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Sonntag, 16. August 2015 (20:05-21:00 Uhr) KW 32 Deutschlandfunk / Abt. Hörspiel/ Hintergrund Kultur

FREISTIL "75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand" Der Filmemacher Christoph Schlingensief Von Markus Metz und Georg Seeßlen Regie: Robert Steudtner Redaktion: Klaus Pilger Produktion: DLF 2015

M a n u s k r i p t

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- ggf. unkorrigiertes Exemplar -

2 AUSSCHNITT „Die 120 Tage von Bottrop“ Intro

DARÜBER ZITATOR „Was du verstanden hast, vergisst du sofort.“

ERZÄHLERIN Behauptete Christoph Schlingensief und drehte Filme, die ziemlich unvergesslich sind.

AUSSCHNITT HOCH

ZITATOR (anpreisend) Presseankündigung: Entscheidung für Deutschland! Die 120 Tage von Bottrop. Schlingensief im Kino. Der Letzte Neue Deutsche Film. Liebe Freunde der guten Unterhaltung. Das absurdeste Unternehmen seit Erfindung des Neuen Deutschen Films. Die unglaubliche Geschichte der letzten Überlebenden der Fassbinder-Zeit, die in 5 Tagen auf dem Potsdamer Platz – der größten Baustelle Europas – ein Remake von Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ drehen wollen und dabei scheitern. Eine Hommage an , an die Exzentrik und den Wahnsinn einer längst vergangenen Zeit.

AUSSCHNITT „Die 120 Tage von Bottrop“ Margit und Christoph

MUSIK

DARÜBER RIMBAUD „75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand“ Der Filmemacher Christoph Schlingensief Von Markus Metz und Georg Seeßlen

AUSSCHNITT „Die 120 Tage von Bottrop“ Irm & Volker

ZITATOR Mit Fanfarenstößen wie aus einer NS-Wochenschau beginnen die ‚120 Tage von Bottrop’, und mit derlei operettenhaftem Pathos geht es auch weiter. Immerfort passiert etwas, die Darsteller können gar nicht so schnell sprechen wie sie wollen, ständig dröhnen bedeutungsschwere Zwischentitel – ‚Deutschland muss wieder härter werden’ oder ‚Filme befreien den Kopf’ – durchs Bild. Permanente Hysterie. Das ist zwanzig Minuten lang komisch, beginnt nach vierzig Minuten zu nerven, und nach sechzig Minuten ist man froh, dass der Film vorbei ist. Was man nach den ‚120 Minuten von Bottrop’ spürt: Rückenschmerzen.

3 ERZÄHLERIN Schrieb 1997 der Kritiker des Berliner Tagesspiegel. Das war noch eine der zurückhaltenderen Abfuhren, die Christoph Schlingensief in der deutschen Presse für seine Filme erhielt. Denn so sehr man später den Theatermacher und politischen Provokateur, den Künstler und Medienjongleur Schlingensief auch schätzte, so sehr Deutschland in ihm eines seiner liebsten Enfants terribles fand – Christoph Schlingensiefs Filme haben nur wenige geschätzt und noch weniger haben sich von ihrer schönen Unverständlichkeit berauschen lassen.

MUSIK „Tunguska“ Trommel

DARÜBER RIMBAUD Wenn ich noch Sehnsucht nach Europas Wassern habe, dann nach dem schwarzen Tümpel, wo im Abendschein voll süßem Duft ein kauernder trauriger Knabe mit Schiffchen spielt, wie Frühlingsschmetterlinge fein.

DARÜBER ZITATOR

Arthur Rimbaud (1854 – 1891)

MUSIK HOCH

O-TON 01 Dietrich Kuhlbrodt Ich schrieb damals Anfang der achtziger Jahre für die Frankfurter Rundschau. Ich fand das ganze System blöd – man wird zu den Filmstartterminen gejagt und liefert ein Produkt ab – und wollte immer mal schreiben, worauf man Lust hat. Da gab es im Hamburger Abaton-Kino die wunderbare Reihe „Unbekannte Filme von unbekannten jungen deutschen Regisseuren“, da bin ich hingegangen. Ich hatte keine Ahnung von Schlingensief.

ERZÄHLERIN – Dietrich Kuhlbrodt, ehemaliger Staatsanwalt, Filmkritiker und Schauspieler –

O-TON 02 Dietrich Kuhlbrodt Da lief von ihm der Film „Tunguska – Die Kisten sind da“. Ich bin auf Gutdünken reingegangen und war total begeistert. Hinterher hieß es dann in einer Diskussion aus dem Publikum: ‚Alles so pubertär, oh nee, ganz schlimm’. Ich habe mich total aufgeregt: ‚Wer sagt, dass pubertär etwas Schlechtes ist? Rimbaud hat Gedichte in vollem Zustand

4 der Pubertät geschrieben.’ Dann rief ich den Redakteur Wolfram Schütte bei der FR an: ‚Ich habe was Tolles erlebt.’ ‚Wieviel Spalten?’ Dann erschien meine Kritik unter dem Titel „Der Rimbaud des neuen deutschen Films“. Nach zwei Tagen hatte Schlingensief meine Telefonnummer rausgefunden und engagierte mich telefonisch für seinen nächsten Film. ‚Wann wird gedreht?’ ‚In zwei Wochen.’ So ging die Bekanntschaft und Freundschaft mit Schlingensief los.

