Cover_201210.indd 111 internationale deutsche und Blätter für Politik 4.1, StandC 105. finden unsinHalle Ihren Besuch.Sie Wir freuen unsauf vom 10. - 14. Oktober. Buchmesse 2012 auf der Frankfurter Der »Blätter«-Verlag

Blätter 10’12 Im Abo 6,15/4,70 € Im Abo6,15/4,70 Einzelheft 9,50 Verfassungsschutz Claus Leggewie und Das infernalische € Peter Bofinger Sonderweg Horst Meier Dreieck internationale deutsche und Blätter für Politik Anne Britt Arps Britt Anne Chávez Schlacht letzte Birnbaum Norman Loyalität der Dilemma Das jüdische Scharenberg Albert Die USA Wahlkampffi im eber Christoph Butterwegge Altersarmut der Wiederentdeckung vonUrsula Leyen der die oder Ulrike Baureithel Fetisch Selbstbestimmung Butler Judith Gibt es ein gutes Leben im schlechten? 10’12 18.09.12 13:11 Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 57. Jahrgang Heft 10/2012

Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Norman Birnbaum . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel Claus Leggewie . Ingeborg Maus Klaus Naumann . Jens Reich Rainer Rilling . Irene Runge Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen

Weitergeführt von Karl D. Bredthauer

Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 1 19.09.12 11:07 INHALT KOMMENTARE UND BERICHTE 10’12 5 Obama vs. Romney: Die USA vor der Wahl Albert Scharenberg

9 Von zu Paul Ryan: Kapitalismus als Moral Stefan Wallaschek

13 Der immergrüne Antisemitismus Albrecht von Lucke

18 Die Wachstums-Enquete: Parlamentarische Sackgasse? Ulrich Brand

22 Tierschutz per Gesetz: Ein Ende der Quälerei? Jens-Eberhard Jahn

26 Rechtsruck in Hellas Michael Oswald

REDAKTION 29 Rumänien: Anne Britt Arps Leere Hülse Demokratie Daniel Leisegang Norbert Mappes-Niediek Albrecht von Lucke Annett Mängel 34 Chávez letzte Schlacht Anne Britt Arps BESTELLSERVICE Tel: 030 / 3088 - 3644 38 Humanitäre Hilfe oder E-Mail: [email protected] die Politik der Empörung Charlotte Dany ANZEIGEN Tel: 030 / 3088 - 3646 DEBATTE E-Mail: [email protected] 42 Eurorettung: Die Entmach- WEBSITE tung des Souveräns www.blaetter.de Thilo Bode

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 2 19.09.12 11:07 ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

51 Das infernalische Dreieck Wie Staatsschuldenkrise, Bankenkrise und Rezession den Euroraum gefährden Peter Bofinger

63 »Verfassungsschutz« Über das Ende eines deutschen Sonderwegs Claus Leggewie und Horst Meier

75 Ursula von der Leyen oder: Die Wiederentdeckung der Altersarmut Christoph Butterwegge

85 Das Dilemma der Loyalität Die US-amerikanischen Juden und der israelisch-iranische Konflikt Norman Birnbaum

97 Kann man ein gutes Leben im schlechten führen? Judith Butler

109 Fetisch Selbstbestimmung PID bis Demenz: Erkundungen im

biopolitischen Feld MEDIENKRITIK Ulrike Baureithel 119 »Taa-taa, ta ta ta taaa« Kolumne Daniel Leisegang

47 Ostasien: Inseln des EXTRAS Nationalismus Ian Buruma 49 Kurzgefasst 124 Dokumente BUCH DES MONATS 125 Chronik des Monats August 2012 120 Gegengift 128 Zurückgeblättert Volkssouveränität 128 Impressum und Oliver Eberl Autoren

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 4 19.09.12 11:07 kommentare und berichte

Albert Scharenberg Obama vs. Romney: Die USA vor der Wahl

Mit den Nominierungsparteitagen der Barack Obama, nach zwei Amtszeiten Republikaner und Demokraten ist der von George W. Bush und dem Aus- Präsidentschaftswahlkampf in den bruch der Immobilien- und Finanzkri- Vereinigten Staaten in die heiße Pha- se auf einer Welle des Enthusiasmus se eingetreten. Beide Seiten trommeln ins Weiße Haus gewählt, stand seit für die Wahl, als ginge es um das letzte seinem Amtsantritt unter massivem Gefecht. Druck. Denn unmittelbar nach Januar Und in der Tat: Auch wenn die rea- 2009 formierte sich die stramm rechte len Unterschiede in der Politik von Tea-Party-Bewegung; sie mobilisier- Demokraten und Republikanern kei- te einen von Rassismus durchsetzten neswegs so groß sind, wie sie im poli- Gegenangriff – einen backlash gegen tisch-kulturellen Diskurs erscheinen, den ersten afroamerikanischen Präsi- handelt es sich dieses Mal doch um denten in der Geschichte der USA, und eine innenpolitische Richtungsent- zwar nicht zuletzt dank großzügiger scheidung über den Kurs des Landes, finanzieller Unterstützung rechtsge- vor dem Hintergrund des „American richteter Konzerne und Privatiers. decline“. Von Beginn an stießen Obamas Präsident Barack Obama hält seit wichtigste innenpolitische Reform (der Monaten in allen Umfragen einen Affordable Health Care Act) wie auch knappen, aber stabilen Vorsprung vor seine Konjunkturprogramme auf mas- Mitt Romney, der sich durch den Nomi- sive Kritik aus dem rechtskonservati- nierungsparteitag noch einmal vergrö- ven Lager. Im Zuge des rasanten Auf- ßert hat. Angesichts des blassen und stiegs der Tea-Party-Bewegung und weitgehend inhaltsleeren Parteitags aufgrund der anhaltenden Konjunk- der Republikaner und des vergleichs- turschwäche in den USA erlitten die weise schillernden Auftritts der De- Demokraten bei den Kongresswahlen mokraten bei der Nominierung Oba- 2010 dramatische Verluste: Die Mehr- mas scheint hierzulande vielen Beob- heit im Senat schrumpfte erheblich, achtern die Wahl bereits entschieden.1 und im Repräsentantenhaus stellten Das aber ist keineswegs der Fall. die Republikaner fortan die Mehrzahl der Abgeordneten.2 Die Politik der Republikaner war Der republikanische Marsch von Beginn an allein darauf angelegt, nach rechts außen wieder die Macht im Weißen Haus zu übernehmen. Dabei legte die Par- Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt tei eine Blockadepolitik an den Tag, in der Obstruktionspolitik der Repub- die ihresgleichen sucht. Selbst Pro- likaner und dem Rechtsschwenk der gramme zur Stützung der Konjunktur Geschäftswelt. wurden regelmäßig allein mit einem

1 Vgl. z. B. Sebastian Fischer, US-Präsident- schaftskandidat Romney: Ein Mann will nach 2 Vgl. Albert Scharenberg, Gibt Obama jetzt den unten, in: „Spiegel Online“, 15.9.2012. Clinton? In: „Blätter“, 12/2010, S. 5-8.

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Ziel abgelehnt: damit schlechte Wirt- stimmung, sind diese Sympathien für schaftsdaten Obamas Wiederwahl er- mögliche, wenn auch kleine Reform- schweren oder gar unmöglich machen. schritte inzwischen geschwunden – Hinzu kommt, dass die Republikaner und damit auch die Unterstützung für sich nicht scheuen, sprichwörtlich zu das Programm des Präsidenten. Trotz lügen, dass sich die Balken biegen: Da des financial meltdown, trotz Deepwa- werden Obama-Zitate aus dem Kontext ter Horizon, trotz sichtbarer erster Aus- gerissen und in ihr Gegenteil verkehrt, wirkungen des Klimawandels, trotz fiktive Zahlen als „Belege“ angeführt, tödlicher Grubenunfälle aufgrund wissenschaftliche Erkenntnisse, etwa von Sicherheitsmängeln wünscht das zum Klimawandel, zu bloßen „Mei- Unternehmerlager offenbar ganz über- nungen“ degradiert und Sachverhalte wiegend eine Rückkehr zu Deregulie- frei erfunden („Obama will Euch die rung und trickle down. Und man will, Waffen wegnehmen“). nach Jahrzehnten kontinuierlicher Was das Ganze aber noch schlim- Steuersenkungen, nun offensichtlich mer macht, ist der Umstand, dass sich überhaupt keine Steuern mehr zahlen. die meisten Leitmedien in ihrem Stre- Zudem hat eine in Deutschland viel ben nach vermeintlich „objektiver“ zu wenig beachtete Entscheidung des Berichterstattung mittlerweile weitge- Obersten Gerichtshofs die Kräftever- hend eines Kommentars enthalten. Al- hältnisse im Wahlkampf kräftig ver- lein, formale Ausgewogenheit à la „Die schoben: Mit „Citizens United“ (2010) einen sagen dies, die anderen das” hat verfügte das Gericht nämlich, Unter- bekanntlich nichts mit Objektivität zu nehmen bei ihren Wahlkampfspenden tun. Aaron Sorkin, Autor der Fernseh- nunmehr freie Hand zu lassen. Spen- serien „West Wing” und „Newsroom“, den an sogenannte Super PACs, die die brachte dies jüngst in einem Interview Kandidaten unterstützen, müssen seit- auf den Punkt: Wenn morgen sämt- dem nicht mehr offengelegt werden. liche Republikaner im Kongress be- Dadurch erhöht sich das finanzielle haupteten, die Erde sei eine Schei- Volumen des Präsidentschaftswahl- be, sagt Sorkin, würde die „New York kampfs fast ins Unermessliche – bis Times” am nächsten Tag titeln: „De- November werden mehrere Milliarden mokraten und Republikaner uneins Dollar ausgegeben werden.4 über Form der Erde“.3 In den letzten Monaten übertrafen die Spenden für Mitt Romney dieje- nigen für Obama insgesamt deutlich. Die Rechtswende der Geschäftswelt Das lässt für die Aussichten von Oba- mas Kampagne nichts Gutes erahnen. Die Radikalisierung der republikani- Dabei marschierte Romney den ge- schen Partei erklärt sich jedoch kei- samten Sommer über von einem Fett- neswegs nur durch den Aufschwung napf schnurstracks in den nächsten. der Tea Party. Sie ist vielmehr Aus- Schier unübersehbar wurde, was für druck einer Rechtswende innerhalb ein schwacher und höchst angreifba- der Konzernwelt. rer Kandidat der frühere Gouverneur Stießen noch vor vier Jahren mo- von Massachusetts ist – und zwar nicht derate Reformansätze, etwa der Aus- nur wegen seiner blassen Erscheinung bau umweltfreundlicher Technologien und seines ständigen Lavierens selbst oder die Re-Regulierung bestimmter auf politischen Kernfeldern, sondern Branchen (speziell der Banken), auch bei manchem Unternehmer auf Zu- 4 Vgl. Robert B. Reich, Mitt Romney und das neue vergoldete Zeitalter, in: „Blätter“, 9/2012, S. 45-52; Ethan Young, Die gekaufte Schlamm- 3 Vgl. Katrina vanden Heuvel, Two Cheers for schlacht. Obama, Romney und der Kampf ums „The Newsroom“, www.thenation.com, 9.8.2012. Weiße Haus, www.rosalux-nyc.org.

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vor allem in „privaten“ Angelegen- bekannt geworden ist der – letztlich er- heiten. Romney weigert sich als ers- folgreiche – Versuch des Gouverneurs ter Präsidentschaftskandidat über- von Wisconsin, Scott Walker, den Ge- haupt, seine Steuererklärungen um- werkschaften des öffentlichen Diens- fassend offenzulegen; offenbar fürch- tes das Recht auf Tarifverhandlungen tet er, dass die allseits geforderte Ver- zu entziehen. Unternehmen und Repu- öffentlichung seiner Kandidatur mehr blikaner scheinen einig in ihrem Vor- Schaden zufügen würde als ihre wei- haben, die letzte echte Hochburg der tere Geheimhaltung. Er hat als Verant- US-Gewerkschaften, den öffentlichen wortlicher von Bain Capital massen- Dienst, zu zerschlagen und das Land haft Arbeitsplätze ins Ausland verla- damit endgültig zur gewerkschafts- gert, während er selbst Konten in der freien Zone zu machen.5 Schweiz und auf den Kaiman-Inseln anlegte. Mit Paul Ryan hat er zudem einen knallharten Austeritätspolitiker Der Angriff auf das und fanatischen Abtreibungsgegner allgemeine Wahlrecht (ohne jedwede Ausnahme) zu seinem running mate gemacht. Die Republikaner verfügen also – in Romney/Ryan setzen auf das kur- materieller wie ideologischer Hinsicht ze Gedächtnis der Wählerinnen und – durchaus über die erforderlichen Wähler, indem sie die Verantwor- Mittel, Obamas Umfragevorsprung in tung für die stockende Konjunktur den letzten Wochen des Wahlkampfs ausschließlich Obama in die Schuhe noch wettzumachen. schieben – als wäre es nicht die Poli- Doch im Grunde kommt es gar nicht tik Bushs gewesen, die das Land in darauf an, wer in nationalen Umfragen die größte Wirtschaftskrise seit den – und sogar bei der Wahl selbst! – die 1930er Jahren getrieben hat. Sie wol- Nase vorn hat. Denn im antiquierten len die ohnehin geringen Steuern für US-Wahlsystem wird die Wahl in den Reiche (Romney zahlte zuletzt 14 Pro- Bundesstaaten entschieden. Es ist in zent Steuern auf sein Einkommen) der Geschichte der USA bereits vier weiter senken (Romney selbst wür- Mal vorgekommen, dass der Kandi- de dann weniger als ein Prozent Steu- dat, der die meisten Stimmen erzielte, ern zahlen); gleichzeitig beklagen sie nicht Präsident wurde. Zuletzt erhielt das Haushaltsdefizit, das durch diese der – schlussendlich durch den Obers- Maßnahme weiter vergrößert würde. ten Gerichtshof ernannte – George Zugleich geben sie im Wahlkampf kei- W. Bush im Jahre 2000 über eine hal- ne konkrete Auskunft darüber, wo sie be Million weniger Stimmen als sein sparen, sondern allenfalls, wo sie nicht Gegenkandidat, Al Gore. Das liegt sparen wollen, nämlich bei den Mili- daran, dass in jedem der 50 Staaten tärausgaben. separat über den Sieger entschieden Dennoch ist die republikanische wird. Unabhängig von der Höhe seines Agenda eindeutig: Vizepräsident- Stimmenvorsprungs werden dem Sie- schaftskandidat Paul Ryan, Darling ger sämtliche Wahlmänner zugespro- der rechtskonservativen Tea-Party- chen, welche wiederum den Präsiden- Szene, ist der Verfasser des knallhar- ten wählen. Ein Vorsprung in den na- ten republikanischen Haushaltsent- tionalen Umfragen sagt deshalb, ins- wurfs. Und auch auf Bundesstaatsebe- besondere wenn er knapp ausfällt, nur ne sind die republikanischen Gouver- wenig darüber aus, wer letztlich die neure wenig zurückhaltend: Sie for- Wahl gewinnen wird. dern, die Haushaltslücken durch mas- 5 Vgl. John Nichols, Die neue Linke in Amerika. sive Gehaltssenkungen beim öffentli- Politische Lehren aus Wisconsin, Ohio und Oc- chen Dienst zu kompensieren. Jüngst cupy, in: „Blätter“, 8/2012, S. 37-49.

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Das Wahlsystem führt zugleich da- Gerichtsbeschlusses, der diese Praxis zu, dass sich der Wahlkampf der Par- verbot.6 teien im Wesentlichen auf diejenigen Es steht also nicht eben gut um die Bundesstaaten konzentriert, in denen älteste Demokratie der Welt: Während der Ausgang noch offen ist. In der Pra- der Supreme Court den Konzernen mit xis bedeutet dies, dass in weniger als „Citizens United“ fast unbeschränk- einem Dutzend Bundesstaaten über- ten Einfluss auf den Wahlkampf eröff- haupt ernsthaft Wahlkampf betrieben net hat, wird gleichzeitig vielen Armen wird – die Staaten, in denen eine Partei und Angehörigen der Minderheiten deutlich vorn liegt, werden von der an- das Wahlrecht entzogen. deren Partei schlicht abgeschrieben. Die Republikaner machen all dies Der Wahlkampf wird daher auch aus klarem Kalkül und einem einzi- dieses Mal vor allem in den Swing gen Grund: weil sie schon jetzt nur States – allen voran Florida, Virginia noch eine Minderheit repräsentieren, und Ohio – ausgefochten. nämlich die der weißen Männer als die Für die Republikaner wurde dies Kerngruppe ihrer Wählerschaft. Nach zum Einfallstor für eine perfide Stra- ihrer Rechtswende – mit Immigranten- tegie: Ganz gezielt haben sie in den Bashing, kaum verhülltem Rassismus, Swing States, in denen sie 2010 die fanatischer Abtreibungsgegnerschaft Gouverneurswahlen gewannen, Ge- – und angesichts der sich rapide verän- setze erlassen, die die Teilnahme an dernden demografischen Zusammen- Wahlen an die Vorlage eines Ausweis- setzung der Bevölkerung, mit einem papiers mit Foto knüpfen. Was in der starken Wachstum vor allem des An- Bundesrepublik wie selbstverständlich teils der Latinos, können die Republi- klingt, ist es in den USA keineswegs, kaner die Wahlen nur so gewinnen. denn hier besitzen viele Menschen keinen Pass und etliche auch keinen Führerschein. Ganz überwiegend be- Obamas Bilanz troffen von diesen Gesetzen sind Af- roamerikaner und Latinos – und da- Präsident Barack Obama steht also, mit genau jene Wählergruppen, die trotz eines für die Demokraten gelun- Obama 2008 ins Amt gehievt haben. genen Nominierungsparteitags, wei- In Staaten wie Ohio und Pennsylvania ter unter massivem Druck von rechts. sind von dieser Maßnahme fast zehn Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Prozent der registrierten Wählerinnen Ergebnisse seiner Reformvorhaben, und Wähler betroffen – das könnte sich misst man sie an den hohen Erwar- als wahlentscheidend erweisen. tungen, innen- wie außenpolitisch Faktisch haben die Republikaner ausgesprochen dürftig sind. Vor allem auf diese Weise das Recht der allge- aber stockt der wirtschaftliche Auf- meinen, freien Wahl ausgehebelt. Und schwung; die offizielle Arbeitslosen- sie gehen noch weiter: In Ohio bei- rate liegt weiterhin bei über acht Pro- spielsweise haben sie durchgesetzt, zent; inoffiziell ist sie sogar mindes- dass die Wahllokale in manchen Ge- tens doppelt so hoch. genden nur am Wahltag, der in den Entsprechend grassiert die Enttäu- USA ein regulärer Arbeitstag ist, ge- schung, sowohl in der demokratischen öffnet sind, während sie in anderen Kernwählerschaft als auch vor allem Bezirken tagelang offenstehen. Un- in der Occupy-Wall-Street-Bewegung, nötig zu sagen, dass es sich bei erste- die sich im Herbst 2011 gebildet und ren um demokratische, bei letzteren die Linke in den USA erstmals seit um republikanische Hochburgen han- 6 Vgl. Steven Rosenfeld, Ohio‘s GOP Secretary of delt. Zuletzt verweigerten die Amtsin- State Ignores Court Order To Expand Weekend haber hier sogar die Umsetzung eines Voting, www.alternet.org, 4.9.2012.

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Jahrzehnten wieder politisch sichtbar Allerdings fährt Obama mit dieser gemacht hat. Gerade die wachsende Strategie angesichts des überborden- soziale Ungleichheit ist erst durch die- den Einflusses der Großunternehmen se Bewegung wieder thematisiert und auf die US-Politik einen ausgesprochen dadurch auch vom Mainstream wahr- waghalsigen Kurs. Auch wenn aus dem genommen worden. Präsidenten gewiss kein grundsätzli- Das Team Obama/Biden scheint in- cher Gegner der neoliberalen Konzern- zwischen erkannt zu haben, dass es dominanz mehr werden wird, dürfte die Mehrheit der business community seine Kritik an bestimmten Geschäfts- nicht wird gewinnen können. Deshalb praktiken das Misstrauen gegenüber bezieht sich der Wahlkampf der Demo- einer zweiten Amtszeit Obamas an der kraten indirekt immer stärker auf die Wall Street weiter vergrößern. Occupy-Bewegung, ja er setzt inzwi- Im Falle seiner Wiederwahl wird schen auf einen populistischen Kurs, Obama auf jeden Fall unter starken der die soziale Ungleichheit zumin- Druck der Konzerne geraten; eine dest verbal aufgreift, die Verfehlungen grundlegende Abkehr vom Neolibe- der Wall Street geißelt und offen auf ralismus ist schon deshalb nicht zu er- die middle class sowie auf mehr Steu- warten. Fest steht aber auch: Sollten ern für Reiche setzt. Auch scheut man Romney/Ryan gewählt werden, wer- sich nicht länger, wie der Parteitag ein- den die Republikaner ihren Sieg als drucksvoll demonstrierte, die eigene Mandat zum Generalangriff auf die Politik, allen voran die Gesundheits- Errungenschaften des New Deal inter- reform, offensiv zu verteidigen. pretieren.

Stefan Wallaschek Von Ayn Rand zu Paul Ryan: Kapitalismus als Moral

Neben Mitt Romney als Hauptheraus- neur drastische Kürzungen im öffent- forderer von Barack Obama ist in den lichen Dienst vornahm und die Rechte Vereinigten Staaten offenbar ein neuer der ohnehin schwachen Gewerkschaf- Politstar im Werden, der vorher ledig- ten massiv einschränkte.1 lich in Teilen der US-Medien als Ge- Ryan soll nun die erheblichen heimtipp galt: Paul Ryan. Seit dem No- Schwachstellen des Präsidentschafts- minierungsparteitag der Republikaner kandidaten Romney wettmachen und wird der 42jährige bereits als Spitzen- vor allem bei der rechtskonservativen kandidat für die Wahl 2016 gehandelt. Tea-Party-Bewegung punkten. Hier Er gilt als knallharter Kürzungs- und steht der strenge Katholik Ryan hoch Haushaltsexperte und sitzt als Abge- im Kurs, zudem gibt er sich auch in der ordneter im Repräsentantenhaus für Öffentlichkeit bürgernah, anders als Wisconsin. Ebendieser Bundesstaat 1 Vgl. John Nichols, Die Neue Linke in Amerika. war es, der 2011 und Anfang 2012 für Politische Lehren aus Wisconsin, Ohio und Oc- Furore sorgte, weil der dortige Gouver- cupy, in: „Blätter“, 8/2012, S. 37-50.

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der wohlhabende Ex-Finanzmanager der Menschen und damit für den Men- Romney. schen selbst. Verfolgt man die Berichte über Ryan, dann taucht als sein intellektuelles Vorbild immer wieder ein Name auf, Die Vernunft der Ayn Rand der im deutschsprachigen Raum bis heute wenig bekannt ist: Ayn Rand. Verständlich wird das radikale Frei- Anders ist die Lage in den USA: Dort heitspathos der Ayn Rand nur durch erreichte Rands Roman „Atlas shrug- ihre eigene Geschichte. Rand wurde ged“ bei einer Umfrage im Jahr 1991 1905 in Russland geboren. Nach der nach der Bibel den zweiten Platz der Oktoberrevolution enteignete man einflussreichsten Bücher. Von Paul ihren Vater, Apotheker jüdischer Ab- Ryan wird zudem die Anekdote er- stammung, was die soziale Sicherheit zählt, dass er all seinen Mitarbeite- der Familie massiv bedrohte. Trotz- rinnen und Mitarbeitern empfiehlt, dem konnte Rand in ihrer Geburtsstadt den oben genannten Roman zu lesen St. Petersburg Philosophie und Ge- – auch wenn er im Wahlkampf bemüht schichte studieren und verließ schließ- ist, etwas von seiner Ideengeberin ab- lich 1926 Russland in Richtung USA. zurücken. Was auch kein Wunder ist: Diese Schicksalsschläge in jungen Denn die Kernbotschaft Ayn Rands ist Jahren trugen sicherlich maßgeblich so radikal, dass sie selbst für einige Re- dazu bei, dass Rand einen strikten publikaner gewöhnungsbedürftig ist. Antikommunismus vertrat. Aber mehr In Ayn Rands Perspektive spielt die noch: In ihren Romanen und Essays Gesellschaft schlicht gar keine Rol- lehnt sie jede Form von Gesellschaft le.2 Soziale Gruppen: überflüssig. Eh- und damit auch von Gesellschafts- renamtliches Engagement: ebenfalls. theorie ab. In ihrem Hauptwerk „Atlas Denn: Jeder ist allein für sich selbst shrugged“, welches in deutscher Über- verantwortlich. Das Grundprinzip ei- setzung „Atlas wirft die Welt ab“ heißt, ner kapitalistischen Produktionsweise vertritt sie einen radikalen Egoismus, – der Schutz des persönlichen Eigen- der in ihrem Verständnis allein auf Ob- tums – darf hingegen in keiner Weise jektivität, Rationalität und Vernunft angetastet und muss gegen jegliche beruht. Einflüsse verteidigt werden. Diese blo- Die Realität basiert nach Rand auf ße Abwehrfunktion soll der Staat als rational erfahrbaren Begebenheiten Inhaber des Gewaltmonopols über- und Beobachtungen. Diese machten nehmen – bei Aufrechterhaltung der es möglich, die Welt objektiv zu erfas- Sicherheit für die Bürgerinnen und sen (womit Rand in Zeiten der Postmo- Bürger. Alle weiteren staatlich-öko- derne, wo alles relativ zu sein scheint, nomischen Regulations- oder Vertei- eher antiquiert wirkt). Rand zufolge lungsmaßnahmen hält Rand dagegen sind auch unsere Werte, die unser täg- für unnötig, ja sogar für absolut ne- liches Handeln bestimmen, allein ver- gativ. Zudem widersprechen sie auch nunftbasiert. Ihre Überlegungen zum ihren Vorstellungen von der Selbstver- Egoismus gehen dabei so weit, dass sie wirklichung der Menschen, die allein das persönliche Streben nach „Höhe- durch einen völlig freien Kapitalismus rem“ als intrinsische Moral der Men- garantiert wird. Lediglich die kapi- schen ansieht. In einem quasi natu- talistische Eigendynamik, seine ste- ralistischen Verständnis schreibt sie te Erneuerung und Umwälzung, sind den Menschen ein, was gut ist, womit für Rand konstitutiv für die Freiheit sie sich auf eine aristotelische Position beruft: Jede Person strebe nach seiner 2 Vgl. , Ayn Rand versus Karl Marx, in: „International Journal of Social ”, persönlichen Erfüllung; und da dies je- 2/1994, S. 54-67. der Mensch willentlich tue, ist es ratio-

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nal. Im Umkehrschluss bedeutet das, there are families“, lautete bekanntlich, dass jeder Mensch, der nicht versucht, ganz im Geiste Ayn Rands, der Leit- aus seinem Leben das Beste zu ma- spruch der Eisernen Lady. chen, irrational handelt. Wie einflussreich Rands Philosophie „Das Beste und Höchste“ im Sinne dagegen bis heute ist, zeigt sich an Rands ist jedoch allein die Verwirkli- zwei höchst disparaten Phänomenen. chung in der ökonomischen Sphäre. Zum einen bezeichnete die bekannte Statt eines Bildes vom citoyen, der sich Literatur- und Theaterwissenschaft- in der Gesellschaft engagiert und ak- lerin Mimi Gladstein Rands Ideen be- tiv für einen demokratischen Willens- reits 1978 als sehr anschlussfähig für bildungsprozess einsetzt, reduziert liberale Feministinnen. Für diese gelte Rand die Menschen auf den bourgeois, es nicht mehr als Ideal, für Mann und der nur in ökonomischen Kategorien Familie zu arbeiten, sich unterzuord- denkt und auf keinen anderen als auf nen und die Wünsche anderer zu er- sich selbst zu achten braucht. Die ato- füllen, sie arbeiteten vielmehr allein misierte Gesellschaft und das freie für sich selbst. Rands Maxime, sich Spiel der Kräfte auf dem Markt sind in selbst zu verwirklichen und dabei kei- Rands Philosophie die anzustrebende ne Rücksicht auf das vermeintlich star- Utopie. ke Geschlecht zu nehmen, habe Frau- Rands Programm, vollständig um- en die Augen geöffnet und sei unter gesetzt, bedeutet einen reinen Laissez- feministischen Gesichtspunkten hoch faire-Kapitalismus als ökonomische relevant.4 Basis und einen bloßen Minimalstaat Zum anderen ist hier der ehemali- als dessen Überbau. Wie Fred Miller ge Chef der US-Notenbank Fed, Alan schreibt, verteidigt Rand „den Mini- Greenspan, zu nennen, der mit Rand malstaat gegen die zu ihrer Zeit vor- bis zu deren Tode im Jahr 1982 eng be- herrschenden totalitären und wohl- freundet war. Bevor er Rand kennen- fahrtsstaatlichen Ideologien“3 – wo- lernte, so Greenspan, sei er ein „freier mit er jedoch offenbar nicht nur auf Unternehmer im Sinne von Adam die kommunistisch geprägte Jugend Smith gewesen, beeindruckt von der Rands anspielt, sondern auch auf die theoretischen Struktur und Effizienz Zeit des keynesianischen New Deal der Märkte“. Erst Rand verdanke er unter Roosevelt in den USA der 1930er die Erkenntnis, „dass der Kapitalismus Jahre. nicht nur leistungsfähig und zweck- mäßig ist, sondern auch moralisch“.5 Diese moralische Aufladung des Ökonomie ohne Staat: Kapitalismus strahlt bis heute in die Moralischer Kapitalismus US-amerikanische Gesellschaft und vor allem in die republikanische Partei Dass Rands Überlegungen durch- aus: Ganz im Sinne Ayn Rands enga- aus anschlussfähig sind, haben in den giert sich etwa das nach ihr benannte 1980er Jahren bereits Ronald Reagan , ein 1985 gegrün- und Margaret Thatcher bewiesen, mit deter Think Tank, fast missionarisch ihrem neoliberalen Staatsabbau und für einen radikal freien Kapitalismus der Zerstörung der Gesellschaft. „There – und damit dezidiert gegen die Ge- is no such thing as society. There are sundheitsreform Barack Obamas oder only individual men and women, and 4 Mimi R. Gladstein, Ayn Rand and Feminism: 3 Eigene Übersetzung aus Fred D. Miller Jr., An Unlikely Alliance, in: „College English”, A Philosopher for the New Millennium? In: 6/1978, S. 680-685, hier: S. 684. „Reason Papers. A Journal of Interdisciplinary 5 Eigene Übersetzung, Allan J. Mayer, Jane Normative Studies”, 1998, S. 66-69, hier: S. 68, Whitmore und Pamela Lynn Abraham, Green- www. reasonpapers.com. span – Atlas Jogs, in: „Newsweek”, 24.2.1975.

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höhere Umweltstandards für die Wirt- macht in den USA nur etwa zwei Pro- schaft. zent der Wahlstimmen aus – von der Tea-Party-Bewegung von Anfang an mit großer Skepsis betrachtet. Zankapfel Religion Auch deshalb kann es nicht verwun- dern, dass sich der Katholik Paul Ryan Problematisch für die Republikaner, von den Ansichten Rands distanzier- und speziell für ihre starke christlich- te und stattdessen Thomas von Aquin fundamentalistische Fraktion, wird es als neuen Ideengeber präsentierte.8 hingegen, wenn es um Ayn Rand und Die Ironie der Geschichte: Gleichzeitig das Thema Religion geht. Rand war be- distanzierte sich das Ayn Rand Institu- kennende Atheistin, was ihrer eigenen te in dieser Frage von Ryan, der zuvor Philosophie zufolge nur konsequent schon als „Ayn-Rand-Kandidat“ be- ist. Denn nach Rands philosophischen zeichnet worden war, indem es seine Grundlagen würden religiöse Vor- Position zu sozialer Sicherheit scharf stellungen den rationalen Egoismus kritisierte. Das Institut wirft dem repu- der Menschen nur behindern. Zudem blikanischen Haushaltsexperten vor, passt eine christliche Soziallehre in- die Ausgaben für Soziales im Budget- klusive Nächstenliebe und Mildtätig- plan zu erhöhen, woraufhin ein Mit- keit so gar nicht ins Programm eines arbeiter des Instituts sofort klarstellte: radikalen Laissez-faire-Kapitalismus. „Rand will die soziale Sicherheit nicht Anders dagegen ist die gesellschaft- bewahren; sie will sie beenden.“9 liche Lage in den USA: Hier spielt Reli- gion eine sehr wichtige und in den letz- ten Jahren immer zentralere Rolle. Das Die USA vor einem Kurswechsel? zeigt sich auch daran, dass es jüngst sogar der keineswegs überschießend Und dennoch: Wer die Republikaner religiöse Barack Obama für geboten angesichts dessen nur als politisch hielt, in letzter Sekunde zu intervenie- zerrissen begreift und Obama daher ren, weil das Wahlprogramm der De- einen ungefährdeten Sieg prognosti- mokratischen Partei weder die Bibel ziert, begeht einen gefährlichen Feh- zitierte noch Jerusalem als Hauptstadt ler.10 Der moralischen Ambivalenz und Israels benannte.6 thematischen Schwäche der Republi- Robert Hoffert weist zu Recht darauf kaner steht keineswegs die Stärke der hin,7 dass die ehemals tolerante Zivil- Demokraten gegenüber. Ein Präsident, religion in den USA, in der grundsätz- der mit dem Versprechen nach Change lich Privatsache war, an was geglaubt angetreten ist und sich nun vor allem wurde – Hauptsache, die Menschen mehr Zeit erbittet, der einen Friedens- glaubten überhaupt an irgendetwas –, nobelpreis bekam, aber in Afghanistan sich inzwischen regelrecht in ihr immer noch den inzwischen sogar in- Gegenteil verkehrt hat: Heute ist der tensivierten Drohnenkrieg führt – ein Glaube einerseits unabdingbar, aber solcher Präsident kann nicht darauf andererseits ist der Inhalt des jewei- vertrauen, dass die Wiederwahl be- ligen Glaubens hoch umstritten. Da- reits gesichert ist. her wurde der Mormone Romney – die Glaubensgemeinschaft der Mormonen 8 Vgl. Robert Brancatelli, Aquinas Shrugged, www.huffingtonpost.com, 30.8.2012. 9 Eigene Übersetzung, vgl. Don Watkins, Why 6 Vgl. Christian Wernicke, Machtwort von ganz Paul Ryan is no Ayn Rand on Social Security, oben, in: „Süddeutsche Zeitung“, 7.9.2012. www.csmonitor.com, 21.8.2012. 7 Vgl. Robert Hoffert, Gesellschaftlicher Kitt oder 10 Vgl. Tobias Konitzer, Sammelbecken der Un- desintegratives Gift? Zur Rolle der Religion im vereinbaren. Warum die Rechte in Amerika die amerikanischen Wahlkampf, in: „Neue Gesell- Wahlen kaum gewinnen kann, in: „Neue Ge- schaft/Frankfurter Hefte“ 7-8/2012, S. 34-36. sellschaft/Frankfurter Hefte“ 7-8/2012, S. 23-26.

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Das gilt umso mehr, als die Demokra- Ryans für die Demokraten durchaus tische Partei in den letzten Jahren die eine Chance. Mit harter Kritik an der entstandene Protestbewegung und da- inhumanen und krisenverursachen- mit die „Wiedergeburt der amerikani- den republikanischen Wirtschaftspoli- schen Linken“11 sträflich vernachläs- tik im Geiste Ayn Rands könnte sich so sigt hat – und das, obwohl die meisten mancher der verunsicherten Wähle- der Protestierenden gleichzeitig Unter- rinnen und Wähler wiedergewinnen stützer und Wähler Obamas waren. lassen. Denn sicher ist: Bei einer Um- Insofern bietet die Nominierung Paul setzung der Ideen Paul Ryans, sprich: derer Ayn Rands, hätten die USA der 11 Vgl. Albert Scharenberg, Die Wiedergeburt der amerikanischen Linken, in: „Blätter“, 12/2011, Zukunft mit den USA der Gegenwart S. 17-20. nicht mehr allzu viel zu tun.

Albrecht von Lucke Der immergrüne Antisemitismus

Die Demonstrationen zum Gedenken Denn längst sind Teile Berlins für Ju- an das Pogrom von Rostock-Lichten- den faktisch No-go-areas. Schon seit hagen vor 20 Jahren waren kaum be- langem bezeichnet die Amadeu-An- endet, die staatstragenden Reden alle tonio-Stiftung den Antisemitismus in gehalten, als das Berlin von heute mit „großen urbanen Wohnquartieren mit dem realexistierenden Rassismus kon- überwiegend muslimischer Wohnbe- frontiert wurde. Am helllichten Tag völkerung“ als ein massives Problem. und nach der vergewissernden Frage 80 Jahre nach dem Beginn der NS- „Bist Du Jude?“ wurde dem Rabbiner Herrschaft können sich Juden nicht Daniel Alter im gutbürgerlichen Ber- gefahrlos in ganz Berlin in ihrer reli- lin-Friedenau von vier Jugendlichen giösen Bekleidung zeigen. das Jochbein zertrümmert und seine Gleichwohl riet die Berliner Polizei siebenjährige Tochter mit dem Tode nach dem Anschlag nicht davon ab, bedroht. Doch während aus der Zivil- Glaubenssymbole in der Öffentlichkeit gesellschaft ein erhebliches Maß an zu tragen. „Das ist ein Grundrecht und Anteilnahme erfolgte, herrschte in der gilt für alle Religionen“, so der zustän- Politik sehr schnell wieder business as dige Polizeisprecher. Zum Glück seien usual. Gewiss, der Regierende Bürger- solche Gewalttaten selten. Die Betrof- meister zeigte sich geboten schockiert fenen wird dies kaum beruhigen. Tat- über die Tat. Der Überfall sei eine At- sächlich handelt es sich keineswegs tacke auf das friedliche Zusammenle- um den ersten Vorfall dieser Art und ben aller Menschen in der Hauptstadt: gewiss nicht um den letzten.1 „Berlin ist eine weltoffene Metropole, in der wir Intoleranz, Fremdenfeind- 1 Als antisemitisch wurden im vergangenen Jahr lichkeit und Antisemitismus nicht dul- laut „Tagesspiegel“ vom 30.8.2012 132 Taten, den“, so Klaus Wowereit. meist Beleidigungen und Drohungen, einge- stuft. Kenner gehen jedoch davon aus, dass es In den Ohren der konkret Betrof- wie in anderen Fällen von Hasskriminalität eine fenen muss das wie Hohn klingen. hohe Dunkelziffer gibt.

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Das Potsdamer Abraham-Geiger-Kol- Daniel Alter um puren Antisemitismus leg, an dem Daniel Alter jüdische Leh- handelt („Bist Du Jude?“), wird in der re studiert hatte (und das nach dem Beschneidungsdebatte das rechtliche Überfall prompt mehr Polizeischutz Verhältnis zweier hoher Rechtsgüter zugeteilt bekam), hat denn auch längst geklärt, nämlich körperlicher Unver- ganz andere Lehren als die Polizei ge- sehrtheit und Religionsfreiheit. Letzt- zogen. Man rät den Studierenden drin- lich wird das kommende Bundesge- gend davon ab, auf der Straße ihre Kip- setz, das die Beschneidung unter ge- pa zu tragen.2 wissen medizinischen Voraussetzun- gen erlauben wird, auch einen Beitrag zur Rechtssicherheit leisten. Der Islam gehört zu Deutschland – Und dennoch traten auch in dieser das Judentum auch Debatte antisemitische Untertöne of- fen zutage.4 Allerdings kann, jenseits All das zeigt, dass es mit der Weltoffen- der diversen Hass-Seiten im Inter- heit Deutschlands und speziell Berlins net, keine Rede davon sein, dass das nicht so weit her sein kann. Beschwich- Urteil „eine Lawine an Verachtung, tigende Stimmen weisen darauf hin, Vorurteil und Judenhass losgetreten dass es sich dabei lediglich um einen hat, die es in der Bundesrepublik so Vorgang der europäischen Normali- noch nicht gegeben hat.“5 Was dage- sierung handele. Tatsächlich haben in gen weit mehr irritieren muss, ist et- ganz Europa, gerade in vermeintlich li- was anderes: nämlich die grassierende beralen Staaten wie den Niederlanden Gleichgültigkeit und das Desinteres- oder in Skandinavien, die Übergriffe se, mit der, unabhängig vom Fall Alter, auf Juden in den letzten Jahren erheb- die prekäre religiöse Existenz von Ju- lich zugenommen.3 den inzwischen zur Kenntnis genom- Und dennoch: Nichts ist normal im men wird – oder auch gerade nicht zur deutsch-jüdischen Verhältnis – und Kenntnis genommen wird. Das eigent- kann es aufgrund der Geschichte des liche Problem ist demnach die Gleich- letzten Jahrhunderts auch nicht sein. zeitigkeit von breiter gesellschaftli- Das demonstrierten die letzten Wo- cher Gleichgültigkeit und einem zu- chen, die wie wenige vor ihnen durch nehmenden brutalen Antisemitismus das besondere deutsch-jüdische Ver- – wenn auch diesmal nicht nur aus der hältnis geprägt waren – von der Be- dumpf-urdeutschen, sondern auch aus schneidungsdebatte über den Antrag der dumpf-arabischen Ecke. auf Aufnahme des Konzentrationsla- gers Buchenwald in das Weltkultur- erbe, vom Gedenken an die vierzigs- Zweierlei Antisemitismus te Wiederkehr der mörderischen An- schläge bei den Olympischen Spielen Vor exakt zwei Jahren sagte der da- 1972 über die hitzige Debatte zur Ver- malige Bundespräsident Christian leihung des Adorno-Preises an die Phi- Wulff in seiner Rede zum 20. Jahres- losophin Judith Butler bis hin zum bru- tag der Deutschen Einheit am 3. Ok- talen Überfall auf Daniel Alter. tober: „Der Islam gehört inzwischen Allerdings gilt es angesichts der auch zu Deutschland“. Heute, so sagen Häufung der Vorfälle umso mehr auf die Zyniker, stellen wir fest, dass auch deren Unterschiede hinzuweisen. der muslimische Antisemitismus zu Während es sich bei dem Überfall auf 4 Vgl. Heiner Bielefeldt, Der Kampf um die Be- 2 So der Rektor der Schule, Walter Homolka, schneidung. Das Kölner Urteil und die Reli- gegenüber der „Welt“, 30.8.2012. gionsfreiheit, in: „Blätter“, 9/2012, S. 63-71. 3 Rainer Haubrich, Europas bedrohte Juden, in: 5 Matthias Drobinski, Es ist etwas zerbrochen, in: „Die Welt“, 2.9.2012. „Süddeutsche Zeitung“, 7.9.2012.

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Deutschland gehört. Doch auch wenn kann bei Arabern das Verdammungs- es sich bei den Tätern tatsächlich um urteil über Israel zur Rechtfertigungs- vier arabische Jugendliche gehandelt grundlage für jeglichen Judenhass haben sollte: Es wäre ein Fehler, die werden. Konfliktursache primär im Zusam- Umso mehr gilt es deutlich zu ma- menprall der Religionen zu verorten. chen, dass Israel und die Kritik an die- Offensichtlich ist der arabische Anti- sem Staat das eine – und das Judentum semitismus eng verbunden mit der und der Antisemitismus etwas ande- Existenz Israels. Ursprünglich war res ist (auch wenn, wie oben beschrie- die klassische islamische Zivilisation ben, Israelhass durchaus in Judenhass von Antisemitismus sogar fast gänz- übergehen kann). Heute kommt es ent- lich frei;6 erst im 20. Jahrhundert ent- scheidend darauf an, die durchaus not- zündete sich der Antisemitismus in der wendige Kritik an der aktuellen israe- Palästinafrage am neu gegründeten lischen Politik von der Diffamierung „Judenstaat“. Heute amalgamiert sich der Juden und des Judentums zu tren- dieser arabisch-nationalistische Anti- nen. zionismus, der teilweise (als Importwa- re aus dem Westen) im Gewande einer antiimperialistischen, linken Ideolo- Die „moralische Verderbtheit“ gie auftritt, mit einem neuen, islami- der Judith Butler schen Antisemitismus. So verbreiten etwa Teile der Muslimbrüderschaft die Wie dies gerade nicht geht, zeigte die Legende ihres geistigen Vaters Said Debatte um die diesjährige Verleihung Qutb von der angeblichen jüdischen des Adorno-Preises an Judith Butler. Verschwörung gegen den Islam. Gewiss, man kann die Frage stellen, In Deutschland kommen damit ob einen Preis verdient, „der nach dem heute zwei Formen des Antisemitis- großen, von den Nazis als ‚Halbjude’ in mus zusammen: ein sekundärer deut- die Emigration gezwungenen Philoso- scher Entlastungsantisemitismus we- phen benannt wurde“, wer wie Judith gen Auschwitz – nach dem Motto: „Wir Butler Hamas und Hisbollah einmal werden den Juden nie verzeihen, was als progressiv, da Teil der linken anti- wir ihnen angetan haben“ (teilwei- imperialistischen Bewegung, bezeich- se, wie in der Beschneidungsdebatte, net hat. Diese berechtigte Kritik an noch grundiert mit älteren christlich- einer politischen Aussage der Philoso- antijüdischen Motiven) – mit dem na- phin und Intellektuellen Butler ist aber tionalistisch grundierten Antisemitis- etwas völlig anderes, als die Jüdin But- mus junger Araber. Auf diese Weise ler des jüdischen Selbsthasses zu zei- entpuppt sich der Antisemitismus in hen und sogar von ihrer „moralischen der multikulturellen Gesellschaft als Verderbtheit“ zu sprechen. nachwachsender Hasssprengstoff. Beide Urteile stammen von Ste- Beide, den originär deutschen und phan J. Kramer, dem Generalsekretär den deutsch-arabischen Antisemitis- des Zentralrats der Juden in Deutsch- mus, verbindet vor allem eines: In sei- land.7 Bei einem derartigen Unwert- nem Zentrum steht die Gleichsetzung urteil wie „moralischer Verderbtheit“ „der Juden“ mit dem Staat Israel. Wo ist offenbar die Kritik an der Preisver- es bei eingeborenen Deutschen heißt, leihung nicht die primäre Motivation, „Gerade die Israelis – sprich: die Ju- 7 Dass Kramer nicht unbedingt ein Meister der den – müssen doch wissen, dass man Differenzierung ist, hatte er bereits in der Sar- so nicht mit seinen Nachbarn umgeht“, razin-Debatte gezeigt. Für seine Aussage „Ich habe den Eindruck, dass Sarrazin mit seinem 6 So jedenfalls die zentrale These in Bernard Le- Gedankengut Göring, Goebbels und Hitler gro- wis klassischer Darstellung, The Jews of Islam, ße Ehre erweist“ musste er sich später entschul- Princeton 1984. digen.

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sondern im Kern geht es um etwas an- gegenwärtig mit Blick auf die arabi- deres – nämlich darum, Kritik am Staat sche Welt täglich erleben – die Tren- Israel zu delegitimieren. Hier wird der nung von Kirche und Staat, von Reli- Antisemitismus-Vorwurf instrumen- gion und Recht. Das hat auch für diese talisiert, um abweichende Meinungen Debatte zu gelten: Wer heute die Poli- einer angeblichen „Israel-Hasserin“ tik des Staates Israel verteidigen will, (Kramer) zu unterdrücken. möge dies offen tun; er hat hier dank Diese Strategie aber ist fatal für der geltenden Meinungsfreiheit jedes die Lage der jüdischen Gemeinde in Recht dazu. Er sollte sich aber nicht – der Diaspora allgemein und speziell möglicherweise auch mangels eigener in Deutschland. Denn damit leistet Argumente in der Sache – hinter der Kramer all jenen argumentativ Vor- Denunziation seiner Gegner als Anti- schub, die ohnehin schon seit langem semiten verstecken. Denn das vergiftet die sogenannte Auschwitzkeule über jede politische Debatte. sich schweben sehen, „weil man in Deutschland ja nichts über Israel oder die Juden sagen kann.“ Rechtspflege vor Denkmalpflege Diese Strategie ist auch deshalb ge- fährlich, weil das deutsch-jüdische Wenn es heute etwas in der Bundes- Verhältnis schon bald einer wesent- republik zu verteidigen gilt, als Ver- lich dramatischeren Belastungs- und pflichtung aus der nationalsozialisti- Bewährungsprobe ausgesetzt sein schen Vernichtungspolitik, dann ist es könnte, nämlich einem Präventivkrieg das Recht der ohnehin verschwindend zwischen Israel und dem Iran. Einiges kleinen jüdischen Minderheit, sich spricht dafür, dass dies nach den US- hier frei und unbehelligt äußern und Wahlen (eher als noch davor) der Fall bewegen zu können. Dafür aber reicht sein könnte. Das aber dürfte auch in es offensichtlich nicht, sich alle Jahre Deutschland einen erheblichen An- wieder des Beginns wie des Endes der stieg des Antisemitismus zur Folge ha- nationalsozialistischen Vernichtungs- ben. In der Vergangenheit wuchs die- politik zu erinnern. Und dafür reicht ser stets im Zusammenhang mit der es schon gar nicht, für das Konzentra- konkreten israelischen Politik, etwa im tionslager Buchenwald einen Antrag Fall der mit tödlicher Gewalt gestopp- auf Anerkennung als UN-Weltkultur- ten Gaza-Flotille. 8 erbe zu stellen, im Gegenteil: Bedenkt Für die Lage der hier lebenden Ju- man, dass es sich dabei laut UNESCO- den, und speziell der israelkritischen, Satzung dem Charakter nach um wären die Folgen eines Krieges ver- ein „Meisterwerk der menschlichen heerend: In dem Maße nämlich, in Schöpferkraft“ oder zumindest um dem die antisemitische Stimmung in einen Typus von Gebäude handeln der Diaspora zunimmt, wächst die Be- muss, der „einen oder mehrere bedeut- deutung Israels als Ort der Zuflucht für same Abschnitte der Geschichte der die Juden insgesamt. Das aber setzt Menschheit versinnbildlicht“, dann gleichzeitig die kritischen Stimmen entpuppt sich der Antrag vollends als noch mehr unter Druck – ein Teufels- eine ungeheure Instinktlosigkeit des kreis. Umso notwendiger ist es heute, thüringischen Bildungsministeriums. im Streit um die Politik Israels auf Dif- Bei aller berechtigten Denkmal- famierungen mit dem Antisemitismus- pflege – wenn auch mit den gebote- Vorwurf zu verzichten. Eine der größ- nen Maßnahmen – erwächst aus dem ten, ja vermutlich die größte Errungen- Holocaust eine ganz andere primä- schaften der Aufklärung ist – wie wir re Pflicht: nämlich den wenigen noch (oder inzwischen wieder) in Deutsch- 8 Vgl. „Die Welt“, 11.9.2012. land lebenden Juden zu garantieren,

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sich jederzeit und überall zu ihrem jü- setz) sein, in all ihren Ausprägungen. dischen Glauben bekennen zu kön- Nicht nur, aber ganz besonders am nen. Davon aber sind wir heute offen- Beispiel des Antisemitismus sind wir bar weit entfernt. aufgefordert, uns über die moralischen Worum es daher, neben der polizei- Standards unseres Zusammenlebens lich-gerichtlichen Verfolgung derarti- immer wieder zu verständigen. ger Überfälle, in erster Linie geht, ist Hier aber liegt eine Menge im Ar- die intellektuelle Auseinandersetzung gen: Längst ist „Du Jude“ auf deut- mit dem realexistierenden Antisemi- schen Schulhöfen wieder ein gängiges tismus. Dafür aber kann die Beschäf- Schimpfwort geworden, von der über- tigung mit der deutschen Geschichte großen Mehrheit mit Gleichgültigkeit allein nicht reichen. Denn „die deut- zur Kenntnis genommen. Das gilt üb- sche Geschichte ist nicht mehr die ein- rigens auch für die durchaus verwand- zige Folie, vor der sich Antisemitismus te verbale und körperliche Schwulen- in Deutschland abspielt.“9 In der mul- feindlichkeit. So hieß es etwa in „Ber- tikulturellen Gesellschaft begegnet lin“, einem Song des Rappers Bushi- uns der Antisemitismus, wie der An- do: „Ihr Tunten werdet vergast“, wo- schlag auf Daniel Alter brutal gezeigt mit Juden- und Schwulenfeindlichkeit hat, längst in höchst unterschiedlicher wie vor 80 Jahren zusammengeführt Form. wurden. Und dennoch erhielt Bushido im letzten Jahr bekanntlich mit dem Burda-Bambi die wohl höchste deut- Von der historischen zur universalis- sche Fernsehauszeichnung – passen- tischen Ächtung des Antisemitismus derweise in der Kategorie „Integra- tion“. Die deutsche Bevölkerung blieb Das aber hat enorme geschichtspoli- auch hier bemerkenswert gleichgültig, tische Konsequenzen. Heute kann von Sensibilität im Umgang mit altem der Kampf gegen den Antisemitismus und neuem Rassismus keine Spur. Und nicht mehr nur, vielleicht nicht ein- wer hätte, seien wir ehrlich, ohne den mal mehr primär unter Rückgriff auf jüngsten Anschlag gewusst oder da- die deutsche Vergangenheit geführt ran Anteil genommen, dass sich vie- werden. Denn die Berufung auf die le Juden in Deutschland schon lange deutsche Geschichte wird von Migran- nicht mehr nach Berlin-Neukölln oder ten anders, vermutlich weit weniger -Kreuzberg trauen? verbindlich wahrgenommen als von Der SPD-Fraktionschef im Berli- eingeborenen Deutschen: Wer keinen ner Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, Nazi-Opa hat oder hatte, kann sich sprach nach dem Überfall von einem auch nicht für ihn schämen oder sich „Angriff auf die ganze Stadt“. Die kon- mit gleicher Intensität, aus persön- kret Betroffenen, an erster Stelle Da- licher Betroffenheit, mit dessen Ge- niel Alter, werden den Anschlag zwar schichte auseinandersetzen. in erster Linie als einen Anschlag auf In dieser völlig neuen Lage liegt al- sich als Juden wahrgenommen haben. lerdings auch eine große Chance: Heu- Allerdings steckt in der anmaßenden te kommt es darauf an, den Antisemi- Aneignung des Anschlags auch eine tismus nicht nur „geschichtlich“, son- Aufforderung: Wir alle, und nicht zu- dern universalistisch-menschenrecht- letzt die Stadt Berlin als angeblich lich zu ächten. Handlungsleitend sollte „weltoffene Metropole“, sind in die in erster Linie die Unantastbarkeit der Pflicht genommen, derartige „Angrif- menschlichen Würde (Art. 1 Grundge- fe auf die ganze Stadt“ in Zukunft zu verhindern. Nur dann kann von erfolg- 9 Moritz Schuller, Vermutlich arabischstämmig, reicher Integration aller hier Lebenden in: „Der Tagesspiegel“, 2.9.2010. wirklich die Rede sein.

