Plenarprotokoll 19/30

Deutscher

Stenografscher Bericht

30. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 20: ner teilweisen Legaldefnition für „Teile der Bevölkerung“ in § 130 StGB Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Drucksache 19/1842...... 2837 C schusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu der Unterrichtung durch die Bundes- (AfD) ...... 2837 D regierung: Bericht der Bundesregierung zur Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU). . . 2838 A weltweiten Lage der Religions- und Weltan- schauungsfreiheit Axel Müller (CDU/CSU)...... 2839 D Drucksachen 18/8740, 19/1381 Nr. 3, (CDU/CSU)...... 2840 B 19/1894...... 2823 B Dr. Jürgen Martens (FDP)...... 2841 D (CDU/CSU) ...... 2823 B (SPD) ...... 2843 A Volker Münz (AfD)...... 2824 D Jens Maier (AfD) ...... 2843 B Dr. (SPD)...... 2825 D (DIE LINKE)...... 2844 C (AfD)...... 2827 A (BÜNDNIS 90/ Dr. Lars Castellucci (SPD)...... 2827 B DIE GRÜNEN)...... 2846 A Dr. (FDP)...... 2827 C Dr. (CDU/CSU) . . . . . 2847 A (DIE LINKE) . . . . . 2828 C Jens Maier (AfD) ...... 2847 C (BÜNDNIS 90/ Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD)...... 2848 B DIE GRÜNEN)...... 2830 A Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU)...... 2849 B Aydan Özoğuz (SPD)...... 2831 C (AfD)...... 2849 C (AfD)...... 2832 C

Markus Grübel (CDU/CSU)...... 2833 C Zusatztagesordnungspunkt 9: (FDP)...... 2834 D Antrag der Abgeordneten Dr. , (SPD)...... 2835 C , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Nach (CDU/CSU) ...... 2836 B Tunnelhavarie und Rheintal-Streckensper- rung 2017 von Rastatt – Aufarbeitung und Notfallmanagement entwickeln Tagesordnungspunkt 21: Drucksache 19/1839...... 2850 C Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Christian Jung (FDP) ...... 2850 D Jens Maier und der Fraktion der AfD einge- , Parl. Staatssekretär BMVI . . 2851 C brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Strafgesetzbuchs – Einführung ei- (AfD)...... 2852 D II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Martin Burkert (SPD)...... 2853 D Dr. (AfD)...... 2870 B (DIE LINKE)...... 2855 A Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD)...... 2870 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 2856 B Tagesordnungspunkt 24: Dr. (AfD)...... 2857 B Antrag der Abgeordneten , Florian Oßner (CDU/CSU)...... 2858 A Katja Dörner, Sven Lehmann, weiterer Abge- (CDU/CSU)...... 2859 B ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kinderzuschlag automatisch Sabine Leidig (DIE LINKE)...... 2859 D auszahlen – Verdeckte Armut überwinden Drucksache 19/1854...... 2871 D Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 23: DIE GRÜNEN)...... 2872 A a) Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, , weiterer Ab- () (CDU/CSU). . . 2873 A geordneter und der Fraktion DIE LINKE: (AfD) ...... 2874 C Export von Rüstungsgütern verbieten Drucksache 19/1339...... 2860 D Nadine Schön (CDU/CSU)...... 2875 C b) Antrag der Abgeordneten , Sönke Rix (SPD)...... 2876 B , Katharina Dröge, Matthias Seestern-Pauly (FDP)...... 2877 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein Rüs- Sabine Zimmermann (Zwickau) tungsexportkontrollgesetz endlich vorle- (DIE LINKE) ...... 2878 C gen (CDU/CSU)...... 2879 C Drucksache 19/1849...... 2860 D Sabine Zimmermann (Zwickau) Sevim Dağdelen (DIE LINKE)...... 2861 A (DIE LINKE) ...... 2880 A Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU)...... 2862 A Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/ (DIE LINKE)...... 2862 D DIE GRÜNEN)...... 2880 C Steffen Kotré (AfD) ...... 2864 C Nächste Sitzung ...... 2882 C (SPD) ...... 2865 A (DIE LINKE)...... 2865 C Anlage 1 (FDP)...... 2866 C Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . 2883 A (FDP)...... 2867 B Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 2868 B Anlage 2 (CDU/CSU)...... 2869 B Amtliche Mitteilungen...... 2883 D Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2823

(A) (C)

30. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Es war der Auftakt zu einem grässlichen Krieg, der Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte ein Drittel der Bevölkerung des Heiligen Römischen Rei- nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. ches auslöschte. Ein Drittel! Dieser Krieg war geprägt durch die Unbedingtheit, die aus der religiösen Gegner- Ich möchte Ihnen gerne vor Eintritt in die Tages- schaft entstanden war, und wurde dann unbeherrschbar. ordnung mitteilen, dass sich der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt hat, während der Herfried Münkler hat in seiner faszinierenden Be- Haushaltsberatungen ab dem 15. Mai wie üblich keine schreibung und Analyse des Dreißigjährigen Krieges ge- Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und nau erklärt, was damals passiert ist. Er formuliert: Dieser auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als Prä- Dreißigjährige Krieg ist zugleich eine „Analysefolie“ für senztage sind die Tage von Montag, dem 14. Mai, bis das, was in heutiger Zeit stattfndet. Auch heute entstehen Freitag, den 18. Mai, festgelegt worden. Sind Sie damit aus der Unbedingtheit der religiösen Überzeugung wie- einverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der schreckliche Kriege, und es gibt sie auch schon, bei- (B) das so beschlossen. spielsweise in der ganzen Region Syriens und des Irak. (D) Aber nicht nur in diesen Regionen sehen wir eine Ent- Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 20 auf: wicklung, bei der man fast deprimiert sagen will: Hört Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- das eigentlich gar nie auf? richts des Ausschusses für Menschenrechte und Wie auch im Dreißigjährigen Krieg kommen neben humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu der Unter- den religiösen Überzeugungen natürlich auch noch Inte- richtung durch die Bundesregierung ressen dazu. Diese Interessen werden aber nicht defnitiv Bericht der Bundesregierung zur weltweiten formuliert, sondern hinter den religiösen Überzeugungen Lage der Religions- und Weltanschauungs- versteckt. freiheit Ich denke beispielsweise an die Entwicklung in Indo- Drucksachen 18/8740, 19/1381 Nr. 3, 19/1894 nesien, in einem Land, das von der Demokratie geprägt war und in dem die wenigen Christen – 3 Prozent – pro- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für blemlos mit den Muslimen zusammenlebten, bis der ara- die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Mangels Wi- bische Islam in jüngster Zeit versuchte, die Strukturen derspruch ist auch das so beschlossen. dieser Gesellschaft mehr und mehr zu übernehmen – mit Damit eröffne ich die Aussprache und erteile das den entsprechenden Konsequenzen. Viele moderne Mus- Wort dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Volker lime in Indonesien erzählen mir, dass sie Sorge haben, Kauder. dass durch diese Unbedingtheit, die auf der Hauptinsel Java schon die Scharia hervorgebracht hat, ihr schönes (Beifall bei der CDU/CSU) Land und ihre Gesellschaft zerstört werden könnten. Die ohnehin schon schlimme Situation in Pakistan Volker Kauder (CDU/CSU): wird mit keinem Tag besser. Bis zum heutigen Tag sitzt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Asia Bibi im Gefängnis – auch kleine Kinder werden ein- Fast auf den Tag genau vor 400 Jahren begann mit dem gesperrt – und wird nicht freigelassen, obwohl die halbe Bruch der Religionsfreiheit einer der schlimmsten Krie- Welt dafür wirbt. ge in Deutschland, der Dreißigjährige Krieg, nämlich am 23. Mai 1618 mit dem sogenannten zweiten Prager Auch in China gibt es eine neue Entwicklung, die von Fenstersturz als Antwort darauf, dass die Katholiken aus der chinesischen Regierung unter dem Stichwort „Sini- Wien den protestantischen Landständen in Böhmen die sierung der Religion“ vorangetrieben wird. In einer gro- Religionsfreiheit mehr oder weniger entzogen hatten. ßen Provinz kann man eine Entwicklung beobachten, 2824 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Volker Kauder (A) von der man nicht weiß: War das vorauseilender Gehor- der Religionsfreiheit ihre Moschee bauen und darin beten (C) sam, oder ist das die neue Strategie? Es wurde ein – so zu können, verlangen wir, dass die Christen ihre kleinen kann man sagen – Papier an alle Menschen in dieser Re- Kirchen in der Türkei auch bauen dürfen, meine sehr ver- gion herausgegeben, auf dem der Hinweis zu lesen war: ehrten Damen und Herren, Kinder unter 18 Jahren dürfen nicht mehr in religiöse Veranstaltungen mitgenommen werden; denn sie sind in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie diesem Alter noch nicht urteilsfähig. Die Eltern werden bei Abgeordneten der AfD, der FDP, der LIN- angehalten, die Kinder nicht in Liebe zur Religion, son- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- dern in Liebe zum Land, zur Wissenschaft und zum Fort- NEN) schritt zu erziehen. Den Eltern wird geraten: Wer es mit Diese Forderung der Religionsfreiheit muss unbedingt seinen Kindern gut meint, sollte keine Kirchen und keine sein, nicht die Unbedingtheit der einzelnen Religion. Das religiöse Einrichtungen mehr besuchen. – Die Beispiele könnte unser Beitrag sein, indem wir dies immer wieder ließen sich fortsetzen. Aus diesen Beispielen wird deut- einfordern, wo wir auch sind. Die Religionsfreiheit ist lich, dass Frieden in einer Gesellschaft nicht möglich ist, das wohl bedeutendste Menschenrecht überhaupt, wenn Religionsfreiheit nicht gewährleistet wird, meine sehr verehrten Damen und Herren. (Zuruf von der AfD: Unsinn!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP so- weil es den Menschen über seine irdische Existenz hi- wie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. naus verweist. [AfD]) Deswegen fnde ich es gut, dass wir einen Bericht der Werfen wir noch einmal den Blick zurück. Münkler Bundesregierung bekommen haben. Ich fnde es groß- liefert nicht nur eine Analyse des Dreißigjährigen Krie- artig, dass wir uns in der Koalition darauf verständigen ges, sondern er weist auch darauf hin, wo die Lösung konnten, mit Markus Grübel einen Beauftragten für welt- liegen könnte. Er führt den Westfälischen Frieden an, weite Religionsfreiheit zu installieren. Und ich fnde es in dem die Religions-, Gewissens- und Überzeugungs- gut, dass wir die Zusage haben, nun regelmäßig Berichte freiheit zumindest im Grundsatz formuliert wurden. Mit zu bekommen, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass der diesem Westfälischen Frieden wurde der Dreißigjährige Friede in dieser Welt größer wird. Er wird nur dann grö- Krieg beendet. ßer, wenn die Religionsfreiheit mehr und mehr wieder zu Deswegen bleibt es dabei, auch wenn gesagt wird, einem wichtigen Thema und zu einem wichtigen Grund- dass sich in unserer Welt vieles wandelt: Ohne Religions- satz wird. freiheit werden die schweren Konfikte, die auch jetzt im Herzlichen Dank. (B) Orient zu beobachten sind, nicht beendet werden können, (D) meine sehr verehrten Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP so- wie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Es wird immer wieder gefragt: Was können wir zur Lösung dieser Konfikte beitragen? Liebe Kolleginnen Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Volker Münz, und Kollegen, wir sind aufgrund tragischer Erfahrungen, AfD. die wir gemacht haben, das Land der Religionsfreiheit. (Beifall bei der AfD) Wir können deshalb unseren Beitrag dadurch leisten, in- dem wir sagen: Ein zentrales Thema von Gesprächen in dieser Region, aber auch in anderen Teilen der Welt muss Volker Münz (AfD): sein, Religionsfreiheit einzufordern und für ein Ende Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- der Unbedingtheit einzutreten. Das heißt natürlich, dass nen und Kollegen! Um die Religionsfreiheit ist es welt- die Religionsfreiheit in allen Ländern gewährleistet sein weit schlecht bestellt. Der vor zwei Jahren von der Bun- muss. Darauf müssen wir pochen und auf die guten Bei- desregierung vorgelegte Bericht ist schon wieder veraltet. spiele hinweisen. Die Situation hat sich seitdem weiter verschlechtert. Es ist geradezu ein Jammer, dass in Regionen, die als Aus dem Bericht geht aber kaum hervor, dass die Wiege des Christentums gelten, Christentum immer we- Christen die größte unterdrückte und verfolgte Religi- niger gelebt wird. onsgruppe weltweit sind. Zur Ächtung und Sanktionie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- rung der Christenverfolgung hat meine Fraktion in der ordneten der SPD und der FDP) letzten Woche einen Antrag eingebracht. Dafür sind wir von den anderen Fraktionen in der Debatte teilweise hef- Ein Beispiel ist die Türkei. In der Region Kappadokien tig beschimpft worden. in der Türkei, einer Wiege des Christentums, sind nur noch wenige Christen zu fnden. Aber selbst diese weni- (Christine Buchholz [DIE LINKE]: Zu gen haben kaum noch Chancen, religiöses Leben in der Recht!) Türkei darzustellen. Deshalb muss, fnde ich, gesagt wer- Das war beschämend, meine Damen und Herren. den – ausgehend von der Situation in unserem Land –: So wie wir ganz selbstverständlich Muslimen die Mög- (Beifall bei der AfD – Aydan Özoğuz [SPD]: lichkeit geben – und dafür treten wir auch ein –, als Teil Die Rede war beschämend!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2825

Volker Münz (A) Die Unterdrückung von Religionen und insbesondere sie tragenden Parteien haben das jedoch durch ihre ver- (C) von religiösen Minderheiten, nicht nur Christen, fndet antwortungslose Asyl- und Zuwanderungspolitik mitzu- weltweit überwiegend in Staaten statt, in denen der Islam verantworten. die vorherrschende Religion ist. Woran liegt das, meine (Beifall bei der AfD) Damen und Herren? Auch dies wird im Bericht kaum thematisiert. Das liegt daran, dass der Islam im Unter- Der Bericht der Bundesregierung ist ein Anfang. Es ist schied zum Christentum keine Trennung von Staat und auch sinnvoll, einen Beauftragten dafür zu ernennen. Ich Religion kennt. Aus diesem Grund haben die meisten is- wünsche Herrn Grübel dazu viel Erfolg. Aber ich vermis- lamisch geprägten Staaten die Allgemeine Erklärung der se konkrete Taten. Verhindern Sie, dass die Religionsfrei- Menschenrechte wie auch den Zivilpakt der Vereinten heit und andere Rechtsprinzipien in unserem Land durch Nationen entweder nur eingeschränkt anerkannt oder gar vorgebliche Toleranz und falsch verstandene Humanität nicht ratifziert. noch weiter ausgehöhlt und untergraben werden! Der sogenannte politische Islam hat sich mittlerweile (Beifall bei der AfD) auch in Staaten ausgebreitet, die früher einmal als libe- ral galten, wie auch Volker Kauder schon gesagt hat: In- Verhindern Sie Waffengeschäfte mit Ländern, in denen donesien, Malaysia, von der Türkei ganz zu schweigen. Religionsfreiheit und andere Menschenrechte nicht ge- Auch die Vorstellung von einem liberalen „Euro-Islam“ währleistet sind! ist an der harten Realität zerschellt. Der deutsche Politik- (Beifall bei der AfD) wissenschaftler syrischer Herkunft Bassam Tibi spricht davon, dass der „Kopftuch-Islam“ den „Euro-Islam“ be- Setzen Sie das Instrument wirtschaftlicher Sanktionen siegt habe. Auch Mouhanad Khorchide, Seyran Ates aus auch gegen Staaten ein, die die Rechte religiöser Min- Berlin und viele andere liberale Muslime sind mit ihren derheiten beschneiden, genauso wie Sie Sanktionen in Bemühungen gescheitert und stehen in Deutschland teil- anderen Zusammenhängen einsetzen. weise unter Polizeischutz. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Neben der staatlichen Verfolgung ist es vor allem die (Beifall bei der AfD) fehlende oder eingeschränkte Staatlichkeit, aufgrund de- rer die Religionsfreiheit nicht durchgesetzt werden kann.

Nach der sogenannten Drei-Elemente-Lehre setzt Staat- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: lichkeit drei Dinge voraus: erstens ein Staatsgebiet inner- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lars Castellucci, halb von Grenzen, zweitens ein Staatsvolk und drittens SPD. die Staatsgewalt. (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) Wir erleben einen Verlust an Staatlichkeit nicht nur, der CDU/CSU) wenn wir in die weite Welt blicken, sondern auch bei uns, meine Damen und Herren. Dr. Lars Castellucci (SPD): Danke, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen (Beifall bei der AfD) und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grenzen sind de facto abgeschafft. Die Staatsbür- Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden gerschaft wird letztlich auf die gesamte Bevölkerung wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine ausgedehnt. Die Staatsgewalt zeigt Anzeichen des Ver- Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. sagens, wo zum Beispiel No-go-Areas entstanden sind, wie selbst die Kanzlerin zugegeben hat, wo zum Beispiel Das stammt aus der sozialdemokratischen Bibel. Es christliche Flüchtlinge in Asylheimen schikaniert wer- stammt von Willy Brandt. den, wo zum Beispiel Hetzjagden auf Juden stattfnden und wo es zu religiösem Mobbing gegen christliche und (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Der jüdische Kinder durch muslimische Mitschüler in unse- wird in den letzten Tagen auch wieder oft be- ren Schulen kommt. müht!) (Beifall bei der AfD – Stefan Müller [Erlan- Er hat das auf einem Parteitag gesagt, als er nach einer gen] [CDU/CSU]: Haben Sie die richtige gefühlten Ewigkeit nicht mehr für das Amt des Partei- Rede eingepackt!) vorsitzenden kandidiert hat. Liebe Andrea, ich wünsche dir viel Erfolg. Wir hatten 2015 und 2016 einen Zustand, in dem in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutschland Recht und Ordnung nicht herrschten. Das sind die Worte des damaligen bayerischen Ministerpräsi- Schauen wir einmal, wie lange das reicht und ob du an denten und heutigen Innenministers. Willy mit seinen über 20 Jahren heranreichst. (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Stefan (Zuruf von der AfD: Zur Sache!) Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht sie nicht richtig!) Dieser Satz hat für uns Sozialdemokratinnen und So- zialdemokraten weiter Gültigkeit. Was ist das denn für Gestern haben wir im Parlament die zunehmende im- eine Freiheit, von der wir da reden? Es ist nicht die Frei- portierte Judenfeindschaft in unserem Land beklagt. Die heit des Stärkeren, der den Schwächeren unterdrückt. Es Bundesregierung, die Regierungen der Länder und die ist nicht die Freiheit, wo jeder machen kann, was er will. 2826 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Dr. Lars Castellucci (A) Aus lauter Egoisten entsteht keine freie Gesellschaft. Die dieser Stelle aus auf jeden Fall alles Gute für seine Ar- (C) Freiheit, die Willy Brandt meinte, ist ein guter Nachbar. beit. Freiheit ist immer Freiheit von etwas und Freiheit zu et- was. Religions- und Weltanschauungsfreiheit bedeutet, (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ dass es auch ohne Religion und Weltanschauung geht. Es CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE geht darum, den Glauben anderer zu respektieren. Das GRÜNEN) wünsche ich mir von allen Mitgliedern dieses Hauses. Wir begrüßen, dass der vorliegende Bericht regelmä- ßig fortgeschrieben werden soll. Der Einsatz der Bundes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ regierung zum Schutz der Religions- und Weltanschau- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ungsfreiheit darf nicht nachlassen. CDU/CSU, der AfD, der FDP und der LIN- KEN) Jetzt möchte ich ein paar Anmerkungen auch nach innen richten. Am Mittwoch hat Berlin Kippa getragen. Herr Münz, da Sie die letzte Debatte angesprochen Das war ein wichtiges Signal der Solidarität. In unse- haben: Wenn Sie die Christenverfolgung benutzen, um rem Land sollen alle, egal welcher Religion, egal wel- gegen andere Religionen aufzustacheln, cher Hautfarbe, egal welcher sexuellen Orientierung, frei und ohne Angst auf die Straße gehen können. Wir dürfen (Widerspruch bei der AfD) nicht nachlassen, daran zu arbeiten. dann vergreifen Sie sich an dem genannten Grundsatz. (Dr. [AfD]: Das kann ich ja jetzt nicht mehr dank Ihnen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Der Bericht sagt klar: Die Freiheit der Religion und CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Weltanschauung schützt nicht Religionen und Weltan- schauungen; sie schützt Menschen. Auch deshalb geht Der vorliegende Bericht befasst sich mit der weltwei- eine Debatte, ob eine Religion dazugehört oder nicht, ten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. völlig fehl. Die Menschen gehören immer dazu und mit Ich glaube, wir sind an einem Punkt, wo wir wieder er- ihnen ihr Glaube. Wir müssen diese ausgrenzenden De- läutern müssen, warum wir uns eigentlich weltweit um batten beenden. Religions- und Weltanschauungsfreiheit kümmern. Aus (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Amerika heißt es: America frst! – Andere sagen, man solle sich erst einmal um das Volk kümmern. Dazu noch Menschen sind frei, sich zu ihrer Religion zu beken- einmal Willy Brandt. Er hat gesagt: nen oder auch nicht. Der Staat eröffnet dafür Räume. Er (B) sollte ihnen da nichts vorschreiben. Deswegen halte ich (D) Wo immer schweres Leid über die Menschen ge- es auch als Christ für falsch, anzuordnen, in allen staat- bracht wird, geht es uns alle an. lichen Gebäuden in Bayern christliche Symbole aufzu- hängen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP]) Leider geht es hier nicht um Religion, sondern es geht Vergesst nicht: Wer Unrecht lange geschehen lässt, um Wahlkampf. Es zeigt, dass wir auch im Inneren nicht bahnt dem nächsten den Weg. davor gefeit sind, dass Religion für andere Ziele verein- Ja, selbstverständlich, jeder Mensch muss sich erst nahmt wird. Ich kann da nur sagen: Finger weg davon! mal um sich selbst kümmern und darf sich auch nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- überfordern – das gilt auch für Länder –; aber man darf KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- doch nicht dabei stehen bleiben. Unsere Verantwortung NEN sowie der Abg. Markus Grübel [CDU/ reicht so weit, wie auch unsere Kräfte reichen. Verant- CSU] und Dr. Stefan Ruppert [FDP]) wortung heißt, dass wir das tun, was wir können. Ein letzter Punkt. Es werden immer wieder Vorkomm- nisse in Heimen für Gefüchtete angesprochen, und es Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: werden Stimmen laut, wir müssten unterschiedliche Ein- Herr Kollege Castellucci, gestatten Sie eine Zwi- richtungen für Menschen unterschiedlicher Religionen, schenfrage des Kollegen Bystron von der AfD? unterschiedlichen Geschlechts etc. haben. Dazu will ich sagen: Davon halte ich gar nichts. In Deutschland muss für alle und von Anfang an der Anspruch sein, dass wir Dr. Lars Castellucci (SPD): über alles Trennende hinweg gut zusammenleben wollen. Ich gestatte keine Zwischenfrage. Das Wichtigste, was wir als Politikerinnen und Politiker dafür tun können, ist, diesen Anspruch selbst vorzuleben. (Zuruf von der AfD: Toller Demokrat!) Wir müssen anstecken – positiv, für die Freiheit. Dazu rufe ich uns alle auf. Verantwortung heißt, dass wir tun können, was in un- Vielen Dank. serer Macht steht. Deswegen begrüßt die SPD-Fraktion, dass es nun einen Beauftragten der Bundesregierung für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weltweite Religionsfreiheit gibt. Wir wünschen ihm von der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2827

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sie instrumentalisieren solche Fälle, um Menschen in (C) Dann erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Bystron diesem Land gegeneinander aufzuhetzen, und dagegen für eine Zwischenbemerkung. verwehren wir uns. (Jürgen Braun [AfD]: Sie haben keine Ah- Petr Bystron (AfD): nung! Nur Sprüche!) Vielen Dank. – Herr Dr. Castellucci, Sie haben vorhin Dagegen werden wir angehen, solange wir hier miteinan- gesagt, wir missbrauchten die Christenverfolgung. Das der zu tun haben. ist ein sehr schwerwiegender Vorwurf, den Sie da ma- chen. Vielen Dank. (Zuruf des Abg. [FDP]) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE – „Instrumentalisieren“, ja, danke, Herr Kollege. GRÜNEN) Ich möchte Ihnen etwas vorlesen, was sehr aktuell ist. Es ist ein Bericht eines Schülers hier aus Berlin: Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Ich gehe in die siebte Klasse auf ein Gymnasium in Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Ruppert, Schöneberg. Dort werde ich ausgegrenzt, weil ich FDP-Fraktion. Deutscher bin und Schweinefeisch esse. Es wird (Beifall bei der FDP) auf Türkisch und Arabisch über mich gelästert. Auf Deutsch werde ich als Hurensohn oder gefckte Hure beschimpft. Außerdem werde ich ab und zu Dr. Stefan Ruppert (FDP): geschlagen und getreten. Wenn ich anderen Jungen Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- zu nahe komme ... Mädchen werden in meiner Klas- ren! Ich fnde es erst einmal wunderbar, dass es zu einer se als Schlampen bezeichnet, wenn sie schulterfreie frühen Stunde an prominenter Stelle eine solche Debatte Shirts tragen. Ich versuche seit vielen Monaten, die gibt. Religionsfreiheit weltweit ist bedroht, und wir aus Schule zu wechseln, fnde aber keinen freien Schul- diesem Hause müssen uns an die Seite derer stellen, die platz. wegen ihres Glaubens oder auch wegen ihres Nichtglau- bens weltweit verfolgt werden. Das ist der Erfahrungsbericht eines Mobbingopfers – „Tagesspiegel“, 11. April 2018 – hier aus Deutschland. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

(B) Ich bitte Sie: Sie haben lange genug Regierungsver- Wir können nicht wegschauen, wenn in Saudi-Arabien (D) antwortung getragen. Die Zustände, die hier herrschen, etwa Dinge fnanziert werden, in Malaysia, wo Men- gehen auf Ihr Konto zurück. Und versuchen Sie nicht, schen im Namen des Islam gegeneinander aufgestachelt von Ihrem Versagen abzulenken, wenn Sie uns vorwer- werden. fen, irgendetwas zu instrumentalisieren. (Martin Hebner [AfD]: Tun Sie aber!) (Beifall bei der AfD) Wir können nicht wegschauen, wenn Rohingya in Myan- mar verfolgt werden. Wir können aber auch bewusst Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: nicht wegschauen, wenn Christen weltweit verfolgt wer- Herr Kollege Castellucci. den, nur weil sie etwas glauben. Demokratie gehört mit Religionsfreiheit untrennbar zusammen. Dort, wo man nicht beten kann, kann man in der Regel auch nicht wäh- Dr. Lars Castellucci (SPD): len, und darauf müssen wir hinweisen. Das sagt jemand, der schon vom bayerischen Verfas- sungsschutz beobachtet worden ist. Ich glaube, wir brau- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der chen von Ihnen keine Nachhilfe. SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Jürgen Braun [AfD]: Was für eine Heuche- lei! – Weitere Zurufe von der AfD) Wir haben dieser Tage erlebt, dass auch die Religi- onsfreiheit in unserem Land bedroht ist. Volker Kauder Es geht am Ende um den Zusammenhalt in diesem und andere Kollegen haben bei „Berlin trägt Kippa“ de- Land. Ihre Beiträge sind immer wieder dazu geeignet, monstriert. Das ist für uns ein Akt der Solidarität – für Gruppen gegeneinander auszuspielen. uns leider nur ein Akt der Solidarität; – es ist für uns (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ungefährlich –; für die Menschen, die, wenn sie durch BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Straßen laufen, mit dem alltäglichen Antisemitismus konfrontiert werden, ist es eine tägliche Sorge. Es kann Dass Sie nun einen solchen Fall, den ich bedauere und nicht sein, dass auch in unserem Land die Religionsfrei- der aufgeklärt werden muss, hervorziehen, ist einfach nur heit nicht gelebt werden kann. Wir müssen uns für diese ein Beleg dafür, was ich in meiner Rede zum Ausdruck Menschen einsetzen. gebracht habe. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD (Jürgen Braun [AfD]: Zur Sache! Sie haben und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie keine Argumente, nur Sprüche!) bei Abgeordneten der AfD) 2828 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Dr. Stefan Ruppert (A) Ich glaube, dass mein eigener Glaube nicht nur Pri- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) vatsache ist. Das hört man dieser Tage häufg. Ich will Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Buchholz, meinen Glauben durchaus auch im öffentlichen Raum Fraktion Die Linke. ausleben können. Ein Symbol dafür ist, dass man im öf- fentlichen Raum Kippa tragen kann und sich damit nicht (Beifall bei der LINKEN) sozusagen in das Hinterzimmer, den Gemeinderaum, die Synagoge zurückziehen muss. Es muss Möglichkeiten Christine Buchholz (DIE LINKE): geben, seinen Glauben auch öffentlich und in aller Frei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir dis- heit zu bekennen. kutieren heute den Bericht der Bundesregierung zur (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie weltweiten Religionsfreiheit. Die Linke begrüßt diesen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Bericht. Er enthält wichtige Grundlagen zum Verständnis GRÜNEN) der Religionsfreiheit als Menschenrecht und dokumen- tiert die erschreckende Entwicklung von Religionsfrei- Bei uns sind die Konfikte übrigens auch nicht so alt. heit in der Welt, aber auch in Europa. Wenn meine wunderbare tolerante 94-jährige Großmut- ter einem Menschen etwas misstraute, dann sagte sie Für Die Linke sind Gewissens-, Glaubens-, Religions- häufg: Der guckt schon so katholisch. und Weltanschauungsfreiheit elementare Menschenrech- te. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist (Beifall bei der LINKEN) aber auch nicht schlecht!) Sie gelten für alle: für Christinnen und Christen, für Jü- Das ist kein Zeichen von Intoleranz gewesen, sondern dinnen und Juden, für Musliminnen und Muslime, für ein Zeichen, dass auch in ihrer Jugend die Unterschiede Alevitinnen und Aleviten, für Buddhistinnen und Bud- der Konfessionen die Menschen getrennt haben und dass dhisten, für Anhänger aller anderen Religionen und es – bis in den Sprachgebrauch hinein –, schwierig war, auch für Atheistinnen und Atheisten. Dabei gibt es keine mit der jeweils anderen Konfession tolerant umzugehen. Rangfolge; alle Religionen sind schutzwürdig. Deswegen sollten wir uns auch nicht über andere erhe- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai ben, sondern sollten bei uns selbst immer darauf achten, Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ob wir diese Toleranz gegenüber anderen aufbringen. Alle Menschen haben das Recht, sich zu einer Religion (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zu bekennen, keiner Religion anzugehören und ihre Reli- der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- gion in der Öffentlichkeit zu leben. (B) SES 90/DIE GRÜNEN) (D) Wenn die AfD die Diskriminierung, Bedrängung und Am Ende verlasse ich etwas die Perspektive des Frei- Verfolgung von Christen für ihren Hass auf den Islam en Demokraten und spreche mal als sehr gläubiger oder, nutzt, dann ist das einfach nur schäbig. ich würde sagen, doch gläubiger Protestant. Es ist für mich schon bemerkenswert, dass ein bayerischer Minis- (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der terpräsident mir als gläubigem Protestanten sagt: Dieses AfD: Oh!) Kreuz ist kein religiöses Symbol; dieses Kreuz ist ein Die Achtung der Menschenrechte muss die Grundlage Identitätssymbol. – Er sagt mir quasi, dass er meine Re- der Außenpolitik sein, ohne Wenn und Aber. Leider ist ligion in Bayern in einer Form verstaatlicht, die meine das nicht immer der Fall. 2011 erklärte der damalige Ver- Religionsfreiheit angreift. teidigungsminister Thomas de Maizière Saudi-Arabien (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN zum Stabilitätsanker in der Region. Er sagte wörtlich – und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zitat –: Deswegen ist es schade, dass der Bericht nicht so ak- Menschenrechtsüberlegungen müssen eine Rolle tuell ist, dass Herr Söder darin ebenfalls enthalten ist. Er spielen, doch überwiegen die internationalen Si- betreibt – dabei haben die christlichen Kirchen richtige cherheitsinteressen. Worte gefunden – das Geschäft, das weltweit betrieben Diese Devise leitet auch die aktuelle Bundesregierung. wird: Er stellt ein Symbol – bei ihm ist es noch nicht mal mehr ein religiöses Symbol, sondern ein identitäres Sym- Die Linke sagt: Wer sich die weltweite Religionsfrei- bol – in den Dienst seiner politischen Agenda. Ich fnde, heit zu Recht auf die Fahnen schreibt und gleichzeitig er hat uns Christinnen und Christen damit einen Bären- Waffen an Saudi-Arabien liefert, macht sich absolut un- dienst erwiesen. Und am Ende wird das die Religions- glaubwürdig. freiheit auch in unserem Land stärker machen. – Es war mir als engagiertem und gläubigem Protestanten wichtig, (Beifall bei der LINKEN) das mal zu sagen. Gleiches gilt für die Innenpolitik. Der Bericht spricht Vielen Dank. von einer Zunahme islamfeindlicher Einstellungen in Europa und Deutschland. Islamfeindliche Gewalt nimmt (Beifall bei der FDP, der SPD und dem zu, Konvertiten erleben Vorurteile, in einigen Ländern BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- wird das individuelle Recht auf Bekenntnis in der Öf- geordneten der CDU/CSU und der LINKEN) fentlichkeit durch Bekleidungsverbote eingeschränkt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2829

Christine Buchholz (A) Studien belegen die Diskriminierung von Muslimen in Wenn Innenminister Seehofer nun auch noch die The- (C) der Privatwirtschaft. se verbreitet, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, stößt er genau in das gleiche Horn. Das ist mehr als fahr- Eine zum Islam konvertierte Wissenschaftlerin aus lässig, weil es letztendlich die Thesen der Hetzer von Berlin-Grünau berichtete mir gestern, wie die Stimmung rechts bestätigt. nach dem Einzug der AfD in das Berliner Abgeordneten- haus gekippt ist. Die Leute auf der Straße lassen ihrem (Beifall bei der LINKEN) Hass viel ungehemmter als vorher freien Lauf. Statt der üblichen verächtlichen Blicke erlebt sie direkte Drohun- Wir wollen, dass jeder und jede überall in diesem Land gen. Sie ist letztendlich aus Angst vor tätlichen Übergrif- Kippa, Kopftuch oder Kreuz tragen kann, ohne bedroht, fen weggezogen. gemobbt oder geschlagen zu werden. Wir möchten, dass vor keiner Synagoge, keiner Moschee oder Kirche Si- Junge Frauen mit Kopftuch berichten, dass sie an cherheitskräfte stehen müssen. Schulen nicht nur gegen die Vorurteile von Schülern ankämpfen müssen, sondern nicht selten auch Feindse- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ligkeiten von Lehrkräften ausgesetzt sind. Das kommt in neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Ost und West vor. Muslime werden bei der Arbeits- und GRÜNEN) Wohnungssuche diskriminiert. Zur Religionsfreiheit gehört auch die staatliche Neu­ (Dr. Alice Weidel [AfD]: Ja, genau! Die Ar- tralität. Im Bericht heißt es: men!) Der Staat muss einen Rahmen schaffen, in dem alle Das ist nicht hinnehmenbar. Religionsgemeinschaften gleichberechtigt leben können. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auf all das warten in Deutschland insbesondere noch Muslime. Der Bericht verzeichnet einen Anstieg der Zahl antise- mitischer Vorfälle und Straftaten. Wir verurteilen zutiefst (Dr. Alice Weidel [AfD]: Wieso? Die haben jede Form des Antisemitismus. doch überall Sonderrechte! Das verstehe ich gar nicht!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das muss sich ändern. Die Mehrzahl antisemitischer Straftaten kommt übrigens (Beifall bei der LINKEN) (B) von rechts. (D) Staatliche Neutralität gebietet auch, dass an der Wand (Dr. Alice Weidel [AfD]: Ja, genau! – Beatrix eines Amtsgebäudes das Kreuz nichts zu suchen hat. Der von Storch [AfD]: Das glauben Sie doch nicht Raum gehört allen. mal selber!) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Alice Weidel Wir verwahren uns dagegen, dass Muslime unter den [AfD]: Das ist unglaublich!) Generalverdacht des Antisemitismus gestellt werden. Im Wenn in Bayern einerseits in Ämtern das Kreuz ange- Antisemitismusbericht des Unabhängigen Expertenkrei- bracht wird und andererseits das Tragen des Kopftuchs ses heißt es übrigens, Antisemitismus sei durch die seit weiter eingeschränkt wird, zeigt das, worum es der bay- Jahren aufgeheizte Debatte über Islam, Terrorismus und erischen Landesregierung eigentlich geht: um die Aus- Zuwanderung begünstigt. Rechtspopulistische und ver- grenzung der anderen. schwörungstheoretische Bewegungen und Parteien hät- ten ein politisches Klima der Polarisierung geschaffen. – (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alice Weidel (Dr. Alice Weidel [AfD]: Natürlich!) [AfD]: Sie kennen die Bedeutung des Kopftu- Wer das Holocaust-Mahnmal als Denkmal der Schande ches gar nicht! Ausgrenzung des Kopftuchs – bezeichnet, der befeuert genau dieses politische Klima dass ich nicht lache!) der Polarisierung. Die Linke hingegen steht für staatliche Neutralität und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- individuelle Religionsfreiheit zugleich; denn beides ge- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE hört zusammen. GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Mit der AfD spricht erstmals eine im Bundestag neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vertretene Partei einer Religionsgemeinschaft ab, sich gleichberechtigt entfalten zu dürfen. Ihre islamfeindli- Wir fordern von der Regierung und dem zukünftigen chen Reden sind nichts anderes als ein Rückfall in düs- Beauftragten Markus Grübel erstens, keine Waffen an tere Zeiten. Staaten zu liefern, die das Menschenrecht auf Religions- freiheit einschränken, und zweitens, jegliche Formen von (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- religionsbezogener und rassistischer Diskriminierung neten der FDP – Zuruf von der AfD: SED- gleichermaßen zurückzuweisen und nachhaltige Maß- Zeit!) nahmen zu ergreifen, damit diese Einstellungen in Schu- 2830 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Christine Buchholz (A) len und in der gesamten Gesellschaft zurückgedrängt Signal gegen den ekelerregenden Antisemitismus. Wir (C) werden können. brauchen mehr solcher Signale;

(Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drittens fordern wir die Bundesregierung auf, einen Rah- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der men zu schaffen, in dem auch muslimische Religions- SPD, der FDP und der LINKEN) gemeinschaften gleichberechtigt in Deutschland leben können. denn wir wissen aus unserer Geschichte, dass der Hass auf eine bestimmte Religion Ausdruck einer Denkwei- Vielen Dank. se ist, die Gewalt jedweder Minderheit zur Folge haben kann. Deshalb ist Grundkonsens aller Demokratinnen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- und Demokraten: Wehret den Anfängen. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alice Weidel [AfD]: Das war hervorra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gend! Eine hervorragende Rede!) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächster Redner ist der Kollege Kai Gehring, Bünd- Unser Grundgesetz schützt die Grund- und Freiheits- nis 90/Die Grünen. rechte aller. Das ist eine weltweit wichtige Botschaft. Deshalb sind wir Grüne Verfassungsschützer im aller- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) besten Sinne.

Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! SES 90/DIE GRÜNEN) 2015 haben Union, SPD und wir Grüne den Bericht zur Ich bin Christ. Ich bin Jude, wenn jemand Juden diskri- weltweiten Religions- und Weltanschauungsfreiheit auf miniert. Ich bin Moslem, wenn jemand Muslime dis- den Weg gebracht. Heute debattieren wir die erste Aus- kriminiert. Ich bin Atheist, wenn jemand Atheisten dis- gabe. Sie zeigt: Religiöse Verfolgung hat viele Formen, kriminiert. Religionsfreiheit ist kein Gnadenbrot oder religiöse Minderheiten werden vielerorts unterdrückt, Exklusivrecht für wenige. Religion ist das Recht, sei- und Anhänger nahezu jeder Religion sind irgendwo auf nen Glauben frei zu bekennen. Religionsfreiheit ist das der Welt sowohl Verfolgte als auch Verfolger. Schutzrecht für Religion und vor Religion. Beide Rechte (B) Für uns Grüne im Bundestag sage ich klar: Wir wen- müssen gekannt und durchgesetzt werden. (D) den uns gegen jede Diskriminierung und Verfolgung von Gläubigen, Glaubensgemeinschaften, religiösen Minder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heiten und Konfessionslosen – egal von wem und egal sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) wo. Der vorliegende Bericht hat Defzite. Die Lage der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Religionsfreiheit weltweit wird nicht systematisch ge- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der nug analysiert. Die Lage hierzulande bleibt ausgeblen- SPD, der FDP und der LINKEN) det. Diese Defzite sollten beim zweiten Bericht beseitigt Deutschland und die Weltgemeinschaft müssen überall werden. dort einschreiten und helfen, wo Menschenrechte – dazu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehört elementar die Religionsfreiheit – verletzt werden. sowie bei Abgeordneten der FDP) In vielen Ländern und Regionen ist Verfolgung aufgrund der Religionszugehörigkeit leider bitterer Alltag. Neben Menschenrechtsbasierte Außenpolitik beginnt ganz Christen und Juden sind die muslimischen Rohingya, die klar vor der eigenen Haustür. Wir Deutschen können im Ahmadiyya, die Bahai, die Jesiden, Schabak, Aleviten, Ausland am glaubwürdigsten für Religionsfreiheit ein- Schiiten, Sunniten, Uiguren und Tibeter betroffen. Diese treten, wenn wir sie auch im eigenen Land leben und an und andere gehören geschützt; Verbesserungen arbeiten. Dies kann nicht allein durch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) staatliche Stellen erfolgen oder den jeweiligen Religions- gemeinschaften allein aufgebürdet werden. Das gelingt denn Religions- und Weltanschauungsfreiheit muss für nur gemeinsam mit einer starken Zivilgesellschaft und alle gelten und nicht selektiv für eine Mehrheitsreligion. im interreligiösen Dialog. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SPD und der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Die Zahl der Anschläge auf jüdische und muslimische Gotteshäuser in Deutschland nimmt zu. und AfD Religion ist sehr individuell, persönlich und emotio- hetzen gegen Muslime. Juden werden auf der Straße an- nal. Sie kann sehr, sehr segensreich wirken, aber auch gegriffen. All dem müssen wir uns entgegenstellen. „Ber- politisch instrumentalisiert werden. Es ist offensichtlich, lin trägt Kippa“ war gelebte Zivilcourage und ein starkes dass Bayerns Ministerpräsident Markus Söder mit sei- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2831

Kai Gehring (A) nem Kreuzzwang das christliche Symbol zum Gegen- widersetzen und die Werte der Aufklärung hochzuhalten. (C) stand eines billigen Wahlkampfmanövers macht. Genau dafür steht Europa. Europa ist kein exklusiver christlicher Klub, sondern ein multireligiöser Kontinent. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ach Quatsch! – Sebastian Brehm [CDU/CSU]: Europa und Deutschland bedeuten Vielfalt. Ich weiß: Das stimmt nicht!) Für Fundamentalisten und Nationalisten ist das schwer Zu Recht empört viele Christinnen und Christen die erträglich. Aber auch aus dieser Erkenntnis heraus strei- parteipolitische Vereinnahmung ihres wichtigsten religi- ten alle Demokratinnen und Demokraten gegen men- ösen Symbols. Söder missachtet die Neutralitätspficht schenfeindliche und religionsfeindliche Tendenzen und unseres Staates und sendet ein Signal der Ausgrenzung. für Menschenrechte und Freiheit. Lassen Sie uns diesen Bei Söder und Seehofer ist unsere Verfassung offenbar Einsatz weiter verstärken. in schlechten Händen. Ja Herrgott, ist die CSU von allen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN guten Geistern verlassen? sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer hierzulande das Christentum überhöht, wird kaum Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: glaubwürdig gegen Christendiskriminierung in anderen Nächste Rednerin ist die Kollegin Aydan Özoğuz, Ländern angehen können. Nur wenn wir das Recht auf SPD-Fraktion. Glaubensfreiheit aller Menschen ernsthaft wertschätzen, können wir Brücken bauen und den Dialog über Men- (Beifall bei der SPD) schenrechte vertiefen. Als Menschenrechtspolitiker setze ich mich dafür ein, Aydan Özoğuz (SPD): dass Moscheen in Deutschland gebaut werden dürfen. Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Genauso streite ich dafür, dass die Kopten ihre Kirchen legen! Ich glaube, nicht nur der Bericht, sondern auch in Ägypten bauen dürfen oder das Bibelverbot in Sau- diese Debatte zeigt, dass die Religions- und Weltan- di-Arabien endlich aufgehoben wird. Es gibt verdammt schauungsfreiheit ein wirklich immens hohes Gut ist, viel zu tun. das es immer wieder zu schützen gilt. Sie ist Teil der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – UN-Menschenrechtscharta und der Europäischen Men- Dr. Alice Weidel [AfD]: Da haben wir über- schenrechtskonvention und natürlich auch ein immens haupt keinen Einfuss!) wichtiger Bestandteil unserer Außen- und Sicherheitspo- litik. Einschränkungen dieser Freiheit sind nichts anderes (B) Deutschland muss weltweit für Menschenwürde, Plura- als Menschenrechtsverletzungen. Diese müssen benannt (D) lismus und den Schutz vor Diskriminierung eintreten. und, wo immer möglich, natürlich beseitigt werden. Neben religiösen Rechten gehören die Rechte ethnischer, sozialer, geschlechtlicher und sexueller Minderheiten ge- In dieser Debatte ist deutlich geworden: Man steht nauso dazu, und die Bundesregierung muss diese immer nur dann wirklich glaubwürdig für Religions- und Welt- wieder verteidigen. anschauungsfreiheit, wenn man Gruppen nicht gegenei- nander ausspielt, sondern es damit wirklich für alle ernst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) meint. Eine Aufsplitterung des Menschenrechtsschutzes auf verschiedene Beauftragte sehen wir äußerst kritisch. Sie (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- haben als Koalition einen Religionsfreiheitsbeauftrag- KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten ernannt. Wann, bitte schön, ernennen Sie zum Bei- sowie bei Abgeordneten der FDP) spiel Beauftragte für Presse- und Meinungsfreiheit, für Die benannten Konfikte haben leider eines gemein- Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, für Wissen- sam: Es wird selten über religiöse Inhalte debattiert und schafts- und Kunstfreiheit, gestritten. Es geht um Macht, es geht um Dominanz, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das macht die Menschenrechtsbeauftragte, Herr Kollege!) (Dr. Alice Weidel [AfD]: Genau! Der fun- damentalistischen Strukturen, die Sie beför- für Kinderrechte, für Frauenrechte, für LGBTI-Rechte? dern!) Jede Aufteilung des Menschenrechtsschutzes ist willkür- lich. es geht um Unterdrückung, und es geht darum, wie das Verhältnis der jeweiligen Minderheit zur Mehrheit ist. Mit neuen Doppelstrukturen zwischen der Menschen- Der Bericht beschreibt sehr treffend, wie oft Minderhei- rechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt und einem Re- ten unterdrückt werden. Deshalb muss uns das eben auch ligionsbeauftragten im BMZ drohen Reibungsverluste. mahnen, dass wir helfen, diese Minderheitenrechte nicht Besser wäre eine umfassende Stärkung des Amtes der nur bei uns, sondern natürlich auch in allen anderen Län- Menschenrechtsbeauftragten gewesen. In anderen Staa- dern immer wieder zu verteidigen. ten haben Menschenrechte sogar Ministerrang. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Zum Schluss: Unsere Aufgabe im In- und Ausland ist der Abg. Dr. [CDU/CSU] und es, uns jeder Form des religiösen Fundamentalismus zu Dr. Stefan Ruppert [FDP]) 2832 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Aydan Özoğuz (A) Ich möchte noch einmal auf eines hinweisen: Die All- Vielen Dank. (C) gemeine Erklärung der Menschenrechte schützt nicht einzelne Religionen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten (Dr. Alice Weidel [AfD]: Ja, das haben wir der FDP und der LINKEN und des Abg. gemerkt!) Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]) sondern sie schützt das Individuum. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Dr. Alice Weidel [AfD]: Darum unterschreibt Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Verena der Zentralrat diese Charta eben nicht!) Hartmann, AfD, zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bun- destag. Sie schützt jeden Einzelnen, (Beifall bei der AfD) (Jürgen Braun [AfD]: Das interessiert Sie doch gar nicht, Frau Özoğuz!) Verena Hartmann (AfD): der sich in irgendeiner Gruppe bewegt, für sich zu ent- Sehr verehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Sehr scheiden, ob er zu einer Religionsgemeinschaft gehören geehrte Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute möchte, zu welcher er gehören möchte oder ob er zu gar mit einem Bericht vom 9. Juni 2016 zur weltweiten Lage keiner Religionsgemeinschaft gehören möchte. der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Die Daten­ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erhebung stammt vom Oktober 2015, ist also brandaktu- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ ell. In der ersten Debatte 2016 sprach sich Herr Kauder, DIE GRÜNEN) CDU/CSU, gegen die weltweite Verfolgung von über 100 Millionen Christen aus Herr Grübel, ich möchte Ihnen gratulieren und sagen, dass ich mir sicher bin, dass Sie Ihre Sache gut machen (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das werden. Aber ich möchte noch einen Punkt im Beson- macht er jedes Jahr!) deren hervorheben, von dem ich glaube, dass er einen und erntete Beifall. In der letzten Woche sprach sich guten Ansatz, auch für Ihre zukünftige Arbeit, darstellt: die AfD gegen die weltweite Verfolgung von nunmehr der Religionsunterricht. Darüber debattieren wir viel in 200 Millionen Christen aus – und erntete hetzerische Be- unserem Land, und zwar zu Recht. Der Menschenrechts- schimpfungen. Es war von Verschwörungstheorien die ausschuss der Vereinten Nationen hat sich dahin gehend Rede und davon, dass sich Nazis und Rassisten nicht zu (B) geäußert, dass der Unterricht an öffentlichen Schulen schade seien, verfolgte Christen zu instrumentalisieren (D) neutral und objektiv sein muss. Wie ist das bei uns? Wir und die Gesellschaft zu spalten. haben in 16 Bundesländern sehr unterschiedliche Mo- delle. Es macht daher grundsätzlich Sinn, immer wieder (Beifall bei der AfD) deutlich zu machen: Bei uns ist das Recht der Religions- gemeinschaften auf einen eigenen Unterricht geschützt. Ihnen waren die Menschen so wichtig, dass diese De- Manche Bundesländer gehen noch weiter und sagen: In batte erst einmal für die nächsten zwei Jahre auf Eis ge- der Schule sollten Kinder und Jugendliche eigentlich ge- legt wurde. Auch das von Herrn Kauder angesprochene rade lernen, dass Menschen unterschiedlich sind, dass sie Schicksal von Asia Bibi, einer Christin, die nur aufgrund an unterschiedliche Dinge glauben, dass man auch bei ihres Glaubens in Pakistan zum Tode verurteilt wurde völlig unterschiedlicher Weltanschauung friedlich und und mit ihren Kindern im Gefängnis Tag für Tag, Jahr gut zusammenleben kann. Das machen wir beispielswei- für Jahr die Vollstreckung fürchten muss, schien Ihnen ja se in Hamburg mit dem Religionsunterricht für alle. Ich ganz besonders am Herzen zu liegen. Haben Sie sich seit würde mir wünschen, dass wir über das Thema Religi- 2016 für sie eingesetzt? onsunterricht nicht nur, wenn es um andere Länder geht, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja!) sondern auch, wenn es um die Situation bei uns geht, noch viel stärker debattieren. Es war ja kaum Zeit. Und die Spielkarte „Du kommst aus dem Gefängnis frei“ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten der LINKEN und der Abg. Gyde Jensen (Volker Kauder [CDU/CSU]: Haben Sie was [FDP]) gemacht? Nein!) Wir reden heute über alltägliche Aggression gegen- war schließlich schon für einen Herrn Deniz Yücel reser- über religiösen Menschen. Da kann es nur einen Schluss viert. Da ging es um das im Vergleich hochdramatische geben – ich hoffe, dass das auch zu einem Schulterschluss Schicksal eines deutsch-türkischen Journalisten, von Po- führt –: Kein jüdisches Kind, kein christliches Kind, kein litik und Medien gleichermaßen geschätzt wegen seiner muslimisches Kind darf sich in der Schule oder auf der bis zur Ekstase ausgelebten Meinungsfreiheit, die sich Straße unsicher fühlen. Wenn einem Jungen die Kippa süffsant in Sprechblasen ergoss, wie: vom Kopf gerissen wird, müssen wir alle vor ihm ste- Der baldige Abgang der Deutschen ist Völkerster- hen, aber auch dann, wenn einem syrischen Mädchen das ben von seiner schönsten Seite. Kopftuch vom Kopf gerissen wird, müssen wir alle vor ihr stehen und ihr die Angst nehmen. (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2833

Verena Hartmann (A) Wahrscheinlich – wir können es nur vermuten – lösten Ich kann Ihnen versichern, werte Kollegen, Sie wä- (C) diese Worte in den Ohren der Altparteien einen so süßen ren hervorragende sozialistische DDR-Bürger geworden. Schmerz aus, auf den sie nicht mehr verzichten wollten. Ein Erich Honecker wäre entzückt. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Unglaublich! – Volker Kauder Nun ja, meine Damen und Herren, Asia Bibi ist keine [CDU/CSU]: Das ist ja widerwärtig, was Sie Intellektuelle und schreibt keine so feinsinnigen Zeilen. hier sagen!) Das sollte sie vielleicht einmal tun. Die Linke ist es. Und die ehemalige FDJ-Sekretärin für Schauen wir nach Deutschland, ein Land, welches im Agitation und Propaganda in der DDR, Frau Merkel, Bericht nur stiefmütterlich behandelt wurde. Wie ist es kann stolz auf ihr Werk sein. um die Freiheit der Weltanschauung bestellt? Dazu habe ich schon seit langer Zeit ein Déjà-vu. Ich fühle mich Danke. wieder wie im tiefsten Osten. Es herrscht eine Meinungs- diktatur, in der Andersdenkende ausgegrenzt, geächtet (Beifall bei der AfD – Volker Kauder [CDU/ und diffamiert werden. CSU]: Da kann man sich freuen! Mein lie- ber Mann, seid Ihr kleine Geister! – Niema (Beifall bei der AfD) Movassat [DIE LINKE]: Eine der schlechtes- ten ersten Reden! Nichts zur Sache! – Michael Nicht einmal vor ihren Kindern wird haltgemacht. Da- Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Lassen Sie sich für, werte Kollegen, können Sie sich gegenseitig auf die Zeit mit der zweiten Rede!) Schultern klopfen.

Damals als Christin, heute als AfD-Politikerin stig- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: matisiert und des Menschseins abgesprochen ist alles Nächster Redner ist der Kollege Markus Grübel, erlaubt. Ich staune immer wieder über die Arroganz und CDU/CSU. die disziplinierte Eintracht unter den Parteien, wenn es um die AfD geht. Sonst spinnefeind verschmelzen Sie zu (Beifall bei der CDU/CSU – Michael einer Einheitspartei. ­Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt kehrt end- lich wieder Stil in die Debatte zurück!) (Beifall bei der AfD – Aydan Özoğuz [SPD]: Das hätten Sie gern!) Markus Grübel (CDU/CSU): Die Linke ist kein rotes Tuch mehr. Die Grünen wer- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den von Frau Merkel getätschelt und legen sich genuss- (B) Frau Hartmann, ich glaube, Sie haben das Thema Frei- (D) voll auf den Rücken. Die SPD ist aus der Schmollecke heit nicht verstanden. wieder zurückgekehrt. Und die FDP wäre ohne unser Programm und die Menschen, die sich nicht trauten, AfD (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der zu wählen, gar nicht mehr im Bundestag. FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der AfD – (Beifall bei der AfD) Dr. [AfD]: Das ist der bes- Was wären Sie alle ohne uns? So viel Harmonie auf einen te Witz des Tages!) Haufen ist für das Volk unerträglich, da außer gegenseiti- Ich möchte nicht, dass in jeder Rede auf die AfD einge- ger Beweihräucherung und polemischen Lippenbekennt- gangen werden muss. nissen nichts, (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das Ich fnde es gut, dass am letzten Mittwochabend so machen Sie ja gar nicht!) viele Menschen, auch politisch Verantwortliche – Volker Kauder, Annette Widmann-Mauz – bei der Veranstaltung aber auch gar nichts übrig bleibt. „Berlin trägt Kippa“ waren. Es ist aber schlecht und be- sorgniserregend, dass das in Deutschland nötig ist. (Beifall bei der AfD – [DIE LINKE]: Reden Sie eigentlich noch zur Sa- (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- che?) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD und der FDP) Und dieses Prinzip der Masse gegen eine Minderheit – von Le Bon richtig analysiert – funktioniert immer. Ex- Es ist gut, dass wir in den letzten zwei Sitzungswo- treme Beispiele lassen sich zuhauf in der Vergangenheit chen so häufg über Religionsfreiheit und Menschenrech- fnden und sind mir aus Zeiten der DDR-Diktatur wohl- te debattiert haben: über die Situation der Rohingya am bekannt. Freitagmorgen zu bester Plenarzeit und über die Chris- tenverfolgung am Donnerstagabend. Es ist aber besorg- (Dr. [DIE LINKE]: Da warst niserregend und schlecht, dass das nötig ist. du 15! Hallo?) Das Menschenrecht auf Religions- und Weltanschau- Sie alle hier haben sich diesem Korpsgeist unterworfen. ungsfreiheit wird weltweit zunehmend eingeschränkt Sie sind zu feige, für Ihre wirkliche Meinung, für Ihr ei- oder komplett infrage gestellt. Ungefähr drei Viertel der genes Land und seine Menschen einzustehen. Weltbevölkerung leben in Ländern mit Einschränkungen (Beifall bei der AfD) der Religionsfreiheit. Christen und Muslime sind auf- 2834 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Markus Grübel (A) grund ihrer Gesamtzahl am häufgsten davon betroffen. zu beklagen, sind als Binnenfüchtlinge entwurzelt und (C) Christen wurden 2015 in 128 Ländern bedrängt, diskri- in ihrem Fortbestand bedroht. Die Angriffe sind religiös miniert oder sogar verfolgt – 2007 waren es noch 108. begründet und auch so zu verstehen: als Versuch, Anders- gläubige zu vernichten. Ich könnte die Aufzählung noch Darum ist es gut und richtig, dass im Koalitionsver- fortführen; Kai Gehring hat ja viele betroffene Gruppen trag das Thema aufgegriffen und die Stelle des Beauf- aufgezählt. tragten für weltweite Religionsfreiheit geschaffen wurde, die beim BMZ angesiedelt ist. Ganz konkret müssen wir uns aktuell die Frage stel- len, wie es gelingen kann, dass in der Ninive-Ebene oder Zu meiner Aufgabe gehört künftig auch, wie im Koali- am Sindschar wieder Christen und Jesiden leben können. tionsvertrag vereinbart, den Bericht der Bundesregierung Wer garantiert ihre Sicherheit? Die irakische Regierung? zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit im zweijähri- Das wird den Christen und Jesiden aufgrund schlechter gen Rhythmus fortzuschreiben. Der vorliegende Bericht Erfahrungen nicht genügen. Die Weltgemeinschaft? Die aus dem Jahr 2016, über den wir heute sprechen, verzich- Europäische Union? Was ist unser deutscher Beitrag? Wir tet weitgehend auf Gesamtbetrachtungen zu Staaten und müssen die Frage beantworten, wie ein Aussöhnungs- vermeidet Handlungsempfehlungen. Der nächste Bericht prozess im Nordirak erfolgen kann. Die Benennung und der Bundesregierung sollte meiner Meinung nach doku- Bestrafung der Haupttäter ist eine Voraussetzung für die mentieren, berichten, hinweisen, aber auch werten und Versöhnung. Wir müssen Lösungen fnden, wie ein gutes Empfehlungen geben. Miteinander oder wenigstens friedliches Nebeneinander (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- von Sunniten, Schiiten, Jesiden und Christen möglich ordneten der FDP) ist. Wir müssen auch bereit sein, diese Maßnahmen zu bezahlen und dort zu investieren. Da reicht die aktuelle Ich möchte diesen Bericht zusammen mit interessier- Mittelausstattung bei weitem nicht aus; das müssen wir ten Abgeordneten, mit den Ressorts, mit den Kirchen und bei der Haushaltsaufstellung bedenken. Religionsgemeinschaften, mit engagierten Gruppen und Einzelpersonen sowie mit Wissenschaftlern erarbeiten. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat bei der Beim Thema Religionsfreiheit fangen wir nicht bei null Vorstellung des Berichts gesagt, dass religiöser Fana- an. Schon 1999 hat die CDU/CSU-Fraktion eine Große tismus Brandbeschleuniger in den Konfikten ist. Daher Anfrage zur Christenverfolgung und zur Religionsfrei- sage ich: Der Einsatz für Religionsfreiheit und Men- heit an die rot-grüne Bundesregierung gerichtet, und schenrechte schafft Frieden und mindert Fluchtursachen. Volker Kauder macht regelmäßig Veranstaltungen und Beim Propheten Jesaja lesen wir: Der Gerechte kommt Termine und hält Reden zum Thema „Christenverfol- um, doch niemand nimmt sich dies zu Herzen. Die From- (B) gung und Religionsfreiheit“. men werden dahingerafft, aber es kümmert sich niemand (D) Im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- darum. – Kämpfen wir in allen Arbeitsbereichen dafür, menarbeit und Entwicklung gibt es seit Anfang 2016 den dass Menschenrechte und Religions- und Gewissenfrei- Arbeitsbereich „Religion und Entwicklung“. Die Strate- heit gestärkt werden und die Rufe der Verfolgten nicht gie, die Religionen als Partner in der Entwicklungszu- ungehört bleiben wie zu Zeiten des Propheten Jesaja! sammenarbeit, zeigt vielfältige Maßnahmen auf. Auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- im Auswärtigen Amt gibt es seit Ende 2016 den Arbeits- ordneten der SPD) stab „Friedensverantwortung der Religionen“. Sehr geehrte Damen und Herren, ganze Völker, gan- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ze Religionsgemeinschaften sind sprichwörtlich vom Jetzt hat das Wort die Kollegin Gyde Jensen, FDP. Aussterben, von der Ausrottung bedroht. Unser Einsatz kommt gerade zur rechten Zeit und hoffentlich noch (Beifall bei der FDP) rechtzeitig. Nehmen wir eine Region, die im Brennglas zeigt, wie berechtigt unsere Sorge ist – ich habe sie ge- Gyde Jensen (FDP): rade mit Minister Müller besucht –: den Nordirak. Ich Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und erwähne etwa die Christen, die an der Wiege der Chris- Kollegen! Die Freien Demokraten werden sich bei der tenheit leben oder gelebt haben, die aramäischen, assy- Abstimmung zum Entschließungsantrag enthalten. Wa- rischen, chaldäischen Christen, Urkirchen, die zum Teil rum? Alle zwei Jahre legt die Bundesregierung einen um- die Muttersprache Jesu sprechen. Ich erinnere an die fassenden Bericht über ihre Menschenrechtspolitik vor. Religionsgruppe der Jesiden im Nordirak und in Syrien, ( [SPD]: Dann können Sie die in besonderer Weise unter dem schrecklichen Wüten doch zustimmen!) des IS gelitten hat. Die Jesiden leben heute in Flücht- lingslagern oder sind in viele Länder der Welt zerstreut; Der aktuelle Bericht thematisiert speziell die Religions- viele sind auch in Deutschland. Ich erinnere an die eben- und Weltanschauungsfreiheit – und das auf gut jeder falls im Nordirak lebenden Mandäer und Schabak, an die siebten Seite. Turkmenen. In diesem Zusammenhang stellt sich schon die Fra- Diese religiöse Vielfalt, dieses Mosaik, erinnert an das ge, wie es dann dazu kommt, dass gerade zur Religions- reiche Erbe der Region. Es ist ein Erbe der Menschheit. und Weltanschauungsfreiheit ein Sonderbericht erstellt All diese Religionsgruppen wurden angegriffen, weil sie werden soll. Es gibt so viele bedeutsame Themen – wie sich nicht dem IS beugen wollten. Sie haben viele Opfer Bildung, Teilhabe, Pressefreiheit –, die auch besondere Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2835

Gyde Jensen (A) Aufmerksamkeit deutscher Außenpolitik verdienen. Wir ist immer auch – und das dürfen wir nie vergessen – Aus- (C) Freie Demokraten stehen für einen einfachen Staat, der druck gelebter Vielfalt unserer Gesellschaft. klare Schwerpunkte seiner Aufgaben benennt und daran konkrete Lösungsvorschläge knüpft. Nehmen Sie doch Herzlichen Dank. den Gesamtbericht zur Menschenrechtspolitik, und be- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. nennen Sie darin politische Schwerpunkte, führen Sie Sebastian Brehm [CDU/CSU]) konkrete Umsetzungsvorhaben aus, anstatt Sonderbe- richte zu produzieren, in denen keine klare außenpoliti- sche Linie erkennbar ist. Warum kompliziert, wenn es da Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: auch einfach geht? Nächste Rednerin ist die Kollegin Josephine Ortleb, (Beifall bei der FDP) SPD-Fraktion. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns also da- (Beifall bei der SPD) rüber sprechen, was Deutschland konkret zum Schutz von Religionsfreiheit beitragen kann. Hierzu müssen Josephine Ortleb (SPD): wir zunächst einmal lernen, selbstbewusster mit unse- ren Grundfreiheiten umzugehen. Denn das Grundgesetz Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und betont die verfassungsrechtlich, aber auch integrations- Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorlie- politisch gebotene Gleichstellung aller Religionen. Dann gende Bericht der Bundesregierung, der zum zweiten wieder Kreuze in öffentliche Gebäude zu hängen, hat mit Mal eine Debatte hier im Haus erfahren darf, hat von sei- dieser aufgeklärten Staatsneutralität nichts zu tun. Das ist ner Aktualität nichts eingebüßt. Ich möchte mich beim das Gegenteil von Selbstbewusstsein; das ist Ignoranz. Auswärtigen Amt noch einmal für diesen interessanten Das ist auch keine richtige Prioritätensetzung; aber genau und durchdachten Bericht bedanken. darauf kommt es da an. Statt eines Kruzifxes sollten Sie Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Religion ist lieber in jedes Verwaltungsgebäude eine Fritzbox hän- etwas sehr Privates und gleichzeitig höchst politisch. Das gen. Das wäre mehr wert. erleben wir jeden Tag in den Debatten hier im Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Heiter- tag, in Deutschland und weltweit. Ich bin konfessionslos. keit bei Abgeordneten der LINKEN – Lachen Die Religionsfreiheit ermöglicht mir diese Entscheidung. des Abg. Jürgen Braun [AfD] – Jürgen Braun Sich gegen eine Religion zu entscheiden, ist genauso [AfD]: Ist das blöd! Thema verfehlt! Das tut Ausdruck der Religionsfreiheit, wie sich für eine Religi- ja echt weh!) on zu entscheiden. (B) Statt Symbolpolitik muss das Ziel eines liberalen (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- (D) Rechtsstaates der mündige Bürger sein, der mündige KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Bürger, der selbstbewusst über seine persönliche Reli- NEN) gionszugehörigkeit entscheidet und sich aufgeklärt mit anderen Religionen auseinandersetzt. Und eine Ausei- Freiheit bedeutet auch, sich gegen etwas entscheiden zu nandersetzung kann man nur durch die Vermittlung einer dürfen und dafür die gleiche Akzeptanz zu erfahren. internationalen Perspektive erreichen. Wenn diese Per- Religionsfreiheit wird jedoch nicht überall und nicht spektive und die Kenntnis über verschiedene Religions- von allen akzeptiert. Die Verfolgung der muslimischen und Weltanschauungsgemeinschaften fehlen, dann wer- Minderheit der Rohingya in Myanmar, die unerträgliche den wir es nicht hinbekommen, dass die Menschenrechte humanitäre Situation von Christen und Jesiden in Syri- geschützt werden. en und der grassierende Antisemitismus in Deutschland (Beifall bei der FDP) und vielen Teilen der Welt sind nur drei Beispiele für den dringend notwendigen Einsatz für Religionsfreiheit. Für uns Freie Demokraten ist daher klar: Eine Chan- ce bietet sich international vor allem darin, den Dialog (Beifall bei der SPD) von Religionen am Bildungsaustausch zu orientieren und stärker in die Entwicklungszusammenarbeit zu in- Der Bericht zeigt, dass religiöse Verfolgung und Dis- tegrieren. Die von Ihnen explizit geforderte Strategie des kriminierung mal direkter und mal subtiler auftreten, ob BMZ zur Rolle von Religionen in der Entwicklungspo- beim Zugang zu Bildung, beim Zugang zu politischen litik könnte hiermit deutlich aufgewertet und ausgebaut Ämtern oder bei der Besetzung von Arbeitsstellen. Reli- werden. gionsfreiheit bedeutet nicht nur, frei von lebensbedrohli- cher Verfolgung zu sein, sondern auch, immer und über- (Beifall bei der FDP) all Gleicher oder Gleiche unter Gleichen zu sein. Zum Abschluss, meine Damen und Herren, möchte (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ich sagen: Wir sollten stolz auf unser Grundgesetz sein. LINKEN sowie des Abg. Nur wenn wir uns der Stärke unserer eigenen Verfassung [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) bewusst werden, werden wir es auch schaffen, dieses Selbstbewusstsein anderen zu vermitteln. Und gerade in Um dieses Recht nachhaltig zu stärken, brauchen wir einer Gesellschaft, die so sehr von Einwanderung abhän- einen Kulturwandel, weltweit und in unserer Gesell- gig und auch geprägt ist, muss der Umgang mit religiöser schaft. Wir müssen weg von einer Kultur des Unter-mir Pluralität selbstverständlich sein. Denn Religionsfreiheit oder einer Kultur des Über-mir hin zu einer Kultur des 2836 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Josephine Ortleb (A) Neben-mir, einer Kultur der Augenhöhe aller statt einer zu gewinnen. Für uns als CDU/CSU war schon immer (C) christlichen Leitkultur. klar: Das grundlegende Recht auf Religionsfreiheit ist das zentrale Element unseres Verständnisses von Men- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem schenrechten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Statt religiöse Dominanz durch das Anbringen von Kreu- Nicht zuletzt zeigt die jahrzehntelange Arbeit des zen in den medialen Fokus zu rücken, ist es unsere Auf- Stephanuskreises in der CDU/CSU-Fraktion, lieber Kol- gabe, die Kultur der Augenhöhe aller mit unseren Mitteln lege Hirte, dass Religionsfreiheit im Mittelpunkt unserer zu begleiten und zu fördern. Menschenrechtsarbeit steht. Uns ist bewusst: Der beste Schutz für verfolgte Christen ist die Förderung von Reli- (Beifall bei der SPD) gionsfreiheit für alle Menschen, egal ob Christen, Musli- Wenn Religion zu einer politischen Kategorie der Aus- me oder Buddhisten. Auch keiner Religion anzugehören, grenzung wird, müssen wir dem entschieden entgegen- ist eine Ausprägung von Religionsfreiheit. wirken; denn auch unser Grundgesetz ist, wie ich, nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- getauft. wie bei Abgeordneten der FDP) Als wehrhafte Demokratinnen und Demokraten müs- sen wir uns gegen den Versuch stemmen, dass Religion Ich denke, wir sind uns leider einig – und es zeigen zur Spaltung genutzt wird. Das Gegenteil muss der Fall auch viele Statistiken und Berichte –, dass mit weit über sein. Für mich ist klar: Religions- und Weltanschauungs- 100 Millionen Christen die größte Gruppe der Verfolgten freiheit ist ein verbindendes Element, eine Brücke des sind. Diesen Zustand dürfen wir in einem christlich ge- Miteinanders; denn das Miteinander ist immer stärker als prägten Land nicht zulassen. das Gegeneinander. Es ist Aufgabe von Staaten, dieses (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Miteinander zu garantieren. ordneten der SPD) Doch der Missbrauch von Religion durch staatliche und nichtstaatliche Akteure zur Durchsetzung von Macht Es ist unsere tiefste Überzeugung, dass Religionsfrei- geschieht weltweit täglich. Auch das zeigt uns der Be- heit das zentrale Grund- und Menschenrecht ist, das die richt. Menschen vor diesem Missbrauch zu schützen und Würde des Menschen in den Mittelpunkt rückt und ganz ihnen zur Seite zu stehen, muss dabei Selbstverständnis besonders schützt. Aus diesem zentralen Grundrecht der aller demokratischen Gesellschaften sein. Religionsfreiheit leiten wir alle weiteren Freiheiten ab. Wenn es keine Religionsfreiheit gibt, gibt es keine Pres- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sefreiheit, keine Freiheit der Kunst, keine Meinungsfrei- (B) der FDP und des Abg. Markus Grübel [CDU/ heit, und letztlich gibt es keine Freiheit für ein selbstbe- (D) CSU]) stimmtes Leben. Für mich heißt das vor allen Dingen, die universellen Wir haben uns über viele Jahre für einen Religions- Menschenrechte national wie international in den Mittel- freiheitsbericht eingesetzt, was leider viel zu lange am punkt zu stellen, sie zu fördern und gerade dann an ihnen Widerstand anderer Fraktionen gescheitert ist. Deswegen festzuhalten, wenn es unbequem wird. Deswegen ist das war es ein ganz besonderes Zeichen, als wir im Jahr 2015 Engagement der Bundesregierung und der Abgeordneten gemeinsam mit der SPD und Bündnis 90/Die Grünen die in den multilateralen Dialogforen so wichtig; ich denke Erstellung des Religionsfreiheitsberichts beantragt ha- dabei an den Europarat, an die OSZE oder an die Verein- ben. Herzlichen Dank dafür! ten Nationen. Auch wenn diese Zusammenarbeit klein- schrittig und mühevoll ist: Am Ende gilt es immer wie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der, die Reihen zu schließen – für die Religionsfreiheit der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann und für die Menschenrechte. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vielen Dank. Wenn wir in die Welt blicken, dann stellen wir fest: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Um die freie Religionsausübung und um den Schutz reli- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ giöser Gruppen – egal ob Minderheiten oder Mehrheiten DIE GRÜNEN) in der Bevölkerung – ist es in großen Teilen schlecht be- stellt. Ganz besonders gilt dies für Christen in islamisch geprägten Ländern. Aber ebenso leiden auch andere Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Gruppen: die Rohingya in Myanmar; der IS terrorisiert Jetzt erhält das Wort der Kollege Sebastian Brehm, im Nordirak und in Syrien, und zwar vor allen Dingen CDU/CSU-Fraktion. Muslime; Christen und Muslime leiden in Nigeria unter (Beifall bei der CDU/CSU) dem Terror von Boko Haram. Ich könnte diese Liste lei- der fortsetzen. Sebastian Brehm (CDU/CSU): Freie Religionsausübung ist aber nur der eine Teil der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Religionsfreiheit. Es gehört auch dazu, dass man seine Kollegen! Der erste Bericht zur weltweiten Lage der Re- Religion wechseln kann. In vielen Ländern der Erde ligions- und Weltanschauungsfreiheit ist ein Meilenstein, gelten Blasphemiegesetze. Beim Wechsel der Religion um mehr Aufmerksamkeit für ein so wichtiges Thema droht die Todesstrafe. Dies ist ein unhaltbarer Zustand. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2837

Sebastian Brehm (A) Das muss im nächsten Religionsfreiheitsbericht mehr Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- (C) thematisiert werden. empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Bericht der Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschau- bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und ungsfreiheit. Der Ausschuss empfehlt in seiner Be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und schlussempfehlung auf der Drucksache 19/1894, in des Abg. [AfD]) Kenntnis des Berichts der Bundesregierung auf der Ein deutliches Zeichen unserer Haltung zum Thema Drucksache 18/8740 eine Entschließung anzunehmen. Religionsfreiheit ist das neugeschaffene Amt des Beauf- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – CDU/ tragten für weltweite Religionsfreiheit. Es freut mich da- CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – AfD. Wer enthält her sehr, dass unser Kollege Markus Grübel heute seine sich? – Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Die Linke. Die Be- erste Rede in seiner neuen Funktion halten durfte. Ich schlussempfehlung ist damit angenommen. bin davon überzeugt, dass seine Arbeit diesem wichtigen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Thema den notwendigen Nachdruck verleihen wird. – Alles Gute hierfür! Erste Beratung des von dem Abgeordneten Jens Maier und der Fraktion der AfD eingebrachten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des neten der SPD und der FDP – Markus Grübel Strafgesetzbuchs – Einführung einer teilwei- [CDU/CSU]: Vielen Dank!) sen Legaldefnition für „Teile der Bevölke- Der nächste Religionsfreiheitsbericht muss mehr rung“ in § 130 StGB sein als eine Auswahl einzelner Themen und Beispiele Drucksache 19/1842 aus ausgewählten Regionen. Wir brauchen einen sys- tematisch aufgebauten Bericht. Nur so lassen sich die Überweisungsvorschlag: Entwicklungen in den Ländern nachvollziehen und ver- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Inneres und Heimat gleichen. Der jährliche Bericht von Open Doors oder der Religionsfreiheitsbericht der USA sind gute Beispiele für Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für eine solche Systematik. die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Lassen Sie uns am Ende noch einen Blick in unser eigenes Land werfen: Unser Verständnis von Religions- Ich bitte, die notwendigen bzw. gewünschten Platz- freiheit und die hier gelebte Religionsfreiheit sind welt- wechsel zügig vorzunehmen. weit eine positive Ausnahme. Und das lassen wir uns von Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem (B) Ihrem undifferenzierten Geschwurbel auch nicht kaputt- (D) machen. Kollegen Jens Maier, AfD. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall bei der AfD) SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jens Maier (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Ich möchte dennoch darauf hinweisen, dass die Lage in Herren! Lassen Sie mich zu Beginn gleich klarstellen, Deutschland in den nächsten Bericht aufgenommen wer- worum es geht: Der vorliegende Gesetzentwurf zur Än- den muss, verstärkt behandelt werden muss; denn es gibt derung des § 130 StGB hat nicht das Ziel, den zurzeit leider auch bei uns bedenkliche Entwicklungen, denen geschützten Personenkreisen etwas wegzunehmen, den wir entschieden entgegentreten müssen. Wir dürfen es Anwendungsbereich zu verkleinern oder, wie ich in nicht zulassen, dass antisemitische Beschimpfungen auf Kommentaren im Vorfeld lesen musste, das Hetzen und deutschen Schulhöfen und Spielplätzen wieder Platz fn- Pöbeln gegen Minderheiten freizugeben. den. Wir dürfen es nicht akzeptieren, wenn das Tragen der Kippa in Deutschland zu tätlichen Angriffen und Be- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- leidigungen führt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir NEN]: Da sind Sie ja ganz groß drin!) dürfen es aber auch nicht zulassen, dass es zu einer Radi- Wir wollen das Gegenteil. Das Gegenteil ist der Fall: Die kalisierung der Politik kommt; denn auch dadurch wird AfD will nur eines, nämlich dass auch die Deutschen vor die Freiheit in unserem Land eingeschränkt. Hetze und Pöbeleien geschützt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. [SPD]) (Beifall bei der AfD) Religionsfreiheit gilt es fortwährend zu verteidigen, und Durch unseren Gesetzentwurf soll eine Strafbarkeitslü- genau das werden wir als CDU/CSU mit aller Kraft tun. cke geschlossen werden.

Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Herr Kollege Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage ordneten der SPD und der FDP) des Kollegen Grosse-Brömer?

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Jens Maier (AfD): Damit schließe ich die Aussprache. Bitte. 2838 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

(A) Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Jens Maier (AfD): (C) Herr Kollege Maier, schön, dass Sie die Zwischenfra- Okay. – Sind Sie Schachspieler? ge zulassen. – Weil Sie ja die Deutschen vor Pöbeleien (Ingmar Jung [CDU/CSU]: Kein Dialog!) schützen wollen: Ich habe eine Rede von Ihnen gehört, die Sie bei Pegida gehalten haben. Da sagten Sie, hier im Beim Schach sagt man: „aus dem Feld schlagen“. Das Bundestag säßen keine Eliten. Ich glaube, Ihre Fraktion ist ein Begriff, den man verwendet, wenn man Schach- wollten Sie wahrscheinlich außen vor lassen. spieler ist. „Aus dem Feld schlagen“ bedeutet, dass wir uns strategisch und von der Kompetenz her so aufstellen, (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass Sie hier bald nichts mehr zu sagen haben. Alle anderen jedenfalls seien auf keinen Fall Eliten, son- (Heiterkeit und Beifall bei der AfD – Lachen dern mehr so – ich zitiere – Funktionärseliten – bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN – Ingmar Jung Jens Maier (AfD): [CDU/CSU]: Das werden wir ja sehen! – Nein, Funktionseliten. Dr. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie und Kompetenz? Sie wissen ja gar nicht, was das Wort bedeutet! – Weite- Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): rer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – oder Funktionseliten – gut, dass Sie sich daran er- Antidemokrat! – Michael Brand [Fulda] innern –, [CDU/CSU]: Jetzt wird die deutsche Sprache (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Dr. Bernd wieder gebeugt! Ein Wolf im Schafspelz!) Baumann [AfD]: Bitte richtig zitieren!) Jetzt können wir weitermachen. die Sie aus dem Feld schlagen wollen. Noch einmal: Es soll hier eine Strafbarkeitslücke ge- schlossen werden. Das ist auch notwendig; denn mittler- Jens Maier (AfD): weile greift in diesem Land Deutschenfeindlichkeit um sich. Richtig, das habe ich gesagt. (Beifall bei der AfD – Burkhard Lischka Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): [SPD]: Dafür hat Herr Grosse-Brömer ja ge- rade ein Beispiel genannt! – Volker Kauder Sehr gut. – Ich frage mich, seitdem Sie diese Rede bei [CDU/CSU]: Sie wollen Deutsche aus dem Pegida gehalten haben: Wie hat er das vor, bei mir je- Feld schlagen! Na, das ist ja super!) (B) denfalls? (D) Das ist etwas, was hier immer verschwiegen wird. Es wird immer nur die eine Seite gesehen; die andere Sei- Jens Maier (AfD): te wird nicht gesehen. Vor zwei Jahren wurde in diesem Ja, Sie sind körperlich stärker als ich, oder worauf Hohen Hause die Armenien-Resolution verabschiedet. wollen Sie hinaus? Ein Mitglied im Vorstand des Türkischen Elternbundes in Hamburg sah sich daraufhin berechtigt, Folgendes bei Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Facebook zu posten – Zitat –: Ich bin ja Deutscher, und Sie wollen Deutsche vor Pö- Erhofft sich Türkei noch immer etwas Gutes von beleien schützen. Sagen Sie mir doch mal: Wie wollen diesem Hundeclan? Erwarte nichts Türkei, übe Sie es schaffen, mich aus dem Feld zu schlagen? Oder ist Macht aus! Sie haben nur Schweinereien im Sinn. es möglich, mich davor zu schützen? Möge Gott ihren Lebensraum zerstören. (Burkhard Lischka [SPD]: Da macht der Herr (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Maier sich unter Umständen wahrscheinlich Ist das denn etwas anderes als bei Ihnen? – sogar strafbar! – Zurufe von der AfD: Was für Lesen Sie doch auch mal etwas von sich vor!) eine blöde Frage! – Kennen Sie das nicht?) Fragen Sie die Kinder in westdeutschen Großstädten, ob gegen sie schon einmal in der Schule rassistisch ge- Jens Maier (AfD): hetzt wurde, gerade weil sie Deutsche sind. Jährlich wer- Darf ich darauf antworten? den über 100 Millionen Euro für den Kampf gegen rechts ausgegeben. Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Ja, Sie müssen es genau genommen sogar. KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN – [AfD]: 140!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für den Schutz der eigenen Bevölkerung vor rassistischer Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Hetze und Gewalt wird nichts oder so gut wie nichts ge- tan. Das ist ein Skandal! Wenn Sie antworten mögen, dürfen Sie jetzt antwor- ten, und Herr Grosse-Brömer und wir hören uns Ihre Ant- (Beifall bei der AfD – Dr. wort an. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2839

Jens Maier (A) Lüge! Schauen Sie sich doch mal die Fak- Wenn Angehörige einer Bevölkerungsmehrheit gegen (C) ten an!) Angehörige einer Bevölkerungsminderheit hetzen, ist der öffentliche Friede, das Schutzgut des § 130 StGB, Das Schlimme daran ist: Nicht einmal den gleichen straf- gefährdet. rechtlichen Schutz wie den in unserem Land lebenden Gästen von Frau Merkel billigt man den Deutschen zu. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Dr. [DIE LINKE]: Das Herr Kollege Maier, es gibt noch einmal den Wunsch ist doch unglaublich! – Gegenruf der Abg. zu einer Zwischenfrage aus der CDU/CSU-Fraktion. ­ [AfD]: Ja, in der Tat! In der Tat!) Jens Maier (AfD): Man könnte den § 130 StGB in seiner jetzigen Fas- Von wem denn? Ich habe es jetzt nicht gesehen. sung auch auf rassistische Äußerungen gegenüber Deut- schen anwenden, wenn man es nur wollte. Man tut es (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist doch egal! aber nicht. In dem Fall in Hamburg, als die Deutschen Hauptsache von der CDU/CSU!) als „Hundeclan“ bzw. – in anderer Übersetzung – als „Köterrasse“ bezeichnet wurden, kam es nicht einmal zu Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: einer Anklage. Das Ermittlungsverfahren wurde von der Wollen Sie die Zwischenfrage zulassen oder nicht? zuständigen Staatsanwaltschaft eingestellt. Das ist meine Frage. (Stefan Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wie stehen Sie eigentlich zu Höcke?) Jens Maier (AfD): Das ist der Herr Müller; den schätze ich. Bitte. Warum aber wäre eine Verfolgung schon jetzt mög- lich? Dazu muss man zunächst einmal wissen, dass das (Zurufe von der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Schutzgut des § 130 StGB der öffentliche Friede ist. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Oh!) (Ingmar Jung [CDU/CSU]: Aha!) – Ja, er sitzt im Rechtsausschuss. Das ist allgemeine Meinung. Das ist keine Vorschrift, die speziell Minderheiten zu schützen beabsichtigt. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Ingmar Jung [CDU/CSU]: Genau!) Die Frage ist beantwortet, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen. (B) Schon in der Fassung des § 130 StGB aus dem Jahr 1960 (D) hat der Gesetzgeber entschieden, dass gerade nicht nur einzelne gesellschaftliche Minderheiten durch den Straf- Axel Müller (CDU/CSU): tatbestand geschützt werden, sondern er hat auch Tat- Herr Kollege Maier, die Frage ist, ob das auch weiter- handlungen gegen Teile der Bevölkerung unter Strafe hin der Fall bleibt. gestellt. Wenn man den Begriff „Bevölkerung“ als Ober- ( [FDP]: Maier und Müller begriff sieht, dann sind doch auch die Deutschen nur ein jetzt!) Teil davon. Wo anders als hier in Berlin wird dieser Be- fund deutlich? Da braucht man nur einmal mit der U 7 zu Herr Kollege Maier, wie lange haben Sie denn in Ihrer fahren und am Hermannplatz in Neukölln auszusteigen. bisherigen Tätigkeit Zivilrecht gemacht, und wie lange Dann merkt man das. war Ihre Tätigkeit im Bereich des Strafrechts? Dieser Gesetzentwurf ist strafrechtlich nämlich dermaßen falsch (Beifall bei der AfD) und verquer, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass Sie ausreichende und fundierte Kenntnisse hatten, als Sie ihn Doch wie argumentieren die Staatsanwaltschaften und formuliert haben. Gerichte? Eine Strafbarkeit scheide aus, weil die Deut- schen nicht einen Teil, sondern die Gesamtbevölkerung (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Den darstellten. Das deutsche Volk sei kein unterscheidbarer würde ich auch schätzen! Er hat eine ordentli- Teil der Bevölkerung, da ein festes oder inneres Unter- che Meinung!) scheidungsmerkmal fehle. (Ingmar Jung [CDU/CSU]: Wo soll ein Ge- Jens Maier (AfD): richt das gesagt haben?) Aber das ist ja gar keine Frage. – Oder war das eine Frage? Das ist Unsinn! Eine Mindermeinung in der Literatur wi- derspricht dem ausdrücklich. Denn wenn Ausländer ei- (Beifall bei der AfD – Burkhard Lischka nen Teil der Gesamtbevölkerung darstellen, dann müssen [SPD]: Haben Sie den Gesetzentwurf ge- auch Deutsche Teil der Bevölkerung sein. Alles andere schrieben?) ist unlogisch. Axel Müller (CDU/CSU): (Beifall bei der AfD) Die Frage lautet – das ist doch ganz einfach –: Wie Auch ein großer Teil der Gesamtbevölkerung ist ein Teil lange haben Sie als Zivilrichter gearbeitet, und wie lange der Gesamtbevölkerung. haben Sie als Strafrichter bzw. im strafrechtlichen Be- 2840 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Axel Müller (A) reich gewirkt? Wenn man den Gesetzentwurf liest, dann Jahr ihrer Parlamentszugehörigkeit hier mal über Volks- (C) hat man den Eindruck: nicht allzu lange. verhetzung diskutieren. Ich habe es allerdings anders er- wartet. In den letzten Jahren haben Sie immer erklärt, der Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Paragraf könne komplett abgeschafft werden; denn man Herr Kollege Maier, Sie können die Frage beantwor- brauche ihn nicht. ten. Sie müssen nicht, Sie können. (Dr. [AfD]: Haben wir nie (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Er hat gesagt! Erfnden Sie doch nichts!) Herrn Maier aus dem Feld geschlagen!) Plötzlich wollen Sie ihn ändern. Das hat mich ein wenig überrascht. Jens Maier (AfD): Wir sollten uns vielleicht doch mal anschauen, worum Ja. – Ich bin Zivilrichter gewesen, und ich war Staats- es hier eigentlich geht: anwalt. Schutzgut ist in der Tat – Herr Maier, Sie haben es (Volker Kauder [CDU/CSU]: Merkt man gar zwischendurch ja mal vorgelesen – der öffentliche Frie- nicht! – Burkhard Lischka [SPD]: Merkt man de, nicht eine bestimmte Bevölkerungsgruppe oder Ähn- nicht!) liches. Für Objekte, deren Angriff geeignet ist, am Ende den öffentlichen Frieden zu stören, wird unter anderem Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: der Begriff „Teile der Bevölkerung“ genutzt. Das ist ein Damit ist die Frage beantwortet. – Fahren Sie bitte unbestimmter Rechtsbegriff. fort. Denken Sie auch daran: Ihre Redezeit geht dem Ende entgegen. (Stephan Brandner [AfD]: Alles richtig bis- her!) (Michael Theurer [FDP]: Nicht jeder ist Pro- fessor!) Dieser unbestimmte Rechtsbegriff wird von der Recht- sprechung ausgefüllt. So ist das bei uns im Rechtssys- tem. Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf einige Gruppen (AfD): Jens Maier genannt. Das will ich an dieser Stelle gar nicht wiederho- Da die Staatsanwaltschaften und Gerichte diese len; vielleicht mache ich das gleich noch. Schlussfolgerung nicht ziehen, bedarf es einer klarstel- lenden Gesetzesänderung, die vorsieht, dass auch das Es kommt hinzu, dass ein Angriff gegen eine dieser Hetzen gegen die Bevölkerungsmehrheit unter den Tat- Gruppen geeignet sein muss, den öffentlichen Frieden am Ende zu stören, und das ist das Merkmal, an dem es (B) bestand der Volksverhetzung fällt. (D) oft scheitert. Wir müssen uns jetzt mal darüber unterhal- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten, wer mit diesem Begriff erfasst ist. NEN]: Beim Hetzen kennen Sie sich doch be- sonders gut aus, Herr Maier!) Eines vorweg: Wenn Sie in die Veröffentlichung 78/09 des Wissenschaftlichen Dienstes reinschauen, dann se- Es geht um den Schutz der Deutschen im eigenen hen Sie, dass genau unter diesem Punkt – „Angriffsob- Land – nicht mehr und nicht weniger. Diese wollen ge- jekt: Teile der Bevölkerung“ – festgehalten wird: nauso geschützt werden wie die Gäste von Frau Merkel. (Beifall bei der AfD) Unerheblich ist in diesem Rahmen ..., ob es sich um Deutsche oder Ausländer handelt ... Es muss Schluss sein damit, dass die Deutschen im eigenen Land zu Bürgern zweiter Klasse werden, wie wir Das ist, glaube ich, an dieser Stelle unstreitig. Sie wollen es immer wieder erleben. Um dies zu verhindern und zu hier aber was vollkommen anderes suggerieren. beenden, sind wir, die AfD-Fraktion, jetzt hier in diesem (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Parlament. Wir sind gekommen, um zu bleiben, und wir NEN]: So ist es!) bleiben, bis wir uns hier durchgesetzt haben. Für die Ausgestaltung dieses unbestimmten Rechtsbe- ( [CDU/CSU]: Aha!) griffes ist die Rechtsprechung zuständig; darin sind wir Vielen Dank. uns wohl einig. (Beifall bei der AfD) Sie haben sowohl in Ihrem Gesetzentwurf als auch in Ihrer Rede einfach mal behauptet, die deutsche Justiz Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: möchte die Deutschen dort ausnehmen und schützt nur Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Ingmar Jung, die Ausländer. CDU/CSU-Fraktion. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Faktisch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Dafür gibt es keinen einzigen Beleg. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Ingmar Jung (CDU/CSU): und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- ren! Wer die AfD in den letzten Jahren ein bisschen be- Wenn Sie ein Urteil kennen, meine Damen und Herren, obachtet hat, musste ja damit rechnen, dass wir im ersten dann legen Sie es bitte vor. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2841

Ingmar Jung (A) Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf ein Urteil des Kam- blikanische Justiz“, die „Arbeiter“ schützt, die „Bauern“ (C) mergerichts Berlin zitiert. Das ist Ihr großer Beweis. schützt, die „Kommunisten“ schützt, die „dunkelhäuti- Wenn man hier als großen Beweis ein Urteil zitiert, mei- ge Menschen“, die „Ausländer“ und die „Flüchtlinge“ ne Damen und Herren, sollte man es sich vielleicht ein- schützt, aber nur die Deutschen nicht: Ja, das alles sind mal angeschaut haben. taugliche Angriffsobjekte, die Sie hier nennen. Ist Ihnen mal aufgefallen, dass auch sie alle nicht im Gesetz ste- (Stephan Brandner [AfD]: Staatsanwaltschaft hen? Das hat eben mit dem unbestimmten Rechtsbegriff Hamburg!) zu tun, der ausgeformt werden muss. Dieser ist bewusst – Ja, Herr Brandner, jetzt haben Sie „Staatsanwaltschaft“ weit gefasst und wird über das Merkmal „Geeignetheit dazwischengerufen. Den Unterschied zwischen den Ge- zur Störung des öffentlichen Friedens“ begrenzt. Das hat walten sollten Sie vielleicht kennen. Sie sind Vorsitzen- die letzten Jahre hervorragend funktioniert. der des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages. (Michael Theurer [FDP]: Ja!) Das ist ja unglaublich, meine Damen und Herren. Das sollten wir genau so beibehalten. Ich sehe nicht, dass (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP hier jemand ausgeschlossen wird. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Stephan Brandner [AfD]: Ach, Herr Jung!) Jetzt lassen Sie mich mal kurz auf Ihren großen Be- Meine Damen und Herren, wenn Sie glauben, hier weis eingehen: das Kammergericht Berlin. Das Kammer- einfach Dinge suggerieren zu können, um ein Stück weit gericht Berlin hat in dem Urteil, das Sie zitieren – es ist Hetze zu machen, dann vergreifen Sie sich nicht jedes ein Revisionsurteil –, sich mit Strafzumessungsfragen Mal am Strafgesetzbuch, sondern lassen es so stehen. und der Frage von Anrechnungen aus anderen Urteilen Herzlichen Dank. befasst. In diesem Rahmen hat es aus der Vorinstanz ein Urteil einbezogen, das übrigens schon rechtskräftig war (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, und bei dem jemand wegen räuberischer Erpressung, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE mehrfachen gemeinschaftlichen Raubes und am Ende GRÜNEN) auch Beleidigung verurteilt wurde. In der Tatsachenfeststellung fnden Sie dann einen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Hinweis auf das, was Sie zitieren, nämlich den Satz: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens, „scheiß deutsche Kartoffel“. Aber dann müssen Sie die FDP. Tatsachenfeststellung auch zu Ende lesen. Dort steht: (B) (Beifall bei der FDP) (D) Dabei bezeichnete der Angeklagte den Zeugen als „scheiß deutsche Kartoffel“, weil er ihn kränken Dr. Jürgen Martens (FDP): wollte. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Auch wenn dieses von Ihnen zitierte Revisionsurteil ren! Auch das Schwert des Strafrechts dient letztlich dem die Folgen gar nicht mehr bewertet: Sie wissen doch, Rechtsfrieden. Aber bei Ihnen habe ich immer das Ge- dass genau dann, wenn nur intendiert ist, jemanden zu fühl, treffen, eben nicht die Geeignetheit zur Gefährdung des (Martin Hebner [AfD]: Weniger Gefühl, mehr öffentlichen Friedens vorliegt. Das ist genau die Gren- Tatsachen!) ze zwischen Volksverhetzung und Beleidigung. Damit ist der objektive Tatbestand an dieser Stelle eben nicht das Schwert des Strafrechts mutiert bei Ihnen zur An- erfüllt, völlig egal, ob er „scheiß deutsche Kartoffel“ griffswaffe in der politischen Auseinandersetzung. oder „scheiß Türke“ sagt. Daran ändert sich im Ergebnis Um dies vorab klarzustellen: Niemand muss es in überhaupt nichts. Daran ändert auch Ihr Gesetzentwurf Deutschland hinnehmen, beleidigt oder, wie Sie sagen, nichts; das wissen Sie ganz genau. „angepöbelt“ zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP so- (Martin Hebner [AfD]: Doch!) wie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Das gilt für die Deutschen, die sich hier nicht als „blöde Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Keine Ah- deutsche Kartoffel“ bezeichnen lassen müssen. Es muss nung vom Revisionsrecht!) sich aber auch niemand als – in Anführungszeichen – „Kümmelhändler“ beleidigen lassen. Das, meine Damen und Herren, soll jetzt Ihr großer Beweis dafür sein, dass die bundesrepublikanische Jus- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ tiz Deutsche nicht schützen will? Wissen Sie was? Ihnen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der geht es doch gar nicht um die Änderung des Strafgesetz- CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) buches oder Ähnliches. Es muss sich auch niemand als „Halbneger“ beleidigen ( [AfD]: Ja, uns geht es immer lassen. um etwas ganz anderes!) (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Ihnen geht es doch darum, hier wieder Stimmung zu DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der machen. Was zitieren Sie denn hier? Die „bundesrepu- CDU/CSU, der SPD und der LINKEN – 2842 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Dr. Jürgen Martens (A) Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/ Das ist sinnfrei, meine Damen und Herren. Das ist (C) DIE GRÜNEN]: Das war doch der Maier! – Wortgeklingel. Michael Theurer [FDP]: Das war Herr Maier!) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, Wenn diesen Grundsatz mehr Menschen in diesem Land der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE begriffen hätten, dann wäre für die Kultur in diesem Land GRÜNEN) wesentlich mehr getan, als mit jeder Strafrechtsänderung möglich wäre. Aber dieser Gesetzentwurf ist nicht nur ungeschickt und kompliziert; er ist auch das Musterbeispiel für Ihre (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Methode, die Methode von Nationalpopulisten und ih- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der rem Erzählmuster. CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) ( [AfD]: Strafrecht sechs, set- Die Regelungen zum Schutz vor Beleidigungen un- zen, Herr Kollege! Das ist gräulich! – Stephan terscheiden nicht nach der Herkunft des Opfers. Sie Brandner [AfD]: So einer war mal Minister! – unterscheiden auch nicht nach der Herkunft des Täters. Kay Gottschalk [AfD]: Wo waren Sie in der Die Schutzlosstellung von Deutschen, wie es im Gesetz- Strafrechtsvorlesung, Herr Kollege?) entwurf heißt, eine Privilegierung von Ausländern für Das lautet: Wir sind alle Opfer, diesmal von Fremden, Beleidigungen, gibt es schlicht nicht, meine Damen und und die Fremden sind böse, und deswegen müssen wir Herren. sie ausgrenzen. Dafür gibt es besondere Strafregelungen, (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ und deswegen basteln wir euch einen Teutonenschutzpa- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ragrafen. CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) (Heiterkeit und Beifall bei der FDP, der CDU/ Das ist eine Schimäre, eine Erzählung, die Sie hier vor- CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜND- bringen, um den Anhängern Ihrer Partei einzureden, dass NIS 90/DIE GRÜNEN) sie einmal wieder Opfer seien, nämlich diesmal von Es gibt genügend Strafnormen, die auch die Öffent- Volksverhetzung. lichkeit schützen. Die Aufforderung zu Straftaten ist Natürlich schützt § 130 Strafgesetzbuch auch Deut- strafbar. Die Androhung von Straftaten ist strafbar. Be- sche. Es geht im Übrigen – das ist auch dargelegt wor- lohnung und Billigung von Straftaten sind strafbar, und den – gar nicht um den Ehrenschutz, sondern um den Volksverhetzung auch. Das gilt auch zum Schutz von Deutschen, meine Damen und Herren. (B) Schutz der öffentlichen Sicherheit. Dieser kann durch (D) Angriff auf Personengruppen nur dann gefährdet sein, (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ wenn diese hinreichend bestimmt sind. Um eine Störung DIE GRÜNEN) herbeiführen zu können, braucht man eine Zielgerich- tetheit. Ansonsten ist diese Störung überhaupt nicht zu Was Sie im Übrigen an Beispielen für angebliche bewirken. Volksverhetzung anführen, sind bei genauer Betrachtung nichts weiter als Beleidigungen, und das ist strafbar. Da- (Lachen des Abg. Fabian Jacobi [AfD]) raus wird auch keine Volksverhetzung, nur weil in einer Das wissen Sie; das hoffe ich jedenfalls. Dementspre- Beleidigung das Wort „Deutscher“ auftaucht, meine Da- chend unklar ist auch der Entwurf, meine Damen und men und Herren. Das lässt sich damit nicht bewirken. Herren. Wer sich das durchliest, kommt auch nach fünf- Meine Damen und Herren, mit dem Gesetzentwurf maligem Lesen nicht hinter den Sinn der Regelung. verbessern Sie weder den Tonfall auf unseren Straßen noch die Diskussionskultur in unserer Gesellschaft. Bei (Stephan Brandner [AfD]: Das glaube ich Ih- der Expertise, die die AfD in Sachen Volksverhetzung in nen! Das liegt aber an Ihnen, Herr Martens!) sich hat, hätte ich eigentlich mehr von Ihnen erwartet. Darin heißt es: (Heiterkeit bei der FDP, der CDU/CSU, der Teile der Bevölkerung sind unabhängig von ihrem SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ Größenverhältnis … auch solche nicht unerhebli- DIE GRÜNEN) chen Personenmehrheiten, die sich … abgrenzen Sie könnten hier Positives beitragen, aber das wollen lassen. oder können Sie nicht. Das ist wirklich nicht zu verstehen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, Ihrem Wortlaut nach gibt es also eine Bevölkerung der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE und eine Gesamtbevölkerung; denn Sie führen das ge- GRÜNEN) sondert auf. Das ist also etwas Unterschiedliches. In der Bevölkerung gibt es Personenmehrheiten. Es gibt nicht Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: eine Mehrheit, sondern verschiedene Mehrheiten, und Nächste Rednerin ist die Kollegin Sarah Ryglewski, die sind auch noch erhebliche oder logischerweise uner- SPD-Fraktion. hebliche Mehrheiten von Bevölkerungen in der Gesamt- bevölkerung. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2843

(A) Sarah Ryglewski (SPD): mittel gegen die Sozialdemokratie war. Das sollten Sie (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vielleicht auch wissen. – Danke. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werter Herr (Beifall bei der AfD) Martens, vielen Dank. Auch ich hätte von der AfD, ehr- lich gesagt, angesichts ihrer einschlägigen Expertise

beim Thema Volksverhetzung etwas mehr erwartet. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege Maier, jetzt antwortet Frau Ryglewski. Ihr Fraktionsvorsitzender Alexander Gauland hat we- gen seiner Äußerung über die frühere Integrationsbe- Sarah Ryglewski (SPD): auftragte der Bundesregierung Aydan Özuğuz auch eine Herr Maier, vielen Dank. – Die Aussage mit dem Anzeige erhalten, genauso wie der Verfasser dieses Ge- Kampfmittel gegen Sie wollte ich eigentlich hören. setzentwurfes, Herr Maier. Er sollte sich eigentlich auch sehr gut mit diesem Paragrafen auskennen. Gegen Sie ist (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ja gleich mehrfach Strafanzeige erstattet worden. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beatrix von Storch [AfD]: Und ich auch! Niemand hat behauptet, dass Sie wegen Volksverhetzung Hunderte!) verurteilt worden sind. – Frau Storch, gegen Sie auch. (Zurufe von der AfD) (Zuruf von der AfD: Ich hatte noch keine!) – Ich möchte gerne dem Kollegen Maier antworten. Er hat mich etwas gefragt. Darauf antworte ich jetzt. – Oh, wunderbar; lassen Sie sich das einrahmen; es bleibt (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, sicherlich nicht lange so. – Zuletzt wegen Ihrer widerli- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE chen Äußerung gegenüber Noah Becker, der im Übrigen GRÜNEN) genau wie Frau Özuğuz deutscher Staatsbürger ist. Mit Deutschenfeindlichkeit haben Sie von der AfD offen- Der Kollege Martens hat genau die Trennschärfe und sichtlich nur dann ein Problem, wenn Menschen betrof- den Unterschied zwischen Beleidigung und Volksver- fen sind, die offensichtlich nach Ihrer Defnition keine hetzung dargelegt. Ich habe gesagt, Sie sind deswegen Deutschen sind. angezeigt worden und müssten sich aufgrund dessen mit diesem Paragrafen auskennen. Mehr habe ich nicht ge- sagt. Das beantwortet Ihre Frage. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Frau Kollegin Ryglewski, gestatten Sie eine Zwi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) (D) schenfrage des Kollegen Maier? DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Sarah Ryglewski (SPD): Ihre Äußerung dahin gehend, dass es ein Kampfmittel Gerne, Herr Maier. ist, zeigt genau die Intention Ihres Antrags, nämlich hier alles in einen Sack zu packen, das Ganze zu einer Soße zu vermengen und damit dieses Schwert zu entschärfen. Jens Maier (AfD): Das machen wir aber nicht mit. Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sehr geehrte Frau Ryglewski, ist Ihnen der Unterschied DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zwischen einer Anzeige und einer Verurteilung bekannt? CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Ich werde die angezeigten Äußerungen nicht wieder- Sarah Ryglewski (SPD): Ja. holen, weil sie es nicht wert sind. Die Damen und Herren von der AfD wissen, was sie und ihre Kollegen gesagt Jens Maier (AfD): haben. Die meisten hier im Raum wissen es leider auch. Anzeigen kann man nämlich jeden. Wir müssen uns das ja fast täglich anhören. Spätestens (Beifall bei Abgeordneten der AfD) nach dieser Debatte können sich alle Anwesenden hier im Raum, die es bisher nicht wussten, denken, was Sie Ich habe hier auch schon einige angezeigt. so von sich geben. (Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und der Allen Äußerungen, die ich hier angesprochen habe, ist FDP) gemein, dass sie auf die Verächtlichmachung, die Herab- setzung und nicht zuletzt auf die Ausgrenzung eines Teils Mal sehen, was dabei herauskommt. unserer Bevölkerung abzielen. (Heiterkeit bei der AfD) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bin nicht verurteilt worden. Herr Dr. Gauland ist nicht verurteilt worden. Hier ist noch niemand verurteilt Genau für solche Äußerungen ist § 130 gedacht. Er soll worden. Das sollten Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nämlich Gruppen, die von der Mehrheit als Minderheit nehmen. § 130 StGB ist ein Kampfmittel gegen uns, ge- interpretiert werden, vor der Mehrheit schützen. Anders nauso wie damals im 19. Jahrhundert § 130 ein Kampf- ausgedrückt: Er soll verhindern, dass eine Mehrheit da- 2844 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Sarah Ryglewski (A) rüber entscheidet, wer zu uns gehört und wer nicht; denn leben in unserem Land einen deutlich größeren Dienst (C) genau das zerstört den Frieden in unserem Land. erweisen als mit diesem Gesetzentwurf. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vielen Dank. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, Wir wissen in Deutschland aus leidvoller Erfahrung, dass der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE eine entsprechende Stimmung im schlimmsten Fall zu GRÜNEN) Gewalt und Pogromen führen kann. Das wollen wir alle nicht wieder erleben. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nächste Rednerin ist die Kollegin Martina Renner, Fraktion Die Linke. Ihr vorliegender Antrag zeigt – das haben schon meh- rere Vorredner dargelegt –, dass Sie den Tatbestand der (Beifall bei der LINKEN) Volksverhetzung nicht verstanden haben. Auf Bevölke- rungsmehrheiten, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, ist Martina Renner (DIE LINKE): der Paragraf einfach nicht ausgerichtet. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich (Zuruf von der AfD: Deswegen stellen wir möchte zu Beginn anerkennen: Die Kompetenz der AfD diesen Antrag!) in Sachen Volksverhetzung ist über jeden Zweifel erha- Hingegen offenbart Ihr Antrag etwas komplett anderes: ben. Ihr völkisches Weltbild. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE DIE GRÜNEN – Beatrix von Storch [AfD]: GRÜNEN) Oh ja!) Das beweisen Sie, wenn Sie Menschen rassistisch Wer Ihn genau durchliest, wird sehen: Er strotzt nur so beleidigen. Das beweisen Sie, wenn Sie ganze Religi- von Formulierungen wie „die angestammte deutsche onsgruppen verunglimpfen. Das beweisen Sie in Chat- Bevölkerung“. Sehr spannend! Was ist denn die „ange- gruppen, in Ihren Reden und in Ihren Anträgen. Sie, stammte deutsche Bevölkerung“? Herr Maier, empfnden eine Anzeige wegen Volksverhet- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Dass Sie das zung – auf die Beleidigung von Noah Becker ist schon (B) nicht wissen, ist klar!) Bezug genommen worden – nach eigenem Bekunden (D) sogar als Auszeichnung. Herr Maier, hören Sie auf, zu Gehöre ich mit meinen Wurzeln in Polen dazu? Gehören lügen, indem Sie sagen: Es gab noch nie eine Verurtei- die Kollegin Özoğuz, die Kollegin Fahimi oder die Kol- lung eines AfD-Politikers wegen Volksverhetzung. – Erst legin Bayram auch dazu? Das können Sie gerne einmal kürzlich wurde der Berlin-Lichtenberger AfD-Abge- erklären. Melden Sie sich ruhig zu Wort. ordnete Kay Nerstheimer zu 7 000 Euro Strafe wegen Volksverhetzung verurteilt, weil er auf Facebook gegen Verräterisch sind auch Ihre Ausführungen in der Be- Homosexuelle gehetzt hatte. Das ist die Wahrheit über gründung Ihres Gesetzentwurfs. Sie führen aus, die Deut- Ihre Partei. schen gehörten zu diesem Zeitpunkt noch zur Mehrheit in Deutschland. „Fremd im eigenen Land“ ist bei Ihnen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sozusagen ein Dauerschlager und verwundert mich auch neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- nicht bei jemandem wie Ihnen, Herr Maier, der im Vor- SES 90/DIE GRÜNEN) programm von Björn Höcke vor der Entstehung von Mischvölkern warnt. Heute wollen Sie eine der wenigen Institutionen an- greifen, die Minderheiten gegen Ausgrenzung und Diffa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mierung schützt. Was hätten wir anderes von notorischen DIE GRÜNEN – Stephan Brandner [AfD]: Rassisten erwarten können? Der heißt Bernd!) Ich mache Ihnen einen guten Vorschlag. Stellen Sie sich (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- doch einmal schützend an die Seite der Deutschen, für NIS 90/DIE GRÜNEN) die § 130 StGB schon heute gilt, und schützen Sie Ihre Sie wissen inzwischen ganz gut, dass die beste Positi- Kolleginnen und Kollegen, die aufgrund ihrer Religion, on, aus der heraus Sie argumentieren, die Opferrolle ist. ihres Migrationshintergrundes oder ihrer sexuellen Ori- Sie behaupten, von Ausgrenzung betroffen zu sein, wenn entierung von Ihren Kolleginnen und Kollegen diskrimi- nationalistischer Hetze kein Raum gegeben wird. Sie niert werden, plärren über verletzte Meinungsfreiheit, wenn Sie nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unwidersprochen rechte Propaganda verbreiten dürfen, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und Sie entehren das Andenken an Millionen im Natio- LINKEN) nalsozialismus Ermordete. statt sich dafür gegenseitig zu bejubeln und zu beklat- (Zurufe von der AfD: Schäbig! – Linke Het- schen. Damit würden Sie dem friedlichen Zusammen- zerin!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2845

Martina Renner (A) Sie besitzen die Dreistigkeit, das Verweisen aus einer Das Unwort begleitet die Untat. Das zeigt auch die Ge- (C) Kneipe mit dem mörderischen Antisemitismus der Nazis schichte dieses Paragrafen. Das Gesetz gegen Volksver- gleichzusetzen. hetzung wurde als Reaktion auf eine Welle antisemiti- scher Gewalt in der BRD der 1950er-Jahre, darunter die (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Schändung der Kölner Synagoge, verabschiedet. NIS 90/DIE GRÜNEN) Eine interessante Parallele zu heute ist übrigens, dass Was Sie wollen – dazu gehört auch der heute disku- sich die Deutsche Reichspartei, nachdem bekannt wurde, tierte Gesetzentwurf –, ist die Manipulation der Erinne- dass die Täter Parteimitglieder waren, eiligst distanzierte rung in Vorbereitung einer autoritären Zukunft. und sich gegen Antisemitismus aussprach. Auch heute distanziert sich die AfD öffentlich von Rassismus und Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Antisemitismus. Damals wie heute gilt: Wir glauben Ih- Ich habe eben den Zwischenruf „Hetzerin“ gehört. nen kein Wort. Den rüge ich. Ich weiß nicht genau, wer es war. Das wird das Protokoll feststellen. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beatrix von Storch [AfD]: Das hören wir den ganzen Tag!) Wir glauben denen, die Angst vor Ihnen haben. Die AfD hält die Brandreden, und andere Leute werfen Ich rufe Sie damit zur Ordnung. Brandsätze. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem (Beatrix von Storch [AfD]: Das ist doch Het- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- ze!) geordneten der CDU/CSU und der FDP) Solange Sie und Ihresgleichen Brandreden halten, brau- Martina Renner (DIE LINKE): chen wir ein Gesetz, das die Opfer dagegen verteidigt. Wir werden dies alles nicht zulassen. Wir werden im- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem mer daran erinnern, dass es seit eh und je zur Propaganda BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Rechten gehört, sich selbst als Opfer zu inszenieren und die eigentlichen Opfer aus der Aufmerksamkeit zu Sie lieben die Angst und können gar nicht genug da- verdrängen. von kriegen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und (Fabian Jacobi [AfD]: Das sind doch Projek- (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – tionen!) (D) Martin Hebner [AfD]: Die Mauertoten!) Wir aber wollen eine Gesellschaft, in der alle ohne Angst Diesen Opfern will die AfD nun den Schutz entziehen, verschieden sein können und in der es für alle Platz gibt – indem der Fokus des Gesetzes verzerrt wird. außer für die Hetzer und die Hetze. Klar: Wenn es nach Ihnen ginge, gäbe es gar keine (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Gesetze gegen Volksverhetzung. Da haben wir dann auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Anhaltende schon die nächste Lüge von Herrn Maier. Er hat eben Zurufe von der AfD) hier gesagt: Niemals wollten wir § 130 StGB gänzlich abschaffen. – Am 23. März dieses Jahres werden Sie bei „Tag24“ zitiert: Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Vor diesem Hintergrund wäre es an und für sich Nächste Rednerin ist die Kollegin Canan Bayram, konsequent, den Paragrafen 130 zu streichen ... Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. In einem anderen Interview fordern Sie erneut, man (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das ist ein müsse § 130 StGB komplett streichen. Hören Sie auf, zu Unding! – Abg. Dr. Bernd Baumann [AfD] lügen. Wir wissen, dass Sie § 130 StGB abschaffen wol- begibt sich zum Präsidium) len und heute eben nur Kreide gefressen haben. – Versuchen Sie nicht, mit dem Sitzungspräsidenten zu (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- diskutieren. Das ist völlig hoffnungslos, auch nach den neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Regeln nicht vorgesehen. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Warum wollen Sie § 130 StGB abschaffen, und wa- NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander rum greifen Sie ihn überhaupt an? Wenn er nicht beste- Gauland [AfD]: Das ist leider wahr! – Niema hen würde, dann könnten Sie nämlich ganz ungehindert, Movassat [DIE LINKE]: Wer rausgeht, muss wie es Ihnen beliebt, gegen Behinderte, Flüchtlinge, Ju- auch wieder reinkommen!) den, Moslems und Linke hetzen. Das Wort hat die Kollegin Canan Bayram, Fraktion (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Bündnis 90/Die Grünen. NIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der AfD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 2846 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