AUSSCHNITT „Tunguska“ Musik

DARÜBER ERZÄHLERIN „Tunguska – die Kisten sind da“ war 1984 der erste lange Spielfilm von Christoph Schlingensief. Er ist zugleich der Abschluss einer Trilogie mit dem bezeichnenden Titel „Film als Neurose“. „Tunguska“ handelt von einer großen Katastrophe, vom Wahnwitz des Filmemachens und von drei Avantgarde-Film-Protagonisten am nördlichen Ende der Welt.

AUSSCHNITT HOCH

DARÜBER ERZÄHLERIN So wenig man es schafft, die Filme von Christoph Schlingensief in so etwas wie einer Handlung nachzuerzählen, so wenig kann man sie anhand ihrer Personen wiedergeben. Jedenfalls funktionieren sie nicht nach den Regeln des psychologischen Realismus. Eher schon nach denen von surrealistischen Comics. Eine von vielen Spuren, die in die Kindheit und Jugend Schlingensiefs führen.

O-TON 03 Christoph Schlingensief Ich habe wahnsinnig viele Comics gelesen in meinem Leben, immer so in einer Hockhaltung, mit einem kleinen Tellerchen, auf dem Äpfelchen lagen. Diese Figuren haben mich auch sehr geprägt. Ich kann nicht abstreiten, dass mich auch später in Filmen und auf der Bühne eigentlich nicht die Psychologie von Personen interessiert hat, sondern das, was der Comic daraus macht.

ERZÄHLERIN Der Comic ist naturgemäß eine Art von expressionistischer Kunst. In Schlingensiefs Filmen spielt das Stilisierte, Reduzierte und Dynamische dieser Kunstform bis in die Dialoge hinein: Sie sind weniger fließende Kommunikation der Personen als vielmehr geballte Ladungen von Exzess und Gewalt. Die Figuren sprechen – genauer gesagt schreien sie meistens – nicht, um sich einander verständlich zu machen, sondern um möglichst expressiv imaginäre Sprechblasen zu füllen.

AUSSCHNITT

5 ERZÄHLERIN Ein anderer Einfluss auf die frühe Filmarbeit von Christoph Schlingensief war das so genannte „Trash Movie“, das in den 1970er Jahren seine Blüte in den USA und Europa erlebte. Billige, schnell gedrehte Filme, in denen es nicht auf die Logik der Handlung, sondern auf die Montage der Attraktionen ankam: Sex, Gewalt und groteske Einfälle. Und die vielleicht gerade deswegen absonderliche Perlen abseitiger Filmkunst hervorgebracht haben.

MUSIK „Das Totenhaus der Lady Florence“

DARÜBER ERZÄHLERIN Wie die Trashmovies waren Schlingensiefs frühe Filme – etwa sein Schüler-Frühwerk „Das Totenhaus der Lady Florence“ von 1974 – mehr von wilden Bildeinfällen und der ebenfalls „trashigen“ Musik geprägt als von einer schlüssigen Dramaturgie.

MUSIK „Für Elise“

DARÜBER ERZÄHLERIN Musik spielte in Christoph Schlingensiefs Filmen stets eine große Rolle. Manchmal auch die Zerstörung von Musik wie 1982 in seinem Kurzfilm „Für Elise“: Vor kleinstädtischer Schneekulisse „zerbläst“ der Filmemacher höchstselbst fachgerecht und sehr programmatisch das Deutschlandlied.

MUSIK HOCH

DARÜBER ERZÄHLERIN Prägend für die weitere Arbeit Christoph Schlingensiefs wurde die Begegnung mit dem Filmemacher .

O-TON 04 Christoph Schlingensief Ich habe dann durch einen Zufall Werner Nekes kennengelernt, der damals in der Filmwerkstatt in Essen-Borbeck geschnitten hat. Er zeigte mir Ausschnitte aus seinen Filmen. Das waren Einzelbilder hintereinander, und auf einem Bild habe ich ihn erkannt, obwohl der Film normal lief. Das fand er gut, dass ich ihn da so schnell gesehen hatte, obwohl das nur ein Bild war von 25 pro Sekunde. Dann meinte er, ob ich nicht Lust hätte, ihm zu assistieren. Ich wusste nicht, wer Werner Nekes ist, der Film, den ich da gesehen hatte, war nicht so, wie ich mir Filme vorstellte, das würde ich experimentell nennen, Chaos halt. Dann habe ich ihm assistiert und Nekes hat langsam angefangen, mich mit so einem Virus zu versorgen.

6 ERZÄHLERIN Die Symptome der Krankheit, die dieser Virus auslöste, kann man mit wenigen Worten beschreiben: Filme machen. Filme anders machen. Andere Filme machen. Filme machen, die eigentlich unmöglich sind. Filme, die nach Christoph Schlingensiefs eigenem Programm ‚75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand’ bedeuten.

MUSIK „Tunguska“ Trommel

DARÜBER RIMBAUD Ich müßte eine Hölle haben für meinen Zorn, eine Hölle für meinen Stolz – und die Hölle der Zärtlichkeit. Ein Konzert von Höllen.

