Industriekultur in

82 IN.KU Mai 2019 Lenzburg als Zentrum der Frühindustrialisierung im

Der bernische Unteraargau wird im 18. Jahrhundert zum Hotspot der früh- industriellen Entwicklung. Voraussetzung dafür ist unter anderem die Das Aquarell von David Bosshard aus bernische Manufakturordnung von 1719, die Rahmenbedingungen für die dem Jahr 1827 zeigt das frühindustrielle Entstehung von frühen fabrikähnlichen Betrieben schafft. Und das gebildete Areal am Südwestrand der Altstadt von Lenzburg: rechts der Hängeturm der Bürgertum der Kleinstädte ist offen für die neuen Entwicklungen. So ent- Bleiche, links anschliessend die Walke aus der Zeit um 1700 und dahinter der stehen ab 1720 in Zofingen, Lenzburg, Aarau und umliegenden Gemeinden breite Giebel des 1759/60 erstellten in kurzer Folge erste Manufakturen. Handelshauses von Marcus Hünerwadel.

Merkantilismus hiess die neue Wirt- tionismus reden. Der bernische Staat schuf den sogenannten Kommer- zünftischen Stadtwirtschaft von schaftsform, die Ende des 17. Jahr- war vorerst negativ vom neuen fran- zienrat und erliess bereits 1685 Zürich, Basel oder St. Gallen libe- hunderts von Minister Jean-Baptiste zösischen Modell betroffen, liess erste Vorschriften für Manufakturen. ralisierte Bern die aufkommende Colbert in Frankreich eingeführt sich dann aber davon inspirieren. Erster Höhepunkt dieser Anstren- Textilwirtschaft auf dem Land und wurde. Ziel war es, die Produktion Mit der Aufhebung des Edikts von gungen war schliesselich 1719 der schuf so die Voraussetzungen für im eigenen Land zu fördern, einen Nantes 1685 begannen zudem die Erlass der grossen Manufakturord- den Aufstieg des kleinstädtischen Grenzschutz aufzubauen und so eine Vertreibungen der französischen nung, die die verschiedenen Mandate Bürgertums zu Ansehen und Ver- aktive Handelsbilanz zu erzielen. Hugenotten, die stark in den neuen der vergangenen 30 Jahre in eine mögen. Als erstes Zentrum etab- Heute würde man auch von Protek- Textilgewerben aktiv waren. Bern gültige Form goss. Im Gegensatz zur lierte sich dabei die Stadt Lenzburg.