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Ulrich Brand Die Wachstums-Enquete: Parlamentarische Sackgasse?

In der gegenwärtigen Krise scheint es Arbeit funktioniert, können so ein neu- nur drei Ziele zu geben: „Wachstum, er gesellschaftlicher Konsens und eine Wachstum, Wachstum“. Vom Wachs- breite Basis für reformorientierte Poli- tum wird – egal, ob mit dem Attribut tik vorbereitet oder zumindest tiefer- „quantitativ“ oder „qualitativ“ ver- liegende Differenzen in der politischen sehen – die Lösung aktueller sozioöko- Auseinandersetzung herausgearbeitet nomischer und ökologischer Probleme werden. erwartet. Und in der Tat zieht derzeit 17 Abgeordnete und ebenso vie- fehlendes Wirtschaftswachstum er- le Sachverständige erörtern seit Ein- hebliche Probleme für Arbeitsplätze, richtung der Kommission im Frühjahr Einkommen und Staatsfinanzen nach 2011 (und noch bis Juni 2013) etwa das sich. Denn mit sinkenden Wachstums- problematisch gewordene Fortschritts- raten kommen grundsätzlich auch die verständnis und die treibenden Kräfte Gewinne und damit auch die Steuer- von Wachstum, demographische Ent- einnahmen unter Druck. wicklungen, Möglichkeiten und Gren- Beim Glaube an die heilsame Wir- zen von Ressourceneffizienz, Fragen kung des Wirtschaftswachstums han- von Wohlstand und (Aus-)Bildung. Ihr delt es sich um eine tief verankerte, Auftrag ist es, in fünf Arbeitsgruppen kaum hinterfragte Orientierung. Das einen „ganzheitlichen Wohlstands- gilt besonders und gerade in der Kri- bzw. Fortschrittsindikator“ zu entwi- se für die Bundesrepublik, und auch im ckeln, den „Stellenwert von Wachstum globalen Süden wird Wachstum ganz in Wirtschaft und Gesellschaft“ oder selbstverständlich zum Credo der Eli- „Möglichkeiten und Grenzen der Ent- ten und wachsenden Mittelschichten. kopplung“ zu erörtern und sich über Und dennoch hat vor allem die bereits eine „nachhaltig gestaltende Ord- seit längerem entwickelte ökologisch nungspolitik“ sowie über „Arbeits- motivierte Wachstumskritik – gepaart welt, Konsumverhalten, Lebensstile“ mit der aktuellen Wirtschaftskrise – auszutauschen. Risse im Gebälk des Wachstumsimpe- rativs erzeugt. Dieses Themas hat sich inzwischen Die Grenzen auch der Bundestag angenommen und parlamentarischer Politik auf Initiative von SPD und Grünen die Enquete-Kommission „Wachstum, Bislang und nach gut eineinhalb Jah- Wohlstand, Lebensqualität“ eingerich- ren Arbeit bleiben die Ergebnisse der tet. Mit dieser Institution verfügt der Enquete-Kommission enttäuschend: Bundestag über ein Instrument, par- Unter dem Druck der Ereignisse und teiübergreifend und über die Tages- angesichts der bestehenden Kräfte- politik hinaus wichtige Themen in- verhältnisse – der ökonomischen Do- tensiv zu bearbeiten und in einem Ab- minanz der Banken und Vermögens- schlussbericht konkrete Empfehlun- besitzer und der politischen Macht gen an die Politik abzugeben. Wenn die der schwarz-gelben Koalition – ist es

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dem Gremium bisher nicht gelungen, gebnisse von der Regierung wahrge- grundlegende Alternativen zum domi- nommen werden. nanten Wachstumsparadigma zu for- Auch die Art der Wissensproduktion mulieren und die angesichts der mul- hat wenig Potential für grundlegende tiplen Krise notwendigen Vorschläge Alternativen. Schon die Zusammen- für einen tiefgreifenden sozialökologi- setzung der Kommission macht deut- schen Strukturwandel zu erarbeiten. lich, welches gesellschaftliche Wissen Und auch in der Öffentlichkeit wird für deren Arbeit als relevant erachtet die Kommission bislang kaum wahr- wird: 11 der 17 Sachverständigen sind genommen. Dabei wären öffentliche Hochschulprofessorinnen und -pro- Berichterstattung und Debatten eine fessoren (die meisten aus den Wirt- Voraussetzung dafür, dass die Kom- schaftswissenschaften), dazu kommen mission überhaupt gesellschaftliche zwei Manager, zwei Gewerkschafter, Wirkung entfacht. Doch von wenigen ein Vorsitzender eines Umweltverban- Ausnahmen abgesehen, zögerten die des und ein Vorsitzender einer Denk- Kommissionsmitglieder, sich zur aktu- fabrik. Es ist also in erster Linie das ellen Wirtschafts- und Finanzkrise zu Wissen der Abgeordneten, das um wis- äußern – und das, obwohl in der Kri- senschaftliches Wissen angereichert se Fragen von Wachstum, Wohlstand werden soll. Andere Wissensformen und Lebensqualität zentral verhandelt – etwa Alltagswissen oder Positionen werden. Auch das grandiose Scheitern und Erfahrungen unterschiedlicher zi- der Rio+20-Konferenz und damit der vilgesellschaftlicher Akteure wie Ver- etablierten internationalen Umwelt- bände und soziale Bewegungen – spie- politik ist kein Thema. len eine deutlich untergeordnete Rolle. Diese systematische Selektivität der Enquete-Kommission zeigt letztlich, Die Eliten bleiben unter sich wie wenig sich staatliche Politik ge- genüber Neuem und Innovativem öff- Aus einer gesellschaftskritischen Per- net. Auch Erfahrungen anderer Ge- spektive verwundert diese Zurückhal- sellschaften oder das in der interna- tung nicht: Zwar werden im Rahmen tionalen Debatte um Wohlstand und staatlicher Politik immer wieder Kri- Wachstum kreierte Wissen spielen tik und Alternativen formuliert – das – mit Ausnahme der internationalen ist die Hauptaufgabe der Opposition Diskussion um Wohlstandsindikatoren –, aber grundlegende Alternativen – kaum eine Rolle. finden selten Gehör. Die Ausrichtung Das hat für das Kommissionsthema staatlicher Politik wird von dominan- „Wachstum, Wohlstand und Lebens- ten gesellschaftlichen Orientierungen qualität“ eine wichtige Folge: Lösun- und insbesondere von mächtigen wirt- gen werden entweder auf der Ebene schaftlichen Kräften stark vorgegeben, der Unternehmen oder jener des Staa- auch wenn sie nachweislich zu Armut, tes gesehen, gegebenenfalls ergänzt Krisen und Naturzerstörung führt. Bü- um die Gewerkschaften und Umwelt- rokratien wie Regierungspolitikerin- verbände. nen und -politiker gehen selten über Innerhalb des wissenschaftlichen diese Grenzen hinaus. Das gilt auch Wissens dominieren in der Kommis- für die Parlamente, die unter Bedin- sion ökonomische Sichtweisen neo- gungen der „Post-Demokratie“ immer klassischer Provenienz, hinzu treten stärker zu Akklamationsorganen einer keynesianische und ökologisch-öko- zunehmend autoritären Politik wer- nomische Perspektiven. So verwun- den. Das spiegelt sich zwar nicht eins dert es nicht, dass fast ausschließ- zu eins in der Enquete-Arbeit, doch so lich als wirtschaftlich relevant erach- richtig glaubt niemand, dass die Er- tet wird, was an Gütern und Dienst-

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 19 19.09.12 11:07 20 Kommentare und Berichte

leistungen über den Markt gehan- Verhältnis zwischen Gesellschaft delt wird. Dann aber ist es zum einen und Natur grundsätzlicher diskutiert naheliegend, dass die Natur – ganz wird.2 Unerwähnt bleibt auch, dass es im Geiste der soeben auf der Rio+20- sich bei wirtschaftlichem Wachstum Konferenz propagierten Green Econo- um kapitalistisch getriebenes Wachs- my – einen Preis erhalten soll, um sie tum handelt und darüber Herrschafts- zu schützen.1 Den Naturschutz sollen verhältnisse von Menschen über Men- der Markt selbst oder – im Falle von schen und von Menschen über Natur „Marktversagen“ – staatliche Rah- konstituiert werden. Macht wird weit- menbedingungen gewährleisten. Dass gehend mit politischer Macht gleich- Natur potentiell zu verwerten ist – sei gesetzt; die Macht von Unternehmen es als Ressource oder Senke etwa zur spielt allenfalls als Marktmacht eine Speicherung von Kohlendioxid –, steht Rolle. Eine grundlegende Reflexion für die Mehrheit der Kommissionsmit- der gesellschaftlichen Handlungs- glieder außer Frage. Dies erklärt auch, grundlagen im Lichte von Globali- warum die Bereiche der unbezahlten sierung und multipler Krise ist nicht Erziehungs-, Altenpflege- und Frei- vorgesehen bzw. geht im Optimismus willigenarbeit beim Nachdenken über der Neoklassik in Bezug auf die Inno- Wohlstand und Zukunft bislang kaum vationskraft des Kapitals wie auch der eine Rolle spielen. Perspektive der ökologischen Moder- Hinsichtlich der ökologischen Krise nisierung unter. zieht sich eine Interpretation durch die Kommission, derzufolge „die Mensch- heit“ mit ihrer industriellen Lebens- Große Fragen, weise die Krise dadurch verursacht, verhaltene Antworten dass „die Natur“ übernutzt wird. Da- durch würden die „planetarischen Auch die Basis des eigenen Handelns Grenzen“, innerhalb derer sich die Ele- wird von der Kommission bislang mente von Natur nachhaltig reprodu- kaum reflektiert. Zwar wird konsta- zieren können, nicht eingehalten. Es tiert, dass das nationalstaatliche Insti- herrscht ein starker Konsens vor, dass tutionensystem heute weniger „souve- die ökologische Krise mittels ökologi- rän“ sei als vor einigen Jahrzehnten. scher Modernisierung bearbeitet wer- Dass sich aber die gesellschaftlichen den sollte – gestritten wird lediglich Grundlagen und damit auch die Logik um den Stellenwert von staatlichen Re- der Politik verändert haben – Joachim gulierungen, der Wirkung von Preisen Hirsch hat vor fast 20 Jahren dafür den und von Knappheiten. Begriff des „nationalen Wettbewerbs- Nur wenige Mitglieder vertreten staates“ geprägt –, sich staatliche weitergehende Ansätze, in denen das Politik europäisierte und internatio- nalisierte und es auch Aufgabe einer 1 Barbara Unmüßig, Thomas Fatheuer und Wolf- gang Sachs, Green Economy: Der Ausverkauf Enquete-Kommission wäre, über al- der Natur? In: „Blätter“, 7/2012, S. 55-61. ternative staatliche Steuerungsfähig- keit nachzudenken, kommt als Thema kaum vor. Stattdessen setzt man auf internationale Politik, die es irgendwie richten soll – obwohl sie von Rio 1992

© Paul Keller/flickr 2 Vgl. Michael Müller, Aufklärung, Emanzi- pation, Fortschritt, Kommissionsdrucksache Freude schöner Götterfunken? 17(26)31, 2011 und Matthias Zimmer, Fort- Das »Blätter«-Dossier zur Eurokrise schritt als bürgerliche Leitvorstellung, Kommis- sionsdrucksache 17(26)29, 2011; Ulrich Brand, 15 Beiträge für 7 € | www.blaetter.de Wachstum und Herrschaft, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“, 27-28/2012, S. 8-14.

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bis Rio+20 immer wieder aufs Neue ziehbild einer ökologisch desaströsen versagt hat. Entwicklung bemüht. Es bedürfe da- Der Staat gilt weiterhin als die Ins- her der internationalen Kooperation titution, die – bei entsprechender Ein- – der Wille dazu wird der deutschen sicht und politischem Willen – die Re- Regierung unterstellt und implizit geln setzt, an die sich die gesellschaft- schwingt dabei mit, dass „bei uns“ die lichen Akteure halten. Das ist, gerade Verhältnisse ganz in Ordnung seien. in Krisenzeiten, gelinde gesagt, naiv. Inkrementelle, allenfalls schrittwei- se Politik ist der Modus des modernen Gefangen zwischen Konsens Staates. Die Bearbeitung von Proble- und Dissens men durch umsichtige Anpassungen kann in „Normalzeiten“ seine Stär- Etwas zugespitzt könnte man ar- ke sein. In Krisenzeiten führt das aber gumentieren, dass die Kommission zur paradoxen Konstellation, dass sich zwischen zwei Verfahrensmodi ein- eine Enquete-Kommission zwar die gezwängt ist: Einerseits besteht der großen Fragen stellt, aber nur zu sehr Anspruch, große Debatten zu führen, verhaltenen Antworten in der Lage ist. Dissense aufzuzeigen und Verände- Dass der Staat auch und gerade beim rungsbedarf und -möglichkeiten her- heiklen Thema Wachstum Kontext- auszuarbeiten; andererseits aber gibt bedingungen verändern müsste, dass es das Ziel, im Konsens Ergebnisse er Lernprozesse initiieren und Kon- und damit Grundlagen für wichtige flikte mit mächtigen ökonomischen In- Reformvorhaben festzuzurren. Doch teressen – Unternehmen wie Gewerk- ebendiese Konsensorientierung ist bis- schaften – führen muss, um die Gleich- lang nicht geeignet, Neues zu erarbei- setzung von Wohlstand und Wachstum ten, denn im Ergebnis einigt man sich zumindest anzukratzen, dass er die tendenziell auf den kleinsten gemein- vielen bestehenden gesellschaftlichen samen Nenner. Vielleicht liegt darin Initiativen stärken sollte, die das schon die systematische Grenze einer partei- machen, bleibt außen vor oder zweit- übergreifenden Enquete-Kommission. rangig. Dabei gäbe es in einer Enquete- Trotz der globalen sozialökologi- Kommission durchaus die Möglich- schen Problemstellung und dem im- keit, systematischer auf vielfältiges mer wieder angemahnten „globa- Wissen zurückzugreifen und es an der len Blick“ wird das Internationale zu einen oder anderen Stelle zuzuspitzen. einem unbestimmten Äußeren in einer Doch der neugierige Antrieb vieler unübersichtlichen Welt – als proble- Mitglieder, die Welt und ihre tiefgrei- matisches Umfeld, als Konkurrenz im fenden Probleme besser zu verstehen, globalen Wirtschaftswettbewerb. Völ- um angemessene politische Hand- lig unverständlich ist, warum etwa die lungsempfehlungen aussprechen zu Europäische Union als gesellschaft- können, droht im Alltagsstress der liche und wirtschaftliche Realität so- Abgeordneten und Sachverständigen wie als politischer Handlungsraum unterzugehen: in den Routinen des weitgehend ausgeblendet wird. parlamentarischen Betriebs, in den Andererseits bestehen die Kom- tief verankerten wissenschaftlichen missionsmitglieder zum Zwecke der Selbstverständlichkeiten und Animo- Exkulpation immer wieder darauf, sitäten sowie letztendlich wohl auch in Deutschland alleine könne in Umwelt- der parteipolitischen Konkurrenz. Die- fragen selbst mit noch so progressiver se Tendenz dürfte sich im kommenden Politik ohnehin nichts bewirken, denn Wahlkampf wohl noch verstärken, was andere Länder seien das Problem. Ins- für das letzte Jahr der Kommissions- besondere China wird gerne als Ab- arbeit nicht gerade hoffen lässt.

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Jens-Eberhard Jahn Tierschutz per Gesetz: Ein Ende der Quälerei?

Jeder Deutsche verzehrt durchschnitt- ter „und die Tiere“ eingefügt. Der Ar- lich 60 Kilogramm Fleisch im Jahr – tikel lautet seitdem: „Der Staat schützt vier Mal so viel wie die Deutsche Ge- auch in Verantwortung für die künf- sellschaft für Ernährung empfiehlt. tigen Generationen die natürlichen Damit steht die Bundesrepublik beim Lebensgrundlagen und die Tiere im Fleischkonsum innerhalb der EU zwar Rahmen der verfassungsmäßigen Ord- nur an neunter Stelle, doch zugleich nung durch die Gesetzgebung und exportiert sie Unmengen Fleisch und nach Maßgabe von Gesetz und Recht Fleischprodukte in alle Welt: Der Aus- durch die vollziehende Gewalt und die fuhrüberschuss der deutschen Fleisch- Rechtsprechung.“ warenindustrie betrug im Jahr 2010 Die Verankerung des Tierschutzes rund 1,7 Mrd. Euro. Rund zwei Drittel im Grundgesetz hatte rückblickend der Exporte gingen in europäische jedoch vor allem symbolische Bedeu- Länder, der Rest in Drittländer. tung – und nur geringe Auswirkungen Insbesondere die globale Nachfra- insbesondere auf die industrielle Nutz- ge nach Fleisch wird in den kommen- tierhaltung. Für diese hat sich in der öf- den Jahren sogar noch zunehmen: fentlichen Debatte der Begriff „Mas- Laut der Welternährungsorganisation sentierhaltung“ etabliert. Die Wissen- FAO soll sich der Fleischkonsum dank schaft tut sich jedoch mit diesem Be- wachsender Mittelschichten in Ent- griff schwer, weil er zum einen nicht wicklungs- und Schwellenländern bis eindeutig definiert ist und weil zum 2030 nahezu verdoppeln, in den west- anderen die Bestandsgröße oft nicht lichen Industrienationen soll er eben- oder nur gering mit den eigentlichen falls noch weiter, nämlich um ein Fünf- Problemen der modernen Tierhaltung tel, steigen.1 korreliert. Denn bei genauer Betrach- Der wachsende Bedarf an Fleisch tung greift die verknappte Gleichung hat dramatische Folgen für unsere kleinbäuerliche Haltung = tiergerech- Gesundheit und die Umwelt – vor al- te Haltung und Massentierhaltung = lem aber für die Tiere selbst, die nach nicht-tiergerechte Haltung zu kurz. wie vor unter zumeist qualvollen Be- Denn während beispielsweise Rinder dingungen leben. Daran hat auch das in kleinen Betrieben hier und da im- Staatsziel Tierschutz, das vor zehn mer noch in sogenannter Anbindehal- Jahren ins Grundgesetz aufgenommen tung vegetieren müssen, ohne sich be- wurde, nur wenig geändert. wegen zu können, investierten Groß- Im Jahr 2002 rang sich der Bundes- betriebe mitunter in moderne, luftige tag nach intensiver Debatte zur so- Laufställe, die den Tieren eine ihren genannten Drei-Wort-Lösung durch: Bedürfnissen angemessenere Lebens- In Artikel 20a GG wurden nach dem umgebung bieten. Wort „Lebensgrundlagen“ die Wör- Allerdings führt der damit einher- gehende rasante Strukturwandel in 1 Vgl. FAO, World Agriculture: Towards der Landwirtschaft zu einer erhebli- 2015/2030, Kapitel 5, www.fao.org. chen Marktkonzentration: fast zwei

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Drittel der Mastschweine stehen in hinaus lassen die einschlägigen Ver- Beständen von mehr als tausend Tie- ordnungen für die landwirtschaftliche ren, 52 Prozent der Legehennen und Tierhaltung weitere gravierende Aus- 72 Prozent der Masthühner befinden nahmen beim Tierschutz zu. sich in enger Schicksalsgemeinschaft mit mindestens 50 000 Artgenossen. Damit eine solche Massentierhal- Entfremdung von Mensch und Tier tung überhaupt funktioniert, werden die Tiere ungeachtet ihres Schmerz- Im Kern fehlt eine klare Definition, empfindens verstümmelt: Schnäbel was ein „vernünftiger Grund“ für Tier- werden gekürzt, damit sich gestress- quälerei ist. Ist mangelnde ökonomi- te Hühner nicht gegenseitig verletzen; sche Verwertbarkeit ein „vernünftiger Zähne werden abgefeilt, damit sich Grund“? Dem widerspricht eindeutig beengte Schweine nicht untereinan- Artikel 20a des Grundgesetzes – den- der die Schwänze abbeißen (alterna- noch werden hierzulande jährlich bei- tiv werden den jungen Ferkeln gleich spielsweise rund 40 Mio. männliche prophylaktisch die Schwänze abge- Küken in der Legehennenzucht ver- schnitten.) Die Enthornung von Rin- gast oder lebendig geschreddert, weil dern hingegen gilt dem Arbeitsschutz sie das „falsche Geschlecht“ haben. der Beschäftigten – zugleich schränkt Immerhin: Die Mehrheit der Kon- sie jedoch das Sozialverhalten der Tie- sumenten wünscht sich einen besse- re empfindlich ein. ren Schutz der Nutztiere: 85 Prozent Hinzu kommt, dass Nutztiere gera- der Befragten gaben laut einer im Mai de in großen Beständen regelmäßig mit veröffentlichten Emnid-Umfrage an, Antibiotika behandelt werden, um so dass sie „den verantwortungsvollen das erhöhte Risiko von Tierseuchen zu Umgang mit Tieren“ in der Landwirt- minimieren. Inzwischen ist jedoch hin- schaft als wichtig erachten. Allerdings länglich bekannt, dass diese Behand- schlägt sich dieser Wunsch nicht im lungen auch beim Menschen zu Anti- Kaufverhalten nieder: Die Deutsche biotikaresistenzen führen. Eine ge- Agrarforschungsallianz (Dafa) kon- setzliche Regelung, die diese Antibio- statiert vielmehr, dass „Massentier- tikagabe wirksam unterbindet, ist nach haltung“ zwar kritisiert wird, billi- wie vor nicht in Sicht. ge Fleischerzeugnisse aber weiterhin Die weiterhin qualvollen Zustän- gern gekauft werden.2 de in der industriellen Tierhaltung Dieses widersprüchliche Verhalten sind nach dem bundesdeutschen Tier- liegt auch darin begründet, dass vor schutzgesetz (TierSchG) zumindest be- allem Discounter und Lebensmittel- denklich. Schon Paragraph 1 TierSchG ketten es verstanden haben, den Ab- stellt fest, dass niemand „einem Tier lauf und die Folgen des Produktions- ohne vernünftigen Grund Schmerzen, prozesses von Fleischerzeugnissen zu Leiden oder Schäden zufügen darf“. verschleiern. Dies gelingt auch des- Paragraph 2 bestimmt zudem, dass halb, weil der Großteil der Menschen Nutztiere nicht leiden dürfen und an- zumindest in den Ballungsräumen von gemessen untergebracht, gepflegt und der Landwirtschaft entfremdet ist. versorgt werden müssen. Dabei stellt die Entfremdung zwi- Allerdings schränkt Paragraph 5 schen Mensch und Tier historisch be- den grundsätzlichen Schutz der Tiere trachtet die Ausnahme dar. Noch bis bereits wieder erheblich ein und for- muliert unter anderem eine Reihe von 2 Vgl. Deutsche Agrarforschungsallianz (DAFA), Ausnahmen hinsichtlich der Eingriffe Fachforum Nutztiere. Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft – gemeinsam fur eine bessere an Tieren – trotz des im Grundgesetz Tierhaltung. Strategie der Deutschen Agrarfor- verankerten Tierschutzes. Darüber schungsallianz, Juni 2012, S. 18.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 23 19.09.12 11:07 24 Kommentare und Berichte

ins 20. Jahrhundert hinein wurden Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Nutztiere als „Quasipersonen“ sozial Aigner will dabei unter anderem den inkludiert. In der agrarindustriellen Schenkelbrand bei Pferden verbie- Nutztierhaltung kommt es hingegen ten, die so bislang mit einem Brand- zu einer Verdinglichung des Tieres als zeichen ihres Züchterverbandes ver- Ware, dessen subjektive Bedürfnisse sehen werden. Die CDU/CSU-Fraktion ignoriert werden.3 im Deutschen Bundestag sieht das anders und fällt der Ministerin – we- gen dieses zugegebenermaßen eher Novellierung des Tierschutzrechts nebensächlichen Themas – in den Rücken. Tierschutzverbände haben sich da- Der Koalitionskrach um den Schen- her das Thema der Verdinglichung kelbrand lenkt indes von prinzipiellen des Tieres auf die Fahnen geschrie- Fragen ab. Denn wichtige Forderun- ben. Weniger praktischer als vielmehr gen von Opposition und NGOs, wie et- rechtsphilosophischer Natur sind da- wa ein Verbandsklagerecht für Tier- bei ihre Bestrebungen, den Tieren schutzverbände und -stiftungen oder auch Würde zuzugestehen. die Forderung nach einer stärkeren Bislang ist im deutschen Tierschutz- Vertretung von Tierschutzverbänden gesetz nur vom Schutz der Mitgeschöp- und Geisteswissenschaftlern in den fe die Rede – eine erstaunlich religiöse Tierschutzkommissionen, werden in Nuance im Nebenstrafrecht. Und das der Regierungsnovelle nicht berück- Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) be- sichtigt. stimmt gemäß Paragraph 90a Satz 1: Auch den von SPD und Bündnis90/ „Tiere sind keine Sachen.“ Allerdings Die Grünen regierten Bundesländern, stellt Satz 3 des gleichen Paragraphen geht Aigners Gesetzesnovelle nicht klar, dass die für Sachen geltenden weit genug. Als der Bundesrat jedoch Vorschriften auch auf Tiere anzuwen- Anfang Juli Änderungsvorschläge vor- den seien. legte, kam die Bundesregierung den Diese Doppelnatur des Tieres in der Ländern nur in wenigen und zum Teil Rechtsordnung – einerseits keine Sa- skurrilen Details, wie etwa einem So- che, jedoch zu behandeln wie eine Sa- domieverbot, entgegen. Die Gesetzes- che – wird durch ein Staatsziel Tier- novelle soll nun im Oktober im Land- schutz nicht beseitigt. Vielmehr spie- wirtschaftsausschuss beraten und gelt sie geradezu die Zerrissenheit der nach einer öffentlichen Anhörung vom Gesellschaft beim Umgang mit Tieren Bundestag verabschiedet werden. wieder. Exemplarisch hierfür steht die Fast zeitgleich mit der Bundesregie- Ende Mai von der Bundesregierung rung hatten auch Bündnis 90/Die Grü- vorgelegte Novelle zum TierSchG; nen einen Gesetzentwurf vorgelegt, Anlass für diesen Vorstoß ist die not- der das Ziel verfolgt, den Umgang mit wendige Anpassung an europäisches Tieren möglichst detailliert zu regeln. Recht. Im Kern sah der Vorschlag an- Immerhin greift der Entwurf auch For- fangs strengere Normen für Tierversu- derungen einer kritischen Öffentlich- che vor. Erst auf Druck der Öffentlich- keit auf, die die Bundesregierung bis- keit reichte die Bundesregierung wei- her nicht berücksichtigt hat: tierge- tere – eher kosmetische Änderungen – rechtere Haltungsbedingungen in der nach. Landwirtschaft, Ende der Qualzucht, Verbot von Wildtieren im Zirkus und 3 Rainer E. Wiedenmann, Gesellschaftliche Dif- vieles mehr. ferenzierung und moralische Widersprüche in SPD und die Linkspartei stehen den Mensch-Tier-Beziehungen: ein soziologischer Abriss, in: „TIERethik. Zeitschrift zur Mensch- Vorschlägen der Grünen aufgeschlos- Tier-Beziehung“, 3/2011, S. 78. sen gegenüber. Selbst die FDP wäre zu

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Zugeständnissen beim Tierschutz be- EU-Billigimporte in ihrer Existenz be- reit. Dennoch ist ein Kompromiss zwi- droht; die Überdüngung wie auch die schen Opposition und Bundesregie- Versiegelung der Böden würde re- rung derzeit unwahrscheinlich. duziert und die Verbauung der Land- Denn die Hardliner in CDU und CSU schaft eingeschränkt. tragen nicht einmal den gemäßigten Eine solche Entwicklung würde sich Kurs von Bundesministerin Aigner mit natürlich auf den Fleischpreis nieder- und machen sich stattdessen für die In- schlagen. Hierzulande wäre Fleisch teressen von Agrarindustrie und Züch- dann zwar gesünder, zugleich aber terlobby stark. Ein politischer Kompro- auch teurer. Um dem entgegen zu wir- miss zugunsten des Tierschutzes wird ken, müsste die Europäische Union mit ihnen daher kaum zu machen sein. ihre Förderpolitik überdenken. Tat- sächlich hat die EU-Kommission für die Förderperiode 2014-2020 bereits Das Ziel artgerechter Haltung einen Vorschlag präsentiert, der eine vielversprechende ökologische Wei- Aufgrund der parlamentarischen chenstellung in der Agrarpolitik vor- Mehrheitsverhältnisse besteht somit sieht. Demnach sollen Förderungen nur geringe Hoffnung, dass die anste- landwirtschaftlicher Betriebe – im hende Novellierung des Tierschutz- Rahmen des sogenannten Greening rechts die Bedingungen in der Nutz- der Agrarpolitik – fortan an ökologi- tierhaltung wesentlich verbessert. Die sche und soziale Leistungen gekoppelt drängende Frage lautet somit weiter- werden. Noch ist die Debatte um die hin: Wie kann das Ziel artgerechter neue Gemeinsame Agrarpolitik relativ Tierhaltung trotzdem erreicht werden? unberührt von der gleichzeitig stattfin- Wichtiger noch als der Verfassungs- denden Tierschutzdebatte. Diesbezüg- rang des Tierwohls wäre eine grundle- lich dürfte der Zug für 2014 auch schon gende Änderung des Paragraphen 90a abgefahren sein. Doch nach der De- des BGB. Eine Novelle müsste zur Fol- batte ist vor der Debatte – die Diskus- ge haben, dass Tiere nicht länger als sion um die EU-Agrarpolitik nach 2020 Sachen zu behandeln sind. Damit wür- steht bereits vor der Tür. de auch das TierSchG als Nebenstraf- Nicht zuletzt können auch die Kon- recht überflüssig. sumenten selbst zu mehr Tierschutz in Auf dieser Grundlage könnten dann der Nutztierindustrie beitragen, indem konkrete Verordnungen die Details sie einfach ihren Fleischkonsum ein- der Tierschutzpraxis regeln.4 Vor Ort schränken. Überlegungen deutscher müssten die Behörden konsequent das Tierschützer, dies durch den Wegfall Ende der industriellen Tierhaltung des vergünstigten Mehrwertsteuersat- durchsetzen. Die Auswirkungen einer zes auf Fleischprodukte zu erreichen, solchen Wende würden weit über die sind jedoch schwer durchsetzbar. Eine bundesdeutsche Wirtschaft hinausrei- solche Maßnahme würde vor allem die chen: In Übersee oft unter unökologi- niedrigeren Einkommen belasten und schen und unsozialen Bedingungen kein gesamtgesellschaftliches Um- erzeugte Futtermittel müssten nicht denken fördern. Vielmehr setzt ein sol- länger nach Europa importiert wer- ches die Einsicht voraus, dass mit der den; die Kleinbauern Afrikas wären Verminderung individuellen Fleisch- nicht mehr durch hochsubventionierte konsums nicht automatisch die Le- bensqualität sinkt. Gerade für die Mil- 4 Vgl. Thorsten Gerdes, Tierschutz und freiheit- lionen Nutztiere in deutschen Mastbe- liches Rechtsprinzip. Eine strafrechtlich-rechts- trieben dürfte genau das Gegenteil zu- philosophische Untersuchung über Grundla- gen und Grenzen modernen Tierschutzrechts, treffen. Frankfurt am Main 2007.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 25 19.09.12 11:07 26 Kommentare und Berichte

Michael Oswald Rechtsruck in Hellas

Seit Wochen harrt ganz Europa auf den lassen, spiegelt die Angst vor einer im- Bericht der Troika zur ökonomischen mer weiteren Verschlimmerung ihrer Lage in Griechenland. Doch Hellas ohnehin schon prekären Lage wider. ist längst nicht nur ein ökonomischer Denn keineswegs alle Griechen wa- Brandherd: Die von Premierminister ren, wie so oft behauptet, Gewinner Antonis Samaras gezogene Parallele der letzten Dekade, im Gegenteil: Seit mit der Endphase der Weimarer Re- der Einführung des Euro sind die Le- publik ist keineswegs aus der Luft ge- benshaltungskosten stark angestie- griffen. Die immer aussichtslosere öko- gen, gleichzeitig sanken die Löhne nomische Lage leistet extremistischen und die Arbeitslosigkeit wuchs auf Strömungen Vorschub, insbesondere 23,1 Prozent, die der unter 25jährigen einer radikalen Rechten, die ihre Poli- gar auf 54,9 Prozent.1 Der Sparkurs tik immer öfter mit Gewalt und auf der führt daher zu steigender Armut ein- Straße austrägt. schließlich dramatischer Konsequen- Über 30 Jahre hinweg wechselten zen, welche in ihrem Ausmaß der grie- sich die konservative Neue Demokra- chischen Gesellschaft bis dato unbe- tie (ND) und die Panhellenische So- kannt waren: Obdachlosigkeit, Selbst- zialistische Bewegung (PASOK) mit morde und Kriminalität. der Regierung des Landes ab. Auf die- Das Versagen der Großparteien, die se Parteien entfielen in den nationalen Probleme des Landes zu lösen, ihre ri- Wahlen stets mehr als drei Viertel der gorose Sparpolitik und massive Kor- Wählerstimmen. Doch infolge der Kri- ruptheit haben erhebliche Gewinne im se wurde dieses Zweiparteiensystem linken und rechten Spektrum zur Fol- von einem extremen Parteienpluralis- ge: Bei der Wahl im Mai verlor die PA- mus abgelöst – inklusive gravierender SOK mehr als 30 Prozent ihrer Klien- gesellschaftlicher Proteste. tel und stürzte auf 13,2 Prozent ab, die Die Ursache dafür liegt in den von ND wurde mit gerade einmal 18,9 Pro- den Kreditgebern geforderten und zent stärkste Kraft. Beide zusammen von den beiden Altparteien umge- erreichten nicht die erforderliche Re- setzten Sparmaßnahmen. Die Folgen gierungsmehrheit. Die rechtspopu- sind: eine Senkung des Mindestlohns, listischen Unabhängigen Griechen Stellenabbau und Lohnkürzungen bei kamen dagegen auf 10,6 Prozent und Staatsbediensteten, Rentenkürzungen die rechtsradikale Goldene Morgen- und Einsparungen im Gesundheits- röte (GM) auf 7 Prozent – sie verbes- sektor. Das Sparpaket führte daher zu serte sich damit gegenüber 2009 um heftigen Ausschreitungen in Athen: mehr als das 24fache. Im linken Flü- Zahlreiche Gebäude wurden in Brand gel gewannen die Koalition der Radi- gesetzt und Polizisten wiederholt mit kalen Linken (SYRIZA) und die kom- Benzinbomben attackiert. munistische Partei (KKE) 16,8 bzw. 8,5 Vor allem junge Griechinnen und Prozent. Erst die Neuwahl im Juni be- Griechen werden immer unsicherer scherte der ND, der PASOK und der und pessimistischer. Ihr Aufbäumen, 1 Vgl. Hellenic Statistical Authority (ELSTAT), wenn sie denn nicht die zweite Alter- Labour Force Survey May 2012, Pressemittei- native wählen und ihr Heimatland ver- lung, 9.8.2012.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 26 19.09.12 11:07 Kommentare und Berichte 27

Demokratischen Linken doch noch die er schätzt sie als extremistischste Par- erforderliche Regierungsmehrheit. tei Europas ein. Derlei Parteien haben Letztlich resultiert die Fragmentie- in Griechenland jedoch einen relativ rung des Parteiensystems aus einer großen gesetzlichen Spielraum, von dramatischen Erosion der politischen einem Verbot spricht ohnehin kaum Mitte. Die Zustimmung der Regie- jemand. Stattdessen eskaliert die Ge- rung zu den Sparauflagen der Troika walt der Straße. spaltet heute die griechische Gesell- schaft. Während sich ein Teil soziale Gerechtigkeit durch linke Politik er- Die Gewalt der Straße hofft, hat der Rechtsruck zunehmende Gewalt gegenüber Immigranten zur Die GM rief kürzlich alle griechischen Folge. Waren vor der Krise rassistische Männer auf, ihren Sicherheitstruppen Übergriffe lediglich Einzelfälle, zählte beizutreten. In ihrem Selbstverständ- der Gastarbeiterbund Griechenlands nis fungieren diese als Vigilanten, nunmehr 500 Attacken innerhalb von die Einwohner schützen, indem sie in sechs Monaten. Tatsächlich wurde im Problemgebieten patrouillieren und August beinahe täglich von schwer Immigranten vertreiben.4 Die GM-Ak- verletzten oder gar getöteten Immi- tivisten versuchen dabei durchaus, das granten berichtet.2 Recht in die eigene Hand zu nehmen: Zumeist nachts werden Ausländer Nachdem etwa die griechische Presse von Vermummten, die dem Umfeld der über die Vergewaltigung einer 15jäh- GM zugeschrieben werden, auf Mo- rigen durch einen Pakistani auf Paros torrädern gejagt. Mitglieder der Partei berichtet hatte (welche das Mädchen stehen außerdem im Verdacht, Angrif- nur knapp überlebte), stürmten GM- fe auf Geschäfte von Migranten und Aktivisten Mitte August die Fähre, eine provisorische Moschee verübt zu mit welcher der Täter nach Piräus ge- haben.3 Parteichef Nikolaus Michalo- bracht worden war. Nur weil der Poli- liakos weist derlei Vorwürfe von sich. zeitransporter mit dem Beschuldigten Im Juni wurden jedoch Motorradfah- das Schiff in hohem Tempo verließ, rer festgenommen, die einen Pakista- konnten die Nationalisten lediglich die ni attackierten – unter den Verhafteten Frontscheibe zertrümmern.5 befand sich neben zwei GM-Abgeord- Mit ihrem Willen zur Wiederher- neten auch Michaloliakos Tochter. An- stellung der öffentlichen Ordnung dere Funktionäre der Partei wurden stoßen die Männer in den schwarzen bereits wegen Gewalttaten verurteilt. T-Shirts mit der weißen, runenartigen Der Sprecher der Partei, Ilias Kasidia- Aufschrift des Parteinamens jedoch ris, ohrfeigte gar in einer TV-Debatte durchaus auf Verständnis in der Mit- eine Politikerin der KKE, und der Par- te der Gesellschaft, speziell jedoch bei lamentsabgeordnete Efstathios Bou- Einwohnern von Vierteln mit sozialen kouras griff zusammen mit anderen Brennpunkten: Ein Ladenbesitzer er- GM-Aktivisten im August ein Flücht- zählt etwa im persönlichen Gespräch, lingslager an. dass ihm die zumeist afrikanischen Der Menschenrechtskommissar der Händler von Raubkopien seit langem EU, Nils Muiznieks, forderte Grie- ein Dorn im Auge seien und diese un- chenland daher bereits auf, die Ver- behelligt von der Polizei agieren könn- fassungsmäßigkeit der GM zu prüfen; ten. Wenn jedoch die GM aufmar- schiere, nähmen sie Reißaus. Auf der- 2 Vgl. Mayors warn of racist gangs, www.ekathi- lei Reaktionen setzt die GM. Nachdem merini.com,16.8.2012. 3 Vgl. Judith Sunderland, Eva Cossé und Benja- 4 Vgl. Sunderland, Cossé und Ward, a.a.O., S. 7. min Ward, Hate on the Streets. Xenophobic Vio- 5 Vgl. den Bericht unter www.youtube.com/ lence in Greece, New York 2012, S. 6. watch?v=2-ZpfO-VWCM.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 27 19.09.12 11:07 28 Kommentare und Berichte

die Partei längst zum Gravitationszen- in denen das Land eine der niedrigsten trum der radikalen Rechten geworden Verbrechensraten in Europa vorzuwei- ist, will sie mit Aktionen wie der Nah- sen hatte. rungsmittelausgabe an Bedürftige nun Auch wenn die gestiegene Verbre- ihren Wirkungskreis erheblich aus- chensrate den Immigranten mitnich- dehnen. Obwohl ihnen dies untersagt ten gänzlich zugeschoben werden wurde, verteilten Aktivisten vor dem kann: Ein Teil der Verbrechen geht, Parlament ungestört Lebensmittel – al- wie die Menschenrechtsorganisation lerdings ausschließlich an griechische Human Rights Watch (HRW) feststellt, Staatsbürger. offenbar auf das Konto sogenannter Ziel der GM ist es, mit Hilfe der Not survival crimes der Flüchtlinge.8 Das im Lande die Brücke vom parteilichen lässt den ohnehin vorhandenen Unmut Rechtsextremismus in die Mitte der in der heimischen Bevölkerung weiter Gesellschaft zu schlagen. Im Zentrum wachsen, zugunsten der Rechtsradi- Athens fällt dies besonders leicht: Seit- kalen. Seit Anfang August geht die Re- dem Griechenland durch seinen Bei- gierung nun massiv gegen die illega- tritt zur EU zu deren Hauptimmigra- le Einwanderung vor: Nach der bereits tionsland wurde, stranden an griechi- beschriebenen Verhaftung des Pakis- schen Küsten täglich neue Flüchtlin- tani lancierte sie eine landesweite Raz- ge. Derzeit halten sich in dem knapp zia, bei der bis Ende des Monats 12 000 elf Millionen Einwohner zählenden Immigranten kontrolliert, mehr als Land rund 800 000 legale und mehr 2000 verhaftet und bereits 654 abge- als 350 000 illegale Immigranten auf. schoben wurden. Wie Amnesty Inter- Scheitert eine Weiterreise nicht bereits national und HRW verurteilen auch ohnehin an ihrer Finanzierung, dann SYRIZA und KKE die Aktion scharf, spätestens am Dublin-II-Abkommen was wiederum umgehenden Wider- und der sogenannten Drittstaatenre- spruch von Bewohnern eines Bezirks gelung: Demnach ist jenes EU-Land mit hohem Immigrantenanteil nach für einen Asylbewerber zuständig, sich zog: In einem offenen Brief be- welches er zuerst betritt – in diesem zichtigten sie die beiden Parteien, zum Falle also Griechenland. Verfall der Stadt beizutragen. Im Fernsehen verteidigte Justizmi- nister Nikos Dendias, auch Minister Das Ende der „Gastfreundschaft“ für Bürgerschutz, das Vorgehen gegen die illegalen Einwanderer mit dem Neben den Flüchtlingszahlen steigt Schutz der Migranten vor Racheakten in der Hauptstadt auch die Krimina- aus der einheimischen Bevölkerung. lität: In einer Studie aus dem Jahre Deshalb wurde sie auch „Xenios Zeus“ 2011 gaben 85 Prozent der Einwohner benannt – nach dem Gott der Gast- des Zentrums an, bereits Opfer eines freundschaft. Raubüberfalls, Diebstahls oder Ein- Tatsächlich sind die Ängste der Re- bruchs geworden zu sein.6 Berechnun- gierung vor ihrer eigenen Bevölkerung gen, die auf den offiziellen Zahlen der nicht völlig unbegründet: Nachdem Polizei beruhen, ergeben für das erste im Jahr 2011 ein Athener von Immig- Halbjahr 2012 einen Schnitt von mehr ranten ermordet worden war, jagten als 144 Einbrüchen und 12 Raubüber- Schlägertrupps über Tage Ausländer fällen pro Tag allein in Athen.7 All das durch die Straßen und attackierten Ge- bedeutet eine drastische Steigerung schäfte von Einwanderern. Ebenfalls gegenüber den Jahren vor der Krise, aus Rache versuchten Rechtsradika- le im Mai, die Polizeiabsperrung vor 6 Vgl. Sunderland, Cossé und Ward, a.a.O., S. 34. 7 Vgl. www.astynomia.gr/images/stories/2012/ statistics2012/gada.xls. 8 Vgl. Sunderland, Cossé und Ward, a.a.O., S. 34.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 28 19.09.12 11:07 Kommentare und Berichte 29

einer Flüchtlingsunterkunft in Patras zunehmende Rechtsradikalismus kei- mit einem Bagger zu durchbrechen. nesfalls als bloße Protest- oder Jugend- Immerhin stellte Dendias mittlerweile bewegung abtun. Sein Organisations- klar, dass er Michaloliakos paramilitä- grad, die wachsende Zahl der Gewalt- rische Truppen nicht mehr tolerieren taten und der zunehmende Zuspruch werde. Der ehemalige Armeeoffizier aus der Gesellschaft sind alarmierend. konterte umgehend, dass er in diesem Durch Armut und Arbeitslosigkeit, So- Fall seine „Sturmtruppen“ aufstellen zialkürzungen und Kriminalität sind würde. Damit aber würde Athen end- Nationalismus und Xenophobie in- gültig Weimarer Verhältnisse erleben. zwischen weit in die Mitte der Gesell- Ob eine weitere Radikalisierung schaft vorgedrungen. eintritt oder nicht, eines jedenfalls ist Die Politik der etablierten Parteien bereits heute zu erkennben: Die Hass- reagierte darauf viel zu spät. Und als strategie der GM geht auf. Viele Im- sie schließlich handelte, tat sie es zu migranten und Asylbewerber leben harsch und einseitig. Weil die anhal- in großer Angst vor Übergriffen und tende Sparpolitik bis heute konstrukti- Abschiebungen. Doch so düster sich ve Gegenstrategien verhindert, behilft die Lage auch präsentiert, die Mehr- sich die immer hilflosere griechische heit der Griechen ist mitnichten frem- Regierung nun mit „Xenios Zeus“ – denfeindlich; die meisten Bürger ver- mit der „Gastfreundschaft“ von neuen urteilen die GM und ihre politischen Grenzzäunen. Schlimmer könnte poli- Positionen. Und dennoch lässt sich der tisches Versagen kaum ausfallen.

Norbert Mappes-Niediek Rumänien: Leere Hülse Demokratie

Aus Ländern, von denen man hierzu- Wer versucht, sich einen Reim auf den lande sonst kaum etwas hört, erreichen Streit und auf dessen Heftigkeit zu ma- einen zuweilen merkwürdige Nach- chen, kann zwischen verschiedenen richten. Von einem „Putsch“ und von Angeboten wählen: Es sei die rigide einem „Staatsstreich“ war im Juni Austeritätspolitik Ba˘sescus, die so viel die Rede, als der neue Premierminis- Wut und finstere Entschlossenheit her- ter Rumäniens, Victor Ponta, Anstal- vorrufe, heißt es da. Andere suchen ten machte, ein Absetzungsverfahren das Geheimnis in der autoritären Na- gegen den Staatspräsidenten Traian tur des früheren Schiffskapitäns, der Ba˘sescu einzuleiten. Das Vorhaben ist an Bord eben immer nur einen Kom- unter reger Anteilnahme der europäi- mandanten dulde: sich selbst. Wieder schen Öffentlichkeit und aufgrund des andere haben den Angreifer Ponta in Drucks aus der Europäischen Kom- Verdacht, er versuche jede Konkur- mission inzwischen gescheitert. Bei- renz von der Macht fernzuhalten, da- de Parteien bereiten sich nun auf eine mit die Korruptionsskandale seiner so- neue Runde der Auseinandersetzung zialdemokratischen Partei nicht ruch- am 9. Dezember vor, wenn das Parla- bar würden. Nichts davon ist falsch. ment neu gewählt wird. In der Kontroverse selbst aber ist die

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 29 19.09.12 11:07 30 Kommentare und Berichte

Erklärung für den Showdown des ver- teidigte sich damit, er habe seine Dis- gangenen Sommers nicht zu finden; sertation „vor neun Jahren“ geschrie- sie liegt vielmehr im Hintergrund. ben. Tatsächlich fehlen in Rumäniens öf- Die Empörung über die offenkun- fentlichem Leben die Instrumente, mit dige Instrumentalisierung der Gre- denen gleich welcher Streit, ein poli- mien durch Ponta und seine Getreu- tisch-ideologischer ebenso wie ein en, wie sie im Westen und vor allem persönlicher, zivilisiert ausgetragen in Deutschland aufbrandete, wurde werden könnte. Die Institutionen, die in der rumänischen Öffentlichkeit von man dafür braucht, sind alle vorhan- dem Wissen gedämpft, dass die andere den, aber sie funktionieren nicht so, Seite ja nicht anders gehandelt hatte: wie sie sollten. Sie sind „Formen ohne Die neue Ethik-Kommission war eben- Inhalt“ geblieben, wie es in einer alten so parteiisch, wie es die alte gewesen rumänischen Formel heißt. war, nur eben andersherum. In Rumä- nien weiß man, dass es keinen Zweck hat, im Dickicht der Loyalitäten nach Institutionen ohne Inhalt der eigentlichen Wahrheit zu suchen. Jeder handelt wie selbstverständlich Illustrieren lässt sich das am Schar- nach seinem Interesse. mützel, mit dem der sommerliche Streit begonnen hat, dem Plagiatsvorwurf an Ponta. Der Jurist soll seine Dok- Kein Bewusstsein für die Logik torarbeit zu wesentlichen Teilen ab- der Verfassung geschrieben haben, ähnlich wie vor ihm der ehemalige deutsche Verteidi- Die Parteien sind in dem politischen gungsminister Karl-Theodor zu Gut- Chaos des Landes sogar ein ordnender tenberg und der ungarische Präsident Faktor, denn sie bündeln die Interes- Pál Schmitt. Der Befund liegt klar auf sen ja; im Zweifelsfall handelt jeder, der Hand, die politische Konsequenz der über sie ein Amt bekommen hat, nicht. „Das halbe Parlament hat ex- nach Anweisung dessen, der ihn no- akt auf die gleiche Weise promoviert“, miniert hat, und wird so berechenbar. sagt die Politikwissenschaftlerin Ali- Solche persönlichen Seilschaften zie- na Mungiu-Pippidi. Nicht der Vorwurf hen sich hinauf bis zum Verfassungs- selbst war entsprechend strittig, son- gericht. Das neunköpfige Gremium dern die Art und Weise seiner Prüfung. wird zu je einem Drittel von beiden Pontas Gegner legten die Dissertation Häusern des Parlaments und vom Prä- der Nationalen Kommission für die sidenten besetzt; alle drei Jahre wird Anerkennung akademischer Diplome ein Drittel der Richter ersetzt. Sie kön- und Titel vor, die zwar nicht zuständig nen nach ihrer neunjährigen Amts- war, von ihrer Zusammensetzung her zeit nicht wiederbestellt werden, eine aber ein für sie passendes Ergebnis Bestimmung, die ihnen Unabhängig- erwarten ließ. Die eigentlich zustän- keit von den Parteien garantieren soll. dige Ethik-Kommission beim Wissen- Aber „Unabhängigkeit“ hat in dem schaftsministerium veränderte Pontas System keinen Wert. Im Streit über Bildungsminister in ihrer Zusammen- die Gültigkeit des Referendums vom setzung derart, dass sie sich einem kla- 29. Juli zum Absetzungsverfahren ge- ren Votum entzog. gen den Präsidenten richtete sich die Die „Sache“, um die es ging, ver- Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit schwand bei all dem völlig. Jede Partei entsprechend auf die individuellen In- hat ihre eigene Wahrheit; eine höhere, teressen der Richter. Einer von ihnen, der sich alle gleichermaßen zu beugen so wurde spekuliert, soll sein Votum hätten, existiert nicht. Ponta selbst ver- über die Gültigkeit der Volksabstim-

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mung davon abhängig gemacht haben, zung abstimmen. Bei der Abstimmung ob die Regierung seinem Sohn die ge- am 29. Juli gingen von den registrier- wünschte Position verschaffen wür- ten Wählern nur 46,24 Prozent zu den de. Ob der Verdacht stimmt, lässt sich Urnen; von diesen stimmten 87,52 Pro- hier nicht ergründen. Entscheidend ist zent gegen Ba˘sescu. Damit war das aber, dass solche Motive allenthalben 50-Prozent-Quorum verfehlt worden, für plausibler gehalten werden als je- und Ba˘sescu blieb im Amt. Wie bei je- des juristische Argument. „Unabhän- dem Schritt im Absetzungsverfahren gigkeit“ bedeutet nicht Verpflichtung wurde auch zur Gültigkeit des Refe- auf die Sache, sondern die Freiheit, rendums wieder das Verfassungsge- nach dem persönlichen Interesse zu richt angerufen. Die obersten Richter handeln. forderten zu ihrer Entscheidungsfin- Im Streit über die Gültigkeit des Ab- dung von der Regierung die Wählerlis- setzungsverfahrens war das Verfas- ten an. Die Regierung Ponta verstand sungsgericht für beide Seiten entspre- das als Aufforderung, die Wählerlisten chend ein Unsicherheitsfaktor. Eigent- nach den Ergebnissen der Volkszäh- lich, so meinten die Ba˘sescu-Anhänger, lung aus dem Vorjahr zu bereinigen, seien doch die Mehrheitsverhältnisse und wies die lokalen Behörden ent- klar: Ging man nach den Nominierun- sprechend an. Empörung über diesen gen, stand es fünf zu vier für die Ge- Versuch, nachträglich die Bedingun- folgsleute des Präsidenten. Ihre „Un- gen der Abstimmung zu ändern, blieb abhängigkeit“ aber machte die Richter aus. War nicht die höhere Wahrheit, anfällig für individuelle Anreize wie dass die Listen veraltet waren und seit auch für Drohungen und damit unbere- ihrer Erstellung wieder Hunderttau- chenbar. Der Gegenstand ihrer Tätig- sende Rumänen ins Ausland gezogen keit, die korrekte Auslegung der Ver- waren? Stellte sich da nicht eine bloß fassung, wurde in der öffentlichen Dis- formale Regel über die Wirklichkeit? kussion dagegen gar nicht zum Thema. Einzelne Verfassungsbestimmungen wurden immer nur als Prügel gegen Beliebigkeit und Opportunismus die je andere Seite verwendet, ganz so, als bräche man eine Latte aus einem Wie im Verfassungsstreit beziehen Zaun, um auf den anderen einzudre- die Parteien auch in inhaltlichen schen, ohne Verständnis dafür, dass Kontroversen ihre Positionen belie- sie ja mit anderen Latten ein sinnvolles big und je nach Opportunität. Nur auf Ganzes bildet. Für die innere Logik der den ersten Blick erscheint Ba˘sescu Verfassung bestand und besteht kaum als der Sparkommissar und Ponta als ein Bewusstsein. Wenn Ponta mit den der keynesianische Sozialdemokrat. Verfahrensregeln und Grundrechten In der Wirtschaftskrise, die das Land der Verfassung einen selektiven Um- seit 2009 voll erfasst hat, hatte Ba˘sescu gang pflegte, kam das nur Außenste- zwar tatsächlich auf die Senkung der henden zynisch vor; für die meisten Ru- Staatsausgaben gesetzt. Seine pau- mänen war es normal. schale, 25prozentige Kürzung der Für zynisch muss, wer die westli- Gehälter im öffentlichen Dienst ge- chen Rechtsstaaten kennt, auch die horchte aber keiner liberalen Logik, lange Reihe absichtsvoller Missver- sondern diente nur zur Aufrechterhal- ständnisse halten, die dann entweder tung des Klientelsystems. Vor allem rein formal oder aber überhaupt nicht in der Verwaltung war in den Jahren geklärt wurden. Nachdem das Parla- zuvor die Zahl der Stellen erheblich ment den Präsidenten abgesetzt hat- aufgebläht worden; es galt, die An- te, musste das Volk in einem Referen- sprüche der Ba˘sescu-treuen Liberal- dum über die Gültigkeit der Abset- demokratischen Partei zu befriedigen.