(A) Canan Bayram (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann ist es tatsächlich auch so, dass man sich fragt: (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Warum legen Sie hier diesen verklausulierten Entwurf Kollegen! Wir behandeln heute einen Gesetzentwurf der vor, in dem Sie vorgaukeln, dass Sie das Gesetz nicht AfD, der überschrieben ist unter anderem mit „teilweisen abschaffen, sondern nur ergänzen wollen? Dass das eine Legaldefnition“. Lüge ist, das haben Sie hier mit Ihrer Rede bewiesen, und das beweist jedes Ihrer Parteimitglieder, meine Damen (Stephan Brandner [AfD]: Hetze reloaded!) und Herren. Schon die Ausführungen, dass Teile der Bevölkerung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch die Mehrheit einer Gesamtbevölkerung sein kön- und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der nen, ergeben keinen Sinn. Deswegen fragt man sich als SPD und der LINKEN) interessierter Leser des Entwurfs: Worum geht es der AfD-Fraktion eigentlich? Hier sind genug Juristen, die sich auch mit dem § 130 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) StGB auskennen. Glauben Sie denn wirklich, Sie könn- ten mit Ihrer Täuschungsnummer hier durchkommen? Tatsächlich haben heute sowohl die Rede als auch die Frage des Kollegen Maier deutlich gemacht: Es geht ihr (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- darum, ihre Anhängerschaft, die völkisch-national ist, NIS 90/DIE GRÜNEN]) davor zu schützen, dass sie vom Staat dafür belangt wird, Es gab Strafrechtler, die sich hier zu den Fragen schon so (Stephan Brandner [AfD]: Ach, Frau Bayram! eindeutig, sage ich einmal, geäußert haben, dass Sie hier Hören Sie doch auf!) noch was dazulernen könnten, Herr Maier. und dagegen sind wir, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) und bei der LINKEN) Aber der eigentliche Punkt ist doch: Wollen wir dieses Denn wir sind der Ansicht, dass dieses Völkisch-Natio- Gesetz ändern? Ich freue mich, dass außer Ihnen alle Ver- nale tatsächlich eine Bedrohung für Teile unserer Bevöl- treter der anderen Fraktionen hier eindeutig gesagt ha- kerung ist, und die wollen wir schützen, und zwar unab- ben: Dieses Gesetz hat sich bewährt. Das ist ein Gesetz, hängig davon, welche Nationalität sie haben. das auch mit unserer Geschichte zu tun hat. Wir wollen – das ist nämlich das Schutzziel dieses Gesetzes – den öf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fentlichen Frieden erhalten. (B) und bei der LINKEN) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Rein rechtlich ist es schon so, dass Ihr Entwurf verfas- bei der SPD und der LINKEN – Fabian Jacobi sungsrechtlich bedenklich ist. Er ist nicht bestimmt und [AfD]: Ganz genau!) auch nicht bestimmbar. Schon das Wort „angestammter Deutscher“ lässt viele Fragen offen: Wer ist denn an- Wir wollen eine Gesellschaft des Zusammenhalts gestal- gestammt, und wer ist denn Deutscher? Dazu will ich ten. Wer diese Gesellschaft nicht will und der Kanzle- einmal ein Beispiel geben: Noah Becker, der Sohn eines rin hier wieder lustig vorwirft, dass sie Gäste eingeladen der besten Tennisspieler, Boris Becker, ist doch ein Deut- hatte, scher. Oder gibt es Leute, die daran Zweifel haben? Wo ist der angestammt? Interessiert uns das überhaupt? Mich (Stephan Brandner [AfD]: Lustig ist das interessiert das nicht. nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der hat überhaupt kein Herz für Gefüchtete, der hat kein sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Herz für Minderheiten. Ehrlich gesagt, Herr Maier, ich SPD und der FDP) weiß nicht, ob bei Ihnen in der Herzgegend überhaupt etwas schlägt. Er ist ein Deutscher, und er wird durch den § 130 StGB auch geschützt. (Lachen bei Abgeordneten der AfD) Ehrlich gesagt, man fragt sich teilweise, ob der Herr Jedenfalls ist es so, dass Ihre Rede, Ihr Entwurf und Maier sich hier selbst schützen will. Uns allen ist be- auch Ihre Fragen deutlicher gemacht haben als alles an- kannt, dass er ein großer Bewunderer von Bernd Höcke dere, dass wir dieses Gesetz gerade brauchen, um insbe- ist. sondere vor Leuten aus Ihren Reihen zu schützen. (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Der Mann heißt Björn Höcke! Das sollten Sie endlich (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- mal lernen!) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Da fragt man sich: Warum hat er denn Angst, seine Mei- Deswegen behalten wir den § 130 StGB in seiner jetzi- nung so laut und deutlich zu sagen, wie der Bernd Höcke gen Fassung, und daran – Herr Maier, Sie können weiter das immer macht? davon träumen – werden Sie nichts ändern. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, NEN) bei der SPD und der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2847

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: bestand der Beleidigung. Es ist gut, dass er angewendet (C) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Patrick Sensburg, werden kann. CDU/CSU. (Widerspruch bei Abgeordneten der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU) Selbst die Aufsätze, die Sie für Ihre Gesetzesinitiative zugrunde legen, decken Sie nicht. Lesen Sie den Aufsatz Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): in der „Juristischen Rundschau“ von 2017 einmal ordent- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und lich durch. Kollegen! „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ Ich glaube, das trifft ganz genau auf Ihren Antrag zu, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: meine Damen und Herren von der AfD. Herr Kollege Sensburg, der Kollege Maier würde Ih- nen gerne eine Zwischenfrage stellen. (Stephan Brandner [AfD]: Das Gesetz gibt es doch schon!) Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): – Sie wollen ja eine Gesetzesänderung; das ist natürlich auch ein Gesetz. Das sollten Sie als Vorsitzender des Das kann er gerne machen. Rechtsausschusses wirklich wissen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Bitte, Herr Maier. Abgeordneten der SPD und der FDP) Wenn Sie sagen, Sie wollten nicht schon lange Hand Jens Maier (AfD): an den § 130 StGB anlegen und die Volksverhetzung ab- Erst einmal, Herr Dr. Sensburg, vielen Dank, dass Sie schaffen, dann ist das falsch. Frau Kollegin Renner hat die Zwischenfrage zulassen. – Ich muss noch einmal auf Sie eben zitiert, aber ich möchte das Zitat komplettieren, Ihre Bemerkung zur Abschaffung des § 130 StGB von weil es so gut ist. Herr Kollege Maier, Sie haben im März vorhin zurückkommen; ich wurde hier nicht zur Kenntnis dieses Jahres noch gesagt: genommen. Das geht nicht, weil es eine EU-Richtlinie Vor diesem Hintergrund wäre es an und für sich aus dem Jahr 2008 gibt, die dies verbietet. Insofern war konsequent, den § 130 zu streichen, um nicht große das nur ein Fabulieren ins Blaue hinein, Teile der Gesamtbevölkerung zu kriminalisieren. (B) (Lachen bei der CDU/CSU) (D) (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sprechen Sie doch zum Antrag! – Stephan Brandner [AfD]: insbesondere vor dem geschichtlichen Hintergrund, dass Das war doch der Konjunktiv, oder nicht?) dieser Paragraf als Kampfmittel angewendet wurde, un- ter anderem im 19. Jahrhundert gegen die Sozialdemo- Das ist völlig klar, in welche Richtung Sie gehen woll- kratie. ten. Ihr Zitat ist im „Handelsblatt“ am 23. März 2018 nachzulesen. Schon vor drei Jahren hat Höcke an vielen (Zuruf von der CDU/CSU: Warum haben Sie Stellen, selbst in internen Mails – darüber ist berichtet es denn gefordert?) worden –, die Abschaffung der §§ 86 und 130 StGB ge- fordert. Also sagen Sie nicht, Sie wollten keine Hand an Ich bin dagegen, dass über das Strafrecht die Mei- den § 130 legen. Doch, das ist genau Ihre Linie. nungsfreiheit reguliert wird. Das ist nicht in Ordnung. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem Danke. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der AfD – Niema Movassat Sie sagen, man müsste im § 130 ein neues Tatobjekt [DIE LINKE]: Jetzt ist die Maske gefallen! aufnehmen, nämlich uns Deutsche. Dazu besteht kein Jetzt wissen wir, worum es geht! – Michael Bedarf. Sie stützen Ihre Argumentation auf zwei Urtei- ­Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt schlag ihn le. Auf das Revisionsurteil ist der Kollege Jung schon aus dem Feld!) eingegangen. Außerdem stützen Sie Ihre Argumentation auf einen Aufsatz in der „Juristischen Rundschau“ vom Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Kollegen Nowrousian. Das ist übrigens ein Kollege von mir von der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Herzlichen Dank für die Anmerkung; ich denke noch in Münster. Sie sollten den Aufsatz aber genau lesen. Da- darüber nach, wo die Frage war. Sie haben bestätigt, dass rin steht gar nicht, dass man als Tatobjekt die Deutschen Sie die Abschaffung des § 130 StGB gefordert haben, aufnehmen muss. Er besagt, dass der Paragraf, wie er auch wenn es nur ins Blaue hinein fabuliert war. Sie ha- jetzt besteht – das haben Sie in Ihrer Rede selbst erwähnt, ben aber eben – auch wenn das, was Sie gemacht haben, Herr Maier –, im Grunde schon all das einschließt. nur ins Blaue hinein fabuliert war – dem Kollegen Jung unterstellt, er hätte gelogen, als er Sie zitiert hat. Die Frage ist, ob der öffentliche Friede verletzt wird, wenn der ein oder andere mit welch schlimmen Worten (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch immer etwas Böses sagt. Dafür haben wir den Tat- NEN]: Richtig, so ist es!) 2848 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Dr. Patrick Sensburg (A) Von daher: Wer lügt denn hier? Das ist das Traurige. mäß. Zweitens. Einer Änderung des § 130 StGB bedarf (C) es nicht. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Wer diese Debatte verfolgt hat, kann nur zu diesem Ich gönne Ihnen, Herr Kollege Maier, jedes Fabulieren Schluss kommen. ins Blaue; Sie sind auch nur ein Mensch. Das ist völlig okay. Aber dann sagen Sie es von Anfang an, und werfen Es stellt sich aus dieser Debatte heraus aber die Fra- Sie nicht anderen Kollegen vor, sie hätten gelogen. Das ge: Warum überhaupt dieser Gesetzentwurf? Der Kollege ist schlechter Stil. Das wollte ich aufzeigen, und das ist Sensburg hat es angesprochen, und ich will es wiederho- auch deutlich geworden. len und vertiefen. Zum einen, weil mit diesem Gesetzent- wurf – Sie bezeichneten es zuvor in Ihrer Antwort auf die (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Zwischenfrage so schön als „fabulieren“ – eigentlich ge- der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE wollt ist, § 130 StGB so lange zu verwässern, bis genau GRÜNEN) das herauskommt, was Sie wollen, nämlich das Schutzin- teresse des § 130 StGB aufzuweichen und aus unserem Wir haben nun in verschiedenen Reden festgestellt, Rechtsystem zu entfernen. dass der § 130 StGB in seiner jetzigen Form – bei aller Komplexität, die er auch hat, historisch gesehen, in sei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ner Entwicklungsgeschichte usw. – von der Rechtspre- DIE GRÜNEN) chung vollumfänglich gut erfasst wird. Dass es vielleicht Deshalb, liebe Mitglieder dieses Hohen Hauses, ver- Einzelentscheidungen, auch Einstellungen von Staatsan- ehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, sollten wir über die waltschaften gibt, über die man diskutieren kann, ist rich- Frage nachdenken: Für was haben wir den § 130 StGB? tig – schreiben Sie dazu einen Aufsatz! –; aber deswegen Wozu ist er gedacht? Zwei Gründe sind anzuführen. die Änderung des Gesetzes zu fordern, ist falsch. Dazu gehört nicht der Schutz der Sozialdemokratie; das Ich erinnere noch einmal an meinen Eingangssatz: mag vielleicht Ihrem Bismarck’schen Gedankengut ent- „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, sprechen, aber nicht unserem bundesrepublikanischen dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ Hetze Rechtsystem. Er ist erstens dazu da, den öffentlichen jedweder Art sollten wir nicht tolerieren. Eine klare An- Frieden zu wahren. Und zweitens – das ist die wichti- wendung der Normen, die es gibt, sollten wir fordern. ge Kernaussage – ist er dazu da, Minderheiten in diesem Aber Finger weg von Gesetzen, wenn es nur dazu dient, Land zu schützen, nicht die Mehrheitsgesellschaft, die (B) das eigene nationaldeutsche Antlitz anzustreichen und auch polemische Angriffe aushalten muss. Vor dem Hin- (D) ins Licht zu rücken. tergrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus soll er verhindern, dass in Deutschland nie wieder der Mob (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie loszieht, um bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist falsch. Es gibt keine gute oder schlechte Hetze. Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Schwule und Les- Daher sollten wir hier ganz deutlich sagen: Setzen gerade ben, Farbige, Nichtfarbige, Deutsche, Nichtdeutsche Sie sich dafür ein, dass Hetze nicht stattfndet. Ich glau- zu jagen, zu verunglimpfen, zusammenzutreiben und be, damit wäre schon viel erreicht. dann … Wir kennen die Geschichte. Deshalb verbietet sich jede Relativierung. Deshalb ist § 130 StGB erforder- Danke schön. lich. Deshalb dürfen wir nicht Hand an diese Vorschriften (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie anlegen. bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dass § 130 StGB als Sondervorschrift auch im Sinne Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: des Artikels 5 Grundgesetz verfassungswidrig ist, zeigt Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Karl- Ihr Gesetzentwurf ganz deutlich. Heinz Brunner, SPD-Fraktion. Sie zitieren zwar das Revisionsurteil des Kammerge- richts, aber die Entscheidung des Bundesverfassungsge- (Beifall bei der SPD) richts vom November 2009 lassen Sie tunlichst beiseite. In dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsge- Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): richt noch einmal ausdrücklich gesagt, dass § 130 StGB eben kein allgemeines Gesetz ist, sondern ein Gesetz, das Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und explizit auf die nationalsozialistische Unrechtsideologie Kollegen! Wenn ich diese Debatte und die letzten Zwi- abstellt. Daran müssen wir festhalten. schenfragen betrachte, dann ziehe ich aus dieser Debat- te zwei Lehren: Erstens. Volksverhetzung muss strafbar Für alle anderen Tatbestände haben wir Regeln in die- sein. Das ist gut; das ist richtig; das ist verfassungsge- sem Land. In § 185 ff. StGB ist das Strafmaß bei Ver- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2849

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) letzung individueller Rechte durch Beleidigungen, üble Sprache schüren Hass. Hass führt zu Gewalt, und Gewalt (C) Nachrede, Verleumdung – damit haben Sie alle mitei- zersetzt ein Gemeinwesen. Deswegen brauchen wir den nander gute Erfahrungen – geregelt. Wenn es um Gewalt § 130 StGB, um die Würde des Menschen und den öf- gegen Deutsche geht, frage ich Sie: Welche Deutschen fentlichen Frieden zu schützen. meinen Sie denn damit mehrheitlich und ethnisch? Den ganzen Deutschen? Den Halbdeutschen? Den Viertel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- deutschen? Solche Begriffe hatten wir in diesem Land ordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und doch schon einmal. Ich möchte nicht, dass sie noch ein- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mal üblich werden. Ja, es ist durchaus nicht ganz überraschend – und das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist in der Tat gesagt worden –, dass sich die Fraktion der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD des Paragrafen zur Volksverhetzung annimmt. Da- LINKEN) ran wird deutlich: Wer Sachargumente hat, braucht keine Herabsetzung. Wer herabsetzt, dem geht es nicht um die Die Störung des öffentlichen Friedens ist nach § 126 Sache. Und wem es nicht um die Sache geht, dem geht es StGB strafbar. auch nicht um einen demokratischen Diskurs. Das ist der Meine Kernaussage zu Ihrem Gesetzentwurf lautet: Zusammenhang, in dem Ihr Gesetzentwurf steht. Wir brauchen keine Änderung des § 130 StGB. In un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und serem Land darf niemand, egal ob deutsch oder nicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) deutsch, farbig oder nicht farbig, christlich oder nicht christlich, krank oder gesund, behindert oder nicht be- hindert, schutzlos sein. Vizepräsidentin : (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollege Ullrich, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der kung des Herrn Seitz? CDU/CSU und der LINKEN) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Deshalb ist es erforderlich, den § 130 StGB in der be- stehenden Form zu erhalten und diesem unsinnigen An- Ja. sinnen eine Abfuhr zu erteilen. Vielen herzlichen Dank. Thomas Seitz (AfD): Herr Kollege, vielen Dank für die Zulassung der Zwi- (Beifall bei der SPD) (B) schenfrage. – Sie haben den Vorwurf erhoben, die Frakti- (D) on der AfD und unsere Partei verfüge nur über das Mittel, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: andere herabzusetzen. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. Ihnen ist doch sicherlich bekannt, dass ein früherer Ministerpräsident Ihrer Partei Bürger in Ostdeutschland, (Beifall bei der CDU/CSU) die zivilen Ungehorsam geübt haben und sich dabei möglicherweise im niedrigschwelligen Bereich strafbar Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): gemacht haben, dadurch gekennzeichnet hat, dass er ge- sagt hat: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- ren! Zum Abschluss dieser Debatte möchte ich noch auf Das sind keine Menschen … Das sind Verbrecher. einen anderen Aspekt aufmerksam machen. Der § 130 des Strafgesetzbuches ist eine der wenigen Strafvorschriften, Er hat diesen Menschen die Menschenwürde abgespro- die explizit auf die Menschenwürde Bezug nimmt. Damit chen. diese unantastbar bleibt, wie es in Artikel 1 des Grund- gesetzes festgeschrieben ist, muss der Staat sie aktiv vor Das ist der schlimmste Verstoß, den man in Deutsch- Herabsetzung, Entwürdigung und Entmenschlichung land gegen unser Grundgesetz begehen kann. Distan- schützen. Das ist eines der wichtigsten Ordnungsprinzi- zieren Sie sich also von diesem hochrangigen ehemali- pien unseres staatlichen Gemeinwesens. gen Politiker und Mitglied der CDU, der nach meinem Kenntnisstand von Ihrer Partei und Fraktion niemals, zu (Andrea Nahles [SPD]: Richtig!) keinem Zeitpunkt, für diese unglaubliche Äußerung ge- maßregelt wurde, die im Übrigen auch keinerlei öffentli- Damit der öffentliche Friede gewahrt bleibt, müssen che Resonanz gefunden hat? wir uns die Frage stellen, wie das friedliche Zusammen- leben in unserem Staat geschützt werden kann. Oder an- (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE dersherum gefragt: Was gefährdet das friedliche Zusam- GRÜNEN]: Außer bei Ihnen, oder was?) menleben? Es ist – die bitteren historischen Erfahrungen zeigen es – der Hass und die Ausgrenzung gegenüber Andersdenkenden, gegenüber Schwachen, gegenüber Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): anderen Religionen und gegenüber Minderheiten. Herr Kollege, ich kenne das Zitat nicht. Es gibt einen Zusammenhang, den ich deutlich benen- (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen möchte: Herabwürdigungen und Verrohungen in der NEN]: Ich auch nicht!) 2850 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Dr. Volker Ullrich (A) Sie haben das Zitat weder wortwörtlich zitiert noch eine Vizepräsidentin Petra Pau: (C) Quellenangabe genannt oder den Zusammenhang deut- Ich schließe die Aussprache. lich dargestellt. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wurfs auf Drucksache 19/1842 an die in der Tagesord- NEN]: Es bleibt ein Rätsel!) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Ich rate Ihnen: Es wäre für Sie vielleicht wesentlich Dann ist die Überweisung so beschlossen. zielführender, sich Ihre Twitter- und Facebook-Einträge anzusehen und die Kommentare, die Menschen darun- Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: ter posten, zu lesen. Davon müssen Sie sich distanzieren. Das ist es, was Hass in der Gesellschaft schürt und das Beratung des Antrags der Abgeordneten Gemeinwesen hier zersetzt. Dr. Christian Jung, Torsten Herbst, Daniela Kluckert, weiterer Abgeordneter und der Frakti- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, on der FDP der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Nach Tunnelhavarie und Rheintal-Stre- GRÜNEN) ckensperrung 2017 von Rastatt – Aufarbei- Darüber müssen wir reden. tung und Notfallmanagement entwickeln Ja, wir müssen diesen Gesetzentwurf auch rechtspoli- Drucksache 19/1839 tisch betrachten. In einem Umfeld, in dem wir wertaus- Überweisungsvorschlag: füllungsbedürftige unbestimmte Rechtsbegriffe haben, Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur wollen Sie eine Legaldefnition einführen. Der Punkt ist Ausschuss für Wirtschaft und Energie aber, dass das Strafrecht anders aufgebaut ist. Überall Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dort, wo wir unbestimmte Rechtsbegriffe haben, die dann die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- der Beurteilung durch den Tatrichter obliegen, braucht es nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. keine Legaldefnitionen. Wenn Sie aber eine Legaldefni- tion einführen, ändern Sie den Charakter der Vorschrift. Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den Wenn Sie den Charakter der Vorschrift ändern, entwerten Fraktionen zügig vorzunehmen. Sie den gesamten strafrechtlichen Schutzzweck dieser Nachdem alle ihren Platz gefunden haben, eröff- Norm. Es geht Ihnen also darum, dass der § 130 Strafge- ne ich die Aussprache und erteile dem Abgeordneten setzbuch durch die Überladung wirkungslos wird. Dr. Christian Jung zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag für die FDP-Fraktion das Wort. (B) (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) NEN]: So ist es!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Damit werden im Ergebnis Würde und öffentlicher Frie- der CDU/CSU und der SPD) den nicht mehr in dem Umfang geschützt. Das steckt da- hinter. Dr. Christian Jung (FDP): (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Damen und Herren! Ich stelle mir ein modernes Deutsch- geordneten der FDP) land folgendermaßen vor: keine Staus, mehr Menschen in Zügen, mehr Güter auf der Schiene, moderne Brücken Ich möchte zum Abschluss dieser Woche darauf auf- und Straßen, durchdachte Fahrradwege, Wasserwege mit merksam machen, dass der Kern dieser Vorschrift im funktionstüchtigen Schleusen, eine sichere Ostseeauto- Jahr 1960 geändert worden ist aufgrund bitterer histori- bahn A 20, einen funktionsfähigen neuen Flughafen in scher Erfahrungen der jungen Bundesrepublik Deutsch- Berlin und einen fertigen Bahnhof in Stuttgart, über den land, antisemitischer Schmierereien an Synagogen und man voller Freude mit der Bahn in alle Welt fahren kann. Hetzschriften, die die junge Bundesrepublik Deutschland vor eine schwere Bewährungsprobe gestellt haben. Das (Beifall bei der FDP – Matthias Gastel junge demokratische Deutschland hat diese Bewährungs- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird probe bestanden, indem es gesagt hat: Nie wieder! Das wohl nicht passieren!) dulden wir nicht. Wir stellen das unter Strafe. Wir wollen Ein modernes Deutschland ist auf Notfälle vorberei- durch die Strafvorschrift eindeutig zum Ausdruck brin- tet. Eine Tunnelhavarie wie 2017 in Rastatt mit anschlie- gen, dass wir es nicht zulassen, dass ein Klima der Ver- ßender 51-tägiger Streckensperrung der Rheintalbahn rohung, der Angst, der Hetze und der Intoleranz entsteht, darf es nie wieder geben. auch mit Mitteln des Strafrechts. – Wir werden klar und deutlich zum Ausdruck bringen, dass wir an diesem Ge- (Beifall bei der FDP) danken, der damals modern war, festhalten, und deswe- Unzählige Unternehmen standen plötzlich vor Liefer- gen bleibt § 130 Strafgesetzbuch so, wie er ist. schwierigkeiten und Engpässen. Dringend benötigte Tei- Vielen Dank. le kamen nicht in den Fabriken an. Viele Produkte waren im Supermarkt nicht mehr erhältlich. Baustellen standen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem still, weil Material nicht geliefert wurde. Pendler kamen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- nur unter widrigsten Umständen zur Arbeit. Viele Fami- geordneten der FDP und der LINKEN) lien standen deshalb vor unlösbaren Problemen. Die ge- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2851

Dr. Christian Jung (A) samte europäische Volkswirtschaft nahm Schaden – nach Ich akzeptiere es nicht, wenn es kein ausreichendes Not- (C) einem gerade erst veröffentlichten Gutachten in Höhe fallmanagement mit geeigneten Ausweichstrecken gibt. von mindestens 2 Milliarden Euro. Ich akzeptiere es nicht, wenn wir in Deutschland nicht auf Ernstfälle vorbereitet sind. Rastatt ist nur ein weiteres Symptom für die Proble- me und auch den Zerfall der deutschen Infrastruktur. Wir (Beifall bei der FDP) müssen daraus lernen und alles dafür tun, dass es keine Wiederholung gibt. Wir benötigen wieder das Vertrauen der Menschen und (Beifall bei der FDP) der europäischen Wirtschaft in den deutschen Schienen- verkehr. Deshalb haben wir Freie Demokraten diesen Antrag zur Aufarbeitung und umgehenden Entwicklung von Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Notfallplänen gestellt. Wir wollen genau wissen, wie es im August 2017 zur Tunnelhavarie bei Rastatt kommen (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Karl- konnte. Wir wollen genau wissen, was die Bundesre- Heinz Brunner [SPD] und der gierung und die Verantwortlichen der Deutschen Bahn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) taten, um den Unfall aufzuklären und die Folgen der Streckensperrung zu managen. Ich fnde es in diesem

Zusammenhang ungeheuerlich, dass weder der damalige Vizepräsidentin Petra Pau: Bundesverkehrsminister noch der Konzernvorstand der Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Deutschen Bahn sofort nach dem Vorfall die Unfallstelle Steffen Bilger. besuchten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP – Daniela Kluckert [FDP]: Unerhört!) Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Es kann doch nicht sein, dass die Verantwortlichen erst Steffen Bilger, nister für Verkehr und digitale Infrastruktur: sechs Wochen später – einige Tage nach der Bundestags- wahl – in Rastatt aufkreuzten. Ein Schelm, wer Böses Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dabei denkt. Keine Frage: Die Tunnelhavarie in Rastatt im August vergangenen Jahres hat für große Turbulenzen gesorgt. (Beifall bei der FDP) Die Folgen sind immer noch spürbar, insbesondere für Fest steht für uns: Wir brauchen ein neues Krisenma- die Bahnkunden, die Anwohner der Strecke, aber auch (B) nagement für die Deutsche Bahn und das gesamte deut- bei den verkehrlichen Abläufen. Eine politische Folge ist (D) sche Schienennetz. Vor einigen Tagen gab es wieder eine dann auch der Antrag der FDP-Fraktion, den wir heute Absenkung in Rastatt. Wäre die Bahn auf einen zweiten beraten. Ich werde versuchen, in meiner Rede Antworten und ähnlichen Unfall an der gleichen Stelle überhaupt zu geben auf die im Antrag gestellten Fragen, aber auch vorbereitet? Wir brauchen einen Plan für betriebsberei- auf die in der Rede des Kollegen Christian Jung – herz- te Ausweichstrecken für Güterzüge im gesamten Bun- lichen Glückwunsch zur ersten Rede – aufgeworfenen desgebiet und mehr Kooperation mit den europäischen Fragen. Ich werde auch etwas zu aus unserer Sicht mög- Nachbarländern. lichen Konsequenzen sagen.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Aber zunächst zu den Fakten. Am 12. August 2017 DIE GRÜNEN) kam es bei Tunnelbaumaßnahmen an der Rheintal- Und – ich selbst komme aus der Region Karlsruhe – bahn bei Rastatt-Niederbühl zur Absenkung der Stre- wir brauchen Gespräche mit der französischen und der ckengleise. Was war passiert? Im Tunnelrohbau hatten schweizerischen Regierung zum Thema Rheintalbahn. sich Tübbinge – das sind Fertigteile der Tunnelausklei- Wir brauchen ein besseres bundesweites Management dung – verschoben, sodass Wasser und Material in den von Ausweichstrecken mit dem Zugsicherungssystem Bereich des sogenannten Nachläufers der Tunnelbohr- ETCS und die Digitalisierung des Schienennetzes insge- maschine eindringen konnten. Der Eisenbahnbetrieb und samt. die Arbeit auf der Baustelle wurden eingestellt und die Rheintalbahn umgehend gesperrt. Immerhin kam durch (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Matthias diese schnell getroffene Entscheidung niemand auf der Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Baustelle zu Schaden, und für die Eisenbahn bestand zu Sehr geehrter Herr Bundesminister Scheuer – schade, keinem Zeitpunkt eine Betriebsgefahr. dass Sie der wichtigen Debatte heute fernbleiben –, ma- chen Sie die offene, lückenlose und transparente Aufar- Allerdings war die gravierende Konsequenz die Sper- beitung von Rastatt zur Chefsache. rung der stark befahrenen Rheintalstrecke – mit allen Auswirkungen. Aber auch anschließend wurde schnell (Beifall bei der FDP) gehandelt. Zur Sicherung wurde ein circa 150 Meter lan- Um in Ihren Worten zu bleiben, Herr Bundesminister: ger Abschnitt des Tunnels verfüllt, Ich akzeptiere es nicht, wenn es in diesem Falle keine (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Konsequenzen gibt. NEN]: Es wurde nicht aufgeklärt, warum das (Beifall bei der FDP) passiert ist!) 2852 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Parl. Staatssekretär Steffen Bilger (A) eine Betonplatte gebaut, und die Streckengleise wurden Es gilt also: Längerfristige Sperrungen können auch (C) wiederhergestellt. Dadurch kann die Strecke seit dem an neuralgischen Punkten im Netz nie ausgeschlossen 2. Oktober 2017 wieder befahren werden. werden. Aber eine Verdopplung der Infrastruktur für je- derzeitige Umleitungen ist unrealistisch. Daher müssen (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Prozesse verbessert werden, sowohl kurzfristig im NEN]: Es geht um die Aufklärung!) Störungsfall als auch langfristig proaktiv. Zudem ist es Der Tunnelbau wird seitdem im Schutz der Betonplatte geboten, ein hochprioritäres Netz zu defnieren. Ein sol- fortgesetzt. ches Netz weist dann sowohl die im Regelfall genutzten Strecken und Knotenpunkte als auch für jeden Strecken- Dennoch: Diese Sperrung der am stärksten befahrenen abschnitt die jeweiligen durchgängigen Umleitungsmög- Magistrale des internationalen Schienengüterverkehrs in lichkeiten aus. Europa traf den Eisenbahnsektor tief ins Mark. Insbe- sondere musste die Ursache der Havarie geklärt werden. Um Trassen als mögliche Umleitungsstrecken zu Dazu wurde zwischen der DB Netz AG als Projektträger ertüchtigen, ist zu erwägen, ob im Rahmen künftiger und den ausführenden Firmen ein Schlichtungsverfahren BVWP-Bewertungen ein zusätzliches Gewichtungskri- eingeleitet. Das Eisenbahn-Bundesamt als Aufsichtsbe- terium „Alternativstrecke im Störungsfall“ eingeführt hörde nimmt daran als Beobachter teil. Neue Erkennt- werden sollte. nisse erwarten wir im Mai und Juni dieses Jahres durch (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das Bohrprogramm im Havariebereich. Der Abschluss NEN]: Nach 2035!) des Schlichtungsverfahrens wird Ende 2018 zum techni- schen Teil und Anfang 2019 zum juristischen Teil erwar- Das hochprioritäre Netz sollte also derart gestaltet sein, tet. Schnellstmöglich, aber eben auch mit der notwen- dass sehr kurzfristig Umleitungen ohne Zugangsproble- digen Gründlichkeit soll somit die Ursachenforschung me möglich sind. Vor allem sollte das Netz so ausgerüstet abgeschlossen werden. Zwischen allen Beteiligten be- sein, dass es ohne Streckenkenntnis von allen Triebfahr- steht Einigkeit, dass erst nach Vorlage des technischen zeugführern sicher befahren werden kann. Das bedeutet Endberichts sinnvoll die Haftungsfragen erörtert werden primär eine eindeutige und vollständige Signalisierung können. So weit zum Geschehen im und um den Tunnel. ohne Speziallösungen. Wir setzen sehr auf European Train Control Systems, ETCS, und zwar in ganz Europa, Nun komme ich zu den Auswirkungen auf die Ei- nicht nur in den Grenzbereichen. senbahn. Es ist schon bemerkenswert, dass die Havarie ausgerechnet an der Stelle erfolgte, die den letzten Fla- (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schenhals im ansonsten redundanten Eisenbahnkorridor NEN]: Sie haben gar kein Konzept dafür! Sie im Oberrheintal darstellt. Ein grundsätzliches Problem wissen gar nicht, was das kostet!) (B) war zweifellos, dass sich insbesondere kleine Eisen- (D) Abschließend ist festzuhalten: Störungsfälle können bahnverkehrsunternehmen bis zur Havarie sehr auf die passieren. Deswegen müssen wir es gemeinsam schaffen, Verfügbarkeit der Linie im Oberrheintal verlassen haben. die negativen Auswirkungen möglichst gering zu halten. Klar ist: Es liegt in der unternehmerischen Verantwor- Die Tunnelhavarie von Rastatt ist Anlass, die gebotenen tung der Verkehrsunternehmen, zu entscheiden, wie viel Konsequenzen zu ziehen und auf allen Ebenen Lösungen Reservekapazitäten sie vorhalten wollen oder eventuell anzubieten. anderweitig kompensieren können. Im Bundesverkehrsministerium – das auch noch zu (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Konsequenzen, die wir gezogen haben – wurde in NEN]: Auf die Lösungen warten wir noch!) einem Gespräch am 10. Januar dieses Jahres unter Lei- Als Bundesregierung und als Bundesverkehrsministeri- tung des damaligen Staatssekretärs Michael Odenwald um werden wir das tun. gemeinsam mit der DB AG und den Verbänden der Bahn die Tunnelhavarie nachbearbeitet. Dabei haben sich Lö- Vielen Dank. sungsvorschläge ergeben, die teils von den Bahnen selbst (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- realisiert werden müssen, teils aber natürlich auch in die ordneten der SPD) Aktivitäten des Bundes, etwa beim Bundesverkehrswe- geplan, einzubeziehen sind. Vizepräsidentin Petra Pau: Verbesserung kann nur ein Bündel verschiedener Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Wiehle für lang-, mittel- und kurzfristiger Maßnahmen bringen. Aus die AfD-Fraktion. unserer Sicht muss zum Ersten die Kommunikation auf allen Ebenen und in allen Schnittstellen dringend verbes- (Beifall bei der AfD) sert werden. Es sollte ein übergreifendes Korridorma- nagement eingerichtet werden, um schnell und großräu- Wolfgang Wiehle (AfD): mig auf vergleichbare Ereignisse reagieren zu können. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Es sollte auch darüber nachgedacht werden, welchen Kollegen! Bei einem volkswirtschaftlichen Schaden von Verkehren eventuell Priorität bei einem Störungsfall rund 2 Milliarden Euro muss man von einer Katastro- eingeräumt werden kann. Beim Baustellenmanagement phe sprechen, die am 12. August des vergangenen Jahres sollte es möglich werden, Baumaßnahmen kurzfristig in Rastatt-Niederbühl geschehen ist. An diesem Tag gab qualifziert zu unterbrechen, sodass auch Umleiterver- während der Tunnelarbeiten unterhalb der Rheintalbahn kehre hier abgewickelt werden können. das Erdreich nach. Die Strecke war für 51 Tage komplett Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2853