MUSIK HOCH

ERZÄHLERIN Im Wesentlichen spielen alle Filme von Christoph Schlingensief in einer Endzeit der Welt und in einer Endzeit des Kinos. Es ist, als hätte da jemand die Forderung von Jean Luc Godard beim Wort genommen, der behauptet hatte, die der Zeit angemessenen Filme müssten aussehen wie aus dem Müll gezogen. Schlingensiefs Filme sind schnell und heftig, viel Improvisation, aber mit viel Gespür für Rhythmus und Licht. Es geht um Verzweiflung, Zorn und Aufruhr. Es sind Reisen ins Innere dessen, was die Kritiker die „Hysterie“ nennen: Eine Artikulation von Ideen, Gefühlen, Ängsten und Anmaßungen sozusagen mit letzter Kraft, in grausamen aber natürlich auch furchtbar komischen Endspielen. Die Filme entstehen an bizarren Orten, auf einer Hallig, in einem Bunker, auf einer Baustelle, in Industrie-Ruinen, in einer NVA-Kaserne. Es gibt nur wenige Regisseure, die so präzise und direkt auf solche Orte und Räume reagieren. Was die Dialoge eigentlich genau sagen wollen und warum ein Film seinen Fluss immer wieder durch brutale Schnitte zerstören muss, das mag sich vielleicht nicht gleich erschließen. Aber der Raum eines Schlingensief-Films vermittelt sich mit der größten Sinnlichkeit von der Leinwand auf die Zuschauer. Man darf sich mit eingeschlossen, mit verirrt fühlen – was für manche Zuschauer schwer zu ertragen ist. Ganz abgesehen davon, dass es auch immer wieder um drastische Körperlichkeit geht.

AUSSCHNITT „100 Jahre

DARÜBER ERZÄHLERIN Schlingensiefs Schauspieler sind eine Mischung aus Laien und Profis, Selbstdarstellern und Weltstars wie etwa . Sie agieren in diesen cineastischen Zwischenräumen, Sackgassen, Labyrinthen und Gefängnissen wie entfesselt während die Kamera versucht, ihnen zu folgen. Udo Kier gibt hier höchst beeindruckend in einer finsteren Comic-Version den Adolf Hitler.

7 AUSSCHNITT „100 Jahre Adolf Hitler“ Udo Kier: Ich Führer und Held

O-TON 05 Voxi Bärenklau Christoph und ich haben uns ganz gut verstanden, wir hatten die gleichen Interessen und die gleichen Vorstellungen von Bildern. Ich habe das umsetzen können, wie er das gerne gehabt hatte. ERZÄHLERIN – Volker „Voxi“ Bärenklau, Kameramann und Lichtgestalter –

O-TON 06 Voxi Bärenklau Er hat Kamera gemacht, weil er immer Kamera machte. Während des ersten gemeinsamen Filmes hat er festgestellt, dass es eine ganz gute Idee wäre, mir diese Aufgabe zu überlassen, damit er sich mehr auf Regie konzentrieren konnte. Das haben wir dann gemacht bei „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker“. Da hatten wir so zusammengearbeitet, dass ich ihm eine Lampe gebaut habe, die er führen konnte wie so einen Zauberstab, wie ein Dirigent. Ich wusste, wo ich hinzuschwenken hatte, und die Schauspieler wussten, dass sie jetzt im Fokus waren. Den Film haben wir in 19 Stunden an einem Stück gedreht. Wir haben uns in einen Bunker eingeschlossen und beschlossen, erst rauszugehen, wenn der Film zu Ende gedreht worden ist. Ich hatte da nur Handkamera gemacht, damals noch mit Film, ziemlich risikoreich, ohne zu wissen, ob da überhaupt was drauf ist, ohne Kontrolle über das Kopierwerk. Ich habe den schwarz- weiß und stark forciert belichtet, es sollte so aussehen wie eine alte Wochenschauaufnahme. Meine Lampe, wo er das im Fokus steuern konnte, hat uns ziemlich viel Kommunikation m Set erspart, und wir konnten schnell und effektiv das Drehbuch realisieren.

ERZÄHLERIN Darauf kam es dem Filmemacher Christoph Schlingensief immer an: Die Spontanität zu erhalten und die wahnwitzige Lust am Filmemachen. Natürlich war diese direkte Form des Filmemachens auch ein Ergebnis der schmalen und manchmal ganz einfach nicht vorhandenen Budgets. Filmemachen war auf diese Weise ein Gruppenunternehmen, eine Sache unter Freunden. Erklärt Dietrich Kuhlbrodt, der seit „Menu total“ von 1985 bei fast allen Filmen Schlingensiefs mitspielte:

O-TON 07 Dietrich Kuhlbrodt Das war nicht wie in einem Studio, wo gesagt wird: Passen Sie auf, dass Sie nicht mit dem rechten Fuß nicht ans Mikro stoßen. Und passen Sie auch auf, dass Sie sich nicht zu weit entfernen vom Mikro etc. Die Kamera folgte dem Darsteller und nicht umgekehrt. So konnte man alles rauslassen, was man in sich hatte. Ich habe Sachen rausgelassen, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie bringen kann,. Ich wusste nicht, dass ich improvisieren kann. Die Basis war eine freundschaftliche und kameradschaftliche. Für mich war das genau das Richtige, und ich glaube, für viele andere auch.

8 ERZÄHLERIN Der „Neue Deutsche Film“, der gern so tat, als bestände er aus lauter Außenseitern und Outlaws, konnte und wollte einen solchen radikalen jungen Außenseiter nicht aufnehmen. Mit wenigen Ausnahmen mochten die Kritiker seine Filme nicht. Die Filmhochschule München verweigerte dem Autor eines solchen direkten Kinos der Emotionen, bei denen ein klassisches Drehbuch allerhöchstens als Vorwand existierte, die Aufnahme. Und auch die mehr oder weniger etablierten Autorenfilmer sperrten sich gegen den rebellischen Nachwuchs.

