längst mit dem WM-Libero Matthäus. Und auch den bei Medien und Mannschaft an- gezweifelten Klinsmann hat Vogts wieder fest eingeplant, weil der im Training „mit Abstand der beste Stürmer“ sei. Der saß am Mittwoch auf einem Gar- tenstuhl am See und hatte noch nicht mal einen Verein für die nächste Saison, da er sich von Verhandlungen und Umzugsplä- nen von der WM nicht ablenken mag. Nur den „letzten ganz großen Erfolg“ strebt er noch an, und einen zweiten Weltmeister- titel kann seinetwegen dann auch Matthäus haben; „er kann uns schließlich helfen“, so professionell ist Klinsmann allemal. Was aber bleibt für die anderen, um sich der Stammelf zu nähern? Neben der tägli- chen Pressekonferenz vor allem das Trai- ning: Da läßt Jürgen Kohler einen Fehlpaß von Olaf Marschall demonstrativ mit weit gespreizten Beinen vorbeikullern – hat es jemand nicht gesehen? Und selbst Ersatz- tormann fragt den Torwart- trainer Sepp Maier, ob er sich „immer hin- werfen“ müsse – einer wie er könnte den Ball auch stehend fangen. Vor den Reportern preisen zwar alle die Mannschaft, aber anschließend sich selbst. zum Beispiel erzählt lieb und leise von seinen 27 Toren, einem „Nachkriegsrekord in Italien“, und davon, daß der weltbeste Stürmer Ronaldo noch so jung sei, daß er auch im nächsten Jahr um die Torjägerkanone ringen könne. Und Pariser Vorort Saint-Denis, Stade de France: Spitzenplätze in Sachen Diebstahl, illegale merkt mal an, daß viele Men- schen Libero spielen könnten; „die Frage ist nur: wie?“ WELTMEISTERSCHAFT So ist zwar alles Teamgeist in Helsinki, aber unterschwellig ist alles Hahnenkampf. Und so ist die Stimmung auch, als der Rad- Der Geruch des Geldes dampfer, mit dem DFB-Troß auf dem Oberdeck, vergangenen Donnerstag an zahllosen Inselchen vorbeischippert. Der Sieger der Fußball-WM 1998 wird im neuen Stade de France Die meisten Spieler blödeln fröhlich, gekürt. Gleich hinter den Eisengittern der dreiviertel trinken ein Gläschen und beobachten sich. Milliarden Mark teuren Arena im Pariser Vorort Saint-Denis Am lautesten ist Matthäus: Der erklärt Bierhoff sein dolles Handy und kommen- aber liegt das Revier der Verlierer. Von Walter Mayr tiert die Kleidung der wenigen an Bord befindlichen Damen. Nur Häßler, der in icht auszudenken, wenn bei den 1996 „gefährdete städtische Zone“ – ein die zweite Liga abgestiegen ist, läßt seine Deutschen wieder einmal alles gut- soziales Sprengstofflager erster Güte ge- linke und seine rechte Hand mit zwei Holz- Nginge bis zum Finale, und dann, wissermaßen. spießen gegeneinander fechten, bis end- ausgerechnet, der letzte Schritt schief: die Francs-Moisins, wie das gesamte kom- lich einer mit ihm redet. Busfahrt zum entscheidenden Spiel der munistisch regierte Hinterland des schön- Wie denn so ein Teamgeist eigentlich XVI. Fußball-Weltmeisterschaft. sten Stadions der Welt, steht für Superlati- aussehe, hat sich Thon, von den anderen Zwar liegt es verkehrsgünstig, „das ve anderer Art: in Sachen Diebstahl, ille- wegen seiner feinen Rhetorik „Professor“ schönste Stadion der Welt“, wie es der Fifa- gale Einwanderung, Rauschgifthandel und genannt, schon immer gefragt; vielleicht Präsident João Havelange nennt – das na- Aidserkrankungen belegt der Stadtteil sei der ja ein richtig schreckliches Ge- gelneue Stade de France, in dem der Titel- nationale Spitzenplätze. Komplette Sied- spenst. Ach nein, sagt er dann und klopft kampf am 10. Juni eröffnet und am 12. Juli lungen