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Das Hünerwadel-Imperium

Mit Brief vom 11. August 1719 er- hielt der Rat von Lenzburg das Manufakturmandat zugeschickt mit der Aufforderung, es von der Kanzel zu verlesen und es öffentlich anzu- schlagen. In Lenzburg bestand be- reits eine kleine Seidenbandweberei des Johann Rudolf Meyer, der ge- gen den Widerstand der Posamenter- Meister eine kleine Manufaktur auf- gebaut hatte. Die Berner Regierung schützte ihn nicht zuletzt auf der Grundlage des Mandats gegen die Vorwürfe der städtischen Hand- werker. Der kleine Anfang mit Seide in Lenz- burg wurde dann schnell überflügelt von der Baumwollverarbeitung, die im Aargau zwar spät, sich dafür aber sehr schnell ausbreitete. Die Verarbeitung der importierten Baum- wolle erfolgte im 18. Jahrhundert noch im Verlagssystem mit Heim- spinnerei und Heimweberei. Sie breitete sich ab den 1720er-Jahren im bernischen Unteraargau rasch aus. Arbeitskräfte waren genügend vorhanden. Die wirtschaftliche Krise nach dem Ende des Dreissigjährigen Krieges und dem Bauernkrieg 1653 hatte verbreitet Armut gebracht. Mit der wachsenden Bevölkerung Die Familie Hünerwadel Errichtung einer Bleiche. Sein Sohn Hängeturm zum Trocknen der ge- war ein grosses Reservoir an an der Spitze Johann erweiterte schon bald mit bleichten Tücher. Marcus Hüner- Spinnern und Webern vorhanden. einer Rotfärberei. Die Vettern der wadel erhielt 1732 die Konzession Die Verarbeitung der Baumwolle Die Familie Hünerwadel war zu Familie, allen voran Marcus Hüner- für die Erweiterung seiner Walke zu wurde rasch zu einem wichtigen Beginn des 17. Jahrhunderts in wadel, hatten in unmittelbarer Nähe einer Indienne-Manufaktur. Er erhielt Pfeiler der ländlichen Wirtschaft. Lenzburg zugezogen, hatte 1615 der Bleiche eine Walke errichtet; vom Berner Kommerzienrat ein Mitte des 18. Jahrhunderts arbeite- das Bürgerrecht erworben und es wahrscheinlich das heute noch be- Darlehen von 8000 Pfund zu zwei ten bereits bis zu einem Drittel der rasch zu Ansehen und Ämtern ge- stehende Gebäude mit dem Wasser- Prozent Zinsen. Das Unternehmen ländlichen Bevölkerung für die bracht. Hans Martin Hünerwadel rad am Aabach. Zwischen Walke schien zu florieren. In der berni- Baumwollverleger der Kleinstädte. erhielt 1683 die Konzession für die und Bleiche errichteten sie einen schen Bevölkerungsumfrage von Bernische Quellen sprechen im 1764 ist die Rede von der Lenz- Jahr 1735 von 25 200 produzierten burger Indienne-Fabrik mit 200 Baumwolltüchern im bernischen Arbeitskräften. Marcus Hünerwadel Aargau, 1755 bereits von fast und sein gleichnamiger Sohn liessen 135 000, mit Schwerpunkten im 1759/60 unmittelbar vor der Altstadt und im Wynental. In der ein mächtiges Handelshaus errichten. Stadt Lenzburg war die Produktion In der Folge der Krise nach der fran- bedeutungslos, aber Lenzburg war zösischen Einfuhrsperre für Textilien der Handelsplatz. Und dieser Handel 1785 mussten sie das Haus aller- wurde in den frühen Jahren von dings der Stadt verkaufen, die es Gottlieb Hünerwadel Marcus Hünerwadel einer Familie dominiert. später als Schulhaus nutzte.

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Das Textilgeschäft bringt Reichtum in die Stadt