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Für die neu Eingestellten gab es kaum Entscheidend für den Ausgang des Ab- Verwendung, zuweilen nicht einmal setzungsverfahrens im Sommer war einen Schreibtisch; nur Geld und ein schließlich der dringende Rat der EU- bisschen Macht bekamen sie. Mit der Kommission, das 50-Prozent-Quorum Kürzung wurden dann diejenigen öf- für das Referendum beizubehalten. fentlich Bediensteten bestraft, für die Wiederum war es, dachten die Rumä- das Gehalt im öffentlichen Dienst nicht nen, damit eine formale Regel, die dem bloß eine Pfründe war, vor allem in höheren Sinn der Demokratie, dem Krankenhäusern, in den Schulen und Willen des Volkes zum Durchbruch zu bei der Polizei. Die Folgen sind verhee- verhelfen, im Wege stand. Stellt man rend: Bei Gehältern um die 200 Euro in Rechnung, dass die Beteiligung an und Freizügigkeit in der EU hat Ru- der letzten Präsidentenwahl 2009 nur mäniens öffentliches Gesundheitssys- bei 58 Prozent lag, muss man aus dem tem in nur vier Jahren durch Auswan- Ergebnis tatsächlich ein überwältigen- derung 12 000 Ärzte verloren. Wenn des Votum gegen Ba˘sescu herauslesen. Ponta auf der anderen Seite verspricht, Die EU-Kommission allerdings hatte nunmehr Investitionen zu fördern, so mit ihren Ratschlägen und Empfehlun- hat er im Staatshaushalt dafür keinen gen korrekt interveniert; sie nahm gel- Spielraum. tende Regeln unabhängig von ihrem Zustandekommen und den dahinter- stehenden politischen Absichten für gegeben und zog daraus ihre Schlüsse. Die Interventionen von Europa-Par- lamentariern waren dagegen wenig Kaffee kochen hilfreich. Konservative, aber auch Li- berale stimmten in die Staatsstreich- und kopieren? Rufe der Ba˘sescu-Anhänger ein und stellten einen Zusammenhang mit den ganz anders gelagerten Problemen in Nicht mit uns. Ein Praktikum Ungarn her. Sozialdemokraten rechne- im Blätter Verlag gewährt Ein- ten Pontas Ermächtigungen gegen vor- hergehende durch Ba˘sescu auf und lie- blicke in die Redaktions- und ßen außer Acht, dass der neue Mäch- Verlagsarbeit der meistgelese- tige mit dem Absetzungsverfahren eine weitere Eskalationsstufe betreten nen politisch-wissenschaftlichen hatte. Die Rumänen sahen die Ausei- Monatszeitschrift im deutschen nandersetzung zwischen ihren poli- tischen Parteien in Europa gespiegelt Sprachraum. und mussten glauben, es gehe überall so zu wie in Bukarest. Davon sollen beide Seiten etwas haben: Kaffee kochen Das Patt als politische Chance und kopieren teilen wir uns. Die spannende Arbeit auch. Dennoch: Das Ergebnis der Interven- tion durch Brüssel, die Wiedereinset- zung des Präsidenten in sein Amt, ist Bewerbungen bitte an eine Chance. Nur im Patt zwischen Ponta und Ba˘sescu, nicht nach dem [email protected] totalen Sieg einer der streitenden Par-

(Tel.: 030 / 30 88 - 36 43) teien, können sich mit der Zeit faire Verfahren für den Umgang der Ver-

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fassungsorgane miteinander heraus- einer naturwissenschaftlichen Abtei- bilden. lung und verfälschte so die Idee einer Welchen Weg Rumänien künftig Akademie. […] In Wirklichkeit sind geht, wird sich erst nach der Parla- das alles nur Vorspiegelungen ohne mentswahl entscheiden. Nach den Grundlage, Phantome ohne Korpus.“ Umfragen hat Ponta, der schon als si- Die Kritik war nicht antiwestlich, rich- cherer Sieger festzustehen schien, tete sich aber gegen den Top-down- mit seinen Ränkespielen und dem ge- Zugang, mit dem die reichen Grund- scheiterten Absetzungsverfahren zwar besitzer die bäuerliche Gesellschaft an Vertrauen verloren. Der Vertrau- des Landes geistig und politisch kolo- ensverlust für Ba˘sescus Liberaldemo- nisierten und sich selbst die Herrschaft kraten ist aber noch größer und kaum sicherten. einholbar. Bis zum 9. Dezember ist Der Gedanke ist den Rumänen ver- jedenfalls große Aufmerksamkeit ge- traut geblieben und lässt sich auf die boten. Schon vernimmt man Nach- Entwicklung der liberalen Demokratie richten, dass die sozialdemokratisch seit dem Ende des Ceaus,escu-Regimes geführte Regierung mit Säuberungen trefflich übertragen: Diesmal waren und Druck in den elektronischen Me- es die Kommunisten, die alten Herr- dien begonnen hat. Beliebte Sende- schenden, die ihre Herrschaft in eine plätze werden abgeschafft, kritische neue, liberale Form kleideten, ohne die Journalisten durch loyale Parteigän- Wertgrundlage, die diese Formen ge- ger ersetzt. schaffen hatte, mitvollzogen zu haben. Nachdem sich die EU-Kommission Tatsächlich folgte in Rumänien der als Schiedsrichter bewährt hat, wird Ceaus,escu-Diktatur eine lange post- Brüssel – trotz der an parteipolitischen kommunistische Phase, die – nach ei- Linien orientierten Interventionen ei- ner Unterbrechung – erst mit dem En- niger EU-Parlamentarier – weiter eine de der Amtszeit des Premiers Adrian Schlüsselrolle einnehmen, auch in der Nastase 2004 endete. Auch heute rumänischen Öffentlichkeit. Denn sind es wieder die „hohlen Formen“, dort gelten die liberalen Demokratien von denen man sich beherrscht fühlt. des Westens nach wie vor als das un- Wie im 19. Jahrhundert die Pariser, erreichte Vorbild, die Verhältnisse im so nützen die angeblich proeuropäi- eigenen Land hingegen als deren per- schen Reichen und Mächtigen heute vertierte Variante. Die rumänischen die Brüsseler Formeln und Phrasen, Eliten kopierten vom Westen nur die um sich zu ermächtigen und zu berei- Formen, nicht den Inhalt; diese alte chern. Denkform tritt in jeder Krise neu auf. In den 1860er und dann wieder in Als forme fa˘ra˘ fond, Formen ohne In- den 1930er Jahren führte der Gedan- halt, attackierte schon 1868 der Philo- ke von „Formen ohne Inhalt“ zur Su- soph, Literaturkritiker und Politiker che nach neuen, „echten“ Formen, die Titu Maiorescu in seinem berühmten „im Volke“ vermutet wurden; heraus Essay „Gegen die Richtung der heuti- kam in den 1930er Jahren eine faschis- gen Kultur“ die Modernisierung des tische Bewegung. In Brüssel muss man Landes. „Bevor es über die Schulbil- wissen: Nur wenn die Formen der li- dung hinaus noch eine Kultur gab, hat beralen Demokratie wirklich ernst ge- man rumänische Athenäen und Kul- nommen werden, wird sich den Rumä- turvereine gegründet. Bevor es auch nen erschließen, dass sie selbst Inhalt nur einen Hauch echter wissenschaft- tragen. licher Aktivität gab, schuf man die Ru- mänische Akademische Gesellschaft mit einer philologischen, einer histo- rischen und archäologischen sowie

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 33 19.09.12 11:07 34 Kommentare und Berichte

Anne Britt Arps Chávez letzte Schlacht

Wenn Venezuelas Wählerinnen und auf 7 Prozent) reduziert.2 Chávez hat Wähler am 7. Oktober ihren Präsiden- die Armen zudem in seinen politischen ten wählen, spricht laut Umfragen alles Diskurs integriert und ihnen politische für einen klaren Sieg von Amtsinhaber Teilhabe ermöglicht, was zu seiner Hugo Chávez gegen seinen Herausfor- großen Beliebtheit erheblich beiträgt. derer Henrique Capriles Radonski vom So wurden in seiner Amtszeit Elemen- Oppositionsbündnis Tisch der Demo- te einer partizipativen Demokratie in kratischen Einheit (MUD). Doch Chá- der Verfassung verankert, deren wohl vez möchte mehr, nämlich 70 Prozent wichtigste Form die ab 2005 einge- der Wählerstimmen. Damit macht er führten consejos comunales, die Ge- die Wahl quasi zum Plebiszit über sein meinderäte, sind. Vor allem in der ers- Regierungsprojekt – den 2005 aus- ten Hälfte von Chávez Regierungszeit gerufenen „Sozialismus des 21. Jahr- hat das besonders in den städtischen hunderts“. Angesichts der Krise, in der Armenvierteln eine breite gesell- dieses Projekt heute steckt, ist dies ein schaftliche Mobilisierung ausgelöst. riskantes Manöver. Denn die Zukunft Auf diese Weise hat die venezolani- seiner bolivarianischen Revolution ist sche Regierung erheblichen Anteil da- heute unsicherer als je zuvor. ran, dass auf dem Subkontinent wie- Dabei kann sich Chávez auf die der politische Alternativen jenseits Unterstützung eines Gutteils von Ve- der neoliberalen Strukturanpassungs- nezuelas Armen verlassen. Seit er En- programme der 1990er Jahre denk- de 1998 in den Präsidentenpalast Mira- bar geworden sind und sich die Kräfte- flores eingezogen ist, hat sich ihre Situ- verhältnisse zugunsten einer Mitte- ation spürbar verbessert: Heute ist Ve- Links-Achse verschoben haben, die nezuela laut einem Bericht der latein- von Brasilien über Bolivien bis nach amerikanischen Wirtschaftskommis- Kuba und Venezuela reicht. sion CEPAL das Land mit der gerings- Lateinamerika, das von den Ver- ten Ungleichheit auf dem Kontinent. einigten Staaten traditionell als ihr Demnach hat sich die Armut zwischen Hinterhof betrachtet wurde, hat da- 2002 und 2011 um 20,8 Prozent verrin- durch zu neuem Selbstbewusstsein ge- gert.1 funden. Projekte und Bündnisse der Verantwortlich dafür sind die So- regionalen wirtschaftlichen und poli- zialprogramme der Regierung, die Mi- tischen Integration wie die Union Süd- siones, die für viele den Zugang zu öf- amerikanischer Staaten (UNASUR) fentlichen Gütern und Dienstleistun- oder die Gemeinschaft der Lateiname- gen etwa im Bereich Gesundheit und rikanischen und Karibischen Staaten Bildung erheblich erleichtern. Und (CELAC) gewinnen zunehmend an auch die Arbeitslosenzahlen haben Bedeutung gegenüber jenen, in denen sich aufgrund der Beschäftigungspro- die USA den Ton angeben, insbeson- gramme der Regierung zwischen 1999 dere der Organisation Amerikanischer und 2010 um gut die Hälfte (von 14,5 Staaten (OAS). Zwar beansprucht die

2 Vgl. Gregory Wilpert, Zwölf Jahre Bolivari- 1 Vgl. Cepal, Panorama Social en América Latina sche Revolution, „Standpunkte International“, 2011, Santiago de Chile 2011, www.eclac.cl. 5/2011, Rosa Luxemburg Stiftung.

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stark expandierende Wirtschafts- tums für Venezuelas Wirtschaft durch- macht Brasilien in diesem Prozess die aus bewusst. Faktisch führt dieser zu Führungsrolle – aber die jüngste Auf- einer chronischen Überbewertung der nahme Venezuelas in das Handels- Währung und würgt damit die heimi- bündnis Mercosur zeigt, wie wichtig sche Produktion ab. Doch eine Diversi- das Land für die politischen Kräftever- fizierung der Wirtschaft, die den Fluch hältnisse auf dem Kontinent ist. der Ressourcen lindern könnte, ist der Regierung bis heute nicht gelungen. Obwohl sie zu diesem Zweck seit 2005 Revolution am Öl-Tropf den Aufbau eines Genossenschafts- sektors vorantreibt, ist daraus kein Hinter diesen Errungenschaften steht trag- oder gar wettbewerbsfähiger jedoch in erster Linie eines: das im- Sektor entstanden. Im Gegenteil: Ge- mense Erdölvorkommen Venezuelas. nossenschaftliche oder selbstverwal- Die Ölwirtschaft generiert 90 Prozent tete Betriebe müssen sogar oft staatlich der Exporterlöse des Landes, die Hälf- bezuschusst werden. Und auch der öf- te der Staatseinnahmen und ein Vier- fentliche Sektor spielt keine nennens- tel des Bruttoinlandsproduktes. Auch werte Rolle. Dabei hat die Regierung unter Chávez hat sich diese Abhängig- zahlreiche Schlüsselindustrien ver- keit vom Öl nicht verringert. 3 staatlicht (Telekommunikation, Stahl- Zwar ist es der Chávez-Regierung und Zementproduktion, Elektrizität zu verdanken, dass der Staat über- und Lebensmittelverteilung). haupt wieder auf die Öleinnahmen zu- Auch hier zeigt sich: Jenseits ihrer greifen kann. Gegen heftige Wider- sozialen Errungenschaften ist Chá- stände der Eliten brachte sie die halb vez bolivarianische Revolution extrem privatisierte staatliche Ölgesellschaft widersprüchlich. Und sie steht wei- PDVSA wieder unter ihre Kontrolle, er- ter auf tönernen Füßen. Denn neben höhte die Abgaben privater Ölfirmen den sprudelnden Öleinnahmen ist der an den Staat und teilnationalisierte die „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ Anlagen transnationaler Ölfirmen. noch in einer zweiten Weise abhängig: Doch gleichzeitig machte sich die nämlich von der Person Hugo Chávez Regierung, indem sie zentrale Projek- selbst. Mit ihm steht und fällt das ge- te direkt aus dem Öl-Topf finanziert, samte Projekt. von den Preisschwankungen auf dem Weltmarkt abhängig – und letztlich auch von einer endlichen Ressource. Held und Hoffnungsträger Chávez Ganz abgesehen davon, dass sie damit ein ökologisch fragwürdiges Entwick- Der populäre „comandante“ ist die lungsmodell fortschreibt. Und den- zentrale Integrationsfigur seiner bo- noch: Nichtsdestotrotz strebt Chávez livarianischen Revolution. Er hat es an, Venezuela in eine globale Energie- geschafft, die fragmentierte venezo- macht zu verwandeln, was er nur über lanische Linke zu einen und margi- eine beträchtliche Steigerung der Erd- nalisierte Bevölkerungsschichten zu ölproduktion erreichen kann. mobilisieren. Gerade viele Arme sehen Zwar ist man sich in der Regierung sich in ihm repräsentiert, für viele ist der problematischen Rolle des Ölreich- er Held und Hoffnungsträger. Darüber hinaus nimmt der Präsident auch im 3 Dabei treiben Chávez Erdöldiplomatie und sein klar antiamerikanischer Kurs mitunter grotes- politischen System eine zentrale Stel- ke Blüten: Sein Schulterschluss mit Syrien und lung ein, die nach Chávez erster Wahl dem Iran oder der jüngst erklärte Austritt aus noch einmal ausdrücklich gestärkt dem Interamerikanischen Menschenrechts- system können nicht anders als rückschrittlich wurde. Chávez und seine Mitstreiter bezeichnet werden. haben das anfänglich auch damit ge-

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rechtfertigt, dass sie auf diese Weise Staatschefs sind vielen noch in frischer eine alternative Politik überhaupt erst Erinnerung. Die Zweifel, ob der Krebs durchsetzen konnten. Tatsächlich sa- tatsächlich besiegt ist und Chávez die ßen im Staatsapparat noch die alten von ihm angestrebte, weitere Amtszeit Eliten, die Reformen hartnäckig blo- überstehen wird, sind damit alles an- ckierten. Die Sozialprogramme finan- dere als beseitigt. ziert die Regierung deswegen direkt über einen Fonds der staatlichen Öl- gesellschaft PDVSA und setzt sie in Autoritär-partizipative Demokratie Kooperation mit lokalen Basisorgani- sationen um, am öffentlichen Haushalt Die Machtfülle des Präsidenten hat und am Verwaltungsapparat vorbei. In jedoch noch einen anderen, entschei- Venezuela spricht man davon, einen denden Haken: Sie steht der von sei- Bypass gelegt zu haben. nem Projekt offiziell angestrebten Doch inzwischen sehen es auch vie- „Vertiefung der Demokratie“ dia- le seiner Parteigänger als Problem an, metral entgegen. Denn die durchaus dass Chávez zu viel Macht in seinen positiven Elemente der partizipativen Händen hält: Denn in Partei und Re- Demokratie, die vor allem auf lokaler gierung pflegt der ehemalige Offizier Ebene eine Rolle spielen, bleiben letzt- einen militärischen Führungsstil, Ent- lich vom guten Willen des Präsidenten scheidungen trifft er oftmals alleine. abhängig: Zwar greift Chávez immer Dadurch würgt er dringend notwen- wieder Initiativen „von der Basis“ auf, dige kritische Debatten über den von wie beispielsweise von sozialen Bewe- ihm angestoßenen Transformations- gungen vorgebrachte Gesetzesinitia- prozess ab. tiven gegen willkürliche Wohnungs- Eine durch demokratische Ent- räumungen oder zur Regulierung des scheidungsstrukturen geprägte, hand- Landbesitzes in städtischen Ansied- lungsfähige Partei konnte in diesem lungen, doch setzt er sie dann oft im Klima ebenso wenig heranwachsen Alleingang, per Präsidentenerlass, wie ein möglicher Nachfolger – oder und am Parlament vorbei durch. So eine Nachfolgerin. Chávez umgibt verhilft er zwar einerseits der Mitbe- sich mit „mittelmäßigen, loyalen Jasa- stimmung „von unten“ zur Durchset- gern“, urteilt die Historikerin Margari- zung, schwächt aber gleichzeitig die ta López Maya.4 Und auch die Zivilge- repräsentative Demokratie. sellschaft verfügt in Venezuela kaum Nach den Parlamentswahlen 2010 über starke und unabhängige Organi- ermächtigte die scheidende Natio- sationen oder soziale Bewegungen, die nalversammlung den Präsidenten so- ein Gegengewicht bilden und Druck gar per Gesetz, für anderthalb Jahre auf die chávistische Führung ausüben in wichtigen Bereichen quasi per De- könnten. kret zu regieren. Die Opposition hatte Noch dramatischer wird die Ab- erstmals fast genauso viele Stimmen hängigkeit von der Person Chávez da- erzielt wie die Chávistas. Anstatt sich durch, dass er an Krebs erkrankt ist. den neuen Kräfteverhältnissen und Zu Beginn des Wahlkampfes Anfang inhaltlichen Debatten zu stellen, ent- Juli erklärte er sich zwar für geheilt, schied sich das Regierungslager da- jegliche Zweifel an seinem Gesund- mit, das Parlament zum dekorativen heitszustand wischt er als Propagan- Element zu degradieren. da der Opposition weg. Doch die Bilder Hinzu kommt, dass auch die anfäng- des aufgeschwemmten, kahlköpfigen lich angestoßene gesellschaftliche Bewegung mehr und mehr erstarrt. 4 Margarita López Maya, Chávez ist umgeben von loyalen Jasagern (Interview), in: „Der Stan- Denn die neuen Beteiligungsstruktu- dard“, 26.2.2012. ren hängen am finanziellen Tropf des

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Staates und bleiben so von ihm ab- Luiz Inácio Lula da Silva. Diesem sei es hängig. Und anstelle der alten beginnt gelungen, einen Ausgleich zwischen sich immer mehr eine neue, schier un- Staat und Privatwirtschaft zu errei- durchdringliche Staatsbürokratie her- chen und zugleich eine erfolgreiche auszubilden, in der sich abermals Kor- Sozialpolitik zu betreiben. In diesem ruption und Klientelismus ausbrei- Sinne will Capriles die Sozialprogram- ten. Diese neue Bürokratie gerät zu- me der Regierung nicht abschaffen, sie nehmend in Konflikt mit der durch die aber reformieren. Als Gouverneur des politische Beteiligung selbstbewusster Bundesstaats Miranda legte er bereits gewordenen Basis, droht deren Orga- ein eigenes Hungerbekämpfungspro- nisierung aber letztlich auszubremsen. gramm mit dem Titel „Hambre Cero“ Schon wenden sich die ersten von der (Null Hunger) auf – die Parallele zu Lu- Korruption, der oftmals ineffizienten las Programm „Fome Cero“ ist unver- staatlichen Politik und hierarchischen kennbar. Doch den direkten Vergleich Entscheidungen der Regierungspartei mit Lula unterlässt Capriles inzwi- Enttäuschten von Chávez ab. schen und spricht stattdessen nur noch vom „brasilianischen Modell“, wohl auch deshalb weil Lula, der Chávez Die Opposition holt auf unterstützt, sich über den Vergleich mit seiner Person maßlos aufgeregt ha- Angesichts dieser Probleme dürfte – ben soll. zumindest mittelfristig – ein dritter Auch in anderen Bereichen liest sich Faktor zu einer ernsthaften Gefahr für das Wahlprogramm der MUD moderat: Chávez Projekt werden: Erstmals sieht Sie bekennt sich in ihm sogar zu der sich der Präsident einer geschlossenen unter Chávez verabschiedeten Verfas- und geschickt agierenden Opposition sung. Dennoch hat Capriles Mühe, das gegenüber, die zudem einen charis- Image des Rich-Kid abzuschütteln, das matischen Kandidaten ins Rennen ge- die Interessen der Wohlhabenden ver- schickt hat – den 40jährigen Henrique tritt. Viele halten sein Programm für Capriles Radonski, Spross einer der reine Wahlkampftaktik. Tatsächlich reichsten Familien Venezuelas. hat die von Capriles mitbegründete Der Jurist hat eine steile Karriere rechtsliberale Partei Primero Justicia hinter sich: Vom jüngsten Parlamenta- (Gerechtigkeit Zuerst) den harten Kon- rier im Jahr 1999 über eine achtjährige frontationskurs der Opposition lange Amtszeit als Bürgermeister des wohl- aktiv mitgetragen. Auch vor mehreren habenden Hauptstadt-Vororts Baruta Generalstreiks und sogar einem Mili- hat er sich in kurzer Zeit bis zum Gou- tärputsch schreckte man dabei nicht verneur des wichtigen Bundesstaats zurück. Dass Capriles letztlich doch Miranda hochgearbeitet. Und anders die Interessen der Privatwirtschaft als in der Vergangenheit, als die Oppo- vertritt, wird vor allem in der Wirt- sition einen harten Konfrontationskurs schafts- und Energiepolitik deutlich: gegen die Regierung verfolgte, hat sie Hier möchte das Oppositionsbündnis inzwischen erkannt, dass sie die Wah- den unter Chávez gestärkten Einfluss len nicht ohne die Zustimmung eines des Staates zurückdrängen und priva- gehörigen Teils der Bewohner der te Investoren anlocken. städtischen Armenviertel, der Barrios – Angesichts dieser Machtverschie- Chávez traditionelle Hochburgen – ge- bungen ist die nun anstehende Präsi- winnen kann. dentschaftswahl deutlich spannender Entsprechend präsentiert sich Ca- als die vorangegangenen. Doch die priles als gemäßigter Kandidat der lin- große Frage ist zum gegenwärtigen ken Mitte, nach dem Vorbild des ehe- Zeitpunkt nicht, ob Chávez die Wahlen maligen brasilianischen Präsidenten gewinnt. Die eigentliche Frage ist viel-

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mehr, was nach der Wahl passiert und ungewissen Zukunft wird man in der ob es der Opposition mittelfristig ge- regierende Partei bereits nervös; denn lingt, die Kräfteverhältnisse im Staat viele haben etwas zu verlieren. Noch wieder zu ihren Gunsten zu verschie- besteht die Chance für die dem Projekt ben. wohlgesonnene Basis, sich zu organi- Letztlich geht es um nichts weniger sieren, um den weiteren Transforma- als um die Zukunft von Chávez „So- tionsprozess für die Zeit nach Chávez zialismus des 21. Jahrhunderts“. Will mitzugestalten. Doch Beobachter be- Chávez seine bolivarianische Revo- fürchten bereits, dass die chávistische lution retten, muss er Veränderungen Koalition zerbrechen und sich Teile zulassen: Er muss Macht abgeben, die von ihr mit der Opposition verbünden Demokratie stärken und die Abhän- könnten.5 Damit aber stünden auch die gigkeit vom Öl verringern. Andern- Errungenschaften der letzten 13 Jahre falls droht, sollte Chávez tatsächlich endgültig auf dem Spiel. seiner Krebskrankheit erliegen, das Projekt wie ein Kartenhaus in sich zu- 5 Guillermo Almeyra, Venezuela ante las eleccio- sammenbrechen. Angesichts dieser nes, in: „La Jornada“, 2.9.2012.

Charlotte Dany Humanitäre Hilfe oder die Politik der Empörung

Als am 12. August dieses Jahres ein Roth, kritisierte die iranische Regie- Erdbeben im Nordwesten Irans gan- rung prompt scharf für ihre Ablehnung ze Landstriche verwüstete, über 300 der Hilfe: Sie verletze damit „aufs Menschen tötete und rund 5000 ver- Gröbste ihre Fürsorgepflichten gegen- letzte, boten viele Staaten umgehend über der eigenen Bevölkerung“. Roth ihre Hilfe an, unter anderem die Bun- findet auch eine Erklärung für die Ab- desrepublik Deutschland, die Schweiz lehnung: „Offensichtlich sind dieser und die USA. Deren Experten wollten Regierung vermeintliche Fragen der in den wichtigen ersten Tagen helfen, ‚Ehre‘ wichtiger als rasche und mög- verschüttete Überlebende zu suchen, lichst wirksame Hilfe für die Opfer der zu bergen, und die Verwundeten me- Katastrophe.“2 dizinisch zu versorgen. Doch die ira- Der iranische Innenminister Mosta- nische Regierung lehnte sämtliche fa Mohammad Nadschar erklärte hin- Hilfsangebote ab. Erst nach drei Tagen gegen, die Regierung bräuchte keine ließ sie internationale Hilfe zu und ver- Hilfe, da sie alleine mit der Situation hinderte damit, dass die Betroffenen zurechtkomme. Zudem begründete rechtzeitig versorgt wurden.1 Die Bun- die Regierung in Teheran ihre Ableh- desvorsitzende der Grünen, Claudia nung damit, dass das Hilfsangebot aus

1 Vgl. Tausende Verletzte nach Erdbeben. Iran schlägt Hilfsangebote des Westens aus, in: 2 Claudia Roth, Erdbebenopfer im Iran brauchen „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), 13.8.2012. Hilfe, www.gruene.de, 14.8.2012.

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den USA „Heuchelei“ sei. Aus dieser Weise zum dankbaren Aufhänger für Bemerkung erschließt sich das gegen- Kritik, um demokratische Reformen wärtige Problem humanitärer Hilfe, anzumahnen. Dass die humanitäre die von den Hilfeempfängern nicht als Hilfe mit langfristigen politischen Zie- neutral angesehen wird – aber auch len verknüpft wird, schadet jedoch der nicht von den Hilfegebenden. humanitären Idee ebenso wie den Be- So nachvollziehbar die Empörung troffenen. über die Ablehnung der Hilfe ist, so Im Falle Birmas etwa hoffte der Deut- problematisch ist sie auch. Tatsächlich sche Bundestag, die Hilfe als Einfalls- liegen die Gründe für die Ablehnung tor zu nutzen, um die langfristige ent- nämlich weniger in einer nebulösen wicklungspolitische und wirtschaftli- Ehre, als vielmehr in handfesten Inter- che Zusammenarbeit zu stärken und so essen der beteiligten Staaten. Faktisch (auch) auf die demokratische Öffnung wollen viele humanitäre Hilfe anbie- des Landes hinzuarbeiten.3 Das jüngs- tende Staaten mit dieser explizit auch te Erdbeben im Iran dagegen steht wie- außenpolitische Ziele erreichen. derum im Schatten des Streits über das iranische Atomprogramm. Auch hier hoffen die westlichen Staaten, über die Solidarität aus Eigennutz humanitäre Hilfe dem langfristigen Ziel einer Öffnung des Irans für inter- Besonders deutlich wurde dies im Fal- nationale Organisationen näher zu le einer noch sehr viel schwerwiegen- kommen. Der Iran hat also gute Gründe deren Naturkatastrophe: Als Birma zu glauben, dass eine Annahme huma- (Myanmar) im Mai 2008 durch den nitärer Hilfe die Position der helfenden Zyklon Nargis verwüstet wurde, wo- Länder in diesem Streit stärken und die durch etwa 130 000 Menschen starben eigene Position schwächen wird. und 2,4 Millionen Menschen obdach- Dass es sich bei alledem nicht um ein los wurden, lehnte die birmesische Problem nur autoritärer Staaten han- Militärjunta über mehrere Wochen delt, zeigt sich daran, dass auch Demo- jegliche Hilfe aus dem Ausland ab. Erst kratien humanitäre Hilfsangebote ab- nach mehr als einem Monat massiven lehnen – wie die USA nach dem Hurri- internationalen Drucks, unter ande- kan Katrina im August 2005. Auch hier rem von UN-Generalsekretär Ban Ki führte die Politisierung zu einem Ab- Moon, wurde Hilfe ins Land gelassen, lehnungsreflex, zumindest insoweit es wenn auch nur sehr langsam, selektiv sich dabei unter anderem um Hilfsan- und mit vielen Beschränkungen. War- gebote aus Kuba und Venezuela han- um aber lehnte die birmesische Regie- delte. Unklarer bleibt dagegen, warum rung, dem offensichtlichen Leiden der selbst das Internationale Komitee des Menschen und dem nationalen Not- Roten Kreuzes nicht helfen durfte und stand zum Trotz, die Hilfsangebote ab? auch Hilfsangebote aus Deutschland Der Fall Birma hilft in vielerlei Hin- zurückgewiesen wurden. sicht, besser zu verstehen, welche poli- Ähnlich meinte Japan im März 2011 tischen Mechanismen die Ablehnung – nach dem großen Erdbeben, dem humanitärer Hilfe in Gang setzen, folgenden Tsunami und der Nuklear- und welche andererseits zu dieser Ab- katastrophe in Fukushima – keine Hil- lehnung beitragen. Denn er zeigt: So fe zu benötigen, was sich später als fa- berechtigt die Empörung auch ist, so tale Fehleinschätzung herausstellen dient sie doch auch einem politischen sollte und schließlich auch korrigiert Zweck, nämlich das Verhalten unlieb- samer Staaten als menschenverach- 3 Vgl. Delegation des Ausschusses für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung tend und egoistisch zu entlarven. Die besucht Pakistan und Myanmar, Bundestags- Ablehnung der Hilfe wird auf diese Pressemitteilung, 23.10.2008.

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wurde. Die zwischenzeitliche Ableh- deren nationale Nichtbeachtung eine nung Japans war jedoch nicht zuletzt humanitäre Intervention begründen darauf zurückzuführen, dass die USA kann.6 Dies aber hatte nicht unbedingt auch deshalb ihre Hilfe anboten, um die erwünschten Folgen: Die Diskus- der japanischen Regierung ein Ent- sion brachte einen kriegerischen Ton in gegenkommen im Streit über den die internationale Debatte, die bei den wichtigen US-Militärstützpunkt Oki- birmesischen Generälen die Tendenz nawa abzuringen.4 Diese andauernde zur Abschottung eher bekräftigt hat.7 amerikanische Militärpräsenz wird von den Bewohnern der Inseln abge- lehnt. Daher streiten die USA und Ja- Zum Schaden der NGOs pan über die Verlegung des Militärs sowie darüber, wer für die Verlegung Die Empörung hat somit einen gro- wie viel zahlt.5 Auch hier gab es also ßen Nachteil: Sie lenkt den Blick vom für das Angebot der Hilfe – wie für des- humanitären auf den politischen Not- sen Ablehnung – keineswegs nur hu- stand. Indem sie auf diese Weise die Si- manitäre Gründe. tuation politisch auflädt, bestätigt die Im Gegensatz zu Demokratien müs- Empörung das Misstrauen der Hilfe sen jedoch autoritäre Regime bei einer ablehnenden Staaten. Somit ist beides Ablehnung humanitärer Hilfe schwer- – die Ablehnung und die Empörung wiegende Folgen fürchten. Sie befin- darüber – im Kern Ausdruck desselben den sich damit in einer fatalen Zwick- Problems: der Politisierung der huma- mühle. Folgen der Ablehnung können nitären Hilfe. zum einen Sanktionen sein. So forder- Diese Politisierung zieht zuneh- te etwa im Falle Birmas die FDP-Frak- mend auch NGOs in Mitleidenschaft. tion im Bundestag eine deutliche Ver- Denn humanitäre Hilfe wird heute so- schärfung der EU-Sanktionen. Umge- wohl von Staaten als auch von nicht- kehrt lockerten die USA jüngst ihre fi- staatlichen Akteuren geleistet (wobei nanziellen Sanktionen gegen den Iran die Rote-Kreuz- und die Rote-Halb- für kurze Zeit, um nach dessen Einwil- mond-Bewegung Mischformen be- ligung internationalen Hilfsorganisa- inhalten). Unabhängig davon jedoch, tionen die Arbeit zu erleichtern. ob Staaten oder nichtstaatliche Orga- Schließlich kann die erste Empö- nisationen humanitäre Hilfe anbieten, rung leicht in eine grundlegende De- ist sie zwangsläufig mit Politik ver- batte über die Notwendigkeit einer knüpft. internationalen humanitären Interven- Spätestens seit ihren beklemmen- tion münden, wie etwa im Falle Birmas den Erfahrungen in Ruanda und Bos- unter anderem durch den damaligen nien-Herzegowina Anfang der 1990er französischen Außenminister Bernard Jahre haben dies viele nichtstaatliche Kouchner. Nach Birmas weitgehen- humanitäre Organisationen erkannt. der Ablehnung jeglicher Hilfe wurde Sie konnten die humanitären Grund- in Politik und Wissenschaft diskutiert, prinzipien der Neutralität und Unpar- ob die responsibility to protect (R2P), teilichkeit nicht länger aufrechterhal- also die Schutzverantwortung der Re- ten, da sie erkannten, dass dies Kon- gierungen und der internationalen Ge- flikte weiter schüren oder Kriegsver- meinschaft für die Zivilbevölkerung, brecher decken kann. auch nach Naturkatastrophen gilt und 6 Vgl. Rebecca Barber, The Responsibility to Pro- 4 Vgl. Florian Coulmas und Judith Stalpers, Fu- tect the Survivors of Natural Disaster: Cyclone kushima: Vom Erdbeben zur nuklearen Katast- Nargis, a Case Study, in: „Journal of Conflict rophe, München 2011, S. 119. and Security Law“, 2/2009, S. 3-34. 5 Vgl. Florian Coulmas, Das Okinawa-Dilemma, 7 Vgl. Emma Larkin, Everything is Broken. Life in: „Die Zeit“, 14.5.2012. inside Burma, Granta 2010, S. 59.

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NGOs standen hier vor schweren Di- als Außenpolitik im klassischen Sinne lemmata: Sollen sie beispielsweise verstanden wissen will, ist eine neu- Kriegsverbrecher in Krankenhäusern trale Hilfe in weite Ferne gerückt. heilen, nur damit diese nachher wei- Eine Möglichkeit, die Lage zu ver- ter morden können? Wenn sie Zeu- bessern, besteht daher in der Stär- gen schwerer Verbrechen gegen die kung regionaler oder internationaler Menschlichkeit werden, sollen sie da- Organisationen, die jenseits von ein- von berichten, auch wenn sie dann ihre zelstaatlichen Interessen und in Ko- Arbeit im Krisengebiet sofort beenden operation mit internationalen NGOs müssen? Für die nichtstaatlichen Helfer Hilfe anbieten können. In der UNO bedeutete dies zum einen eine größere gibt es beispielsweise das Koordina- persönliche Unsicherheit, da sie zwi- tionsbüro für humanitäre Angelegen- schen die politischen Fronten gerieten. heiten (OCHA), das Welternährungs- Zum anderen wurden sie gezwungen, programm oder das Flüchtlingshilfs- sich politisch zu positionieren. werk. Deren Ausstattung und Effekti- Die NGOs haben unterschiedliche vität sollten gestärkt werden. Denkbar Konsequenzen aus diesen Erfahrun- ist auch die Etablierung weiterer inter- gen gezogen. Einige, wie Ärzte ohne nationaler Organisationen wie auch Grenzen, halten an den Grundsätzen regionaler Büros, die Experten, Vor- der Neutralität fest, so gut es geht, zie- räte und Freiwillige vor Ort organisie- hen aber einen Rückzug aus einem be- ren sollten. Deren Akzeptanz wäre si- troffenen Gebiet in Betracht, wenn sie cher höher, insbesondere wenn sie aus sich der Politisierung nicht entziehen multinationalen und multireligiösen können.8 Andere Organisationen poli- Einheiten bestehen. tisieren ihre Arbeit ganz bewusst, wie Aber auch regionale oder interna- medico international. tionale Organisationen können natür- lich ihre Hilfe nur anbieten. Eine Ab- lehnung zu skandalisieren, kann nicht Entpolitisierung humanitärer Hilfe ihre Aufgabe sein. Das könnten die na- tionalen Politiker schließlich immer Im Ergebnis gefährdet die derzeitige noch tun. Sie würden dann aber we- Politisierung humanitärer Hilfe die nigstens nicht länger selbst die Helfer humanitäre Idee insgesamt. Um Hilfe schicken, hätten also keine Handhabe erfolgreich anzubieten, muss sie daher mehr, die Hilfe – direkt oder indirekt – glaubhaft entpolitisiert werden. Etwas an Bedingungen zu knüpfen. weniger öffentlichkeitswirksame Em- Die humanitär engagierten NGOs pörung kann da nur nützen. stehen heute vor der schwierigen Auf- Die Entpolitisierung humanitärer gabe, in diesem hoch politisierten Feld Hilfe kann letztlich nur gelingen, ihre in Teilen verloren gegangene wenn die Akteure es schaffen, ihre Neutralität zurückzugewinnen. Das politischen Ziele in den Hintergrund wird ihnen am ehesten gelingen, wenn zu rücken. Das ist für staatliche Ak- sie zu staatlichen Auftraggebern stär- teure weniger wahrscheinlich als für ker auf Distanz gehen und auf zu star- internationale oder zivilgesellschaft- ke Positionen hinsichtlich ihrer Moti- liche. Insbesondere unter der neuen vation verzichten: Wer als überzeug- Leitlinie des Bundesministeriums für ter Christ helfen will, muss dies nicht wirtschaftliche Zusammenarbeit und unbedingt missionarisch vor sich her Entwicklung, die Entwicklungspolitik tragen. Ebenso wenig aber sollte die auch als Wirtschaftspolitik und damit überzeugte Demokratin mit der an- geblich bloß humanitären Hilfe andere 8 Vgl. Fiona Terry, Condemned to Repeat? The Ziele verbinden, als Menschen in aku- Paradox of Humanitarian Action, Cornell 2004. ter Not zu helfen.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 41 19.09.12 11:07 DEBATTE

Eurorettung: Die Entmachtung des Souveräns

Am 12. September erklärte das Bundesverfassungsgericht die Zu- stimmung des deutschen Bundestages zum Europäischen Stabili- tätsmechanismus (ESM) und zum Fiskalpakt für rechtmäßig. Warum er darin eine gefährliche Außerkraftsetzung der Demokratie sieht, beschreibt im Folgenden Ex-Greenpeace-Chef Thilo Bode.

Nun also auch noch das Bundesver- monie in der „Rettungsschirmpolitik“ fassungsgericht: Indem es der Politik verhindert Fragen und Debatten, die der Bundesregierung mit seiner Ent- den Bürger brennend interessieren: scheidung vom 12. September einmal Warum sollte es nicht möglich sein, mehr seinen Segen erteilte, wenn auch eine Verkleinerung der Eurozone unter Auflagen und mit sorgenvollem anzusteuern? Scheitert denn Europa Blick, ist die ganz große Koalition aus wirklich, wenn die Währungsunion Legislative, Exekutive und Judikative nur 12 statt 17 Staaten umfasst – inner- vollends komplett – und der Schaden halb einer weiter existierenden EU mit für die Demokratie endgültig unab- 27 Mitgliedstaaten? sehbar. Solche Fragen gelten als ketzerisch. Dass die Mehrheit der Volksvertre- Wer für einen Staatsbankrott Grie- ter im Parlament eine andere Meinung chenlands und den Austritt aus der als das Volk vertreten kann, gehört Währungsunion plädiert, muss sich bekanntlich zu den Begleiterschei- im günstigsten Fall als Euroskeptiker, nungen der repräsentativen Demo- meistens jedoch als Europagegner mit kratie. Dass diese Mehrheit unisono rechtskonservativer nationalistischer eine vermeintlich alternativlose Politik Gesinnung diskreditieren lassen. propagiert, gefährdet sie jedoch. Bür- ger können nicht mehr die Argumente » Der parlamentarische Konsens abwägen, vergleichen und dann unter zur Rettung des Euro ist durch mehreren Angeboten wählen. machttaktische Überlegungen Das aber ist die gegenwärtige Kon- motiviert.« stellation: Eine überwältigende parla- mentarische Mehrheit will die Rettung der Eurozone um jeden Preis und geht Der parlamentarische Konsens dient dabei unübersehbare Haftungsrisi- jedoch keineswegs der besten Lösung ken ein. Dies wird uns als alternativ- zur Rettung des Euro, er ist auch kein lose Politik verkauft, weil alles andere Akt der Solidarität gegenüber Kri- angeblich noch sehr viel teurer wäre. senländern wie Griechenland. Er ist Fällt der Euro, fällt auch Europa, heißt vielmehr durch machttaktische und es. Die fraktionsübergreifende Har- weltanschauliche Überlegungen der

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 42 19.09.12 11:07 Eurorettung: Die Entmachtung des Souveräns 43

Akteure motiviert, die auf diese Weise kus Söder und Alexander Dobrindt for- ihre Interessen am besten bedienen. dern, an den Griechen müsse „endlich Für Angela Merkel und die CDU/ ein Exempel statuiert werden“, binden CSU geht es zuvorderst um den Macht- sie zwar mit derart markigen Sprüchen erhalt und den Gewinn der nächsten die Wähler am rechten Spektrum. Wahl. Schon aus diesem Grund ist Wenn es dann aber darauf ankommt, ihre Strategie optimal. Die Kanzlerin stimmen sie doch wieder mit der CDU. präsentiert sich als Beschützerin des So wie Angela Merkel alles daran deutschen Steuerzahlers und wehrt setzen muss, die griechische Kon- sich verbal gegen die Versuche sei- kursverschleppung fortzusetzen und tens der Mehrheit der Eurozonen-Mit- eine Griechenlandpleite bis nach der glieder, noch mehr deutsches Geld für nächsten Bundestagswahl zu ver- Rettungsschirme auszugeben. Gleich- meiden, haben auch SPD und Grüne zeitig signalisiert sie, alles zu tun, um den sicheren Weg gewählt: Bei nur den Euro zu retten – koste es, was es symbolischer Kritik an der Kanzle- wolle. Warum sollte Angela Merkel rin unterstützen sie das unbegrenzte diese Strategie ändern? Warum sollte Schuldenmachen. Geht diese Ret- sie beispielsweise für eine Insolvenz tungsschirmpolitik gut, können sie Griechenlands plädieren, angesichts sich einen Teil des Erfolgs zuschreiben der Tatsache, dass dieses kleine Land und sich als Koalitionspartner einer wohl niemals in der Lage sein wird, kommenden Regierung unter Angela den gewaltigen Schuldenstand von 180 Merkel empfehlen. Geht sie hingegen Prozent des gesamten Volkseinkom- schief, haben sie von Anfang an auf die mens aus eigener Kraft abzubauen? Risiken dieser Politik hingewiesen. Diese schlichte ökonomische Wahr- Alle Strategien der Mitglieder heit zuzugeben, käme dem politischen der „Großen Koalition“ haben eines Selbstmord der Kanzlerin gleich. Mit gemeinsam: Sie lassen die Bürger über einem Schlag würde offensichtlich, die finanziellen Belastungen, die mit dass die öffentlichen Beschwichti- Sicherheit und darüber hinaus wahr- gungen, das Geld für die Rettungs- scheinlich auf sie zukommen, im Dun- schirme diente nur als Garantie, die keln. Ganz abgesehen davon, dass die Wähler getäuscht haben. Wolfgang gegenwärtige Niedrig-Zinspolitik der Schäubles großspurig verkündete EZB eine nicht demokratisch legiti- Haushaltskonsolidierung würde sich mierte Enteignungspolitik aller Sparer als Luftbuchung erweisen, die Staats- darstellt. verschuldung in die Höhe schnellen und die Bürger wären um 90 Mrd. Euro » Die Merkel-Strategie bedient die ärmer. Wie sollte Angela Merkel dann Interessen der Banken und der dem Vorwurf begegnen, dass man mit Großindustrie.« einer frühzeitigeren Insolvenz Grie- chenlands viele Milliarden gespart hätte? Die Merkel-Strategie hat jedoch den Um dennoch für das möglicherweise entscheidenden Vorteil, dass sie die Unabwendbare – den Staatsbankrott Banken und die Interessen der Groß- Griechenlands – gewappnet zu sein, industrie bedient und damit die mäch- lenkt man die Diskussion vorsorglich tigsten wirtschaftlichen Interessen- auf die vermeintliche Unfähigkeit der gruppen im Land ruhigstellt. Die deut- Griechen, zu sparen und getroffene sche Großindustrie will die Eurozone Vereinbarungen einzuhalten: kor- um jeden Preis im jetzigen Umfang er- rupte Südländer eben. Die CSU leistet halten. Die unveränderbaren Wechsel- Angela Merkel dabei wertvolle Schüt- kurse haben ihr bei deutscher Lohnzu- zenhilfe. Wenn die CSU-Politiker Mar- rückhaltung einen Wettbewerbsvor-

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 43 19.09.12 11:07 44 Thilo Bode

teil in der Währungsunion und perma- Situation. Der machttaktische Kitt, der nente Exportüberschüsse beschert. Regierung und Opposition auf Kos- Denn Euroländer mit hohen Import- ten der Bürger zusammenhält, wird defiziten haben nicht die Möglichkeit, darüber hinaus durch eine program- sich mit einer Abwertung ihrer Wäh- matisch-weltanschauliche Interessen- rung zur Wehr zu setzen. Auch stört kongruenz entscheidend gehärtet: Für es die Industrie keineswegs, dass die die CDU steht mit dem Scheitern der Importländer der Eurozone die deut- gegenwärtigen Politik der Euro und schen Exporte gar nicht mehr bezahlen damit das Erbe Helmut Kohls auf dem können. Vielmehr haftet die Deutsche Spiel. Für die grün-linken Vertreter im Bundesbank mit völlig unzureichend Parlament hingegen bietet die gegen- besicherten Krediten, so dass letztlich wärtige Krise die einmalige Chance, der Steuerzahler die deutsche Export- auf einen Schlag den Traum von einer industrie subventioniert. Zudem ver- wohltätigen Großmacht Europa zu dient die deutsche Industrie insgesamt verwirklichen. Dieses Europa könnte noch an der Krise, weil diese schließ- – so der Entwurf eines Regierungs- lich den Eurokurs niedrig hält. programms von Peter Bofinger, Jürgen Die Banken wiederum können Habermas und Julian Nida-Rümelin beim Ausscheren einiger Länder aus für die SPD – „die verlorene Hand- der Währungsunion nur verlieren. lungsfähigkeit gegenüber den Impera- Ihre Forderungen in Euro müssten sie tiven des Marktes auf transnationaler in diesem Fall zu einem großen Teil Ebene“ wiedergewinnen, eine „sozial- abschreiben. Von der Gefahr ganz staatliche Bürgerdemokratie“ statt abgesehen, dass einige von ihnen plei- einer „marktkonformen Fassadende- tegehen können, weil die Parteien es mokratie“ etablieren und Europa eine nach 2008 versäumt haben, die Ban- Rolle in der Welt mit „ökonomischem ken durch eine rigorose Regulierungs- Gewicht und politischer Bedeutung“ politik krisenfest zu machen. zumessen. Der Rettung einer gemein- Angela Merkel hat auch die Deut- samen Währung für 17 der 27 Staaten sche Bundesbank als Bündnispartner, der Europäischen Union durch eine deren Politik keineswegs so interes- Vergemeinschaftung der Staats- und senunabhängig ist, wie sie es darstellt. privaten Schulden dient dabei als will- Ihr Präsident Jens Weidmann geriert kommenes Vehikel, um den Traum sich zwar gerne als Kämpfer für die eines geeinten Europa zur Not „mit Währungsstabilität, ist aber trotz aller gegebenenfalls nachholender (!) Legi- mahnenden Worte ein optimaler Ver- timation“ zu verwirklichen. „Nachho- bündeter. Denn auch er möchte aus lende Legitimation“ – das ist Spreng- Eigeninteresse lieber die wahren Kos- stoff für unsere Demokratie. Es heißt ja ten der Rettungsschirmpolitik vor dem nichts anderes als: Man gibt das Geld Bürger verbergen. Eine Pleite Grie- der Bürger (und der nachkommenden chenlands ließe die Deutsche Bundes- Generationen) jetzt aus und fragt sie bank plötzlich zur Bad Bank mutieren dann später, ob das in Ordnung geht. mit uneinbringbaren Forderungen in ihren Büchern. Letztlich muss auch » Die Rettungsschirme lösen die hier der deutsche Steuerzahler ein- Probleme nicht, sie höhlen noch springen. dazu die demokratischen Rechte Großindustrie, Banken, die Bundes- der Schuldner- und Gläubiger- bank und die politischen Gegner sind staaten aus.« Bündnispartner im Verschleiern der tatsächlichen Risiken der Rettungs- schirmpolitik. Angela Merkel befin- Allerdings ist eine substanzielle und det sich somit in einer komfortablen demokratisch legitimierte Übertra-

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 44 19.09.12 11:07 Eurorettung: Die Entmachtung des Souveräns 45

gung von Souveränitätsrechten auf das würde im Verlauf der Krise, wie Europa in absehbarer Zeit nicht zu bezweckt, sogar einen Rückfluss des erwarten. Schon die schwierige Ge- Kapitals bewirken, da Investitionen in burt des Vertrags von Lissabon, der dem betroffenen Schuldenstaat wieder Brüssel weit weniger Kompetenzen rentabler wären. übertragen hat, als es eine gemeinsa- So würde eine Abwertung am Ende me Finanzpolitik erfordern würde, hat sogar die Wettbewerbsfähigkeit des gezeigt, wie unrealistisch eine solche Landes erhöhen und das Wachstum Forderung ist. Deshalb schaffen die ankurbeln, da Güter und Dienstleis- Staats- und Regierungschefs nun seit tungen im Austausch mit anderen zwei Jahren Fakten, die allerdings un- Ländern billiger würden. Kein noch so entwegt europäisches Recht beugen. umfangreiches, mit öffentlichen Mit- Die Politik kreiert Rettungsschirme, teln gefördertes Investitionsprogramm die die Probleme nicht lösen und noch kann diesen wirksamen Mechanismus dazu die demokratischen Rechte der ersetzen. Schuldner- und Gläubigerstaaten aus- Die Antwort der europäischen (und höhlen. deutschen) Politik auf die Schulden- Sicher, auch ein Austritt einiger krise, irgendwie und irgendwann hochverschuldeter Länder wäre teuer, doch noch eine autonome europäische denn auch er würde europäische Soli- Finanzpolitik zu institutionalisieren, darität erfordern. Zum Beispiel müsste stellt dagegen die schlechteste aller die Schuldenlast der Austrittsländer, Lösungen dar. etwa Griechenlands, verringert wer- den, und die EU müsste auch dabei » Die Antwort der Politik auf die helfen, ihr Bankensystem zu stabili- Schuldenkrise stellt die schlech- sieren. Aber im Gegensatz zur aktu- teste aller Lösungen dar.« ell verfolgten Politik würde damit wenigstens das Kernproblem der star- ren Wechselkurse gelöst. Die Länder Faktisch schafft sie nämlich weder würden wieder wettbewerbsfähig und eine zentrale europäische Finanz- könnten von den Finanzmärkten nicht politik, noch wird ein Austritt der mehr so einfach in Geiselhaft genom- hochverschuldeten und nicht wettbe- men werden. werbsfähigen Mitgliedsländer aus der Auch die grassierende Kapitalflucht Währungsunion auch nur erwogen. würde gebremst: Besteht derzeit die Stattdessen sozialisieren die diver- Aussicht, dass ein Staat seine Schulden sen Rettungsschirme die Schulden. bei den Anlegern, die Staatsanleihen Schlimmer noch: Sie schaffen Anrei- gekauft haben, nicht mehr bedienen ze, weiter Schulden zu machen und kann, setzt umgehend Kapitalflucht damit die gefährliche Dynamik der ein – die Anleger fürchten um ihr starren Wechselkurse zu verstetigen. Geld und ziehen es ab. Anders als frü- Wer wird schon sparen und seine poli- her, als jeder Staat noch seine eigene tischen Ämter riskieren, wenn er die Währung besaß, kann heute ein Land Aussicht hat, seine Schulden letztlich diese Kapitalflucht nicht mehr brem- erlassen zu bekommen? sen, indem es seine Währung abwer- Die Unsummen, die jetzt immer tet. Wäre eine Abwertung der jewei- weiter in einem faktisch bankrotten ligen nationalen Währung wieder griechischen Staat verpuffen, könn- möglich, würde dies die Kapitalflucht ten jedoch viel sinnvoller die sozialen zunehmend unattraktiver machen. Härten einer Währungsabwertung Denn Anleger erhielten beim Verkauf abfedern. Ohnehin beruhen die (noch) ihrer Wertpapiere dafür immer weni- billigen Importe Griechenlands auf ger in ausländischer Währung – und einer Wohlstandsillusion. Denn Grie-

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 45 19.09.12 11:07 46 Thilo Bode

chenland kann sie gar nicht bezah- Mitgliedstaates eine Bankenkrise und len und häuft stattdessen exorbitante Kettenreaktion auslösen könnte“. Schulden bei den Zentralbanken der Heute jedoch wissen wir: Führen Überschussländer an – die obendrein wir diese Politik fort, werden wir alle noch gar nicht im Risikokalkül der eine viel höhere Rechnung zahlen gegenwärtigen Rettungsschirmpolitik müssen als notwendig – und zudem die berücksichtigt sind. europäische Idee gefährden. Und dennoch ist die Verkleinerung Denn bei all den Rettungsbemü- der Währungsunion offenbar noch hungen sind drei Fragen völlig aus immer ein Tabu, verkauft uns die Poli- dem Blickfeld geraten. Erstens: Ist die tik die Spar- und Rettungsschirmstra- behauptete Rettung, das sture Immer- tegie weiter als alternativlos. Weiter, überhaupt möglich? Und zwei- tens: Welches Europa entstünde dann? Und schließlich drittens: Wollen wir » Führen wir diese Politik fort, dieses Europa überhaupt? gefährden wir die europäische Unsere nationalstaatliche Demokra- Idee.« tie – und eine andere ist derzeit nach wie vor nicht in Sicht – scheint dar- Diese vorgebliche Alternativlosigkeit auf bisher jedenfalls keine Antwort besteht aber nur, weil versäumt wurde, geben zu wollen. Im Gegenteil: Ange- nach der Lehman-Pleite den Finanz- sichts der realexistierenden ganz gro- sektor strikt zu regulieren und krisen- ßen Koalition dürfte der kommende resistent zu machen. Nur deshalb weiß Wahlkampf zur Farce werden. Er wird bis heute niemand vorherzusagen, was davon geprägt sein, dass Opposition auf den Finanzmärkten wirklich pas- und Regierung die gleiche Politik mit sieren wird, wenn mehrere Euroländer jeweils unterschiedlicher Verpackung die Währungsunion verlassen und ihre und wechselseitiger Diskriminierung Währungen abwerten. des politischen Gegners verkaufen. Letztlich aber bedeutet diese angeb- Das heißt aber auch: Unsere Demo- lich alternativlose Rettungspolitik kratie ist bei der Lösung des wichtigs- nichts anderes, als mit einer falschen ten politischen Problems der Gegen- Politik in der Gegenwart die Folgen wart faktisch außer Kraft gesetzt. einer falschen Politik in der Vergan- Denn es gibt nichts mehr zu wählen. genheit zu bekämpfen. Schon 2010 Wahltaktik und Machtpolitik verhin- schrieb der wissenschaftliche Beirat dern die Wahl zwischen Alternativen. des Finanzministeriums an Wolfgang Der Bürger wird nicht nur enteignet, er Schäuble, der Hauptgrund für die Ret- wird auch noch durch einen übergrei- tungsschirmpolitik sei nicht ökonomi- fenden medialen und politischen Kon- sche Rationalität, sondern dass „die sens, immer so weiterzumachen wie Zahlungsunfähigkeit eines einzelnen bisher, entmachtet.

