Koch/ Oester- kurzen Überblick über die Geschichte der reicher sowie mit Verweis auf Bachtins Phonographie im Allgemeinen und in Differenzierung von monologisch und Dänemark im Speziellen, schließt Holz- dialogisch versucht Barrenberg die Spe- apfel die Frage an, welche literarischen zifika des Mediums in Kontrast zur her- Texte, auf welche Weise und durch wel- kömmlichen Presse zu verdeutlichen. che Sprecher phonographisch archiviert wurden. Anhand von drei Beispielen ver- In seinem Beitrag fokussiert Joachim deutlicht der Verfasser, dass nicht die lite- Grage auf die Etablierung des Lieder- rarischen Texte, die durch Kürzung und abends als anerkannte literarische Praktik weitere Umgestaltung dem neuen Medium in Dänemark im späten 19. und frühen angepasst wurden, im Zentrum der Auf- 20. Jhd. Als Quelle und Zugang zum merksamkeit standen; vielmehr war es ephemeren und scheinbar flüchtigen Büh- das Medium selbst als auch die dem Pub- nengeschehen des Liederabends dienen likum vertraute Stimme populärer Schau- dem Verfasser gedruckte Programmhefte, spieler, die durch die Phonographie ver- die sich in der Småtryksamling der Kö- gegenwärtigt werden konnte. niglichen Bibliothek in Kopenhagen archiviert finden. Grage beabsichtigt in Das zeitgenössische Unbehagen an diver- seiner Untersuchung, sowohl eine syn- sen Inszenierungsstrategien im Rahmen chrone als auch eine diachrone Perspekti- der Trauerfeierlichkeiten um Bjørnstjerne

184 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Annotationen

Bjørnson im Jahre 1910 stehen im Zent- rum des Beitrages von Stephan Michael Schröder. So untersucht Schröder die Sti- lisierung des nicht unumstrittenen Autors zum Dichterkönig durch Familie, Regie- rung und Publikum, welche während der Trauerfeierlichkeiten alle kritischen Dis- kurse um Bjørnson aussetzte. Ebenfalls betrachtet Schröder die Theatralisierung der Trauerfeier, die öffentliche Wahrneh- mung der entstandenen Postmortem- aufnahmen sowie Filmaufnahmen von Überführung und Trauerzug in Kristiania. Schröder zufolge lösten die Inszenie- rungsstrategien der Dichterehrung des- halb öffentliches Unbehagen aus, weil ihre Kodierung zwischen den Modi von repräsentativer Öffentlichkeit (Habermas) und Celebrity-Kult oszillierte.

Abschließend sei darauf verwiesen, dass der vorliegende Sammelband um einen weiteren ergänzt werden wird. Der zweite Band wird den Untertitel Milieus, Akteure, Medien. Zur Vielfalt literarischer Prakti- ken um 1900 tragen und voraussichtlich im Sommer 2013 erscheinen.

Florian Brandenburg (Berlin)

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 185 Annotationen

Jan Hecker-Stampehl: Vereinigte Staaten des Nordens. Integrations- ideen in Nordeuropa im Zweiten Weltkrieg: München: Oldenbourg 2011 (Studien zur Internationalen Geschichte; 26), 471 S.

Jan Hecker-Stampehl hat sich in seiner nordischen Staaten hinweg war und ist. Dissertation mit einem wichtigen, bislang Infolgedessen wählt Hecker-Stampehl als jedoch kaum erforschten Thema der nor- Untersuchungsgegenstand die Rolle die- dischen Zusammenarbeit beschäftigt, je- ser Vereine als zentrale Akteure in der nen weitgehenden Vorschlägen nämlich, Debatte. die während des Zweiten Weltkrieg in Dänemark, Finnland und Schweden dis- Der Band ist in sieben Kapitel gegliedert. kutiert wurden, darunter die wohl konkre- Einer Einleitung mit den üblichen Aus- testen Pläne für einen nordischen Bun- führungen zu Forschungsstand, Quellen- desstaat. Den weiteren Kontext der Debatte lage, Begriffsdefinitionen sowie theore- bilden die Europadiskussionen, welche in tisch-methodischer Verortung folgt ein den europäischen Widerstandsbewegungen mit gut 60 Seiten sehr ausführlicher Ab- und Exilkreisen geführt wurden. schnitt über den weiteren Kontext der Debatte, der neben den Ideen der europäi- Die Debatte über eine erweiterte und schen Einigung die Geschichte der nordi- vertiefte Zusammenarbeit zwischen den schen Einigungsbestrebungen seit dem nordischen Ländern stellt aus dieser 19. Jahrhundert referiert, einen Abriss Sicht eine Parallele zu den Plänen einer über die Geschichte Nordeuropas im europäischen Föderation und anderen Zweiten Weltkrieg enthält und eine Zu- Zukunftsdebatten der Zeit dar. Da wäh- sammenfassung der nordischen Integrati- rend des Krieges kein offizieller Kontakt onsideen während des Zweiten Weltkriegs und schon gar keine Beratungen zwischen in anderen Foren als den Norden- den Regierungen möglich waren, wurde Vereinen liefert. Das dritte Kapitel be- dieser Prozess vornehmlich von zivilge- handelt die Geschichte der Vereine sowie sellschaftlichen Bewegungen getragen, eine zusammenfassende Darstellung der darunter v. a. allem die nach dem Ersten Charakteristika und des Verlaufs der in Weltkrieg gegründeten sog. Norden- den nachfolgenden Kapiteln eingehend Vereine, deren Ziel die Förderung des untersuchten Debatte. Zusammengehörigkeitsgefühls und der Zusammenarbeit über die Grenzen der Die eigentliche Untersuchung gliedert