Wie ihre Vettern von der Bleiche- Schafisheim begonnen hatte, sowie Der Grundrissplan von 1857 zeigt den Ausbau des 19. Jahrhunderts: Linie waren sie vor allem auch seit den 1760er-Jahren der aus die an der Walke neu angebaute Erweiterung der Bleiche. Gut sichtbar das Wasserrad an der ursprünglichen Walke. gross im Handelsgeschäft tätig. Da Neuenburg stammende Vaucher in zwischen 1753 und 1774 die städ- . Dazu kamen die Produ- entlang des Aabachs mit dem Er- scheinlich älteste Teil des ganzen tischen Waaghausbücher erhalten zenten Oberkampf in Aarau und weiterungsbau der Bleiche aus Ensembles und bildet damit den sind, sind wir gut informiert über das Dolder in Wildegg. Der Unteraargau, dem 19. Jahrhundert und vor allem Anfang des Hünerwadel-Imperiums. wachsende Textilhandelsgeschäft. jahrhundertelang bernische Korn- dem unscheinbaren Gebäude der Sie ist mittlerweile in ihrem Wert er- Lenzburg scheint in dieser Zeit im kammer, war zusätzlich zum Zentrum ehemaligen Walke, an der bis heute kannt und soll in nächster Zeit sanft bernischen Staat der wichtigste der bernischen Protoindustrie ge- ein Wasserrad, das wahrscheinlich saniert und einer neuen Nutzung Stapelplatz für Rohbaumwolle ge- worden. aus dem späten 19. Jahrhundert zugeführt werden. wesen zu sein mit einem Höhepunkt stammt, angebaut ist. Die Walke, im um 1770 mit fast 450 000 Pfund Die Bleiche heute Besitz der Gemeinde, ist der wahr- gewogener Ware. Die Baumwolle stammte zum grössten Teil aus dem Das frühindustrielle Ensemble der östlichen Mittelmeerraum, später Bleiche Lenzburg hat mit der Zen- dann auch aus Westindien (Marti- trumsumfahrung stark gelitten. Das nique). Dominiert wurde das Ge- Müllerhaus ist zum Solitär geworden schäft von den beiden Hünerwadel- und ist abgeschnitten von den ehe- Familienzweigen sowie den Familien maligen Ökonomiegebäuden. Von Seiler, Spengler, Meyer und Rohr, diesen mussten die ursprüngliche wobei unter den Familien verschie- Bleiche und der Hängeturm schon dene Verwandschaftsbeziehungen vor längerer Zeit weichen. Noch bestanden. erhalten ist das Gebäudeensemble Eindrücklich waren auch die Zahlen im Export. 1773 wurden fast 261 000 Pfund Baumwolltücher abgewogen, davon etwa 40 Prozent bedruckte Indienne. Bei der Indienne war der Die prächtige Gouache von Johann Wilhelm Heim (wohl um 1820) zeigt Familienzweig des Marcus Hüner- das stattliche Wohn- und Handelshaus von Gottlieb Hünerwadel, das dieser vom Berner Architekten Ahasver Carl von Sinner nach 1785 am Bleicherain wadel dominierend, bei den ge- erstellen liess, das heutige Müllerhaus. Es zeugt vom Reichtum der Lenzburger bleichten Tüchern die Witwe des Textilindustriellen. Bleichebesitzers Johann Hünerwadel Das heute noch sichtbare Wasserrad am Aabach gehört zur ehemaligen Walke, mit ihrem Sohn Gottlieb. Ebenfalls wahrscheinlich der älteste noch erhaltene Gewerbebau aus der Zeit um 1700. auf dem Lenzburger Markt präsent An die Walke angebaut ist die Mitte des 19. Jahrhunderts neu errichtete Bleiche. waren die beiden anderen Indienne- Fabrikanten in der Grafschaft Lenz- Quelle: Der Text basiert grösstenteils auf der vorbildlichen burg, die Hugenotten-Familie Brutel, Stadtgeschichte von Heidi Neuenschwander: Geschichte der Stadt Lenzburg. Von der Mitte des 16. zum Ende des 18. Jahrhunderts. die 1721 in Zofingen und 1736 in Aarau 1984, 224–274.

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SGTI – Schweizerische Gesellschaft IN.KU

für Technikgeschichte und Industriekultur Sihlquai 253, 8005 Zürich Tel: +41 44 710 70 20

Präsident: Industrieperlen in und um Lenzburg Cornel Doswald, Bremgarten

Geschäftsführung: Museum Burghalde und Kinderwagen der 1882 gegrün- Fotoagentur Ex-Press AG Lenzburg deten Wisa Gloria eingerichtete Roger Bennet Transportbahn. Ein erstklassiger Der Name gibt die Lage wieder: Fundus bieten die Exponate, Filme Die SGTI bietet zum jährlichen Mit- Am Fuss des Hügels mit dem statt- und Werbematerialien von der Kon- glieder­beitrag von Fr. 70.– lichsten Schloss im Aargau wird die servenfabrik Hero, seit 1886 mit Sitz Burghalde in Lenzburg 1628 erbaut. in Lenzburg. Im digitalen Stadtarchiv • Vorträge, Exkursionen, Reise n, Das Gebäude dient seit 1985 als und auf der Lenzburger Klangkarte Tagungen, Ausstellungen • jährlich 4 Zeitschriften «industrie- Museum für regionale Archäologie sind weitere Industrieperlen zu ent- kultur», 3 IN.KU-Bulletins und und Stadtgeschichte. Die Burghalde decken. weitere industriekulturelle Publi- beherbergt zudem ein Museum für burg, das damals unter Berner Herr- Das Museumsteam freut sich auf kationen. russische Ikonen. schaft stand. Zum wichtigsten Wirt- Ihren Besuch! • Online-Inventar Industriekultur Schweiz Seit Herbst 2018 erstrahlt das schaftszweig entwickelt sich das