Stadt, Slum und Metropole

© Foto: Eflon/flickr Online-Dossier zu Stadtpolitik 10 »Blätter«-Beiträge für 5 Euro. Dieses und weitere Dossiers auf www.blaetter.de

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 46 19.09.12 11:07 Kolumne

Ostasien: Inseln des Nationalismus Von Ian Buruma

Sie machen nicht viel her, diese paar ten übernahmen gemeinsam mit Oki- unbewohnten Felsen im ostchinesi- nawa die Senkaku-Inseln, bevor beide schen Meer zwischen Okinawa und diese 1972 an Japan zurückgaben. Die Taiwan, ebenso wie einige kleine Koreaner, die nach einem halben Jahr- Inseln in der japanischen See, bewohnt hundert der Kolonialisierung immer von ein paar Quotenfischern und ei- noch wütend auf Japan waren, annek- nigen südkoreanischen Beamten der tierten die Dokdo-Inseln, ohne sich um Küstenwache. Erstere, in Japan Sen- die Legalität dieser Aktion zu scheren. kaku-Inseln und in China Diaoyu-In- Angesichts der Brutalität der japani- seln genannt, werden von China, Ja- schen Besetzung von Korea und China pan und Taiwan beansprucht; die an- neigt man dazu, mit Japans früheren deren, die auf japanisch Takeshima Opfern zu sympathisieren. An den hef- und auf koreanisch Dokdo heißen, von tigen Emotionen dieses Streits – einige Südkorea und Japan. Koreaner haben sich aus Protest gegen Diese winzigen Steinhaufen haben Japan sogar selbst verstümmelt – kann wenig materiellen Wert – und trotzdem man erkennen, dass die Wunden des Ja- hat der Streit über ihre Zugehörigkeit pankrieges in Asien immer noch frisch international viel Staub aufgewirbelt. sind. Tatsächlich hat der südkoreani- Botschafter wurden abberufen; in China sche Staatspräsident Lee Myung-Bak fanden massive antijapanische Demons- die günstige Gelegenheit genutzt, vom trationen statt, im Zuge derer Japaner japanischen Kaiser eine formale Ent- und ihr Eigentum zu Schaden kamen; schuldigung für den Krieg zu verlan- zwischen Tokio und Seoul fliegen Dro- gen. Obendrein forderte er finanzielle hungen hin und her, sogar von militäri- Kompensation für die koreanischen schen Maßnahmen war die Rede. Frauen, die während des Krieges in Mi- litärbordellen gezwungen wurden, ja- panischen Soldaten zu Diensten zu sein. Offene Kriegswunden Leider leugnet die japanische Regie- rung bis heute – trotz vieler Indizien und Die historischen Fakten sind ziemlich gar Belege japanischer Historiker – die simpel. Nach dem sino-japanischen Verantwortung der Kriegsregierung Krieg von 1895 und der Aneignung Ko- für diese Grausamkeiten. Es überrascht reas durch Japan 1905 riss das imperia- daher nicht, dass die koreanischen le Japan auch die Inseln an sich. Davor Emotionen dadurch nur noch mehr ent- waren die Besitzverhältnisse unklar, flammt wurden. auf Takeshima/Dokdo lebten Fischer Und trotzdem wäre es zu einfach, für aus Japan, und Senkaku/Diaoyu erfuhr den momentanen Konflikt ausschließ- etwas Aufmerksamkeit aus dem kaiser- lich die offenen Wunden des letzten lichen China. Kein Staat erhob jedoch Weltkrieges verantwortlich zu machen. formal Ansprüche auf die Inseln. Natürlich beziehen sich die nationalen Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Gefühle, die in China, Korea und Ja- die Dinge indes komplizierter. Japan pan absichtlich angefacht werden, auf musste seine kolonialen Besitztümer zu- die jüngste Geschichte. Die dahinter rückgeben, aber die Vereinigten Staa- stehende Politik ist jedoch von Land

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 47 19.09.12 11:07 48 Kolumne

zu Land unterschiedlich. Und da die sind in erster Linie nicht die Japaner, Presse aller drei Länder sich geradezu sondern die koreanischen Linken. autistisch weigert, eine andere als die „nationale“ Sichtweise einzunehmen, wird die jeweilige Politik nie richtig dar- Sorge vor Chinas neuer Macht gestellt. Chinas kommunistische Regierung Dass China und Korea den Krieg dazu kann keinerlei Legitimität mehr aus verwenden, in ihren Ländern antijapa- der marxistischen Ideologie ziehen, nische Gefühle zu wecken, verärgert und schon gar nicht aus dem Maoismus. die Japaner und ruft Verteidigungsreak- Vielmehr ist China heute ein autoritäres, tionen hervor. Aber der japanische Na- kapitalistisches Land, das sich Geschäf- tionalismus wird auch durch Ängste ten mit anderen kapitalistischen Län- und Frustrationen angefacht – insbeson- dern geöffnet hat – darunter intensiven dere durch die Sorge vor Chinas zuneh- wirtschaftlichen Beziehungen zu Ja- mender Macht wie auch vor der völligen pan. Seit den 1990er Jahren hat ein star- Abhängigkeit der nationalen Sicherheit ker Nationalismus den Kommunismus Japans von den USA. in seiner Rolle als Rechtfertigung des Die japanischen Konservativen be- Einparteienstaates abgelöst, dem das trachten die 1946 von Amerikanern Aufwühlen antiwestlicher und in erster verfasste pazifistische Nachkriegsver- Linie antijapanischer Gefühle durchaus fassung ihres Landes als demütigenden dienlich ist. Angesichts der schmerz- Angriff auf die Souveränität ihres Lan- vollen Vergangenheit Chinas fällt dies des. Nun, da China nicht nur im ost-, der chinesischen Führung nicht schwer sondern auch im südchinesischen Meer – und unterstützt sie zugleich dabei, die seine wachsende Macht durch die Be- öffentliche Aufmerksamkeit von den anspruchung von Territorien testet, be- Entbehrungen und Frustrationen abzu- stehen japanische Nationalisten darauf, lenken, die das Leben in einer Diktatur dass Japan als Großmacht auftritt. Sie mit sich bringen. erwarten, dass ihr Land als ernsthafter In Südkorea besteht eines der Akteur wahrgenommen wird, der zur schmerzhaftesten Vermächtnisse der äußersten Verteidigung seiner Souverä- japanischen Kolonialzeit in der damals nität bereit ist – selbst wenn es dabei nur weit verbreiteten Kollaboration der ko- um ein paar unbedeutende Felsen geht. reanischen Elite. Die Nachkommen China, Korea und Japan, deren wirt- dieser Elite spielen in der konservati- schaftliche Interessen eng miteinan- ven Politik des Landes immer noch eine der verknüpft sind, haben jeden nur wichtige Rolle. Aus diesem Grund for- denkbaren Grund, einen ernsthaften dern koreanische Linke immer wieder Konflikt zu vermeiden. Und trotzdem Säuberungs- und Vergeltungsmaßnah- tun alle drei ihr Bestes, einen solchen men. Präsident Lee gilt als konservativ weiter anzufachen. Aus rein innenpoli- und Japan gegenüber relativ positiv tischen Gründen manipulieren sie die eingestellt. Deshalb betrachten die Ja- Geschichte eines verheerenden Krieges paner seine jüngsten Forderungen nach und schüren Leidenschaften, die nur Entschuldigungen, Geld und der An- noch größeren Schaden anrichten. Poli- erkennung koreanischer Souveränität tiker, Kommentatoren, Aktivisten und über die Inseln in der japanischen See Journalisten jedes dieser Länder reden als eine Art Verrat. Aber gerade weil endlos über die Vergangenheit. Aber Lee als japanfreundlicher Konservati- sie manipulieren die Erinnerungen für ver gilt, muss auch er seine nationalis- politische Zwecke. Das letzte, an dem tische Position herausstellen. Er kann es sie interessiert sind, ist die Wahrheit. sich nicht erlauben, als Kollaborateur zu erscheinen. Seine politischen Gegner © Project Syndicate; Übersetzung: Harald Eckhoff

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 48 19.09.12 11:07 Analysen und Alternativen

Kurzgefasst

Peter Bofinger: Das infernalische Dreieck. Wie Staatsschuldenkrise, Bankenkrise und Rezession den Euroraum gefährden

Am 6. September teilte EZB-Chef Mario Draghi mit, ab jetzt unbegrenzt Staatsanleihen von Eurokrisenländern aufkaufen zu wollen. Speziell in Deutschland brachte ihm das massive Kritik ein. Der Wirtschaftsweise und „Blätter“-Mitherausgeber Peter Bofinger verteidigt dagegen den EZB- Chef. Nur die EZB, so Bofingers These, ist derzeit in der Lage, das Überle- ben des Euro zu sichern – und der tödlichen Triade aus Staatsverschuldung, Bankenpleite und Rezession ein Ende zu bereiten.

Claus Leggewie und Horst Meier: „Verfassungsschutz“. Über das Ende eines deutschen Sonderwegs

Mit der Aufdeckung der NSU-Morde vor rund einem Jahr trat das Versa- gen des Verfassungsschutzes offen zutage. „Blätter“-Mitherausgeber Claus Leggewie und der Jurist Horst Meier ziehen die Bilanz dieses deutschen Irr- und Sonderwegs. Ihre These: Die deutsche Demokratie ist längst in der Lage, sich selbst zu schützen. Dafür braucht sie einen wirksamer Republikschutz, der gegen Straftaten, nicht aber gegen politische Gesinnungen vorgeht.

Christoph Butterwegge: Ursula von der Leyen oder: Die Wieder- entdeckung der Altersarmut

Erst Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU), dann SPD- Parteichef Sigmar Gabriel: Ganz Berlin scheint sich dem Kampf gegen die Altersarmut verschrieben zu haben. Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaften in Köln, stellt klar, dass die Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre viele Menschen erst in die Altersarmut treiben – von den Hartz-IV- über die Niedriglohnbezieher bis hin zu den Leiharbeitern. Ohne eine Veränderung der realen Lohnentwicklung werde auch die propagierte Zuschussrente ein Tropfen auf den heißen Stein bleiben.

Norman Birnbaum: Das Dilemma der Loyalität. Die US-amerikanischen Juden und der israelisch-iranische Konflikt

Ein Krieg Israels gegen den Iran wird immer wahrscheinlicher; der israeli- sche Ministerpräsident Benjamin Netanjahu setzt daher alles daran, spe-

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ziell die wichtige jüdische Bevölkerung in den USA für seinen Kriegskurs zu gewinnen. Der amerikanische Sozialwissenschaftler und „Blätter“-Mit- herausgeber Norman Birnbaum beleuchtet Haltung und Stellenwert der jüdischen Gemeinde in den USA. Eine bedingungslose Loyalität gegenüber Israel, so seine These, ist von dieser längst nicht mehr zu erwarten.

Judith Butler: Kann man ein gutes Leben im schlechten führen?

Am 11. September wurde die US-amerikanische Philosophin Judith Butler in Frankfurt a. M. mit dem Theodor-W.-Adorno-Preis ausgezeichnet – trotz hef- tiger Proteste aufgrund ihrer früheren Positionierung zum Israel-Palästina- Konflikt. In ihrer Dankesrede widmet sich Butler dem wohl bekanntesten Satz Adornos, nämlich der Frage: Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Ihre Antwort ist positiv – aber vor der Frage nach dem „guten Leben“ gilt es nach dem Leben als solchem zu fragen.

Ulrike Baureithel: Fetisch Selbstbestimmung. PID bis Demenz: Erkundun- gen im biopolitischen Feld

Ob in der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik oder im Diskurs um Demenz und Sterbehilfe – um sich selbst zu verwirklichen und zugleich den verschiedenen Risiken des Lebens zu entgehen, wird immer lauter das Recht auf Selbstbestimmung eingeklagt. Doch die Bedingungen, unter denen das Individuum heutzutage Entscheidungen trifft, geraten dabei schnell aus dem Blick. Die Journalistin Ulrike Baureithel erläutert, wie sich in die scheinbar selbstbestimmten Entscheidungen eine neue „Nützlich- keitsethik“ einschleicht – und das Recht auf Selbstbestimmung mehr und mehr zu einem bloßen Fetisch verkommt.

LN-Dossier // September/Oktober 2012 Anzeige Verbohrte Entwicklung // (Neuer) Extraktivismus in Lateinamerika

Außerdem in der Ausgabe: // Chile Kugeln gegen Mapuche // Paraguay Trügerischer Frieden PROBEABO // Jamaica 50 Jahre Unabhängigkeit // 3 Monate lesen für 10 Euro // Mexiko Peña Nieto neuer Präsident // endet automatisch

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Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2012

00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 50 19.09.12 11:07 Das infernalische Dreieck Wie Staatsschuldenkrise, Bankenkrise und Rezession den Euroraum gefährden

Von Peter Bofinger

ls Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, am 6. Sep- A tember ankündigte, dass die EZB ab jetzt unlimitiert Staatsanleihen von Euro-Krisenländern aufkaufen werde, brach speziell in Deutschland umgehend ein Proteststurm über ihn herein. Dabei hatte Draghi das einzig Richtige unternommen: Würde die EZB jetzt nicht aktiv werden und Anlei- hen aufkaufen, drohte das Auseinanderbrechen der Eurozone. Denn wie man es auch dreht und wendet, auf kurze Sicht führt kein Weg an der EZB vorbei. Sie allein ist derzeit in der Lage, das Überleben des Euro in den nächsten Monaten zu sichern. Das ist sicher keine ideale Situation, es wäre besser, die Absicherung der Staaten gegenüber den Finanzmärk- ten über eine Form der gemeinsamen Haftung vorzunehmen. Doch es ist vor allem auch ein Versäumnis der deutschen Politik. Obwohl mit großer Wahr- scheinlichkeit damit zu rechnen war, dass die Krise früher oder später auf die beiden großen Länder Spanien und Italien übergreifen würde, hat man sich auf den von seinem Volumen viel zu geringen EFSF und ESM beschränkt. Und mit der eindimensionalen Fixierung auf die Haushaltskonsolidierung, dem naiven Glauben an die wohltuende Wirkung von Strukturreformen und dem völligen Ausblenden der systemischen Probleme hat der „Berliner Kon- sens“ die Währungsunion erst in jene existenzbedrohende Situation geführt, die ungeachtet der von Draghi beschlossenen Sofortmaßnahmen unverän- dert weiter anhält. Diese existenzbedrohende Situation ist gekennzeichnet durch drei große Krisenherde, die sich wechselseitig immer mehr verstär- ken: eine Staatsschuldenkrise, eine Bankenkrise und eine makroökonomi- sche Krise. Eine durchgreifende Lösung hierfür ist bisher nicht in Sicht.

Erstens: Die Staatsschuldenkrise

Aufgrund des zögerlichen Vorgehens der Politik, speziell in Berlin, gerieten in den beiden letzten Jahren immer mehr Mitgliedsländer des Euroraums in das Visier der Märkte. Obwohl ihre Neuverschuldung teilweise deutlich

* Der Beitrag basiert auf „Zurück zur D-Mark? Deutschland braucht den Euro“, dem jüngsten Buch des Autors, das soeben im Droemer Verlag München erschienen ist.

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geringer war als in Japan, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten, schwebte das Damoklesschwert einer möglichen Insolvenz durch bedroh- lich steigende Zinsen über ihnen. Griechenland, Irland und Portugal flüch- teten sich in dieser Situation unter einen Rettungsschirm. Die Bereitstellung von Finanzierungsmitteln war an strikte Sparprogramme geknüpft. In den Jahren 2010 und 2011 musste darüber hinaus auch noch ein Zinsaufschlag bezahlt werden – eine Maßnahme, um das Leben unter dem Schutz des EFSF möglichst unattraktiv zu gestalten und die Länder zu noch größeren Anstren- gungen anzuspornen. Italien und Spanien haben den Schritt unter einen Rettungsschirm bisher gescheut, da sie die stigmatisierenden Effekte dieses „Hartz IV für Staaten” fürchten. Sie setzten ebenfalls schmerzhafte Sparprogramme auf, ohne dass dies allerdings von den Märkten in irgendeiner Form honoriert worden wäre. Bei Italien liegt das nicht etwa daran, dass das Land eine Schuldenstands- quote von 120 Prozent aufweist. Italien lebt damit schon seit vielen Jahren. Gefährlich sind jedoch die steigenden Zinsen für italienische Staatsanleihen, da es für die Tragfähigkeit einer Staatsverschuldung immer auf das Verhält- nis der Nominalzinsen zum nominalen Wirtschaftswachstum ankommt.

Ein Kampf gegen Windmühlenflügel: Der Druck der Märkte und der Zwang zum Sparen

Für die langfristige Entwicklung der Staatsverschuldung ist das Verhältnis zwischen Schuldenstandsquote, Zinsen und nominalem Wirtschaftswachs- tum entscheidend.1 Bei einer Schuldenstandsquote von 120 Prozent, einem nominalen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 3 und einem Nomi- nalzins von 7 Prozent muss Italien einen gewaltigen Primärüberschuss von 4,8 Prozent erzielen, wenn es die Schuldenstandsquote konstant halten will. Bei einem Nominalzins von 4 Prozent beliefe sich der erforderliche Primär- überschuss dagegen auf lediglich 1,2 Prozent. Die Zusatzbelastung von 3,6 Prozentpunkten entspricht einem Betrag von 57 Mrd. Euro, der entweder über Steuererhöhungen erzielt oder mittels Ausgabenkürzungen eingespart werden müsste. Da es für die Tragfähigkeit einer Staatsverschuldung auf die Differenz von Nominalzins und nominalem Wirtschaftswachstum ankommt, relativiert sich auch das beliebte Argument, Italien habe früher doch auch kein Prob- lem mit hohen Zinsen gehabt. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre waren die Zinsen für italienische Anleihen in der Tat sehr hoch, aber Italien konnte auch zweistellige Zuwachsraten des nominalen Bruttoinlandsprodukts ver- zeichnen. Als dann die Inflationsrate allmählich zurückging – und damit auch die Zuwachsrate des nominalen Bruttoinlandsprodukts –, verharrten

1 Dieser Zusammenhang basiert auf einer einfachen Formel, bei der der Primärüberschuss, d. h. die Dif- ferenz zwischen den Einnahmen eines Landes und seinen Ausgaben (ohne Zinsausgaben), eine zent- rale Rolle spielt. Der zur Stabilisierung einer gegebenen Schuldenstandsquote (d) erforderliche Primär- überschuss (p) ergibt sich aus der Differenz zwischen Nominalzins (i) und nominalem Wachstum (g), multipliziert mit der Schuldenstandsquote: p = (i-g)*d.

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die Zinsen lange Zeit auf einem weiterhin hohen Niveau. In dieser Phase schoss jedoch die Schuldenstandsquote dramatisch nach oben. Während sie 1985 noch 80 Prozent betragen hatte, lag sie zehn Jahre später bei 121 Pro- zent. Die hohen Zinsen waren in dieser Phase also eine entscheidende Ursa- che für den nahezu unkontrollierten Anstieg der italienischen Staatsver- schuldung, unter der Italien heute so sehr leidet. Der massive Druck der Märkte im Zuge der Eurokrise zwang die Staaten schließlich, Sparprogramme aufzulegen, ohne dabei auf die konjunktu- relle Verfassung ihrer Wirtschaft Rücksicht nehmen zu können. Dies lässt sich am Beispiel Italiens und Spaniens gut verdeutlichen. Im Sommer 2011 erwartete der IWF für Spanien einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 1,6 Prozent im Jahr 2012, für Italien rechnete man mit 1,3 Prozent. Dabei wurde unterstellt, dass das konjunkturbereinigte Defizit in Spanien um 0,6 Prozentpunkte reduziert würde, in Italien um 0,7 Prozentpunkte. Unter dem wachsenden Druck der Märkte verstärkten beide Länder im Herbst 2011 ihre Konsolidierungsanstrengungen. Die Defizitreduktion in Spa- nien erhöhte sich auf 2,3 Prozentpunkte, in Italien auf 2,2 Prozentpunkte: Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. In beiden Ländern brach das Wirtschaftswachstum ein, für 2012 wird jetzt mit einem Rückgang des Brut- toinlandsprodukts in Spanien um 1,5 Prozent und in Italien um 1,9 Prozent gerechnet. In beiden Volkswirtschaften hat sich so eine handfeste Rezession breit gemacht.

Zweitens: Die makroökonomische Krise oder: Brüning lässt grüßen

Diese makroökonomische Krise ist somit in erster Linie ein Reflex der durch die Staatsschuldenkrise erzwungenen Konsolidierung. Besonders gravierend sind die Auswirkungen in Griechenland, dem die Sparprogramme von außen diktiert wurden. Zum Schaden des Landes wur- den die restriktiven Wirkungen der Konsolidierung von der Troika erheb- lich unterschätzt. So hatten die Experten noch im Juli 2011 damit gerechnet, dass es in Griechenland nach einem vorübergehenden Rückgang des Brutto- inlandsprodukts um 3,9 Prozent bereits 2012 wieder zu einem leichten Wachstum von 0,6 Prozent kommen würde. Tatsächlich brach die Wirtschaft 2011 um 6,9 Prozent ein, für 2012 ist ein weiterer drastischer Rückgang um mindestens 5 Prozent zu erwarten. Die gravierenden makroökonomischen Auswirkungen der Sparpro- gramme sind vor allem damit zu erklären, dass an ihnen auch dann noch festgehalten wurde, als längst offensichtlich war, dass das betreffende Land in die Rezession geraten war. Weil es dadurch zu massiven Einnahmeaus- fällen kam und gleichzeitig Mehrausgaben für die Arbeitslosen erforderlich waren, mussten die Länder sogar noch mehr sparen. Man spricht dabei auch von einer prozyklischen Politik, da sie den Abschwung noch verstärkt. Im Jahr 2012 lässt sich eine solche destabilisierende Ausrichtung der Fis- kalpolitik in allen Problemländern beobachten. Es ist dabei schon erstaun-

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lich, dass sich kaum jemand daran stört, wenn damit genau das Gegenteil dessen betrieben wird, was in allen gängigen Lehrbüchern der Makroökono- mie gelehrt wird. Und es ist noch erstaunlicher, dass gerade in Deutschland die Gefahren einer prozyklischen Politik so wenig präsent sind. Anfang der 1930er Jahre hatte der damalige Reichskanzler Heinrich Brüning mit genau dieser Politik den ökonomischen und später politischen Zusammenbruch Deutschlands herbeigeführt.

Ausgabenkürzungen statt Steuererhöhungen: Die mangelnde Symmetrie der Sparmaßnahmen

Die negative Wucht der Sparprogramme ist teilweise auch damit zu erklä- ren, dass die Troika bei ihren Therapievorschlägen eine klare Präferenz für Ausgabenkürzungen hat, nicht für Steuererhöhungen. Nach Berechnungen der OECD2 sind bei den Konsolidierungsprogrammen in Spanien, Irland und Portugal rund 90 Prozent der Einsparungen auf der Ausgabenseite zu ver- zeichnen; bei Griechenland sind es „nur” 52 Prozent. Der weitgehende Verzicht auf Steuererhöhungen ist schon deshalb erstaun- lich, weil es sich vor allem bei Irland und Spanien um Volkswirtschaften han- delt, bei denen der Staat im Vergleich zum Durchschnitt des Euroraums nur sehr geringe Einnahmen erzielt. Gravierender jedoch ist, dass die negativen Nachfragewirkungen von Ausgabenkürzungen sehr viel höher sind als die Effekte von Steuererhöhungen. Dies wird durch eine aktuelle Studie des IWF bestätigt, die übrigens generell vor den Gefahren des von der Troika geforderten „Frontloading“ bei Konsolidierungen warnt.3 Sie zeigt, dass die Haushaltskonsolidierung in einer Rezession grundsätzlich mit hohen negati- ven Nachfrageimpulsen einhergeht. Wenn aufgrund des Drucks der Finanz- märkte ein Sparprogramm dennoch unvermeidlich sei, sollten dabei Steuer- erhöhungen im Zentrum stehen, nicht Ausgabenkürzungen. Dass in gesamtwirtschaftlich schwierigen Zeiten Steuererhöhungen hilf- reich sein können, belegt die Finanzierung der deutschen Einheit unter Hel- mut Kohl. Der damalige Bundeskanzler hatte keine Bedenken, durch den Solidaritätszuschlag den Spitzensteuersatz auf 56 Prozent anzuheben. Ein interessantes Modell für eine faire Lastenverteilung nach großen Schocks ist auch der deutsche Lastenausgleich nach dem Zweiten Weltkrieg. Er diente zur finanziellen Unterstützung von Menschen, die durch den Krieg besonders große Verluste erlitten hatten. Finanziert wurde er durch eine einmalige Abgabe in Höhe von 50 Prozent des Vermögenswertes, der zum 21. Juni 1948 errechnet wurde. Die Zahlung konnte in 30 Jahresraten zu jeweils 1,67 Prozent des Betrages geleistet werden. Durch die Streckung über 30 Jahre konnte der Ausgleichsfonds überwiegend aus laufenden Ver- mögenserträgen bezahlt werden, ohne dass die Betroffenen ihre Vermögens-

2 Vgl. OECD Economic Outlook, 2/2011, S. 34. 3 Nicoletta Batini, Giovanni Callegari und Melina, Giovanni, Successful Austerity in the , Europe and Japan, in: „IMF Working Papers“, 190/2012.

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substanz angreifen mussten. Durch die Inflation wurde die Steuerlast im Laufe der Zeit zusätzlich gemindert. In einer Studie von Stefan Bach werden noch andere historische Beispiele für einmalige Vermögensabgaben aufgeführt.4 Es hätte also unterschied- liche Möglichkeiten gegeben, die Konsolidierung in den Problemländern deutlich stärker über Steuererhöhungen zu finanzieren. Dies wäre nicht nur mit geringeren negativen Nachfrageimpulsen einhergegangen, es hätte auch zu einer größeren sozialen Akzeptanz der Sparprogramme beigetragen. Die Präferenz der Troika für Ausgabenkürzungen dürfte damit zu erklären sein, dass ihre neoklassisch ausgerichteten Ökonomen die mit niedrigen Steuern verbundenen Leistungsanreize auf längere Sicht für bedeutsamer einschät- zen als die damit kurzfristig einhergehenden konjunkturellen Bremseffekte. In Anbetracht der fatalen Folgen einer immer weiter eskalierenden Euro- krise gilt jedoch leider der bekannte Ausspruch von John Maynard Keynes: „In the long run we are all dead.”

Drittens: Die Bankenkrise

Steigende Zinsen für Staatsanleihen und eine immer ungünstigere kon- junkturelle Entwicklung stellen eine schwere Belastung für die Banken des Euroraums dar, vor allem aber für die Finanzinstitute in den Ländern, die besonders vom Zusammenbruch des Immobilienmarktes betroffen waren. Der Vertrauensverlust gegenüber den Staatsanleihen der Problemländer hatte gravierende Folgen für ihr Finanzsystem, da Banken und Versicherun- gen traditionell hohe Bestände an Staatsanleihen halten. So befanden sich Ende des Jahres 2010 von der gesamten Staatsverschuldung des Euroraums in Höhe von 7,8 Billionen Euro allein 2,7 Billionen im Bankensystem des Währungsraums und weitere 1,2 Billionen bei Versicherungen und Pensions- kassen. Rund 0,7 Billionen waren in den Portfolios von Investmentfonds, bei denen Versicherungen wiederum hohe Geldbeträge anlegen. Die Erosion des scheinbar sicheren Kerns ihrer Aktiva beschädigte die Kre- ditwürdigkeit dieser Institutionen so stark, dass es für sie immer schwieriger wurde, sich bei privaten Investoren zu refinanzieren. Erschwerend kommt durch die Diskussion über einen Austritt Griechenlands aus dem Euro hinzu, dass die Anleger neben dem Risiko einer Bankinsolvenz jetzt auch noch die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Währungsunion im Blick haben. Die wachsende Verunsicherung führte und führt zu einer immer stärkeren Kapi- talflucht aus diesen Ländern. Die Stabilität der davon betroffenen Banken konnte nur gesichert werden, indem ihnen die EZB im Dezember 2011 und im März 2012 mit zwei langfris- tigen und ungewöhnlich umfangreichen Refinanzierungsgeschäften unter die Arme griff. Über drei Jahre lang können sich die Banken von der EZB Geld zum Leitzins leihen – eine Maßnahme, die EZB-Präsident Mario Draghi

4 Stefan Bach, Vermögensabgaben – ein Beitrag zur Sanierung der Staatsfinanzen in Europa, in: „DIW Wochenbericht“, 28/2012.

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in einem Interview als „Dicke Bertha” bezeichnete. (So hieß während des Ersten Weltkriegs das Geschütz mit dem größten Kaliber.) Der Anteil der EZB an der gesamten Refinanzierung der Banken in den Problemländern nimmt also immer mehr zu. In den Bilanzen der Notenbank finden diese Prozesse ihren Niederschlag in den sogenannten TARGET2- Salden der einzelnen Mitgliedsnotenbanken. Es handelt sich bei TARGET (Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System) primär um ein System für Zahlungen zwischen den Banken der Mit- gliedsländer des Euroraums. Über viele Jahre hinweg wiesen diese Salden keine größeren Werte auf. Das änderte sich jedoch mit der Eurokrise, die zu einem dramatischen Anstieg der Salden führte. Der positive Saldo der Bun- desbank ist mittlerweile auf über 700 Mrd. Euro in die Höhe geschnellt. Dem stehen beunruhigend hohe Defizitsalden vor allem Italiens und Spaniens gegenüber. Für beide Länder lässt sich zeigen, dass die TARGET2-Salden weitgehend den Netto-Kapitalabflüssen entsprechen.5 Die rasch steigenden TARGET2-Salden sind somit ein deutliches Symp- tom für eine zunehmende Vertrauenskrise in die Finanzsysteme der Prob- lemländer. Denn wie das hier beschriebene Beispiel verdeutlicht, kommt es durch die TARGET2-Finanzierung nicht zu höheren monetären Beständen in den Problemländern. Im Gegenteil: Hier ist schon seit längerem ein Rück- gang des Kreditvolumens zu konstatieren. Von einer „exzessiven Geldschöp- fung”6 kann also keine Rede sein.

Die Passivität der Banken

Die aus all diesen Gründen schwache Verfassung der Banken in den Periphe- rieländern hat ihrerseits wieder negative Rückwirkungen auf die makroöko- nomische Situation. Wenn Banken mit Verlusten auf der Aktivseite kämpfen und gleichzeitig höheren Eigenkapitalforderungen nachkommen müssen, besteht für sie in der Regel die einfachste Lösung darin, die Aktivseite zu

5 Die Mechanik der TARGET2-Salden lässt sich wie folgt erklären: Nehmen wir an, die Commerzbank habe eine Million Euro für ein Jahr an Unicredit verliehen. Bei der Fälligkeit entscheidet sie sich, den Betrag nicht erneut bei Unicredit anzulegen, sondern eine Rückzahlung zu fordern. Damit Uni- credit diese Forderung bedienen kann, nimmt die Bank eine Überweisung an die Commerzbank zu Lasten ihres Kontos bei der italienischen Notenbank vor. Diese überweist nun eine Million Euro auf ein Konto, das die Commerzbank bei der Deutschen Bundesbank unterhält. Die Commerzbank hat somit eine Forderung gegenüber Unicredit in eine Forderung der Bundesbank getauscht. Unicredit wiederum erhält seine Refinanzierung jetzt nicht mehr von der Commerzbank, sondern von der ita- lienischen Notenbank. Die Deutsche Bundesbank hat also höhere Einlagen von der Commerzbank, denen im Prinzip eine Forderung an die italienische Notenbank gegenüberstehen würde. Im Rahmen der Währungsunion wird die Forderung der Bundesbank jedoch als TARGET2-Forderung gegenüber dem gesamten System der beteiligten Notenbanken verbucht. Dementsprechend wird auch die Ver- bindlichkeit der Banca d’Italia nicht als Verbindlichkeit gegenüber der Bundesbank, sondern als eine TARGET2-Verbindlichkeit verbucht, die wiederum gegenüber der EZB besteht. Im Ergebnis weist die italienische Notenbank auf der Aktivseite ihrer Bilanz jetzt höhere Refinanzierungskredite gegenüber den italienischen Banken auf. Dem entspricht auf der Passivseite ihrer Bilanz eine TARGET2-Verbind- lichkeit gegenüber der EZB. So gesehen sind die TARGET2-Salden in erster Linie ein Substitut für Kredite zwischen den Geschäftsbanken der Währungsunion, die zu normalen Zeiten wie ein System kommunizierender Röhren für den Liquiditätsausgleich zwischen den Geschäftsbanken sorgen. 6 Hans-Werner Sinn, Die europäische Zahlungsbilanzkrise – Eine Einführung, in: „Ifo Schnelldienst“, 64/2011, S. 16.

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verkürzen. Man bezeichnet das auch als „deleveraging” (das heißt eine Ver- minderung des Fremdkapital-Hebels), da damit die Relation des Eigenkapi- tals zu den Aktiva erhöht wird, während die Relation des Fremdkapitals (mit dem das Eigenkapital „hoch-gehebelt” wird) abnimmt. Diese Entwicklung kann man an den rückläufigen Kreditbeständen der Banken in den Problem- ländern deutlich erkennen. Im infernalischen Dreieck spielt auch die Wechselbeziehung zwischen Banken und Staat eine wichtige Rolle. Der negative Einfluss von steigen- den Renditen und damit sinkenden Wertpapierkursen auf die Bankbilanzen ist bereits angesprochen worden. Er hat sich durch die Politik der „Dicken Bertha” leider noch verstärkt, da vor allem spanische Banken einen Teil der ihnen zur Verfügung gestellten Mittel zum Ankauf von inländischen Staats- anleihen verwendet haben. Umgekehrt stellt die instabile Verfassung des heimischen Finanzsektors eine wachsende Belastung für die Staaten dar. Da sie nach wie vor allein für die Stabilität ihrer Finanzinstitute haften, haben – wie das Beispiel Spanien verdeutlicht – ungünstige Nachrichten aus dem Bankensektor unmittelbar negative Auswirkungen auf ihre Beurteilung durch die Marktteilnehmer. Je länger diese sich wechselseitig destabilisierenden Kräfte anhalten, desto stärker werden die Fliehkräfte, die die Existenz der Währungsunion bedrohen. Nachdem diese Prozesse schon sehr weit fortgeschritten sind, wird eine nachhaltige Stabilisierung des Euro dementsprechend einen gro- ßen politischen Kraftakt erfordern. Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass der Versuch, die Krise inner- halb des gegebenen institutionellen Rahmens in den Griff zu bekommen, gescheitert ist. Dazu hätte es von vornherein eines Ansatzes bedurft, der sich mit allen Kräften um eine Eindämmung der Situation in Griechenland bemüht und dabei immer darauf geachtet hätte, die Sicherheit der Staatsan- leihen des Euroraums nicht in Frage zu stellen. Es wird jeden Tag offensichtli- cher, dass die in den beiden letzten Jahren verfolgte Politik des „Durchwurs- telns” zu einem immer größeren ökonomischen wie politischen Flurschaden führt. Während die Volkswirtschaften in den Problemländern immer tiefer in Rezession, Depression und Arbeitslosigkeit versinken und dies dort vor allem dem Diktat aus Berlin zugeschrieben wird, wächst in der deutschen Öffent- lichkeit der Unmut über die zunehmende direkte wie indirekte Haftung für Länder, die scheinbar unwillig sind, die notwendigen Reformen energisch anzugehen.

Ein grundlegender Kurswechsel ist nötig

Mit anderen Worten: Es bedarf also eines grundlegenden Kurswechsels. Dieser Kurswechsel muss von der Einsicht bestimmt sein, dass die mit dem Vertrag von Maastricht beschlossene Architektur der Währungsunion durch die Erschütterungen der Finanzkrise nicht mehr tragfähig ist. Wenn die mit der Gründung der EZB und der Einführung des Euro vollzogene monetäre

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Integration eine Zukunft haben soll, wird man um eine stärkere fiskalpoliti- sche Integration nicht herumkommen. Hierin könnte aber, bei allen Proble- men der aktuellen Krise, auch eine große Chance bestehen. Der Blick in den Abgrund eines unkontrollierten Auseinanderbrechens der Währungsunion könnte bei allen Beteiligten die Bereitschaft fördern, nationale Egoismen zugunsten eines gemeinsamen, solidarischen Vorgehens zurückzustellen. In der deutschen Öffentlichkeit begegnet man dem Projekt einer intensi- veren fiskalischen Integration mit großer Skepsis. Diese ist durchaus berech- tigt, denn jede Form einer engeren Kooperation, sei es ein Unternehmens- zusammenschluss oder eine Ehe, ist mit Risiken behaftet. Aber man sollte sich gleichzeitig der Tatsache bewusst sein, dass der Verzicht auf einen sol- chen Schritt aller Wahrscheinlichkeit nach den Rückschritt zu einer nationa- len Währung bedeutet – mit allen fatalen Konsequenzen. Wie aber hätte man sich dagegen eine Stabilisierung der Währungsunion auf kurze und auf mittlere Sicht vorzustellen?

Die Überwindung des infernalischen Dreiecks

Wenn der Euro die nächsten Monate überleben soll, muss zunächst alles getan werden, um das infernalische Dreieck zu überwinden. Da dies sehr schnell geschehen muss, können dafür nur Handlungsoptionen zum Tragen kommen, die sich innerhalb des geltenden institutionellen Rahmens bewe- gen. Um die Stabilisierung der Währungsunion auch auf eine nachhaltige institutionelle Basis zu stellen, müssen parallel zu den kurzfristigen Maß- nahmen unmittelbar jene Schritte eingeleitet werden, die für einen grund- legenden Umbau der Währungsunion erforderlich sind. Wenn man die wechselseitige Eskalation von Staatsschuldenkrise, Ban- kenkrise und makroökonomischer Krise stoppen will, müsste man mit der makroökonomischen Krise beginnen. Ein Ende der Rezession, die Wieder- gewinnung von Wirtschaftswachstum, ist die wichtigste Voraussetzung für eine Stabilisierung sowohl der Staatsschulden als auch des Bankensystems. Oder anders formuliert: Je mehr Staaten in die Rezession geraten, desto ungünstiger entwickelt sich die Schuldenstandsquote und desto instabiler wird die Situation der Banken, da mit steigender Arbeitslosigkeit und zuneh- menden Unternehmensinsolvenzen immer mehr Kredite notleidend werden. In einer idealen Welt würde man in Anbetracht der ausgeprägten Rezes- sion in diesen Ländern nach umfangreichen Konjunkturprogrammen rufen. Da dies aktuell nahezu ausgeschlossen ist, wäre schon viel erreicht, wenn die Regierungen darauf verzichten würden, in diesem und im nächsten Jahr noch weitere einschneidende Sparmaßnahmen umzusetzen. Immerhin wür- den so die Fehler Heinrich Brünings nicht wiederholt. Kurzfristig kann es dabei zwar zu höheren Defiziten kommen, aber wenn man damit vermei- den könnte, dass Italien und Spanien in eine ähnlich desolate Situation wie Griechenland geraten, wäre viel gewonnen. Das Beispiel Griechenlands zeigt dabei zugleich, dass überzogenes Sparen zu einem besonders starken

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Anstieg der Schuldenstandsquote führen kann. Das heißt nicht, dass man auf die Konsolidierung grundsätzlich verzichten soll, aber man sollte damit warten, bis die Volkswirtschaften der Peripherieländer wieder Tritt gefasst haben. Für ein solches Vorgehen spricht auch die bereits erwähnte IWF-Studie von Nicoletta Batini und Anderen. Danach ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Konsolidierung, die in einem Abschwung begonnen wird, diesen ver- tieft oder verlängert, doppelt so hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass eine Konsolidierung, die in einem Aufschwung eingeleitet wird, zu einem Abschwung führt.

Nur die EZB kann die Stabilität der Finanzmärkte jetzt sichern

Unter den gegenwärtigen Bedingungen würde ein temporäres Aussetzen weiterer Spar- und Kürzungsprogramme allerdings mit großer Wahrschein- lichkeit zu einer noch größeren Panik auf den Finanzmärkten führen. Des- halb ist ein solcher – unter konjunkturpolitischen Aspekten dringend gebote- ner – Schritt nur dann möglich, wenn er mit einer umfassenden Absicherung gegenüber Marktstörungen verbunden ist. Die mit dem EFSF und dem ESM bestehenden Rettungsfazilitäten wären dafür unzureichend. Allein Italien und Spanien weisen bis zum Jahr 2014 einen Refinanzierungsbedarf von rund einer Billion Euro auf. Dem steht ein maximales Volumen der kombinierten Rettungsfazilitäten von 500 Mrd. Euro gegenüber. Beim ESM stellt sich zudem das Problem, dass er in Abhängigkeit der geleisteten Bareinzahlungen sein volles Finanzierungsvolumen erst im Laufe der nächsten 18 Monate aufbauen wird. In der aktuellen Situation ist daher kurzfristig in der Tat nur die Europäi- sche Zentralbank in der Lage, die notwendige Absicherung auf den Finanz- märkten zu gewährleisten. Konkret muss sie dazu eine Obergrenze für die Renditen spanischer und italienischer Anleihen vorgeben. In Anbetracht der Tatsache, dass sich Japan, das Vereinigte Königreich und die Vereinig- ten Staaten trotz teilweise sehr viel höherer Defizite zu langfristigen Zinsen von 1 bis 1,5 Prozent finanzieren können, sollte die Obergrenze für Italien und Spanien nicht über 4 Prozent liegen. Ebenso wenig wie die kurzfristi- gen Leitzinsen einer Notenbank dauerhaft festgeschrieben sind, sollte eine solche Zinsobergrenze für langfristige Anleihen nicht starr, sondern flexibel sein. Leider hat sich die EZB jetzt nur dazu durchringen können, den Fristen- bereich bis drei Jahre zu stabilisieren. Wie bei allen Zentralbankinterventionen auf Finanzmärkten stellt sich auch hier die Frage, in welchem Umfang die EZB aktiv werden muss. Dies hängt entscheidend davon ab, für wie glaubhaft die Ankündigung einer Notenbank angesehen wird. Gehen die Investoren davon aus, dass damit die zukünftigen Kursverluste bei italienischen und spanischen Staatsanleihen begrenzt sind, wäre es für sie ein schlechtes Geschäft, solche Papiere an die EZB zu verkaufen und dafür deutsche Anleihen mit einer sehr viel gerin-

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geren Rendite zu erwerben oder gar den Erlös in der unverzinslichen Ein- lagenfazilität der EZB zu parken. So gesehen ist es durchaus möglich, dass es nur vergleichsweise geringer Wertpapierankäufe durch die EZB bedarf, um die Situation zu stabilisieren. Aber auch große Interventionsvolumina wären kein Unglück. Vielmehr würde die EZB dabei sogar Gewinne machen, da sie verzinsliche Anleihen erwerben würde, denen in ihrer Bilanz zusätzliche Notenbank-Guthaben der Banken gegenüberstünden, die derzeit eine Ver- zinsung von null aufweisen. Auch das Ausfallrisiko wäre begrenzt, da Italien und Spanien – wie bereits gesagt – bei einem Zinssatz von 4 Prozent keine Probleme mit der Tragfähigkeit ihrer Verschuldung hätten.

Ein Segen für Millionen von Altersvorsorgesparern und: Deflation entspricht Inflation

Für Deutschland würde eine glaubhafte Intervention der EZB bedeuten, dass sich die extrem niedrigen Renditen für öffentliche Anleihen wieder auf ein normales Niveau zubewegen. Das wäre aus Sicht des Finanzministers nach- teilig, aus Sicht der deutschen Lebensversicherungen und damit von Millio- nen von Altersvorsorge-Sparern wäre es ein dringend gebotener Befreiungs- schlag. Wenn die Renditen für deutsche Anleihen dauerhaft in der Nähe von einem Prozent verharrten, würden sämtliche Renditeversprechungen von Riester- und Rürup-Renten obsolet. Auch die betriebliche Altersvorsorge könnte so in eine bedrohliche Schieflage geraten. Einer Intervention der EZB am Kapitalmarkt wird häufig entgegen gehal- ten, dass solche Transaktionen nicht mit ihrem Mandat zu vereinbaren seien. Nach Artikel 127 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist die EZB primär dem Ziel der Geldwertstabilität verpflichtet. Die- ses Ziel muss jedoch symmetrisch verstanden werden, das heißt, eine Infla- tion ist volkswirtschaftlich ebenso schädlich wie eine Deflation. Wenn es jedoch nicht bald gelingt, das infernalische Dreieck zu überwinden, so dass die Arbeitslosenrate des Euroraums, die sich mit mehr als 11 Prozent ohne- hin schon auf einem historisch hohen Niveau bewegt, noch weiter ansteigt, können die deflationären Kräfte leicht die Oberhand gewinnen. So gesehen ist alles, was die EZB zur Vermeidung einer Deflation im Euroraum unter- nimmt, durch ihr primäres Mandat vollständig abgedeckt. Wertpapierkäufe widersprechen auch nicht dem Vertrag über die Arbeits- weise der Europäischen Union. Artikel 123 verbietet lediglich den unmittel- baren Erwerb von Staatsanleihen bei den jeweiligen Staaten, nicht aber den mittelbaren Erwerb über den Kapitalmarkt. Insgesamt steht die EZB heute vor der Aufgabe, die Rolle des lender of last resort in vollem Umfang wahrzunehmen. Dabei handelt es sich um eine klas- sische Notenbank-Funktion im Falle von Bankenkrisen. Sie wurde erstmals von dem britischen Ökonomen Walter Bagehot (1826–1877) für die Bank of England im Falle eines bankrun formuliert. Da die Banken bei einer kollekti- ven Panik, die zu einem massenhaften Abzug von Bankeinlagen führt, nicht

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in der Lage sind, diesen Prozess zu stoppen, muss die Notenbank die Lage stabilisieren, indem sie umfassende Kredite an die Banken vergibt. „Lend freely” lautet für diesen Fall Bagehots Maxime, die er in seinem berühmten Buch „Lombard Street“ formulierte. Heute haben wir es neben einem schleichenden, aber nicht minder proble- matischen Abzug von Bankeinlagen zugleich mit der Gefahr eines bond-run zu tun, also einer kollektiven Panik bei den Investoren von Staatsanleihen, die zu Massenverkäufen führen könnte. Aufgrund der bereits erwähnten institutionellen Bedingungen der Währungsunion sind die Länder dagegen ähnlich hilflos wie die Banken bei einem klassischen bank-run.

Die Rolle der EZB bei der Stabilisierung der Banken

Wenn es der EZB gelingt, durch Anleihekäufe den Wert der Staatsanleihen zu stabilisieren, und zudem die konjunkturelle Abwärtsspirale gestoppt wird, wäre schon ein sehr wichtiger Beitrag zur Lösung der Probleme des Finanz- sektors in den Peripherie-Ländern geleistet. Denn zwei der drei Krisen, die der Staatsschulden wie die makroökonomische, also die Rezession, wären damit wirksam bekämpft. Bliebe noch als Drittes die Bankenkrise: Tatsäch- lich ist durchaus nicht auszuschließen, dass es dennoch zu größeren Verlus- ten bei spanischen oder italienischen Banken kommt. Unter den derzeitigen Verhältnissen gibt es zwar die Möglichkeit, dass der EFSF zur Rekapitalisie- rung von Banken Mittel bereitstellt, diese werden jedoch als Verbindlichkeit des betreffenden Staates gewertet. Der im Juni 2012 von Spanien gestellte Antrag auf EFSF-Hilfe zur Bankenrekapitalisierung hat deshalb auch nicht zur Beruhigung der Märkte beigetragen. Die Risikoprämie für Spanien stieg nach einem kurzen Rückgang weiter an. Bei der erforderlichen Rekapitalisierung von Banken geht es vor allem um die Frage der Systemrelevanz. Wenn aber der Zusammenbruch spani- scher Banken dazu führen würde, dass es über Domino-Effekte zum Kollaps von Banken in Frankreich und Deutschland kommt, wäre es da tatsächlich sinnvoll, die Bankenrettung dem spanischen Staat zu überlassen, der dazu nicht mehr in vollem Umfang in der Lage ist? Wohl kaum. Den betroffenen Staaten würde es dagegen sehr viel leichter fallen, ihre Banken aus eigener Kraft zu stabilisieren, wenn sie nicht mehr damit rechnen müssten, dass die damit einhergehende zusätzliche Staatsverschuldung zu einem erneuten Anstieg ihrer Risikoprämie führt, die dann – so der circulus vitiosus – ihrer- seits mit zusätzlichen Verlusten der Banken einhergeht. Eine Stabilisierung der Anleiherenditen durch die EZB könnte somit dazu beitragen, dass der gefährliche Prozess eskalierender Probleme im Bankensektor, einer höheren Staatsverschuldung und steigender Risikoprämien unterbunden wird. Eine direkte Finanzierung von Banken durch den EFSF, die auf dem Gipfel vom 28. und 29. Juni 2012 zwar grundsätzlich ins Auge gefasst, dann aber davon abhängig gemacht wurde, dass erst einmal eine gemeinschaftliche Banken- aufsicht etabliert wird, wäre dann auf kurze Sicht gar nicht mehr erforderlich.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 61 19.09.12 11:07 62 Peter Bofinger

Gewiss, es ist durchaus legitim, sich aus grundsätzlichen Erwägungen gegen die Entscheidung Mario Draghis und gegen ein Eingreifen der EZB zu stel- len. Aber man sollte dann auch so mutig sein, die damit verbundenen Konse- quenzen klar auszusprechen und das Ganze nicht auch noch als Beitrag zur Rettung des Euro zu verkaufen. Die EZB nimmt derzeit faktisch die Funktion einer gigantischen Herz-Lungen-Maschine für ein völlig dysfunktionales Finanzsystem wahr. Wenn man dafür plädiert, diese abzustellen, nimmt man damit billigend ein chaotisches Ende der Währungsunion in Kauf. Man muss daher die mit dem Ende der Währungsunion verbundenen Kon- sequenzen sorgfältig abwägen gegen die Risiken, die mit einer umfassen- den Stützung der Märkte für Staatsanleihen durch die EZB verbunden sind: In der Regel wird das größte Risiko darin gesehen, dass ein umfangreicher Ankauf von Staatsanleihen Inflation nach sich zieht. In der Tat ist es in der Geschichte immer wieder dazu gekommen. Auf der anderen Seite kann man am Beispiel Japans sehen, dass eine Wirtschaft selbst bei massiven Interven- tionen der Notenbank am Kapitalmarkt (in den Jahren 2001 bis 2004 erreich- ten diese eine Höhe von rund 6 bis 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) über Jahre hinweg von deflationären Tendenzen beherrscht sein kann. Wenn die EZB in der aktuellen Situation Staatsanleihen erwirbt, kommt es für die Banken zu einem Tausch von unsicheren Anleihen mit hoher Ver- zinsung gegen Notenbankguthaben mit niedriger Verzinsung. Der Zinsver- lust ist damit als eine Versicherungsprämie gegen weitere Kurseinbußen bei Staatsanleihen zu sehen. Wie bei jeder Versicherung wird damit niemand bereichert, so dass davon auch keine expansiven Impulse für die Wirtschafts- aktivität des Euroraums ausgehen. Ein Eingreifen der EZB hätte nur dann inflationäre Effekte, wenn sich die Staaten dadurch veranlasst sähen, in den nächsten Jahren so expansive Ausgabenprogramme und Steuersenkungen zu initiieren, dass es zu einer wirtschaftlichen Überhitzung des Euroraums kommt. Sollten derartige Fehlentwicklungen tatsächlich eintreten, hätte die EZB neben ihrer klassischen Zinspolitik die Möglichkeit, durch den Verkauf von Staatsanleihen die langfristigen Zinsen nach oben zu treiben. Sie könnte damit eine besonders restriktive geldpolitische Linie fahren. Richtig bleibt aber auch: Da bei Staatsanleihekäufen von Notenbanken negative Anreizeffekte nicht grundsätzlich auszuschließen und auch nicht zu vermeiden sind, darf es sich bei solchen Eingriffen immer nur um temporäre, quasi intensivmedizinische Interventionen handeln. Sie sollten daher mög- lichst bald dadurch abgelöst werden, dass für die gesamte Währungsunion eine solidere Architektur in Form einer echten politischen Union gefun- den wird.7 Während also auf kurze Sicht kein Weg an einer Stabilisierung des Euroraums durch die EZB vorbeiführt, sollte man mittel- und langfris- tig gleichwohl alles tun, um die traditionelle Trennung zwischen Geld- und Fiskalpolitik wiederherzustellen. Denn die Staatsfinanzierung, soviel steht fest, darf keine Daueraufgabe der Notenbank werden.