186 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Annotationen sich in die nachfolgenden drei Kapitel zu onaler Identität bildet die „Plausibilitäts- kulturell konstruierten Abgrenzungen des struktur“ für politische Ordnungsmodelle, Nordens, zu den diskutierten politischen welche zu ihrer Wirksamkeit ebenso wie Ordnungsmodellen sowie zu den von den letztere verbreitet werden und in der Be- Vereinen verwendeten Strategien der völkerung Unterstützung finden muss. Verbreitung des nordischen Einheitsge- dankens. Während unter Ordnungsmodel- Einer recht kurzen Schlussbetrachtung len ein gemeinsamer Markt als die prag- folgen nach dem Quellen- und Literatur- matischste Variante, eine nordische verzeichnis ein Anhang mit dem Entwurf Verteidigungsunion als ein weitergehen- einer nordischen Bundesakte, einer Syn- der, die Staaten einbeziehender Plan und opse der Verfassungsentwürfe des Dänen schließlich die bundesstaatlichen Vor- Carl Rasting sowie einem Personenregister. schläge u.a. der „Vereinigten Staaten des Als Quellen stützt sich Hecker-Stampehl Nordens“ analysiert werden, unterschei- bei seiner Untersuchung überwiegend auf det der Verfasser unter den Abgrenzungen die von den Norden-Vereinen herausge- als „naturgegeben“ verstandene – d.h. gebenen sowie teils auch in deren Umfeld geografische, geologische und (zu der entstandenen Publikationen sowie die Zeit aktuelle) rassische – Vorstellungen, umfangreichen Aktenbestände der Verei- sodann kulturelle – d.h. sprachliche und ne, daneben auch z.B. einige persönliche religiöse – Begründungen, Geschichtsbil- Archive. der und historische Argumente sowie schließlich Gemeinsamkeiten der politi- Die Arbeit folgt im Ganzen einem kon- schen Kultur. Als quasi dazu quer verlau- struktivistischen Paradigma, welches die fendes Thema diskutiert er abschließend Existenz eines politisch-kulturellen Rau- die besondere Stellung Finnlands im mes nicht voraussetzt, sondern problema- Rahmen der Gemeinschaftsvorstellungen. tisiert und seine Konstituierung erforscht. Der parallel zu den europäischen Zu- Das dritte Untersuchungskapitel analy- kunftsdebatten entwickelte demokratische siert die publizistischen, pädagogischen Gegenentwurf zur nationalsozialistischen und im weiteren Sinne volksbildnerischen Ideologie entstand in der bedrängten und Strategien der Vereine, um den kulturellen isolierten Lage während des Krieges und Konstruktionen Rückhalt zu verschaffen. „hielt [in dieser Situation] die Aussicht Hecker-Stampehl versteht diese Vorge- auf eigenständige politische Entwicklung hensweise als dreistufiges Analysemodell, im Norden bereit“ (S. 431). Andererseits das jedoch nicht chronologisch aufzufas- nahm die Nordendebatte jedoch eine sen ist: Die kulturelle Konstruktion regi- „Narrenfreiheit des Kontrafaktischen“

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 187 Annotationen

(S. 430) für sich in Anspruch, indem sie weder diesen besonderen Kontext noch die für die Schaffung eines nordischen Bundesstaates notwendigen Vorausset- zungen reflektierte. Sich auf das bereits zu Teilen etablierte Identifikationsangebot mit der nordischen Region stützend, war darin auch eine wachsende Distanzierung von europäischen Ordnungsentwürfen angelegt, welche sich später, in der Nach- kriegszeit und während des Ost-West- Konflikts, auf die Haltung der nordischen Länder gegenüber der europäischen In- tegration auswirkte und noch auswirkt.