Weitere Unterlagen über unsere Museum im neuen Glanz. Es wurde Geschäft mit Baumwolle. Im 19. Jahr- Museum Burghalde Aktivitäten erhalten Sie über die während anderthalb Jahren umfas- hundert werden Firmen gegründet, Schlossgasse 23 Postadresse oder per Mail. send renoviert und neu eingerichtet. von denen einige gesamtschweize- 5600 Lenzburg Entlang einer wandfüllenden Instal- rische Bedeutung erlangen: so etwa lation ist der Wandel des Orts zur die Hero, die Waffenfabrik Hämmerli, museumburghalde.ch ASHT modernen Stadt abwechslungsreich die Seilerwarenfabrik (heute Mam- präsentiert, wobei ein Fokus auf der mut) und die Wisa Gloria. Eine At- Öffnungszeiten: Association suisse d’histoire de la Industriegeschichte liegt. traktion der neuen Ausstellung ist Dienstag bis Samstag: 14 bis 17 Uhr technique et du patrimoine industriel Im 18. Jahrhundert florierte Lenz- die eigens für die Spielzeugklassiker Sonntag: 11 bis 17 Uhr

ASHT – Association suisse d’histoire de la technique et du patrimoine industriel (ASHT), Industriekulturverein Sihlquai 253, 8005 Zürich am Aabach Lenzburg Tel: +41 44 710 70 20 Der Verein wurde am 5. März 2002 Président: mit der Gründungsversammlung Cornel Doswald, Bremgarten zum Leben erweckt. Die rasante in- Agence: dustrielle, wie auch verkehrs – und Fotoagentur Ex-Press AG bevölkerungsmässige Entwicklung und will wenn möglich bestehende technikbegeisterte, wie aber auch Roger Bennet im Raum Lenzburg Seetal hat dazu Einrichtungen erhalten, dokumen- für naturverbundene Wanderer und

geführt, dass viele der Zeitzeugen tieren und der Öffentlichkeit zugäng- Freizeitgeniesser. Der Weg zurück

• L’ASHT organise des conférences, der Industriealisierung entlang dem lich machen. zum Ausgangspunkt kann entweder excursions, symposiums, exposi- Aabach der Spitzhacke zum Opfer Der Verein zeigt die Bezüge dieser mit der Seetalbahn oder mit den tions, voyages du patrimoine in- gefallen sind, oder mangels Interesse Einrichtungen zueinander wie auch öffentlichen Busbetrieben gemacht dustriel. kein Unterhalt mehr gemacht worden zum zeitgeschichtlichen, technischen, werden. • Les membres reçoivent le bulletin ist und sie so nun dem Zerfall aus- sozialen, wirtschaftlichen und politi- Dass der Verein auch zeitgemäss IN.KU et la revue «industriekultur» et d‘autres publications. gesetzt sind. Diese Ausgangslage schen Leben auf. aufgestellt ist, zeigt er mit einer • Inventaire en ligne du patrimoine hat initiative Mitbürger zur Gründung Mit der Realisierung eines Industrie- eigenen App (iOS im App Store, für industriel de la Suisse des Vereins bewogen. kulturpfads entlang dem Aabach Android in Google Play) zur Wander- Die Aufgaben des Vereins werden in lässt sich die Industriegeschichte route mit vielen Informationen zu Cotisation annuelle: Fr. 70.– den Statuten umschrieben. So för- der Region Lenzburg-Seetal in reiz- den 27 Standorten:

Sur demande (Adresse postale/mail) dert der Verein in der Öffentlichkeit voller Umgebung erleben. Die 17 km IndustriekulTOUR Aabach nous vous envoyons très volontiers das Verständnis für Industriekultur Wegstrecke sind ein Erlebnis für www.industriekultur-aabach.ch toute documentation concernant l’ASHT. Impressum Text Dr. phil. Bruno Meier, Baden Gestaltet von Andreas Fahrni, Mail: [email protected] Christine von Arx, Martin Stücheli Schaffhausen www.sgti.ch www.asht.ch Bilder Stadtgeschichte Lenzburg Gedruckt bei Peter Gehring AG, www.industriekultur.ch und Industriekultur am Aabach Winterthur

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