7 Vgl. dazu auch den Beitrag von Peter Bofinger, Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin, Einspruch gegen die Fassadendemokratie. Ohne einen Strategiewechsel wird die Währungsunion nicht mehr lange überleben, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 3.8.2012.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 62 19.09.12 11:07 »Verfassungsschutz« Über das Ende eines deutschen Sonderwegs

Von Claus Leggewie und Horst Meier

„Was wird bleiben vom Verfassungsschutz, seit mit dem Fall der Mauer die alte Schlachtordnung gründlich durcheinandergeraten ist? Eine Bundesprüfanstalt für Extremisten, die demnächst ostdeutsche Filialen eröffnet und sich ‚einseitig‘ auf den Kampf gegen Neonazis verlegt? Oder ein für alle Beteiligten quälend lange aufgeschobener Abwicklungsfall im Westen, für den sich niemand zuständig fühlt, weil kaum jemand mehr ‚Verfassungsschutz‘ im herkömmlichen Stil betreiben mag, doch alle die Verfassung irgendwie glauben schützen zu müssen?“1

eit unserem „Vorgezogenen Nachruf auf die freiheitliche demokratische S Grundordnung“ sind zwanzig Jahre vergangen. Zwanzig scheinbar ver- lorene Jahre, denkt man an den ganz gewöhnlichen Verfassungsschutz, wie er hierzulande noch immer veranstaltet wird. Doch immerhin: Heute ist das Ende dieses deutschen Sonderwegs in Sicht gekommen. Das Unbehagen am Verfassungsschutz wächst und lässt sich nicht länger mit jenen Reformplace- bos beruhigen, die nach jedem größeren Skandal verabreicht werden. Will aber dieses Unbehagen nicht folgenlos bleiben, muss es sich selbst aufklä- ren über die Geheimnisse der „streitbaren“ Demokratie: Wo ideologischer Verfassungs­schutz ist, muss gefahrenbezogener Republikschutz werden. Es wäre schön, wenn sich dazu nun auch die Opposition aus Sozialdemo- kraten, Grünen, Linken und Piraten durchringen könnte, statt in der Angst vor einer vermeintlichen Sicherheitslücke am Status quo zu hängen und halbherzige Reformen durchzuwinken. Denn wenn es nach Bundesinnen- minister Friedrich geht, soll der Bundesverfassungsschutz erheblich aus- gebaut werden, zu Lasten der Landesverfassungsschutzämter. Doch an den wahren Problemen geht dies entschieden vorbei. Wie tief das Ansehen der deutschen Sicherheitsbehörden gesunken ist, lässt eine Äußerung von Jörg Ziercke, dem Chef des Bundeskriminalamts, ahnen. Er sprach geradezu beschwörend davon, die Behörden müssten das „Vertrauen“, ja die „Achtung“ der Bevölkerung zurückgewinnen. Und in der

* Der Beitrag basiert auf „Nach dem Verfassungsschutz“, dem jüngsten Buch der beiden Autoren, das soeben im Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin, erschienen ist. 1 Vgl. Claus Leggewie und Horst Meier, Die Berliner Republik als Streitbare Demokratie? Vorgezogener Nachruf auf die freiheitliche demokratische Grundordnung, in: „Blätter“, 5/1992, S. 598-604.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 63 19.09.12 11:07 64 Claus Leggewie und Horst Meier

Tat muss die Aufklärung diesmal umfassender und radikaler sein als jemals zuvor bei einem Verfassungsschutzskandal. Es kommt darauf an, die struk- turellen Probleme des Verfassungsschutzes zu diskutieren. Was jetzt auf den Prüfstand muss, ist die gesamte Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik. Deren vier traditionelle Säulen Polizei, Verfassungsschutz, Bundesnach- richtendienst (BND) und Militärischer Abschirmdienst (MAD) gelten als bewährt und unumstößlich. Doch eine dieser Säulen war von Anfang an fehl am Platze. Sie hat es daher nicht verdient, reformiert zu werden: Wer den Verfassungsschutz behutsam aus dieser Konstruktion herausnimmt, braucht nicht zu gewärtigen, das ganze Gebäude der inneren Sicherheit stürze ein. Im Gegenteil, die auf das Inland bezogene Sicherheitspolitik kann nur über- sichtlicher und effizienter werden. Das Ende der Extremistenausspähung wird ein Zugewinn an Freiheit, also ein Gewinn für die Bürgerrechte sein.

Von Frühwarnung keine Spur

Noch im letzten Jahresbericht lobte Innenminister Friedrich den Verfas- sungsschutz als eine „Institution, die als unverzichtbares Frühwarnsystem gute und wertvolle Arbeit“ leistet.2 Wenn jedoch eines inzwischen feststeht, dann das fatale Versagen einer großen Zahl von Verfassungsschützern. Von Frühwarnung beim rechten Terror keine Spur! Im Gegenteil, man ließ jene, die immerhin schon mit Rohrbomben hantiert hatten, erst untertauchen, um sie dann „aus den Augen zu verlieren“ – ohne später jemals Verdacht zu schöpfen und Alarm zu schlagen, obgleich eine rätselhafte Mordserie gegen Migranten nicht abriss. Das müsste für eine ernsthafte Debatte über den Sinn dieser Einrichtung allemal reichen. Die aus dem Kalten Krieg übrig geblie- bene Veranstaltung namens Verfassungsschutz – das heißt, die vorbeugende Überwachung des Extremismus verdächtiger Bürger weit im Vorfeld mess- barer Gefahren –, diese deutsche Spezialität findet in anderen westlichen Demokratien keine institutionelle Entsprechung. Sie hat, nüchtern betrach- tet, einen sicherheitspolitischen Nutzwert, der gegen null tendiert. Besten- falls gibt es aus dieser Ecke keine Skandale zu vermelden. Der Rest ist, auch wenn das Argument des Steuerzahlers etwas kleinlich wirkt, rausgeschmis- senes Geld. Kurz: Auf diesen Verfassungsschutz und seine Ausspähung von „Extremisten“, die je nach politischer Konjunktur mal eher links, mal eher rechts ausgemacht werden – auf diesen Verfassungsschutz samt dem Treiben seiner V-Leute kann Deutschland gut und gerne verzichten. „Die großen, durch niemanden kontrollierten Apparate schaffen sich den Gegenstand, der ihre Existenz rechtfertigt, irgendwann selbst“, schrieb Nils Minkmar in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ über die Ämter für Verfassungsschutz: „Heute können wir nur ihr völliges Versagen feststellen. Die Dienste dienen nur sich selbst. Es ist darum richtig, sie auf- zulösen.“3 Ihre Arbeit übernehmen dann die Staatsschutzkommissariate der

2 Bundesministerium des Inneren, Verfassungsschutzbericht 2010, S. 5. 3 Nils Minkmar, Hauptsache, es macht peng!, in „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, 20.11.2011.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 64 19.09.12 11:07 »Verfassungsschutz«: Über das Ende eines deutschen Sonderwegs 65

Kriminalpolizei. Die Beamten der sogenannten politischen Polizei sind seit jeher mit der Aufklärung und Verfolgung politisch motivierter Straftaten beschäftigt. Das ist zwar ebenfalls skandal­trächtig, weil verdeckte Ermittler und auch V-Leute im Einsatz sind. Es ist aber, weil auf konkrete Gefahren und Straftaten bezogen, ein ungleich solideres Handwerk als all die Bespit- zelung und Geheimniskrämerei eines selbst ernannten „Frühwarnsystems“, das bei Gefahr im Verzuge nachweislich schläft.

Jenseits polizeilicher Befugnisse: Die Erfindung des Verfassungsschutzes

Wer verstehen will, wie „Verfassungsschutz“ funktioniert, muss einen Blick auf die westdeutschen Anfänge dieses Geheimdienstes werfen. Am 27. September 1950 trat ein Paragraphenwerk in Kraft mit dem umständ- lichen Titel „Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes“. Als es im Deutschen Bundestag beraten wurde, behauptete der Abgeordnete der Kommunistischen Partei Deutschlands, Walter Fisch, es sei „ganz klar, dass man eine neue Gestapo als verlängerten Arm der Besatzungsmächte und ihrer Militärpolizei“ schaf- fen wolle. Auch Abgeordnete anderer Parteien, etwa aus der sozialdemokra- tischen Fraktion, warnten in jener Parlamentsdebatte vor der Neuauflage einer allmächtigen Geheimen Staatspolizei, die in der Nazizeit Angst und Schrecken verbreitet hatte. Im Gegensatz zum Redner der KPD zeigten sie sich allerdings davon überzeugt, der Gesetzentwurf trage diesen Bedenken Rechnung. Zu Recht, wie wir heute wissen. Man kann dem Verfassungsschutz allerhand nachsagen, nur nicht, er ope- riere mit den Methoden einer „neuen Gestapo“. Auch Vergleiche mit dem Ministerium für Staatssicherheit der verflossenen DDR sind abwegig. Der Verfassungsschutz bekam von Anbeginn und mit Bedacht keine Zwangs- befugnisse. Seine Beschränkung auf das Zusammentragen von Nachrichten, das auch heimlich geschehen kann, ergibt sich aus dem Grundgesetz. Dort heißt es in Artikel 87 Absatz 1: „Durch Bundesgesetz [kann eine Zentral- stelle] [...] zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschut- zes [...] eingerichtet werden.“ „Verfassungsschutz“? Der Name war damals nicht geläufig. 1948/49, als der Parlamen­tarische Rat das Grundgesetz diskutierte, tagten parallel dazu Expertengruppen der alliierten Besatzungsmächte. Es waren zwei amerika- nische Geheimdienstoffiziere, die auf die Idee kamen, den westdeutschen Dienst „Verfassungsschutz“ zu nennen. Schon sprachlich wollten sie jede Nähe zur Gestapo vermeiden.4 Damit die gerade entnazifizierten Deutschen ja nicht auf die schiefe Bahn gerieten, formulierten die westlichen Besat- zungsmächte im soge­nann­ten Polizeibrief vom 8./14. April 1949: „Der Bundes- regierung wird es ebenfalls gestattet, eine Stelle zur Sammlung und Ver-

4 Vgl. Hermann Borgs-Maciejewski, Verfassungsschutz im internationalen Vergleich, in: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.), Verfassungsschutz in der Demokratie. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, Köln 1990, S. 165-202, hier: S. 170.

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breitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten. Diese Stelle soll keine Polizeibefugnis haben.“ Das gilt bis heute: Im Gesetz über den Verfassungsschutz ist festge- schrieben, dass diese Behörde keiner polizeilichen Dienststelle angegliedert werden darf. 2010 zählte das Kölner Bundesamt – bei einem Etat von 174 Mio. Euro – 2641 Mit­arbeiter (Hausmeister und Sekretärinnen eingerechnet); in den sechzehn Ländern arbeiten zusammengenommen ungefähr noch einmal so viele.5 Während der Bundesnachrichten­dienst (BND) für Spionageabwehr im Ausland zuständig ist, operiert der Verfassungsschutz ausschließlich im Inland. Auch anderswo betreiben Nachrichtendienste „Inlandsaufklärung“. Und doch ist der deutsche Verfassungsschutz kein Inlandsgeheimdienst wie andere auch: Denn mit seiner Zentralaufgabe, der Beobachtung „extremis- tischer“ Bestrebungen, bekam er einzigartige Eingriffsmöglichkeiten in die Rechte gesetzestreuer Bürger. Fragt sich nur, warum dieser Inlandsnachrichtendienst zur systemati- schen Ausforschung von oppositionellen Inländern vor über 60 Jahren aus der Taufe gehoben wurde. In der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik finden sich dafür Motive, die heute nicht mehr einleuchten, die aber den- noch verständlich sind: 1950 war der Kalte Krieg voll im Gange; die ideologi- sche Konfrontation der Blöcke beförderte das Freund-Feind-Denken. Zudem musste in einer Zeit, da viele ein abgrundtiefes Misstrauen gegen das Volk hegten, eine Demokratie, eine Volksherrschaft begründet werden. Wenige Jahre nach dem Ende des Naziregimes, das von außen herbeigeführt werden musste, war keineswegs sicher, ob die Deutschen die demokratische Staats- form zu ihrer Sache machen würden. Alle Bürgerinnen und Bürger der später so genannten „streitbaren Demo- kratie“ sollten verfassungstreu sein und notfalls dazu angehalten werden. Im vorbeugenden Kampf gegen die „Feinde der Demokratie“ glaubte man, wirkliche Gefahren gar nicht erst abwarten zu dürfen – also machte man den bloßen politischen Verdacht zur allgemeinen Geschäfts­grundlage des Verfassungsschutzes. Er wurde der institutionelle Arm eines westdeutschen Sonderweges, wie er in keiner anderen westlichen Demokratie existiert. Es ist daher heute höchste Zeit, diesen Sonderweg zu verlassen und den her- kömmlichen Weg der Demokratie einzuschlagen: ohne Naivität und Illusio- nen, doch auch ohne Furcht vor den Risiken, die normale demokratische Ver- hältnisse nun einmal mit sich bringen.

Der Kernbegriff des Extremismus

Der deutsche Verfassungsschutz ist, wie seine Entstehungsgeschichte ver- deutlicht, kein Inlandsdienst wie andere auch. Diese Anomalie setzt sich fort in seiner Kernaufgabe, der Beobachtung „extremistischer“ Bestrebungen.

5 Vgl. für das Bundesamt den Verfassungsschutzbericht 2012, S.13, für die Länder in: „Frankfurter Rund- schau“, 27.1.2012.

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Hier bekam er Eingriffs­möglichkeiten in die Grundrechte unbescholtener Bürger, die ihresgleichen suchen. Die sogenannte Vorfeldaufklärung wird nicht erst gegen potentielle Straf- täter betrieben, sondern bereits dann, wenn legale Oppositionsgruppen der Verfassungsfeindschaft verdächtigt werden: „Das Bundesamt für Verfas- sungsschutz darf Informationen [...] mit den [nachrichtendienstlichen] Mit- teln erheben, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass auf diese Weise Erkenntnisse über Bestrebungen (gegen die freiheitliche demokrati- sche Grundordnung) [...] gewonnen werden können.“ So steht es im entspre- chenden Gesetz des Bundes. Die juristischen Spitzfindigkeiten lassen sich leicht überhören, davon lebt Verfas­sungs­schutz: Denn hinter der Annahme, dass irgendwelche „Tatsachen“ den Verdacht rechtfertigen, es seien „Bestre- bungen“ gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Gange, steckt nichts als eine vage Vermutung. „Tatsächliche Anhaltspunkte? Nirgendwo gibt es in der Bundesrepublik eine Behörde, wo der Verdacht allein schon für Derartiges ausreicht. [...] Aber beim Verfassungsschutz meinen sie definieren zu können, wer Verfassungs- feind ist. Und in der Realität hat sich das so durch­gesetzt, dass das keiner mehr in Frage stellt.“ Das konstatierte der 2005 verstorbene Politikwissen- schaftler und Bürgerrechtler Jürgen Seifert.6 In aller Regel geht es um den bloßen Verdacht, eine bestimmte Organisa- tion oder Partei hege politische Überzeugungen und vertrete politische Ziele, die nach Ansicht des Verfassungsschutzes „extremistisch“ sind, das heißt inhaltlich mit der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ nicht zu vereinbaren seien. Der Begriff des Extremismus steht nicht im Gesetz, er wird als Sammelbegriff zur Kenn­zeichnung der dort charakterisierten „Bestre- bungen“ verwendet und ist ein zentrales Schlagwort der deutschen Innen- politik. Wo immer er auftaucht, geht es um die Mobi­lisierung von Ausgren- zungsbereitschaft. Unter „Extremismus“ versteht eine Politik­wissenschaft, die dem Verfassungsschutz (ebenso wie der „streitbaren Demokratie“) unkri- tisch gegenübersteht, die rechte oder linke Gegnerschaft zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Quelle ist die vom Verfassungsgericht erst- mals im Verbotsurteil gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP) verwen- dete Definitionsformel: „Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkre- tisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persön­lichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Ver­antwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancen- gleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“7 Gerade weil die hier aneinandergereihten verfassungspolitischen Gestal- tungsprinzipien von entwaffnender Selbstverständlichkeit sind, erlebten sie

6 Jürgen Seifert im Interview mit Horst Meier, Hannover, 21.8.2000. 7 Bundesverfassungsgericht, Bd. 2., S. 12 f.; zu Inhalt und Herkunft der fdGO-Formel vgl. Claus Leggewie und Horst Meier, Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie, Reinbek 1995, S. 214 ff.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 67 19.09.12 11:07 68 Claus Leggewie und Horst Meier

seit den 1950er Jahren eine einzige Kettenzitation, bis hinein in das Gesetz über den Verfassungsschutz (Paragraph 4) – was Verfas­sungs­schützer zu der Behauptung verleitete, man habe nunmehr „die Kriterien für die Grenz­ ziehung zwischen Extremisten und Demokraten“ zur Hand.

Die „FdGO“ als Kampfbegriff

Doch es gibt keine „freiheitliche demokratische“ Rechtssicherheit. Die Prin- zipien als solche sind nicht umstritten, unklar sind „nur“ ihre Anzahl, ihre jeweils charakteristischen Merkmale oder ihre Rangfolge. Trotz jahrzehn- telanger Bemühungen konnte diese Formel, abgesehen von einigen Ein- sprengseln aus der Totalitarismustheorie, nie hinreichend präzisiert werden. Rechts und links haben viel gestritten über ihren „richtigen“ Inhalt, denn sie lädt dazu ein, eigenes Wunschdenken als Staatsziel auszugeben: Es genügt ja, je nach politischem Temperament die Akzente zu verschieben oder den Mindestinhalt zu variieren: Was den einen der Sozialstaat, ist den anderen das friedliche Zusammenleben der Völker und so fort. So kam denn Erhard Denninger in dem von ihm herausgegebenen, materialreichen Band „Frei- heitliche demokratische Grundordnung“ zu dem Resümee: „Auch künftig wird nicht etwa die fdGO-Formel die Praxis steuern, sondern umgekehrt werden die aktuellen Bedürfnisse der politischen Ausgrenzungspraxis den Inhalt der juristischen Formel füllen.“8 Der ganze Streit um den Inhalt der Formel geht, analytisch betrachtet, am eigentlichen Problem vorbei. Mit Hilfe der fdGO-Formel lässt sich Verfas- sungsfeindschaft rein inhaltlich bestimmen, und zwar als „Verstoß“ gegen bestimmte Prinzipien der Verfassung. Außerdem ermöglicht es diese Formel, siehe Grundrechteverwirkung und Parteiverbot, den an sich völlig legalen Gebrauch der Grundrechte in deren „Missbrauch“ umzudeuten. So wird unter Berufung auf eine höhere Legitimität der Grundordnung die „bloße“ Legalität sogenannter Extremisten in Frage gestellt und entwertet. Man darf sich also nicht wundern, dass die fdGO-Formel immer wieder in die Mühlen der Tagespolitik geriet – sei es, dass die Verfassungstreue von Lehramtsbewerbern und Postbeamten oder eben die ganzer Parteien in Zweifel gezogen wurde, um folgeweise eine entsprechende Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu rechtfertigen. Hatte ein Lehramtsbewer- ber als Student ein Flugblatt geschrieben, das eine Rätedemokratie anpreist, wurde seine Verfassungsfeindschaft mit dem fdGO-Element der Gewalten- teilung begründet. Hatte er sich an einer Demonstration unter der Parole „Ausländer raus!“ beteiligt, so wurde seine mangelnde Verfassungstreue mit dem fdGO-Element der Gleichheit vor dem Gesetz begründet. Und tritt einer heute für Plebiszite ein, wendet er sich womöglich gegen das Prinzip der par- lamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung. Gegen solche Verdäch- tigungen ist kein Kraut gewachsen. Eben weil im Kern des Vorwurfs kein

8 Erhard Denninger (Hg.), Freiheitliche Demokratische Grundordnung, Bd. I, Frankfurt a. M. 1977, S. 70.

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objektiv beurteilbares Verhalten, sondern politische Kommunikation steht: das Vertreten von Zielen, die nur deshalb falsch und schädlich sein sollen, weil sie inhaltlich mit einer idealtypisch formulierten Grundordnung kolli- dieren. Anders gesagt: Verfassungsfeindschaft wird mit anstößigen Gesin- nungen und Meinungen begründet. Hier, im Zentrum des ideolo­gischen Verfassungsschutzes, rächt sich, dass der Begriff des hiesigen Extremismus nicht an ein gewaltsames Verhalten gekoppelt wird, sondern dass man eine rein politisch be­stimm­te (und ideologieanfällige) Definition ausreichen lässt. Praktisch gesehen ist daher die hierzulande übliche Ächtung von Extre- misten nichts anderes als die politische Ideologie einer Mitte, die über die „freiheitliche demokratische Grund­ordnung“ verfügt und waltet. Dass es einer demokratischen Regierung grundsätzlich nicht erlaubt ist, einzelne Abweichler als Extremisten zu überwachen oder missliebige Opposi­ tionsparteien infiltrieren zu lassen, kommt den Adepten der „streitbaren“ Ideologie nicht in den Sinn. Auch fällt nicht weiter auf, dass mit Hilfe einer Formel, die ausdrücklich die „Chan­cengleichheit für alle politischen Par- teien“ postuliert, missliebige Opposition diskriminiert wird. Die hypertrophe Prävention der „streitbaren“ Demokratie funktioniert hierzulande so: Das Recht auf Opposition wird geschützt, indem man bestimmte Oppositions- parteien ver­bietet, die eines Tages das Recht auf Opposition beeinträchtigen könnten.

Vorfeldaufklärung: Die nachrichtendienstlichen Mittel

Im einschlägigen Bundesgesetz werden auch die Mittel genannt, mit deren Hilfe Organi­sationen und Einzelpersonen ausgeforscht werden dürfen: „Das Bundesamt für Verfas­sungsschutz darf Methoden, Gegenstände und Instrumente zur heimlichen Informations­beschaffung wie den Einsatz von Vertrauensleuten und Gewährspersonen, Observationen, Bild- und Tonauf- zeichnungen, Tarnpapiere und Tarnkennzeichen anwenden.“ Diese „nachrichtendienstlichen Mittel“9 stellen als solche nichts Beson- deres dar, sie zählen auch in anderen Demokratien zum Standardrepertoire geheimdienstlicher Arbeit. Das grundstürzend Andere, das Spezifikum des deutschen Inlandsgeheimdienstes aber ist es, dass solche nachrichten- dienstlichen Mittel nicht erst gegen jene „umstürzlerischen Aktivitäten“, von denen im Polizeibrief der Alliierten die Rede war, eingesetzt werden dürfen, sondern bereits weit im Vorfeld wirklicher Gefahren gegen politisch Anders- denkende. Denn jene Bestrebungen sind politisch-legaler Art und vollziehen sich unter dem Schutz der Meinungs-, Versammlungs- und Parteienfreiheit. Was man indes dem unverdächtigen Bürger als Gebrauch seiner Grund- rechte zubilligt, das wirft man dem Extremisten als Missbrauch, ja als eine Art „Grundrechtsterror“ vor.10

9 Vgl. Bernhard Schlink, Das nachrichtendienstliche Mittel, in: „Neue juristische Wochenschrift“ 1980, S. 552 ff. 10 Vgl. Sebastian Cobler, Grundrechtsterror, in: Horst Meier, Protestfreie Zonen?, Berlin 2012, S. 79-87.

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Diese Kombination, die innerstaatliche Feinderklärung gegen „Extremis- ten“ und deren Vorfeldüberwachung mit den Mitteln eines Geheimdiens- tes, macht das Wesen des deutschen „Verfassungsschutzes“ aus. Zwar will man dieses fragwürdige Allein­stellungsmerkmal in den Ämtern selbst nicht wahrhaben, doch sind diese weit in den friedlichen Meinungskampf vor- verlagerten Eingriffsbefugnisse weltweit einmalig. Wo andernorts mit den Rändern des politischen Spektrums die Auseinandersetzung um Meinun- gen und Parlamentssitze geführt, also demokratische Normalität praktiziert wird, beherrscht hierzulande die Vorfeldaufklärung eines „Verfassungs- schutzes“ die Szene. Es liegt auf der Hand, dass die geheimdienstliche Ausforschung potentiell jeglicher Oppo­sition mit schweren Eingriffen gegen die Freiheit der legalen politischen Betätigung ein­her­geht: Wo immer die regierende Mehrheit den Gebrauch der Grundrechte, etwa der Mei­nungsfreiheit, als extremistischen „Missbrauch“ definieren und vorbeugend überwachen lassen darf, sind öffentliche Stigmatisierung und Einschüchterung die Folge. Mit der Freiheit potentiell aller ist somit aktuell die Freiheit jener gefährdet, die aus der Zone der gemäßigten Kritik heraustreten.

Verfassungsschützer als Agenten der politischen Bildung

Die spezifische Kernaufgabe des Verfassungsschutzes, die präventiv-geheim- dienstliche Überwachung von Extremisten, ist somit der zentrale Konstruk- tionsfehler. Die wachsenden Legitimationsprobleme des Verfassungsschut- zes finden ihre Ursache darin, dass immer weniger Leute von der Notwendig- keit dieser Vorfeldaufklärung überzeugt sind. In dem Maße, wie Sinn und Zweck des Kerngeschäfts wegbrechen, kommt es zu fahrigen Suchbewegungen und der Verfassungsschutz franst an seinen Rändern aus. Kein Wunder also, dass sich Verfassungsschützer in Schulen als Agenten der politischen Bildung versuchen und eine Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache auf die Beine stellen, die sie früher lächelnd abgetan hätten. Heute indes, da die Sinnkrise voll ausgebrochen ist, heißt nicht von ungefähr das suggestive Stichwort, mit dem der Minister jeden Verfassungsschutz- bericht einleitet, „unverzichtbar“. Es durfte natürlich auch nicht fehlen, als in Köln der neue Behördenchef in sein Amt eingeführt wurde. Daraus ergibt sich folgendes Lagebild: Ein im Grunde verunsicherter Ver- fassungsschutz tendiert dazu, sich in zwei gegensätzliche Richtungen auf- zulösen. Nimmt er stärker organisierte beziehungsweise politisch motivierte Kriminalität und Spielarten des Terrorismus in den Blick, so nähert er sich einem Terrain, das – völlig zu Recht – die Polizei für sich reklamiert. Bevor- zugt der Verfassungsschutz dagegen eine der Zivilgesellschaft entgegen­ kommende, das heißt sich selbst zurücknehmende Variante, so muss er sich beim Auswerten allgemein zugänglicher Quellen vorwerfen lassen, man könne selbst Zeitung lesen und das Internet durchsuchen. Bei der „Aufklä- rung“ in Schulen lautet der Vorwurf zu Recht, andere verstünden von politi-

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scher Bildung entschieden mehr und seien überdies unabhängig und poli- tisch neutral.11 Zu welcher Seite man auch hinneigt: Allenthalben stößt man auf argwöh- nische Konkurrenz. Unsere Verfassungsschützer befinden sich in einer Lage, um die sie nicht zu beneiden sind. Kurzum: Die Bilanz nach mehr als 60 Jahren Verfassungsschutz ist ernüch- ternd. Was die deutsche Demokratie heute ist, wurde sie nicht wegen, son- dern trotz des Verfassungs­schutzes. Die Verfassungstreue der Deutschen zu einer nach 1945 von den Siegern bloß verordneten Demokratie, auf die damals nur Optimisten hoffen durften, kann heute für eine Mehrheit vorausgesetzt werden. Dass „Verfassungs- schutz“ ein Anachronismus geworden ist, verdanken wir also der Erfolgs- geschichte der westdeutschen Demokratiegründung selbst. Eine klare Zäsur ist daher fällig: Selbstbewusste Demokratie funktioniert ohne Verfassungs­schutz. Sie besinnt sich auf die Abwehr konkreter Gefah- ren und lebt im Übrigen mit den Unwägbarkeiten, die Freiheit auszeich- nen. Gewiss, es gibt keine politischen Lebens­versicherungen. Die deutsche Demokratie bleibt gefährdet, so wie jede Demokratie es allenthalben ist: Dies ist ihr Risiko, ihre Gefahr, aber auch ihre Ehre. Man muss durchaus wachsam sein; Wachsamkeit darf aber nicht umschlagen in paranoiden „Verfassungs­ schutz“. Ansonsten bleibt jedermann irgendeines anderen Verfassungsfeind. Denn wie wusste schon Karl Marx in seiner Polemik gegen die preußische Pressezensur von 1842: „Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen.“

Vom Verfassungs- zum Republikschutz

Wie aber hätte dagegen ein wirksamer Schutz unser Demokratie auszu- sehen? Anders gefragt: Wie soll, wie darf eigentlich der demokratische Verfassungs­staat gegen seine Gegner vorgehen? Diese Fragen zielen auf eine systematische Reflexion der Maßstäbe, die die Verteidigung der Demo- kratie zu einer systemgerechten machen. Auf diese Weise wird aus untaug- lichem Verfassungsschutz wirksamer Republikschutz.12 Diese Kritik der „streitbaren Demokratie“ zielt darauf ab, die in Deutsch- land seit jeher schwach ausgebildete Tradition bürgerlich-liberalen Verfas- sungsdenkens zu stärken. Das Grundgesetz bezeichnet seinen Kern als „freiheitliche demokratische Grundordnung“ und kennt Instrumente des präventiven Verfassungsschut- zes: die Verwirkung von Grund­rechten nach Artikel 18, wenn diese „miss- braucht“ werden; außerdem das Parteiverbot nach Artikel 21, das mit blo- ßen verfassungswidrigen Zielen begründet werden kann. Dieses Konzept ist schon vom Ansatz her illiberal, weil es die „extremistischen“ Teilnehmer am

11 Vgl. Thomas Krüger, Bildung ist nicht Öffentlichkeitsarbeit (Interview), in: „Frankfurter Rundschau“, 28.2.2012. 12 Vgl. Claus Leggewie und Horst Meier, Republikschutz, Reinbek 1995.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 71 19.09.12 11:07 72 Claus Leggewie und Horst Meier

gewaltfreien politischen Wettbewerb zu „Verfassungsfeinden“ erklärt und zur Ausgrenzung freigibt. „Republikschutz“ meint im strikten Gegensatz zum landläufigen Ver- fassungsschutz eine Theorie und Praxis, die aus dem Nebel der Prävention in die aufgeklärte Zone der Gefahren­abwehr gelangt.13 Verfassungsschutz bekämpft seit eh und je verdächtige Ziele und anstößi­ges „Gedankengut“, also schon die Gesinnung vermeintlicher Verfassungsfeinde; Republik­ schutz dagegen bekämpft politisch motivierte Gewalttaten oder deren kon- krete Androhung und nachweislich gefährliche Hasspropaganda, also erst das strafbare Verhalten von Verfassungsgegnern.

Ein Maximum an Freiheit: Der Einsatz von Gewalt als Grenze des politischen Kampfes

Dreh- und Angelpunkt des Republikschutzes ist somit das Gewaltkrite- rium.14 Es markiert die Grenze des politischen Wettbewerbs. Dieser Maß- stab ist deshalb so wichtig, weil er nur mit einem präzise ausdifferenzierten Gefahrenbegriff gedacht werden kann. Von daher ist die Verknüpfung von (drohender) Gewalt mit einer situationsspezifisch nachzuweisenden Gefah- renlage ebenso rechtsstaatlich wie demokratiefreundlich. Republikschutz ist politisch neutral, weil er nicht auf den (stets umstrittenen) „extremistischen“ Inhalt von Politik abstellt, sondern gleichsam unideologisch auf die Form von Politik. Vollmundige Parolen gegen das System und andere Verbalradi- kalismen sind Teil der offenen, unabschließbaren Debatte: Der demokrati- sche Staat darf keine politische Wahrheit, und sei sie noch so evident und gut gemeint, gegen Andersdenkende mit Zwang behaupten. Jene aber, die Gewalt ins Spiel bringen, und sei es für eine noch so gute Sache, darf der Staat in den Formen des Rechts unterdrücken, denn sie handeln per se „ver- fassungswidrig“. Diese Grenzziehung ist einerseits rigide, weil sie keine Ausnahme vom Gebot der Friedlich­keit kennt; sie ist andererseits so tolerant, wie Liberalität nur sein kann. Denn sie bietet dem politischen Wettbewerb der Parteien und jedem Einzelnen im Meinungskampf ein Maximum an Freiheit. Natürlich ist auch diese Grenzziehung in manchen Fällen nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Doch es ist ein Unterschied ums Ganze, ob man es mit den Abgrenzungsproblemen eines richtigen oder eines falschen Krite- riums zu tun hat. Republikschutz plädiert daher dafür, sich auf die Tradition des bürgerlich- liberalen Verfas­sungsdenkens zu besinnen, das heißt auf das reformalisierte Verständnis einer „demokrati­schen Grundordnung“: kein Eingriff in Kom- munikationsfreiheiten ohne clear and present danger. Denn alle Erfahrung zeigt: Je weiter sich ein (angeblich verfassungs­schützendes) Denken vom Gewaltkriterium entfernt, desto bedenkenloser ist die dahinterstehende

13 Ebd., S. 239 ff. 14 Vgl. ebd., S. 249 ff.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 72 19.09.12 11:07 »Verfassungsschutz«: Über das Ende eines deutschen Sonderwegs 73

(meist unbewusste) Neigung, anstößige Meinungen, provozierende Kundge- bungen und schrille Oppositionsparteien zu unterdrücken.

Die westdeutsche Idee eines „Verfassungsschutzes“ hat sich verbraucht

„Verfassungsschutz“ – diese Idee galt beim Inkrafttreten des Grundgeset- zes dem Schutz einer Verfassung, die 1949 als demokratische nur auf dem Papier existierte und die Köpfe und Herzen der „Trizonesier“ noch nicht erreicht hatte. Ob sie in absehbarer Zeit mit Leben erfüllt und praktiziert werden könnte, schien ungewiss. Dem Angstmilieu der 1950er Jahre längst entwachsen, hat sich die westdeutsche und seit 1990 die gesamtdeutsche Demokratie über Jahrzehnte entwickelt und als stabil erwiesen. Das allge- meine Bewusstsein für den Wert der ungeschmälerten Bürgerrechte, für die Offenheit des demokratischen Prozesses, für den Wert der freien Diskussion aller über alles ist stärker geworden. Kurz: Das Glück der Freiheit ist für viele erfahrbar und wird gerade in dem Bewusstsein, wie kostbar und gefähr­det es ist, genossen. Damit hat sich die westdeutsche Idee eines „Verfassungsschutzes“ in dem Maße verbraucht, wie die vorsorglich zu schützende Demokratie Wirklich- keit wurde. Heute kann die deutsche Demokratie, wie andere Demokratien auch, mit Antidemokraten leben und gelassen umgehen, das heißt ihnen bis zur Gewaltgrenze die vollen Bürgerrechte zugestehen. Nicht sorglos, durch- aus wachsam, doch mit der Risikobereitschaft, die eine Ordnung der Freiheit eben verlangt. Den Verfassungsschutz also tatsächlich abschaffen? Das klingt in man- chen Ohren noch immer so schrill wie die Forderung, den Kinderschutzbund aufzulösen. Während dort aber der Schutz tatsächlich geschwächt würde, ist dies im Verhältnis zwischen Verfassung und Verfassungsschutz gerade nicht zu befürchten. „Der schöne Name Verfassungsschutz wirkt ungemein im Sinne der Rechtfertigung“, schrieb der einst im Widerstand aktive Jurist und Publizist Richard Schmid vor annähernd 50 Jahren in aller Deutlichkeit und sah in dieser Namensgebung doch nur eine Beschönigung: „Das Verhältnis der Ämter zur Verfassung ist etwa so problematisch wie im Dritten Reich das Verhältnis der Kulturkammern zur Kultur.“15 Es gibt viele Arten, die Verfassung zu schützen; keine davon braucht Ämter für Verfassungs­schutz. Eine Verfassung der Freiheit ist sich selbst genug: „Wirksam kann sich die Freiheit nur durch sich selbst schützen.“16 Heute können wir sicher sein, dass es die viel beschwo­rene Sicherheitslücke nicht geben wird. Im Gegenteil, die Erkenntnisse der letzten Jahre zeigen: Die mit der Auflösung dieser Ämter einhergehende Reorganisation des polizeilichen Staatsschutzes wäre für die wirkliche Verfassung des Grundgesetzes eine

15 Jürgen Seifert, Wer bestimmt den „Verfassungsfeind“? In: Peter Brückner, Diethelm Damm und Jürgen Seifert, 1984 schon heute? Frankfurt a. M 1976, S. 107-124, hier: S. 111. 16 Horst Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, in: „Juristenzeitung“, 15-16/1994, S. 741-752.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 73 19.09.12 11:07 74 Claus Leggewie und Horst Meier

Wohltat. Sie würde nachhaltiger zugunsten der Bürgerrechte wirken als die ganze Geheimdienstarbeit von sechs Jahrzehnten zusammengenommen.

Es gibt ein Leben nach dem Verfassungsschutz

„Wie lange noch?“, munkelte 1990 der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfas­sungs­schutz, Gerhard Boeden. Die Antwort ist heute klarer denn je und damit auch die Alternative zu den mehr oder weniger weitreichenden Reformen der Bundes­regierung: Die Ämter für Verfassungsschutz können binnen fünf Jahren geordnet abgewickelt werden, fähiges Personal kann man in den polizeilichen Staatsschutz ein­gliedern. Dieser ist die seit jeher für politisch motivierte Straftaten zuständige „politische Polizei“. Die Arbeit speziell ausgebildeter Kriminalbeamter greift nicht aus in ein diffuses Feld des „Extremismus“, sondern orientiert sich allein an der Verfolgung und Ver- hütung von Straftaten (in der Regel Gewalt- und ganz ausnahmsweise Propa- gandadelikte wie Volksverhetzung).17 Die Abwicklung der Ämter wider den Extremismus markiert das über- fällige Ende eines deutschen Sonderwegs: den Abschied von einer „streit- baren“, zaghaft-halbierten Demokratie, die ein vormundschaftlicher Staat gegen seine „Staatsbürger“ verwaltet. Es gibt ein Leben nach dem Verfas- sungsschutz. Die Berliner Republik kann den Weg ins Freie gehen und nach der Einheit endlich auch die Freiheit Deutschlands „vollenden“. Sie kann sich in eine Tradition stellen, die hierzulande schwach ausgebildet war, jetzt aber ein Fundament in der demokratischen Lebenswelt besitzt: in die Tra- dition des bürgerlich-liberalen Verfassungsstaats. Der Verfassungsstaat ist keine Zitadelle der Ausgrenzung, er bietet ein Forum der zivilen Konflikt- austragung: Bürger und „Wutbürger“, Extremisten und Radikale – all inclu- sive. So gesehen wäre die Auflösung des Verfassungsschutzes eine Sache praktischer Vernunft, ja sie wäre, recht verstanden, ein Akt der Verfassungs- freundschaft.18 „Das Vaterland“, schrieb Dolf Sternberger, „ist die ‚Republik‘, die wir uns schaffen.“

17 Zur „politischen Polizei“ vgl. Claus Leggewie und Horst Meier, Nach dem Verfassungsschutz, Berlin 2012, S. 145-155. 18 Vgl. Horst Meier, Demokratische Vaterlandsliebe. Über den Verfassungspatriotismus, in: ders., Protest- freie Zonen?, Berlin 2012, S. 275 ff.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 74 19.09.12 11:07 Ursula von der Leyen oder: Die Wiederentdeckung der Altersarmut Von Christoph Butterwegge

ahrzehntelang war Altersarmut in Deutschland ein Tabuthema, das gern J verdrängt wurde, weil viele Menschen unterschwellig Angst hatten, im Rentenalter womöglich selbst davon betroffen zu sein.1 Anfang September 2012 avancierte das Problem allerdings quasi über Nacht zum Topthema in den Medien und zur größten sozialpolitischen Herausforderung der Bundes- regierung. Auslöser dafür war ein parteitaktisches Manöver der Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen, die mit dramatisierenden Rechen- beispielen den Widerstand gegen die von ihr geplante „Zuschussrente“ zu brechen suchte: Wer 35 Jahre lang monatlich weniger als 2500 Euro brutto verdient, dessen Rente, prognostizierte sie ausgerechnet in „Bild am Sonn- tag“, werde nach 2030 weniger als die Grundsicherung im Alter betragen – er oder sie müsste also beim Renteneintritt zum Sozialamt gehen.2 Vor ihrem PR-Coup hatte von der Leyen das Problem immer verharmlost, beschönigt und als beherrschbar dargestellt. Norbert Blüms berühmt-berüchtigter Satz „Die Rente ist sicher“ scheint endgültig von der Wirklichkeit überholt zu werden. Von einer Sicherung des Lebensstandards im Alter kann jedenfalls keine Rede mehr sein. Aber mehr noch: Was wir heute erleben, ist die Folge des Bruchs mit der Tradition einer immer weiter vorangetriebenen Absiche- rung von Altersrisiken durch den Sozialstaat.

Generöse Sozialpolitik in Zeiten des Kalten Krieges

Bereits im Kaiserreich, unter dem Druck der erstarkenden Sozialdemo- kratie, wurde das bis heute existierende mehrgliedrige Wohlfahrtsstaats- system begründet – mit der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), der

1 Vgl. Christoph Butterwegge, Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, Frankfurt a. M. und New York 32012; ders., Gerd Bosbach und Matthias W. Birkwald (Hg.), Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt a. M. und New York 2012. 2 Vgl. Angelika Hellemann, Die neue Renten-Schock-Tabelle. Wer heute weniger als 2500 Euro ver- dient, dem droht Altersarmut. Ministerin von der Leyen: Legitimität des Rentensystems in Gefahr, in: „Bild am Sonntag“, 2.9.2012; Zahlen des Sozialministeriums: Armutsrisiko deutscher Rentner steigt dramatisch, www.sueddeutsche.de, 2.9.2012.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 75 19.09.12 11:07 76 Christoph Butterwegge

Gesetzlichen Krankenversicherung und der Gesetzlichen Unfallversiche- rung als Kerninstitutionen, zu denen in der Weimarer Republik ergänzend die Arbeitslosenversicherung hinzukam. Der bestehende Sozialstaat wurde nach Kriegsende in den westlichen Besatzungszonen beibehalten und ab 1949 in der Bundesrepublik relativ zügig ausgebaut. 1953 kündigte Bundeskanzler Konrad Adenauer eine „umfassende Sozial- reform“ an, mit der alle bisher noch benachteiligten Gesellschaftsschichten besser abgesichert werden sollten. Was nach einem Gesamtkonzept klang und ein großer Wurf werden sollte, beschränkte sich nach jahrelangem Tau- ziehen zwischen den Regierungsparteien jedoch auf den Bereich der Alters- und Invaliditätssicherung.3 Adenauer machte die Einführung des Umlageverfahrens, das die verbrei- tete Altersarmut zurückdrängen sollte, zum Wahlkampfschlager. Mit Unter- stützung seiner eigenen Fraktion, der FVP und der SPD, aber gegen die FDP und die meisten DP-Parlamentarier brachte er die Große Rentenreform im Januar/Februar 1957 zum Abschluss. Das seit der Bismarck-Zeit gültige Kapi- taldeckungsprinzip wurde durch ein modifiziertes Umlageverfahren ersetzt und die Altersrente dynamisiert, sprich: der Lohn- und Gehaltsentwicklung fortlaufend angepasst. Während die Arbeiter im Leistungsrecht den Ange- stellten gleichgestellt wurden, entfielen Mindestrenten, Grundbeträge und die Möglichkeit einer freiwilligen Mitgliedschaft in der GRV („Selbstversi- cherung“). Adenauers Rentenpolitik wurde belohnt: Bei der Bundestagswahl am 19. September 1957 erreichten CDU und CSU die absolute Mehrheit der Zweitstimmen, was bis heute nie wieder einer Partei gelang. Damals war „Altersarmut“ ein die Öffentlichkeit der Bundesrepublik beherrschendes und bewegendes Thema. Besonders stark betroffen waren ältere Frauen, die über keine oder nur äußerst geringe Rentenansprüche ver- fügten. Doch nicht alle profitierten von der Umstellung des Rentensystems, das sich fortan stärker am Äquivalenzprinzip orientierte: Hauptgewinner waren gut verdienende Angestellte mit lückenloser Erwerbsbiographie, Hauptverliererinnen berufstätige Frauen, die weder ein hohes Gehalt noch lange Beitragszeiten aufwiesen. Das relativ kontinuierliche Wachstum der Wirtschaft, die allgemeine Wohl- standsentwicklung und der Systemgegensatz zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus schufen in den 1950er und frühen 1960er Jahren ein für die Rentenpolitik ausgesprochen günstiges Klima. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges überboten sich die Parteien geradezu im Hinblick auf soziale Versprechungen. Mehr als jeder andere diente der bundesdeutsche, direkt an der Grenzlinie zwischen den zwei miteinander um Akzeptanz konkur- rierenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen gelegene Wohlfahrts- staat als soziales „Schaufenster des Westens“ gegenüber dem Osten. Das ermöglichte verhältnismäßig generöse Leistungen für sozial Benachteiligte und Bedürftige. Unterschiedlich zusammengesetzte Bundesregierungen setzten die Traditionslinie der Bismarckschen Sozialgesetzgebung fort, wo-

3 Vgl. dazu und zum Folgenden: Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegs- deutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980, S. 242 ff.

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durch Armut in Westdeutschland zwar nicht beseitigt, aber eher zu einer Rand(gruppen)erscheinung wurde.4

Rente als „verdienter Lohn für Lebensleistung“

Im westdeutschen Nachkriegskapitalismus, der bis zur ersten kleineren Rezession 1966/67 vom schnellen Rückgang der anfänglichen Massen- arbeitslosigkeit und vom halbwegs krisenfreien Wachstum des „Wirtschafts- wunders“ geprägt war, galt die Rente noch als „verdienter Lohn für Lebens- leistung“. Seinerzeit wäre niemand auf die Idee gekommen, eine allgemeine Senkung des Rentenniveaus vorzuschlagen, obwohl die Lebenserwartung der Menschen auch damals schon kontinuierlich stieg. Schließlich war es völlig unstrittig, dass man den ökonomischen Wiederaufstieg allen Genera- tionen zu verdanken hatte, die auch nach Beendigung ihres Erwerbslebens am steigenden Volkswohlstand partizipieren sollten. Fortschrittlich war auch die zweite, 1972 von der SPD/FDP-Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt verwirklichte und eng mit dem Namen seines Arbeits- und Sozialministers Walter Arendt verbundene Rentenreform: Nun- mehr konnten langjährig Versicherte schon mit 63 Jahren ohne Leistungs- abschläge in den Ruhestand gehen. Durch die Anhebung der Entgeltpunkte von Geringverdienern auf 75 Prozent des Durchschnittseinkommens ver- ringerte sich das Risiko der Altersarmut für diese Gruppe. Zugleich wurde Müttern bei der Rentenberechnung ein „Babyjahr“ gutgeschrieben und die Versicherung für Selbstständige, mithelfende Familienangehörige und nicht erwerbstätige Frauen geöffnet. Zumindest zeitweilig gab es eine „Allpar- teienkoalition“ der Sozialpolitiker im Bundestag, was aber nicht mit grenzen- loser Großzügigkeit ihrer Parteien zu erklären ist, sondern in der günstigen Konjunkturentwicklung, erfolgreichen Kämpfen der Gewerkschaftsbewe- gung sowie einer mittlerweile gefestigten Wohlfahrtskultur der Bundesrepu- blik begründet lag.

Sozialstaat und Rentenversicherung in der Krise: Armut per Gesetz?

Zu einer ersten Zäsur in der Wohlfahrtsstaatsentwicklung führte die Welt- wirtschaftskrise 1974/75. Seither fand mit Ausnahme einzelner Leistungs- verbesserungen im Bereich der Familienpolitik und der Einführung der Pflegeversicherung kein weiterer Ausbau des sozialen Sicherungssystems mehr statt. Stattdessen wurden zahlreiche Transferleistungen gekürzt, Anspruchsvoraussetzungen verschärft und Kontrollmaßnahmen erweitert. Die zweite Zäsur stellte weniger der Fall der Mauer als vielmehr der Sieges- zug des Neoliberalismus gegen Mitte der 80er Jahre dar. Das vom Bundes- tag am 9. November 1989 beschlossene und am 1. Januar 1992 in Kraft getre-

4 Vgl. Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 42012, S. 63-72.

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tene Rentenreformgesetz brachte für die Versicherten erhebliche Verschlech- terungen mit sich. Die gesetzliche Altersvorsorge für Millionen Menschen wurde erstmals nicht mehr verbessert, sondern ihr Leistungsniveau abge- senkt: Beispielsweise ging man von der brutto- zur nettolohnbezogenen Anpassung der Renten über, verkürzte die Höchstdauer der Anrechnung von Ausbildungszeiten, ließ die Rente nach Mindestentgeltpunkten auslau- fen, hob die Altersgrenzen für den Renteneintritt von Frauen schrittweise auf 65 Jahre an und führte Abschläge von 0,3 Prozent pro Monat bei vorzeitigem Rentenbezug ein, die bis zum Tod wirksam sind. Typisch für eine „marktgesteuerte Alterssicherung“, wie sie das gesell- schaftspolitische Großprojekt des Neoliberalismus implizierte,5 war auch die nach Walter Riester benannte Rentenreform 2001, die eine private, staatlich geförderte Vorsorge als neue dritte Säule etablierte. Damit ist ein doppelter Paradigmenwechsel verbunden: Man verabschiedete sich von der Lebens- standardsicherung als Ziel der gesetzlichen Altersrente ebenso wie von ihrer paritätischen Finanzierung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Zur neuen Richtschnur der Rentenpolitik stieg die „Beitragssatzstabilität“ auf. Denn laut der neoliberalen Standortlogik entscheidet die Höhe der „Lohnnebenkosten“ maßgeblich über die Leistungsfähigkeit des „Wirt- schaftsstandortes“ und damit die Zukunft Deutschlands. Letztlich lief die rot-grüne Rentenreform auf eine (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge hinaus, mit der die Arbeitgeber auf Kosten der Arbeitnehmer entlastet wur- den. Die Riester-Rente stellt keine Ergänzung der Gesetzlichen Rentenver- sicherung, sondern vielmehr einen teuren Ersatz für die kollektive, sozial- partnerschaftlich organisierte Alterssicherung dar.6 Wegen für die Zukunft festgeschriebener Leistungskürzungen im GRV-Bereich können große Teile der Bevölkerung seither nur noch auf eine Minimalabsicherung elementarer Lebensrisiken vertrauen. Die Folgen waren dramatisch: Für viele Millionen prekär Beschäftigte, Geringverdienerinnen und Geringverdiener, Langzeit- bzw. Mehrfach- arbeitslose sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem lücken- haften Erwerbsverlauf, die sich keine private Altersvorsorge leisten (kön- nen), ist mit dem von 53 Prozent (2001) über 50 Prozent heute auf 43 Prozent (2030) sinkenden Sicherungsniveau vor Steuern7 ein erhöhtes Armutsrisiko im Ruhestand verbunden. Berücksichtigt man die Steuerpflicht, sinkt das Rentenniveau von ehedem 70 Prozent (1998) auf 52 Prozent des entspre- chenden Nettoeinkommens. „Für eine Vielzahl von ArbeitnehmerInnen mit heute typischen unsteten Erwerbsbiographien ist eine Kappung der Sozial-

5 Vgl. Christian Christen, Marktgesteuerte Alterssicherung. Von der Entwicklung zur Implementierung eines neoliberalen Reformprojekts, in: Christoph Butterwegge, Bettina Lösch und Ralf Ptak (Hg.), Neo- liberalismus. Analysen und Alternativen, Wiesbaden 2008, S. 181-199. 6 Vgl. Johannes Steffen, Der Renten-Klau. Behauptungen und Tatsachen zur rot-grünen Rentenpolitik, Hamburg 2000, S. 95 f. 7 Das Sicherungsniveau vor Steuern gibt das Verhältnis der verfügbaren Standardrente (also der Rente nach 45 Jahren Beitragszahlung auf Basis des Durchschnittsverdienstes, aktuell: 2700 Euro pro Monat) abzüglich der Beiträge für Kranken- und Pflegeversicherung, aber vor Steuern zum durchschnitt- lichen Bruttolohn nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und ihrer Beiträge zur geförderten freiwilligen Zusatzvorsorge vor Abzug der Lohnsteuer an.