Wolfgang Wiehle (A) blockiert; der Kollege Dr. Jung hat das schon erwähnt. sorgung, wie sie von der Europäischen Union betrieben (C) Die Auswirkungen auf Logistikunternehmen, deren Kun- wird, muss keineswegs eine Verbesserung der Verhältnis- den, die Bahn selbst und Abertausende Fahrgäste waren se bringen. gravierend. Außerdem sind einige Kunden wegen der (Beifall bei der AfD – Alexander Graf wochenlangen Behinderungen dauerhaft von der Schie- Lambsdorff [FDP]: Stimmt ja gar nicht! Sie ne auf andere Verkehrsträger abgewandert, hauptsächlich betreibt es gar nicht!) auf die Straße. Auch bei der Überführung der Bundesfernstraßen in die Ich danke den Kolleginnen und Kollegen von der geplante Infrastrukturgesellschaft ist große Vorsicht ge- FDP, dass sie mit diesem Antrag dafür sorgen, dass die- boten. ses Thema heute hier im Bundestag debattiert wird. Ihre Analyse und Ihre Forderungen greifen jedoch ein Stück (Michael Donth [CDU/CSU]: Nicht dass da zu kurz. Es ist ja richtig, dass wir beispielsweise mehr die Tunnels einbrechen!) Ausweichstrecken im Güterverkehr brauchen. Es ist ge- nauso richtig, dass Überholgleise, die in den vergange- Für Bauvorhaben im Schienennetz bedeutet diese Er- nen zwei oder drei Jahrzehnten abgebaut wurden, jetzt kenntnis: Bei der Planung muss die Sicherheit der Bau- bitter fehlen. Doch es fehlen offensichtlich auch Lok- ausführung im Vordergrund stehen. Die Havarie von führer, die Streckenkenntnisse haben, die über den tägli- Rastatt zeigt deutlich, wie teuer es werden kann, wenn chen Einsatzbedarf hinausgehen, und Fahrzeugbaureihen man auf wichtige Sicherungsmaßnahmen verzichtet. bedienen können, die sie nicht jeden Tag fahren. Wenn (Beifall bei der AfD) man hier Reserven haben will, die man im Falle großer Störungen einsetzen kann, darf man bei der Ausbildung Es müssen verstärkt allgemeine Notfallkonzepte entwi- nicht den Rotstift ansetzen. ckelt werden. Unfälle und Unglücke können schließlich an jedem Punkt des Schienennetzes passieren. (Beifall bei der AfD) Die Bahn muss ihre personellen Kapazitäten erwei- Das Kernproblem ist bei allen diesen drei Punkten tern. Umfassende Ausbildung hätte die Suche nach stre- eine kurzsichtige Betrachtung eines Bahnbetriebs, der cken- und fahrzeugkundigen Lokführern nach der Stre- auf Kante genäht ist. Hier kommt schnell der Verdacht ckensperrung erleichtert. auf, dass kurzfristige Optimierungen einer langfristigen Sichtweise vorgezogen wurden, die sich an einem nach- Nutzen wir also die schlimme Erfahrung der Katastro- haltigen und dauerhaft funktionsfähigen Bahnbetrieb phe von Rastatt ganz allgemein, um die richtigen Schlüs- orientieren muss. Mitverursacht wurde das durch eine se zu ziehen: Infrastruktur ist Daseinsvorsorge. In not- wendige Planungen, im wohlverstandenen langfristigen (B) Privatisierung ohne ausreichende Kontrolle. (D) Sinn, müssen wir investieren. Aber auch: Die Privatisie- (Beifall bei der AfD) rung darf nicht zum Selbstzweck werden. Davon sprechen Sie aber wohl nicht, weil das an Ihrem (Beifall bei der AfD) politischen Leitbild einen kräftigen Kratzer hinterlassen könnte. Die AfD-Fraktion sieht der Beratung im Ausschuss mit großem Interesse entgegen. Auch die Planung des Bauvorhabens selbst unterlag anscheinend einem ungesunden Sparzwang; denn sonst Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. wäre man nicht unnötige Risiken eingegangen. Deshalb (Beifall bei der AfD) frage ich mich: Warum wurde auf eine bauliche Siche- rung der oberirdischen Gleisanlagen verzichtet? Weshalb Vizepräsidentin Petra Pau: setzte man bei der Unterquerung der Rheintalbahn auf ein Vereisungsverfahren, das in einem Tunnelabschnitt Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Martin dieser Länge vorher noch nicht angewendet worden war? Burkert das Wort. Aus welchem Grund entschied man sich damit auch ge- (Beifall bei der SPD) gen die Bauweise, die der Ausschreibungstext noch vor- sah? Dort war noch davon die Rede, dass man die Unter- (SPD): querung der Bahnlinie von einem zweiten Schacht aus Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen startet. und Kollegen! Über die Tunnelhavarie in Rastatt haben (Martin Burkert [SPD]: Einmal ist immer das wir bereits am 4. September 2017 ausführlich diskutiert. erste Mal!) Ich will das betonen, damit nicht der Eindruck entsteht, dass wir nur darüber reden, weil die FDP das so wollte. Die Infrastruktur, meine sehr verehrten Damen und Herren, dient der Daseinsvorsorge. Übertriebenes Sparen Heute befassen wir uns alle noch einmal mit dem Ge- führt hier nicht zum Ziel, wie der Fall Rastatt zeigt. schehen in Rastatt. Wir haben schon von einigen Red- nern gehört, was vorgefallen ist. Vor acht Monaten ha- (Beifall bei der AfD – [CDU/ ben uns die Vorstände der DB Netz AG, Dr. Rompf und CSU]: Sie tun ja gerade so, als wäre das alles Dr. Schaffer, im Ausschuss erklärt, wie es am 12. August absichtlich passiert!) zu der Gleisabsenkung im Zuge der Tunnelarbeiten kam. Auch auf anderen Gebieten sollte uns das eine Warnung Damals hat die Besatzung der Tunnelvortriebsmaschi- sein. Die Privatisierung der kommunalen Wasserver- ne eine Veränderung der Tunnellage erkannt – was gut 2854 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Martin Burkert (A) ist – und umgehend den Fahrdienstleiter informiert. Die Vor fünf Tagen wurde uns ein Gutachten vorgelegt, (C) Strecke wurde sofort gesperrt. Das dauerte ganze drei das im Auftrag des Netzwerkes Europäischer Eisenbah- Minuten. nen erstellt wurde und in dem die volkswirtschaftlichen Schäden dieser Havarie untersucht wurden. Man spricht An der Strecke gab es eine viergliedrige Überwa- davon, dass Schäden mit einem Volumen von mindestens chung. Es gab innerhalb der Tunnelvortriebsmaschine, 2 Milliarden Euro für die europäische Volkswirtschaft aber auch oberirdisch ein sensorisches und auch ein entstanden seien. Zwei Drittel der Güterzüge sind in der tachymetrisches Messsystem. Außerdem gab es eine Tat ausgefallen, und ein Drittel wurde umgeleitet. Enor- Überwachung der Baustelle rund um die Uhr durch den me Gütermengen sind so – leider – von der Schiene auf technischen Berechtigten; ihn gab es durchaus. Eine erste die Straße abgewandert, zum Teil auch auf die Wasser- optische Veränderung an der Streckenanlage wurde am straßen. Insgesamt – das müssen wir feststellen – waren Tag der Havarie nach circa eineinhalb Stunden festge- von der vermutlich größten Streckensperrung im deut- stellt. schen Netz seit dem Zweiten Weltkrieg über 8 000 Gü- Es lässt sich also zusammenfassend sagen: Das Schie- terzüge betroffen. nenkonzept ging auf. Es bestand zu keinem Zeitpunkt – Ich sage in diesem Zusammenhang aber auch: Be- das hat der Herr Staatssekretär schon geschildert – Ge- sonders schlimm fnde ich es, dass jeden Tag, auch ohne fahr für Leib und Leben. Das ist die gute Nachricht. Ich Tunnelhavarie, zwischen 50 und 100 Güterzüge aus ver- will deshalb allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die schiedenen Gründen herumstehen. – Lieber Bahnvor- besonnen und schnell gehandelt haben, herzlichen Dank stand, auch da gilt es zu handeln. sagen dafür, dass nichts passiert ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf Für den Schienengüterverkehr standen dann nur drei von der FDP: Genau!) Umleitungsstrecken zur Verfügung. Eine ging über Ös- Ich bin der Ansicht, dass wir Unternehmen, die ihre terreich, eine andere über die Gäubahn – allerdings nur Transportgüter von der Straße auf die Schiene bringen, auf einem nicht elektrifzierten Abschnitt, auf dem nur nicht vollständig im Regen stehen lassen dürfen, wenn es Dieselverkehr möglich ist – und wieder eine andere über um die fnanziellen Risiken geht. In diesem Zusammen- eine grenznahe Strecke nach Frankreich, zusätzlich zum hang wird über einen Notfallfonds diskutiert. Ich halte Rail Freight Corridor 2, der komplett über Frankreich dies für einen nachdenkenswerten Vorschlag, über den geht. Man muss sagen: Grenzüberschreitende Ausweich- wir vielleicht auch im Ausschuss diskutieren können; strecken sind schön und gut, doch müssen auch ausrei- denn richtig ist: Nach Rastatt ist vor Rastatt. Deswegen chend Lokführer vorhanden sein. Und nicht nur das: Sie (B) dürfen wir nicht zur Tagesordnung übergehen. (D) müssen auch Sprach- und Streckenkenntnisse haben. Das war leider nicht immer der Fall. Wir werden die Digitalisierung der Schiene vorantrei- ben. Wir werden den Ausbau der europäischen Leit- und Es gab auch innerdeutsche Ausweichstrecken, die Sicherungstechnik – das Schlagwort lautet ETCS – vo- aber nicht von allen Kunden des Güterschienenverkehrs rantreiben. Den Bau elektronischer Stellwerke und die benutzt werden konnten. Der Grund: Als Ausweichstre- Umrüstung von Lokomotiven werden wir seitens des cken standen vor allem nicht elektrifzierte Trassen zur Bundes unterstützen. Um im Fall der Fälle Ausweichstre- Verfügung, auf denen Diesellokomotiven benötigt wer- cken nutzen zu können, ist die Elektrifzierung von be- den. Die Nutzung der Umleitungen lag Anfang Septem- sonderer Wichtigkeit. Das hat Rastatt ganz klar gezeigt. ber dementsprechend nur zwischen 20 und 60 Prozent. Ohne Elektrifzierung haben wir weniger Ausweichmög- Das eigentliche Problem war also weniger, kurzfristig lichkeiten. Deshalb wollen wir bis 2025 70 Prozent des Ausweichstrecken zur Verfügung zu stellen, sondern wie Schienennetzes in Deutschland elektrifzieren. Das ha- diese genutzt werden. ben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Zurückblickend zeigt sich: Die Deutsche Bahn war (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auf einen Super-GAU auf einer Hauptschlagader des eu- der CDU/CSU) ropäischen Güterverkehrs nicht ausreichend vorbereitet. (Zuruf von der FDP: Ja!) Herr Staatssekretär Bilger, ich sage: Das schaffen wir. Ich gehe davon aus, dass das Ministerium schon massiv An Herrn Pofalla gerichtet – er ist der verantwortliche daran arbeitet. Netzvorstand – kann ich nur sagen: Aus Schaden wird man klug. Das sollte er sich besonders zu Herzen neh- Es gibt noch einen zweiten Bereich, in dem Hand- men. lungsbedarf besteht: Die internationale Koordination und Abstimmung müssen unbedingt verbessert werden; da Die Wiederinbetriebnahme der Strecke war für den gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege Jung. Mein Dank gilt 7. Oktober vorgesehen. Es ist erfreulich, dass die Strecke deswegen ausdrücklich der Schweizer Verkehrsministe- fünf Tage früher in Betrieb genommen werden konnte. rin, Doris Leuthard, und der Schweizer Bahn, die viele Was bedeuten fünf Tage? Auf der Strecke im Korridor abgestellte Züge auf der Schweizer Seite zu managen zwischen Karlsruhe und Basel – das muss man wissen – hatten. Deshalb begrüßen wir den von der DB Netz AG fahren täglich rund 200 Güterzüge. Durch die frühere In- mit anderen europäischen Schienennetzbetreibern ausge- betriebnahme konnten also immerhin 1 000 Zugausfälle arbeiteten besseren Notfallplan. Ein Notfallhandbuch ist vermieden werden. in Arbeit; der Herr Staatssekretär hat darauf hingewiesen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2855

Martin Burkert (A) Man kann nur sagen: Hoffentlich ist nach Rastatt nicht Die Tatsache, dass dort überhaupt noch eine Baustelle (C) vor Rastatt. Vielleicht fnden wir, Herr Kollege Jung, im war, ist ein Vertragsbruch und ein Wortbruch der Bun- Ausschuss auch noch einen gemeinsamen Nenner. Ich deskanzlerin. will Ihnen sagen: Der Antrag ist so schlecht nicht. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Vielen Dank. Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Auch das darf das Parlament nicht einfach akzeptieren. Die Bundeskanzlerin hat bei diesem zentralen Projekt für Vizepräsidentin Petra Pau: den Schienenverkehr in Europa, das zur Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene vor allem im Alpenraum Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Sabine gebraucht wird, ihr Wort gebrochen und stattdessen Pres- Leidig das Wort. tigeprojekte wie die Neubaustrecke Ulm–Wendlingen (Beifall bei der LINKEN) und vor allen Dingen Stuttgart 21 gepusht. Auch dazu ein ernstes Wort. Sabine Leidig (DIE LINKE): Der Tunnel in Rastatt war ein vergleichsweise einfa- Guten Tag, Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und ches und überschaubares Tunnelbauprojekt. Kollegen! Liebe Gäste! Wer es ernst meint mit den Kli- (Zurufe von der CDU/CSU: Aha, interes- mazielen, der muss dafür sorgen, dass Gütertransporte sant! – Wie kommen Sie denn zu der Einschät- von der Straße auf die Schiene verlagert werden. zung?) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Dort ist aus unerfndlichen Gründen plötzlich die Tech- neten der SPD) nik, die man angewendet hat, geändert worden. Kein Wir von der Linken haben dazu wirklich viele konkrete Mensch weiß, wie es zu dieser Entscheidung gekommen Vorschläge auf den Tisch gelegt. Es ist höchste Eisen- ist. Tatsache ist, dass mit demselben Verfahren bereits bei bahn, dass auch der Verkehrsminister die Bahn mit voller vorhergehenden Tunnelprojekten vergleichbare Schwie- Kraft unterstützt und nicht immer wieder eine Leerstelle rigkeiten aufgetreten sind. hinterlässt. Hinzu kommt, dass eine Verwirrtaktik im Hinblick auf Im August 2017 bricht eine Tunnelbaustelle auf einer die Unglücksursachen verbreitet wurde. der meistbefahrenen Bahnstrecken Europas zusammen, (Florian Oßner [CDU/CSU]: Das ist ja un- (B) bei Rastatt, im auf ihre Ingenieure so stolzen Baden-Würt- glaublich! – Felix Schreiner [CDU/CSU]: Das (D) temberg – peinlich. Dann bricht das Chaos aus – wir ha- sind Verschwörungstheorien!) ben es schon gehört –: Der Zugverkehr wird wochenlang praktisch eingestellt, Ausweichrouten existieren kaum Erst hieß es, es sei eine innovative Neuerung, die dort oder sind gerade wegen Bauarbeiten gesperrt, Fahrgäste verwendet wurde, und deshalb sei man in diese Schwie- werden in Busse verfrachtet, und 8 200 Güterzüge blei- rigkeiten geraten. Dann wurde davon geredet, dass man ben stehen. Der damals Zuständige, Herr Pofalla, blieb überhaupt keine Schuld trage, weil es sich um eine ganz in dieser Zeit weitgehend unsichtbar. Die Beschäftigten bewährte Methode handele. Ich kann Ihnen sagen: Wenn haben wirklich schwer gelitten, weil vom Beschwerde- schon beim Rastatter Tunnelunglück eine solche Ver- management nur Serienbriefe verschickt wurden und die wirrtaktik, eine solche Intransparenz und ein solches Beschäftigten den Frust der betroffenen Fahrgäste aus- Komplettversagen zu beobachten sind, halten mussten. Ich fnde, das ist völlig inakzeptabel. (Zurufe von der CDU/CSU: Oha!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. was erwartet uns bei Stuttgart 21? Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) (Beifall bei der LINKEN – Michael Donth [CDU/CSU]: Jawohl! Na endlich! – Florian Ein gutes Krisenmanagement sieht anders aus. Die Bun- Oßner [CDU/CSU]: Das ist nicht zu fassen!) desregierung als Eigentümerin der Deutschen Bahn darf diese Angelegenheit nicht aussitzen. Dies ist nämlich ein ungleich größeres Projekt. Deshalb ist es gut, dass die FDP diese Sache mit ih- ( [CDU/CSU]: Frau Präsiden- rem Antrag wieder auf die Tagesordnung gesetzt hat. Wir tin, achten Sie bitte auf die Redezeit!) stimmen ihren Forderungen nach Aufklärung und Trans- Es ist aus meiner Sicht kein Zufall, dass das zentrale parenz völlig zu. Selbstverständlich setzen auch wir uns Gutachten – – dafür ein, dass das Bahnnetz zügig ausgebaut und mo- dernisiert wird, damit es wieder Ausweichstrecken gibt. (Zurufe von der CDU/CSU: Was für ein Ar- gument! – S 21 ist ein toller Bahnhof!) Aber der Unfall wirft natürlich noch ein weiteres Licht auf ein jahreslanges Versagen der Bundesregierung. Die – Sie können jetzt herumschreien, aber Sie können mir Rheintalstrecke hätte nämlich schon längst fertig sein auch zuhören und vielleicht etwas lernen. müssen. (Beifall bei der LINKEN – Michael Donth (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: So ist es!) [CDU/CSU]: Nein, bei Ihnen nicht!) 2856 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Sabine Leidig (A) Das zentrale Gutachten im Zusammenhang mit den Risi- kehrsfunk heißt es: Eine Umleitungsempfehlung können (C) ken der Tunnelbauwerke in Stuttgart wird wie ein Staats- wir leider nicht aussprechen. Autofahrer sollten besser geheimnis gehütet. zu Hause bleiben, damit wenigstens ein Teil der mög- lichen Umleitungsstrecken für einige Lkws frei bleibt. (Michael Donth [CDU/CSU]: Jetzt fehlt bloß Die Sperrung der Autobahn wird 51 Tage dauern. – Sie noch die Vermögensabgabe! – Felix Schreiner meinen, das ist nicht vorstellbar? Ja, für die Straße bzw. [CDU/CSU]: „Hartz IV muss weg!“ müssten die Autobahn ist das nicht vorstellbar, aber bei der Schie- Sie auch noch erwähnen!) ne – wir haben es nach dem Baustellenunfall von Rastatt Wir haben mehrfach versucht, dieses Gutachten öffent- gesehen – ist genau das Geschilderte passiert. Eine der lich zu machen. Sie verweigern es. Der Minister droht wichtigsten Strecken für den Personen- und für den eu- mit einer Klage gegen die Bahn. Das ist wirklich inak- ropäischen Güterverkehr musste gesperrt werden. Um- zeptabel. leitungsstrecken waren entweder deswegen nicht verfüg- bar, weil sie ebenfalls wegen Bauarbeiten gesperrt waren (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Ja, wirklich!) oder weil sie eingleisig oder nicht elektrifziert waren Sie verhöhnen damit die Öffentlichkeit. Ich fnde, Stutt- und damit nicht ausreichend leistungsfähig waren. gart 21 muss endlich ein Umstiegsprojekt werden. Um wenigstens Teile des Schienengüterverkehrs fah- (Beifall bei der LINKEN – Michael Donth ren zu lassen, wurden einzelne Personenzüge gestrichen. [CDU/CSU]: Jawohl! – Daniela Ludwig Güterzüge vom Norden her stauten sich weit zurück. Was [CDU/CSU]: Wie gut, dass wir das Thema auf Lkws verladen werden konnte, wurde auf der Straße heute auf der Tagesordnung haben! Ihre Rede- abgewickelt. zeit ist jetzt aber mal vorbei!) (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Hätte Rot- Die Linke fordert darüber hinaus, dass die Unterneh- Grün nicht so einen Rieseninvestitionsstau men entschädigt werden. hinterlassen, hätten wir die Probleme jetzt nicht! Schlecht wirtschaften und sich jetzt be- schweren!) Vizepräsidentin Petra Pau: Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit? Der Schaden wird auf über 2 Milliarden Euro geschätzt. Teile des Schienengüterverkehrs wurden langfristig auf Sabine Leidig (DIE LINKE): die Straße verlagert. Wir haben einen maximalen Ver- trauensverlust in die Verlässlichkeit der Schiene zu be- Ich komme zum Schluss. – Hunderte Millionen Euro klagen. Das alles hat Gründe. werden für Elektroautos zur Verfügung gestellt. Dann (B) müssen auch Hunderte Millionen Euro für die Unterstüt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) zung der Güterzugunternehmen in der Kasse sein. sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) (Florian Oßner [CDU/CSU]: Richtig! – Seit 1992 wurde das Straßennetz in Deutschland um Michael Donth [CDU/CSU]: Machen wir 40 Prozent ausgebaut. Im gleichen Zeitraum wurde das doch! – Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Die Schienennetz um 20 Prozent geschrumpft. Wenn man Redezeit ist zu Ende!) in den Bundesverkehrswegeplan schaut, dann stellt man fest: Die Straßenbauorgie in Deutschland geht weiter. Es müssen auch endlich faire Wettbewerbsbedingungen hergestellt werden. Es darf nicht immer zugunsten der (Felix Schreiner [CDU/CSU]: Das ist doch Lkws entschieden werden. einfach falsch! – Florian Oßner [CDU/CSU]: 42 Prozent für die Bahn stellt man fest! – (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Frau Präsi- Michael Donth [CDU/CSU]: 42 Prozent des dentin!) Geldes für die Schiene! – Daniela Ludwig Wir brauchen die Verkehrswende für den Klimaschutz [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch! Wer hat und für mehr Lebensqualität. denn nicht investiert? Sie!) (Beifall bei der LINKEN) Eineinhalb Jahre nach Verabschiedung des Bundesver- kehrswegeplans werden überall in Deutschland munter neue Straßen geplant. Von den 46 Schienenprojekten im Vizepräsidentin Petra Pau: Potenziellen Bedarf des Bundesverkehrswegeplanes sind Die Ankündigung des Redeendes ersetzt dieses bis heute, nach eineinhalb Jahren, gerade einmal fünf nicht. – Das Wort hat der Kollege Matthias Gastel für die Schienenprojekte abschließend bewertet worden. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – DIE GRÜNEN]: Skandal!) Felix Schreiner [CDU/CSU]: Schauen wir mal, ob er auch etwas zu S 21 sagt!) Baden-Württemberg ist ein gutes Beispiel für die To- talverweigerung der Bundesregierung in Sachen Ausbau Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Schienenwege. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Liebe Kollegen! Stellen Sie sich einmal vor, ganz unvor- Michael Donth [CDU/CSU]: Wo ist denn das bereitet muss eine Autobahn gesperrt werden. Im Ver- Unglück passiert? – Daniela Ludwig [CDU/ Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2857

Matthias Gastel (A) CSU]: Das ist Realitätsverweigerung, die Sie gerade ausgeführt, und ich habe es für Sie gerne wieder- (C) hier betreiben!) holt. Von der Gäubahn abgesehen sind alle vom Land Ba- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den-Württemberg beim Bund angemeldeten Schie- sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE] – nenprojekte abgelehnt worden. Kein einziges weiteres Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Projekt ist in den Vordringlichen Bedarf aufgenommen GRÜNEN]: Erst mal zuhören!) worden. Selbst solche Ausbauprojekte, die für Umleitun- gen bei Sperrung der Rheintalbahn nützlich wären und Die Große Koalition geht nicht an die Strukturen ran, angemeldet wurden, wurden abgelehnt. und genau das ist das Problem. Das Motto der Großen Koalition lautet: Weiter so, mehr von allem! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE (Michael Donth [CDU/CSU]: Mehr Schie- GRÜNEN]: Hört! Hört! – Daniela Ludwig nenwege!) [CDU/CSU]: Wenn man nicht investiert, braucht man sich nicht zu beschweren!) Mehr Straßen, mehr Schienenwege und vor allem mehr Flugverkehr! So, meine Damen und Herren, kann die Wenn in Deutschland in Sachen Ausbau der Schie- Verkehrswende nicht funktionieren. nenwege etwas vorangehen soll, dann geht es nur dann, wenn die Länder eigenes Geld in die Hand nehmen, um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundesschienenwege auszubauen und zu ertüchtigen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das nenne ich einen wirklichen Skandal. So wird der Anteil des Schienengüterverkehrs in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland auch weiter bei unter 20 Prozent vor sich sowie bei Abgeordneten der LINKEN – hindümpeln. Österreich, die Schweiz und viele andere Michael Donth [CDU/CSU]: Das bekommen Länder zeigen, dass das auch deutlich anders erfolgreich Sie ja auch durch den Bund für den Nahver- funktionieren kann. kehr!) Mit dieser Politik werden die Autobahnen immer vol- Meine Damen und Herren, der Koalitionsvertrag ent- ler mit immer mehr Lkws, die für Staus sorgen. Das ge- hält die eine oder andere positive Passage zum Thema scheiterte Modell der Vergangenheit kann keine Lösung Bahn. für die Zukunft bringen.

Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) Kollege Gastel, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- Nötig sind die Stärkung der Schiene, die Engpassbesei- kung aus der AfD-Fraktion? tigung, der Bau von 740-Meter-Netzen für längere und wirtschaftliche Güterzüge, der Deutschland-Takt für den Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Güter- und für den Personenverkehr und natürlich auch Bitte schön. die Digitalisierung. (Felix Schreiner [CDU/CSU]: Wenn es hilft!) (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Lesen Sie den – Schauen wir mal. Koalitionsvertrag! Erzählen Sie mal was Neu- es! – Kirsten Lühmann [SPD]: Steht alles im Koalitionsvertrag!) Dr. Dirk Spaniel (AfD): Sie haben ja nun über Baden-Württemberg geredet. Das ETCS, das europäische Zugbeeinfussungssys- Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass in Baden-Württemberg tem, kommt in Deutschland nicht voran. Es gibt bei der momentan eine grüne Landesregierung die Geschäfte Bundesregierung und bei der Deutschen Bahn noch nicht führt? mal ein entsprechendes Konzept. (Michael Donth [CDU/CSU]: Aha! – (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE SES 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN]: Mal zuhören! – Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:

Zuhören! – Dr. Kirsten Kappert-Gonther Vizepräsidentin Petra Pau: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zuhören!) Herr Kollege Gastel, diese Vorschläge müssen Sie jetzt bitte in die Ausschussberatungen verlagern. Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Abgeordneter der AfD, wir reden hier über Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bundesschienenwege. Das Land Baden-Württemberg Stellen Sie das Signal für die Bahn endlich auf Vor- hat beim Bund jede Menge Schienenwege zum Ausbau fahrt für die Schiene! Das ist dringend notwendig. angemeldet, und der Bund hat diesen Ausbau abgelehnt. Baden-Württemberg gehört aber zu den Ländern, die ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genes Geld in die Hand nehmen, um Bundesschienenwe- und bei der LINKEN – Felix Schreiner [CDU/ ge zu ertüchtigen und auszubauen. Genau das habe ich CSU]: Thema verfehlt!) 2858 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: oberfächlich, was Sie hier machen! Völlig (C) Das Wort hat der Kollege Florian Oßner für die CDU/ oberfächlich!) CSU-Fraktion. Liebe Liberale, ich kenne zwar nicht Ihre Defnition (Beifall bei der CDU/CSU) des Wortes „zeitnah“, aber nach meinem Verständnis möchte ich behaupten, dass dieser kurze Zeitraum von Florian Oßner (CDU/CSU): knapp drei Wochen eindeutig hierunter fällt. Die Verant- wortlichen haben eigentlich ein großes Dankeschön für Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und die schnelle Reaktion verdient. Kollegen! Herr Gastel, Ihre Ausführungen verwundern mich schon ein Stück weit: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ordneten der SPD) NEN]: Ehrlich?) Der schriftliche Bericht zur Tunnelhavarie von Raststatt Sie selbst waren bei der Ausarbeitung des Bundesver- wurde uns seitens der Bundesregierung gestern vorge- kehrswegeplans dabei, den wir verabschiedet haben. legt, sodass es auch hierfür keiner weiteren Aufforderung der Bundesregierung seitens des Parlaments mehr bedarf (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Genau! Sie haben alle unsere Anträge (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Nach abgelehnt! Alle haben Sie abgelehnt!) dem Antrag der FDP!) 42 Prozent von 72 Milliarden Euro bis 2030 gehen an die und Ihre Wünsche diesbezüglich – ich weiß gar nicht, Bahn und in unsere Schienenstrecken. Das ist eine klare warum Sie so unzufrieden sind – bereits erfüllt sind. Botschaft für die Schienenwege in unserem Land. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Ja, genau!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Weiter fordern Sie in Ihrem Antrag, dass „zum bes- ordneten der SPD – Felix Schreiner [CDU/ seren Management von Ausweichstrecken das Zugsiche- CSU]: Das ist die Wahrheit! – Matthias Gastel rungssystem ... und die Digitalisierung des Schienennet- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bis dahin ha- zes“ vorangetrieben werden sollten. ben Sie die Straßen ausgebaut und das Geld ausgegeben! Wo sind denn die Schienenwege? (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die haben Sie noch nicht mal bewertet!) NEN]: Es geht nichts voran! Absolut nichts!) Nun zum Antrag der FDP. Er scheint mir doch ein Das ist absolut richtig. Auch hier kann ich als Bericht- Stück weit mit sehr heißer Nadel gestrickt worden zu erstatter für das Baustellenmanagement nur auf die ein- (B) sein. Man könnte frei nach sagen: Lie- gangs erwähnte heiße Nadel verweisen. (D) ber schnell einen Antrag schreiben, als einen guten An- (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- trag schreiben. NEN]: Schauen Sie einmal in die Antwort der (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage! Beifall bei Abgeordneten der SPD – Alexander Kein Konzept! Sie weiß nicht einmal, was das Graf Lambsdorff [FDP]: So witzig war das kostet!) jetzt auch nicht!) Ich bin mir sicher, liebe Kollegen von der FDP, Sie So steht in dem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen haben unseren Koalitionsvertrag aufmerksam studiert. von der FDP, dass der Deutsche Bundestag die Bundesre- So fnden Sie auf Seite 78 folgende Passagen: gierung und die Deutsche Bahn dazu auffordern soll, das Parlament „zeitnah mündlich und schriftlich“ zu infor- Wir wollen die Digitalisierung der Schiene, auch mieren, wie es „am 12. August 2017 zu der Tunnelhava- auf hochbelasteten S-Bahnstrecken, vorantreiben rie bei Raststatt-Niederbühl kommen konnte“. und den Ausbau der europäischen Leit- und Siche- rungstechnik ETCS, Bereits am 5. September 2017 – das war allerdings noch vor dem Einzug der FDP in den Bundestag und ist – also das Zugbeeinfussungssystem, das heute schon deswegen vielleicht Ihrer Aufmerksamkeit entgangen – mehrfach angesprochen worden ist – hatten wir hierzu eine Sitzung. Der vormalige Vorsitzen- elektronischer Stellwerke und Umrüstung der Loko- de des Verkehrsausschusses, aber auch unser Staatssekre- motiven durch den Bund unterstützen. tär Steffen Bilger sind darauf bereits eingegangen. (Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]: Und Trieb- (Zurufe von der AfD) fahrzeuge!) In dieser Sitzung haben die DB Netz AG und der Staats- Die Automatisierung des Güterverkehrs und das sekretär Michael Odenwald vom Bundesverkehrsminis- autonome Fahren auf der Schiene wollen wir durch terium dem Ausschuss über die ersten Erkenntnisse und Forschung und Förderung unterstützen. Ursachen des Unfalls berichtet. Diese ersten Erkenntnis- se können Sie in dem Protokoll der 117. Sitzung nach- ( [FDP]: Ein bisschen spät!) lesen. Das ist doch, so fnde ich, eine klare Aussage. Alle im (Dr. Christian Jung [FDP]: Aber das reicht Deutschen Bundestag vertretenen Parteien sollten diese doch nicht, Herr Kollege! Das ist doch alles technologischen Verbesserungen in die Eisenbahntech- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2859

Florian Oßner (A) nik für mehr Sicherheit und Mobilität unserer Bürger Statt aber nur über vergossene Milch zu weinen, (C) unterstützen. möchte ich den Blick darauf richten, welche positiven Effekte der Unfall bei all dem Schaden gebracht hat. Die (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Christian enormen wirtschaftlichen Einbußen, die die sechswöchi- Jung [FDP]: Wir werden alles sezieren, bis ge Streckensperrung verursacht hat, haben nämlich der klar ist, ob Sie Konsequenzen gezogen ha- Öffentlichkeit deutlich gemacht, was für eine große Be- ben! – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE deutung der Schienengüterverkehr für ganz Europa hat GRÜNEN]: Wenn das doch auch die Bundes- regierung täte!) (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber leider nicht der Bundesregierung! Sie haben auch die Kategorie „Potenzieller Bedarf“ Das ist das Problem!) angesprochen. Auch in meiner Heimatregion gibt es ein wichtiges Projekt zwischen Landshut und Plattling. Da und wie wichtig es ist, dass wir Geld in die Hand neh- bin ich ganz bei Ihnen: Auch da werden wir mit großen men, um das Netz zügig auszubauen, Schritten vorangehen, um die entsprechenden Projekte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – zu einer Entscheidung zu führen. Zuruf der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir um Ausweichstrecken durchgängig zu elektrifzieren und uns bereits in vielen Forderungen einig sind, diese über- den Schienengüterverkehr so zu modernisieren, dass er nommen haben und Ihr Antrag überhaupt nicht notwen- effzienter wird. dig gewesen wäre. (Dr. Christian Jung [FDP]: Sehr gut! Das ist (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau! – wirklich gut! Im Gegensatz zu Herrn Oßner!) Dr. Christian Jung [FDP]: Das sieht die deut- sche Wirtschaft anders! Die Chemieindustrie Genau das haben wir uns im Koalitionsvertrag vorge- wie BASF in Rheinland-Pfalz! Also erzählen nommen. Der Kollege Oßner hat es gerade wörtlich zi- Sie keinen Unsinn!) tiert. Positiv möchte ich zum Schluss noch das besonne- (Dr. Christian Jung [FDP]: Nein! Das war ne Krisenmanagement der Deutschen Bahn sowie des Unsinn teilweise! – Matthias Gastel [BÜND- Bundesministers für Verkehr und digitale Infrastruktur NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Dinge haben Sie unter der damaligen Leitung von , schon das letzte Mal nicht umgesetzt!) aber auch die heute sehr transparente Behandlung dieser Angelegenheit durch den neuen Bundesminister Andreas Der Unfall hat auch gezeigt, dass mehr Europa auf der (B) Scheuer ansprechen. Schiene dringend geboten ist. (D) Ein herzliches Vergelt’s Gott fürs Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]) Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Donth, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- Vizepräsidentin Petra Pau: kung der Kollegin Leidig? Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Donth für die CDU/CSU-Fraktion. Michael Donth (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ja, bitte. der SPD) Sabine Leidig (DIE LINKE): Michael Donth (CDU/CSU): Vielen Dank, Kollege Donth, dass Sie mir die Frage Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und erlauben. – Sie haben gerade noch einmal deutlich ge- Kollegen! Der Unfall bei den Tunnelbauarbeiten an der macht, wie wichtig die Unterstützung des Schienengü- Rheintalbahn und seine Folgen waren zweifelsohne ein terverkehrs ist. Eines der großen Versprechen kurz vor großes Unglück von dramatischem Ausmaß, auch wenn der Bundestagswahl, auch von Ihrer Partei, war, dass es zum Glück – das möchte ich ausdrücklich anführen – die Schienenmaut, also die Trassengebühren insbeson- keine Personenschäden gab oder es gar Menschenleben dere für die Güterzüge, halbiert werden soll. Wir haben gekostet hat. Aber der Schaden für die Wirtschaft ist im- demnächst Haushaltsverhandlungen. So wie ich den Ver- mens. Ein diese Woche vorgelegtes Gutachten spricht kehrsminister am Mittwoch in der Verkehrsausschusssit- von 2 Milliarden Euro. Immens waren aber auch die Be- zung verstanden habe, wollte er von diesem Versprechen einträchtigungen im Personenverkehr, der über Ersatz- nichts mehr wissen. busse abgewickelt werden musste, was die Fahrgäste – Ich frage Sie jetzt, ob das ein Versprechen ist, auf das viele von ihnen Pendler aus dem Raum Rastatt – eine sich auch die Unternehmen verlassen können, und ob ent- ganze Stunde mehr Reisezeit gekostet hat. Auch hier ist sprechende Vorkehrungen im Haushalt getroffen werden. volkswirtschaftlicher Schaden entstanden. Die heikelste Diskussion für die Bahn und alle Beteiligten wird sich ( [SPD]: Ja, da waren wir aus der Frage ergeben, wer am Ende für die dann bezif- auch überrascht vom Herrn Minister! – Kirsten ferten Schäden aufkommen muss. Lühmann [SPD]: Das Parlament entscheidet!) 2860 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

(A) Michael Donth (CDU/CSU): Michael Donth (CDU/CSU): (C) Zum Haushalt sage ich gleich noch etwas. – Vielen Nein. Ich glaube, das haben wir schon zuvor bilateral Dank für die Frage, Frau Leidig. Sie haben völlig recht: geklärt. Es ist ein wichtiges Anliegen nicht nur des Verkehrsmi- Bei diesem Unglück ist auch deutlich geworden, dass nisters, sondern auch unserer Fraktionen – ich nehme die einige Dinge sehr gut funktioniert haben. Die Baustellen- SPD mit dazu –, dass wir den Schienenverkehr stärken. überwachung in Form der vier eingesetzten Messsysteme Deshalb steht das auch in unserem Koalitionsvertrag. Es hat sofort reagiert, als die Gleisabsenkung kam, sodass wurde schon gesagt: 42 Prozent der Mittel im Bundesver- keine Gefahr für Leib und Leben bestand. Das hat übri- kehrswegeplan sind für die Schienenstrecken vorgese- gens auch die Staatsanwaltschaft erst dieser Tage bestätigt. hen, obwohl sie kilometermäßig weit hinter den Straßen zurückliegen. Und wir haben zusammen mit der Indus- Die Deutsche Bahn und die Bundesregierung haben – trie den Aktionsplan zum Schienengüterverkehr verein- das wurde schon gesagt – den Verkehrsausschuss am bart, der viele Elemente enthält, die wir alle angehen 5. September ausführlich und transparent informiert und wollen, weil sie nämlich dazu beitragen, den Schienen- standen auch in dieser Woche noch einmal zur Beantwor- güterverkehr nach vorne zu bringen. Dazu gehört auch tung von Fragen zur Verfügung. Daher, liebe Kollegen die Halbierung der Schienenmaut für den Güterverkehr. der FDP: Was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist völlig un- nötig; es ist aber auch nicht falsch. – Es ist deshalb un- Wir haben den Entwurf des Haushaltsplans noch nicht nötig, weil die Berichte schon gegeben wurden, weil die auf dem Tisch. Wir beklagen alle, dass er dieses Jahr erst Untersuchungen bereits laufen und weil die Pläne für die so spät kommt. Wir werden dafür kämpfen, diese Zusage Verhinderung einer solchen Störung in Zukunft bereits einzuhalten. erarbeitet wurden. (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Ja, genau!) (Dr. Christian Jung [FDP]: Die Menschen und die Wirtschaft sehen das im Moment komplett Wir gehen dafür auch auf unseren Bundesfnanzminister anders!) zu, der dabei ja ein gewichtiges Wort mitzureden hat. Wenn aber der Antrag dazu geeignet war, Ihnen, Herr (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Ja, genau!) Dr. Jung, Ihre erste Rede hier im Haus zu ermöglichen, Ich sehe das Nicken in der SPD-Fraktion. Sie wird uns dann soll es recht sein. dabei unterstützen. Wir halten also an diesem Plan fest Vielen Dank. und wollen das auch durchsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) neten der SPD – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Vizepräsidentin Petra Pau: Gut!) Ich schließe die Aussprache. Der Unfall hat gezeigt, dass wir mehr Europa auf der Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Schiene dringend brauchen. Allein diese streckenmäßig Drucksache 19/1839 an die in der Tagesordnung aufge- relativ kurze Unterbrechung des Rhein-Alpen-Korridors führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- hat den gesamten Güterverkehr in Europa herausgefor- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung dert. Es gab Ausweichstrecken. Aber diese konnten nicht so beschlossen. voll ausgelastet werden – der Kollege Burkert ist darauf eingegangen –, nicht nur wegen technischer Probleme, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: sondern auch wegen sprachlicher Barrieren; denn wäh- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim rend es im Luftverkehr normal und Standard ist, auf Dağdelen, Heike Hänsel, Michel Brandt, weite- Englisch zu kommunizieren, muss man als Lokführer die rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE jeweilige Landessprache beherrschen, in diesem Fall auf der linksrheinischen Strecke Französisch. Für die Lok- Export von Rüstungsgütern verbieten führer ist es also nichts mit „Thank you for travelling Drucksache 19/1339 with Deutsche Bahn“. Überweisungsvorschlag: Es gibt aber auch eine positive Entwicklung. Seit Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Auswärtiger Ausschuss (f) diesem Unfall hat sich nämlich im europäischen Ver- Verteidigungsausschuss kehrsnetz, bei den europäischen Bahnen und im Schie- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- nengüterverkehr viel bewegt. Die Kollegen von der lung Deutschen Bahn sind im Austausch mit den Kollegen aus Federführung strittig der Schweiz und Frankreich, um in Zukunft solche Groß- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja schadenslagen gemeinsam besser zu managen. Keul, Agnieszka Brugger, Katharina Dröge, (Beifall bei der CDU/CSU) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN

Vizepräsidentin Petra Pau: Ein Rüstungsexportkontrollgesetz endlich vorlegen Kollege Donth, gestatten Sie eine weitere Frage oder Bemerkung des Kollegen Kühn? Drucksache 19/1849 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2861

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Überweisungsvorschlag: Waffenlieferungen an die Türkei wie am Fließband ge- (C) Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) nehmigt worden. Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss (Florian Post [SPD]: Das ist eine Lüge! Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung Stimmt nicht!) Federführung strittig Zwischen dem 20. Januar, als die Offensive gegen Af- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für rin begann, und dem 27. März dieses Jahres wurde laut die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Aussagen der Bundesregierung die Ausfuhr von Rüs- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. tungsgütern im Wert von knapp 4,4 Millionen Euro ge- nehmigt, und das, während Bundeskanzlerin Merkel hier Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin im Bundestag erklärt hatte: Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. Bei allen berechtigten Sicherheitsinteressen der (Beifall bei der LINKEN) Türkei ist es inakzeptabel, was in Afrin passiert ... (Beifall bei der LINKEN) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Dasselbe miese Spiel mit Saudi-Arabien: Da verspre- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! chen und vereinbaren Union und SPD ganz groß – Zi- Alle 14 Minuten stirbt ein Mensch auf dieser Welt durch tat –: eine deutsche Waffe. Wir werden ab sofort keine Ausfuhren an Länder (Dr. [CDU/CSU]: So ein genehmigen, solange diese unmittelbar am Je- Quatsch!) men-Krieg beteiligt sind. Die Bundesregierung sorgt durch ihre Rüstungsexport- (Florian Post [SPD]: Weiterlesen! Nächster politik dafür, dass Deutschland einer der größten Waffe- Satz!) nexporteure der Welt ist. Der Koalitionsvertrag gibt der Bundesregierung auf, sich weltweit für Menschenrechte Und jetzt kommt raus, dass die Bundesregierung die einzusetzen und Fluchtursachen zu bekämpfen. Aber die- Fürsten der Finsternis in Riad weiter mit Kriegsgerät ver- se Erklärungen sind doch das Papier nicht wert, auf dem sorgt. sie stehen, wenn weltweit mit deutschen Waffen Men- (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ogotto- schenrechte verletzt werden und immer neue Fluchtursa- gott! Schön wär’s!) (B) chen geschaffen werden. (D) In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben Sie (Beifall bei der LINKEN – Dr. Joachim Rüstungsexporte an Saudi-Arabien im Umfang von Pfeiffer [CDU/CSU]: Frieden schaffen mit 161,8 Millionen Euro genehmigt, dreimal so viel wie im deutschen Waffen!) Vorjahreszeitraum. Also, statt keine Rüstungsexporte, Die Wahrheit ist daher: Ihre Rüstungsexportpolitik ist wie Sie versprochen haben, gibt es noch mehr Rüstungs- mörderisch, und deshalb brauchen wir dringend einen exporte. Was, wenn nicht Heuchelei und Betrug an der sofortigen Stopp aller Rüstungsexporte. Öffentlichkeit, ist das, bitte schön, was Sie hier veran- stalten? (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Sicher ist auch eins: In jedem Koalitionsvertrag er- Die Wahrheit ist eben: Sie liefern auf Teufel komm klären Union, SPD und FDP – früher auch die Grünen – raus auch in Spannungs- und Kriegsgebiete. Das hat zwei stets neu, die Rüstungsexporte reduzieren zu wollen – so Gründe: auch dieses Mal. Zum einen fühlen Sie sich eben nicht der Bevöl- (Florian Post [SPD]: Haben wir doch ge- kerung verpfichtet, die in ihrer übergroßen Mehrheit macht! Halbiert in der letzten Wahlperiode!) Rüstungsexporte ablehnt, sondern offensichtlich dem Sie sagen, Sie wollten keine Rüstungsexporte in Kriegs- militärisch-industriellen Komplex in Deutschland, wo gebiete und Krisenregionen und überhaupt eine restrikti- Milliardengewinne durch die Rüstungskonzerne erwirt- ve Rüstungsexportpolitik. Aber Bundeskanzlerin Merkel schaftet werden. Ehemalige Minister wie Franz Josef und Außenminister Maas müssten wissen, dass dies ein- Jung von der Union oder von der FDP lassen fach eine dreiste Lüge gegenüber der Öffentlichkeit ist. sich ihre frühere Politik jetzt bei Rüstungsschmieden wie Rheinmetall vergolden. Ich will Ihnen hier nur zwei von zahlreichen Beispie- Zum anderen wollen Sie durch Ihre Rüstungsexport- len mitgeben: politik geopolitisch Einfuss nehmen. Erstens. Während die Türkei gemeinsam mit islamisti- (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wenn es schen Terrorbanden der Freien Syrischen Armee im Nor- doch bloß so wäre!) den Syriens einmarschiert ist und mit Leopard-2-Panzern aus deutscher Produktion die Kurden in Afrin zusam- Länder wie die Türkei sollen in der NATO gehalten wer- mengeschossen hat, sind von der Bundesregierung neue den, auch wenn dabei die Kurden mit deutschen Waffen 2862 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Sevim Dağdelen (A) zugrunde gehen. Ich fnde, das ist moralisch verkommen Wir haben einen Bericht durch den Wirtschaftsminis- (C) und auch politisch eine Irrfahrt ohnegleichen. ter, sobald der BSR getagt hat. Wir haben den Halbjah- resbericht. Wir haben den Jahresbericht. Wir haben die (Beifall bei der LINKEN) Ex-post-Betrachtung. In diesem Haus wird doch inzwi- Die Grünen haben jetzt Vorschläge eingebracht, das schen jede einzelne Patrone und jeder gepanzerte Uni- bisher nicht funktionierende Kontrollsystem in Gesetzes- mog fünfmal debattiert. Es ist lächerlich, wie das hier form zu gießen. Ich fnde, man muss da wirklich kein gemacht wird. Prophet sein, um zu prophezeien, dass damit nicht eine (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Joachim einzige Waffe weniger geliefert wird. Ich fnde, diese Pfeiffer [CDU/CSU]: Lächerlich, ja! – Stefan Dinge helfen nicht. Deshalb sagen wir: Wir brauchen Liebich [DIE LINKE]: Das wollen Sie nicht, jetzt sofort ein generelles Rüstungsexportverbot, um die- das ist klar!) ser mörderischen Politik der Bundesregierung endlich ein Ende zu setzen. Wir haben überhaupt keine Probleme mit Debatten über dieses Thema, weil wir zu unserer Bundeswehr ste- (Beifall bei der LINKEN) hen, und wir stehen auch zu unserer wehrtechnischen In- dustrie. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Willsch für die LINKEN: Ah, jetzt!) CDU/CSU-Fraktion. Wir halten es nämlich für unverantwortlich – da schaue (Beifall bei der CDU/CSU) ich mehr die Grünen an als die Linken; die Linken haben sich ja von dieser Debatte abgemeldet; Sie wollen kei- Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): ne Armee mehr in Deutschland –, wenn wir als Spitzen- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen! technologieland nicht selbst an der Forschung in diesem Meine Damen und Herren! Liebes Publikum! Frau Bereich beteiligt sind, nicht selbst vorne dabei sind. Sie Dağdelen, Sie sollten bei Ihrer Wortwahl ein bisschen alle wissen, dass das bisschen Abnahme, was wir durch sorgfältiger sein. Wir alle wissen, dass Sie keine Bun- die Bundeswehr garantieren können, nicht hinreicht, um deswehr wollen; Sie wollen sie abschaffen. Das ist auch überhaupt noch ernstzunehmender Partner für andere zu Ihr gutes Recht. Suchen Sie Mehrheiten dafür! Aber die sein. Wir müssen natürlich auch Exportmärkte bedienen. Bemerkung mit der mörderischen Politik der Bundesre- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gierung, die Sie hier eben gemacht haben, weise ich auf (B) das Strikteste zurück. Es ist eine Frechheit, sich hier so (D) einzulassen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Willsch, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kung – Jetzt wollen wir uns vor allen Dingen mit Blick auf die, die uns zuschauen und sich vielleicht Sorgen um das Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Thema machen, ein wenig grundsätzlich damit befassen. Von wem denn? (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Dass Sie Sau- di-Arabien unterstützen, ist kriminell!) Vizepräsidentin Petra Pau: Sie stellen das hier immer so dar, – der Kollegin Vogler? (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ich stelle gar Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): nichts dar! Das sind alles Antworten der Bun- desregierung!) Ja. – Wer ist denn das? – als ob das alles im Geheimen und im Vertraulichen ge- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und schähe. Auch die Grünen, die an dem, was heute immer der FDP) noch Grundlage für unsere Rüstungsexportpolitik ist, Ah ja. selbst mitgewirkt haben, tun immer so, als ob hier alles heimlich und im stillen Kämmerlein geschähe. Kathrin Vogler (DIE LINKE): (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Am Parlament Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Willsch, vorbei! – Weitere Zurufe von der LINKEN) fnden Sie nicht auch, dass es ein gewisser Widerspruch Genau das Gegenteil ist der Fall. Zählen Sie doch mal ist, wenn Sie im Koalitionsvertrag mit der SPD vereinbart zusammen, wie oft wir in diesem Jahr schon wieder über haben, keine Rüstungsgüter mehr an Länder zu liefern, Rüstungsexporte diskutiert haben! die unmittelbar am Krieg im Jemen beteiligt sind, und ich mir hier vom Außenminister in der Fragestunde anhören (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Ja, wegen uns! muss, dass Sie bisher noch keine Liste fnalisiert haben, Sie würden es doch nie machen! – Weiterer und weiterhin Exporte nach Saudi-Arabien gehen – auch Zuruf von der LINKEN: Weil es notwendig Patrouillenboote für Saudi-Arabien werden genehmigt –, ist!) während im Jemen die Menschen wirklich vor Hunger Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2863

Kathrin Vogler (A) verrecken, in Elend umkommen, weil Saudi-Arabien die politischen Ausnahmefällen. Auch das haben wir hier (C) Blockade weiter aufrechterhält? bereits diskutiert. Sie haben gerade vorgetragen, welche wunderbaren Es ist natürlich wohlfeil, sich – wie gestern gesche- Berichtsmodalitäten die Bundesregierung in Bezug auf hen – hierhinzustellen, 70 Jahre Israel zu feiern und dann die Rüstungsexporte hat. Das ist alles schön und gut, in einem Antrag zu kritisieren, dass Israel von uns mit aber – wie man bei uns sagt – vom Wiegen wird die Sau Waffen unterstützt wird. Natürlich ist das ein spannungs- nicht fett. Sie müssen doch irgendwann einmal anfangen, reiches Gebiet, aber wollen Sie den Israelis verweigern, Rüstungsexporte in Kriegsgebiete tatsächlich zu begren- dass sie mit ihrer eigenen Marine ihr Land schützen? zen, wenn Sie zu einem humanitären Fortschritt kommen (Beifall bei der CDU/CSU) wollen. Ich erinnere an den Fall des Kampfes gegen die bar- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- barischen Steinzeit-Taliban des IS. Wir haben die kurdi- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schen Peschmerga ausgerüstet und ausgebildet. (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Und die haben Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): die Waffen weiterverkauft!) Wie Sie richtig feststellen, ist im Koalitionsvertrag ge- regelt, dass wir im Bereich des Exports von Rüstungsgü- Dadurch ist den denen eine wirksame Truppe auf dem tern oder strategischen Gütern noch restriktiver werden Boden entgegengetreten. Natürlich ist viel aus der Luft wollen; ich fasse es jetzt mal mit meinen Worten zusam- gemacht worden, aber ohne Boots on the Ground hätten men. Das war nicht meine Forderung; das müssten auch wir es dort nicht geschafft, und die Jesiden wären abge- Sie erkannt haben. metzelt worden. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – unsere Forderung! Wir wollen das nicht!) Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch völliger Blödsinn!) In der Koalition muss man sich eben auf irgendwas eini- gen. Wir sind schon gespannt auf die Vorschläge der SPD Ich unterstreiche noch einmal: Unsere Welt ist so, wie dazu, wie das nachher umgesetzt wird. Wir sind natürlich sie ist. vertragstreu, aber für mich hätte es diese Regelung nicht (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Noch gebraucht; da haben Sie recht. mehr Waffen! – Helin [DIE (Beifall des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/ LINKE]: Das ist doch kein Fatalismus!) (B) CSU]) Die Waffe tötet nicht. Wenn es ums Töten geht, braucht (D) Ich will Ihnen dazu noch ein bisschen Aufklärung ge- die Waffe einen Bediener. Der Bediener tötet und nicht ben. Unsere Güter sind weltweit gefragt, weil wir gute die Waffe. Güter produzieren. Dass wir in diesem Bereich zurück- (Zuruf von der LINKEN: Das klingt wie bei haltend sind, sehen Sie daran, dass wir Außenhandels- der NRA!) weltmeister sind, bei der Rüstung aber immer nur ein magerer Platz vier oder fünf in der Welt herauskommt. Wenn wir uns anschauen, wie die Welt heute ist, dann müssen wir leider feststellen, dass wir nicht in einem Pa- (Zurufe von der LINKEN: Och! – Katja Keul radies leben, in dem alle um uns herum gut sind, sondern [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mir kommen dass der alte Grundsatz, dass man sich auf den Krieg vor- die Tränen!) bereiten muss, wenn man den Frieden will, in dieser Welt Das zeigt, wie zurückhaltend wir in dieser Frage sind. nach wie vor gilt. Schauen Sie sich mal an, was wir in der Welt gegen- (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Noch mehr wärtig so alles erleben. Lieferung von Waffen und Rüs- Waffen!) tungsgeräten in Spannungs- oder Kriegsgebiete machen Nehmen Sie als Beispiel die Peschmerga, die ich eben wir grundsätzlich nicht, also im Prinzip nicht, aber wir genannt habe. Selbst Cem Özdemir hat gesagt, dass man machen politisch begründete Ausnahmen. Wenn wir die dem IS nicht mit der Yogamatte unterm Arm entgegen- Welt betrachten, stellen wir nämlich fest, dass es häufg treten könne. Bemerkenswerter Fortschritt in der Er- so ist: Wenn ein Staat seine Grenzen nicht schützen kann, kenntnis. weil er nicht entsprechend vorbereitet ist, dann kriegen wir Schwierigkeiten. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Da sind die Jesiden auch ausgeliefert an die Dschiha- (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Aha!) disten!) Schauen Sie sich Konfikte in Afrika an! Dort entsteht Schauen Sie sich Taiwan an, an die wir nicht liefern. vieles durch mangelnde Wehrhaftigkeit eines Landes, Wenn Taiwan nicht von Amerikanern gestützt würde, weil dann marodierende Banden über ungesicherte Gren- hätte Taiwan das gleiche traurige Schicksal wie Tibet er- zen ziehen. fahren; das ist doch völlig sicher. Wenn wir den Grundsatz, keine Rüstungsexporte an Sie können noch ein Stück weiter in der Geschichte Nicht-EU- und Nicht-NATO-Staaten zu liefern, gele- zurückgehen. Im Zusammenhang mit dem Zweiten Welt- gentlich durchbrechen, tun wir das in wohlbegründeten krieg sagt Ihnen vielleicht Lend-Lease Act etwas. Auf 2864 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Klaus-Peter Willsch (A) dieser Grundlage hat der amerikanische Präsident schon Vizepräsidentin Petra Pau: (C) vor Kriegseintritt die Sowjetunion mit Material beliefert Das Wort hat der Abgeordnete Steffen Kotré für die und dadurch überhaupt erst möglich gemacht, dass der AfD-Fraktion. Aggressionskrieg, den Adolf Hitler angeführt hat, ge- stoppt werden konnte; denn ansonsten wäre die Sowjet- (Beifall bei der AfD) union damals militärisch und ökonomisch kollabiert. Steffen Kotré (AfD): Diese wenigen Beispiele reichen, meine ich, um aufzu- zeigen, dass es keiner weiteren Formalismen bedarf, son- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und dern einer klug abgewogenen Regierungsentscheidung, Herren! Liebe Landsleute! wie wir im jeweiligen Fall vorgehen. Die Entscheidung (Florian Post [SPD]: Ganz pathetisch!) ist regelgebunden. Sie fndet nicht im luftleeren Raum statt, sondern wir haben dafür ein klares Regelwerk. Es Waffenexporte sind an Menschenrechte gebunden. Es ist wichtig für uns, dass wir unsere wehrtechnische In- gibt viele Bestimmungen, die dem Rechnung tragen, dustrie weiterhin stützen, doch werden sie oft umgangen. Rüstungsexporte sind nicht immer transparent, und auch das Parlament als (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Das ist Ihre Kontrollorgan wird nicht immer eingebunden. Hier for- Aufgabe! Das haben wir verstanden!) dern wir vollständige Transparenz und die Einbindung des Parlamentes, dies natürlich auch vor dem Hinter- damit wir auch mit Blick auf das, was wir uns europapo- grund der Waffenexporte in Krisen- und Kriegsgebiete. litisch alle wünschen, überhaupt bündnisfähig und ko- operationsfähig bleiben. Aber Rüstung hat noch eine andere Komponente: die Wehrsouveränität, die Souveränität, sich selbst verteidi- Zurzeit läuft die Internationale Luft- und Raumfahrt­ gen zu können. Ja, Deutschland muss seine Wehrsouve- ausstellung in Berlin. Das ist eine beeindruckende Heer- ränität behalten. schau unserer Fähigkeiten in ziviler Luftfahrt, in mili- tärischer Luftfahrt und in der Raumfahrt. Eines der am (Beifall bei der AfD) häufgsten angesprochenen Themen bei den Rundgängen Das heißt, Deutschland muss seinen Technologievor- auf der Messe war: Helft uns, überhaupt noch fähig zu sprung behalten und ausbauen. Gerade im Rüstungssek- sein, mit unseren Partnern zu handeln. – Ich warne Neu- tor ist dieser Vorsprung eine Säule der Verteidigungsfä- gierige davor, sich jetzt in das Thema „europäische Zu- higkeit, auch für unsere Bündnispartner. Ein Land der sammenarbeit“ zu füchten und sich davon die Lösung Hochtechnologie, wie es Deutschland ist, muss die eige- aller Probleme und die Linderung des Schmerzes zu er- (B) ne Stärke behalten und ausbauen, auch im Rüstungssek- (D) hoffen. tor. Damit unterstützen wir auch friedliche Länder, die Heute wird danach geschaut: Ist in den Produkten sich bestmöglich verteidigen wollen, zum Beispiel gegen noch etwas aus Deutschland? Wenn etwas aus Deutsch- den IS und andere Terrororganisationen. land darin enthalten ist, dann ist es in der Welt schlecht Auszuschließen ist allerdings der Technologieexport verkehrsfähig. „German free“ ist das Label, das gesucht ins Ausland. Deutsche Unternehmen gründen im Aus- wird. Wenn wir die Möglichkeit der Kooperation nach- land Zusammenschlüsse, um Exportverbote zu umgehen. haltig beeinträchtigen, schießen wir das, was wir an guter Rheinmetall möchte zum Beispiel in der Türkei – das Technologie haben, ab. kann man lesen – eine Panzerfabrik bauen und betreiben. Das ist ein weiterer Ausverkauf deutscher Technologie. Was ich zur Gemeinsamkeit in Europa gesagt habe, Das ist ein Verrat an den Interessen Deutschlands. Hier gilt auch für Fragen des Einsatzes. Man wird sich nicht fordern wir die Bundesregierung auf, dies nicht zuzulas- unbedingt darauf einlassen, zu sagen: Die Deutschen sen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um das stellen – zum Beispiel – die Artilleriemunition für mehre- zu verhindern. re westeuropäische Staaten her, aber im Zweifelsfall dür- fen wir sie nicht einsetzen, weil in Deutschland noch eine (Beifall bei der AfD) Debatte über die Frage läuft, ob das ein Einsatz deutscher Streitkräfte ist oder nicht. Zum anderen würden wir in diesem Fall in einen die Menschenrechte verletzenden Staat liefern. Wer meint, Also, Strich drunter: Sie können es so oft diskutieren, die Türkei sei ein verlässlicher NATO-Partner, der irrt. wie Sie wollen. Das können wir Ihnen nicht abspenstig Formal mag es vielleicht noch so sein, aber inhaltlich machen. Manchmal ist es ein bisschen ermüdend, aber hat sie sich schon verabschiedet. Die Türkei ist völker- ich diskutiere immer wieder gerne mit Ihnen darüber. rechtswidrig in Syrien einmarschiert. Sie wird von ei- Wir als Union stehen ganz fest an der Seite unserer Spit- nem autokratischen Präsidenten regiert. Die Situation zentechnologieunternehmen in dem Bereich und machen der Menschenrechte, der Presse- und Meinungsfreiheit eine verantwortungsvolle, aber auch erfolgsorientierte verschlechtert sich. Darüber hinaus strebt das Land eine Politik, die wir für richtig halten. Wir laden den Koaliti- Islamisierung an, auch bei uns. Deswegen fordern wir ein onspartner herzlich ein, uns dabei allzeit zu folgen. Waffenembargo gegen die Türkei. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der AfD – Kai Gehring [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch total (Beifall bei der CDU/CSU) wirr!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2865

Steffen Kotré (A) Die ist die richtige Antwort. Keine Waffenlieferungen Vizepräsidentin Petra Pau: (C) und erst recht kein Aufbau einer dauerhaften Möglich- Kollege Post, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- keit zur Waffenproduktion. Dazu sagen wir Nein. Keine kung des Kollegen Liebich? einzige Patrone in die Türkei.

Vielen Dank. Florian Post (SPD): Ja, natürlich. (Beifall bei der AfD)

Stefan Liebich (DIE LINKE):

Vizepräsidentin Petra Pau: Vielen Dank, Herr Kollege Post, dass Sie die Zwi- Das Wort hat der Kollege Florian Post für die schenfrage zulassen. Sie wollen mehr Differenzierung. SPD-Fraktion. Dann will ich Ihnen Gelegenheit dazu geben.

(Beifall bei der SPD) Ihr früherer Parteivorsitzender und ehemaliger Wirt- schaftsminister, der ja zuständig für die Genehmigungen von Rüstungsexporten war, hat am Anfang der letzten Florian Post (SPD): Wahlperiode gesagt, er wünsche sich eine restriktivere Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle- Rüstungsexportpolitik. Am Ende der Wahlperiode muss- ginnen und Kollegen! Dass es sich um ein hochsensibles ten wir feststellen, dass es die Wahlperiode war, in der Thema handelt, ist klar. Deswegen debattieren wir hier die meisten Waffenexporte seit dem Ende des Zweiten sehr leidenschaftlich. Das ist in Ordnung. Nicht in Ord- Weltkriegs genehmigt wurden. nung ist allerdings, wenn man wenig differenziert. Ich (Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]: Ich kann es verstehe es, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Lin- nicht mehr hören! Das ist einfach falsch!) ken: Differenzierung eignet sich ja auch nicht für Ihre Propagandazwecke. Deswegen sehe ich Ihnen das nach. Wie bringen Sie das zusammen? Aber Fakt ist, dass Rüstungsexporten generell Einzelfall- prüfungen zugrunde liegen. Jeder USB-Stick, auf dem (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sich Geschäftsunterlagen, Baupläne oder Sonstiges be- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) fndet, und jede Patrone – Kollege Willsch hat es schon gesagt – muss genehmigt werden. Florian Post (SPD): (B) (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Wenn Ganz einfach: Dabei helfen Ihnen die Grundrechen- (D) Sie in alle Länder Waffen liefern, ist das für arten. Wenn für das Jahr 2015 die Summe von 7,86 Mil- Sie Differenzierung!) liarden Euro im Rüstungsexportbericht steht und für das Jahr 2017 die Summe von 6,24 Milliarden Euro im Rüs- Beide Anträge befassen sich damit, Rüstungsexporte tungsexportbericht angegeben wird, dann kapiert eigent- zu beschränken. Allerdings haben die Anträge eine un- lich jeder, der die Grundrechenarten beherrscht – für mich terschiedliche Qualität; das möchte ich den Kolleginnen hat dafür der Besuch einer bayerischen Volksschulklasse und Kollegen von den Grünen zugestehen. Aber in der ausgereicht, manch andere brauchen dazu den Deutschen Zielsetzung lehnen wir natürlich beide Anträge ab. Bundestag –, dass die Zahl kleiner geworden ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Die Wahlperi- Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ode begann 2013!) Warum?) Im Übrigen: Wenn es heißt, dass die Kleinwaffenexporte um 50 Prozent reduziert worden sind, dann weiß jeder, Die Linken wollen Rüstungsexporte komplett verbie- dass 50 Prozent die Hälfte vom Ganzen sind – also we- ten. Das ist wenig nachvollziehbar. Es aber ist ihr gu- niger. tes Recht, diese Meinung so zu vertreten. Ich teile diese Meinung nicht. Sie müssen sich jedoch über die Konse- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Re- quenzen im Klaren sein und hier über die Fragen disku- chentricks!) tieren: Was passiert mit bestimmten Schlüsselindustrien in unserem Land? Wie gehen wir mit der dann eintreten- Die Genehmigungszahlen sagen für sich genommen den kompletten Abhängigkeit von NATO-Partnern, zum sehr wenig aus. Wenn man sich die Summe von 7,86 Mil- Beispiel den USA, um? Wie gewährleisten wir dann die liarden Euro aus dem Jahr 2015 anschaut, stellt man fest, Unterstützung von Ländern im Kampf gegen den inter- dass damals die Kosten von vier Tankfugzeugen für nationalen Terrorismus? Da hilft eben kein Stuhlkreis; Großbritannien, also unkompliziertes Rüstungsgut für manchmal muss man auch zu anderen Mitteln greifen. einen NATO-Partner, und außerdem Panzer im Wert von 1,6 Milliarden Euro für Katar enthalten sind. Der Export (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Überall der Panzer ist von der Vorgängerregierung, an der die Kriege führen! Das sieht man in Afghanistan SPD nicht beteiligt war, genehmigt worden. Wir hätten seit 17 Jahren! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: das nie genehmigt. Auch die Kosten eines U-Boots für „Stuhlkreis“! Auf welchem Niveau reden wir Israel – der Kollege Willsch hat es bereits gesagt – sind denn?) in dieser Summe enthalten, dessen Export wir heute ge- 2866 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Florian Post (A) nauso wieder genehmigen und das wir wieder ausliefern den einzelnen Rüstungsgütern? Rüstungsgüter sind auch (C) würden. Das ist Tatsache. Splitterschutzwesten oder gepanzerte Autos für das Kin- derhilfswerk; auch das zählt zu den Rüstungsexporten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Deshalb bitte ich auch hier um mehr Differenzierung in CDU/CSU) der Debatte. Ich sage es noch einmal: In der letzten Wahlperiode sind die Kleinwaffenexporte um 50 Prozent reduziert Vizepräsidentin Petra Pau: worden. Im Koalitionsvertrag haben wir jetzt vereinbart, dass wir an Drittländer überhaupt keine Kleinwaffenex- Kollege Post, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- porte mehr genehmigen werden. Das nenne ich Reduzie- kung des Kollegen Lechte aus der FDP-Fraktion? rung. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Grund- Florian Post (SPD): schule in Bayern reicht nicht für Friedenspo- Natürlich. litik!) Sie sehen das scheinbar anders. Das ist Ihr gutes Recht. Ulrich Lechte (FDP): Ich kann das aber nicht nachvollziehen. Herr Kollege Post, Sie haben uns gerade eben zur (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Kenntnis gegeben, dass die böse Bundesregierung vor CDU/CSU) der letzten Großen Koalition, nämlich die schwarz-gel- be Bundesregierung, die Zahl der Rüstungsgüterexporte Ich will auch gerne auf die Türkei eingehen. Die Tür- sehr nach oben getrieben habe. Ist Ihnen bekannt, dass kei ist und bleibt ein NATO-Partner, auch wenn wir be- die letzte Bundesregierung weitaus mehr exportiert hat, stimmte innenpolitische Vorgänge in der Türkei selbst- als das die schwarz-gelbe getan hat, verständlich mit Sorge betrachten. Allerdings haben wir ein Interesse daran, dass die Türkei NATO-Partner bleibt. (Tobias Pfüger [DIE LINKE]: Das sind die Zahlen, ja!) (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Die Türkei hat einen völkerrechtswidrigen Krieg und dass die Zahlen zu Zeiten von Schwarz-Rot gestie- geführt!) gen sind? Es kann nicht in unserem Interesse liegen, dass die Tür- kei künftig von Russland beliefert wird. Was würde denn Florian Post (SPD): das in der Konsequenz für die NATO bedeuten? – Ja, ich Ich erteile auch Ihnen gerne die diesbezügliche Nach- (B) (D) weiß, Sie wollen die NATO abschaffen. Das hat hier je- hilfe: Es geht nicht um den Zeitpunkt dieser Exporte, der verstanden. sondern es geht um den Zeitpunkt der Genehmigung die- (Zurufe von der LINKEN) ser Exporte. Uns sind aber NATO-Gemeinschaftsprojekte auch künf- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrich tig wichtig. Wir müssen die Frage beantworten, was Lechte [FDP]: Ah! Sehr beeindruckend! – das für die deutsche Rüstungskooperationsfähigkeit be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- deuten würde. Natürlich geht es uns auch darum, dass NEN]: Nein! Es geht nicht darum!) Deutschland in diesem Bündnis künftig als verlässlicher In diesem Fall fällt der Genehmigungszeitpunkt in die Partner wahrgenommen wird. Periode, in der Sie, also Schwarz-Gelb, regiert haben und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nicht die SPD. CDU/CSU) Deutschland hat eines der restriktivsten Rüstungskon- Der Antrag der Grünen ist etwas differenzierter; das trollregime der Welt. Wir sorgen dafür, dass das auch so möchte ich zugestehen. Die Zwischenfrage hat meine bleibt. Bemerkung vorweggenommen, aber ich wiederhole die- se gerne zur Klarheit noch einmal. Sie suggerieren, dass (Zurufe von der LINKEN: Ah! – Sevim unsere Rüstungsexportkontrolle nicht effektiv wäre Dağdelen [DIE LINKE]: Ein Mythos! Eine Legende ist das!) (Andreas Wagner [DIE LINKE]: Ist sie auch nicht! – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Wir werden – ich wiederhole mich zum zweiten oder Ist sie auch nicht! Das haben Sie doch selber dritten Male – keine Kleinwaffen mehr in Drittstaaten gesagt! Sie wollen sie novellieren!) exportieren. Wir haben Post-Shipment-Kontrollen bei Kleinwaffen eingeführt, und wir werden mehr Mittel für und dass die Bemühungen um die Rüstungsexportredu- den weiteren Aufbau des Personalbestandes beim zustän- zierung nicht erfolgreich wären. Hierzu möchte ich noch digen Bundesamt BAFA zur Verfügung stellen, um auch einmal auf die Zahlen verweisen: In der Summe von hier eine effektive Rüstungsexportkontrolle zu gewähr- 7,68 Milliarden Euro aus dem Jahr 2015 sind die Kos- leisten. ten von vier Tankfugzeugen enthalten. Zum Vergleich: Die Summe von 6,24 Milliarden Euro im Jahr 2017 be- Natürlich müssen wir auch die europäische Kompo- deutet eine deutliche Reduzierung. Man muss dabei vor nente berücksichtigen. Uns ist nicht geholfen, wenn wir allen Dingen auch sehen: Was verbirgt sich denn hinter nichts mehr exportieren, aber andere europäische Länder Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2867

Florian Post (A) das gleiche Rüstungsgut sehr wohl. Hier müssen europä- Wir teilen die Kritik an einzelnen Genehmigungen (C) ische Regelungen gefunden werden. der Bundesregierung, die in beiden Anträgen geäußert wurde. Viel zu lange wurde zum Beispiel der Export von (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Was ist Rüstungsgütern in die Türkei genehmigt, obwohl die tür- das für eine Logik! Das macht es doch nicht kische Militäroffensive in Afrin eindeutig völkerrechts- besser!) widrig ist. Das ist in unserem Interesse. Ich möchte noch einmal (Beifall des Abg. [FDP] – betonen, dass wir selbstverständlich zu unserer Bündnis- Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die FDP muss verpfichtung stehen, dass wir ein verantwortungsvoller jetzt klatschen! – Marianne Schieder [SPD]: und zuverlässiger Partner sein wollen, Für den Beifall ist die FDP zuständig! – (Andreas Wagner [DIE LINKE]: Das glaubt Florian Post [SPD]: Hört! Hört!) Ihnen ja niemand!) Auch wir wollen mehr Transparenz. Die bisher prak- dass wir Rüstungsexporte so restriktiv handhaben wie tizierte Geheimhaltung von Begründungen für Rüstungs- kein anderes Land dieser Welt exportentscheidungen ist nicht mehr haltbar. (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Stimmt!) (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Fällt Ihnen weiter nichts ein?) und dass gleiche Standards für alle in Europa gelten müs- Das Argument, sicherheitspolitische Überlegungen sen. Darauf wird die SPD ihre Bemühungen richten. könnten nicht öffentlich debattiert werden, führt letztlich (Andreas Wagner [DIE LINKE]: Menschen- zu einer permanenten Delegitimierung der deutschen rechte! Das wäre ein Standard!) Rüstungsexportpolitik. Auch die Unternehmen haben ein Anrecht darauf, dass Rüstungsexportentscheidungen ver- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. lässlich und planbar nach öffentlich diskutierten Kriteri- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten en erfolgen und nicht nach politischer Stimmungslage. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Aber die wichtigste Frage, was die zukünftige Gestal- Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Sandra Weeser tung unserer Rüstungsexportkontrolle angeht, wird leider das Wort. von beiden Anträgen äußerst stiefmütterlich behandelt, (B) (Beifall bei der FDP) nämlich die Frage: Wie halten wir es mit der Europäi- (D) sierung? Eines ist klar: Eine deutsche Verteidigungsin- dustrie wird es in Zukunft entweder im Rahmen einer Sandra Weeser (FDP): europäischen Verteidigungsindustrie geben, oder es wird Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen sie gar nicht geben. und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Linksfraktion, es wäre schön, in einer Welt zu leben, in Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]) der wir durch einen Stopp von Rüstungsexporten die Ge- samtlage allgemein verbessern könnten. Europäische Nationen werden sich zum Beispiel das Nebeneinander von drei verschiedenen Kampffugzeu- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Da gen schlichtweg nicht mehr leisten können. Damit wer- können Sie doch was tun!) den europäische Regeln für Rüstungsexporte an Bedeu- Die Welt wird aber nicht sozialer, sicherer und gerech- tung gewinnen. Hier können wir nicht einfach sagen: ter, indem wir deutsche Rüstungsexporte nach Dänemark Unsere Standards gelten, und alle anderen müssen sich oder nach Belgien verbieten, so wie Sie das in Ihrem An- uns anpassen. – So funktioniert europäische Zusammen- trag fordern. arbeit nämlich nicht. Wir werden viel aktiver für unsere restriktiven Linien werben und auch entsprechend han- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten deln müssen. der CDU/CSU – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das wäre doch mal ein Schritt!) (Beifall bei der FDP) Die Grünen wissen das etwas besser. Sie haben in Re- Dafür benötigen wir die erwähnte Transparenz. Nur wenn gierungsverantwortung die Erfahrung gemacht, dass die unsere europäischen Partner verstehen, warum und wie Abwägung oft schwierig ist, und sie haben ja auch bei wir zu unseren Entscheidungen bei Rüstungsexporten vielen Rüstungsexportentscheidungen zugestimmt. kommen, können wir diese Debatte auch offensiv füh- ren. Durch Wegducken werden wir in dieser Diskussion Für die FDP-Bundestagsfraktion gelten zwei Grund- sicher nicht gewinnen. Beide Anträge sagen zu diesem sätze: Zum einen wollen wir keine Rüstungsexporte in entscheidenden Thema leider nichts. Krisengebiete, zum anderen gilt bei der Beurteilung von Einzelanträgen zu Rüstungsexporten der klare Vorrang Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, das der außen- und sicherheitspolitischen Interessen. ist die Ebene, auf der die Probleme angegangen werden müssen. Sie können das weder rein national noch rein (Beifall bei der FDP) juristisch regeln. 2868 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Sandra Weeser (A) Sie wollen Rüstungsunternehmen die Produktion im man aber weiß, wie die Verfahren laufen, dann weiß man, (C) Ausland verbieten, auch innerhalb der EU, innerhalb des dass das nicht ganz fair ist. Binnenmarktes. Das kann doch nicht ernsthaft Ihr Lö- sungsvorschlag sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Was hat Schwarz-Gelb gemacht? Schwarz-Gelb hat Dann wollen Sie ein Verbandsklagerecht für Nichtregie- die größten, heikelsten und sensibelsten Kriegswaffe- rungsorganisationen gegen erteilte Genehmigungen ein- nexporte, die wir erlebt haben, kurz vor der Bundestags- führen. Ich denke, wir sollten extrem zurückhaltend sein, wahl 2013 nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz geneh- die Kontrolle von Rüstungsexporten an nicht demokra- migt. Diese Genehmigungen werden uns Parlamentariern tisch legitimierte Verbände auszulagern. Diese Entschei- nicht mitgeteilt; sie stehen nicht im Rüstungsexport- dungen sind politisch und müssen auch politisch bleiben. bericht. Sie tauchen netterweise erst zwei Jahre später auf, nämlich dann, wenn die Genehmigungen nach dem (Zuruf des Abg. Tobias Pfüger [DIE Außenwirtschaftsgesetz erteilt werden. Im Mai 2013 hat LINKE]) Schwarz-Gelb die Lieferung von 62 funkelnagelneuen Die Öffentlichkeit hat das Recht auf hinreichende In- Leopard-Kampfpanzern an Katar genehmigt; das waren formationen, um diese Politik bewerten und notfalls auch 1,8 Milliarden Euro. Im August 2013, unmittelbar vor der abwählen zu können. So funktioniert demokratische Bundestagswahl, wurden dann noch einmal 33 Patrouil- Kontrolle. Deshalb können wir beiden Anträgen leider lenboote für Saudi-Arabien genehmigt. Wenn man allein nicht zustimmen. diese beiden Deals zusammenzählt, dann ist das fast der Jahreswert dessen, was vorher exportiert worden ist. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sowie bei Abgeordneten der SPD) der CDU/CSU) Insofern muss man schon sagen, dass die Verfahren als Vizepräsidentin Petra Pau: solche ein Problem sind. Deswegen ist eine unserer For- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol- derungen, dass zukünftig nicht nur die Ausfuhrgenehmi- legin Katja Keul das Wort. gungen, sondern auch die Herstellungsgenehmigungen, also die Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkon- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) trollgesetz, in den Berichten stehen, damit Transparenz entsteht. (B) Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sowie bei Abgeordneten der SPD) Kollegen! Um die Irrungen und Wirrungen des Kollegen Willsch zu widerlegen, fehlt mir leider die Redezeit. Im Moment haben wir die kuriose Situation, dass wir nach den Sitzungen des Bundessicherheitsrates Auskünf- (Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Es gibt ja te über die Kriegswaffenkontrollgenehmigungen bekom- auch nichts zu korrigieren!) men. Im Jahresbericht aber sind sie nicht enthalten. Das Aber ich empfehle einmal, sich mit den jesidischen muss sich doch aufösen lassen, sodass wir in Zukunft Verbänden darüber zu unterhalten, wie sie das mit den alles erfahren. Peschmerga sehen. Sie haben durchaus eine andere Sicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) darauf, wer sie gerettet hat. Wir Grüne haben mehrfach unsere Eckpunkte für ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rüstungsexportkontrollgesetz vorgelegt. Es enttäuscht und bei der LINKEN – Klaus-Peter Willsch mich sehr, dass die SPD das jetzt schlichtweg ablehnt; [CDU/CSU]: Ich habe die Mail gelesen!) denn in der Opposition hat sie dem noch zugestimmt. Zur SPD bzw. zum Kollegen Post. Ich bin durchaus Wie auch immer, wir brauchen jedenfalls Veränderun- differenziertere Reden von der SPD gewohnt. Das, was gen, weil die Rüstungsexporte an Drittstaaten inzwischen Sie hier abgeliefert haben, ist der SPD nicht würdig. Da die Regel sind und nicht die Ausnahme. Das kann nicht hat sich selbst Gabriel in der letzten Legislatur mehr so bleiben. Wir müssen das Verfahren ändern. Mühe gegeben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Der erste Vorschlag ist die Regelung der Zuständig- Bernhard Loos [CDU/CSU]: Aber es war rich- keit. Die Zuständigkeit für Rüstungsexportkontrolle – tig!) das sieht man sehr schön an der Diskussion in der Uni- Aber jetzt zu den Anträgen. Beim Lesen des ersten Ab- on – darf nicht beim Wirtschaftsressort bleiben, sondern satzes des Feststellungsteils im Antrag der Linken hatte muss zum Auswärtigen Amt. ich einen ganz ungewöhnlichen Impuls, nämlich den Im- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) puls, Gabriel an dieser Stelle in Schutz zu nehmen. Wa- rum? Sie vergleichen die Zahl der Gesamtgenehmigun- Wer, wenn nicht das Auswärtige Amt, kann beurteilen, gen unter Schwarz-Gelb mit der der letzten Legislatur wie die Menschenrechtslage und die Sicherheitslage im und sagen dann: Sie sind um 20 Prozent gestiegen. Wenn Empfängerland sind? Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2869