hier gelten für Fremde als tabu – für sich auf die Brust, „der sitzt hier drinne“. entschieden wird. Mit Donnerhall kreuzen schwarzrotgold getünchte Busse voller fuß- Das sieht Lothar Matthäus allerdings an- sich hier in Saint-Denis, fünf Kilometer ballspielender Millionäre ohnehin. ders. In so einem Trainingslager, sagt der, nördlich der Pariser Stadtgrenze, die Au- Höchstens „Köpkö“, jedem Kleindealer müsse man den Geist immer erst suchen, tobahnen A 1 und A 86. hier als Torwart-As von Olympique Mar- und niemand kenne ihn vorher. Doch Eine einzige Sekunde Unachtsamkeit al- seille vertraut, könnte vermitteln; Klins- Teamgeist hin oder her, klar sei ja, daß der lerdings, nur eine Autobahn-Ausfahrt zu mann, ehemals AS Monaco, wäre immer- eine in dieser Truppe „unterschiedlicher spät, schon wäre Bertis Truppe im Schla- hin noch imstande, dem Ost-Kameraden Charakterien“ stärker dirigiere als der an- massel: Saint-Denis, Stadtteil Francs-Moi- Kirsten altvertraute Losungen an den Pla- dere, und „damit habe ich keine Probleme, sins, Luftlinie 400 Meter vom Stadion, ist katwänden zu verdeutschen: „Steht auf ge- das war schon immer mein Ding“. ™ laut Dekret des französischen Premiers von gen Arbeitslosigkeit und Elend.“ Und der

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nicht heimkommen, wie 1996 Kaliber .45.“ Trotzdem, Francs-Moisins ist in England. Hier ist er nie so verrufen, daß selbst Einheimische den weggewesen. Weg dorthin scheuen. Kein Möbelwagen Daß der bevorstehende kommt mehr, kein Pizzabote, kein Paket- Auftritt von Ronaldo, Rober- dienst. Ware wird nur bis an den Rand des to Baggio und Matthäus al- Viertels geliefert. Im Innern blüht der Han- lerdings irgend etwas mit del mit Drogen,Autos und allem, was sonst dem eigenen Leben zu tun noch so „vom Lastwagen fällt“, wie das hätte, gar etwas daran än- hier heißt. Folgerichtig ziehen Lieferanten dern könnte, das erwartet es vor, ihre Lastwagen gleich ganz draußen keiner. „Die WM ist da drü- zu lassen. ben“, sagt einer. Und zeigt Francs-Moisins ist Endstation, im WM- übers dreckige Wasser des al- Fahrplan für Frankreichbesucher nicht vor- ten Kanals aufs neue Sta- gesehen. Für Fußballstars auf Abwegen dion. Es liegt zum Greifen oder Zuschauer, die ihre Wagen arglos par- nah am anderen Ufer. ken, wird nicht gehaftet. Wer hierher- Aus 180000 Kubikmetern kommt, weiß für gewöhnlich, wo es hin- Beton haben sie da, mitten geht: Die Miete ist niedrig, die Hemm- im geschundenen Industrie- schwelle auch und Bandenkrieg Alltag. „Es land an der Pariser Periphe- war hier noch nie so brutal wie jetzt“, sagt rie, eine gewaltige Schüssel Guy Roumaneix, der Trainer der örtlichen gegossen; darauf thront, Fußball-Jugend. scheinbar schwebend, ein Die inoffizielle Arbeitslosenrate im Kringel aus Glas. Nachts, un- Stadtteil Francs-Moisins wird auf 40 Pro- ter greller Beleuchtung, sieht zent geschätzt. Ein guter Verdienst liegt das Ganze aus, als sei ein rie- bei 2000 Mark. Nur langsam dringt der Ge- siges Flugobjekt notgelandet ruch des Geldes von jenseits des Kanals in Saint-Denis, auf dem Pla- herüber. neten der kleinen Leute. Er habe die Hoffnung auf bessere Zeiten „Gullivers Frisbeescheibe“, und Gäste noch nicht aufgegeben, sagt An- spotten die Anrainer. tonio, der Wirt, und mischt unterm Bild „Wir leben in der Sack- der Madonna mit dem Kinde weiter Cas-