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versicherungsrenten in dieser Größenordnung ein Einkommensabsturz ins Bodenlose, der bei den angespannten Privatbudgets auch nicht durch private Vorsorge kompensiert werden kann.“8

Neue Anlagemöglichkeiten für die Finanzindustrie

Die „neue Rentenpolitik“ ist ein gesellschaftlicher Verteilungskampf, bei dem es Gewinner und Verlierer gibt. Da sich die Arbeitgeber nach Riesters Konzept nicht an den Kosten der privaten Vorsorge beteiligen müssen, gehö- ren sie eindeutig zu den Nutznießern dieser Reform. Das gilt noch mehr für Versicherungskonzerne, Banken und Finanzdienstleister, die im Vorfeld des Gesetzgebungsprozesses erfolgreich alle Register moderner Lobbytätigkeit zogen.9 Ihnen erschloss Rot-Grün ein Geschäftsfeld, das einer „sprudelnden Ölquelle“ (AWD-Gründer Carsten Maschmeyer) gleicht, weil es den Kapital- eignern höhere Profite und den Vermittlern mehr Provisionen garantierte. Dass es zur Riester-Reform kam, hatte keineswegs – wie oft behauptet – nur systeminterne Gründe. Vielmehr sollten auch private Kapitalanlagen gefördert und die Finanzmärkte belebt werden. Bei der Riester-Rente han- delte es sich um eine öffentliche Anschubfinanzierung für die Börse und um eine Subventionierung auf dem Finanzmarkt tätiger Unternehmen und Organisationen.10 Fondslösungen und private Zusatzversicherungen („mehr Eigenvorsorge“) entlasten nicht bloß die Arbeitgeber, sondern freuen auch die Großaktionäre. Der damalige Börsenboom begünstigte die Regierungs- pläne, das Umlageverfahren durch den vom Staat subventionierten Aufbau eines Kapitalstocks zu schwächen, und ließ diesen sowohl der Öffentlichkeit wie auch vielen GRV-Versicherten attraktiv erscheinen. Aufgrund der jüngsten Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise hat sich die Situation jedoch tiefgreifend verändert. Seit 2007/08 treten die Män- gel und Risiken der Kapitaldeckung offen zutage, wodurch das Dogma der angeblichen Überlegenheit einer privaten Alterssicherung ins Wanken gerät.11 Tatsächlich rentieren sich Riester-Renten oftmals erst in einem Alter, das weit über der durchschnittlichen Lebenserwartung liegt.12 Zudem blei- ben jene Menschen außen vor, die einer Absicherung am meisten bedürf- ten: Sozialhilfebezieherinnen und Sozialhilfebezieher. Leer gehen auch jene Erwerbslosen und Arbeitnehmer aus, die zu geringe Einkommen haben, um die von der Versicherungsbranche angepriesenen Produkte bezahlen

8 Andreas Bachmann, Privatisierung der Sozialversicherung und aktivierender Staat. Von der Riester- Rente zur Dreiklassenmedizin, in: „Widersprüche“, 85/2002, S. 89-100, hier: S. 91. 9 Vgl. dazu: Diana Wehlau, Lobbyismus und Rentenreform. Der Einfluss der Finanzdienstleistungsbran- che auf die Teil-Privatisierung der Alterssicherung, Wiesbaden 2009. 10 Vgl. Christian Christen, Tobias Michel und Werner Rätz, Sozialstaat. Wie die Sicherungssysteme funk- tionieren und wer von den „Reformen“ profitiert, Hamburg 2003, S. 63. 11 Vgl. Christian Christen, Politische Ökonomie der Alterssicherung. Kritik der Reformdebatte um Gene- rationengerechtigkeit, Demographie und kapitalgedeckte Finanzierung, Marburg 2011, S. 18. 12 Vgl. Kornelia Hagen und Axel Kleinlein, Zehn Jahre Riester-Rente: Kein Grund zum Feiern, in: „DIW- Wochenbericht“, 47/2011, S. 3-14; Anne Seith, Altersvorsorge: Tolles Ergebnis. Die Riester-Rente nutzt vor allem der Versicherungsbranche – für die Versicherten rechnet sie sich oft nicht: Die Renditen vieler Produkte sind eher dürftig, in: „Der Spiegel“, 47/2011, S. 93.

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zu können. Hingegen können Besserverdienende solche Aufwendungen für ihre Altersvorsorge bei der Einkommensteuer absetzen. Mit Steuermitteln werden also wiederum vor allem jene unterstützt, die ohnehin privat vorsor- gen können. Zugleich bezuschussen alle Steuerzahler die Profite des Finanz- sektors.

Rentenkürzung durch Lebensarbeitszeitverlängerung

Auch die nach der Bundestagswahl 2005 gebildete zweite Große Koalition nahm keine Veränderungen zum Besseren vor: Gleich zu Beginn erklärte sie, dass auf absehbare Zeit nicht mit Rentenerhöhungen zu rechnen sei, sondern weitere „Nullrunden“ anstünden. Mit dem von ihr beschlossenen „Nachholfaktor“ im Rentenrecht werden Kürzungen, auf die zunächst ver- zichtet wurde, in Erhöhungsphasen letztlich doch noch – weniger spektaku- lär – wirksam. Zugleich verständigten sich CDU, CSU und SPD darauf, die Lebensarbeitszeit unter Hinweis auf den demographischen Wandel zu verlän- gern und die Regelaltersgrenze stufenweise von 65 auf 67 Jahre anzuheben. Dabei war die 1916 – nicht zufällig mitten im Ersten Weltkrieg erfolgte – Senkung des gesetzlichen Rentenzugangsalters von 70 auf 65 Jahre eine soziale und kulturelle Errungenschaft von historischem Rang. Dass die Regelaltersgrenze gegenwärtig wieder auf 67 Jahre ansteigt, ist ein gravie- render Rückschritt, der umso weniger plausibel ist, als der gesellschaftliche Reichtum noch nie so hoch war wie heute und auch in den nächsten Jahr- zehnten zunehmen dürfte. Selbst das Szenario der Rürup-Kommission unter- stellt ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts zwischen 2002 und 2030 in Höhe von durchschnittlich 1,7 Prozent jährlich.13 Bis zum Jahr 2040 würde sich das Bruttoinlandsprodukt demnach inflationsbereinigt beinahe verdop- peln und die Arbeitsproduktivität pro Kopf im Durchschnitt um 1,8 Prozent jährlich zunehmen. Wie solche Berechnungen zeigen, halten sich die Folgen des demographischen Wandels für die Gesetzliche Rentenversicherung also in Grenzen. Gleichwohl setzte Franz Müntefering, seinerzeit Arbeits- und Sozialminis- ter der Großen Koalition, die Anhebung der Regelaltersgrenze durch. Nur wer mehr als 45 Jahre lang Pflichtbeiträge zur Gesetzlichen Rentenversi- cherung entrichtet hat, kann seine Altersrente weiterhin abschlagsfrei mit 65 Jahren beziehen. Da selbst viele Großunternehmen höchstens auf der Vor- standsetage noch Personen beschäftigen, die älter als 50 Jahre sind, führt die Erhöhung der Regelaltersgrenze zu faktischen Rentenkürzungen. Denn immer mehr Arbeitnehmer sind gezwungen, bereits vor Erreichen dieser Schwelle – und das heißt: mit entsprechenden Abschlägen – in den Ruhe- stand zu gehen. Rentenkürzungen sind kein Beitrag zur „Generationengerechtigkeit“, ver- schärfen vielmehr die soziale Ungleichheit. „Nullrunden“ treffen nicht bloß

13 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hg.), Nachhaltigkeit in der Finanzie- rung der sozialen Sicherungssysteme. Bericht der Kommission, Berlin 2003, S. 61 (Tabelle 2-3).

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jetzige Rentner, sondern auch Jahrgänge, die heute noch oder noch gar nicht erwerbstätig sind. Die „Rente erst mit 67“ verschlechtert gerade die Arbeits- marktchancen zukünftiger Generationen. Wer nach mehr „Generationen- gerechtigkeit“ ruft, müsste deshalb eigentlich darum bemüht sein, dass auch die Heranwachsenden noch einen hochentwickelten Wohlfahrtsstaat und das gewohnte Maß an sozialer Sicherheit vorfinden, statt Letztere weiter zu beschneiden und die Menschen der privaten Daseinsvorsorge zu überant- worten.

Die Zuschussrente ist Augenwischerei

CDU, CSU und FDP hatten bei der Regierungsübernahme im Oktober 2009 vereinbart, eine Kommission einzusetzen, die Lösungsansätze für das Pro- blem der drohenden Altersarmut entwickeln sollte. Stattdessen startete Ursula von der Leyen als zuständige Fachministerin erst im Herbst 2011 einen „Regierungsdialog Rente“, ohne dass die daran von ihr beteiligten Verbände und Institutionen wirklich Einfluss auf die zeitgleich präsentierte Konzeption des Arbeits- und Sozialministeriums nehmen konnten. Das von der Ministerin geschnürte „Rentenpaket“ bestand in erster Linie aus der Zuschussrente für langjährig versicherte Geringverdiener, leichten Korrekturen bei der Erwerbsminderungsrente und einer „Kombirente“ (vor- zeitiger Rentenbezug in Verbindung mit einem Teilzeitjob). Da ihr Konzept nicht nur bei der FDP, sondern auch beim Wirtschaftsflügel der Union und bei Teilen ihrer eigenen Bundestagsfraktion, vornehmlich den als „Junge Gruppe“ firmierenden Abgeordneten, auf heftigen Widerstand stieß, zog von der Leyen ihren Entwurf für ein „Gesetz zur Anerkennung der Lebensleis- tung in der Rentenversicherung“ (RV-Lebensleistungsanerkennungsgesetz) wieder zurück. Stattdessen legte sie am 7. August 2012 den Entwurf eines „Gesetzes zur Stärkung der Alterssicherung“ (Alterssicherungsstärkungs- gesetz) vor, dessen Beratung das Bundeskabinett aber verschob. Die von der FDP verlangte Senkung des Rentenbeitragssatzes von 19,6 auf 19 Prozent wurde aus dem Gesetzentwurf herausgelöst und separat beschlossen. Ursula von der Leyens umstrittenes Konzept schafft keine Abhilfe für das Problem der Armut im Alter, sondern wirkt eher kontraproduktiv. Auf- grund hoher Zugangshürden (lange Versicherungs- und Pflichtbeitragszei- ten sowie jahrzehntelanges „Riestern“) würde die Zuschussrente nur eine kleine Gruppe von Menschen erreichen. Mehrfach- und Langzeitarbeitslose könnten beispielsweise nicht in den Genuss des Rentenzuschusses gelangen, weil sie die genannten Voraussetzungen nicht erfüllen. Und selbst bei den Anspruchsberechtigten würde die Zuschussrente nur wenig gegen Alters- armut ausrichten, müssten sie doch von ihren damit auf 850 Euro brutto im Monat aufgestockten Bezügen noch Beiträge zur Kranken- und Pflegever- sicherung entrichten. Netto blieben am Ende bloß 764 Euro im Monat übrig, von denen man in Deutschland nicht leben kann, ohne arm zu sein. Auch dass Menschen mit Kindern durch eine „familienbetonte“ Hochwertung bei

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der Zuschussrente bevorzugt werden, ist fragwürdig, weil sie wenigstens eine Chance haben, von ihrem Nachwuchs finanziell unterstützt zu werden. Mit der Zuschussrente werden entsprechend dem Hartz-Mantra „För- dern und Fordern“ jene Personen im Alter privilegiert, die jahrzehntelang erwerbstätig waren, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt und gleich- zeitig für das Alter privat vorgesorgt haben. Außerdem muss ihr Lebenslauf ein hohes Maß an Kontinuität aufweisen, geht es doch „um die nachträg- liche Belohnung einer Musterbiographie“, wie sie Ursula von der Leyen vorschwebt.14 Bisher war die staatlich subventionierte Privatvorsorge freiwillig. Da eine der genannten Voraussetzungen für den Bezug der Zuschussrente das jahre-, demnächst sogar das jahrzehntelange „Riestern“ ist, stellt diese ein weite- res riesiges Förderprogramm für die Versicherungswirtschaft dar. Falls sich Ursula von der Leyen am Ende durchsetzt, wird sie allerdings zumindest für Geringverdiener nahezu obligatorisch, also ausgerechnet für eine Bevöl- kerungsgruppe, deren Angehörige bislang höchst selten Riester-Verträge abschließen, weil sie mit ihrem kargen Lohn oder Gehalt ohnehin kaum über die Runden kommen. Das soll sich jetzt ändern, und nicht zufällig gab die „Bild“-Zeitung in der Diskussion über drohende Altersarmut dem Vorstands- vorsitzenden der Allianz, Michael Diekmann, die Möglichkeit, per Interview kostenlos für Produkte des größten deutschen Versicherungskonzerns zu werben.15 Ähnliches gilt auch für das unter der Leitung von Sigmar Gabriel erarbei- tete Rentenkonzept der SPD, das als Eckpunktepapier unter dem Titel „Altersarmut bekämpfen – Lebensleistung honorieren – flexible Übergänge in die Renten schaffen“ am 10. September 2012 in den Parteivorstand ein- gebracht wurde. Denn es beinhaltet eine Stärkung der betrieblichen Alters- vorsorge, die ebenfalls dem Finanzsektor zugute käme und implizit eine wei- tere Schwächung der Gesetzlichen Rentenversicherung bedeutet. Die – im Gegensatz zur Zuschussrente – ausschließlich steuerfinanzierte „Solidar- rente“ der SPD in gleicher Höhe (850 Euro monatlich) würde die Arbeitgeber noch stärker aus ihrer genuinen Verantwortung für eine solide Alterssiche- rung der Arbeitnehmer entlassen.

Alternativen zur Armut im Alter

Soll die bestehende Altersarmut verringert und die Entstehung weiterer sozialer Ungleichheit verhindert werden, ist ein neuerlicher Paradigmen- wechsel nötig. Die in Zukunft vermutlich noch wachsende Altersarmut muss mit einer Rückbesinnung auf das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz beant- wortet werden. Dazu gehören eine Rekonstruktion des Normalarbeitsver- hältnisses (nicht nur für Männer) sowie eine Revitalisierung der Beschäfti- gungs- und Alterssicherungspolitik. Zugleich muss die Lohnersatzfunktion,

14 Vgl. Dirk Jacobi, Von der Leyens Rentenwunder, in: „Blätter“, 5/2012, S. 16-19, hier: S. 18. 15 Vgl. Michael Diekmann: Die gesetzliche Rente allein reicht nicht! (Interview), in: „Bild“, 7.9.2012.

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also das Prinzip der Lebensstandardsicherung der gesetzlichen Rente, reha- bilitiert werden. Da die Deregulierung des Arbeitsmarktes sowie die Flexibilisierung und Prekarisierung eines Großteils der Beschäftigungsverhältnisse meistens Jahrzehnte später in die Altersarmut von Millionen Menschen münden, sind diese vorrangig zu skandalisieren, will man eine Rücknahme der von meh- reren Bundesregierungen verantworteten Reformmaßnahmen erreichen. Schließlich verliert ein Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Alterssicherungs- system, welches nicht verhindert, dass Menschen nach langjähriger Voll- erwerbstätigkeit einen Ruhestand in Armut erleben, nicht bloß an Zustim- mung in der Bevölkerung, sondern auch seine Daseinsberechtigung. Gegenwärtig droht das Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt sowie einen Wohltätigkeitsstaat zu zerfallen: Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich Bürgerinnen und Bürger, die es sich finanziell leisten können, soziale Sicherheit (beispielsweise „Riester-Produkte“ und Kapitallebensversiche- rungen der Assekuranz). Dagegen stellt der Staat nur noch euphemistisch „Grundsicherung“ genannte Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, überlässt sie ansonsten jedoch der Obhut karitativer Organisationen und privater Wohltäter. Fest steht: Altersarmut stellt weder ein Zufallsprodukt noch ein bloßes Zukunftsproblem, sondern eine bedrückende Zeiterscheinung dar, die politisch erzeugt ist. Sie trifft hauptsächlich Opfer der neoliberalen Refor- men und Menschen, die für den Wirtschaftsstandort „nutzlos“ sind, weil sie wirtschaftlichen Verwertungsinteressen nicht oder nur schwer zu unter- werfen sind. Armut ist für alte Menschen besonders deprimierend, diskri- minierend und demoralisierend, weil ihnen die Würde genommen und ein gerechter Lohn für ihre Lebensleistung vorenthalten wird. Darüber hinaus wirkt Altersarmut als Drohkulisse und Disziplinierungsinstrument, das Mil- lionen jüngere Menschen nötigt, härter zu arbeiten und einen wachsenden Teil ihres mühselig verdienten Geldes auf den Finanzmärkten anzulegen, um durch private Vorsorge einen weniger entbehrungsreichen Lebensabend verbringen zu können. Lebensstandardsicherung und Armutsbekämpfung sind keine Gegen- sätze, sondern zwei Seiten einer Medaille. Nur wenn der Lebensstandard aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Ruhestand halbwegs gewahrt bleibt, kann Altersarmut für Niedrigeinkommensbezieher verhin- dert werden. Dies kann am ehesten eine Weiterentwicklung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zu einer solidarischen Bürgerversiche- rung, in die eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsi- cherung integriert ist, sicherstellen.16 Alle früheren Erwerbstätigen im Alter auf eine steuerfinanzierte Grundrente zu verweisen, hieße dagegen, den sozialen Abstieg vieler Millionen Menschen vorzuprogrammieren.

16 Vgl. Christoph Butterwegge, Allgemein, einheitlich, solidarisch. Anforderungen an eine solidarische Bürgerversicherung, in: „Blätter“, 1/2004, S. 77-84.

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Wenn bis zum Herbst kein Weg aus der Schuldenkrise gefunden wird, kollabiert der Euroraum. Die Öffentlichkeit blickt in einen Abgrund, während die Stimmen derer lauter werden, die das Projekt der europä- ischen Integration schon immer bekämpft haben. In dieser dramatischen Lage melden sich zwei überzeugte Europäer zu Wort: Nicht der Abschied von der europäischen Integration wird uns retten, vielmehr brauchen wir ein größeres, stärkeres, demokratischeres Europa.

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cohn_bendit_blaetter_28_9.indd 1 03.09.12 14:05 Europa neu begründen Wege aus der europäischen Krise

Konferenz über Alternativen zur Sparpolitik Campus Essen (Universität Duisburg-Essen) | 17. November 2012 | 10.30 Uhr

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 84 19.09.12 11:07 Das Dilemma der Loyalität Die US-amerikanischen Juden und der israelisch-iranische Konflikt

Von Norman Birnbaum

ährend in der arabischen Welt US-Botschaften wegen eines den Pro- W pheten Mohammed verunglimpfenden, privaten Videos von wüten- den Muslimen attackiert werden, rückt ein Angriff auf die Atomanlagen des Iran offenbar immer näher – wenn man den Ankündigungen der israelischen Regierung Glauben schenkt. Verteidigungsminister Ehud Barak ließ jeden- falls bereits einmal vorsorglich die israelischen Toten kalkulieren und kam dabei auf 500 Personen, insbesondere in den beiden Großstädten Jerusalem und Tel Aviv.1 Doch zweifellos hätte ein derartiger Angriff weit verheerendere Folgen, nicht nur für Israel, sondern weit darüber hinaus. Offenkundig gibt es zwi- schen den Vereinigten Staaten einerseits und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sowie seinem Verteidigungsminister andererseits Unstimmigkeiten in der Frage, ob ein unverzüglicher Angriff notwendig ist. Netanjahu, offenbar zum Krieg entschlossen, ist daher bestrebt, die ameri- kanischen Juden gegen Obama zu mobilisieren. Die Obama-Regierung, ein- schließlich ihrer ranghöchsten Militärs, versucht dagegen, die israelische Regierung noch umzustimmen. Dabei vertraut sie auch auf die Hilfe der zahlreichen israelischen Geheimdienstmitarbeiter und Militärs, die seit lan- gem mit ihren amerikanischen Pendants zusammenarbeiten und dezidiert gegen einen sofortigen Angriff auf den Iran sind. Derzeit lässt sich unmög- lich vorhersagen, ob Israel noch vor der US-Wahl angreifen wird, um Obama einen groß angelegten Krieg gegen den Iran aufzuzwingen. Gebremst wird Netanjahu auch durch das Zögern der israelischen Elite und Öffentlichkeit sowie durch die durchaus begründete Erwartung, eine derartige Provokation Obamas, dem nichts ungelegener käme als ein Krieg vor dem 6. November, würde sich im Falle eines Wahlsiegs des US-Präsidenten als politisch fatal erweisen. Auch innerhalb der israelischen Regierung ist die Lage keineswegs ein- heitlich: Der Brief, den Oppositionsführer Schaul Mofaz am 20. August an Netanjahu schickte,2 bricht mit dem Mythos der Einigkeit in Sicherheits-

1 Vgl. www.zeit.de, 15.8.2012. 2 Vgl. Mofaz demands clarifications from Netanyahu over his ‚intention to lead Israel to war with Iran’, in: „Haaretz“, 20.8.2012.

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fragen und ist eine schonungslose Anklage gegen den Kurs des Minister- präsidenten. Und schließlich ist auch die US-Öffentlichkeit trotz der fort- gesetzten Propaganda, die den Iran als eine äußerst ernste Bedrohung dar- stellt, wenig begeistert von einem weiteren Krieg im Nahen und Mittleren Osten – zumal sich nach den Anschlägen auf die amerikanischen Botschaf- ten im arabischen Raum die Lage auch dort immer mehr zuspitzt. Netanja- hus gegenwärtige, außerordentlich undiplomatische Diplomatie wirkt daher regelrecht kontraproduktiv: Zweifellos wird sie diejenigen im US-amerika- nischen Regierungsapparat stärken, die schon lange über die Unterstützer Israels verärgert sind. Einige haben für ihr Abweichen von der Linie einer völligen Übereinstimmung der Politik der USA mit der Israels mitunter teuer bezahlt und beispielsweise Nachteile beim beruflichen Aufstieg hin- nehmen müssen. Aber auch diejenigen, die sich zurückhaltender zeigen, haben durchaus Vorbehalte: Jene unter ihnen, die historisch denken, argu- mentieren, eine generelle Neubewertung der amerikanischen Nahostpolitik müsse auch die Allianz mit Israel ernsthaft überprüfen – schon angesichts der unvorhersehbaren Folgen eines Krieges gegen den Iran und des Einfluss- verlusts in Ägypten und der Türkei. Sie geben zu verstehen, dass sie nicht die Beendigung der Allianz mit Israel befürworten, sondern vielmehr allmäh- lich auf Distanz gehen wollen. Dies würde auch bedeuten, dass man Israel in den besetzten Gebieten nicht länger freie Hand ließe. Ob dies ohne eine nahezu vollständige Revi- sion der gesamten US-Außenpolitik zu erreichen wäre, ist derzeit noch völlig offen. Selbst Israels entschiedensten Unterstützern scheint jedoch die Mög- lichkeit eines derartigen Wandels offenbar real genug, weshalb sie umso lei- denschaftlicher fordern, dass zwischen der Politik der Vereinigten Staaten und Israels bis ins kleinste Detail Übereinstimmung bestehen müsse.

Die Unterstützer der israelischen Regierungspolitik

Umso mehr stellt sich angesichts dieser neuen Lage im amerikanisch-israe- lischen Verhältnis die Frage, an wen Netanjahu sein Werben für einen baldi- gen Krieg gegen den Iran mit Erfolg zu richten glaubt. Wie sieht er aus, jener jüdische US-Bürger, der noch immer vorbehaltlos auf Seiten Israels steht? Nehmen wir einen jüdischen Freiberufler mittleren Alters, einen Steuer- berater, Zahnarzt oder Anwalt, der in einer mittelgroßen amerikanischen Stadt lebt. Natürlich macht er sich Sorgen um die amerikanische Wirtschaft und um die Zukunft seiner Kinder. Seine Hauptsorge gilt jedoch dem Staat Israel. Der Mann glaubt, eine Menge über das Land zu wissen. Regelmäßig besucht er es gemeinsam mit anderen Männern seiner Synagoge. Auf einem israelischen Luftwaffenstützpunkt kamen sie in den Genuss einer Flugschau, auf der – selbstverständlich in sicherem Abstand von den Zuschauern – der Einsatz von Napalm demonstriert wurde. Der Mann hat keine Zeit, sich eingehender mit der Geschichte Israels zu beschäftigen. Seine Lektüre beschränkt sich diesbezüglich auf ein paar

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anregende Bände über den Sechstagekrieg und die Operation Entebbe. Aber das macht nichts. Sein Rabbi liest gewissenhaft die „New York Times“ und die jüdische Presse und warnt allwöchentlich vor den beiden Bedrohungen, denen sich das Land ausgesetzt sieht – dem muslimischen „Terrorismus“ und dem heidnischen Antisemitismus. Unser Mann hält sich für gut informiert und ist besonders angetan von der Fundiertheit und dem Scharfblick der Berichterstattung Wolf Blitzers im Fernsehsender CNN. Der israelische Ministerpräsident dachte offensichtlich an ebensolche amerikanischen Juden, als er jüngst erklärte, Juden seien nahezu zwei Jahr- tausende schutzlos gewesen, könnten sich heute aber auf den Staat Israel ver- lassen. Tatsächlich ist es den Verteidigern der Juden in der modernen Neu- zeit – den Verfechtern der philosophischen Aufklärung und der Bürger- und Menschenrechte – nicht gelungen, den Holocaust zu verhindern. Vielmehr waren es die Armeen Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinig- ten Staaten sowie nicht zuletzt die Widerstandsbewegungen in Europa, die die Nazis und deren faschistische Mitläufer schließlich schlugen. Was Israel, hätte es in den 1930er Jahren bereits existiert, hätte tun können, um Hitler Einhalt zu gebieten, ist indes ebenso unklar wie die Antwort auf die Frage, ob es europäische Juden mit offenen Armen aufgenommen hätte. Die Bilanz der Zionisten zu jener Zeit ist insofern höchst zwiespältig.3

Das Versprechen des Zionismus

Netanjahus triumphierende Worte stehen darüber hinaus in erstaunli- chem Gegensatz zu anderen Äußerungen von ihm selbst und denen seiner Kollegen in der Regierung. Darin ist von einer ernsthaften und andauern- den Bedrohung Israels die Rede – durch Palästinenser, durch arabische und muslimische Staaten, durch den Iran und die Atomwaffen, die er angeblich besitzt, durch die Gleichgültigkeit und Feindseligkeit einer heidnischen Welt. Ursprünglich versprach der Zionismus, ein jüdischer Staat würde nicht nur für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger sorgen, sondern für die aller Juden überall auf der Welt. Nach den Kriegen von 1956, 1967, 1973, 1976 und 1982, den Palästinenseraufständen, den jüngsten Invasionen im Gazastreifen und im Libanon und angesichts der gegenwärtigen Aussicht auf einen Krieg mit dem Iran kann man wohl kaum behaupten, Israel sei ein sicherer Ort. Dort geht es in der gegenwärtigen politischen Debatte unter anderem um die Frage, ob die Organisation des Zivilschutzes für den nächsten Krieg hin- länglich vorbereitet ist. Derweil stellt die Beziehung der Diaspora zu Israel eine Quelle innerer und äußerer Schwierigkeiten für Juden dar, die nicht im Heiligen Land leben. Netanjahus Preisung der israelischen Sicherheit hatte daher auch einen ganz konkreten Anlass – nämlich die Ankunft von gut 120 jungen Amerika-

3 Vgl. Rolf Verleger, Der humanistische Zionismus, in: „Blätter“, 10/2011, S. 104-110.

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nern in Israel, die sich freiwillig zum Dienst in der israelischen Armee gemel- det hatten. In den USA leben mindestens sechs Millionen Juden, von denen, vorsichtig geschätzt, Hunderttausende Altersgruppen angehören, die für den Militärdienst in Frage kommen. Unter diesen Umständen sind 120 Re- kruten durchaus keine überwältigende Anzahl. Programme wie „Bir- thright“, die jüngeren jüdischen Amerikanern kostenlose Reisen nach Israel ermöglichen, werden hingegen ausgiebig genutzt. Die Aussicht, gegen Gegner in den Kampf zu ziehen, die zu allem ent- schlossen sind, ist für junge Amerikanerinnen und Amerikaner offen- sichtlich wenig attraktiv. Angesichts der durchwachsenen Leistung der israelischen Streitkräfte in jüngster Zeit, der öffentlich ausgetragenen Strei- tigkeiten unter ihren Generälen, der ständigen Erörterung militärischer Angelegenheiten durch israelische Politiker und Beamte kann man das ver- stehen. Hinzu kommt, dass nicht nur die Ultraorthodoxen in Israel keinen Wehrdienst leisten. Auch ein Teil jener Israelis, die ganz bestimmt nicht ihre gesamte Zeit dem Studium der Heiligen Schrift widmen, lehnen den Militär- dienst ab und werden von ihm freigestellt – was wiederum den Unmut derer weckt, die nicht über die dafür notwendigen finanziellen Mittel und gesell- schaftlichen Beziehungen verfügen.

Die Minderheit der eifernden Israel-Unterstützer

Die amerikanische jüdische Gemeinschaft ist für Netanjahu als Quelle poli- tischer Unterstützung somit weitaus nützlicher denn als Reservetruppe. Aber sind sich die israelische Regierung und die politische Elite über die amerika- nische Situation wirklich im Klaren? Die amerikanischen jüdischen Medien zumindest pendeln, ganz wie Netanjahu, hektisch hin und her zwischen beruhigenden Verweisen auf Israels Stärke und sorgenvollen Schilderungen der gefährlichen Lage, in der das Land sich befinde. Die Herausgeber sind anscheinend der Meinung, ihre Leser interessierten sich nicht für die Vielschichtigkeit der israelischen Situa- tion. Selbst der israelische Botschafter in den Vereinigten Staaten, eigentlich zuständig für akkurate Berichterstattung, ist ein Freund platter Schlagworte. Es ist nur zu hoffen, dass er intelligenter ist, als er sich in seiner öffentlichen Funktion gibt. Der oben in groben Zügen skizzierte Unterstützer Israels gehört – so viel steht fest – einer engagierten Minderheit an. Die bedingungslose Unterstüt- zung Israels zeigt sich im weltlichen Ersatz von Jüdinnen und Juden für den Glauben ihrer Väter. Im Allgemeinen ist diese Unterstützung dort am größ- ten, wo Menschen in einem vorwiegend jüdischen Milieu leben. Diejenigen Juden, die sich stärker in der amerikanischen Gesellschaft bewegen, neigen in der Regel zu differenzierteren Ansichten. Zweifellos nickten viele zustim- mend angesichts der harschen Kritik seitens der jüdischen Organisationen an Tony Judt, Noam Chomsky und den Professoren John J. Mearsheimer und Stephan Walt. Irgendwie bahnte sich inzwischen die Erkenntnis den Weg

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in das Bewusstsein amerikanischer Juden, dass die Ansicht, die Besetzung Palästinas sei unmoralisch und nicht aufrechtzuerhalten, Israel müsse seine Beziehungen zu den muslimischen Staaten auf eine völlig andere Basis stel- len und die Militarisierung der israelischen Kultur und Politik müsse rück- gängig gemacht werden, nicht völlig von der Hand zu weisen ist. Die eifern- den Unterstützer Israels bringen uns Andere aber weiterhin in peinliche Situationen, wie etwa mit dem absurden Versuch, an unseren Colleges und Universitäten Kritik an Israel als ipso facto „antisemitisch“ zu unterbinden. Einige der jüdischen Organisationen – unter ihnen die Conference of Pres- idents of Major American Jewish Organizations, das American-Israel Public Affairs Committee, das American Jewish Committee und die Anti-Defama- tion League – kompensieren durch Lautstärke ihre im Verhältnis zur Größe der jüdischen Gemeinschaft recht niedrigen Mitgliederzahlen. Ohne es zu wollen, erinnern uns ihre Wortführer daran, dass amerikanische Juden sehr viel zu unserer Nation beigesteuert haben: auf dem Gebiet der Kunst, der Kultur, des Geschäftslebens, der Bildung, der Finanzen, der Politik, der freien Berufe und der Wissenschaft. Die anderen werden zu Führern der Gemein- schaft. Dabei haben sich Scheldon Adelson, Chaim Saban und eine ganze Reihe anderer Wohlhabender, ohne Zweifel Aufmerksamkeit erkauft, indem sie mit Geld um sich werfen. Langfristig könnte sich ihr Einfluss allerdings durchaus als negativ erweisen. Schließlich vermag keine noch so große Summe die Plumpheit ihres Ethnozentrismus vergessen zu machen.

Zwischen Loyalität und Kritik

Meinungsumfragen und alle möglichen anderen Erhebungen legen indes nahe, dass die Mehrheit amerikanischer Juden so in ihrem Leben in diesem Land verwurzelt ist, dass ihnen das Schicksal Israels zwar am Herzen liegt, es aber nicht ihr gesamtes Dasein einschließlich ihrer politischen Einstel- lung bestimmt oder beherrscht. Auch Gruppen und Einzelpersonen, die gegenüber der israelischen Politik eine kritische Haltung einnehmen, waren schon immer Teil der amerikani- schen jüdischen Landschaft. Es ist hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, dass in den frühen Jahren Israels manch einer jener radikalen Verteidiger Israels von heute darauf beharrte, dass die Loyalität der amerikanischen Juden primär den Vereinigten Staaten gehöre – unter ihnen das American Jewish Committee und eine ganze Reihe von Publizisten, Rabbinern und Gelehrten. Sie warnten die Israelis davor, bei amerikanischen Juden uneingeschränkte Unterstützung zu suchen oder diese von ihnen zu erwarten bzw. sich in ame- rikanische Angelegenheiten einzumischen. Gegenwärtig ist J Street eine der jüdischen Gruppierungen in den USA, die der Politik Israels kritisch gegenübersteht und sich das meiste Gehör verschafft. Allerdings hinkt sie den Ereignissen hinterher: So tritt sie für eine Zweistaatenlösung anstelle der israelischen Besetzung Palästinas ein und ignoriert, dass diese Lösung durch den jüdischen Siedlungsbau in den

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besetzten Gebieten torpediert wird. Allerdings zeigen sich nur wenige in der jüdischen Gemeinschaft bereit, das Offensichtliche offen anzuerkennen. Fest steht: Sofern nicht mehrere Hunderttausend jüdische Bewohnerinnen und Bewohner Palästinas aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten nach Israel zurückkehren, werden die beiden Völker, Araber und Juden, weiterhin auf eine Art und Weise verbunden sein, die auf lange Sicht wohl nicht friedlich sein wird. Aus diesem Grund machen sich viele Amerikaner in den modern denken- den, liberalen Kreisen des amerikanischen politischen Spektrums große Sor- gen: Es könnte einen erfolgreichen palästinensischen Aufstand geben, die Vereinten Nationen und Israels Verbündete könnten Israel eine Lösung auf- zwingen, dadurch könnte es zu einer Folge von Ereignissen kommen, wie wir sie uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vorstellen können, und an deren Beginn vielleicht eine schwerwiegende militärische Niederlage Israels steht. Fest steht bei alledem auch: Früher oder später werden die Palästinenser Selbstverwaltung erlangen, sei es als Bürgerinnen und Bürger eines bina- tionalen Staates, eines autonomen Gebiets in einer binationalen Föderation oder in einem unabhängigen Staat, aus dem sich Israel – freiwillig oder auf andere Weise – zurückgezogen haben wird. Im Verlauf dieses Prozesses mag Israel von einem Bürgerkrieg zerrissen werden. Es verliert dabei vielleicht die gebildetsten seiner Bürger und die mit dem größten Unternehmergeist. Es wird sich womöglich mit dem Status einer unter internationaler Treuhandverwaltung stehenden oder gar besetzten Nation abfinden müssen. Und dennoch: Trotz dieser wenig optimistischen Aussichten zögern selbst die kritischeren unter den jüdischen Unterstützern Israels in den Vereinigten Staaten erkennbar, wenn es darum geht, diese pro- blematischen Aspekte von Israels Zukunft näher zu untersuchen.

Die unterschiedlichen Formen der Unterstützung

Dabei lassen sich mit Einschränkungen drei Formen der Unterstützung für Israel ausmachen. Die erste umfasst die Überzeugungen und Aktivitäten der jüdischen Gemeinschaft selbst, die kulturell und politisch in einer gan- zen Reihe von Fragen, darunter auch in der nach den Beziehungen zu Israel, gespalten ist. Erst vor Kurzem sagte die größte jüdische Einzelgruppierung in den USA, Reform Judaism, ihre Teilnahme am Treffen der Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations ab, da die Ansichten der Reformbewegung ignoriert wurden. Das Eintreten des Journalisten Peter Beinart für ein demokratisches und jüdisches Israel ist fraglos edel, doch eine Mehrheit in Israel toleriert ein repressives Vorgehen im kulturellen und politischen Bereich. Und auch die amerikanischen Juden, die mit Beinart übereinstimmen, leben in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Glaubensbrü- der, die es eigentlich vorzögen, in New York in Bussen zu fahren, deren Fahr- gäste – wie in den frommen Vierteln Jerusalems – nach Geschlecht getrennt sind.

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Publikationen wie der „Forward“ und das Magazin „Tablet“ verleihen dem Ausdruck, was man als das akademische Segment der jüdischen Öffentlich- keit bezeichnen könnte. Die von breiteren Kreisen gelesenen Zeitungen der jüdischen Gemeinschaft sind in einer wesentlich weniger anspruchsvollen Sprache geschrieben. Ein Großteil der Juden, vielleicht sogar die Mehr- heit, führt ihr Leben daher fernab der Kontroversen um Israel. Die akade- mische Debatte um Israel ist eine Fortsetzung, oder eine Neubelebung, älte- rer Debatten um Assimilation und ethnische Isolation – in denen viele der gegenwärtigen Teilnehmer ihre Wahl nicht rechtfertigen und diskutieren, sondern einfach ausleben. Dies dürfte sich jedoch als schwerwiegender Fehler erweisen. Denn die Vorsitzenden der amerikanischen jüdischen Organisationen sehen das ame- rikanische öffentliche Leben als ein System, in dem allein die Interessen unterschiedlicher Gruppen verhandelt werden. Was aber werden sie tun, wenn immer mehr ihrer nichtjüdischen Gesprächspartner erklären – wie es in einigen der protestantischen Kirchen schon jetzt immer häufiger der Fall ist –, ihre Auffassung von amerikanischen Werten verlange Kritik an Israel? Keine noch so große finanzielle Unterstützung durchschnittlich begabter Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft – man denke an die Senatoren Jon Kyl und Mark Kirk – kann die Auseinandersetzung mit grundlegenden politischen Meinungsunterschieden ersetzen.

Das Bündnis mit den amerikanischen Protestanten

Das Verhältnis Israels zu den Vereinigten Staaten sähe ganz anders aus, wäre da nicht die zweite wichtige Säule der Unterstützung Israels – der amerikani- sche Protestantismus. Die Verwurzelung im Alten Testament, ein ausgepräg- ter Sinn für soziale Gerechtigkeit und das calvinistische Arbeitsethos haben in der Vergangenheit die protestantischen Kirchen in einer Vielzahl kultu- reller und sozialer Kämpfe zu Verbündeten amerikanischer Juden gemacht. Während der letzten Jahrzehnte hat sich das Blatt jedoch gewendet. Die engagiertesten protestantischen Unterstützer Israels finden sich nun in den Sekten, die sich zur apokalyptischen Geschichtsauffassung einer wörtlichen Bibelauslegung bekennen. Die Begeisterung dieser Protestanten für Israel fußt auf deren Erwartung, die Wiedergeburt eines jüdischen Staates sei der Beweis für das unmittelbare Bevorstehen des Jüngsten Gerichts, in dessen Verlauf die Juden bekehrt oder aber vernichtet würden. In vielen wirtschaftlichen und sozialen Fragen – bezüglich Abtreibung, Trennung von Kirche und Staat oder amerikanischem Wohlfahrtsstaat – wei- chen die Positionen der begeistertsten Unterstützer Israels grundlegend von jenen der Mehrheit amerikanischer Juden ab. Das innenpolitische Bündnis zwischen den jüdischen Organisationen und den christlichen Fundamen- talisten hat aber dennoch gehalten, weil die Juden imstande waren, den Wunsch der Fundamentalisten, sie verschwinden zu sehen, erst einmal zu ignorieren. Dieser Wunsch, so erklärte der Führer einer jüdischen Organi-

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sation, sei auf die Zukunft gerichtet, jetzt aber unterstützten die Fundamen- talisten Waffenlieferungen für Israel. Das tun sie tatsächlich, nicht zuletzt aufgrund der Feindschaft, mit der sie den islamischen Staaten gegenüber- stehen.

Die Interessen der permanenten Regierung

Die Unterstützung Israels durch die stärker ethnozentristisch ausgerich- teten Teile der jüdischen Gemeinschaft und die kulturell abgeschotteten, christlich-fundamentalistischen Gruppen des nichtjüdischen Amerika kann jedoch die wachsende Bereitschaft eines großen Teils der amerikanischen Protestanten, zu Israel auf Distanz zu gehen, nicht kompensieren. Und selbst im US-Regierungsapparat, der dritten Komponente US-ameri- kanischer Unterstützung für Israel, findet sich – bei aller Kontinuität – mehr und mehr die Bereitschaft umzudenken. Mehr noch als in der Regierung im engeren Sinne zeigt sich dies im sogenannten Permanent Government – also in den unabhängig von jedem Präsidenten auf Dauer eingerichteten Behör- den, Abteilungen und Dienststellen. Hinsichtlich der Außenpolitik sind dies vor allem die Beamten in den außenpolitischen Behörden, die militärischen Amtsträger und die Mitarbeiter des Kongresses. Sie alle leben nicht für, son- dern von unserem Imperium. Zu ihnen gesellen sich Akademiker und Freiberufler an den Universitäten, in der Geschäfts- und der Finanzwelt, in Stiftungen und Forschungszentren sowie in den Medien. Nur wenige unter ihnen glänzen durch unabhängige Urteile oder die Fähigkeit zu wohldurchdachter Abweichung von auf gegen- seitigem Einvernehmen beruhenden Vorstellungen über den Platz der ame- rikanischen Nation in der Welt. Für diese Gruppen macht es einen gewissen, aber keinen großen Unterschied, wer Präsident ist. Sie sind für die Kontinui- tät der US-Außenpolitik verantwortlich, und sie nehmen diese Verantwor- tung ernst. Bisweilen scheint ihr Verhalten allerdings die Symptomatik auf- zuweisen, die von Freud als „Wiederholungszwang“ beschrieben wurde: Ungeachtet der katastrophalen Misserfolge im Irak und in Afghanistan stre- ben viele von ihnen daher jetzt eine Intervention in Syrien an. Das Permanent Government hat das enge Bündnis mit Israel akzeptiert, das bereits auf die Kennedy-Johnson-Jahre zurückgeht. Unter den republikani- schen Außenministern Schulz und Baker war das Bündnis ernsten Belastun- gen ausgesetzt, blieb jedoch ein unverzichtbares Element der US-Politik im Nahen und Mittleren Osten. Die Demokraten, die von der Mehrheit ameri- kanischer Juden bevorzugte Partei, haben sich sowohl unter Clinton als auch unter Obama erfolglos bemüht, Israelis und Palästinenser zu einem endgülti- gen Friedensabkommen zu bewegen. Barack Obama und seine Außenminis- terin Hillary Clinton – die als ehemalige Senatorin aus New York und mögli- che Präsidentschaftskandidatin im Jahr 2016 besonders aufmerksam auf die Meinung amerikanischer Juden achtet – haben einen Low Intensity War mit dem angeblichen Verbündeten Pakistan geführt, eine internationale Koali-

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tion gegen den Iran geschmiedet und dem Land mit einem Angriff gedroht sowie amerikanische Streitkräfte zur Bekämpfung islamistischer Bewegun- gen zwischen Westafrika und den Philippinen entsandt. Das ist die Lage am Ende der ersten Amtszeit Obama-Clintons: Die ägyp- tischen Vasallen der Vereinigten Staaten, Mubarak und seine Generäle, sind fort, das saudische Herrscherhaus wird belagert, die Türkei ist kaum mehr der willfährige Staat, der er einmal war. Nach dem Abzug der US-Streit- kräfte aus Afghanistan wird das Land so unregierbar sein wie eh und je, und die Besetzung des Irak hat der Wirtschaft des Landes ernsten Schaden zuge- fügt, seine Gesellschaft gespalten und den iranischen Einfluss auf seine Poli- tik verstärkt. In diesem Umfeld wird der Konsens im Permanent Government, dass das Bündnis mit Israel in seiner bisherigen Form beizubehalten sei, zu Recht überprüft. Unterdessen wurde der – ohnehin nie sehr energisch ausgeübte – Druck auf Israel, den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten einzustellen, jedoch aufgegeben, und inzwischen zum Ritual verkommene Erklärungen über die Notwendigkeit einer Wiederaufnahme von Verhandlungen zwi- schen Israel und Palästina sind kaum noch zu vernehmen.

Außenpolitischer Wandel: Der Zerfall alter Koalitionen

Das Permanent Government ist um ein Vielfaches größer als der überwie- gend angelsächsisch dominierte Auswärtige Dienst der Jahre vor dem Zwei- ten Weltkrieg. Die Ausweitung amerikanischer Interessen im Ausland sowie die soziale Mobilität religiöser und ethnischer Gruppen in den Vereinigten Staaten ermöglichten im Laufe der Zeit auch jenen den Zugang, die keine Eliteuniversitäten besucht hatten: Katholiken und Juden, später Afroameri- kanern und Latinos. Eine Vielzahl jüdischer Amerikaner machte in den Reihen des Permanent Government beeindruckende Karrieren. Jüdische Kongressabgeordnete (27 von 435) und Senatoren (13 von 100) nehmen recht herausragende Positio- nen ein, und die meisten vertreten eine Wählerschaft, in der jüdische Bürger deutlich in der Minderheit sind. Neben einer beträchtlichen jüdischen Prä- senz in den Medien (unter Eigentümern, Herausgebern und Journalisten), an den Universitäten und unter den Personen, die große Summen für politische Kampagnen spenden, hat dies zu außerordentlich vereinfachten Vorstellun- gen von einer Israel-Lobby geführt, die angeblich im Verborgenen agiere. Das Gegenteil ist der Fall, da keine andere außen- und militärpolitisch aktive Gruppe mehr darauf aus ist, ihre Erfolge publik zu machen. Was stattdessen vorlag, war ein Fall von Wahlverwandtschaft: Ungeachtet all der durch die Besetzung Palästinas verursachten Probleme war Israel just deshalb ein wertvoller Verbündeter im Nahen und Mittleren Osten, weil es, wie Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien und die Türkei, bereit war, eine ame- rikanische Vorherrschaft in der Gegend zu akzeptieren. Künftige Historiker werden sich mit der Frage beschäftigen, ob die Vereinigten Staaten, durch

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ihre Anerkennung der israelischen Besetzung Palästinas und ihre Unter- stützung korrupter und repressiver Regime, den Iran und das sehr gemischte Spektrum als „islamistisch“ bezeichneter Gruppierungen erst dazu ermutigt haben, die Führung einer selbst ernannten antiimperialen Koalition zu über- nehmen. Die von den Vereinigten Staaten lange Zeit geförderte Koalition zer- fällt jedoch gegenwärtig – und Syrien (oder auch Algerien) sind möglicher- weise nur die nächsten Staaten, die einen Regimewechsel erleben werden. Innerhalb des Permanent Government sind die Stimmen derer, die für den Angriff auf den Irak verantwortlich waren, wie immer überdeutlich zu ver- nehmen – diesmal mit ihrer Forderung nach einem Krieg gegen den Iran und die „Islamisten“, wo immer man sie finden oder ihre Existenz herbeireden kann. Allerdings sind sie aus dem engeren Beraterkreis der Obama-Regie- rung ausgeschlossen worden, und es ist keineswegs sicher, dass ein Präsi- dent Romney sie zurückholen würde. Sollte er gewählt werden, könnte er vielmehr den älteren Bush und Powell sowie Scowcroft und Kissinger in Fra- gen der Außenpolitik um Rat fragen.

Die Frage der doppelten Loyalität

Fest steht: Der sich derzeit abzeichnende Wandel der außenpolitischen Stra- tegie, weg von der bedingungslosen Partnerschaft mit Israel, wird sich bis tief hinein in die US-amerikanische Gesellschaft auswirken. Vor diesem Hintergrund war es ausgesprochen taktlos von Benjamin Netanjahu, Romneys Besuch in Israel zu benutzen, um die Frage nach der Freilassung des Israelis Jonathan Pollard zur Sprache zu bringen. Pollard war 1987 in den Vereinigten Staaten wegen Spionage für den israelischen Geheimdienst Lakam zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Zwar mag es unter humanitären Gesichtspunkten Argumente für seine Freilassung geben, doch jene, die sie fordern, sind ansonsten nicht gerade für ihre humanitäre Einstellung bekannt. Vielmehr sind sie darauf aus, ein moralisches und politisches Zugeständnis zu erreichen, eine implizite Erklä- rung, dass die Interessen der Vereinigten Staaten und Israel so sehr über- einstimmen, dass man Pollards Vergehen mit Nachsicht beurteilen könne. Genau das aber bestreiten die Beamten im Zentrum des Permanent Govern- ment. Entscheidend aber ist, dass Netanjahu mit dem Fall Pollard auch die Frage der doppelten Loyalität angesprochen hat – keine einfache Sache für ameri- kanische Juden, aber eine, die in jeder ernsthaften Erörterung der Beziehun- gen der Diaspora zu Israel unweigerlich zur Sprache kommt. Wie sähe unser Leben aus, wenn jeder jüdische Bewerber für einen Posten in der Regierung, im akademischen Bereich oder in den Medien unter dem Verdacht stünde, er sähe es als seine Pflicht an, Israel zu dienen? Eine solche Fragestellung ist für die US-amerikanische Einwanderungs- gesellschaft keineswegs ungewöhnlich. Im Gegenteil: Aufeinanderfolgende Einwanderungswellen in der Geschichte der Republik haben zwangsläufig

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fremdenfeindliche Reaktionen bei jenen ausgelöst, deren Vorfahren früher ins Land gekommen waren. Henry James war über die jüdischen Einwande- rer aus Osteuropa, die sich in der Lower East Side von Manhattan drängten, so beunruhigt, dass er ihre Assimilation für völlig ausgeschlossen erklärte. Was würde er zu den unzähligen Doktorarbeiten sagen, die heute von jüdi- schen Doktoranden zu seinem Werk eingereicht werden? Jede ethnische Gruppe hat Verbindungen mit den jeweiligen Heimat- ländern aufrechterhalten – und häufig waren diese Verbindungen nicht nur kultureller und familiärer, sondern politischer Natur. Angetrieben durch die unterschiedlichsten Motive – wie etwa die Erinnerung an das relative Unver- mögen der amerikanischen jüdischen Gemeinschaft, den europäischen Juden in den Jahren 1933 bis 1945 zu Hilfe zu kommen – setzen die ameri- kanischen Unterstützer Israels ihren kulturellen und wirtschaftlichen Erfolg ein, um Israels Interessen in den Vereinigten Staaten zu verfolgen. Die Israelis müssen sich allerdings entscheiden, ob langfristig eine politi- sche und militärische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten der effek- tivste Weg zur Gewährleistung ihrer nationalen Sicherheit ist. Was werden sie tun, sollten die Vereinigten Staaten irgendwann in den nächsten Jahrzehn- ten feststellen, dass das gegenwärtige Engagement im Nahen und Mittleren Osten zu teuer und politisch zu riskant ist, um es weiter aufrechtzuerhalten? Israel wird vielleicht nicht der erste Vorposten sein, der geräumt wird, aber die Räumung wird kommen – fragen Sie Mubarak und seine Generäle! Sofern amerikanische Juden weiterhin in den Vereinigten Staaten leben wollen, werden sie sich daher fragen müssen, wo ihre wahren Interessen lie- gen. Nicht zu finden sind sie jedenfalls in der falschen Prophezeiung Netan- jahus, mit seiner grotesken Auslegung der jüdischen Geschichte. Wir amerikanische Juden haben aufgrund der Offenheit der US-ameri- kanischen Institutionen und aufgrund der von uns geleisteten Beiträge zum nationalen Leben Sicherheit und die Achtung unserer Mitbürger erlangt. Es steht uns schlecht an, diese Achtung abzuwerten, indem wir der Überein- stimmung mit der israelischen Agenda Priorität einräumen, einer Agenda, die von einer Gesellschaft aufgestellt wurde, die nicht die unsere ist und die mit unserem Leben hier immer weniger zu tun hat. Wir werden ohnehin bald feststellen, dass wir in dieser Frage keine Wahl haben: Denn schon jetzt unterzieht eine wachsende Zahl unserer Mitbürger – insbesondere in den einflussreicheren Gruppen der Nation – die Überein- stimmung der Interessen Amerikas mit denen Israels einer Überprüfung. Als Juden und Amerikaner haben wir einen Beitrag zu dieser Diskussion zu leis- ten – doch dazu brauchen wir den Rat eines israelischen Politikers nicht, dem signifikante Teile seiner eigenen Bevölkerung zunehmend misstrauen. Im Gegenteil: Sollte die unverfrorene Arroganz, die Netanjahu an den Tag legt, die Existenz Israels tatsächlich gefährden, werden wir uns vielleicht noch wünschen, durch eine ehrliche Kritik an Israels Politik bei unseren ameri- kanischen Mitbürgern Achtung erworben zu haben, um den Israelis dadurch umso besser zur Seite stehen zu können – eine Situation, die leider nicht so abwegig ist, wie manche es sich derzeit noch wünschen mögen.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 96 19.09.12 11:07 Kann man ein gutes Leben im schlechten führen? Von Judith Butler

s ist mir eine große Ehre, heute hier den Adorno-Preis entgegennehmen E zu dürfen. Ich möchte heute Abend über eine Frage Adornos sprechen, die uns auch weiterhin angeht. Ich werde auf diese sich stets neu stellende Frage wiederholt zurückkommen. Es gibt auf sie keine einfache Antwort und ihrem Anspruch an uns ist nicht leicht zu entgehen. In seinen „Minima Moralia“ sagt Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ – aber das ließ ihn keineswegs an der Möglichkeit der Moral verzweifeln. Vielmehr stehen wir damit vor der Frage: Wie kann man ein gutes Leben im schlechten führen? Adorno betont die Schwierigkeit, für sich selbst und als man selbst, nach einem guten Leben zu streben inmitten einer Welt voller Ungerechtigkeit, Ausbeutung und allen möglichen Formen der Auslöschung. Dabei bin ich mir durchaus bewusst, dass sich diese Frage, indem ich sie für Sie umformuliere, mit dem geschichtlichen Zeitpunkt wandelt, an dem sie gestellt wird. Wir stehen also von Anfang an vor zwei Problemen bzw. Fragen: Die erste Frage lautet: Wie können wir unser eigenes Leben so führen, so dass wir sagen können, wir führen ein gutes Leben in einer Welt, die vielen ein gutes Leben strukturell oder systematisch unmöglich macht? Das zweite Problem ist, welche Gestalt diese Frage heute für uns annimmt. Anders gesagt: Wie bestimmt und durchdringt der historische Moment, in dem wir leben, diese Frage selbst?