Katja Keul (A) Wir müssen die Kriterien und Grundsätze in der frei- welt! – Diese Welt, betrachtet durch die rosaroten Brillen (C) willigen Selbstverpfichtungserklärung, nämlich die der Grünen und der Linken, ist eine Utopie. Wachen Sie Grundsätze der Bundesregierung, endlich gesetzlich ver- auf! Einerseits ist die reale Welt ganz anders. Anderer- ankern und vor allem justiziabel machen. Warum müssen seits ist es bereits Mittagszeit. wir das? Die Grundsätze sind nicht schlecht, sie sind aus der Zeit von Rot-Grün. Dort steht viel Gutes. Die Bun- Wir leben in einer Welt der Unsicherheit, der Bedro- desregierung erklärt immer, dass sie sich daran hält; das hung und eines globalen kriegerischen Terrors. Worum tut sie aber nicht. In den Grundsätzen steht: An Dritt- geht es im Kern? staaten darf nur im Ausnahmefall exportiert werden, nur Erstens: nationale Verteidigungsfähigkeit. Zentrale wenn die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesre- Aufgabe eines Staates ist die Gewährleistung der Sicher- publik Deutschland dies im Ausnahmefall nötig machen. heit seiner Bürgerinnen und Bürger, also eine unabhängi- In der Praxis erleben wir: Es ist der Regelfall. Mehr als ge Wehr- und Abwehrfähigkeit. Wir brauchen Rüstungs- 50 Prozent dieser Exporte gehen an Drittstaaten und we- güter zur Verteidigung und Abschreckung. niger als die Hälfte an EU- und NATO-Partner. Zweitens: Erhalt einer eigenen wehrtechnischen In- Wir brauchen also gesetzliche Kriterien. Wir brauchen dustrie. Wir brauchen eine deutsche Verteidigungs- und eine gesetzliche Begründungspficht; das ist von der FDP wehrtechnische Industrie. Oder wollen Sie deutsches zutreffend angesprochen worden. Wir haben zwar kei- Steuergeld in anderen Ländern investieren und damit Ar- nen verfassungsrechtlichen Anspruch – darauf hat das beitsplätze in unserem Land vernichten? Natürlich geht Verfassungsgericht hingewiesen –, aber wir können als es in dieser Frage auch um Arbeitsplätze. Wir von der Parlament eine einfachgesetzliche Begründungspficht Union stehen zum Erhalt einer leistungsfähigen deut- auf den Weg bringen, und das müssen wir tun. schen wehrtechnischen Industrie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sowie bei Abgeordneten der FDP) Ja, das merkt man!) Um das Ganze justiziabel zu machen, brauchen wir die Drittens: Bündniszusammenhalt. Wir haben es hier Möglichkeit einer Verbandsklage. schon in den unterschiedlichen Facetten gehört: Inner- (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: So ein halb der NATO und der EU arbeitet Deutschland eng mit Quatsch!) seinen Partnern für Sicherheit, Frieden und Freiheit zu- sammen. Das bedeutet zweierlei: Wir planen gemeinsa- Der Präsident des BAFA hat vorgeschlagen, die Ge- me Rüstungsprojekte und produzieren dementsprechend. nehmigung auf ein Jahr zu befristen. Auch das fnde ich Aber immer öfter macht das Schlagwort – wir haben es (B) sehr gut; das nehmen wir auf. Technische Unterstützung von Klaus-Peter Willsch schon gehört – „German free“ (D) muss in Zukunft genehmigungspfichtig sein. Das kön- die Runde. Frei übersetzt heißt das: Man macht es lie- nen wir ganz einfach in § 49 der Außenwirtschaftsver- ber ohne die Deutschen, weil man Angst hat, mit uns ordnung ändern. Wir wollen keinerlei Lizenzen zur Her- gemeinsam entwickelte Rüstungsgüter nicht verkaufen stellung von Kriegswaffen an Drittstaaten vergeben. zu können. Wollen Sie einen Ausstieg oder, besser ge- Das sind unsere Kernpunkte. Darüber sollten wir hier sagt, einen Ausschluss Deutschlands aus diesen Koope- debattieren. Dann kriegen wir das auch hin. rationen? Wollen Sie eine Isolierung Deutschlands im Bündnis? Bündniszusammenhalt bedeutet auch, dass Die Forderung der Linken, einfach gar nichts an nie- man sich als Verbündete gegenseitig Verteidigungstech- manden zu liefern, ist unterkomplex, um es einmal vor- nologie nutzbar macht. Um dies umzusetzen, sind Rüs- sichtig auszudrücken. Das ermöglicht uns leider nicht, tungsexporte aus Deutschland an EU-, NATO- und an Ihrem Antrag zuzustimmen. Wir werden uns enthalten, NATO-gleichgestellte Länder für uns selbstverständlich hoffen aber, dass irgendwann wieder eine konstruktive und notwendig. Debatte mit der SPD über unsere Forderungen möglich sein wird. (Beifall bei der CDU/CSU) In diesem Sinne vielen Dank und schönes Wochen- Im Rüstungsexportbericht 2016 steht, dass Einzelaus- ende. fuhrgenehmigungen in Höhe von 6,85 Milliarden Euro erteilt wurden. Dabei entfel ein Anteil von 46,4 Prozent (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf Verbündete. 3,67 Milliarden Euro entfelen auf Dritt- länder. – Die im ersten Drittel des Jahres 2017 erteilten Vizepräsidentin Petra Pau: Einzelausfuhrgenehmigungen betrugen 2,42 Milliarden Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Euro. Das ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ein Bernhard Loos das Wort. Absinken um fast 30 Prozent. Der Anteil für Drittlän- der lag – nahezu unverändert – bei rund 54 Prozent. Ich (Beifall bei der CDU/CSU) nenne hier diese konkreten Zahlen, weil die Vorredner an dieser Stelle nur herumgeschwurbelt haben. Bernhard Loos (CDU/CSU): (Florian Post [SPD]: Was?) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei der Lek- Wir unterstützen im Rahmen der geltenden Bestim- türe Ihrer beiden Schaufensteranträge ist man versucht, mungen die deutsche Rüstungsindustrie bei ihren Ex- laut auszurufen: Willkommen in einer Friedenstraum- portbemühungen, so wie das auch andere europäische 2870 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Bernhard Loos (A) Länder für ihre Rüstungsindustrie tun. Aber wir sind kein eben nicht; sie sehen sich von globalen Aggressoren und (C) Kriegswaffenmonster. Terroristen bedroht. Meine Damen und Herren von der links-grünen Op- Sicher, wir stimmen zu, dass Waffenfabriken keines- position, es kommt hier zu Wiederholungen; wir hatten falls exportiert werden sollten. Nicht nur Know-how- vor wenigen Wochen ein ähnliches Thema in der Aktu- Abfuss, sondern auch Regime Changes – heutzutage ja ellen Stunde. Statt einer emotional geführten Debatte ist keine Seltenheit, meine Damen und Herren – könnten zur eine sachliche, an Fakten orientierte Analyse angemes- tickenden Zeitbombe werden. Dennoch: Ein Exportver- sen und notwendig. Dazu gehören zwei Wahrheiten: Wir botsgesetz ist erstens aufgrund der bereits bestehenden brauchen kein Rüstungsexportkontrollgesetz, und wir Gesetzeslage nicht nötig; die Gesetze sollten nur strenger brauchen auch kein generelles Verbot des Exports von angewendet werden. Zweitens ist es vor allem unsozial. Rüstungsgütern. Ich werde Ihnen auch erklären, warum. In meinem Wahl- kreis in Ostthüringen zum Beispiel – mit vielen kleinen (Zuruf von der LINKEN: Doch, brauchen Betrieben der Verteidigungsindustrie – würden mehr als wir!) 1 000 Arbeitsplätze vernichtet. Bei allen Ausfuhrgenehmigungen werden von der Bundesregierung die öffentlich bekannten außen-, si- Aufgrund dieser unsozialen Auswirkungen und der cherheits- und menschenrechtspolitischen Aspekte auf nicht abschätzbaren globalen Folgen – wie Fokussierung Grundlage des Kriegswaffenkontrollgesetzes, der Au- auf einige globale, rüstungspotente Akteure und Einmi- ßenwirtschaftsverordnung, der Politischen Grundsätze schung in innere Angelegenheiten fremder souveräner der Bundesregierung und des Gemeinsamen Standpunk- Staaten – lehnt die AfD diesen Antrag ab. tes des Rats der EU sorgfältig abgewogen. (Beifall bei der AfD) Wir alle wollen in einer friedlichen Welt leben. Ihre Wir lehnen ihn auch deshalb ab, weil unsere Rüstungsex- Anträge sind leider Ausdruck einer Realitätsverweige- porte nur einen Bruchteil dessen darstellen, was andere rung und stellen eine sicherheitspolitische Gefährdung Akteure weltweit exportieren. Ein Verbot würde am Ge- dar, da sie zu einer Isolierung unseres Landes innerhalb samtbild absolut nichts ändern, meine Damen und Her- der NATO führen würden. Wir werden diesen Weg nicht ren. gehen. Wir werden Sicherheit im Bündnis für unsere Bürger garantieren. Vielen Dank. (Andreas Wagner [DIE LINKE]: Waffenex- (Beifall bei der AfD) porte sind eine sicherheitspolitische Gefähr- (B) dung!) (D) Vizepräsidentin Petra Pau: Danke. Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Karl-Heinz (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Brunner das Wort. Hansjörg Müller [AfD]) (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Der nächste Redner ist der Abgeordnete Dr. Robby Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Schlund für die AfD-Fraktion. Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Manchmal sagt man ja spaßeshalber: Das Bes- (Beifall bei der AfD) te kommt zum Schluss.

Dr. Robby Schlund (AfD): (Beifall bei der SPD – Florian Post [SPD]: Werte Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Gäste auf Jawohl!) den Rängen! Besonders begrüße ich meine zwei auslän- Aber ich will die Überraschung trotzdem in Grenzen hal- dischen Gäste aus der Russischen Föderation. ten, indem ich zwei Aussagen wiederhole und gleich an (Florian Post [SPD]: Das passt!) den Anfang stelle: Erstens. Wir, die Sozialdemokratie, wollen ein Rüstungsexportgesetz. Zweitens. Wir werden – Passt? Gut! trotzdem den beiden heute vorliegenden Anträgen nicht zustimmen. Die Antragsteller werden dies auch nicht er- Selbstverteidigung und -schutz sind essenzielle Auf- wartet haben. gaben eines jeden souveränen Staates. Dieser Schutz der Menschen und Bürger vor Aggression und terroristischen Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zuerst zum An- Aktivitäten ist wichtiger denn je. Dazu benötigt der Staat trag der Linken. Dieser Antrag ist aus mehreren Grün- eine effziente Selbstverteidigung. den nicht zustimmungsfähig, zum Beispiel, weil dies (Beifall bei der AfD) dazu führen würde, dass wir im europäischen Kontext auf eine eigenständige deutsche Rüstungsindustrie, auf Er braucht eine Hightechverteidigungsindustrie, die vom eine eigenständige deutsche Rüstungstechnologie, auf Staat intensiv – auch fnanziell – unterstützt werden soll- eigenständige Forschung und Entwicklung und auf eine te. Aber genau diese Möglichkeit haben viele Länder eigenständige Sicherheitsarchitektur verzichten. Sie mö- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2871

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) gen das vielleicht wollen, wir Sozialdemokratinnen und führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist (C) Sozialdemokraten nicht. jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft (Beifall bei der SPD) und Energie. Die Fraktion Die Linke wünscht Federfüh- Der Antrag der Grünen enthält naturgemäß viele rung beim Auswärtigen Ausschuss. Punkte, die nicht nur mir, sondern auch den Sozialde- mokratinnen und Sozialdemokraten sympathisch sind, Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der weil darauf abgezielt wird, die bisher restriktiven Regeln Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim des Rüstungsexportes, die seit dem Jahr 2002 gelten – Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesen Überwei- liebe Kollegin Keul, ich komme zu einer anderen Ein- sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält schätzung als Sie; die restriktive Genehmigungspraxis ist sich? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen nicht gescheitert, die vereinbarten Regeln sind gut –, in der Koalitionsfraktionen, der AfD-Fraktion und einiger ein normiertes Verfahren zu überführen, wie es bei der Abgeordneter der FDP gegen die Stimmen der Links- Verordnung der Europäischen Union zu Dual-Use-Gü- fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und wie- tern bereits der Fall ist. Die gemeinsamen Standpunkte derum einiger Abgeordneter der FDP abgelehnt. der Europäischen Union haben ebenfalls eine höhere Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Bindung. Das deutsche Parlament kann nur kontrollie- Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen, ren, was es durch seine Regeln vorgibt. also Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte nicht über Energie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- jede einzelne Waffe, jede einzelne Munition, jedes ein- schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der zelne Schräubchen und Dual-Use-Gut in diesem Hohen Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koali- Hause diskutieren. Aber ich würde mir wünschen – ich tionsfraktionen, der AfD-Fraktion und der FDP-Fraktion glaube, das fände hier große Übereinstimmung –, dass gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion der Deutsche Bundestag in seiner Gänze die Entschei- Bündnis 90/Die Grünen angenommen. dung darüber trifft, wer im Grundsatz Waffen erhält und wer nicht. Die Vorlage auf Drucksache 19/1849 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über- (Beifall bei der SPD – Dr. Joachim Pfeiffer wiesen werden. Die Federführung ist wiederum strittig. [CDU/CSU]: Nein! Das ist Aufgabe der Exe- Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen kutive!) Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Ener- gie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Fe- – Die Exekutive kann sich an dieser Stelle die Regeln derführung beim Auswärtigen Ausschuss. (B) nicht selbst geben. (D) Rüstungskontrolle und Rüstungsexporte bedürfen ei- Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der ner ständigen Überwachung und Anpassung und letztlich Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Fe- auch kluger Diplomatie. Dass dies möglich ist, zeigen die derführung beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt jüngsten Ergebnisse des heutigen Tages in Korea, zeigen für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage- aber auch die guten Ergebnisse, die wir mit dem Koali- gen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag tionsvertrag erzielt haben, nämlich die bestehenden Rüs- ist gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion tungsexportrichtlinien noch 2018 zu schärfen. „Schär- Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. fen“ bedeutet übrigens nicht, dass das Parlament nicht Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der kontrolliert, sondern bedeutet, die Kontrolle zu erhöhen. Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen, Fe- Ich bin mir sicher, dass wir in diesem Jahr noch öfter derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. über das Thema Rüstungsexportpolitik sprechen wer- Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer den – das ist auch gut so –; stimmt dagegen? – Der Überweisungsvorschlag ist ge- gen die Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion (Zurufe von Abgeordneten der LINKEN) Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen denn es ist ein Thema, das neben der politischen und ge- Fraktionen angenommen. sellschaftlichen Diskussion einer intensiven Diskussion in diesem Hohen Hause bedarf. Es ist wichtig, dass unser Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Rüstungsexport gemäß unserem Staatsverständnis werte- Beratung des Antrags der Abgeordneten Annalena orientiert, restriktiv und normiert vonstattengeht. Baerbock, Katja Dörner, Sven Lehmann, weiterer Vielen Dank und ein schönes Wochenende. Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kinderzuschlag automatisch auszahlen – Ver- deckte Armut überwinden

Vizepräsidentin Petra Pau: Drucksache 19/1854 Ich schließe die Aussprache. Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Drucksache 19/1339 an die in der Tagesordnung aufge- Ausschuss für Arbeit und Soziales 2872 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für obwohl sie mehr gearbeitet hat. Es kann nicht sein, dass (C) die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Arbeit auch noch bestraft wird. nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wir warten, bis die notwendigen Umgruppierungen in bei der FDP und der LINKEN sowie bei Ab- den Fraktionen abgeschlossen sind. – Ich bitte diejeni- geordneten der SPD – [SPD]: Das gen, die uns leider verlassen müssen, den anderen Kol- ändern wir!) leginnen und Kollegen die Möglichkeit zu geben, der Debatte zu folgen. Es wird schon gerufen: „Das ändern wir!“ Das habe ich auch gedacht. Wir Grüne haben uns nämlich richtig Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- gefreut, als wir den Koalitionsvertrag gelesen haben, gin Annalena Baerbock für die Fraktion Bündnis 90/Die weil gleich im ersten Kapitel die Familien erwähnt wur- Grünen. den. Doch wenn man sich ihn genau ansieht, stellt man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fest: Man darf nicht nur die Prosa im Familienkapitel lesen, sondern muss sich auch Seite 67 des Koalitions- vertrages anschauen. Dort ist aufgelistet, wie viel Geld Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in die Familienförderung fießt. Da steht, dass für die NEN): Kindergelderhöhung 3,5 Milliarden Euro bereitgestellt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je- werden. Außerdem steht da, dass für die Bekämpfung der der von uns, der Kinder hat, geht mit ihnen mal ins Kino, Kinderarmut durch den Kinderzuschlag 1 Milliarde Euro im Sommer ins Schwimmbad, kauft neue Winterstiefel, zur Verfügung gestellt wird. Liebe Union, liebe SPD, das und die Kinder gehen auf Klassenfahrt. Das sind Selbst- ist der Status quo. Das heißt, Sie wollen an der Situati- verständlichkeiten, denkt man als Mutter, denkt man als on dieser Kinder nichts ändern. Sie wollen nicht, dass Kind. Aber das ist eben nicht selbstverständlich für alle Frieda, Yazan und all die 520 000 Kinder, die der Kin- Kinder in unserem Land. Jedes fünfte Kind lebt in Armut derzuschlag derzeit nicht erreicht, aus der Armut geholt und geht eben nicht ins Kino, geht nicht mit auf Klassen- werden. Ich sage Ihnen eines: Das ist nicht mein Land, in fahrt und hat auch keine neuen Winterstiefel. Das ist ein dem Kinder gut und gerne leben können. unhaltbarer Zustand. Den müssen wir angehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Mariana Iris Harder-­ Wenn Sie von der SPD jetzt sagen: „Das ist uns ir- Kühnel [AfD]) gendwie durchgerutscht“, kann ich das verstehen. Auch wir haben verhandelt, und das war ziemlich stressig. (B) Es war gut, dass man vor 13 Jahren gesagt hat: Wir (D) wollen den Eltern, die arbeiten und nur durch ihre Kin- (Marianne Schieder [SPD]: Ihr habt aber der in Armut rutschen, besonders unter die Arme greifen; nichts zustande gebracht!) denn es kann nicht sein, dass Kinder ein Armutsrisiko Die Ministerin sagt: Ich habe das auf dem Schirm; ich sind. Deswegen hat man den Kinderzuschlag eingeführt. werde das angehen. – Die gute Nachricht ist: Wir bringen Nach 13 Jahren müssen wir aber feststellen – das ist das heute mit unserem Antrag genau diese Punkte ein. Wir große Problem –, dass das so bürokratisch ist, dass das wollen die automatische Auszahlung des Kinderzuschla- Geld bei den Familien gar nicht ankommt. Nur ein Drittel ges. Es muss verhindert werden, dass man sofort wieder der Berechtigten erhält überhaupt den Kinderzuschlag. in die Armut driftet, wenn man 1 Euro dazuverdient. Wir Das ist ein Riesenproblem. wollen dafür sorgen, dass der Kinderzuschlag existenzsi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chernd ist. Vor allem wollen wir, dass die Alleinerziehen- sowie der Abg. Matthias Seestern-Pauly [FDP] den genauso unterstützt werden wie Familien mit zwei und Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]) Partnern. Wenn auch Sie das wollen, dann stimmen Sie unserem Antrag heute zu. Das bedeutet, dass Frieda eben nicht zum Kindergeburts- tag gehen kann, weil ihre Mutter sich am Ende des Mo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nats das Geschenk nicht leisten kann. Das bedeutet, dass Auch wir haben schon regiert. Wir wissen, dass man Yazan im Winter immer wieder Wasser in den Stiefeln Rücksicht auf den Koalitionsvertrag nehmen muss. Das hat, weil die Stiefel seiner Schwester, die er aufträgt, Gute ist: Wir hatten all das schon mit der Union ausver- nicht mehr wasser- und matschfest sind. Deswegen müs- handelt. All das, worüber wir heute abstimmen, hat die sen wir an diesen Kinderzuschlag unbedingt heran. Union schon einmal zugesagt. Damit können Sie sich am (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ende also nicht herausreden. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt ein weiteres Problem: Wenn die Mutter von Wenn jetzt das Argument kommt, der Kinderzuschlag Frieda oder von Yazan zusätzlich einen Minijob an- allein hole Kinder nicht aus der Armut, muss ich sagen: nimmt, weil sie es einfach nicht ertragen kann, dass ihre Das stimmt. Er ist nur ein erster Schritt. Wir brauchen Tochter oder ihr Sohn immer wieder außen vor ist, dann eine Kindergrundsicherung, und wir brauchen soziale arbeitet sie zwar mehr, erreicht dadurch aber die Höchst- Teilhabe. grenze. Am Ende hat sie, weil sie dann nicht mehr den kompletten Kinderzuschlag bekommt, sogar weniger, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2873

Annalena Baerbock (A) Aber ich sage Ihnen eines: Winterschuhe, Kindergeburts- Herr Präsident, hier ist alles ausgegangen. (C) tag, Klassenfahrten und kostenloses Mittagessen – im Bundesrat haben Sie es gerade „gekillt“ – sind keine (Sönke Rix [SPD]: Rede, solange du willst!) Kleinigkeiten. Für Kinder ist das die Welt. Es geht da- – „Ich habe Redezeit, bis mein Zug fährt“, hätte ich fast rum: Gehören diese Kinder dazu, oder gehören sie nicht gesagt. dazu: beim Kindergeburtstag, bei der Klassenfahrt, beim Mittagessen und als Teil unserer Gesellschaft? Wenn sie Weil wir die familienpolitischen Leistungen immer 18 Jahre alt sind, ist es zu spät. Deswegen: Wir müssen sehr kritisch betrachten, will ich einmal aus der Gesam- hier und heute handeln. „Macht“ kommt von „machen“. tevaluation der ehe- und familienpolitischen Maßnahmen Machen Sie also etwas dafür, dass die Kinder aus der Ar- und Leistungen in Deutschland zitieren. Auf Seite 189 mut kommen! steht: Herzlichen Dank. Der Kinderzuschlag trägt in hohem Maße zur Ver- meidung von Armutsrisiken bei ... (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Die Armutsrisikoquote der Empfängerhaushalte sinkt durch die Leistung um „16,5 Prozentpunkte“. Vizepräsidentin Petra Pau: Jetzt sage ich Ihnen: Sie haben in Ihrem Antrag und in Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die Ihrer Rede viel Richtiges gesagt. Wir haben tatsächlich CDU/CSU-Fraktion. ein kompliziertes Antragsverfahren, und der Kinderzu- schlag ist in der Bevölkerung kaum bekannt. Die Folge (Beifall bei der CDU/CSU) ist, dass die Leistungen tatsächlich nur bei 30 Prozent der Leistungsberechtigten ankommen. Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Jede Familie, die einen Anspruch darauf hat, muss Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen wissen, dass sie diesen Anspruch hat, und sie muss die- und Kollegen! Frau Baerbock, Sie haben ja zumindest sen Kinderzuschlag vor allen Dingen auch relativ leicht eine Seite des Koalitionsvertrages gelesen. Ich gehe da- beantragen können. Deswegen haben wir in der Großen von aus, Sie haben alle Seiten des Koalitionsvertrages Koalition gesagt – da stimme ich Ihnen auch zu –: Es gelesen. Weil Sie das getan haben, wissen Sie, dass wir gibt Reformbedarf. Wir brauchen Entbürokratisierung, das Thema Kinderarmut so ernst nehmen, dass wir als Vereinfachung, Klarheit und Transparenz. – Mit Ihrem Koalition nicht nur eine einzige Maßnahme debattieren, Ansatz springen Sie aber zu kurz. sondern auch einen Maßnahmenmix entwickeln wollen. (B) Ich will nur daran erinnern: Die Zusammenlegung (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) von Unterhaltsvorschuss und Kinderzuschlag wäre fatal; Das ist etwas mehr, als sich – richtigerweise – nur um Kollege Beermann wird nachher auch noch mal darauf den Kinderzuschlag zu kümmern. Dazu gleich mehr. eingehen. Erstens. Für die Union sage ich ganz deutlich – das (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: haben wir auch in der Koalitionsvereinbarung klar de- Jetzt kommt Ihr Vorschlag!) fniert –: Es ist für uns nicht hinnehmbar, dass über Deshalb will ich ganz gerne noch mal einige Punkte aus 2 Millionen Kinder in Deutschland unter Armut leiden. der Koalitionsvereinbarung ansprechen. Kinderarmut hat übrigens auch zur Folge, dass sie un- ter kultureller und unter Bildungsarmut leiden. Wir als Bei der Kinderarmut müssen sehr viele einzelne Fa- Große Koalition haben gesagt: Das wird ein Schwer- cetten betrachtet werden. Bei aller Kritik an der großen punktthema der nächsten Jahre sein. Wir brauchen nicht Anzahl an familienpolitischen Maßnahmen sind sie darüber zu diskutieren, wie man das berechnet, und wir teilweise sehr zielgenau. Deswegen ist es uns wichtig, brauchen auch nicht über eine einzelne Maßnahme zu dass wir die Leistungen effzienter gestalten. Das be- diskutieren, sondern wir müssen insgesamt schauen, wel- trifft gerade den Kinderzuschlag, der zielgenauer und chen Mix wir hinbekommen. leichter zugänglich sein muss. Daneben müssen wir die Leistungsbereitschaft fördern und eine Verstetigung des Zweitens: zum Kinderzuschlag. Tatsächlich ist es so, Transferbezugs vermeiden. dass der Kinderzuschlag bei der fnanziellen Sicherung von Familien eine zentrale Rolle spielt. Um der Kinder- Für uns heißt das, dass wir den Kinderzuschlag er- armut entgegenzuwirken, brauchen wir viele Maßnah- höhen. Wir haben uns darauf verständigt, dass der Kin- men. Im Übrigen – das haben Sie nicht erwähnt; deswe- derzuschlag und das Kindergeld zusammen 399 Euro gen tue ich das – haben wir in den letzten Jahren schon ergeben sollen, also den Mindestbedarf des sächlichen damit angefangen, das Thema Kinderarmut in den Fokus Existenzminimums. zu nehmen. Nun arbeiten wir an den Veränderungen der (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: letzten Jahre weiter. Ich nenne das Unterhaltsvorschuss- 35 Euro mehr als jetzt! Sehr großzügig!) gesetz, den Ausbau der Kindertagesbetreuung und des gesamten Kitasystems, das Stichwort „Entlastungsbetrag Das heißt für uns auch, dass wir einen Freibetrag für die für Alleinerziehende“, Kinderzuschlag, Unterstützung Familien hinsichtlich des Einkommens des Kindes aus von Eltern mit niedrigem Einkommen und die Kombina- Erwerbstätigkeit oder Ausbildung festsetzen und diese tion mit Erwerbsanreizen für die Eltern. einzelnen Leistungen entbürokratisieren. 2874 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Marcus Weinberg (Hamburg) (A) Zentral bei der Bekämpfung der Kinderarmut ist, die Vielen Dank. (C) Eltern in die Situation zu versetzen, wieder selbst für das Einkommen der Familie zu sorgen. Deshalb ist der wei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. tere Ausbau der Kindertagesbetreuung mit einem Rechts- Ulli Nissen [SPD]) anspruch auf Betreuung auch im Grundschulbereich, glaube ich, eine der großen Maßnahmen der Großen Ko- Vizepräsident : alition. Sie werden in dem Finanztableau sicherlich er- kannt haben, dass wir viel Geld dafür ausgeben, nämlich Herzlichen Dank, Herr Kollege Weinberg. Die Ihnen allein für die Kitaqualität und Ähnliches 3,5 Milliarden geschenkte eine Minute haben Sie nicht ausgeschöpft. – Euro und darüber hinaus weitere Mittel zur Erfüllung Als Nächster für die AfD der Kollege Martin Reichardt. des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung im Schul- (Beifall bei der AfD) bereich.

(Beifall bei der CDU/CSU) Martin Reichardt (AfD): Hinzukommen müssen – auch das ist, glaube ich, wich- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- tig – eine Verbesserung des Teilhabe- und Bildungsange- ren! Das Wichtigste gleich zu Anfang: Wir als AfD-Frak- botes insgesamt, eine Investitionsoffensive für Schulen tion unterstützen den Antrag der Grünen in vollem Um- und ein Schulsanierungsprogramm. Vieles wäre aufzu- fang. listen. (Ulli Nissen [SPD]: Oh! Oh!) Ziel der Koalition ist, dass erkannt wird, dass das Thema Kinderarmut ein vielschichtiges Problem ist. Das – Ja. Im Gegensatz zu den Grünen und Linken entschei- Ergebnis muss sein, dass wir viele einzelne Maßnahmen den wir ja in Sachfragen pragmatisch und nicht nach entwickeln, die hier wirken. ideologischen oder parteipolitischen Steuerungen. Ich sage es noch einmal: Ich stimme Ihnen beim Kin- (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer derzuschlag in weiten Teilen zu. Sie werden erleben, dass [DIE LINKE]: Nein, überhaupt nicht!) wir in der Großen Koalition diese Reform schnell um- – Es zeigt sich, dass Sie selbst bei diesem Thema Ihre setzen, und zwar so, dass sie passgenau ist. Mit Ihrem Zwischenrufe nicht lassen können, dass Ihnen offensicht- Gedankengang springen Sie nicht zu kurz, aber falsch. lich die sittliche Reife fehlt. Deswegen werden wir ihn nicht mittragen können. (B) (Beifall bei der AfD – Lachen bei der LIN- (D) Ich will an dieser Stelle noch eine Bemerkung zum KEN) Thema Kinderarmut machen, weil wir immer nur über materielle Leistungen und die Frage sprechen, was der Wir werden uns keinem Antrag verschließen, mit dem Staat fnanziell noch wie zu entwickeln und zusammen- die skandalöse Kinderarmut in Deutschland bekämpft zuführen hat. Ich zitiere Herrn Gauck, der anlässlich der wird. Meine Damen und Herren von den Grünen, hätten Feier zum 60. Jubiläum des Deutschen Kinderschutzbun- Sie uns gefragt, hätten wir den Antrag auch mit Ihnen des gesagt hat – damit will ich ganz gerne noch mal auf gemeinsam eingereicht. einen anderen Punkt eingehen –: (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Ich würde mir sehr wünschen, dass wir Kinderarmut GRÜNEN]: Nein! Sie hätten es nur für deut- noch öfter als bisher nicht nur als Armut an Geld de- sche Kinder gewollt!) fnieren, sondern auch als Armut an Möglichkeiten. Kinderlobby und Politiker debattieren dann viel- Wie ideologisch das Verhalten bei Linken und Grü- leicht nicht mehr öfter als nötig über Summen, son- nen – das sehen wir hier gerade – ist, zeigt Ihr Abstim- dern stattdessen über Teilhabegerechtigkeit, über mungsverhalten bei vorherigen Anträgen, in denen es die Möglichkeit, das Leben in die eigenen Hände nämlich um die überfällige Reform genau dieses Kinder- zu nehmen ... zuschlags ging und bei der Sie sich wechselseitig blo- ckiert bzw. nicht unterstützt haben. So viel zum Thema Ich sage auch ganz klar für uns: Natürlich werden wir Schaufensteranträge, die Sie anderen Fraktionen mit uns die fnanziellen Rahmenbedingungen anschauen, wachsender Begeisterung vorschmeißen. aber Ziel muss es sein, Kindern Teilhabe zu ermöglichen und soziale, kulturelle und Bildungsarmut zu verhindern. (Beifall bei der AfD – Norbert Müller [Pots- Das werden wir als Große Koalition angehen. Deswegen dam] [DIE LINKE]: Wir schmeißen nicht! – werden wir in den nächsten Monaten eine sehr intensi- Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das ve Debatte über die Reform des Kinderzuschlags als ein müssen Sie gerade sagen!) Element führen. Aber es gibt viele Elemente. Auch in der letzten Legislaturperiode war die Be- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE kämpfung der Kinderarmut kein Anliegen der Großen GRÜNEN]: Fangen Sie mit dem ersten an!) Koalition. Aber ich hoffe, dass sich Frau Giffey kein Vor- bild an ihren Amtsvorgängerinnen nimmt, die im Bereich In dieser Breite sind wir, glaube ich, gut aufgestellt. der Bekämpfung der Kinderarmut über Lippenbekennt- Insoweit werden wir Ihren Antrag ablehnen. nisse allesamt nicht hinausgekommen sind. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2875