SPORTIMAGE gasse“, sagt Antonio, der Pa- sis und Vinho Verde zu portugiesischem Einwanderung, Rauschgifthandel und Aidserkrankungen tron im Bistro an der Haupt- Kir. Deutsche, das kenne er noch aus Al- straße. „Hier ist das Ghetto“, garve-Zeiten, seien dankbare Zecher. Da Bundestrainer sähe beim Blick durchs Bus- sagt der Arzt Didier Menard, der sich um gelte es, den Zapfhahn zu drücken wie das fenster bestätigt, was er pausenlos predigt: die Heroinsüchtigen in der Schlafstadt Gaspedal beim Kickstart. Fraglich nur, ob Hungrig ist der Straßenfußballer. kümmert. „Es ist noch nicht die Bronx“, sie bis hierher kämen: „Selbst unsere Leu- Es trickst, jongliert und rempelt im besänftigt der Texaner Leroy Chalk, ein te haben ja schon Angst.“ Stadtteil Francs-Moisins, vom Morgen bis Ex-Basketballprofi.Wenn Dennis Rodman Leben in Francs-Moisins 1998, das heißt, zum Abend. Direkt vis-à-vis vom großen, und Scottie Pippen in Paris sind, treibt er eine neue 80 000-Mann-Arena für drei- neuen Stadion, und doch wie beerdigt im ihnen Frauen zu – ansonsten versucht er, viertel Milliarden Mark vor der Nase zu toten Winkel zwischen Autobahnen und die labile Vorstadt-Jugend vom Prügeln haben, und vor den Augen weiter das Elend altem Kanal, spielt die Jugend der Schlaf- zum Dunking zu bekehren: „Die haben der Banlieue, des betonierten Arbeits- stadt das alte Spiel. Hier muß der Fußball hier Messer und Keulen, aber noch kein kraftspeichers rund um Paris: Wohnblocks, groß genug für 3000 Menschen; schwerbe- wachte Supermärkte, verrammelte Schau- fenster; Nord- und Schwarzafrikaner in der Mehrheit, „Gaulois“ – weiße Franzosen – auf der Flucht. Sicher, stolz sind sie alle aufs schönste Stadion der Welt, nun das beherrschende Bauwerk zwischen der Basilika von Saint- Denis, wo die Gebeine der französischen Könige liegen, und jener von Sacré-Cœur zu Paris: Die Arena aus Stahl, Glas und Beton ist teuer und von erlesenem Ge- schmack, nicht anders als die Louvre-Py- ramide und weitere Ikonen des versunke- nen Mitterrandismus. Sie wird allerdings, findet sich nicht noch ein privater Nutzer, die Steuerzahler bis ins Jahr 2025 gut 20 Millionen Mark jährlich an Zuschuß kosten. Die Bauherren, allen vor- an der Bouygues-Konzern, haben sich die kleine Wegzehrung ins nächste Jahrtau- send vom Staat garantieren lassen.

G. LARVOR / AGENCE VU / AGENCE G. LARVOR Nützt es auch den Anwohnern, daß das Straßenkicker in Francs-Moisins: Beerdigt im toten Winkel zwischen Autobahn und Kanal Stadion nun ausgerechnet im als ammo-

der spiegel 22/1998 225 Sport niak- und kohlenwasserstoffbelastet ver- seine Chance zum Aufstieg – nutzt er sie schrieenen Gebiet vor den Toren der nicht, selber schuld. So einfach ist’s aber Hauptstadt verankert ist? Oder den Män- nicht. nern von den Kapverdischen Inseln, die Wer in der Schlafstadt groß wird, kommt in den Kneipen des Industriereviers La da so leicht nicht wieder raus. Der vertei- Plaine tanzen und trinken, bis das Heim- digt die zehn Hochhäuser von Francs- weh nachläßt? Moisins, als seien sie seine, samt der Urin- Den alten Portugiesen, die erzählen, wie pfützen im Aufzug, den vergammelten sie hier früher hinter Wänden aus geteer- Hausfluren, dem Leben ohne Kneipe, Dis- ter Pappe schliefen, aber wenigstens noch ko, Kino. „Die Jugendlichen sehen eine gutes Geld verdienten? Den jungen Alge- Welt voller Möglichkeiten, nur nicht für riern, die, arbeitslos, ihre Eltern gegen sich sich“, sagt die Lehrerin Patricia Belot vom aufbringen, weil sie Frühstück am Nach- Collège