Mit der Erforschung dieses missing link in der Geschichte der nordischen Zu- sammenabriet und der nordischen Zu- sammenarbeitsideologie des sog. Nor- dismus, die nach Ansicht des Verfassers nicht wie in der bisherigen Forschung als Parenthese, sondern im Gegenteil als Ba- sis für die in der Nachkriegszeit etablierte nordische Zusammenarbeit verstanden werden muss, schließt Hecker-Stampehls Arbeit eine wichtige empirische Lücke.

Krister Hanne (Berlin)

188 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Annotationen

Marko Lamberg, Marko Hakanen und Janne Haikari (Hgg.): Physical and Cultural Space in Pre-industrial Europe. Methodological Ap- proaches to Spatiality. Lund: Nordic Academic Press 2011, 400 S.

Im Rahmen des Untersuchungsprojekts 13 Fallstudien wird beschrieben, wie die Politics of Brothers, Neighbours and mittelalterlichen und frühmodernen Ge- Friends – Political Culture and Strategies sellschaften den sie umgebenden physi- of Influence in Early Modern Sweden c. schen und mentalen Raum sahen, kontrol- 1500-1700 unter der Leitung von Marko lierten und nutzen. Der geographische Lamberg an den Universitäten Jyväskylä, Fokus der einzelnen Texte ist dabei auf Turku und Tampere ist dieser Sammel- die östliche Peripherie des vormodernen band entstanden. Er fasst die Arbeitser- schwedischen Königreiches, dem heuti- gebnisse von 20 ausgesuchten Historikern, gen Finnland gerichtet. Archäologen und Ethnologen zusammen. Die Projektteilnehmer haben sich in ihrer Die Aufsätze sind in sechs Teile nach me- Arbeit dem „Spatial Turn“ verpflichtet thodischen und thematischen Gesichts- und die Herausgeber haben sich als Ziel punkten untergliedert, die sich partiell gesetzt, einen Band vorzulegen, der kon- überschneiden. Im ersten einleitenden Teil zeptionell aus verschiedenen Blickrich- werden das frühmoderne Kartierungswe- tungen auf Räumlichkeit innerhalb der sen dekodiert und darauf die verschiede- Geisteswissenschaften eingeht. nen Wege untersucht, wie Kartographie, Topographie sowie zeitgenössische religi- Der übergeordnete und verbindende Aus- öse und politische Strukturen im Zeitalter gangspunkt der einzelnen Aufsätze bildet der Reformation miteinander verflochten die Frage, wie das Mapping als methodo- waren. logisches Instrument in der Erforschung und Interpretation vergangener Lebens- Daran anknüpfend liegt der Schwerpunkt welten eingesetzt werden kann. Daran auf der Bewegung von Akteuren im schließt sich die gemeinsame Fragestel- Raum und damit der Überwindung von lung an, welche neuen Einsichten und Distanzen in politischen und kulturellen Ergebnisse sich aus der räumlichen Ent- Kontexten, gleichzeitig aber auch auf der schlüsselung von Texten, Illustrationen limitierenden Wirkung, die Entfernung in und Jahrhunderte alten materiellen Über- sozialen Beziehungen und den Beziehun- resten gewinnen lassen. In den folgenden gen zwischen Zentrum und Peripherie

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 189 Annotationen verursachen konnte. Die limitierende Im abschließenden Nachwort fassen Mar- Wirkung von geographischer Distanz wird ko Lamberg und Marko Hakanen die folgend im Bereich der Informationsüber- veröffentlichten Teilergebnisse des For- tragung im staatlichen Verwaltungswesen schungsprojekts zusammen und plädieren beleuchtet, wobei die Informationstechni- noch einmal dafür, dem Räumlichen in ken im behandelten Zeitabschnitt stark der Geschichtswissenschaft und hierbei personen- und netzwerkabhängig waren. dem fruchtbaren methodischen Ansatz des Mappings auch über den im Projekt Den verschiedenen Aspekten lokaler behandelten Raum und dem zeitlichen Macht und ihrer Reichweite sowie sozi- Rahmen hinaus in der Analyse und Dar- alen Netzwerken ist ein weiterer Teil stellung als einen wissenschaftlich erträg- gewidmet, wobei verschiedene Perspekti- lichen Ansatz aufzugreifen. ven, die der Herrscher und Beherrschten in den jeweiligen Schnittpunkten von Michael Penk (Berlin) Macht, sozialen Räumen und der physi- schen Umgebung untersucht werden.