Martin Reichardt (A) Meine Damen und Herren, Kinder sind eben nicht 2013 schaffte es das Thema Familienpolitik nicht einmal (C) links oder rechts. Sie sind nicht rot, grün oder gelb. Sie in das sogenannte Regierungsprogramm. Aber eine akti- sind eben einfach Kinder. ve Familienpolitik, die die Zahl der einheimischen Kin- der wieder steigen lässt, ist für unser Land und für unsere (Beifall bei der AfD) Gesellschaft lebenswichtig. Kinder haben ein Recht auf eine unbeschwerte Kindheit, (Ulli Nissen [SPD]: Damit sind wir beim frei von den Geldsorgen ihrer Eltern. Thema!) (Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]: Auch Die geringe Kinderzahl in Deutschland gefährdet den syrische Kinder?) sozialen Frieden, auch wenn Sie von der SPD das regel- Wir hier in diesem Hause haben eben nicht das Recht, mäßig leugnen und in die Ecke diskutieren wollen. über die Zukunft von Millionen Kindern in der Form zu entscheiden, dass wir ihnen ihre Zukunft verbauen. (Beifall bei der AfD) (Ulli Nissen [SPD]: Und das gilt auch für Unser Renten-, Sozial- und Gesundheitssystem beruht Migrantenkinder, Herr Kollege!) auch auf einer ausgeglichenen Bevölkerungsbilanz. Gute Kinder, gute Ausbildung: Das ist die Zukunft Deutsch- Armut bedingt nachweislich schlechtere Bildungschan- lands. Das sichert hier Wohlstand, und das sichert letzten cen und damit schlechtere Perspektiven fürs Leben. Endes auch Wettbewerbsfähigkeit für Deutschland, mei- ne Damen und Herren. Arme Kinder in Deutschland brauchen keine ideolo- gisch gefärbten Schaufensterdebatten und unqualifzierte (Beifall der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD]) Zwischenrufe, wie ich sie leider auch bei dieser ernsten Sache wieder ertragen muss. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Ulli Nissen [SPD]: Ach, Sie Armer!) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Wir brauchen eine Allianz aller ordentlichen und muti- Kollegin Schön? gen im Bundestag vertretenen Parteien; eine Allianz mit dem Willen und dem Mut, über Parteigrenzen hinweg Martin Reichardt (AfD): Kinderarmut in Deutschland zu bekämpfen. Gern. (Beifall bei der AfD) (CDU/CSU): Arme Kinder haben selbst keine politische Kraft. Sie Nadine Schön (B) (D) können ihre Lebenssituation nicht selber ändern. Herr Kollege, Sie haben jetzt mehrmals betont, dass Sie sich eine Willkommenskultur für deutsche Kinder (Ulli Nissen [SPD]: Gilt das für alle Kinder?) wünschen, dass deutsche Kinder in unserem Land gut Lassen Sie uns den Mut und den politischen Willen leben und aufwachsen sollen. Das unterstreichen wir na- aufbringen, für eine bessere Zukunft unserer Kinder in türlich. Deutschland zu kämpfen und damit auch ein besseres (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Deutschland zu schaffen; denn Deutschland hat nicht nur viele arme Kinder, Deutschland ist generell arm an Kin- Meine Frage ist: Unterscheiden Sie hierbei zwischen dern. Das ist ein sehr schlechtes Zeichen. deutschen Kindern und Kindern, die keine deutsche Her- kunft haben, oder würden Sie diese Sätze für alle Kinder (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Jetzt in unserem Land gleichermaßen gelten lassen? kommt wieder die Übervölkerungsthese!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der – Ja, genau. – Wir brauchen eine Willkommenskultur für SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ deutsche Kinder DIE GRÜNEN – Ulli Nissen [SPD]: Sehr gute (Ulli Nissen [SPD]: Ja, deutsche Kinder!) Frage!) und ein „Wir schaffen das“ gegen Kinderarmut und für mehr Kinder in Deutschland. Martin Reichardt (AfD): Ja. Darauf können Sie auch eine sehr gute Antwort (Beifall bei der AfD – von mir bekommen. – Wir unterscheiden insofern nicht. [CDU/CSU]: AfD und Willkommenskultur? Das gilt für die Kinder, die hier einen regulären Bleibe- Habe ich das richtig verstanden?) rechtsanspruch haben. Kinder- und Familienpolitik war in den letzten Jahren (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Sieh immer nur ein Randthema der Politik. Gerade die SPD an!) sollte sich hier ganz weit zurücknehmen. Für Ihren Alt- kanzler, Herrn Schröder, war ja Familienpolitik immer Da gilt es für alle. Und natürlich gilt es auch für die, die nur „Gedöns“. Ich glaube, das ist es für Ihre Partei bis hier vielleicht unter dem Titel „Asyl“ leben, solange sie heute geblieben. hier bleiben müssen. (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das war die Frauenpolitik!) [DIE LINKE]: Die Kinder allein haben kein 2876 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Martin Reichardt (A) Bleiberecht! Sie sind gebunden an ihre El- de wenn Sie uns auffordern, jenseits von ideologischen (C) tern!) Grenzen für die Bekämpfung von Kinderarmut und die Belange von Kindern einzutreten, dann wissen wir, dass Das ist richtig. Ja. wir Sie bestimmt nicht an unserer Seite haben und auch Insofern habe ich, denke ich, Ihre Frage angemes- nicht haben wollen. sen beantwortet. Ich denke, dass ich vor diesem Hohen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hause eben festgestellt habe, dass mit dieser billigen Pro- der CDU/CSU und der LINKEN – Martin paganda, die in dieser Hinsicht immer gegen uns betrie- Reichardt [AfD]: Sie sind eine Schande!) ben wird, endgültig aufgeräumt werden konnte. – Ich bin eine Schande? Das ist ja interessant zu hören. (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Da kommen mir die Tränen!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, gestern war Girls’ Day. Viele von uns auch hier im Parlament haben Jetzt aber wieder zur Sache. Meine Damen und Her- den Anlass genutzt, um mit jungen Frauen oder Mädchen ren der anderen Fraktionen, schauen wir gemeinsam insbesondere über ihre berufichen Perspektiven ins Ge- ins Wahlprogramm der AfD, und nehmen wir auch dies spräch zu kommen. Wir machen beim Girls’ Day – einige als Grundlage für eine bessere Zukunft für Kinder in machen auch einen Girls’ und Boys’ Day daraus – mit, Deutschland: Wir fordern Ehestartkredite mit Teilerlas- um Wege aufzuzeigen, die nicht unbedingt in die Berufe sen für Ehepaare, die dann Kinder bekommen, damit sie führen, die man als typische Männerberufe oder als typi- so eher in die Familienplanung eintreten können. sche Frauenberufe bezeichnet. Wir fordern, dass das Arbeitslosengeld I für Eltern Aber in den Gesprächen gestern und auch in den ver- länger bezahlt wird und dass Arbeitgeber eine Wieder- gangenen Jahren ist mir sehr deutlich geworden: Es ist eingliederungshilfe für Eltern erhalten, sodass ihre Inar- tatsächlich immer noch sehr weit verbreitet – ich bin ge- beitbringung wieder besser möglich wird. lernter Erzieher und habe also einen sogenannten typi- (Beifall bei Abgeordneten der AfD) schen Frauenberuf ergriffen –, in diesen Kategorien zu bleiben. Gestern wurde auch darüber diskutiert, warum Vizepräsident Wolfgang Kubicki: das so ist, und vor allen Dingen, was man dagegen ma- Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. chen kann. Was man dagegen machen kann, ist, dass man insbe- Martin Reichardt (AfD): sondere die sozialen Berufe aufwertet Wir fordern, dass Studenten und Auszubildenden, die (Beifall bei der SPD und der LINKEN) (B) in oder kurz nach Ausbildung oder Studium Kinder be- (D) kommen, die Rückzahlung des BAföG erlassen wird. und dafür sorgt, dass wir als Gesellschaft bereit sind, in den typischen Frauen- und Mädchenberufen – das sind die sozialen Berufe – so zu zahlen, wie wir es auch bei Vizepräsident Wolfgang Kubicki: den Handwerker- und Facharbeiterberufen erwarten und Herr Kollege, bitte ein letzter Satz. Sie sind schon auch tun. 35 Sekunden über Ihre Redezeit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Martin Reichardt (AfD): Jawohl, letzter Satz. Kein Problem. – Meine Damen Wir müssen die damit verbundene Verbesserung der und Herren, lassen Sie uns gemeinsam endlich jenseits Bezahlung nicht damit begründen, mehr Jungs oder aller Ideologien den Kampf gegen Kinderarmut aufneh- Männer in diese Berufe zu bekommen, sondern damit, men, damit Deutschland, die Heimat unserer Kinder, dass es für uns eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe ist. nicht ein Armenhaus für Kinder, sondern eine glückliche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Heimat wird. Warum sage ich das an dieser Stelle? Ich sage es des- Vielen Dank. halb, weil Kinderarmut auch immer Familienarmut ist. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir stellen auch fest, gerade wenn wir die Gruppierun- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gen und die Situation genauer betrachten, dass Kinder Als Nächstes der Kollege Sönke Rix für die SPD-Frak- häufg dann in Armut leben, wenn sie in Haushalten von tion. Alleinerziehenden aufwachsen. Darauf ist ein ganz be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sonderer Fokus zu richten. Hinzu kommt, dass Frauen der CDU/CSU) oft in Teilzeit ohne Rückkehrrecht auf Vollzeit arbeiten und insbesondere in sozialen Berufen schlecht bezahlt Sönke Rix (SPD): werden. Deshalb ist das immer in Gänze zu betrachten. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass wir das Meine Damen und Herren! Nach der Rede von AfD-Kol- nicht nur als Maßnahme, den Kinderzuschlag auszuwei- legen denkt man immer, man müsste jetzt eigentlich ten und zu reformieren, sondern auch als Gesamtpaket reagieren. Aber der Redebeitrag spricht für sich. Gera- sehen, das dazu dient, Kinderarmut zu bekämpfen. Dazu Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2877

Sönke Rix (A) gehören auch der Mindestlohn – den haben wir schon Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) erreicht –, das Recht, von Teilzeit auf Vollzeit zurückzu- Vielen Dank, Herr Kollege Rix. – Ich bin gebeten kehren – über die entsprechende Vorlage beraten wir ge- worden, zu dem Zuruf „Sie sind eine Schande!“ des rade –, die Aufwertung sozialer Berufe, die Vereinbarkeit Kollegen Reichardt kurz Stellung zu nehmen. Das mag von Familie und Beruf, eine gute Kitaqualität, eine gute möglicherweise eine unzutreffende Bemerkung gewesen Bildung und Ganztagsbetreuung. All das muss ebenfalls sein. Sie ist aber zulässig. Ob sie im Zusammenhang des in das Paket aufgenommen werden, weil es präventiv ge- Umgangs miteinander so sinnvoll ist, obliegt nicht der gen Familienarmut und damit auch gegen Kinderarmut Bewertung des Präsidiums. wirkt. Als Nächstes hat der Kollege Matthias Seestern-Pauly (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) das Wort. Wir haben uns zudem im sozialen Bereich vorgenom- (Beifall bei der FDP) men, das Bildungs- und Teilhabepaket auszuweiten. So sollen die Kosten der Nachhilfe und des Mittagessens in das Paket aufgenommen werden. Das ist ein kleiner, aber Matthias Seestern-Pauly (FDP): wesentlicher Schritt. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir alle sind uns einig, dass Kin- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE derarmut effektiv bekämpft werden muss. Das gilt für GRÜNEN]: Sie haben das zuerst herausge- alle Kinder. Wenn man regelmäßig vermeintlich falsch nommen!) verstanden wird, sollte man es vielleicht bei dem Begriff Mir wird immer wieder geschildert, dass die Nachhilfe „alle“ belassen. Das impliziert sowohl deutsche als auch nur dann fnanziert wird, wenn das Kind gerade schlecht nicht deutsche Kinder. in der Schule ist. Aber kaum dass das Kind nach ein paar (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wochen wieder besser in der Schule ist, wird die Unter- der CDU/CSU) stützung wieder eingestellt. Da brauchen wir weitrei- chende Maßnahmen. Außerdem scheinen wir uns grundsätzlich darüber einig zu sein, dass die derzeitige Regelung des Kinder- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Harald zuschlags das genannte Ziel viel zu selten erreicht. Der Weinberg [DIE LINKE]) Kinderzuschlag kommt nicht dort an, wohin er gehört. Zum Kinderzuschlag. Ich erinnere daran, dass das ein Die Regelungen und Berechnungen sind kompliziert, gemeinsames Projekt von Rot-Grün war. bürokratisch und ineffzient. Ohne alles wiederholen zu wollen, was wir im Laufe dieser Debatte schon gehört (B) (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE haben, möchte ich unterstreichen, dass lediglich 30 Pro- (D) GRÜNEN]: Macht ihr denn auch etwas?) zent aller Antragsberechtigten den Kinderzuschlag be- – Doch, wir haben das gemeinsam beschlossen, liebe antragen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass bis zu Kollegin. – Vor 13 Jahren hat Rot-Grün den Kinderzu- 380 000 Berechtigte gar keinen Antrag stellen. Das be- schlag eingeführt. Er ist nach wie vor ein richtig gutes deutet wiederum, dass die betroffenen Kinder und Fa- und vernünftiges Instrument. Es lohnt sich, den Kinder- milien nachweislich unterhalb des Existenzminimums zuschlag weiterzuentwickeln. Das sehen wir auch im Ko- leben. Das ist für mich ein absolutes Unding. alitionsvertrag vor; Herr Weinberg ist darauf eingegan- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, zu einer Lösung zu der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- kommen, die eine automatische Auszahlung des Kinder- NISSES 90/DIE GRÜNEN) zuschlags vorsieht. Vor diesem Hintergrund halte ich die im Antrag vor- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE genommene Problembeschreibung für zutreffend. Auch GRÜNEN]: Sie haben das Geld nicht einge- ist der vorgelegte Antrag, wie Sie selber schreiben, liebe stellt!) Kollegin Baerbock, ein erster richtiger Schritt. Ähnliches – Gelder kann man noch einstellen. – Wir sehen auf je- fndet sich im Übrigen aber auch im Koalitionsvertrag. den Fall 1 Milliarde Euro zusätzlich für diesen Bereich Deswegen hoffe ich, dass die Koalitionäre nun tatsächlich vor. Es ist wichtig, sich für eine Lösung zu engagieren, Taten folgen lassen und sich nicht im Klein-Klein oder die es uns ermöglicht, Bürokratie abzubauen. Für meine im Herumdoktern an Symptomen verlieren. Ich befürch- Fraktion kann ich sagen, dass wir über den vorgeschla- te nämlich, dass wir sonst in einem oder in zwei Jahren genen Weg der Grünen, den Kinderzuschlag automatisch wieder an gleicher Stelle zusammenkommen müssen, um auszuzahlen, diskutieren wollen. Wir überweisen heute dann über unerwünschte Wechselwirkungen durch Neu- den Antrag erst einmal an die Ausschüsse und schauen regelungen reden zu müssen. Somit wäre schlussendlich dann, welche Lösungsvorschläge die anderen Fraktionen nichts gewonnen. Ganz im Gegenteil: Die guten Vorsätze zur Reform des Kinderzuschlags präsentieren. Die Koali- hätten das Ganze nur weiter verkompliziert. tion wird sich auf jeden Fall an der Diskussion beteiligen (Beifall bei der FDP) und Lösungsvorschläge einbringen, damit wir am Ende effektiv etwas gegen Kinderarmut tun. Wenn wir gemeinsam die Missstände erkannt haben – das ist in vielen Reden gerade schon angeklungen – und Herzlichen Dank. uns offensichtlich auch einig sind, dass die Regelungen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zum Kinderzuschlag grundlegend reformiert werden 2878 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

Matthias Seestern-Pauly (A) müssen, warum stellen wir dann nicht endlich wieder das Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): (C) Wohl der Kinder selbst in den Mittelpunkt? Es geht doch Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und in dieser gesamten Debatte nicht darum, einen Verwal- Kollegen! Herr Seestern-Pauly, verstehe ich Sie da rich- tungsakt oder ein Antragsverfahren nachzubessern; es tig, dass Sie eine Kindergrundsicherung fordern? geht doch vielmehr darum, den Kindern die Hilfe zu ge- ben, die sie tatsächlich brauchen, und zwar schnell, direkt (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und und unkompliziert. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der FDP) Das würde ich gerne mit Ihnen im Ausschuss diskutieren.

An dieser Stelle bieten wir Freien Demokraten eine (Matthias Seestern-Pauly [FDP]: Soll ich jetzt klare Lösung an. Wir haben den Mut, umzudenken und darauf antworten?) auch noch einen Schritt weiterzugehen: ein einkommens- Wenn wir über den Kinderzuschlag sprechen, dann unabhängiger Sockelbetrag für jedes Kind, den wir mit sprechen wir auch über Kinderarmut; das haben heute Komponenten kombinieren, die die wirtschaftliche Situ- schon mehrere Vorrednerinnen und -redner hier getan. ation der Eltern unbürokratisch berücksichtigen, als eine Die Kinderarmut betrifft immer mehr Kinder in Deutsch- Leistung aus einer Hand, die wir „Kindergeld 2.0“ nen- land. Jedes fünfte Kind ist inzwischen von Armut be- nen. Wir Freien Demokraten streben an, bestehende Leis- troffen; die Tendenz ist steigend. Jedes siebente Kind tungen noch mehr zu bündeln, als es im heutigen Antrag ist auf Hartz IV angewiesen. In einem reichen Land wie vorgesehen ist, so wie es im Übrigen auch viele Verbän- Deutschland darf es so etwas nicht geben. de berechtigterweise vorschlagen und auch einfordern. Zu nennen sind hier beispielsweise das Sozialgeld, das (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Wohngeld und auch eine umfassende Einbeziehung der neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bildungs- und Teilhabemittel. Dagegen müssen wir alle etwas tun. Wenn wir es wirklich ernst meinen, dass wir das Kind Wir alle wissen, dass Armut Kinder am härtesten trifft. ins Zentrum unserer Betrachtungen stellen wollen, wa- Kinder, die von Armut betroffen sind, machen früh die rum sprechen wir den Kindern dann nicht einen eigenen Erfahrung von gesellschaftlicher Ausgrenzung; denn wer konkreten Rechtsanspruch auf ihre Leistungen zu? sich nicht leisten kann, was für die Teilhabe am gesell- schaftlichen Leben nötig ist, gehört nicht dazu. Gerade (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-­ Kinder leiden darunter sehr. Ich fnde, wenn sie nicht Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mitmachen können, wenn sie nicht mithalten können, (B) (D) Dies wäre meiner Meinung nach ein echter Schritt in wenn kein Geld für den Urlaub da ist, wenn sie auf die Richtung Chancen und Teilhabe; es wäre ein echter Kleiderkammer angewiesen sind, um sich dort Winter- Schritt zur effektiven Bekämpfung von Kinderarmut. sachen zu holen, wenn das Jobcenter die Unterstützung bei Schulausfügen ablehnt, wenn später kein Geld für (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kino oder Theater oder dafür da ist, einfach nur mal mit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Freunden wegzugehen, dann ist das gesellschaftliche Ausgrenzung. Hier beginnt Armut, und hier müssen wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich lade Sie herz- etwas dagegen tun. lich ein, in den kommenden Beratungen mit uns zu- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sammen an einem solchen Umdenken zu arbeiten. Nur neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) so kommen wir zu einer effzienten, zielgerichteten und unbürokratischen Lösung im Sinne unserer Kinder und Wir reden also von einem Mangel an Teilhabe am Jugendlichen; denn es geht um nicht weniger als darum, gesellschaftlichen Wohlstand. Das ist für Kinder und Ju- allen Kindern, und zwar unabhängig von ihrer sozialen gendliche oft schlimmer als andere Armutsaspekte. Des- Herkunft, Chancen für die Zukunft zu ermöglichen; das halb lassen wir nicht zu, dass, wie zum Beispiel bei der ist unsere Aufgabe. Union, die Armen in Deutschland gegeneinander ausge- spielt werden. Herzlichen Dank. (Nadine Schön [CDU/CSU]: Was?) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wolfgang Ich verweise nur auf Herrn Spahn, der Kinderarmut und Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Altersarmut gegeneinander ausspielt. Das darf es nicht NEN]) geben. Wir Linken werden uns niemals mit der Armut in diesem Land abfnden, ganz besonders nicht bei Kindern.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank, Herr Kollege Seestern-Pauly. – Als vor- Gegen Armut kann man etwas tun. Aber Sie werden letzter Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Sabine die Armut nie wirksam bekämpfen, wenn Sie nicht den Zimmermann für die Fraktion Die Linke. Reichtum antasten. Doch genau das wollen Sie um jeden Preis verhindern; der Koalitionsvertrag macht es auch (Beifall bei der LINKEN) ganz deutlich. Sie belassen es bei Stückwerk und bei Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2879

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) schönen Sonntagsreden. Das, meine Damen und Herren, Abgeordneten Maik Beermann für die CDU/CSU-Frak- (C) ist weder christlich noch sozial. tion das Wort. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Kleine Lösungen reichen nicht aus – das haben wir heute in vielen Reden gehört –, auch beim Kinderzu- Maik Beermann (CDU/CSU): schlag nicht. Es ist gut, dass die Grünen diesen Antrag Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und vorgelegt haben. Aber das ist noch nicht genug. Wir müs- Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! sen mehr tun; denn nur ein Bruchteil der Berechtigten Kinderarmut in einer Gesellschaft wie der unseren, das nimmt den Kinderzuschlag in Anspruch. Ich glaube, es passt nicht zusammen; ich glaube, da sind wir uns hier ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, und des- im Hohen Hause auch einig. Wenn ich jetzt auf einige halb unterstützen wir ihn auch. Dinge eingehe, die hier gesagt worden sind, wird mir die Zeit für meine eigentliche Rede fehlen – das weiß ich –, Die Leistungen für Kinder sind bei uns in Deutschland aber das ist mir egal, weil ich gern mit dem aufräumen grundlegend falsch konzipiert. Am einen Ende der Ska- möchte, was vorhin dargestellt wurde. la steht eine unzureichende und willkürlich berechnete Leistung; das ist der Kinderregelsatz bei Hartz IV. Etwas Frau Zimmermann, Sie haben gesagt: Gesellschaft- bessere Leistungen erhalten Familien, die Anspruch auf liche Teilhabe ist nicht möglich. – Ja, das stimmt. Wir Kinderzuschlag und auf Kindergeld haben. Am anderen sollten aber bitte auch nicht vergessen, dass wir von 2005 Ende der Skala stehen die Kinder aus wohlhabenden Fa- bis heute einen gewissen Fortschritt herbeigeführt haben, milien, die vom Kinderfreibetrag proftieren – und das beispielsweise bei den Arbeitslosenzahlen. ganz ohne kompliziertes Antragsverfahren. Dieses Sys- (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Es tem, meine Damen und Herren, ist ungerecht, und das geht um Kinderarmut! – Helin Evrim Sommer muss verändert werden. [DIE LINKE]: Minijobs! Mehr Teilzeit! Mehr Leiharbeit!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Moment! – Wir haben 2,384 Millionen Arbeitslose und hatten 5 Millionen Arbeitslose. Das heißt: Dadurch, dass Deshalb kann man damit aus unserer Sicht auch keine wir Leute in Arbeit gebracht haben, haben wir schon da- Armut bekämpfen. für gesorgt, dass für Kinder deutlich mehr gesellschaftli- Wer wirklich etwas gegen Kinderarmut tun will, muss che Teilhabe möglich ist. die Leistungen für Kinder von Grund auf reformieren. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Die zentralen Bedürfnisse für gesellschaftliche Teilhabe (D) müssen bei jedem Kind gleich gut abgesichert sein, und Ich will damit das Problem der Kinderarmut gar nicht zwar auf einem Niveau, das vor allen Dingen der Realität kleinreden. Ich möchte nur nicht, dass der Eindruck entspricht. bleibt, als ob alles so schlecht ist, wie Sie es manchmal darstellen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Frau Baerbock, man kann mit dem Thema natürlich Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. auch Emotionen schüren; es ist ein emotionales Thema. Gerade wenn man sich mit Eltern unterhält, die von den Dingen betroffen sind, die Sie angesprochen haben, ist Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): es schwierig. Man hat manchmal keine richtige Antwort, Ich komme zum Schluss. – Wir fordern eine Kinder- aber man weiß, dass man handeln muss. grundsicherung, weil uns jedes Kind gleich viel wert ist. Klassenfahrten – das wissen Sie, glaube ich, genauso gut wie ich – gehören heute schon zum Bildungs- und Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Teilhabepaket. Frau Kollegin. (Beifall bei der CDU/CSU) Das Geld wird auch ausgezahlt, auch dann ausgezahlt, Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): wenn Eltern den Kinderzuschlag erhalten. Das gehört zur Meine Damen und Herren, wir stehen vor dem 1. Mai, Wahrheit dazu. dem Tag der Arbeit. Ich wünsche Ihnen allen einen schö- nen 1. Mai. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur auf Antrag!) Danke schön. 1 Milliarde Euro – das haben Sie auch angesprochen – (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- haben wir zusätzlich eingestellt. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Abg. Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi- schenfrage) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: – Ja, ich würde das zulassen. Vielen Dank für die guten Wünsche, Frau Kollegin. – Als letztem Redner des heutigen Tages erteile ich dem (Heiterkeit) 2880 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) Ich wollte Sie in Ihrem Redefuss nicht unterbre- Frau Kollegin Baerbock. chen. – Zunächst gibt es eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann. Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Maik Beermann (CDU/CSU): Vielen Dank. – Das Gute daran, dass wir alle ernst- Auch noch? – Okay. haft in der Sache diskutieren wollen, ist, dass wir uns gut austauschen können. Sie haben die Klassenfahrt ange- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sprochen. Sie fällt in das Bildungs- und Teilhabepaket, weshalb wir dieses Thema angehen müssen. Danach gibt es eine weitere Zwischenfrage. Ich habe in meiner Rede explizit – Ihr Kollege hat Maik Beermann (CDU/CSU): das noch einmal bestätigt und wiederholt –, das Problem beim Kinderzuschlag und beim Bildungs- und Teilhabe- Ja, denn man zu! paket hervorgehoben: Die Regelungen der Beantragung sind so komplex und kompliziert, dass zwei Drittel der- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: jenigen, die einen Anspruch auf einen Kinderzuschlag Wenn ich auch die noch zulasse, dann deshalb, weil es haben, diese Leistung nicht beantragen und daher auch so ein schöner Nachmittag ist. nicht erhalten. Weil aber die Folgeantragstellung beim BuT daran geknüpft ist, fahren die betroffenen Kinder Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): nicht mit auf Klassenfahrt, obwohl sie die Leistung ei- Na denn man zu! – Das werde ich tun. Danke schön, gentlich bekommen müssten. Herr Kollege Beermann. Wir plädieren für eine automatische Auszahlung, die wir, wie gesagt, schon gemeinsam mit Ihnen diskutiert Ich will Sie fragen: Sind Sie mit mir einer Meinung hatten. Es ist eine absolute Ungerechtigkeit, dass zum und erkennen, dass wir in Deutschland durch die Agen- Beispiel vom Finanzamt bei uns allen hier automatisch da 2010 seit 2005 den größten Niedriglohnsektor in Eu- geprüft wird: Bekommen wir das Kindergeld, oder ist der ropa entwickelt haben? Kinderfreibetrag das Bessere? Wir werden dann aufge- Sind Sie mit mir einer Meinung, dass durch den Nied- wertet, und dann bekomme ich zum Beispiel 294 Euro. riglohnsektor viele Menschen nicht mehr viel Geld ver- Bei denjenigen, die am meisten darauf angewiesen sind, dienen, einfach nichts mehr von dem Kuchen abbekom- bei denjenigen, die den Kinderzuschlag oder das Bil- (B) men, dass dadurch auch bei uns in Deutschland Armut dungs- und Teilhabepaket bekommen, ist das kein Au- (D) entstanden ist und sich vor allen Dingen die Kinderarmut tomatismus. Die müssen sich durch die Regelungen han- so stark entwickelt hat? geln und Querverbindungen zum Wohngeld herstellen, die dort mit reinspielen. In der Realität heißt das, dass Maik Beermann (CDU/CSU): diese Kinder nicht teilhaben können. Das wollen wir ge- meinsam ändern und den Kinderzuschlag an dieser Stelle Vielen Dank, Frau Kollegin Zimmermann, für die Fra- reformieren, was für das Bildungs- und Teilhabepaket ge. – Sie haben das Thema Kinderarmut angesprochen. entsprechende Konsequenzen hat, wie zum Beispiel die Ich habe vorhin schon gesagt, dass das ein akutes Thema automatische Auszahlung. ist. 21 Prozent der Fünfjährigen befnden sich dauerhaft oder wiederkehrend in einer Armutslage. Das ist die Re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN alität; die will ich gar nicht kleinreden. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD und des Abg. Matthias Seestern-­ Ich möchte nur darauf hinweisen, dass wir in den ver- Pauly [FDP]) gangenen Jahren etwas gegen Armut getan haben, indem wir Menschen in Arbeit gebracht und den Mindestlohn eingeführt haben. Die Kollegen Rix und Weinberg sind Maik Beermann (CDU/CSU): bereits darauf eingegangen. Wir haben erkannt, dass bei Das war zwar keine Frage, aber Sie dürfen ja auch den von Ihnen angesprochenen Themen gehandelt wer- Statements abgeben. den musste, deshalb haben wir es auch getan. Zudem (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE dürfen wir aktuell, Gott sei Dank, steigende Löhne fest- GRÜNEN]: Sie haben mich gefragt! Ich habe stellen. Unsere Tarifparteien tragen dazu bei, dass sich geantwortet!) die Löhne in die richtige Richtung entwickeln. Im Laufe meiner Rede wäre ich noch darauf gekommen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) jetzt mache ich die Ausführungen vorweg. Sie haben mit dem, was Sie sagen, recht: Wir müssen entbürokratisie- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ren. Genau das haben wir in den Koalitionsvertrag zwi- Herr Kollege Beermann, gestatten Sie eine Zwischen- schen CDU, CSU und SPD geschrieben. frage der geschätzten Kollegin Baerbock? Sie sagten vorhin aber auch: Ja, dann macht mal! Lie- be Kollegin Baerbock, die Bundesregierung ist gerade Maik Beermann (CDU/CSU): seit sechs Wochen im Amt. Wir sollten ihr schon die Aber natürlich. Möglichkeit geben, die Gesetzentwürfe, die sie in den Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2881

Maik Beermann (A) Deutschen Bundestag einbringen will, gründlich zu er- vorangetrieben. Wir haben dafür erst im April letzten Jah- (C) arbeiten. res Mittel in Höhe von 1,26 Milliarden Euro beschlossen, die wir den Ländern zur Verfügung gestellt haben. Wir (Zuruf von der LINKEN) haben dafür gesorgt, dass die Kindertagesbetreuungs- Wir werden noch vor der Sommerpause – der Staats- einrichtungen personell gut ausgestattet werden. Auf das sekretär Zierke aus dem Bundesministerium ist heute gute Kitagesetz, das wir noch vor der Sommerpause in hier – unter anderem einen Entwurf für ein verbesser- den Bundestag einbringen werden, habe ich hingewiesen. tes Kitagesetz einbringen. Das trägt dazu bei, dass wir Eltern in Arbeit bringen und eine vernünftige Betreuung Wir haben – ich habe es gesagt – den Mindestlohn gewährleisten können. eingeführt. Wir haben Maßnahmen getroffen, um Ver- einbarkeit von Familie, Pfege und Beruf zu fördern Ich gehe noch auf eine Sache ein, die Sie angesprochen und so Familien im Gesamten zu unterstützen. Dass haben: das Mittagessen. Ja, das Thema „Mittagessen für wir in der Großen Koalition all diese Maßnahmen auf Kinder“ ist aktuell von der Tagesordnung des Bundesrats den Weg gebracht haben, bedeutet nicht, dass wir nicht genommen. Wir haben es aber in den Koalitionsvertrag noch Weiteres zu tun haben. Insofern, liebe Kolleginnen aufgenommen, weil es – so wie der Kollege Weinberg und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und der Kollege Rix es dargestellt haben – zum Gesamt- lohnt sich der Blick in den Koalitionsvertrag; denn genau paket gehört. Wir sind weitsichtig und beschränken das die Dinge, die Sie angesprochen haben, stehen da drin, Thema Kinderarmut nicht ausschließlich auf den Bereich erweitert um weitere Schwerpunkte, wie zum Beispiel Kinderzuschlag. der qualitative und quantitative Ausbau der Kinderbe- treuung, Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Grundschule, die Erhöhung des Kindergelds um 25 Euro GRÜNEN]: Kinder essen nur jeden Tag!) und die damit verbundene entsprechende Erhöhung des Jetzt mache ich in meinem Skript weiter; die Uhr läuft. Kinderzuschlags. Wir haben vorab sehr intensiv über das Thema Armut diskutiert. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass arm In Ihrem Wahlprogramm steht, dass Sie das Bildungs- zu sein bei uns in Deutschland nicht einen Mangel an und Teilhabepaket mehr oder weniger abschaffen und die der Grundversorgung bedeutet. Das ist eine der Errun- Kindergrundsicherung einführen wollen. Das geht nicht. genschaften unseres Sozialstaates, auf die wir an dieser Das mag vielleicht unbürokratisch sein, ist aber eigent- Stelle einfach einmal stolz sein sollten und auf die wir lich das, was Sie der Bundesregierung immer vorwerfen: hinweisen dürfen. das Geld per Gießkannenprinzip und nicht zielorientiert auszuschütten. (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Armut lässt sich eben nicht immer nur in Geld messen. GRÜNEN]: Nein! Kostenloses Mittagessen!) Armut kann auch Bildungsarmut bedeuten. Aber Bildung und Teilhabe sind eben für die Persönlichkeitsentwick- – Doch! – Wenn wir überhaupt keine Kontrolle mehr lung jedes einzelnen Kindes von grundlegender Bedeu- darüber haben, ob das Geld, das wir aufwenden, auch tung. Dazu bedarf es nicht immer nur mehr Geld – nach tatsächlich bei den Kindern ankommt, dann fnde ich dem Motto: Geldpfaster drauf, und gut ist –; vielmehr persönlich das etwas schwierig. Genauso schwierig müssen wir dafür sorgen, dass unsere Kinder eine gute erscheint es mir auch, wenn man das machte, was Sie Bildung bekommen und dass Eltern einer Erwerbstätig- wollen, nämlich Kindergeld und Kinderzuschlag mitei- keit nachgehen können. Den Umstand, dass Armut nicht nander zu verbinden. Der Kinderzuschlag ist nun einmal am nachhaltigsten durch Sozial- und Transferleistungen, abhängig vom Einkommen der Eltern. Das Kindergeld sondern durch Erwerbstätigkeit der Eltern verhindert bekommt jeder. Weil wir diese Differenzierung haben, wird, lassen Sie in Ihrem Antrag, liebe Frau Kollegin wäre es absurd, das zusammenzuführen. Warum? Weil Baerbock, völlig außer Acht. Eine Berufstätigkeit der wir damit ein Riesenbürokratiemonster für alle Kinder- Eltern ist nicht nur ein Ausweg aus der Armut, sondern – geldberechtigten schaffen würden. und das ist das Wichtigste für mich – erfüllt eine Vorbild- funktion für die Kinder, die nachfolgende Generation. (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Dieses kann ein leistungsunabhängiges Bezuschussen GRÜNEN]: So ein Quatsch!) niemals leisten. Das ist nicht Sinn der Sache. (Beifall bei der CDU/CSU) Bei den von Ihnen aufgestellten Forderungen fehlt Die Kollegen Weinberg und Rix sind schon darauf mir der Weitblick. Sie lassen das Umfeld des Kindes eingegangen, was wir schon alles gemacht haben. Wenn komplett außer Acht. Aber nur wenn sich Familien als man solche Anträge liest, dann hört es sich ja immer so Gesamtes im Gleichgewicht befnden, geht es auch den an, als würden die Verantwortlichen in der Politik und in Kindern gut. der Bundesregierung das gar nicht im Blick haben und berücksichtigen. Wir haben in der letzten Legislaturpe- (Beifall bei der CDU/CSU) riode das Kindergeld erhöht, den Kinderzuschlag erhöht, und wir haben den Entlastungsbeitrag für Alleinerziehen- de erhöht. Wir haben den Unterhaltsvorschuss erweitert. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Wir haben den Ausbau der Kinderbetreuung entschieden Herr Kollege. 2882 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

(A) Maik Beermann (CDU/CSU): Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) Herzlichen Dank, Herr Kollege Beermann. – Damit Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Wir haben schließe ich die Aussprache. schon einiges gemacht und auch viel erreicht. Genauso viel liegt auch noch vor uns, dessen sind wir uns bewusst. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/1854 an die in der Tagesordnung aufge- Wir haben viele Dinge in unseren Koalitionsvertrag auf- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- genommen, die es umzusetzen gilt. Daran müssen wir verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung uns messen lassen. Eines steht fest – das ist das Ziel, an so beschlossen. dem mitzuarbeiten ich alle einlade –: Wir wollen Kinder- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- armut in Deutschland ausrotten. Wir werden gemeinsam nung. Bevor der 1. Mai stattfndet – der letzte Redner hat einen Masterplan gegen Kinderarmut entwickeln. Ich bin darauf hingewiesen –, haben wir noch ein Wochenende. dazu bereit. Ich hoffe, Sie auch. Ich wünsche Ihnen ein besonders erholsames und sonni- ges Wochenende. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Einen schö- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- nen 1. Mai und ein schönes Wochenende. Danke. tages auf Dienstag, den 15. Mai 2018, 10 Uhr, ein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Die Sitzung ist damit geschlossen. Herzlichen Dank. ordneten der SPD) (Schluss der Sitzung: 13.39 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018 2883

(A) Anlagen zum Stenografschen Bericht (C)

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Fischer (Karlsru- CDU/CSU 27.04.2018 Rief, Josef CDU/CSU 27.04.2018 he-Land), Axel E. Roth (Heringen), SPD 27.04.2018 Gabriel, Sigmar SPD 27.04.2018 Michael

Hakverdi, Metin SPD 27.04.2018 Schäfer (Bochum), Axel SPD 27.04.2018 Schäfer (Saalstadt), CDU/CSU 27.04.2018 Hampel, Armin-Paulus AfD 27.04.2018 Anita Hardt, Jürgen CDU/CSU 27.04.2018 Schimke, Jana * CDU/CSU 27.04.2018 Heinrich (Chemnitz), CDU/CSU 27.04.2018 Schulz, Jimmy FDP 27.04.2018 Frank Schulz, Martin SPD 27.04.2018 Held, Marcus SPD 27.04.2018 Schwabe, Frank SPD 27.04.2018 Herzog, Gustav SPD 27.04.2018 Solms, Dr. Hermann FDP 27.04.2018 Hocker, Dr. Gero FDP 27.04.2018 Otto Clemens Steinke, Kersten DIE LINKE 27.04.2018 (B) Jung, Andreas CDU/CSU 27.04.2018 (D) Tauber, Dr. Peter CDU/CSU 27.04.2018 Jurk, Thomas SPD 27.04.2018 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 27.04.2018 Knoerig, Axel CDU/CSU 27.04.2018 DIE GRÜNEN Korte, Jan DIE LINKE 27.04.2018 Vogel (Kleinsaara), CDU/CSU 27.04.2018 Volkmar Kotting-Uhl, Sylvia BÜNDNIS 90/ 27.04.2018 DIE GRÜNEN Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE 27.04.2018 Lämmel, Andreas G. CDU/CSU 27.04.2018 Ziemiak, Paul CDU/CSU 27.04.2018

Maas, Heiko SPD 27.04.2018 * aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Maier, Dr. Lothar AfD 27.04.2018

Mast, Katja SPD 27.04.2018 Anlage 2

Merkel, Dr. Angela CDU/CSU 27.04.2018 Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung

Mihalic, Irene * BÜNDNIS 90/ 27.04.2018 Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie DIE GRÜNEN gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen Müntefering, Michelle SPD 27.04.2018 absehen: Nastic, Zaklin DIE LINKE 27.04.2018 Auswärtiger Ausschuss Nietan, Dietmar SPD 27.04.2018 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Pasemann, Frank AfD 27.04.2018 Bericht der Bundesregierung zu Stand und Per- Petry, Dr. Frauke fraktionslos 27.04.2018 spektiven des deutschen Afghanistan-Engagements Remmers, Ingrid DIE LINKE 27.04.2018 Drucksache 19/1120 2884 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. April 2018

(A) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben (C) mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- Bericht der Bundesregierung zum Stand der Be- onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer mühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Beratung abgesehen hat. Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale (Jahresabrüstungsbe- richt 2017) Auswärtiger Ausschuss Drucksache 19/1380 Drucksache 19/1382 Nr. A.2 EuB-BReg 16/2018 Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsausschuss Haushaltsführung 2017 Drucksache 19/910 Nr. A.50 Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaus- KOM(2017)800 endg. haltsordnung über die Kenntnisnahme einer überplanmäßigen Ausgabe bei Kapitel 0633 Ti- tel 518 02 – Mieten und Pachten im Zusammen- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und hang mit dem einheitlichen Liegenschaftsmanage- Reaktorsicherheit ment – bis zur Höhe von 40,132 Mio. Euro Drucksache 19/1053 Nr. A.26 Ratsdokument 5424/18 Drucksachen 18/13027, 19/1409 Nr. 6 Drucksache 19/1053 Nr. A.27 Ratsdokument 5454/18 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 19/1053 Nr. A.28 Ratsdokument 5477/18 Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung Drucksache 19/1053 Nr. A.29 der Finanzhilfen des Bundes und der Steuerver- Ratsdokument 5478/18 günstigungen für die Jahre 2015 bis 2018 (26. Sub- Drucksache 19/1053 Nr. A.30 ventionsbericht) Ratsdokument 5479/18 Drucksache 19/1053 Nr. A.31 Drucksachen 18/13456, 19/1409 Nr. 11 Ratsdokument 5485/18 Drucksache 19/1053 Nr. A.32 Ratsdokument 5846/18 (B) – Unterrichtung durch die Delegation des Deutschen (D) Bundestages in der Interparlamentarischen Konferenz über Stabilität, wirtschaftspolitische Koordinierung und Steuerung in der Europäischen Union Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Neunte Tagung der Konferenz am 30. und 31. Ok- tober 2017 in Tallinn (Estland) Drucksache 19/1053 Nr. A.33 Ratsdokument 5271/18 Drucksachen 19/705, 19/899 Nr. 2 Drucksache 19/1053 Nr. A.34 Ratsdokument 5282/18 Drucksache 19/1053 Nr. A.37 Ausschuss für Gesundheit Ratsdokument 5820/18 – Unterrichtung durch die Bundesregierung

Erster Bericht der Bundesregierung über die Er- Ausschuss für Kultur und Medien fahrungen mit der Präimplantationsdiagnostik Drucksache 19/910 Nr. A.137 Drucksachen 18/7020, 19/1709 Nr. 47 EP P8_TA-PROV(2017)0303

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