Auguste-Renoir. mittag zum Normalfall erklären? „Man hat ihnen zuviel versprochen und „Bisher ist das alles abstrakt. Du wohnst nichts gehalten; sie glauben an nichts hier und doch spürst du nichts. Das Sta- mehr“, sagt Omar Benamar. Er selbst dion ist ein Bunker, und die Jungen wer- war Europameister im Thai-Boxen und den verstehen müssen, daß für sie da kein Weg reinführt“, sagt Idrissa Coulibaly, der als Sportlehrer in Francs-Moisins gegen die Ausweglosigkeit arbeitet. Zu dem Eröffnungsmatch Frankreich–Spanien im Stade de France war er, mit Frei- karten versehen, samt einer Gruppe Jugendlicher aus der Schlafstadt angerückt. Den schmutzigen alten Ka- nal von Saint-Denis entlang waren sie losgelaufen, vor-

bei an Kleineleutehäusern, SPORTIMAGE schäbigen afrikanischen Ar- Stadioneröffnung (im Januar): „Wie eine Fototapete“ beiterwohnheimen und Bruch- stücken der Brücke, die eigentlich seit lan- fährt nun wieder Taxi, rund ums neue gem fertig sein sollte – als Zeichen dafür, Stadion. daß auch Schmuddelkinder vom anderen Die wenigen, die es bis hinein geschafft Ufer im schönsten Stadion der Welt will- haben, sitzen vom 10. Juni an mehrheitlich kommen sind. in signalorangefarbenen Regenjacken im Dann wurde für sie aber mit einem Stadion – mit dem Rücken zum Spiel. Sie Schlag sichtbar, daß Fußball mehr ist als haben einen Hilfsjob als Ordner. nur Schweiß und Torschuß: Am Kanal hat- Die Frustrierten belagern bereits ne- ten Schiffe aus Paris angelegt, voll mit benan das neue Warenhaus, um zu erfah- Champagner-Volk, roten Teppichen und ren, was aus ihren Bewerbungsunterlagen Hostessen in atemberaubenden Mini- geworden ist. Die kommunistische Stadt- röcken. Die Hochhausbewohner rieben regierung habe darauf gedrungen, so heißt sich die Augen: „Es war wie eine Fata Mor- es, statt Arbeitsloser Haftentlassene zwecks gana, wie eine Fototapete“, sagt Idrissa, besserer Resozialisierung einzustellen. der Betreuer: „Zum Glück war ich mit den Und der große Rest lebt weiter, als stün- Kleineren unterwegs. Mit den 15jährigen de Saint-Denis nicht eine beispiellose In- hätte es Intifada gegeben.“ vasion bevor. Lungert rum, überall, wo Daß auf dem Rückweg, als die erste Leben durch muß, in Hausfluren, an Plät- Schockwelle verebbt war, am alten Kanal zen und Ampeln. Feuert Kugeln auf die dann noch das eine oder andere geparkte Hausfassade der Schuldirektorin oder Auto zu Bruch ging, sollte keinen verwun- plündert den einzigen Supermarkt. Die dern, der Saint-Denis kennt, sagt Idrissa: Kommune schießt Bares zu, damit der „So ist das Leben, nicht jeder hier funk- Laden geöffnet bleibt. tioniert wie ein Roboter – Anmarsch, Set- Nicht, daß die Polizei resigniert hätte, zen, Fußball, Rückmarsch.“ nur weil sie mit Pflastersteinen, vollen Blu- Desgleichen funktioniert hier keiner mentöpfen und Sprüchen bombardiert wie in der täglich ausgestrahlten Coca- wird vom Kaliber „Na, ihr schwulen Hühn- Cola-WM-Werbung, wo Einwanderer, chen, wie geht’s?“ schwarz-braun-gelb, zwischen Industrie- Nein, das stecken die Spezialtruppen ruinen ruck, zuck mit Fallrückziehern den von der Anti-Kriminalitäts-Brigade in Ball ins Netz wuchten und danach Saint-Denis weg, sie kennen ja ihre Klien- befreit in die Kamera lächeln. So einfach tel. „Steine schmeißen, das ist hier so eine hätten sie’s zwar gern, die PR-Abteilungs- Art, guten Tag zu sagen“, sagt Pascal leiter der herrschenden Klasse: jedem Petitpas, der das seit sieben Jahren erlebt.