AUSSCHNITT „100 Jahre Adolf Hitler“ Wenders

O-TON 08 Dietrich Kuhlbrodt Es gab vehemente Ablehnung. Er hatte Glück, auf der Berlinale lief sein Film „Die letzte Stunde im Führerbunker“. Der endete mit einem Satz von Wim Wenders in Cannes: „Man muss die Bilder der Welt verändern, um die Welt zu verändern.“ Die Mehrheit sagte, das ist doch ganz toll, was er gesagt hat. Das kam in diesem Film etwas merkwürdig raus, weil es mit einem Zitat von Franz Josef Strauß verbunden war. Dann zog bei der Premiere auf der Berlinale Wenders schon nach 10 Minuten aus, mit seiner Gefolgschaft von hundert Leuten, die alle aufstanden und den Saal verließen. Dabei war Schlingensief extra nach Cannes gefahren, als es mit der Aufnahme an der Münchner HFF nicht klappte, und wollte eine Empfehlung von Wenders haben. Wenders schrieb tatsächlich ein Empfehlungsschreiben. Der Effekt war, dass er, als er da seine Filme einreichte, hohnlachend abgewiesen wurde: „Suchen Sie sich einen anderen Beruf aus.“ Und der Wenders, der sich so eingesetzt hatte, wendete sich nun empört von ihm ab.

AUSSCHNITT „Das deutsche Kettensägenmassaker“

DARÜBER ERZÄHLERIN „Das deutsche Kettensägenmassaker“ war Schlingensiefs erbitterte cineastische Reaktion auf die deutsche Wiedervereinigung – in Gestalt eines Kannibalenfilms. Doch diese Mischung aus Kunst, Trash und Provokation blieb den deutschen Filmemachern und Filmkritikern größtenteils fremd. Das heißt aber nicht, dass Schlingensief bei seinem Angriff auf das Konventionelle und den guten Geschmack ohne Verbündete blieb.

AUSSCHNITT HOCH

DARÜBER O-TON 09 Frieder Schlaich Ich habe Christoph Schlingensief im kleinen Xenon-Kino in kennengelernt. Da hat er 1990 „Das deutsche Kettensägenmassaker“ vorgestellt und blutroten Schnaps ausgeschenkt.

9 ERZÄHLERIN Der Filmemacher Frieder Schlaich vertreibt mit seiner Firma „Filmgalerie 451“ Christoph Schlingensiefs Filmarbeiten sorgfältig editiert auf DVD.

O-TON 10 Frieder Schlaich Wir hatten in Stuttgart eine kleine Off-Videothek mit Filmkunst. Irgendwann habe ich gefragt, wieso gibt es diesen Film nicht auf Video? Dann haben wir „Das deutsche Kettensägenmassaker“ als unseren ersten Film auf VHS-Video veröffentlicht und dank des spekulativen Titels wurde es ein ziemlicher Erfolg. Von da an haben wir alle Christoph Schlingensief-Filme veröffentlicht. Und als ich nach Berlin gezogen bin, hat er mich mit reingezogen in sein Team und manchmal mit Haut und Haaren aufgefressen. Ich bin aber immer nur auf der Filmseite geblieben, wir haben einige Filme zusammen produziert und veröffentlicht.

MUSIK „Tunguska“ Trommeln

DARÜBER RIMBAUD Nehmt euch in Acht! Eure Stunde hat geschlagen. Unordnung ist Trumpf!

MUSIK HOCH

ERZÄHLERIN Christoph Schlingensief hat es seinen Mitarbeitern und Freunden nie ganz leicht gemacht. Dem großen Mut, eigentlich unmögliche Filmvorhaben anzupacken, quasi Film mit nichts als Enthusiasmus zu machen und jeder Anforderung von Dramaturgie und gutem Geschmack eine lange Nase zu drehen, standen immer wieder seine Selbstzweifel gegenüber. Und eine gewisse Lust am Kaputtmachen sogar der eigenen Arbeit.

O-TON 11 Frieder Schlaich Es gab auch zwischen uns schwere Konflikte. Dieses Destruktive in Christoph Arbeit hat jemanden, der auf Produktionsseite steht, schwer gestresst. D.h. dass ein Film nicht fertig gemacht wurde wie „The African Twintowers“ oder dass es sehr lange Postproduktionszeiten gab, da musste man schon sehr viel Verständnis für die künstlerischen Konflikte haben, um das auszuhalten. Es gab auch Streitigkeiten, Christoph hat auch mit mir gebrochen, dann ging es wieder weiter – das war aber irgendwo normal.

ERZÄHLERIN Was sich oft in sehr persönlichen Konflikten äußerte, war meist eine Auseinandersetzung um die richtige künstlerische Form. Schlingensiefs Filme verweigern sich zum Beispiel einer klassischen dramaturgischen Form wie etwa dem Drei-Akt-Schema, das man aus Hollywood-Filmen und

10 Fernsehproduktionen kennt: die Abfolge vom Aufbau der Charaktere und der Handlung über den dramatischen Konflikt bis hin zur Lösung am Ende. Und sie verweigern sich dem konventionellen Schema, dass auf eine heftige Szene wieder eine ruhigere folgen muss: Nach der körperlichen Aktion der reflektierende Dialog und so weiter. Bei Schlingensief dagegen folgen gleichwertige emotionale und expressive Sequenzen aufeinander. Es gibt keine Aufteilung in Aktion und Dialog, keine klassische Auflösung in Schnitt und Gegenschnitt. Dieser vollständige Bruch mit der Kino- Tradition des Erzählfilms ist nicht immer leicht auszuhalten.

AUSSCHNITT „Das deutsche Kettensägenmassaker“

DARÜBER O-TON 12 Voxi Bärenklau „Das deutsche Kettensägenmassaker“ war ein Bedürfnis von Christoph, die deutsche Wiedervereinigung zu verarbeiten in seiner eigenen Form. Die Dreharbeiten waren ziemlich anstrengend, weil wir wie immer kein Geld hatten und die Beleuchter uns davongelaufen sind, weil die 24 Stunden am Tag arbeiten mussten und nichts zu essen bekommen haben.