Das „richtige Leben“ ist mit anderen normativen Werten in Einklang zu bringen

Bevor ich einen Schritt weiter gehe, muss ich zunächst etwas über die Begrifflichkeit sagen. Der Ausdruck „das richtige Leben“ ist natürlich kont- rovers; es gibt ja sehr viele unterschiedliche Auffassungen darüber, welches Leben das „richtige“ wäre. Viele haben das richtige Leben mit wirtschaft- lichem Wohlergehen, mit Wohlstand oder auch mit Sicherheit gleichgesetzt;

* Am 11. September d.J. wurde der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler in der Frankfurter Paulskirche der Theodor-W.-Adorno-Preis verliehen. Wir dokumentieren die Rede in voller Länge und bedanken uns bei der Preisträgerin für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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aber wir wissen, dass Wohlstand und Sicherheit auch denen zugänglich sind, die kein richtiges Leben führen. Besonders deutlich wird dies, wenn diejeni- gen, die behaupten, ein gutes oder richtiges Leben zu führen, von der Arbeit anderer oder von einem Wirtschaftssystem profitieren, das auf Ungleichheit basiert. Das „richtige Leben“ muss also weiter gefasst werden, so dass es keine Ungleichheit voraussetzt oder mit sich bringt. Anders formuliert: Das „richtige Leben“ ist mit anderen normativen Werten in Einklang zu bringen. Wenn wir uns auf unsere Alltagssprache verlassen, um zu erfahren, was das richtige Leben ist, geraten wir notwendig in Unklarheiten, da dieser Aus- druck so viele konkurrierende Wertordnungen impliziert.

Macht- und Herrschaft: Das Verhältnis von Moral und Gesellschaftstheorie

Wenn sich mit Adorno die Frage stellt, ob man ein richtiges oder gutes Leben im schlechten führen kann, dann geht es ihm um das Verhältnis zwischen moralischem Handeln und dessen gesellschaftlichen Bedingungen, weiter gefasst um das Verhältnis von Moral und Gesellschaftstheorie. Tatsächlich wirft er auch die Frage auf, wie die umfassenderen Macht- und Herrschaftsmechanismen in unser individuelles Nachdenken über das rich- tige Leben eindringen oder dieses Nachdenken verzerren. Adorno schreibt, dass „das ethische Verhalten oder das moralische oder unmoralische Ver- halten immer ein gesellschaftliches Phänomen ist – das heißt, [dass] es über- haupt keinen Sinn hat, vom ethischen und moralischen Verhalten unter Absehung der Beziehungen der Menschen zueinander zu reden, und [dass] das rein für sich selbst seiende Individuum eine ganz leere Abstraktion ist“.1 An anderer Stelle schreibt er, „dass die gesellschaftlichen Kategorien bis ins Innerste der moralphilosophischen sich hinein erstrecken.“ (258) Im letzten Satz seiner Probleme der Moralphilosophie heißt es schließlich: „Kurz, also was Moral heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht über in die Frage nach der Einrichtung der Welt – man könnte sagen: die Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirklichenden gele- gen wäre.“ (262) Es hat also durchaus seinen Sinn zu fragen, welche gesellschaftliche Kon- figuration des „Lebens“ in der Frage nach dem richtigen Leben gemeint ist. Mit der Frage, wie am besten oder richtig zu leben sei, scheine ich ja nicht nur bereits eine Vorstellung vom „Richtigen“ oder „Guten“ ins Spiel zu bringen, sondern darüber hinaus auch eine Vorstellung dessen, was „Leben“ heißt. Ich muss schon eine Vorstellung von meinem Leben haben, um mich fragen zu können, welches Leben ich führen soll, und mein Leben muss für mich auch schon etwas sein, das ich selbst führen kann und von dem ich nicht bloß geführt werde.

1 Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt a. M. 2010 (1963), S. 34 f. (Im Folgenden werden die Seiten in Klammern im Text angegeben.)

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Dabei ist auch schon deutlich, dass ich nicht sämtliche Aspekte des leben- digen Organismus, der ich bin, steuern kann. Wie „führt“ man ein Leben, wenn sich nicht alle Lebensprozesse, aus denen ein Leben besteht, „führen“ lassen oder wenn sich nur bestimmte Aspekte des Lebens selbst lenken oder mit Überlegung bestimmen lassen, andere hingegen eindeutig nicht?

Wessen Leben zählt? Wessen Tod und wessen Leben wird betrauert?

Wenn also die Frage nach dem richtigen Leben zu den Kernfragen der Moral gehört oder sogar deren zentrale Frage ist, dann scheint Moral von Anfang an mit Biopolitik verknüpft zu sein. Unter Biopolitik verstehe ich die das Leben organisierenden Mächte, auch jene Mächte, die Leben im Rahmen einer umfassenderen Bevölkerungspolitik durch staatliche und außerstaat- liche Maßnahmen auf unterschiedliche Weise der Prekarität überantworten und zugleich bestimmte Maßnahmen zur unterscheidenden Bewertung von Leben festlegen. Sobald die Frage lautet, wie ich leben soll, habe ich es mit diesen Formen der Macht zu tun. Die am stärksten individualisierte Frage der Moral – Wie führe ich dieses Leben, das meines ist? – hängt bereits mit biopolitischen Fra- gen wie diesen zusammen: Wessen Leben zählt? Auf welche Leben als Leben kommt es nicht an? Welche sind als Leben nicht anzuerkennen oder zweifel- haft? Meiner Auffassung nach müssen wir, um diese Differenzierung in der Zuerkennung eines politisch gesicherten und gewollten Status zu verstehen, die Frage stellen, um welche Leben getrauert werden kann und um welche nicht. Das biopolitische Management des Unbetrauerbaren erweist sich als entscheidend für die Frage, wie ich dieses mein Leben führe und wie ich es innerhalb des Lebens, unter den Lebensbedingungen führe, die uns heute strukturell vorgegeben sind. Es geht um Fragen der folgenden Art: Wessen Leben gilt bereits nicht mehr als Leben oder gilt nur teilweise als Leben oder gilt schon als tot und ver- schwunden, noch bevor es ausdrücklich zerstört oder aufgegeben wurde? Natürlich ist diese Frage am drängendsten für den- oder diejenige, die sich selbst schon als entbehrliche Art von Wesen begreift, die auf Gefühls- oder Körperebene feststellt, dass ihr Leben nicht schützens- und achtenswert ist. Ihr ist klar, dass man um sie beim Verlust ihres Lebens nicht trauern wird; sie ist jemand, der schon jetzt mit dem Wissen „Man würde nicht um mich trauern“ lebt. Wenn ich mir sicher bin, dass es mir an Nahrung oder einer Zuflucht mangeln wird oder dass kein soziales Netz und keine Institution sich um mich kümmern werden, wenn ich Hilfe brauche – dann gehöre ich zu den Unbetrauerbaren. Das heißt nicht, dass überhaupt niemand um mich trauern würde. Es heißt nicht, dass ich nur hier, aber nicht dort betrauert würde oder dass mein Ver- schwinden völlig unbemerkt bliebe. Aber diese Formen der Fortdauer und des Widerstands spielen sich ganz im Schatten des öffentlichen Lebens

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ab, aus dem sie gelegentlich heraustreten, ihren kollektiven Wert geltend machen, um gegen jenes System anzugehen, das ihnen ihren Wert nimmt. In der Tat: Die Unbetrauerbaren versammeln sich gelegentlich zum öffent- lichen Aufstand der Trauer, und deshalb lassen sich in vielen Ländern Begräbnisse und Demonstrationen nur schwer unterscheiden.

Eine Kritik der biopolitischen Ordnung

Der Grund, weshalb um jemanden nicht getrauert wird, liegt am aktuellen Fehlen einer Struktur, die dieses Leben stützt; das bedeutet, dass es entwer- tet ist, nicht wert, durch das herrschende Wertesystem als Leben geschützt zu werden. Die Zukunft meines Lebens selbst hängt von dieser Unterstützung ab. Werde ich nicht unterstützt, dann wird mein Leben angreifbar, prekär und ist in diesem Sinn nicht wert, vor Verletzung oder Verlust geschützt zu werden, und ist damit unbetrauerbar. Wenn nur ein betrauerbares Leben wertgeschätzt werden kann, und zwar auf Dauer, dann kommt auch nur ein solches betrauerbares Leben für gesell- schaftliche und wirtschaftliche Unterstützung infrage, für die Versorgung mit Unterkunft, Krankenversicherung, Erwerbstätigkeit, politischen Aus- drucksrechten, Formen sozialer Anerkennung und Bedingungen der poli- tischen Handlungsfähigkeit. Man muss gewissermaßen betrauerbar sein, bevor man verloren geht, bevor sich überhaupt die Frage stellt, ob man ver- nachlässigt oder aufgegeben wird, und man muss leben können im Wissen, dass der Verlust dieses Lebens, das ich bin, betrauert würde und dass daher alle Maßnahmen getroffen werden, um diesen Verlust zu verhüten. Wie soll es mir möglich sein, ein gutes Leben zu führen, wenn ich gar kein nennenswertes Leben besitze oder wenn das Leben, um das ich mich bemühe, als entbehrlich gilt oder tatsächlich schon abgeschrieben wurde? Um darüber nachzudenken, wie ich am besten leben sollte, muss ich davon ausgehen, dass das Leben, das ich anstrebe, als Leben bejaht werden kann, dass ich selbst es bejahen kann, auch wenn es ansonsten nicht bejaht wird. Obgleich ich also die Frage nach dem richtigen Leben stellen muss und stelle – und das ist von großer Wichtigkeit –, muss ich auch sorgfältig über dieses Leben nachdenken, das meines ist und das sich doch in einem größe- ren sozialen Kontext abspielt, das mit dem Leben anderer so verbunden ist, dass ich in kritischem Bezug zu den diskursiven Lebens- und Wertordnun- gen stehe, in denen ich lebe oder vielmehr zu leben versuche. Was verleiht ihnen ihre Autorität? Und ist diese Autorität legitim? Da es in dieser Frage um mein eigenes Leben geht, ist die Kritik der biopolitischen Ordnung für mich eine Lebensfrage, und soweit hier das Potential für ein richtiges Leben auf dem Spiel steht, geht es um die Anstrengung zu leben und um die Anstrengung, in einer gerechten Welt zu leben. Ob ich ein Leben mit Wert führen kann oder nicht, kann ich nicht selbst entscheiden, denn es zeigt sich, dass dieses Leben mein eigenes und doch nicht mein eigenes ist und dass ich genau darin ein soziales und ein lebendiges Wesen bin.

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Prekarität oder das Gefühl des beschädigten, des unlebbaren Lebens

Die Frage nach dem richtigen Leben ist also von Anfang an mit dieser Zwei- deutigkeit behaftet, und sie ist an eine lebendige Praxis der Kritik gebun- den. Wir können die Bedingungen, unter denen Leben unlebbar werden, vielleicht nicht mit einem einzigen Begriff beschreiben; jedoch lässt sich mit Hilfe des Begriffs der Prekarität zwischen verschiedenen Modi der „Unleb- barkeit“ unterscheiden: Menschen etwa, die ohne ordnungsgemäßen Pro- zess eingesperrt sind; diejenigen, die in Kriegsgebieten oder unter Besatzung leben und ohne Zuflucht und Ausweg der Gewalt und Zerstörung ausgesetzt sind; diejenigen, die ihre Heimat verlassen mussten und in Grauzonen leben, wo sie auf die Öffnung einer Grenze, auf Lebensmittel und auf die Aussicht der Legalisierung durch Papiere warten; entbehrliche oder austauschbare Arbeitskräfte, die kaum mehr Aussicht auf einen sicheren Lebensunterhalt haben und von Tag zu Tag mit einem zerbrochenen Zeithorizont und dem durchdringend schmerzlichen Gefühl einer zerstörten Zukunft leben müs- sen und sich um den Erhalt von Gefühlen bemühen, die sie doch zugleich fürchten. Wie kann man sich fragen, wie man sein Leben am besten führt, wenn man sich gar nicht mehr in der Lage fühlt, es zu führen, wenn man gar nicht mehr sicher ist, ob man überhaupt lebt oder wenn man nach dem Gefühl des Lebendigseins sucht, das man zugleich fürchtet, zusammen mit dem Schmerz, so leben zu müssen? Unter den heutigen Bedingungen der erzwun- genen Abwanderung und des Neoliberalismus existieren riesige Bevölke- rungsgruppen ohne das Gefühl einer sicheren Zukunft, einer stabilen politi- schen Zugehörigkeit, mit einem Gefühl des beschädigten Lebens. Ich will nicht behaupten, der tägliche Überlebenskampf habe Vorrang vor der Sphäre der Moral oder der moralischen Pflicht als solcher. Denn wir wis- sen, dass Menschen selbst in Situationen extremer Bedrohung für andere tun, was ihnen möglich ist. Wir wissen das aus einigen der außergewöhn- lichen Berichte aus den Konzentrationslagern. Bei Robert Antelme beispielsweise konnte es eine geteilte Zigarette zwi- schen Menschen ohne gemeinsame Sprache sein, die sich gemeinsam in der Einkerkerung und Gefahr des KZ befinden. Bei Primo Levi, wo der eine dem anderen einfach zuhört und die Einzelheiten seiner Geschichte aufzeichnet, um sie zum Teil eines Archivs zu machen, zur fortdauernden Spur des Verlus- tes mit der fortdauernden Verpflichtung zur Trauer. Oder bei Charlotte Delbo das unvermittelte Verschenken des letzten Stücks Brot, das man verzweifelt selbst bräuchte. Aber in diesen Berichten gibt es auch die, die nicht die Hand reichen, die das Brot selbst essen, die Zigarette für sich behalten und manchmal die Qual erleiden, dem anderen in seiner verzweifelten Not nicht zu helfen. Mit anderen Worten: Auch bei extremer Gefahr und unter verschärften Bedin- gungen verschwindet das moralische Dilemma nicht; es besteht fort in eben der Spannung zwischen dem Lebenwollen und dem Willen, mit anderen in bestimmter Weise zusammenzuleben.

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Im Kleinen und Wesentlichen „führt“ man immer noch ein Leben, indem man sich bietende Gelegenheiten nutzt, das Leben und das Leid eines ande- ren anzuerkennen. Schon die bloße Nennung des Namens kann ein außer- ordentlicher Akt der Anerkennung sein, insbesondere für solche, die namen- los, zur bloßen Nummer geworden sind, oder gar nicht mehr angesprochen werden.

Öffentlichkeit und Privatheit

Hannah Arendt beharrt auf dem entscheidenden Unterschied zwischen dem Wunsch zu leben und dem Wunsch, gut zu leben oder vielmehr dem Wunsch nach dem richtigen Leben.2 Für Arendt war Überleben kein Selbstzweck und sollte auch keiner sein, da Leben an sich kein inhärenter Wert ist. Nur als gutes Leben ist ein Leben lebenswert. Sie löste das sokratische Dilemma mühelos, vielleicht jedoch, so scheint mir, ein wenig zu mühelos. Ich bin mir nicht sicher, ob ihre Lösung für uns noch brauchbar ist; ich bin mir nicht ein- mal sicher, ob sie je wirklich brauchbar war. Das Leben des Körpers musste für Arendt fast durchgängig vom Leben des Geistes getrennt werden; deshalb unterschied sie auch in ihrem Werk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ zwischen der Sphäre des Öffentlichen und des Privaten. Zum Privaten gehören demnach der Bereich der Bedürfnisse, die Reproduktion des materiellen Lebens, Sexualität, Leben, Tod und Ver- gänglichkeit. Arendt war klar , dass die Sphäre des Privaten die des öffent- lichen Handelns und Denkens stützt, wobei das Öffentliche für sie jedoch definiert war durch Handeln und das schloss die wirksame Rede ein. Die verbale Tat war somit der Handlungsvollzug im deliberativen und öffentlichen politischen Raum. Die öffentliche Sphäre betrat man für sie vom Privaten her; sie war also von Grund auf abhängig von der Reproduktion des Privaten und setzte einen klar erkennbaren Übergang vom privaten zum öffentlichen Raum voraus. Das Private wird zum notwendigen Hintergrund der öffentlichen Handlung. Aber ist das ein Grund dafür, ihm die Rolle des Vor-politischen zuzuschreiben? Ist es nicht wichtig, ob es gleichberechtigte, würdevolle oder gewaltlose Beziehungen in diesem schattenhaften Hinter- grund gibt, in dem Frauen, Kinder, Alte und Sklaven existieren? Wird eine Sphäre der Ungleichheit verleugnet, um eine andere Sphäre der Gleichheit zu rechtfertigen und zu stärken, dann brauchen wir ganz gewiss eine Politik, die imstande ist, diesen Widerspruch und diese zugrunde lie- gende Verleugnung zu benennen und bloßzustellen. Mit Arendts Definition von Öffentlichem und Privatem laufen wir Gefahr, diese Verleugnung fort- zuschreiben. Schließen wir uns Arendts Unterscheidung von Privatem und Öffentlichem an, akzeptieren wir auch die Verleugnung der Abhängigkeit als Voraussetzung der Politik, statt jene Verleugnungsmechanismen selbst zum Gegenstand unserer eigenen kritischen Analyse zu machen.

2 Hannah Arendt, Die Antwort des Sokrates, in: dies., Vom Leben des Geistes Bd. 1, München 1989.

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Es ist in der Tat die Kritik jener nicht anerkannten Abhängigkeit, von der eine neue Körperpolitik auszugehen hat, eine Politik, die bei der Einsicht in die menschliche Abhängigkeit und wechselseitige Abhängigkeit einsetzt oder die, anders gesagt, der Beziehung zwischen Prekarität und Performa- tivität gerecht zu werden vermag.

Öffentliche Demonstrationen oder politische Aktionen

Könnte man also bei dieser Abhängigkeit und bei den Normen ansetzen, die deren Verleugnung erleichtern? Welchen Unterschied würde ein solcher Ausgangspunkt für die Idee der Politik, ja für die Rolle der Performativität im Politischen machen? Lässt sich die handlungsbezogene und aktive Dimen- sion der performativen Rede von den anderen Dimensionen des körperlichen Lebens, einschließlich der Abhängigkeit und Verletzlichkeit trennen, von Daseinsweisen des lebendigen Körpers, die sich nicht einfach oder nicht voll- ständig in Formen eindeutigen Handelns überführen lassen? Wir müssten nicht nur auf die Idee verzichten, dass die verbale Sprache den Menschen von den nicht-menschlichen Tieren unterscheidet; wir müss- ten darüber hinaus jene Dimensionen des Sprechens anerkennen, denen nicht immer bewusste und überlegte Intentionen zugrunde liegen. Zudem vollzieht sich die Performativität des menschlichen Tieres über Gesten, Haltung, Bewegungsart, Klang und Bild, über ganz unterschied- liche Ausdrucksmittel, die sich nicht auf öffentliche Formen der verbalen Äußerung reduzieren lassen. Das Arendtsche republikanische Ideal muss zu einem noch umfassenderen Verständnis der sinnlich leibhaften Demokratie führen. Die Art und Weise, wie wir auf der Straße zusammenkommen, singen oder auch Stille bewahren, kann Teil der performativen Dimension der Poli- tik sein und ist es auch, wobei die Rede nur ein körperlicher Akt unter ande- ren ist. Körper handeln also, wenn sie sprechen, gewiss, aber Sprechen ist sicherlich nicht die einzige Art, in der Körper handeln – und ganz bestimmt nicht die einzige Art ihres politischen Handelns. Wenn öffentliche Demons- trationen oder politische Aktionen sich gegen versagende Formen der Unter- stützung richten – gegen Nahrungsmangel und fehlende Unterkünfte, gegen ungesicherte oder unbezahlte Arbeit –, dann wird, was zuvor als „Hinter- grund“ der Politik galt, zu deren explizitem Gegenstand. Wenn Menschen sich im Protest gegen aufgezwungene Prekarität ver- sammeln, dann handeln sie performativ; sie geben der Arendtschen Idee der konzertierten Aktion eine körperliche Form. Die Performativität der Politik ergibt sich in solchen Momenten jedoch aus Bedingungen der Prekarität und in der politischen Opposition zu dieser Prekarität. Wenn ganze Bevöl- kerungsgruppen von der Wirtschafts- und Ordnungspolitik aufgegeben werden, dann gelten die Leben ihrer Angehörigen als keiner Unterstützung wert. Gegen eine solche Politik besteht die heutige Politik der Performativität auf der wechselseitigen Abhängigkeit lebendiger Wesen und auf den ethi- schen und politischen Pflichten, die sich aus einer jeden Politik ergeben, die

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 103 19.09.12 11:07 104 Judith Butler

eine Bevölkerungsgruppe des lebbaren Lebens beraubt oder zu berauben sucht. Sie ist zudem ein Weg, Werte inmitten eines biopolitischen Projekts zu artikulieren und umzusetzen, das solche Bevölkerungsgruppen zu ent- werten droht.

Das Überleben als Vorbedingung für alle weiteren Forderungen

Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass wir nicht für ein gutes, ein lebbares Leben kämpfen können, ohne den Bedürfnissen Rechnung zu tragen, die dem Kör- per seine Existenz sichern. Man muss verlangen, dass Körper haben, was sie zum Überleben brauchen, denn ihr Überleben ist die Vorbedingung für alle weiteren Forderungen. Dieses Verlangen erweist sich jedoch als unzurei- chend, denn wir überleben ja, um zu leben, und Leben, auch wenn es Über- leben voraussetzt, muss mehr als bloßes Überleben sein, um lebbares Leben zu sein.3 Man kann überleben, ohne imstande zu sein, sein Leben zu führen. Und es gibt gewiss Situationen, in denen das Überleben dann nicht der Mühe wert ist. Die übergreifende Forderung muss demnach die nach einem leb- baren Leben sein, das heißt nach einem Leben, das gelebt werden kann. Wie aber können wir über das lebenswerte Leben nachdenken ohne ein singuläres oder einförmiges Ideal dieses Lebens zu zeichnen? Meines Erach- tens geht es nicht darum herauszufinden, was das Menschliche wirklich ist oder sein sollte. Vielmehr müssen wir lernen, auf die komplexe Menge von Beziehungen, ohne die keiner von uns existieren könnte, aufmerksam zu werden und diese zu verstehen. Kein menschliches Wesen kann überle- ben oder am Leben bleiben, ohne dass es von einer es stützenden Umwelt abhängt, von sozialen Beziehungsformen und von wirtschaftlichen Formen, die allesamt Interdependenz voraussetzen und strukturieren. Es stimmt, dass Abhängigkeit mit Gefährdung einhergeht, und diese Gefährdung besteht mitunter in einem Ausgesetztsein gerade gegenüber jenen Formen der Macht, die unser Dasein bedrohen oder einschränken. Das bedeutet indes nicht, dass wir Gesetze gegen die Abhängigkeit von oder gegen die Gefährdung durch bestimmte soziale Formen erlassen kön- nen. Tatsächlich könnten wir gar nicht verstehen, weshalb ein richtiges Leben im falschen so schwierig ist, wenn wir gegenüber jenen Machtfor- men immun wären, die unseren Lebenswillen ausbeuten oder manipulieren. Wir wollen leben, wir wollen sogar gut leben, im Rahmen sozialer Organi- sationen, unter biopolitischen Regimes, die unser Leben selbst zuweilen zu entbehrlichen oder nachrangigen machen oder, schlimmer noch, die es zu negieren suchen. Wenn wir ohne soziale Lebensformen nicht sein können und wenn die einzigen verfügbaren sozialen Lebensformen solche sind, die unseren Lebensaussichten entgegenwirken, stecken wir in einer schwieri- gen, wenn nicht unmöglichen Bindung fest.

3 Vgl. hierzu in Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a. M. 2012, die Einleitung: Gefährdetes Leben, betrauerbares Leben.

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Noch einmal anders ausgedrückt: Wir sind als Körper angreifbar durch andere und durch Institutionen, und diese Gefährdung bildet einen Aspekt der sozialen Daseinsweise von Körpern. Normativ geht es mir indes nicht ein- fach um eine Gleichverteilung von Gefährdung, denn viel hängt davon ab, ob die verteilte gesellschaftliche Form der Gefährdung ihrerseits eine lebbare ist. Man kann nicht wollen, dass jedermanns Leben gleich unlebbar ist. So wichtig Gleichheit als Ziel ist, bleibt sie doch ungenügend, solange wir nicht wissen, wie wir die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der zu verteilenden gesellschaftlichen Form der Gefährdung bemessen können. Einerseits bin ich der Auffassung, dass die Verwerfung von Abhängigkeit und insbesondere die Verwerfung der gesellschaftlichen Form der Gefähr- dung, zu der sie führt, eine Unterscheidung ermöglicht zwischen jenen, die abhängig sind, und jenen, die es nicht sind. Und diese Unterscheidung steht im Dienst der Ungleichheit, indem sie Formen des Paternalismus stützt oder Bedürftige in essentialistischen Begriffen zu fassen erlaubt. Auf der anderen Seite bin ich der Auffassung, dass wir eine soziale und politische Welt, die Prekarität im Namen lebbaren Lebens zu überwinden sucht, nur mit Hilfe einer Konzeption von Interdependenz denken können, die der körperlichen Abhängigkeit, den Bedingungen der Prekarität und den Potentialen der Per- formativität gerecht wird. Wenn wir nun zu unserer Ausgangsfrage zurückkehren – Wie ist ein gutes Leben im schlechten, ein richtiges im falschen möglich? –, können wir diese moralische Frage im Licht ihrer sozialen und politischen Bedingungen neu bedenken, ohne die moralische Bedeutung der Frage zu übergehen. Mög- licherweise hängt die Frage nach dem richtigen Leben mit der Möglich- keit zusammen, ein Leben überhaupt führen zu können, und auch mit dem Gefühl, ein Leben zu besitzen, es zu leben, ja mit dem Gefühl, lebendig zu sein.

Die Ideale von Gerechtigkeit und Gleichheit

Es gibt immer die Möglichkeit einer zynischen Antwort, nach der wir zu dem Schluss kommen könnten, dass die Moral ihren Platz der Politik im weitesten Sinn zu überlassen hat, das heißt einem gemeinsamen Projekt zur Realisie- rung der Ideale von Gerechtigkeit und Gleichheit in einer Art und Weise, die universalisierbar ist. Wenn man jedoch zu diesem Schluss gelangt, bleibt quälend und beharrlich ein Problem bestehen: Es gibt dann immer noch die- ses „Ich“, das so oder so in eine breitere soziale und politische Bewegung ein- treten, sich mit ihr auseinandersetzen und sich in ihr auf eine Praxis festle- gen muss, eine Bewegung, die dieses „Ich“ und das Problem seines eigenen „Lebens“ zugleich verdrängen und ausmerzen will, woraufhin es zu einer anderen Form der Auslöschung kommt, zum Verschwinden in einer allge- meinen Norm und damit zur Zerstörung des lebendigen Ich. Es kann nicht sein, dass die Frage, wie man sein Leben am besten führt, im Verschwinden und in der Zerstörung dieses „Ich“ und seines „Lebens“

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 105 19.09.12 11:07 106 Judith Butler

gipfelt. Wenn es dazu kommt, führt die Beantwortung der Frage zur Zerstö- rung der Frage selbst. Ich bin zwar der Auffassung, dass die Frage der Moral sich nicht außerhalb des Kontextes des gesellschaftlichen und wirtschaftli- chen Lebens stellen lässt, ohne schon Vorentscheidungen darüber getroffen zu haben, wer als lebendiges Subjekt zählt. Deshalb müssen wir uns allen Formen von Gewalt entgegenstellen, die Leben zerstören oder unlebbar machen. Kehren wir jedoch zu Adornos Behauptung zurück, man könne kein richtiges Leben im falschen führen, dann erscheint der Begriff des Lebens hier zweimal, und das ist kein Zufall. Wenn ich die Frage aufwerfe, wie ein richtiges Leben zu führen ist, dann beziehe ich mich auf ein „Leben“, das gut oder richtig ist, ganz gleich, ob ich es bin, der es führt – und doch bin ich es, der eine Antwort auf die Frage braucht, und so ist es dann in bestimmtem Sinn auch mein Leben, um das es hier geht. Anders gesagt: Schon aus der Binnenperspektive der Moral ist das Leben ein doppeltes. Die Frage nach dem richtigen Leben im falschen impliziert, dass wir zwar weiterhin darüber nachdenken können, wie ein richtiges Leben aussehen würde, jedoch nicht mehr ausschließlich in Begriffen des guten Lebens für den einzelnen. Wenn es zwei solche „Leben“ gibt – mein Leben und das rich- tige Leben, begriffen als soziale Form des Lebens –, dann ist das Leben des einen in dem des anderen impliziert. Das heißt, wenn wir über gesellschaftliche Leben sprechen, sprechen wir davon, wie das Soziale das Individuum durchdringt oder sogar die gesell- schaftliche Form der Individualität hervorbringt. Zugleich bezieht sich das Individuum auf sich selbst immer schon über Medien und auch die Spra- che, mit der es sich anerkennt, stammt schon von anderswo her. Das Soziale bedingt und vermittelt diese Anerkennung meiner selbst durch mich selbst. Wie wir von Hegel wissen, anerkennt das „Ich“, das sich selbst, sein eigenes Leben anerkennt, sich immer auch als Leben eines anderen. Der Grund für die Zweideutigkeit des „Ich“ und „Du“ liegt in ihrem Ein- gebundensein in ein System der Interdependenz, das Hegel „Sittlichkeit“ nennt. Und das bedeutet: Obgleich ich diese Anerkennung meiner selbst voll- ziehe, werden im Zuge dieser von mir ausgehenden Anerkennung bestimmte soziale Normen entwickelt, die nicht aus mir selbst stammen, auch wenn ich ohne sie nicht denkbar bin.

Kann Widerstand auf Protest reduziert werden?

In Adornos „Problemen der Moralphilosophie“ kulminiert die Ausgangs- frage nach dem richtigen Leben im falschen in der Behauptung, dass zum Zweck des richtigen Lebens Protest gegen das falsche erhoben werden muss. Er sagt, dass „das Leben selbst eben so entstellt und verzerrt ist, dass im Grunde kein Mensch in ihm richtig zu leben, seine eigene menschliche Bestimmung zu realisieren vermag – ja, ich möchte fast so weit gehen: dass die Welt so eingerichtet ist, dass selbst noch die einfachste Forderung von Integrität und Anständigkeit eigentlich fast bei einem jeden Menschen über-

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 106 19.09.12 11:07 Kann man ein gutes Leben im schlechten führen? 107

haupt notwendig zu Protest führen muss.“(248) Interessant ist, dass Adorno an diesem Punkt sagt, er würde „fast“ so weit gehen, wie er dann geht. Er ist sich nicht sicher, ob die Formulierung ganz richtig ist, aber er bringt sie den- noch vor. Er überwindet sein Zögern, vermerkt es aber. Kann man so einfach sagen, dass das Streben nach dem moralischen Leben unter den heutigen Gegebenheiten notwendig zum Protest führen muss? Kann Widerstand auf Protest reduziert werden? Oder ist Protest für Adorno die gesellschaftliche Form, die das Streben nach dem richtigen Leben heute annimmt? Derselbe spekulative Ton hält sich durch, wenn er fortfährt: „Das einzige, was man vielleicht sagen kann, ist, dass das richtige Leben heute in der Gestalt des Widerstandes gegen die von dem fortgeschrittensten Bewusstsein durchschauten, kritisch aufgelösten Formen eines falschen Lebens bestünde.“ (248 f.) Im Deutschen spricht Adorno vom „falschen“ Leben, das im Englischen aber als „das schlechte Leben“ wiedergegeben wird. Der Unterschied ist natürlich sehr wichtig, denn moralisch kann das Stre- ben nach dem guten Leben sehr wohl ein richtiges Leben sein, aber die Bezie- hung zwischen beiden ist erst noch zu klären. Protest und Widerstand sind Merkmale von öffentlichen Kämpfen, von Massenaktionen, aber in Adornos Satz charakterisieren sie die kritischen Fähigkeiten einiger weniger. Adorno selbst schwankt hier etwas, selbst da, wo er nachfolgend seine spekulativen Bemerkungen erläutert; er erhebt eine etwas andere Forderung nach Refle- xion: „[D]ieser Widerstand gegen das, was die Welt aus uns gemacht hat, ist nun beileibe nicht bloß ein Unterschied gegen die äußere Welt […] sondern dieser Widerstand müsste sich allerdings in uns selber gegen all das erwei- sen, worin wir dazu tendieren, mitzuspielen.“ (249)

Protest und Widerstand: Wenn Körper Nein sagen

Auszuschließen scheint Adorno in solchen Momenten den Gedanken des öffentlichen Widerstandes, Formen der Kritik, bei denen sich Körper auf den Straßen zusammenfinden, um ihre Gegnerschaft gegen derzeitige Macht- regimes zum Ausdruck zu bringen. Widerstand wird jedoch auch begriffen als „Neinsagen“ zu dem Teil von uns, der beim Status quo „mitspielen“ will. Widerstand also zum einen als Form der Kritik einiger weniger Auserwählter und Widerstand zum anderen als Widerstand gegen einen Teil des Selbst, der sich dem Falschen anschließen will, eine innere Prüfung gegen die Kom- plizenschaft. Damit wird die Idee des Widerstandes in einer Weise beschränkt, die ich letztlich nicht akzeptieren würde. Für mich werfen beide Forderungen wei- tere Fragen auf: Welcher Teil des Selbst wird im Widerstand verworfen und welcher gestärkt? Wenn ich mich jenem Teil meiner selbst verweigere, der beim falschen Leben mittut, habe ich mich dann gereinigt? Habe ich einge- griffen, um die Struktur der sozialen Welt zu verändern, von der ich mich fernhalte, oder habe ich mich isoliert? Bin ich gemeinsam mit anderen in eine

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 107 19.09.12 11:07 108 Judith Butler

Widerstandsbewegung und einen Kampf für soziale Veränderungen ein- getreten? Soll Widerstand tatsächlich zu einer neuen Lebensweise führen, zu einem lebbareren Leben im Gegensatz zur ausdifferenzierenden Zuwei- sung von Prekarität, dann müssen Akte des Widerstandes zugleich Nein zur einen und Ja zur anderen Lebensweise sagen. Das gemeinsame Vorgehen im Widerstand findet sich meiner Auffassung nach manchmal schon im Sprech- akt oder im heroischen Kampf, aber auch in körperlichen Gesten des Nein- sagens, des Schweigens, der Bewegung, der Weigerung, sich von der Stelle zu bewegen, in all den Haltungen, die für jene Bewegungen charakteris- tisch sind, die demokratische Prinzipien der Gleichheit und wirtschaftliche Prinzipien der Interdependenz schon in den Aktionen umsetzen, mit denen sie für eine neue, radikaler demokratische und substanziell unabhängigere Lebensweise demonstrieren.

Bedingungen des demokratischen Lebens

Eine soziale Bewegung ist selbst eine soziale Form, und wenn eine soziale Bewegung eine neue Lebensweise, eine Form des lebbaren Lebens verlangt, dann muss sie in diesem Moment auch jene Prinzipien umsetzen, die sie ver- wirklichen will. Das heißt, wenn sie funktioniert, gibt es in ihr eine perfor- mative Inszenierung radikaler Demokratie, die allein zum Ausdruck brin- gen kann, was ein gutes im Sinne eines lebbaren Lebens bedeuten könnte. Ich habe darauf hingewiesen, dass Prekarität der Zustand ist, gegen den sich verschiedene neue soziale Bewegungen wehren. Diesen Bewegungen geht es im Kampf gegen die Prekarität nicht um die Überwindung der Interdependenz; es geht ihnen vielmehr um Bedingun- gen, unter denen die Interdependenz und Verletzlichkeit lebbar werden. Das ist Politik, in der die performative Aktion körperlich und pluralistisch wird und sich kritisch den Bedingungen körperlichen Überlebens und Gedeihens unter den Vorgaben radikaler Demokratie zuwendet. Soll ich ein gutes Leben führen, dann wird es ein Leben gemeinsam mit anderen sein, ein Leben, das ohne diese anderen gar kein Leben wäre. Ich verliere dabei nicht dieses Ich, das ich bin; wer immer ich bin, verwan- delt sich im Bezug zu den anderen, da ich, um zu leben und gut zu leben, notwendig von anderen abhängig und auf andere angewiesen bin. Unsere gemeinsame Gefährdung durch Prekarität ist nur ein Grund unserer poten- tiellen Gleichheit und unserer wechselseitigen Verpflichtung zur gemein- samen Schaffung der Bedingungen für ein lebbares Leben. Indem wir uns eingestehen, dass wir einander brauchen, bekennen wir uns zugleich zu grundlegenden Prinzipien der sozialen und demokratischen Bedingungen dessen, was wir als „das gute Leben“ bezeichnen könnten. Das sind entscheidende Bedingungen demokratischen Lebens, entschei- dend in dem Sinn, dass sie Bestandteil einer andauernden Krise, aber auch Bestandteil eines Denkens und Handelns sind, das sich den Bedrängnissen unserer Zeit stellt.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 108 19.09.12 11:07 Fetisch Selbstbestimmung PID bis Demenz: Erkundungen im biopolitischen Feld

Von Ulrike Baureithel

in kleiner Zipfel Haut hat vor drei Monaten in der Republik ein regelrech- E tes diskursives Erdbeben ausgelöst. Keine Entscheidung in bioethischen Fragen hat so viel Unruhe provoziert wie das Urteil des Kölner Landgerichts zur Beschneidung. Im Kern geht es um die Gewichtung zweier Grundrechte: das Recht auf freie Religionsausübung der Eltern und das Recht auf körper- liche Unversehrtheit des Kindes. Das Gericht hat dabei das Selbstbestim- mungsrecht des Kindes höher gewertet als das Recht der Eltern, ihre Kinder in ihrem Glauben zu erziehen.1 Auch in vielen anderen Zusammenhängen ist Selbstbestimmung mittler- weile zu einem zentralen Leitbegriff in der diskursiven Kampfzone avanciert. Wer Selbstbestimmung einklagt, weiß das aufgeklärte Publikum zumeist auf seiner Seite; wer Entscheidungsrechte beschneiden will, macht sich der Bevormundung verdächtig. Längst sind die Zeiten vorbei, als Frauen noch misstrauisch beäugt wur- den, wenn sie für das Recht auf Abtreibung auf die Straße gingen und auf diese Weise die Unverfügbarkeit ihres Körpers reklamierten. Heutzutage trifft auf offene Ohren, wer darauf beharrt, selbst über sich, seinen Körper, sein Schicksal bestimmen zu wollen: Das gilt für Frauen ebenso wie für geschlechtlich nichtnormierte Menschen, für Menschen mit Behinderun- gen, Heiratswillige, halbwüchsige Scheidungskinder oder sterbenskranke Menschen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Das Selbstbestimmungsrecht ist ein hohes und unveräußerliches Gut, das nach dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts 1983 Verfassungsrang erhalten hat. Nichts hat die Frauenemanzipation so vorangetrieben wie die Forderungen, selbst darüber zu entscheiden, wann und unter welchen Umständen eine Frau ein Kind will, und dass niemand das Recht hat, ihr Gewalt anzutun. Auch Men- schen mit Behinderungen würden vielleicht noch heute unter bevormunden- der Kuratel stehen, wenn sie nicht vehement für Selbstbestimmung gestrit- ten hätten. Es geht in den folgenden Überlegungen also nicht darum, das Selbstbestimmungsrecht als einklagbares Recht zu demontieren. Inspiziert werden sollen vielmehr das Feld politischer Rhetorik und die Bedingungen,

1 Kritisch dazu Heiner Bielefeldt, Der Kampf um die Beschneidung. Das Kölner Urteil und die Religions- freiheit, in: „Blätter“, 9/2012, S. 63-71.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 109 19.09.12 11:07 110 Ulrike Baureithel

unter denen heute (vermeintlich) selbstbestimmte Entscheidungen getroffen werden. Der Soziologe Uwe Krähnke ist in einer aufschlussreichen Studie der Kar- riere des Begriffs nachgegangen und unterscheidet ein „paternalistisches“ von einem „partizipativen“ Verständnis von Selbstbestimmung, also dessen, was „gesollt“ und was „gewollt“ wird.2 Der „öffentliche Deutungskampf“, den er im Hinblick auf die Abtreibungsauseinandersetzung für die 1990er Jahre konstatiert, konturierte auch die biopolitischen Debatten der folgenden Jahrzehnte, allerdings mit einer bedeutsamen Verschiebung: Das „Gesollte“ muss heutzutage gar nicht mehr von außen an das Individuum herangetra- gen werden, sondern scheint deckungsgleich mit dem individuell „Gewoll- ten“ und umgekehrt. Selbstbestimmung, geht der Sozialforscher Thomas Lemke sogar so weit zu behaupten, sei „unser Schicksal“ geworden.3 In der Nobilitierung des Selbstbestimmungsrechts drückt sich zunächst der Individualisierungsschub moderner Gesellschaften aus. Die Entlassung aus der Abhängigkeit bedeutet auch die Freiheit der Wahl und damit die Auf- forderung, ja fast schon Nötigung, sich zu entscheiden: für die Automarke, den Stromanbieter oder die Versicherung, für einen Partner oder einen Beruf. Wichtig ist bei jeder Entscheidung, dass sie „richtig“ ist, eine falsche hat mehr oder minder schwere Konsequenzen. Richtige Entscheidungen sind daher solche, bei denen das Risiko eingegrenzt und minimiert wird. Deshalb bleibt man vielleicht doch besser beim Großanbieter, sucht sich den Partner in derselben sozialen Schicht oder folgt bei der Berufswahl nicht den Nei- gungen, sondern der erwarteten Gratifikation.

An der Demarkationslinie von Gesundheit und Krankheit

Eine besondere Rolle spielt das Recht auf Selbstbestimmung jedoch an der Demarkationslinie von Gesundheit und Krankheit. So beanspruchen die vor 50 Jahren noch völlig unbekannten Patienten- und Selbsthilfegruppen, ihre gesundheitspolitischen Interessen durchzusetzen; sie sind Teil der neuen „Biosozialität“ innerhalb der Gesellschaft, durch die biomedizinisches Wis- sen in die Alltagspraxis transferiert wird. Zugleich müssen Patienten nicht nur in jede an ihnen vorzunehmende Prozedur einwilligen, sondern sie sol- len auch darüber informiert werden, was mit ihren körperbezogenen Daten und Stoffen passiert. Allerdings sind dem Grenzen gesetzt: Wo etwa Blut- oder Gewebeproben in sogenannten Gewebebanken gelagert werden, ist deren Verwendung vom Einzelnen kaum noch kontrollierbar. Auch dient die vermeintlich selbstbestimmte Einwilligung in medizinische Operationen vor allem der Absicherung der Ärzte vor Schadensersatzklagen, wenn der Patient die lange Liste möglicher Operationsschäden unterschreibt.

2 Uwe Krähnke, Selbstbestimmung. Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer normativen Leitidee, Weilerswist 2007. 3 Thomas Lemke, Veranlagung und Verantwortung. Genetische Diagnostik zwischen Selbstbestim- mung und Schicksal, Bielefeld 2004, S. 92.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 110 19.09.12 11:07 Fetisch Selbstbestimmung 111

Richtig blutig kann die selbstbestimmte Entscheidung werden, wenn eine Frau der Aufforderung zum Mammographie-Screening folgt und einen posi- tiven Befund erhält, der sich nachträglich als falsch herausstellt. In England wurden sogar Fälle bekannt, bei denen sich Frauen vorsorglich die Brust haben abnehmen lassen, weil sie angeblich Trägerinnen des Brustkrebsgens sind und das Risiko, irgendwann einmal an Brustkrebs zu erkranken, nicht eingehen wollen. Eine furchtbare Vorstellung, aber unbedingt eine Entschei- dung unter dem Vorzeichen der Selbstbestimmung.

Der Mensch und sein „soziales Schicksal“

Auf die veränderte Wahrnehmung von subjektiver Gefährlichkeit hin zu einem objektiven Risiko hat bereits Anfang der 1980er Jahre der französische Soziologe Robert Castel aufmerksam gemacht: Die „Präventionspolitiken“, behauptet er, nähmen nicht mehr persönliche Gefährdungen in den Blick, sondern statistische Korrelationen und Bevölkerungsgruppen, die nach Risikoprofilen begutachtet werden. Diese sogenannten Risikopopulationen würden dann regelmäßig überwacht. Damit wird die Beziehung zwischen Subjekt und konkreter Gefährdung aufgehoben, wie beispielsweise beim Neugeborenen-Screening, bei dem das Baby systematisch auf Anomalien aller Art durchgecheckt wird. Das lässt sich aber auch auf andere Gruppen übertragen: Arbeitslose, Behinderte, Hochbegabte, Risikoschwangere usw., die, so Castel, nicht mehr ausgegrenzt, sondern durch besondere soziale Für- sorge reintegriert würden. Auf diese Weise werde dem Menschen ein „sozia- les Schicksal“ zugewiesen, das in einem bestimmten Rahmen zu steuern ihm selbst überantwortet wird.4 In der humangenetischen Beratung etwa sitzen dann Paare, die sich, völlig frei, für diesen oder jenen Embryo entscheiden dürfen. „Entscheidungsfalle“ nennt die Bremer Soziologin Silja Samerski das Dilemma dieser von Experten angeleiteten Verunsicherten: Denn ein statis- tisches Risikoprofil sagt ja nichts über ein konkretes Risiko aus.5 Das Selbstbestimmungsrecht wird strategisch und taktisch insbesondere auf den biopolitischen Spielfeldern eingesetzt. Es ist kein Zufall, dass Selbst- bestimmung an den „Rändern“ des Lebens – dort, wo das Leben beginnt und endet – eine besondere Rolle spielt, denn diese Zonen sind hochsensibel und potentiellen Übergriffen ausgesetzt. So setzt schon die Definition darum, wann ein Leben beginnt und wann es verlöscht, eine wissenschaftliche und publizistische Armada in Bewegung. Noch weit mehr polarisiert die Frage, wer über die nicht oder nur noch eingeschränkt entscheidungsfähigen Men- schen verfügt. Sind Eltern befugt, einen Embryo, weil er nicht perfekt ist, zu verwerfen? Wer bestimmt darüber, was mit einem Fötus mit auffälligem Genprofil passiert? Darf der sterbenskranke lebensmüde Mensch andere

4 Robert Castel, Von der Gefährlichkeit zum Risiko, in: Manfred Wambach (Hg.), Der Mensch als Risiko. Zur Logik von Prävention und Früherkennung, Frankfurt a. M. 1983, S. 51-74, hier: S. 68. 5 Silja Samerski, Die Entscheidungsfalle. Wie genetische Aufklärung die Gesellschaft entmündigt, Darmstadt 2010.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 111 19.09.12 11:07 112 Ulrike Baureithel

auffordern, ihm den Giftbecher zu reichen? An diesen Diskursen aus der neu- eren bioethischen Debatte soll im Folgenden gezeigt werden, wie das Selbst- bestimmungsrecht in den Dienst einer risikoorientierten Nützlichkeitsethik gestellt wird.

Pränataldiagnostik – Selbstbestimmung im Dienste der Nützlichkeit

Das aktuellste Beispiel stammt aus dem Bereich der Pränataldiagnostik. Schon vor vier Jahren stellten amerikanische Wissenschaftler einen Blut- test vor, der ohne invasive Maßnahmen wie die Fruchtwasseruntersuchung in der Lage sein soll, genetische Ausprägungen wie Trisomie 21 (das soge- nannte Down-Syndrom) frühzeitig zu erkennen. Um die Zulassung des sogenannten PraenaTests in Deutschland gibt es seit längerem eine Ausei- nandersetzung. Kritiker sehen die Gefahr, dass der Bluttest die Diagnostik- schwelle senkt und Frauen den Test bedenkenloser in Anspruch nehmen. In der Folge würden noch mehr Föten mit einem „alarmierenden“ genetischen Befund abgetrieben werden: Schon heute werden 90 Prozent jener Kinder nicht mehr ausgetragen, bei denen im Mutterleib Trisomie 21 diagnostiziert wird.6 Eltern, sagt etwa die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Christiane Woopen, hätten jedoch „kein Recht, die Gene ihres Kindes untersuchen zu lassen, wenn daraus nichts Positives für das Kind folgt.“7 Diese Einschät- zung unterstützt ein Gutachten des Rechtswissenschaftlers Klaus Ferdinand Gärditz. Demnach verstößt der Bluttest sowohl gegen das Gendiagnostik- gesetz als auch gegen das Diskriminierungsverbot behinderter Menschen.8 Die Kieler Strafrechtlerin Monika Frommel hingegen gesteht den Eltern das Recht auf Wissen zu wie auch die Entscheidung darüber, ob sie ein solches Kind haben wollen oder nicht.9 Im Juli dieses Jahres war die Einführung des PraenaTest verschoben worden. Das Regierungspräsidium Freiburg, zustän- dig für das den Test produzierende Unternehmen, hatte Erklärungsbedarf signalisiert. Im August erklärte die Firma LifeCodexx jedoch überraschend, der Test stünde nun in 70 Praxen und Kliniken in Deutschland, Österreich, Liechtenstein und der Schweiz zur Verfügung. Für ein Verbot sah das Sozial- ministerium Baden-Württemberg nunmehr keinen Anlass, weil es sich bei dem Test um ein Medizinprodukt handelte. Ein solches falle jedoch weder unter das Gendiagnostikgesetz noch unter das Arzneimittelrecht.10 Auch in diesem Fall streiten sich Kritiker wie Befürworter des Tests um die Reichweite des Selbstbestimmungsrechts. Einmal als Individualrecht durchgesetzt, forciert es paradoxerweise einen genetischen Reduktionismus, der die vorgeblich autonome Entscheidung eigentlich ad absurdum führt:

6 Vgl. Christina Berndt, Ethiker befürchten neue Dimension in der Selektion Ungeborener, www.sued- deutsche.de, 8.6.2012. 7 Einfacher Bluttest erkennt Down-Syndrom bei Embryos, www.spiegel.de, 5.7.2012. 8 Klaus Ferdinand Gärditz, Gutachterliche Stellungnahme zur Zulässigkeit des Diagnostikprodukts „PraenaTest“, www.behindertenbeauftragter.de. 9 Vgl. „Süddeutsche Zeitung“, 6.7.2012. 10 Vgl. Bluttest auf Down-Syndrom kommt in die Praxen, www.spiegel.de, 20.8.2012; Risiko mit System, www.spiegel.de, 11.1.2012.

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Es ist nicht das Individuum, sondern das Gen, das die (Aus-)Wahl bestimmt. Dass derartige Blutuntersuchungen am Ende nicht nur auf die Feststellung von Trisomie 21 beschränkt bleiben werden, beweist die US-amerikani- sche Diskussion. Dort bemängeln Humangenetiker den derzeit verfügbaren Test als nicht weitgehend genug, weil andere Chromosomenstörungen wie etwa Trisomie 13 oder Trisomie 18 damit nicht festgestellt werden können. Die Schwangeren würden sich, wenn der Befund im Hinblick auf Trisomie 21 unbedenklich ist, in falscher Sicherheit wiegen.11 Andererseits könnten mit der fortschreitenden Decodierung des Genoms und kostengünstigeren Testverfahren – der PraenaTest schlägt derzeit noch mit 1400 Euro zu Buche – immer mehr und keineswegs nur tödlich verlaufende genetische Störungen und Krankheiten ins Visier geraten. Wo liegt dann die Grenze der „freien“ Entscheidung? Biomarker und genetische Tests verführen außerdem dazu zu glauben, dass bestimmte Dispositionen nicht nur „wahrscheinlich“ seien, sondern „determiniert“, also mit Sicherheit auftreten können. Dies jedoch ist mit- nichten der Fall: Bei den Tests werden Wahrscheinlichkeiten hochgerechnet. Hinzu kommt, dass viele dieser Tests unausgereift auf den Markt kommen und fehlerhaft sind. Einen „sicheren“ Befund kann es daher gar nicht geben. Nach den geltenden Richtlinien soll die genetische Beratung vor vorge- burtlicher Diagnostik auch „Informationen zu den aktuellen Untersuchungs- möglichkeiten, ihrer Aussagekraft (Einordnung eines auffälligen Befunds) und mögliche Einschränkungen, ihrer Sensitivität, Spezifität und positiven/ negativen Wert, insbesondere aber auch über die Bedeutung falsch positi- ver und falsch negativer Resultate“12 geben. Dieser Passus alleine verweist schon auf die Komplexität einer vorgeburtlichen genetischen Risikoabwä- gung, über die zu befinden dann der Frau oder den Paaren überlassen bleibt. Silja Samerski hat die Praxis der humangenetischen Beratung empirisch begleitet und vergleicht diesen Entscheidungsprozess mit einem managerial decision-making, also einer Management-Strategie.13 Eine Frau, die ihren Embryo testen lässt, muss also nicht nur unbeding- tes Vertrauen in die Verlässlichkeit der Tests haben, sondern auch zu den humangenetischen Experten, die die Ergebnisse interpretieren. Zugleich muss sie darüber nachdenken, wie ihre Entscheidung gesellschaftlich akzeptiert wird. Hinter solchen Entscheidungen steht bei genauerer Betrach- tung also ein weit verzweigtes soziales Beeinflussungsnetzwerk.