226 der spiegel 22/1998 Es gibt straff organisierte Wochen gegen Rassismus, multikulturelle Umzüge, Fußballturniere unter der Schirmherrschaft des Alt- Nationalspielers Dominique Rocheteau und Kinderaus- tausch mit anderen Not- standsgebieten. Handver- lesener Nachwuchs aus Francs-Moisins war, mit öf- fentlichen Geldern versorgt, zum Schnuppern in brasilia- nischen Favelas; Kumpels aus anderen Stadtvierteln fuhren nach Argentinien, Südafrika, Bosnien. Es ist die Hohe Schule fran- zösischer Staatskunst und Verwaltungsfinesse, selbst- verschuldete Fehlentwick- lungen mit kostspieligen Therapieprogrammen zu bekämpfen, gleichzeitig noch eventuelle Oppositionsbe- strebungen zu kontrollieren und das Ganze am Ende so zu drehen, daß für alle Be- teiligten das Gütesiegel re- publikanischer Gesinnung abfällt. Der extreme französische

G. LARVOR / AGENCE VU / AGENCE G. LARVOR Zentralismus, der Hochmut Zuschauertribünen: Den Hochmut der Eliten abgefedert der Eliten, im Kern unange- tastet seit Jahrhunderten, Eher schon klingt Ohnmacht durch bei wird abgefedert durch ein wild wucherndes denen, die ausbaden müssen, was die Gestrüpp aus Nachbarschaftskomitees, Stadtplaner rund um Paris verbrochen ha- Selbsthilfegruppen und Einzelkämpfern ben.Von „Schwertschlägen ins Wasser“ ist mit Hang zur Vereinsbildung. bei der Polizei die Rede, vom Kampf gegen Zwölf Bürgervereinigungen haben sich „eine Generation, die an nichts mehr rund ums Stade de France gegründet, Hun- glaubt“, und von Skepsis, ob Aktionen derte von Stunden haben sie getagt und nützlich sind, wie jene vom Februar, als 85 schließlich sieben Kundschafter zum Wem- Beamte den von 3000 Menschen bewohn- bleystadion nach London entsandt, um die ten „Renoir-Riegel“ im benachbarten La Folgen täglichen Zusammenlebens mit ei- Courneuve gestürmt haben. Ergebnis ner 80000-Mann-Arena abschätzen zu ler- gleich Null. nen. Zurückgekommen sind sie als glühen- Unverändert sind die Kommunisten de Anhänger eines eigenen Nationalsta- mächtig, in Saint-Denis regieren sie seit dions vor ihrer Haustür. gut 70 Jahren. Straßen, Plätze und Sport- Es sind der französische Patriotismus anlagen hier heißen nach Lenin, Stalingrad, und der tief wurzelnde Gemeinsinn, die Mandela und Degeyter, dem Komponisten, wie eine eiserne Klammer die Gegensätze der mit der „Internationale“ den Ver- im Land zusammenhalten, Reiche und dammten ein Denkmal gesetzt hat und in Arme, Schwarze und Weiße, Helden und Saint-Denis starb. Richtung Stadion gibt’s Verlierer. Wird etwas zur Staatsaffäre Bronzeplatten für die Märtyrer des Nazi- erhoben, ist das Volk im wesentlichen auf terrors und eine Straße des Fortschritts, Linie. mit Häusern im Stil des frühen Maschi- Beim Stadionbau ist das gelungen, und nenzeitalters. bei der Weltmeisterschaft wird es nicht an- Dem Betonkommunisten Georges Mar- ders sein. Widerstand von seiten jener, die chais zu Ehren ist zur Stadioneröffnung in „benachteiligten Vierteln“ leben, wie es eine Gedenkminute eingelegt worden. auf Staatsfranzösisch heißt, ist nicht zu er- Und seine Erben feiern weiter unverfroren warten. In Francs-Moisins haben sie auf jeden noch so geringen Erfolg im Kampf eine nackte Betonmauer bereits liebevoll gegen den Verfall von Saint-Denis, als die Flaggen der WM-Teilnehmer gepinselt. seien sie es nicht selbst gewesen, die mit Und unten, am alten Kanal, hoffen sie der gleichförmigen Kasernierung Zehn- noch immer, daß die Holzbrücke rechtzei- tausender die Lunte ans Pulver gelegt tig fertig werden möge, hinüber zum haben. schönsten Stadion der Welt. ™

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