ERZÄHLERIN – Kameramann Voxi Bärenklau –

DARÜBER O-TON 13 Voxi Bärenklau Ich hatte da ein dramaturgisches Anliegen an Christoph: Dass er es mal schaffen würde, eine typische Handlungskurve einzubauen, wo man unten anfängt mit einer Exposition, dann ein Höhepunkt und am Ende wieder ausklingt. Das war ein Thema während dieses Films, wo ich mit ihm gestritten hatte. Er hat sich aber immer durchgesetzt: Er hat oben angefangen, ist oben geblieben und ist oben auch geendet, sowohl thematisch als auch formal. Ich hatte mich mit ihm soweit zerstritten, dass ich geschworen hatte, keinen Film mehr mit ihm zu machen. Ich habe das auch einen Film lang ausgehalten, habe dann festgestellt, das wäre kein Schlingensief-Film geworden, wenn der nicht oben anfängt, oben bleibt und oben endet.

ERZÄHLERIN Filmemachen bedeutete für Christoph Schlingensief nicht einfach, ein ästhetisches Produkt mit technischen und organisatorischen Mitteln herzustellen. Jeder Film war ein Kampf, ein Wagnis, ein Abenteuer.

O-TON 14 Dietrich Kuhlbrodt Das Sich-Einlassen auf Filme von ihm habe ich immer abgebucht unter Abenteuer. Das ging gar nicht anders, weil ich nicht voraussehen konnte, was passieren sollte, weil er das nicht mitteilte. Wobei ich ihn immer in Verdacht hatte, er wusste genau, was er tat. Z.B. einen Film für in seinem Kulturfenster bei RTL. Da hatte er eine Einladung bekommen, nach New York zu fahren und dort etwas auszustellen. Das war

11 eine Installation, das machte er so nebenher. Als es hieß: Dann treffen wir uns übermorgen, fragte er: Und was ist morgen? Ja, das ist Eingewöhnungszeit. Fein, sagte er, dann mache ich meine Demo auf dem Times Square, und das filmen wir. Dietrich, du passt auf das Auto auf, und wenn jemand kommt, sagst du, das ist ok. Dann hatte er ein Demoschild mit, darauf stand „Don’t buy german goods“, die Umkehrung von „Deutsche, kauft nicht bei Juden“ in der Nazizeit. Das war eine Ein-Mann-Demo, er wollte es auch so. Er ging in der Mitte vom Broadway, die Fahrzeuge dreispurig rechts und dreispurig links. Schon der sechste Wagen war ein Taxi, da kam eine Faust heraus mit irgendeinem Finger. Ich dachte: Jetzt wird er erschossen. Aber heraus kam der Daumen, das Siegeszeichen, und aus anderen Autos auch. Die Ein-Mann-Demo wurde begeistert aufgenommen von den Autofahrern auf dem Broadway. Da gehört Mut dazu, dem setzte er sich aus. Und darum glaubten wir an ihn.

ERZÄHLERIN Christoph Schlingensief hat immer wieder Menschen dazu eingeladen, an seinen künstlerischen Abenteuern teil zu nehmen. In „Die 120 Tage von Bottrop“ erklärt der ehemalige Fassbinder- Schauspieler angesichts von Aliens, die das Brandenburger Tor als Startrampe nutzen, worum es eigentlich geht:

AUSSCHNITT „Die 120 Tage von Bottrop“ „Was soll dieser Film eigentlich ausdrücken“ – „Das letzte große Geheimnis der Menschheit soll er ausdrücken ... uns selbst. Uns selbst.“

ERZÄHLERIN Wie so oft in Schlingensiefs Filmen läuft der Protagonist, kaum hat er diese bemerkenswerten Worte ausgestoßen, auch schon wieder davon. Wenn es überhaupt so etwas wie eine Ruhe in Schlingensiefs Filmen geben kann, dann ist es die Ruhe des Todes. Wie etwa in „Menu total“. AUSSCHNITT „Menu total“: ... „Jetzt ist Ruhe. Jetzt will der Vater schlafen.“

ERZÄHLERIN Die Ausnahme stellt „Egomania“ aus dem Jahr 1986 dar, sozusagen der Film zur Liebesbeziehung zwischen Schlingensief und der britischen Schauspielerin . Zwischen Zitierwut, Punk und Romantik schafft der Regisseur ab und an besondere Augenblicke des Innehaltens. Und macht sich auch schon wieder darüber lustig.

AUSSCHNITT „Egomania“: Zu den Göttern bitte...

ERZÄHLERIN Gibt es ansonsten ein wiederkehrendes Thema beim Filmemacher Christoph Schlingensief? Es sind, man kann es nicht anders sagen, die Dämonen der deutschen Zeitgeschichte, die die expressionistischen Comic-Figuren in seinen Filmen umtreiben: Der Faschismus und die Figur des

12 Führers in „100 Jahre Adolf Hitler“; die gespenstischen Wiedergänger der Nazis, die faschistische Melodramatik von Veit Harlans Film „Opfergang, die durch Schlingensiefs Werk „Mutters Maske“ spukt; Entführung und Mord als Medienspektakel in „Terror 2000“; die Wiedervereinigung in „Das deutsche Kettensägenmassaker“. Oder auch Kolonialismus und Rassismus in „United Trash“, der 1996 noch einmal das Konzept vom Filmen als abenteuerliche Herausforderung ganz und gar erfüllte.