Des Weiteren werden methodologische Potentiale neuer Techniken für die ar- chäologische Forschung und ihren Nutzen für die Modellierung früherer Landschaf- ten und historischer Orte diskutiert. Visu- alisierungstechniken stehen dabei als technische Hilfsmittel im Vordergrund, zum einen als Werkzeug, mit dem sich wissenschaftliche Arbeitsergebnisse rep- räsentieren lassen, zum anderen als Hilfsmittel, mit dem gesammeltes Da- tenmaterial aufgearbeitet und analysiert werden kann.

Der letzte Teil ist eine Zusammenfassung von den Rahmenbedingungen der All- tagswelten frühmoderner Gemeinden und Gesellschaften und ihre Wirkung auf so- ziale Grenzen wird thematisiert.

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Joachim Tauber und Ralph Tuchtenhagen: Vilnius. Kleine Geschichte der Stadt. Köln–Weimar–Wien: Böhlau 2008, 284 S.

Karsten Brüggemann und Ralph Tuchtenhagen: Tallinn. Kleine Ge- schichte der Stadt. Köln–Weimar–Wien: Böhlau 2008, 361 S.

Ralph Tuchtenhagen hat in Zusammenar- Alltagsgeschichte den ihnen gebührenden beit mit zwei renommierten Länderexper- Platz einzuräumen. Beide Städte haben ten für die neuere Geschichte Litauens die Gemeinsamkeit einer multikulturellen bzw. Estlands, Joachim Tauber vom Lü- Vergangenheit. Lebten in Vilnius bis ins neburger Nordost-Institut und Karsten 20. Jahrhundert hinein hauptsächlich Li- Brüggemann von der Universität Tallinn, tauer, Polen, Russen und Juden, waren es zwei „Kleine Geschichten“ der Hauptstädte in Tallinn neben den dominierenden Vilnius bzw. Tallinn vorgelegt. Beiden deutschen Stadtbürgern Esten, Schweden, Bänden liegt – anders als es der Titel ver- Finnen, Russen und Juden. Während die muten ließe – die Zielsetzung zugrunde, Geschichte der Stadt Vilnius sehr eng mit eine „erste etwas umfänglichere Gesamt- dem Schicksal des litauischen Staates darstellung der Geschichte [der Stadt] in bzw. der polnisch-litauischen Doppelmo- deutscher Sprache“ (S. 11 bzw. 9) vorzu- narchie verbunden ist, gilt dies für die alte legen. Demzufolge sind sie nicht nur Hansestadt Reval, wie Tallin bis zur est- ihrem Umfang nach mit 284 bzw. sogar nischen Unabhängigkeit im Gefolge der 361 Seiten kaum mehr als „klein“ zu be- Oktoberrevolution hieß, und ihre Einbet- zeichnen. Neben dem Haupttext in relativ tung in die Geschichte Estlands nicht in kleiner Schrift und großem Satzspiegel gleichem Maße. Dennoch war die Ge- erschließen umfangreiche Anhänge eine schichtsschreibung beider Städte lange Fülle an Informationen. Zeit von unterschiedlichen nationalen Perspektiven – litauisch bzw. polnisch, Aktueller Anlass des Erscheinens war in deutsch bzw. estnisch – sowie später beiden Fällen die Erhebung der Städte zur durch die sozioökonomisch bestimmte Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2009 sowjetische Betrachtungsweise geprägt. bzw. 2011, dem die Stadtgeschichte Tal- Dieser Relativierungen sind sich die Au- linns durch den expliziten Anspruch ge- toren bewusst und versuchen, ihnen durch recht werden will, neben der politischen eine integrative Herangehensweise abzu- auch der Kirchen-, der Kultur- sowie der helfen.

NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) 191 Annotationen

Beide Bände sind in vier analoge Kapitel Beide Stadtgeschichten fassen Informati- unterteilt: Das Buch über Vilnius beginnt onen zu wichtigen Ereignissen, Begriffen mit einem Abschnitt über das mittelalter- u.ä. in grau unterlegten Kästen übersicht- liche Vilnius, unterteilt in Residenzstadt lich zusammen. Der Tallinn-Band enthält und Bürgerstadt. Das nachfolgende Kapi- darüber hinaus zahlreiche Abbildungen, tel, welches ebenfalls der Unterscheidung die, überwiegend schwarz-weiß, teils so- in Residenz- und Bürgerstadt folgt, schil- gar auf Kunstdruckpapier gedruckt sind, dert die Geschichte der Stadt während der dabei jedoch leider oftmals nicht format- Frühen Neuzeit, d.h. im Zeitalter der füllend wiedergegeben werden. Abgerun- Lubliner Union (1569–1795). Das 19. det werden beide Bände durch eine chro- Jahrhundert, als die Stadt nach der dritten nologische Zeittafel zur Geschichte der polnischen Teilung 1795 zum russischen Stadt, ein Orts- und Straßen- sowie ein Zarenreich gehörte, wird mit 20 Seiten Personenregister. Letzteres wird im Falle vergleichsweise kurz abgehandelt. Am von Vilnius ergänzt durch ein chronologi- längsten fällt mit 80 Seiten das Kapitel sches Verzeichnis der in der Stadt residie- zum 20. Jahrhundert aus, welches in ge- renden hohen Amts- und Würdenträger, sonderten Abschnitten den Ersten Welt- von litauischen Großfürsten, polnischen krieg, den Streit um Vilnius während der Königen und Wojewoden über katholi- Zwischenkriegszeit, den Zweiten Welt- sche Bischöfe und Erzbischöfe bis hin zu krieg, die sowjetische Periode und die russischen Militär- bzw. Generalgouver- Zeit als Metropole des wieder unabhän- neuren; die Verfasser haben versucht, Da- gigen Litauen nach 1991 behandelt. ten zu Lebens- und Amtszeiten aller Per- sonen zu finden, eine enorm aufwändige Der Band über Tallinn schildert das mit- Arbeit, die für die Stadtgeschichte Tal- telalterliche Reval bis zum Beginn der linns nicht mehr in der selben Ausführ- Schwedenzeit im 16. Jahrhundert, die lichkeit betrieben worden zu sein scheint. Geschichte während der Frühen Neuzeit zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhun- Die „Kleinen Geschichten“ liefern nicht dert, die Zeit von Katharina II. im späten nur eine sehr detaillierte Einführung in 18. Jahrhundert bis zur Ausrufung der die Geschichte der Städte Vilnius und Republik Estland 1918 sowie das 20. Tallinn, sondern liefern darüber hinaus Jahrhundert, wobei Tallinn in der Zwi- Ansatzpunkte für einen Einstieg in die schenkriegszeit – anders als das „durch weitergehende Beschäftigung mit der je- die Polen geraubte“ Vilnius – als Haupt- weiligen Stadtgeschichte. Im Band zur stadt des Landes behandelt werden kann. litauischen Hauptstadt folgt einem fünf- seitigen Überblick über „Vilnius in der

192 NORDEUROPAforum 22 (2012:1–2) Annotationen

Forschung“, der neben Themenbereichen möchte – und sei es auch, um sich als der Forschung verschiedene Perioden der historisch Interessierter auf eine Reise Geschichtsschreibung problematisiert und intensiver vorzubereiten – ist mit den bei- in den Anmerkungen die wichtigsten Titel den Büchern sehr gut bedient. Kein Rei- der wissenschaftlichen Forschungslitera- seführer kann die historische Neugier so tur nennt, auch eine Liste weiterführender eingehend befriedigen. Literatur auf Deutsch, Englisch und Fran- zösisch. Das Buch zu Tallinn enthält eine Krister Hanne (Berlin) geordnete Auswahlbibliografie mit vor allem bibliografischen Werken, Quellen- sammlungen, Gesamtdarstellungen sowie Spezialuntersuchungen.

Wer sich als Tourist vorab eingehender über die Geschichte Vilnius’ oder Tallinns informieren möchte, wird vermutlich ent- täuscht sein. Der wissenschaftliche An- spruch und die detaillierten Ausführun- gen, welche die Stadtgeschichte zugleich immer in die größeren historischen Zu- sammenhänge einzubetten bestrebt sind, werden das touristische Interesse bei wei- tem übersteigen; ein allgemeiner Über- blick über die Stadtgeschichte ist anhand der Bände nicht einfach zu gewinnen, zumal auf zusammenfassende Abschnitte weitgehend verzichtet wurde. Außerdem fehlen – außer im Falle von dem Buch über Vilnius, in dem eine Übersichtskarte auf der vorderen Umschlagsinnenseite zu finden ist – die typischen Hilfsmittel, die üblichen kunstgeschichtlichen Hinweise sowie jegliche optische Hervorhebungen, die der Orientierung dienen könnten. Wer sich hingegen mit wissenschaftlichem Interesse der Stadtgeschichte widmen

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