Streitfall Präimplantationsdiagnostik

Auch auf einem verwandten Feld, der Präimplantationsdiagnostik (PID), ist Selbstbestimmung eingebunden in die Risikorationalität. Im Sommer

11 Vgl. Was Mutters Blut enthält, in: „Die Zeit“, 16.5.2012. 12 Richtlinien der Gendiagnostik-Kommission vom 11.7.2011, Bundesgesundheitsblatt, Nr. 54, S. 1248- 1256, hier: S. 1251. 13 Vgl. Samerski, a.a.O., S. 8.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 113 19.09.12 11:07 114 Ulrike Baureithel

vergangenen Jahres wurde das Präimplantationsgesetz im Parlament ver- abschiedet, im Dezember trat es in Kraft. Es dauerte aber ein geschlagenes Jahr, bis das Gesundheitsministerium die entsprechende Ausführungsver- ordnung vorlegte, woraufhin die kontroverse Debatte noch einmal aufkochte. Bei der PID geht es im Rahmen einer künstlichen Befruchtung um die gezielte Auswahl von Embryonen im Reagenzglas. Sie werden auf Krank- heiten und Schädigungen getestet und je nach Zustand transferiert oder verworfen. Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) hat sich mit der neuen Verordnung unter den PID-Skeptikern vor allem deshalb unbeliebt gemacht, weil die Anzahl der Zentren und die im Gesetz geforderten Ethikkommis- sionen nicht beschränkt werden. Das beeinflusst einerseits die Qualität der PID-Untersuchungen und könnte andererseits dazu führen, dass Betroffene sich an die in ihren Gutachten besonders liberal geltenden Zentren wenden. Die Verordnung stärkt außerdem den Verdacht, dass es am Ende doch um mehr als nur die 250 bis 300 Fälle von Paaren mit schweren Erbkrankheiten geht, mit denen die Öffentlichkeit derzeit beruhigt wird. Zeigt die Erfahrung mit der Geschichte der Pränataldiagnostik doch, wie sich ein ursprünglich als Ausnahme eingeführtes Verfahren zu einem flächendeckenden Scree- ning entwickelt kann. Mittlerweile haben sechs Bundesländer Bedenken und sogar Widerstand im Bundesrat angekündigt, es könnte also sein, dass eine neuerliche Diskussionsrunde um die PID ins Haus steht.14 In früheren PID-Debatten standen die gesellschaftlichen Folgen der Em- bryonenselektion im Vordergrund: Welche Entwicklung wird in Gang gesetzt, wenn man einmal die Tür zur Embryonenselektion öffnet? Was bedeutet das für die hierzulande lebenden Menschen mit Behinderungen? Wie reagiert die Gesellschaft auf eine Familie, die sich wissentlich für ein Kind mit Down-Syndrom entschieden hat?15 Doch diese Fragen sind inzwi- schen in den Hintergrund getreten. Mittlerweile spürt man den auf das Individuum orientierten mentalen Wandel, der sich nicht nur in der Parla- mentsentscheidung zur PID niederschlug, sondern auch das Medienecho bestimmte: Zu einem selbstbestimmten Leben scheint nunmehr auch das Recht auf ein gesundes Kind zu gehören. Empört, dass die PID-Gegner die Verordnung dazu instrumentalisierten, „das Votum des Parlaments durch die Hintertür wieder auszuhebeln“16, führen viele Kommentatorinnen nun ebenfalls das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen ins Feld: „Es wird nicht mehr von Dritten bewertet, ob Eltern psychisch wie sozial in der Lage sind, ein behindertes Kind großzuziehen. Was zählt, ist die Entscheidung der Eltern“, schreibt etwa Heike Haarhoff in der taz.17 Ebenfalls in der taz erhebt Simone Schmollack die betroffenen Eltern zu den „einzig zulässigen Richter- Innen in dieser Debatte“.18 Es scheint den Autorinnen gar nicht aufzufallen,

14 Vgl. Jens G. Reich, Im Zweifel für die Frau. Ein Plädoyer für die Präimplantationsdiagnostik, in: „Blät- ter“, 6/2011, S. 103-111. 15 Vgl. etwa Andrea Fischer, Bewährungsprobe Biopolitik. Schwierigkeiten bei der Gestaltung des gen- technischen Fortschritts, in: „Blätter“, 6/2001, S. 691-700. 16 Heike Haarhoff, Respekt für die Eltern, in: „die tageszeitung“ (taz), 13.7.2012. 17 Ebd. 18 Simone Schmollack, Das perfekte Kind, in: taz, 20.6.2012.

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dass sie dem von ihnen kritisierten „Totschlagargument“ der PID-Gegner – die Angst vor der schleichenden Optimierung des Menschen – lediglich ein anderes – die Selbstbestimmung – entgegensetzen.

Selbstbestimmung und die Rechte Dritter

Auch in diesem Fall ist kaum die Rede von der Qualität des vorgeblich selbstbestimmten Entscheidungsspielraums und davon, wo das Recht des Einzelnen endet, wenn es Dritte tangiert. Über das Schicksal des Embryos entscheidet sein Risikoprofil. Da die Eltern das Risiko aus durchaus nach- vollziehbaren Gründen möglichst klein zu halten trachten, werden sie sich für den „garantiert“ gesunden Embryo entscheiden. (Wobei eine Garantie ohnehin kein Arzt und kein Humangenetiker geben würde, weil die meisten Schädigungen bei und nach der Geburt eines Kindes entstehen.) Das gesell- schaftliche Klima bekräftigt diese Entscheidung ebenso wie das Wissen der Eltern, dass sie im Ernstfall mit einem behinderten oder kranken Kind alleine dastehen. So stellt sich „das Bild des Sozialen dar als ein homogener Raum, der durch vorgezeichnete Bahnen bestimmt wird, die einzuschlagen die Individuen entsprechend ihren Fähigkeiten oder Unfähigkeiten aufgefor- dert und ermuntert werden.“19 Ein solches Denken, sagt Robert Castel, läuft auf die Projektion einer Ordnung hinaus, die von Experten – in diesem Falle Humangenetikern – geplant und begleitet wird: die Perfektionierung der Prävention unter der Prämisse Selbstbestimmung.

Das Ende des Lebens

Wo es im Falle der Pränatal- oder Präimplantationsdiagnostik die betroffe- nen Eltern sind, die ihr Selbstbestimmungsrecht reklamieren, geht es am Ende des Lebens um die Frage, wer vorab getroffene Entscheidungen (etwa im Rahmen einer Patientenverfügung) durchsetzen soll oder muss. Ein aktuelles Beispiel ist die Sterbehilfe, die das Bundesjustizministerium neu regeln will. Dazu hat es kürzlich einen Gesetzentwurf in Umlauf gebracht. Parteiübergreifend unumstritten ist das Verbot der kommerziellen Sterbe- hilfe. Organisationen wie Exit oder Dignitas, die in der Schweiz tätig sind und schon lange ihr Geschäftsfeld nach Deutschland ausweiten wollen, soll es hierzulande auch künftig nicht geben. Alarmiert reagierten Politiker und Öffentlichkeit allerdings auf den zwei- ten Teil des Gesetzes, der es Angehörigen, Lebenspartnern, engen Freun- den und auch Ärzten und Pflegekräften künftig erlauben soll, aktive Sterbe- hilfe zu leisten. Im Unterschied zur Beihilfe bei der Selbsttötung war diese in Deutschland bislang verboten. Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery spricht auf der Website der Bundesärztekammer von einem „Stück aus dem

19 Castel, a.a.O., S. 70.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 115 19.09.12 11:07 116 Ulrike Baureithel

Tollhaus“: Der Entwurf verbiete einerseits die gewerbliche Sterbehilfe, wolle aber das medizinische Personal andererseits unversehens zu straflos gestell- ten Sterbehelfern machen.20 Auch die Sterbehilfe-Befürworter tragen die Selbstbestimmung in ihrem Banner. Dass ein Mensch darüber verfügen möchte, wann und unter welchen Umständen er stirbt und dies im Vorfeld erklärt, ist die konsequente Folge individualisierter Lebensplanung und -führung. Die Furcht vor Schmerzen und dem Gefühl, unwürdig zu leben und hilflos ausgeliefert zu sein, ist ver- breitet, und es ist nachvollziehbar, dass man sich davor schützen will. Doch die daraus gezogene Konsequenz – Sterbehilfe – kehrt das Problem um: Statt Bedingungen zu schaffen, die das Ende des Lebens würdig gestalten, den- ken wir über die freiwillige Abkürzung des Lebens nach. Wir fragen nicht, warum ein Mensch vorzeitig sterben will, warum er sein Leben nur noch als Last empfindet. Es ist ja nicht so, dass nur sterbenskranke Menschen aus dem Leben gehen wollen, sondern auch arme, alte und einsame Menschen. Darf es eine Gesellschaft zulassen, ihnen einen sozialverträglichen Tod nahezu- legen? Dass viele Menschen gar nicht mehr in der Lage sind, in der konkreten Situation selbst tätig zu werden, sondern die Hilfe Dritter beanspruchen müssen, macht die Entscheidung noch dramatischer. Sterbehilfe brüskiert jedoch nicht nur das ärztliche Selbstverständnis und Standesrecht, sondern sie rüttelt an einem fundamentalen gesellschaftlichen Tabu, dem Tötungs- verbot. Diese prinzipielle Grenzüberschreitung lässt sich auch nicht durch ein noch so ausbalanciertes Regelwerk, das Sterbewilligen zu ihrem Recht verhilft und Schwache vor Missbrauch schützt, aus der Welt schaffen. Dritte und insbesondere medizinisches Personal aufzufordern, an einer Tötungs- handlung mitzuwirken, bedeutet, einen Konsens zu brechen: Denn grund- sätzlich vertrauen wir darauf, dass uns unser Nächster nicht zu Tode bringt.

Demenz und Selbstbestimmung

Auf dieses „Gegenüber“ desjenigen, der über sich bestimmt oder bestim- men will, hebt auch eine Stellungnahme ab, die der Deutsche Ethikrat im April 2012 unter dem etwas provozierenden Titel „Demenz und Selbstbe- stimmung“ vorgestellt hat.21 Provozierend deshalb, weil eine Lebensphase, in der man immer weniger über sich selbst verfügt, nicht unbedingt mit freier Willensentscheidung in Verbindung gebracht wird. Im Gegenteil, die Angst vor demenziellen Erkrankungen im Alter wirkt wie eine Aufforderung, mög- lichst frühzeitig und noch bei vollem Bewusstsein Verfügungen darüber zu treffen, was geschehen soll, wenn das Selbst entgleitet und man nur noch bedingt als „Gesetzgeber“ des eigenen Handelns fungiert. Die Autonomie über sein Leben zu verlieren und in Abhängigkeit Anderer zu geraten, ver-

20 Der Bundesärztetag 2011 sprach sich für ein Verbot des assistierten Suizids aus. Allerdings ist die Mei- nung der deutschen Ärzte nicht einhellig. 21 Deutscher Ethikrat, Demenz und Selbstbestimmung. Stellungnahme, Berlin 2012, www.ethikrat.org.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 116 19.09.12 11:07 Fetisch Selbstbestimmung 117

breitet in einer Gesellschaft um sich selbst kreisender Monaden solchen Schrecken, dass der Tod für manchen als der gnädigere Ausweg erscheint. Gegen eine derart dramatisierende Wahrnehmung von Demenz richtet sich die Stellungnahme des Rats. Zwar räumt auch er das unhintergehbare Recht ein, über sich selbst zu verfügen. Doch zugleich macht er auch auf jene Dimension der Selbstbestimmung aufmerksam, die auf den Anderen bezo- gen ist, auf dessen achtsamen Respekt. Denn auch durch „sorgendes Mitden- ken“ eines Gegenübers könne Autonomie realisiert werden. In den verschie- denen Phasen der Krankheit kann der Patient auf unterschiedliche Weise auf sein Leben Einfluss nehmen. Und selbst wenn seine Fähigkeiten, visuelle, verbale oder sensorische Informationen zu verarbeiten, schwinden, bleiben Restpotentiale, denen durch „assistierte Selbstbestimmung“ seiner Umge- bung zu ihrem Ausdruck verholfen werden kann. Die einstmals emphatische Wahlfreiheit, die sich auf begründende Zusammenhänge bezieht, verengt sich dann auf einfache Ja-Nein-Entscheidungen im bedürfnisorientierten Erlebensraum und äußert sich möglicherweise nur noch mimetisch – aber sie verlöscht nicht grundsätzlich. Allerdings steht eine solche pflegerische Begleitung von Demenzkran- ken in eklatantem Widerspruch zum deutschen Pflegealltag. Denn dieser ist davon geprägt, alte und kranke Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken, stillzustellen und „wegzuräumen“.22 Die auch für alters- verwirrte Menschen unveräußerliche Würde wird mit Füßen getreten, nicht aus bösem Willen oder Unbedachtheit, sondern weil die Pflegerealität eine Selbstbestimmung fördernde Betreuung gar nicht oder viel zu selten zulässt. Die Empfehlungen des Ethikrats zielen deshalb darauf ab, eine neue Haltung zur Demenz zu entwickeln und, wie die Ratsvorsitzende Christiane Woopen betonte, „Selbstbestimmung nicht nur einzufordern, sondern auch zu för- dern.“23 Eine so verstandene Selbstbestimmung ist eine große gesellschaftliche Herausforderung, weil sie das „Du“, das Gegenüber, braucht, um realisiert werden zu können. Sie betont nicht die persönliche Selbstausweitung, son- dern die Beziehung zwischen Menschen und deren existenzielle Bedürftig- keit, die Abhängigkeit von Anderen. Den Gegenpol bildet das solitäre, umfassend informierte und sich selbst steuernde Individuum, das unter ständigem Entscheidungszwang steht. Aber wie viel normierte Zurichtung geht diesen Entscheidungen voraus? Welchen Vorstellungen folgen sie? Wie weit greifen sie in die Rechte Dritter ein? Dieser Horizont bleibt im Furor öffentlicher Selbstbestimmungsrhetorik verdunkelt. Und in diesem Sinne kann man auch von einem Fetisch Selbst- bestimmung sprechen.

22 Vgl. den dritten Bericht des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V., Qualität in der ambulanten und stationären Pflege, www.mds-ev.de/media/pdf/MDS_Dritter_ Pflege_Qualitaetsbericht_Endfassung.pdf. 23 Der Philosoph Volker Gerhardt, ebenfalls Ratsmitglied, insistiert in seinem Sondervotum allerdings auf die „biographische Katastrophe“, die Demenz für den Einzelnen darstellen und den Wunsch hervor- rufen kann, lieber „selbstbestimmt zu sterben“ als zu einem „unmündigen Pflegefall“ zu werden. Es gehe deshalb nicht an, dass man zwar „die Selbstbestimmung bei Demenz zum nachhaltigen Ziel“ erkläre, von der Selbstbestimmung „vor der Demenz“ aber nicht spreche.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 117 19.09.12 11:07 Anzeige Exilforschung in der edition text + kritik

Die Exilforschung ist auf dem Wege der Histo- risierung. Kritische Beiträge zur Entfaltung ih- rer Gegenstände, Fragestellungen und Metho- den haben in den letzten Jahren zugenommen. Eine übergreifende Bilanz steht indes noch aus. Nach drei Jahrzehnten seines Erscheinens kann aber auch das Jahrbuch einige Bausteine dazu zusammentragen. n 30 Exilforschung e u Exilforschungen Ein internationales Jahrbuch im historischen Herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft Prozess für Exilforschung von Claus-Dieter Krohn und Lutz Winckler Band 30 ExiLforsCHunGEn im HistorisCHEn ProzEss 370 seiten, € 35,– isBn 978-3-86916-211-9

Der Sammelband weist auf Lücken in der Rezeption hin, indem er die Lebensgeschich- ten von Frauen in den Fokus rückt, die in der Malerei, Grafik, Bildhauerei, in der Bühnen- arbeit, Fotografie, Weberei oder Architektur

ihre Darstellungs- und Experimentierfelder Inge Hansen-Schaberg Thöner Wolfgang (Hg.) Adriane Feustel sahen und lebenslang unter dem Einfluss des Bauhauses arbeiteten oder sich von ihm emanzipierten. frauen und Exil Entfernt Herausgegeben von inge Hansen-schaberg Frauen des Bauhauses während der NS-Zeit – Verfolgung und Exil Band 5 inge Hansen-schaberg/Wolfgang thöner Adriane feustel (Hg.) n EntfErnt e u frauen des Bauhauses während der ns-zeit – Verfolgung und Exil etwa 250 seiten, ca. € 26,– isBn 978-3-86916-212-6

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 118 19.09.12 11:07 AufgespieSSt

Wie schnell auch hierzulande der „Ich finde das Verhalten der Verant- Volkszorn hochkochen kann, demons- wortlichen in höchstem Maße unan- trierte jüngst eine kurze Meldung in ständig. Es geht um die Ehre meines der „Bild“-Zeitung: Demnach plant verstorbenen Mannes.“ die ARD die Erkennungsmelodie, die Allerdings dürfte es der Witwe um seit 1956 die „Tagesschau“ einleitet, die Ehre allein nicht gehen. Denn für zu „entsorgen“ und durch eine neue zu jene sechs Noten erhält sie seit dem ersetzen. Knapp 70 Prozent der Befrag- frühen Tod ihres Gatten im Jahr 1971 ten sprachen sich daraufhin in einer Tantiemen – monatlich eine Summe in Umfrage entschieden für den Erhalt vierstelliger Höhe. der Tonfolge aus. Ob dieser Geldsegen anhält, wird Seitdem bemüht sich die Vorsitzen- sich spätestens am 26. Dezember um de der ARD, Monika Piel, die Wogen Punkt 20 Uhr erweisen, wenn die neue zu glätten. Das altbekannte »Taa-taa, Melodie erstmals zu hören sein soll. ta ta ta taa« bliebe erhalten, versicherte ARD-Chefin Piel erklärte bereits, dass sie auf einer hastig einberufenen Pres- dafür die Frage nach den Urheberrech- sekonferenz. „Wir wären ja verrückt, ten rasch geklärt werden müsse: „Es wenn wir das ändern würden“, so Piel kommt darauf an, wie stark die Hymne weiter, „wir haben hier schließlich eine überarbeitet ist. Und ob sie als neues Marke, die jeder kennt.“ Werk gilt.“ Die Entscheidung darüber fällt nicht zuletzt in Übersee. Niemand Geringe- res als Hollywood-Komponist Henning »Taa-taa, ta ta ta taaa« Lohner soll es nun richten. Lohner ist nicht nur für Blockbuster-Vertoner Hans Zimmer tätig, sondern hat auch In der Tat – und obendrein eine Marke schon für Bernd Eichinger komponiert. mit langer Tradition. Denn der Geis- Dieser brachte bekanntlich unter an- tesblitz in sechs Tönen entstand noch derem das pseudohistorische Epos im Gefolge des Hitlerschen Blitzkrie- „Der Untergang“ auf die Leinwand, ges. Ihr Komponist Hans Friedrich das von den letzten Tagen Adolf Hitlers August Carste, der unmittelbar nach im Führerbunker erzählt. der Machtübernahme Hitlers in die Für die Fernsehzuschauer, die oh- NSDAP eintrat, geriet 1942 in sowje- nehin allabendlich von einer Weltka- tische Kriegsgefangenschaft, wo er tastrophe in die nächste gejagt wer- „unter Aufsicht eines wohlwollenden den, dürfte sich die Komponistenwahl Lagerkommandanten an Schlagern somit auf jeden Fall auszahlen. Denn und Operetten komponiert, ehe die So- German Hollywood wird auch für die wjets ihn 1948 samt Noten nach Hause zunehmend düsteren Nachrichten der schickten.“ („Der Spiegel“, 27.3.1967). Gegenwart den musikalischen Rah- Carstes Werk ist heute nur noch men finden. Entsprechend untermalt Eingeweihten bekannt – mit Ausnah- werden sich bei einer Tüte Popcorn me ebenjener Tonfolge aus seiner ins- selbst die aktuellsten Horrormeldun- gesamt über sieben Minuten langen gen bestens konsumieren lassen. „Hammond-Fantasie“, die er in den Leider, leider ist dabei mit einem Jahren der Gefangenschaft kompo- wirklichen Happy End nicht zu rech- nierte. Dass seine Töne nun weiterhin nen. Das bleibt, wenn überhaupt, al- den „Tagesschau“-Jingle prägen sol- lein der Witwe Carstes vorbehalten. len, wird vor allem Carstes Witwe Grit- Sieglinde freuen. Sie empörte sich über die angeblichen Entsorgungspläne: Daniel Leisegang

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 119 19.09.12 11:07 Buch des Monats

Gegengift Volkssouveränität Von Oliver Eberl

Während in Regierungskreisen an Parla- menten vorbeientschieden und im Eiltempo Maßnahmen beschlossen werden, die in immer schnellerer Folge neue exekutive Maß- nahmenbeschlüsse erfordern, beeilen sich einige übereifrige Vordenker in den Feuille- tons bereits, die Epoche der parlamentari- schen Demokratie für beendet zu erklären.1 Ihre Gründe sind einfach: Entweder passt die Realität nicht (mehr) zur Demokratie oder die Menschen sind den Anforderungen der Demokratie nicht gewachsen. Ingeborg Maus hat beide Argumentations- figuren stets höchst aufmerksam kritisiert, bei linken wie bei rechten Vertretern. Ihr Denken kreiste dabei um das Phänomen der Volks- souveränität, die denn auch im Zentrum ihres jüngsten bei Suhrkamp erschienenen Ban- Ingeborg Maus, Über Volkssouveränität – Ele- des steht. Der oben beschriebene Elitismus mente einer Demokratietheorie, Berlin 2011, ist dagegen ein alter Gegner der Demokratie; 427 Seiten, 16 Euro. im Bündnis von Bildung und Besitz vereinigte er sich zur Abwehr von egalitärer Demokra- tie. Und nachdem der Besitz als Kriterium der Aktivbürgerschaft fiel, blieb bis heute immer noch die Verdächtigung der unzureichenden Bildung (15, Fn. 11). Kommt es dagegen zu Reibungen zwischen dem politischen System und dem sich permanent wandelnden gesellschaftlichen Umfeld, wird allzu schnell der Eindruck erzeugt, dass diese nicht mehr zusammenpassen. Eilfertig wird das Ende der Demokratie diagnostiziert und damit „politische Organisations- formen als schiere Widerspiegelung der ökonomischen Basis behandel[t]“ (376). Dies galt schon für den sozialen Positivismus eines Carl Schmitt, gilt aber nach Maus auch für den Demokratieverzicht der neueren Diskussion. Nicht nur um die Demokratie steht es also schlecht, sondern auch um die Demokratietheorie. Wenn aber die Prinzipien der Demokratie bei jedem

1 Vgl. Herfried Münkler, Die rasenden Politiker. Vom absehbaren Ende der parlamentarischen Demo- kratie, in: „Der Spiegel“, 16.7.2012; zum Gesamttrend vgl. Thomas Wagner, Bringt die Verhältnisse zum Tanzen, in: „Freitag“, 20.8.2012.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 120 19.09.12 11:07 Buch des Monats 121

Gegenwind der Realität sogleich angepasst werden, wie sollen wir dann jemals wissen, was Demokratie sein könnte? Auf die bloße Realität jedenfalls können wir uns in dieser Frage nicht verlas- sen, denn die gesellschaftliche Wirklichkeit arbeitet zumeist gegen die Demo- kratie. „Demokratie“ im Sinne von Volkssouveränität wurde schon 1789 nicht erreicht, auch nicht 1848, nicht 1919, nicht 1949, nicht 1989 und nicht 2012. Die Realität hat die Demokratie vielmehr immer wieder zu Umwegen, zu Rück- zügen und zu Entstellungen gezwungen und sie so deformiert. Wir wissen gar nicht mehr, was Demokratie ursprünglicherweise ist, und wir können es den Systemen, in denen wir leben, auch nicht entnehmen, eben weil diese sich an die Realität angepasst haben. Ebenso wenig können wir aber umgekehrt die gesellschaftlichen Fehler der Demokratie zuschreiben. Um uns zu orientieren, können wir jedoch, so der Vorschlag von Maus, auf die radikalen Versionen der Demokratie zurückgreifen, die die Aufklärung vor dem Sieg des Bürgertums im 19. Jahrhundert formuliert hat. Gegen alle Intuitio- nen und Vorurteile hat Maus dabei nicht nur Rousseau und Sièyes im Sinn, sondern insbesondere auch Kant, der in besonderer Weise Zusammenhang von Volkssouveränität, Menschenrechten und Rechtsstaat in der Republik ausbuchstabiert. Weil dieser Zusammenhang nicht nur von der Realität ver- drängt, sondern auch von der Theorie vergessen wurde, ist immer auch eine „Aufklärung der Demokratietheorie“2 zu leisten.

Die Aufklärung der Demokratietheorie

Zur Rekonstruktion dieses Zusammenhangs von Volkssouveränität, Men- schenrechten und Rechtsstaat hat Ingeborg Maus sicher den bedeutendsten Beitrag der Politischen Theorie geleistet. Heutige Theorien, so der Befund von Maus, neigen angesichts der gestiegenen Komplexität überwiegend zur Ver- einzelung eines dieser Elemente, besonders deutlich wird dies an dem Sieges- zug der Menschenrechte. Aber auch der Rechtsstaat wird gerne und erfolg- reich gegen Gefahren der Volkssouveränität in Anschlag gebracht. Maus hält dagegen unbedingt an der Idee fest, dass nur die Selbstgesetzgebung der Gesetzesunterworfenen im Zusammenspiel mit der strikten Gesetzesbindung der gesetzanwendenden Instanzen Freiheit und Menschenrechte sichern kann. In ihren Studien zur Volkssouveränität wird dieses besonders umstrittene und, wie sie sagt, „Missverständnissen“ ausgesetzte Kernprinzip der Demo- kratie systematisch rekonstruiert, das heißt für die moderne Demokratie- theorie nutzbar gemacht. Maus legt keine ideengeschichtliche Abhandlung zu einem vernachlässigten Gegenstand der Politischen Theorie vor, sondern einen Beitrag zur „Demokratiewissenschaft“, der zeigen soll, was Volkssou- veränität heißt und heute bedeuten kann. Dazu geht sie, obwohl sie eine nor- mative Theorie formuliert, nicht einfach normativ vor. Maus rekonstruiert viel- mehr den Begriff der Volkssouveränität, indem sie eine systematische Analyse

2 Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Über- legungen im Anschluss an Kant, Frankfurt a.M. 1994.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 121 19.09.12 11:07 122 Buch des Monats

mit einer rezeptionsgeschichtlichen verbindet. Von Beginn an hatte Volkssou- veränität die radikale Inklusion aller Gesetzesunterworfenen in die gesetzge- bende Souveränität zum Ziel – wie auch die Unterordnung aller exekutiven Apparate. Damit war sie der praktischen Gegnerschaft all derer ausgesetzt, die eines von beidem – oder zumeist beides – verhindern wollen. Theoretisch drückt sich dieses Anliegen in einem Streit um die Begriffe aus. Denn: Wer Missverständnissen Vorschub leistet, trägt auch zur Verhinderung von Volks- souveränität bei. Daher zeigt Maus immer wieder an Carl Schmitt, wie der Begriff der Souve- ränität auf die exekutive Funktion reduziert wurde – „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ – und damit bis heute die Rezeption bis hin zu Giorgio Agamben bestimmt. Der Ausnahmezustand wird dann aber wiederum nicht den verselbstständigten Exekutiven, sondern der Souverä- nität angelastet. Von den Theorien der Volkssouveränität wird Souveränität aber einzig als Gesetzgebung verstanden; sie ist damit Voraussetzung jeder Demokratie. Inhalt der Volkssouveränität ist das Recht des Volkes, sich jeder- zeit eine Verfassung nach seinen eigenen Vorstellungen zu geben. Dies ist die schlichte, aber unter bestimmten Umständen revolutionäre Aussage der Theo- rie der Volkssouveränität. Das beunruhigt jedoch nicht nur jene, die möglicherweise in egalitären Entscheidungsprozessen etwas zu verlieren haben, es beunruhigt auch jene Instanzen, die heute Volkssouveränität nach erfolgter Verfassunggebung für beendet erklären wollen, etwa weil sie selbst die Verfassung (bundesverfas- sungs-)richterlich auslegen oder exekutiv ungestört arbeiten wollen. Es verwundert daher nicht, dass Volkssouveränität auch heute ein umstritte- ner Demokratiebezug ist. Besonders häufig taucht der positive Bezug von akti- vistischer Seite auf, etwa wenn es um Formen der direkten Demokratie, der Volksabstimmung geht. Dabei können uns auch diese Formen nicht aus dem demokratischen Dilemma heraushelfen, aufgrund des aufgelösten Zusam- menhangs von Beschluss und Durchführung. Maus‘ Beschreibung ist hier für alle Demokraten peinlich ernüchternd und angesichts der gegenwärtigen Lage hochaktuell: „Parlamentswahlen sind heute insofern folgenlos, als die Zusammensetzung der Legislative zwar noch Zielvorgaben für die nächsten Gesetze enthält, aber die Gesetze selbst keinen Adressaten mehr in den Appa- raten finden. In dieser Situation ist sogar die Differenz zwischen repräsentati- ver und direkter Demokratie aufgehoben. Auch basisdemokratische Abstim- mungen über jedes einzelne Gesetz können an dem Umstand nichts ändern, dass angesichts der Selbstprogrammierung der Staatsapparate nur noch ein egalitäres Staatsvolk von ‚Passivbürgern‘ existiert.“ (20) Ganz egal also, ob die Programmierung direkt oder repräsentativ erfolgt, sie bleibt folgenlos.3 Damit hat Maus eine Analyse vorgelegt, die der Diagnose der „Postdemo- kratie“4 nicht unähnlich ist. Anders als Colin Crouch sieht Maus den ent-

3 Sie unterläuft dabei auch systematisch die egalitäre Voraussetzung von Prozeduren, wie jüngst deut- lich gemacht wurde, siehe Wolfgang Merkel, Entmachten Volksentscheide das Volk? Anmerkungen zu einem demokratischen Paradoxon, in: „WZB Mitteilungen“, Heft 131, März 2011, S. 10-13. 4 Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 122 19.09.12 11:07 Buch des Monats 123

scheidenden Grund für die Passivierung des Volks jedoch in der Lösung der Staatsapparate vom Recht. Sie beschreibt diesen schleichenden Prozess als „Refeudalisierung“: Die formalen Verfahren der Demokratie bleiben leer, weil das Medium, in dem sie sich artikulieren, nämlich das Recht, leer bleibt. Beschlüsse werden, so Maus, nur als „Gesetzesattrappen“ gefasst, die Füllung dieser Attrappen obliegt den anwendenden Instanzen oder, ebenso gravie- rend, den Betroffenen selbst. Maus gewinnt diese Diagnose aus ihren Unter- suchungen zur Entformalisierung des Rechts, einer Tendenz nicht erst des 21. Jahrhunderts, sondern des modernen Kapitalismus. Aus dieser Perspektive gibt es für Maus, anders als für Crouch, keine Hochzeit der Demokratie, auch nicht in den „Goldenen“ 1960er Jahren. Allenfalls gab es eine Hochzeit der Demokratietheorie. Aber diese liegt schon lange hinter uns. Ähnlich wie Crouch es wünscht, war sie auch eine Hochzeit der Selbstaktivierung, nämlich all jener, die sich eine Verfassung geben wollten, mit der sie sich einerseits „unter Gesetze“, aber andererseits „über die Apparate“ stellen können. Erst eine solche Unter- und Überordnung verdient den Namen der Demokratie. Da die Geschichte der Demokratie nicht entgegenkommt, bleibt der kritischen Demokratietheo- retikerin Maus nur, sich auf die Menschen zu verlassen. Die aber leben, wir wissen es, in schwierigen Zeiten. Häufig greifen sie im Protest auf die Idee des Widerstandsrechts zurück, nach Maus drückt sich darin die Refeudalisierung auch des politischen Aktivismus selbst aus, der sein ureigenes Recht als Sou- verän gegen ein verbrieftes Recht auf Widerstand tauscht. Maus nämlich sieht die Menschen nicht als Widerständler, als kosmopoliti- sche NGO-Aktivisten oder als moralische Konsumenten, sondern stets in ihrer ersten Rolle: als Verfassunggeberinnen und Verfassunggeber. Dass sie darü- ber hinaus auch noch Kosmopoliten und Konsumenten sind, bestreitet Maus nicht. Sie sagt nur, dass aus diesen Rollen keine Erneuerung der Demokra- tie folgen wird: „Eine radikale Demokratietheorie hingegen muss ihre Hoff- nung auf die allen Verfassungsbestimmungen vorhergehende verfassung- gebende Gewalt des Volkes richten, die überhaupt erst eine Demokratie, die den Namen verdient, herbeiführen kann.“ (18) „Über Volkssouveränität“ versammelt – passend zu ihrem 75. Geburtstag am 12. Oktober dieses Jahres – die Bemühungen der großen Aufklärerin Inge- borg Maus um die Demokratiefähigkeit der Demokratietheorie. Der Band ist aber auch noch anders zu lesen, nämlich als Bemühung um die Demokrati- sierungsfähigkeit der Menschen. Natürlich nicht bloß im Sinne ihrer Bildung, sondern in einem eminent demokratiepraktischen Sinne: dass nämlich die derzeitigen „Passivbürger“ verstehen können, wie sie die Demokratie wieder in ihre Hände bekommen. Die Menschen dürfen sich dabei nur nicht auf das System verlassen, das ihnen ebenso wenig entgegenkommt wie der Theorie. Sie müssen das Gegengift selbst injizieren.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 123 19.09.12 11:07 dOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »Vision für ein stärkeres Europa« Positionspapier einer Gruppe von elf EU-Außenministern zur Überwindung der Staats- schuldenkrise und zur Zukunft Europas, 17.9. 2012

• »Es droht zunehmende Altersarmut« Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler- Stiftung zur Riester-Rente, 13.9.2012

• »Die Ratifikation des Vertrages zur Einrichtung des ESM darf erfolgen« Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Stabilitätsmechanismus, 12.9.2012

• »In beiden Kirchen ist die Sehnsucht nach Einheit groß« Aufruf der Initiative „Ökumene jetzt“, 7.9.2012

• »Unser Weg führt zu einem besseren Ort« Rede des US-Präsidenten Barack Obama auf dem Parteitag der Demokraten in Charlotte, North Carolina/USA, 7.9.2012 (engl. Originalfassung)

• »Ich will Barack Obama als nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten« Rede des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton auf dem Parteitag der Demokraten in Charlotte, North Carolina/USA, 5.9.2012 (engl. Originalfassung)

• »Keine größere Bedrohung des Weltfriedens als die atomare Aufrüstung« Rede des Generalsekretärs der Vereinten Nationen Ban Ki Moon auf dem 16. Gipfel der Blockfreien-Staaten in Teheran/Iran, 30.8.2012 (engl. Originalfassung)

• »Es ist Zeit, Amerikas Versprechen zu erneuern« Rede des Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney auf dem Parteitag der Republikaner in Tampa, Florida/USA, 31.8.2012 (engl. Originalfassung)

• »Amerika braucht eine Kehrtwende« Rede des Vizepräsidentschaftskandidaten Paul Ryan auf dem Parteitag der Republika- ner in Tampa, Florida/USA, 29.8.2012 (engl. Originalfassung)

• »Syrien – Der Tag danach« Konzept des oppositionellen Projekts „The Day After“ für die Zeit nach Baschar al Assad, 28.8.2012 (engl. Originalfassung)

• »Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände« Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck anlässlich der Gedenkfeier zum 20. Jahres- tag der rassistischen Pogrome in Rostock Lichtenhagen, 26.8.2012

• »Radikales Sparen verschärft die Rezession« Arbeitspapier des IWF über die Auswirkungen von Sparprogrammen in Industrie- ländern, veröffentlicht am 23.8.2012 (engl. Originalfassung)

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 124 19.09.12 11:07 Chronik des Monats August 2012

1.8. – Ägypten. In Kairo wird ein Brief von Veto mehrfach Beschlüsse zum Syrien-Kon- Präsident Mursi an seinen israelischen Kol- flikt im Sicherheitsrat verhindert hatten legen Peres bestätigt, in dem sich Mursi für (vgl. zuletzt „Blätter“, 9/2012, S. 125 f.). Die neue Friedensgespräche ausspricht. Peres Resolution der Generalversammlung ver- hatte den Text am Vortag veröffentlicht. – Am urteilt „die nach wie vor ausgedehnten und 2.8. beruft Mursi ein neues Kabinett unter systematischen schweren Menschenrechts- Führung von Ministerpräsident Hisham verletzungen und den anhaltenden Einsatz Kandil. Einige noch von den Militärs ernann- schwerer Waffen“ gegen die Bevölkerung te Minister bleiben. – Am 12.8. enthebt der sowie „jegliche Gewalt, ungeachtet dessen, Präsident den Verteidigungsminister und von wem sie ausgeht“. Das Regime müsse Armeechef Hussein Tantawi sowie General- „den ersten Schritt tun“ und sofort gemäß stabschef Sami Anan ihrer Posten und ver- gegebener Zusage die Truppen samt der setzt beide in den Ruhestand. Verteidigungs- schweren Waffen in die Kasernen zurückzie- minister wird Abdel Fattah Al Sisi. Mursi hen. Die zuständigen Organe der Vereinten annulliert zugleich mit den Umbesetzungen Nationen werden aufgefordert, die Anstren- in der Armeeführung die von den Militärs gungen „zur Herbeiführung einer politi- im Juni d. J. erlassenen umstrittenen Ver- schen Lösung der syrischen Krise zu unter- fassungszusätze. In einer Rede vor der Az- stützen“. – Am 9.8. treffen sich auf Einladung har-Universität betont Mursi, seine Entschei- der Regierung in Teheran Vertreter von 29 dungen seien weder gegen eine Person noch Staaten, darunter Russland und China, zu gegen eine Institution gerichtet. einer Syrien-Konferenz. Ergebnisse werden 2.8. – Syrien-Konflikt. Der ehemalige UN- nicht veröffentlicht. – Am 11.8. vereinbart Generalsekretär Kofi Annan kündigt an, er US-Außenministerin Clinton mit ihrem tür- werde sein Mandat als Syrien-Beauftragter kischen Amtskollegen Davutoglu eine enge der Vereinten Nationen und der Arabischen Zusammenarbeit mit dem Ziel eines be- Liga Ende August d.J. aufgeben (vgl. „Blät- schleunigten Machtwechsels in Syrien. Ein ter“, 4/2012, S. 125 f.). Annan beklagt man- gemeinsamer Krisenstab soll die humanitäre gelnde Unterstützung der internationalen Hilfe koordinieren und Pläne für eine mög- Gemeinschaft und fehlende Einigkeit im UN- liche Militärintervention ausarbeiten. Nach Sicherheitsrat. Die Kämpfe in Syrien gehen der Unterredung der beiden Außenminister unvermindert weiter, in Berichten aus der in Istanbul erklärt Davutoglu, er sehe kaum Millionenstadt Aleppo ist von einer „Groß- noch Chancen für eine diplomatische Lö- offensive“ die Rede. Zu Gefechten und Bom- sung. Deshalb sei es an der Zeit, den politi- benanschlägen kommt es auch in Teilen der schen Übergangsprozess in Syrien zu forcie- Hauptstadt Damaskus. Die Opferzahlen stei- ren. Mehr als 55 000 Syrer, so berichten Me- gen, die Flüchtlingsströme nehmen drama- dien, hielten sich bereits als Flüchtlinge in tisch zu. Weitere Deserteure der Regierungs- der Türkei auf. – Am 13.8. heißt es in Peking truppen schließen sich der „Freien Syrischen unmittelbar vor der Ankunft einer Sonder- Armee“ an, politische Funktionsträger des botschafterin von Präsident Assad, die chi- Regimes setzen sich ab und stoßen zur Op- nesische Regierung werde künftig „erneut“ position. Die Informationen stammen meist Vertreter der syrischen Opposition einladen. von interessierter Seite, eine Überprüfung ist Die Volksrepublik bemühe sich, zwischen kaum möglich. – Am 3.8. verabschiedet die den verfeindeten Lagern zu vermitteln und UN-Generalversammlung in New York mit eine politische Lösung des Konflikts her- 133 gegen 12 Stimmen bei 31 Enthaltungen beizuführen. Zunächst gehe es um „einen erneut eine Resolution über „Die Situation sofortigen Waffenstillstand“. – Am 14.8. er- in der Arabischen Republik Syrien“ (vgl. örtern auf Einladung Saudi-Arabiens, das „Blätter“, 4/2012, S. 125 f.); 17 Staaten blei- die Opposition gegen Assad unterstützt, Ver- ben der Sitzung fern. Zu den Nein-Stimmen treter der 57 Mitgliedstaaten der Organi- gehören China und Russland, die mit ihrem sation Islamischer Zusammenarbeit (OIC)

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 125 19.09.12 11:07 126 Chronik

in Mekka auf einem Sondergipfel die Lage. Unterstützung ausgearbeitete Empfehlun- Auf einem Vorbereitungstreffen am Vortag gen für die Zeit nach Assad vor. Ein neues wird der Ausschluss Syriens aus der Orga- Grundgesetz, beschlossen von einer verfas- nisation empfohlen. – Am 15.8. erhebt eine sunggebenden Versammlung, soll künftig Untersuchungskommission der Vereinten die Achtung von Menschen- und Minderhei- Nationen schwere Vorwürfe gegen das sy- tenrechten garantieren. Zunächst wolle man rische Regime. Die Armee und Angehörige sich an der Verfassung von 1950 orientieren. der Schabiha-Milizen seien verantwortlich 6.8. – Weltraum. Nach einem Flug von fast für Verbrechen gegen die Menschlichkeit neun Monaten geht die amerikanische Mars- wie Mord und Folter, willkürliche Hinrich- sonde „Curiosity“ um 7.32 Uhr MESZ auf tungen und wahllose Angriffe gegen die dem Mars nieder. US-Präsident Obama lobt Zivilbevölkerung. Zwar hätten auch Angehö- die „Traumlandung“, die auch Hollywood rige der bewaffneten Opposition Kriegsver- nicht besser hätte inszenieren können. brechen begangen, Ausmaß und Häufigkeit 9.8. – Libyen. Die aus 200 Abgeordneten be- seien jedoch mit der Zahl der Übergriffe der stehende Nationalversammlung (zur Wahl Sicherheitskräfte nicht vergleichbar. – Am vgl. „Blätter“, 9/2012, S. 127) konstituiert 19.8. stellen die UN-Beobachter in Syrien sich in Tripolis, der Nationale Übergangsrat entsprechend dem Beschluss des Sicher- löst sich auf. Der scheidende Vorsitzende des heitsrates ihre Tätigkeit ein. In Damaskus Rates, Mustafa Abdel Dschalil, räumt ein, es verbleibt ein kleines Verbindungsbüro. – Am sei bisher nicht gelungen, die Sicherheit im 20.8. schlägt Außenminister Davutoglu die Lande vollständig herzustellen. Das Parla- Einrichtung von Schutzzonen für Flüchtlinge ment wählt mit 113 gegen 85 Stimmen den auf syrischem Territorium vor. Sollte die Zahl Vertreter der Nationalen Front, Yusuf al-Ma- die 100 000 übersteigen, wären die Aufnah- gariaf aus Benghasi, zum „Speaker“ (Vor- mekapazitäten der Türkei erschöpft: „Wir sitzenden), der damit zunächst auch Staats- sollten sie in Syrien unterbringen.“ – Am oberhaupt ist. 21.8. bestätigen Bundesverteidigungsminis- 15.8. – Israel/Iran. Die Zeitung „Maariv“ terium und Bundesnachrichtendienst den gibt Äußerungen des israelischen Zivil- Einsatz eines deutschen Aufklärungsschiffs schutzministers Matan Vilani zu den Folgen vor der Küste Syriens. Die „Oker“ habe am eines Angriffs auf die iranischen Atomanla- Vortag den Hafen von Cagliari auf Sardinien gen wieder: „Die Analysen deuten auf einen in Richtung Südosten verlassen. Nähere An- Krieg an mehreren Fronten hin, der 30 Tage gaben über Ziel und Auftrag werden nicht dauern würde.“ Vilani bestätigt die Ein- gemacht. – Am 26./27.8. berichtet das in schätzung von Verteidigungsminister Ehud London ansässige Beobachtungszentrum für Barak, es sei mit etwa 500 eigenen Opfern zu Menschenrechte, in der Stadt Daraya nahe rechnen. Es gebe keinen Anlass zur Hysterie. Damaskus seien in einer Moschee, in Privat- Präsident Peres warnt vor einem Alleingang häusern und Kellern 320 Leichen, vor allem Israels gegen die iranischen Atomanlagen. von Männern, aber auch von Frauen und Der Iran ruft zu Massenprotesten gegen Is- Kindern entdeckt worden, alle sind Opfer rael auf. Präsident Ahmadinedschad spricht von Massenhinrichtungen. Der Vormarsch am 17.8. auf einer Kundgebung dem jüdi- syrischer Truppen auf die Oppositionshoch- schen Staat erneut das Existenzrecht ab. burg Daraya habe nach Angaben von Akti- 16.8. – Südafrika. Bei einem umstrittenen visten in den vergangenen Tagen mehr als Einsatz der Sicherheitskräfte gegen streiken- 600 Todesopfer gefordert. – Am 27.8. fordert de Bergleute werden mehr als 30 Personen der Vorsitzende des Syrischen Nationalrates getötet. Die Polizei rechtfertigt das gewalt- (SNC), Abdel Basit Saida, bei einem Besuch same Vorgehen in einer Platinmine des Lon- in der Schweiz die Einrichtung von Flugver- min-Konzerns nordwestlich von Johannes- botszonen über syrischem Territorium, um burg, die etwa 3000 für höhere Löhne Strei- Flüchtlingslager vor Luftangriffen zu schüt- kenden seien mit Macheten und Knüppeln zen. Die Vereinten Nationen hätten sich bis- bewaffnet gewesen. Auch sei aus der Mine her als unfähig erwiesen, der Krise in seinem heraus auf die Beamten geschossen worden. Land beizukommen. – Am 28.8. legen Vertre- 17.8. – Bundesverfassungsgericht. Das Ge- ter der syrischen Opposition unter dem Titel richt in Karlsruhe korrigiert seine bisherige „The Day After“ in Berlin mit internationaler Rechtsprechung und erlaubt den Kampf-

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einsatz der Bundeswehr auch im Inland bei der syrischen Opposition, Präsident Assad Terrorangriffen und in „Ausnahmesituatio- habe jede Legitimation verloren. Syrien müs- nen katastrophalen Ausmaßes“. Der Erste se den Übergangsprozess zur Demokratie Senat hatte in einer Entscheidung im Jahre einleiten, um das Land vor einem Bürger- 2006 den Einsatz der Streitkräfte im Inland krieg zu bewahren. Vertreter des syrischen mit spezifisch militärischen Waffen generell Regimes verlassen nach der Rede die Konfe- ausgeschlossen. renz. Ban Ko Moon fordert dazu auf, den Re- 20.8. – Afghanistan. Der Vorsitzende der Ver- solutionen der UN-Gremien zum iranischen einigten Stabschefs der USA, General Mar- Atomprogramm nachzukommen und ver- tin Dempsey, reist überraschend nach Kabul. urteilt Drohungen eines jeden Mitglieds der Die amerikanische Militärführung, so heißt Vereinten Nationen gegen ein anderes Mit- es, sei beunruhigt über die Häufung von glied sowie die Leugnung historischer Fakten blutigen Attacken afghanischer Soldaten wie des Holocausts. Der Iran übernimmt für und Polizisten. Seit 2007 seien mehr als 100 die nächsten drei Jahre den Vorsitz der Be- ISAF-Soldaten bei solchen Angriffen umge- wegung. kommen, drei Viertel davon im letzten und 27.8. – Kolumbien. Rund zehn Jahre nach im laufenden Jahr. dem Abbruch von Friedensverhandlungen 21.8. – Rumänien. Das Verfassungsgericht der Regierung mit der bewaffneten Rebellen- bestätigt mit sechs gegen drei Stimmen das organisation Revolutionäre Streitkräfte Ko- Ergebnis des Referendums vom Juli d.J. (vgl. lumbiens (Fuerzas Armadas Revolucionarias „Blätter“, 9/2012, S. 127). Präsident Traian de Colombia/FARC) einigen sich Unterhänd- Basescu könne in sein Amt zurückkehren. ler beider Seiten auf neue Sondierungsge- 24.8. – BRD/Weißrussland. Das Auswärtige spräche, die ab Oktober d.J. in der norwegi- Amt und das Bundesinnenministerium be- schen Hauptstadt Oslo beginnen und später stätigen und verteidigen die polizeiliche auf Kuba fortgeführt werden sollen. Präsi- Zusammenarbeit mit Weißrussland. Es sei dent Santos bestätigt entsprechende Mel- nicht um die Stützung eines diktatorischen dungen des venezolanischen Fernsehens. Regimes gegangen, vielmehr um das Bestre- 28.-30.8. – USA. Der Parteikonvent der Re- ben, Reformansätze in dem osteuropäischen publikaner in Tampa (Florida) nominiert Land zu stärken. Nach den manipulierten mit großer Mehrheit Mitt Romney für die Wahlen 2010 habe man die Zusammenarbeit im November d.J. anstehenden Präsident- stark reduziert und schließlich 2011 einge- schaftswahlen. Romneys Vizepräsident soll stellt. Paul Ryan werden. Beide Kandidaten richten 24.-25.8. – EU. Griechenlands Premier Sama- scharfe Angriffe gegen die Wirtschaftspolitik ras wirbt in Berlin und anschließend in Paris Präsident Obamas. Ryan fordert die Abschaf- um Zustimmung zu einer Verlängerung der fung der von der Regierung eingeführten ob- Fristen für die von der „Troika“ aus Inter- ligatorischen Krankenversicherung. nationalem Währungsfonds, Europäischer 30.-31.8. – China/BRD. Im Mittelpunkt Union und Europäischer Zentralbank dem deutsch-chinesischer Regierungskonsulta- Lande verordneten Sparvorgaben. Samaras tionen in Peking steht neben den bilateralen erhält jedoch weder von Bundeskanzlerin Beziehungen die Krise des Euro. Bundes- Merkel noch von Frankreichs Präsident Hol- kanzlerin Merkel wird von Managern aus lande konkrete Zusagen. Der italienische der Wirtschaft und mehreren Kabinettsmit- Regierungschef Monti trifft sich am 29.8. gliedern begleitet. Teilnehmer berichten, Mi- mit Frau Merkel in Berlin. Montis Forderung nisterpräsident Wen Jiabao habe seine große nach einer Banklizenz für den Rettungs- Sorge über die Zukunft Griechenlands, Spa- schirm ESM stößt bei der Bundesregierung niens und Italiens nicht verhehlt und eine weiter auf Ablehnung. gewisse Ungeduld über die nicht sehr zügi- 26.-31.8. – Blockfreie Bewegung. In Teheran ge Umsetzung der Reformen in der Europäi- findet eine Konferenz der Blockfreien Bewe- schen Union gezeigt. Merkels Darlegung der gung (Non-Aligned Movement/NAM) statt. bisherigen und der geplanten Schritte habe An dem abschließenden zweitägigen Gipfel aber sein Vertrauen gestärkt, China sei wei- am 30. und 31.8. nimmt auch UN-General- terhin bereit, europäische Staatsanleihen zu sekretär Ban Ki Moon teil. Ägyptens Präsi- kaufen. Die Bundeskanzlerin dankt China dent Mursi befürwortet die Unterstützung für die Unterstützung.

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00_Buch_Gesamtheft_201210.indb 127 19.09.12 11:07 Zurückgeblättert... Im Oktober 2002 spitzte sich die US-amerikanische Vorbereitung des Irak- Krieges immer mehr zu. Geistiger Wegbereiter war der Neokonservative Robert Kagan. Dessen provokativer Aufsatz „Macht und Schwäche. Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinandertreibt“ („Blätter“, 10/2002, S. 1194-1206) löste eine breite Debatte aus.

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Anne Britt Arps, geb. 1979 in Ham- Charlotte Dany, geb. 1978 in Köln, Dr. burg, Politikwissenschaftlerin, Volon- rer. pol., wiss. Mitarbeiterin am Insti- tärin der „Blätter“. tut für Politikwissenschaft der Goethe- Universität Frankfurt a. M. Ulrike Baureithel, geb. 1957 in Frei- burg, Literaturwissenschaftlerin, freie Oliver Eberl, geb. 1973 in Wiesbaden, Journalistin, Mitbegründerin der Wo- Dr. phil., wiss. Mitarbeiter am Institut chenzeitung „Der Freitag“. für Politikwissenschaft an der Techni- schen Universität Darmstadt. Norman Birnbaum, geb. 1926 in New York City, Sozialwissenschaftler und Jens-Eberhard Jahn, geb. 1967 in Ber- Publizist, Professor em. am Law Cen- lin, Historiker und Sprachwissenschaft- ter der Georgetown University in Wa- ler, wiss. Mitarbeiter im Deutschen shington, D.C., Mitherausgeber der Bundestag. „Blätter“. Claus Leggewie, geb. 1950 in Wanne- Thilo Bode, geb. 1947 in Eching am Eickel, Dr. sc. pol., Direktor des Kul- Ammersee, Dr. rer. pol., langjähriger turwissenschaftlichen Instituts Essen Geschäftsführer von Greenpeace Inter- (KWI), Mitherausgeber der „Blätter“. national, seit 2002 Gründer und Leiter der Verbraucherorganisation food- Daniel Leisegang, geb. 1978 in Un- watch. na, Politikwissenschaftler, „Blätter“- Redakteur. Lesen Sie taz.die tageszeitung fünf Wochen lang für nur 10 Euro, Peter Bofinger, geb. 1954 in Pforzheim, Dr. rer. pol., Professor für Volkswirt- Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- inklusive einer Ausgabe von Le Monde diplomatique. schaftslehre an der Universität Würz- gelheim am Rhein, Jurist und Politik- Das Angebot endet automatisch. burg, seit 2004 Mitglied im Sachver- wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. ständigenrat zur Begutachtung der ge- www.taz.de/abo-garantie | [email protected] | T (030) 25 90 25 90 samtwirtschaftlichen Entwicklung. Norbert Mappes-Niediek, geb. 1953 in Düsseldorf, freier Journalist, lebt in Lie- Ulrich Brand, geb. 1967 auf der Insel boch/Österreich. Mainau/Bodensee, Dr. phil., Professor für Internationale Politik an der Univer- Horst Meier, geb. 1954 in Oberkaufun- sität Wien. gen, Dr. iur., freier Autor, lebt in Kassel.

Ian Buruma, geb. 1951 in Den Haag/ Michael Oswald, geb. 1981 in Ebers- Niederlande, Professor für Menschen- berg, Politikwissenschaftler, Lehrbe- rechte und Journalismus am Bard Col- auftragter am Lehrstuhl für Politikwis- lege in New York. senschaft der Universität Passau.

Judith Butler, geb. 1956 in Cleveland/ Albert Scharenberg, geb. 1965 in Leer/ USA, Philosophin und Philologin, Pro- Ostfriesland, Dr. phil., Politikwissen- fessorin für Rhetorik und Vergleichen- schaftler und Historiker, Co-Direktor de Literaturwissenschaft an der Uni- des Nordamerika-Büros der Rosa- versity of California, Berkeley. Luxemburg-Stiftung in New York City.

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