AUSSCHNITT „United Trash“

DARÜBER O-TON 15 Dietrich Kuhlbrodt Wenn man ein Ranking macht, fand ich Harare, Zimbabwe, das war nicht gedacht als abenteuerlicher Film, war es aber. Kitten Natividad mit ihren Wahnsinns-Brüsten erfrischte sich in einem Dorf mit Strohdachhütten, indem sie erhitzt vom Spiel ihre Brüste rauszuholen pflegte und unter den einzigen Wasserhahn zu halten. Ringsum stand das ganze Dorf, die Kinder in der ersten Reihe, dahinter die Männer und ganz hinten die Frauen. Daraus entwickelte sich beim Geheimdienst von Mugabe der Eindruck, dass da ein Pornofilm gedreht wird, der nicht vorher eingereicht worden war. Der Film wurde beschlagnahmt, wir haben ihn befreit und im Haus des deutschen Botschafters gelagert. Und haben uns gefreut, dass der uns hilft, die Kopien zu sichern, die später als Diplomatengepäck nach Deutschland gelangten. Ist das ein Abenteuer oder nicht? Aber das war kein geplantes Abenteuer, dazu gehörte, dass Teammitglieder vom Set weg von der Polizei festgenommen wurden und tagelang nicht mehr auffindbar waren. Ich fand das schon ziemlich abenteuerlich.

ERZÄHLERIN Film als Neurose? So kann man es sehen. Oder auch: Film als Befreiung. Nicht nur beim Drehen, sondern auch beim Film-Schauen.

AUSSCHNITT „Menu total“

DARÜBER ERZÄHLERIN „Menu total“, 1985: Wieder befinden wir uns in einem der unheimlichen Räume der Schlingensief- Filme: in einer stattlichen Villa lebt eine merkwürdige Familie, darunter als Sohn, ihre verdrängten Empfindungen und Aggressionen aus. Man brüllt sich an, man kotzt sich aus, man verletzt sich. Es ist, als käme der ganze Abfall der deutschen Mikrogeschichte in einem Moment zum Vorschein. Nicht, dass man von einer konventionellen Handlung sprechen könnte. Schon gar nicht von einer dramaturgischen Auflösung. Es ist vor allem ein intensiver Moment der Wahrheit und der Gewalt. Er dauert 81 Minuten.

13 O-TON 16 Christoph Schlingensief (beginnt mit Filmton) Für mich war „Menu total“ etwas sehr Existenzielles. Es ist die Geschichte des kleinen Jungen, der seine ganze Familie ausrottet. Und jetzt hat natürlich jeder vermutet, ich habe ein ganz schwieriges Elternhaus: Der Vater hat mich wahrscheinlich vergewaltigt und abends in Frauenkleidern vor mir getanzt usw. Ich kann nur sagen, ich kann mich nicht daran erinnern. Das ist aber eigentlich wie so ein tiefes inneres Drecksloch: so eines, was danach giert, etwas abzuarbeiten. Ich glaube daran, dass wir Informationen in den Zellen mit uns herumschleppen, die lange vor uns da rein gekommen sind.

AUSSCHNITT „Menu total“

DARÜBER O-TON 17 Frieder Schlaich „Menu total“ war für ihn der Film, der ihm am wichtigsten und am nächsten war. Den hat er ganz intuitiv gemacht, da war er der junge Filmemacher. Wenn man den Film heute anschaut, denkt man, das ist das Werk eines reifen Regisseurs, der formal, mit Schauspielern, mit Ton sehr gut umgehen kann. Auf diesen Film hat er sich, vor allem was Ton- und visuelle Ebene betrifft, sehr oft bezogen. Wenn man einen Film sehen will, den Christoph Schlingensief auch bis zuletzt immer wieder rausgezogen hat und geschätzt hat und selbst zitiert hat – dann „Menu total“. DARÜBER ERZÄHLERIN Christoph Schlingensief filmte stets mit offenem Ausgang. Gerade seine besten Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass niemand, weder der Autor und Regisseur noch die Beteiligten, genau wissen, wohin die Reise eigentlich geht. Und die Zuschauer schon gar nicht.

O-TON 18 Christoph Schlingensief Ich habe das öfter erlebt, auch am Theater, dass ich, wenn das dann fertig ist, könnte ich nicht anfangen und das sofort interpretieren und sofort sagen, darum geht es. Das ist auch ein Phänomen meiner Arbeit, dass ich gelernt habe, wenn ich etwas klar anstrebe und will das Ergebnis auf dem Weg dahin schon mal formulieren, damit das alle wissen – dann kommt da eine unglaublich tranige Soße dabei raus, die mich nicht befriedigt, den Zuschauer nicht befriedigt und vielleicht auch die gar nicht mal schlechte Idee darin nicht befriedigt. Es geht alles schön langsam vor die Hunde und fährt langsam gegen den Baum und keiner zieht die Bremse. Ich habe nichts dagegen, gegen den Baum zu fahren. Aber wenn das nicht aus einem Moment der Euphorie heraus passiert, sondern bloß weil keiner in der Lage ist, zu sagen, wie bescheuert dieser Weg ist, dann ist das falsch.

MUSIK „Tunguska“ Trommeln

DARÜBER RIMBAUD Aufbruch: Genug gesehen. Die Vision hat sich in allen Weisen gezeigt. Genug gehabt. Geräusche der Städte, abends, und in der Sonne, und immer. Genug gekannt. Die Halte des Lebens. – O Geräusche und Visionen! Aufbruch in neue Liebe und neuen Lärm!

14 MUSIK HOCH

ERZÄHLERIN Gewiss hoffte Christoph Schlingensief als Filmemacher immer aufs Gelingen. Aber noch mehr war er wohl vom Scheitern besessen. So musste wohl einmal der Punkt kommen, wo sich die Wege von Schlingensief und dem deutschen Kino trennten. Das Kino war zu eng für seine Kunst geworden, und Schlingensief zu drastisch und unversöhnt, um noch Platz zu finden in einem Kino, das sich in mittelständische Beziehungskomödien, gediegene Literaturverfilmungen und kleinlaute Erhabenheit auflöste. Christoph Schlingensief kehrte dem Kino den Rücken. Aber nicht dem Film. In seiner Bühnenarbeit fand Christoph Schlingensief ein neues Publikum, eines, das toleranter und aufgeschlossener schien als das Kinopublikum. An der Berliner Volksbühne entwickelte er seine spezifische Form, die man „expanded cinema“ oder Theater mit Filmeffekten nennen kann. Mit dabei Kameramann und Lichtgestalter Voxi Bärenklau:

O-TON 19 Voxi Bärenklau Diese neue Form, Filme auf einer Bühne im Theaterkontext präsentieren zu können, das war für Christoph eine willkommene Angelegenheit. An der Volksbühne war man sowieso experimentierfreudiger, die Leute sind eben nicht scharenweise wie aus dem klassischen Kino gerannt, nachdem auf der Leinwand eine Bilderexplosion stattgefunden hatte oder eine Überforderung des Zuschauers, was ja Christophs großes Anliegen war: mit Doppel-, Überbelichtungen und mit der entsprechenden Inszenierung mit expressiven Schauspielern beim Zuschauer etwas zu bewirken, indem er sie fordert, indem er sie rannimmt. Das war am Theater etwas einfacher und willkommener und dann auch erfolgreicher. Er war schon erfolgreicher als Theaterregisseur als als Filmregisseur, obwohl er immer Filme machen wollte und da mehr oder weniger gescheitert ist, weil die Leute scharenweise aus dem Kino gerannt sind. Später waren diese Filme mehr oder weniger Kult. Er hat ja seine internationale Anerkennung dadurch gefunden, dass John Waters damals in der Jury für den Goldenen Löwen den Deutschen Pavillon mit dem Preis bedacht hatte. Was Christoph sehr geehrt hätte, weil er John Waters bewundert hatte.

O-TON 20 Dietrich Kuhlbrodt Er meinte, am Theater könnte er noch individueller reagieren als sich in die Filmmaschine einzuspeisen mit tausend Gremien usw. Die beschädigten seine Individualität, unsere auch. Er war mit seinem Film „United Trash“ nicht einverstanden, er hat tausendmal rumgebastelt. Aber der Film wurde auch dadurch nicht besser, ich war beim Schneiden dabei.

ERZÄHLERIN – Dietrich Kuhlbrodt –

15 O-TON 21 Dietrich Kuhlbrodt Wir wurden als Team überrascht und sagten: Dann ist es wohl jetzt aus mit dem Team. Aber er sagte: ‚Ihr spielt natürlich alle dann auf der Bühne mit.’ ‚Wie soll das gehen, wir haben das noch nie gemacht?’ Dann sagt er: ‚Ich habe da schon was eingefädelt, ich könnte Hausregisseur von der Volksbühne Berlin werden.’ ‚Oh Gott, diese Riesenbühne!’ Ich hatte eine wahnsinnige Angst. Das sind irrsinnige Momente, du hast so eine Angst und wirst mit abgefüllt mit Adrenalin. Da kannst du noch so viele Linien ziehen, diesen Effekt hast du nicht. Wenn du da stehst, da sind die großen Schauspieler neben dir – ich glaube, das spielt auch bei Schlingensief eine Rolle, dass er diese Sachen persönlich aufzog. Er fasste die Leute an, er redetet mit den Leuten. Man kuckte sich in die Augen und sagte dann was, was man eigentlich gar nicht will. Das ist ein Moment, der wie von außen reinfällt in die Situation.

ERZÄHLERIN Christoph Schlingensief nahm sich die verschiedensten Medien vor. Er dekonstruierte das Genre der Talkshow für das Fernsehen, er okkupierte künstlerisch den öffentlichen Raum, er errichtete Installationen für Museen. Was das Theater anbelangt ging der Weg von der Berliner Volksbühne auf den geweihten Hügel von Bayreuth. Alles unter dem Motto „Scheitern als Chance“. Und bei alledem entstand so etwas wie ein magisches Instrument: Eine Anordnung, die Film, Bühne und Bildende Kunst zu vereinen versprach. Christoph Schlingensief gab ihm den Namen „Animatograph“.

ZITATOR Der Animatograph...

ERZÄHLERIN So heißt es auf der Schlingensief-Website in einer Art Gebrauchsanweisung zur Installation

ZITATOR ...ist eine Drehbühne, eine „aktionistische Fotoplatte“, ein sich permanent fortbewegender Transformationskörper. Thematisch beinhaltet es die verschiedensten Anschauungen menschlicher Natur. „Der Animatograph“ projiziert die kulturellen und zivilisatorischen Kämpfe in Fragen der Religion, Politik, Geschichte und Familie. Die Auseinandersetzung des Menschen mit höheren Kräften, wie Geistern, Göttern und sagenhaften Helden sind Ausdruck dieses Kampfes, ebenso wie Reinheitsrituale und symbolische Verformungen. „Der Animatograph“ verbindet nordische/europäische und afrikanische Traditionen und verknüpft filmische Visionen des Wagnerianischen Grals mit den schamanistischen Sitten und Bräuchen Afrikas sowie der isländischen Sagenwelt.

16 O-TON 22 Voxi Bärenklau Für mich die zentrale Arbeit in seinem gesamten künstlerischen Schaffen ist der Animatograph: Ein Gerät, was die alten Kinematographen, das Zooskop oder Praxinoskop als Prinzip aufnimmt und mehr oder weniger kongenial seine Filmarbeiten, seine Theaterarbeiten, seine Kunstinstallationen als Gesamtes verbindet. Das fand statt nach seiner -Inszenierung in Bayreuth, wo er die Idee hatte, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen: eine riesengroße Säule in den Zuschauerraum zu setzen, um als Zuschauer nicht mehr auf eine klassische Guckkastenbühne zu schauen, sondern Teil der Inszenierung zu werden, selbst Objekt der Projektion oder Teil des Bühnenbildes zu werden und Teil des Schauspiels zu werden, mit den Schauspielern an der animatographischen Bühne, die sich drehen sollte, um die Orientierung zu verlieren, teilhaben zu können. Man konnte das nicht umsetzen, das war statisch nicht möglich. Aber in kleinerem Umfang hat er das in Island umgesetzt, dann in Neuhardenberg bei dem Wagner-Animatographen. Und jetzt vor 2 Jahren hatten wir diesen Animatographen aus der Sammlung Falkenberg in den Kunstwerken oder im MoMa PS1 rekonstruiert. Das steht schon sinnbildlich für seine gesamte Arbeit, wo er mit Film angefangen hatte und eigentlich im Film gescheitert ist.

MUSIK

DARÜBER ERZÄHLERIN Möglicherweise war das Kino für Christoph Schlingensief der Ort, den er seit seiner Kindheit ersehnt hatte. Er machte Filme mit einer Super-Acht-Kamera und führte sie im Keller der elterlichen Wohnung vor. Das Kino war der Ort, den er nicht wirklich erreichen konnte, aus dem er schließlich von einer deutschen Filmkultur vertrieben wurde, die wild entschlossen schien, sich eher immer weiter zu verengen, als die Vorstellungen von Film und Filemachen zu erweitern. Wollte Schlingensief, nachdem er so ziemlich alle anderen Medien erobert hatte, noch einmal zurück in diesen magischen Raum? Gewiss nicht um jeden Preis.

O-TON 23 Frieder Schlaich Er hat immer wieder versucht, zurückzukehren zum Film. Das war auch das Spannende, dass er eigensinnige Filme machen wollte, immer etwas Neues ausprobieren. Das war unser Ansatz, das Ungewöhnliche, was er am Theater machte, in Film herüberzuretten, etwa „The African Twintowers“. Was er am Theater machte, war was Tonebene oder Drehbühne betrifft auch sehr filmisch. Wir haben uns immer gewünscht, dass es noch mal einen großen Kinofilm von Christoph Schlingensief gibt. Das hätte sicher was bewegt.

ERZÄHLERIN Aber so sehr man in der deutschen Kultur das Enfant terrible liebte, so sehr man sein Projekt eines Operndorfes in Afrika respektierte, so sehr man ihn schließlich sogar noch zum Bestseller-Autor kürte, so sehr verstand es die deutsche Kultur auch, seine Rückkehr in seinen Ursprungsraum, das Kino zu verhindern.

17 O-TON 24 Voxi Bärenklau Christoph größter Wunsch war, nochmal einen klassischen Kinofilm zu machen. Die Idee bestand schon sehr lange schon vor seiner Krankheit. Es ging in die Richtung eines Kammerspielfilms à la Rainer Werner Fassbinder, der in einer Villa spielt und alle zur Verfügung stehen. Als wir „Smash“ machten, das war die letzte Produktion vor seinem Tod für die Ruhr-Triennale, war es klar, dass er nicht mehr an den anstrengenden Proben teilnehmen konnte. Die Premiere war in Mühlheim/Ruhr geplant, das Bühnenbild war fertig, wir hatten Ideen für die Inszenierung, aber er konnte das gesundheitlich nicht mehr stemmen. Aber er wollte sich jetzt nicht zurückziehen und gar nichts machen, sondern er hatte die tolle Idee, stattdessen einen „lockeren, entspannten“ Kinofilm zu drehen und hatte sich schon ausgedacht, dass man die ganzen Schauspieler der „Smash“-Produktion hernimmt und quasi anstatt der Proben einen Film dreht. Wir hatten uns schon vorbereitet, es gab als Motiv eine alte Villa am Wannsee, es gab ein Buch, ich hatte meine ganze Technik und Team zusammengestellt. Allerdings hat die Ruhr-Triennale ihm das verweigert, obwohl er schon Gelder bekommen hatte. Es wäre ein Leichtes gewesen, diesen Film zu realisieren. Ich weiß, er war sehr enttäuscht, diese Entscheidung hat ihn persönlich getroffen, weil es ein ganz großer Traum war und weil wir so nah waren.

AUSSCHNITT „Menu total“

DARÜBER ERZÄHLERIN Christoph Schlingensiefs Filme sind keine vollendeten Kunstwerke, sondern eher das, was der Künstler als „soziale Skulptur“ bezeichnete. Man geht hinein und kommt in gewisser Weise verändert wieder heraus, aber jeder erlebt das auf eine ganz eigene Weise. Christoph Schlingensiefs Filme haben ihre ästhetische und politische Aufgabe auch dann vollbracht, wenn sich Menschen einfach nur über sie aufregen. Andere sind durch sie vollkommen beglückt. Es kommt eben nicht nur auf die Filme an, sondern auch auf die Augen, die sie sehen.

O-TON 25 Voxi Bärenklau Man sollte sich vorstellen, man geht in eine Geisterbahn verbunden so rasant wie eine Achterbahn, wo man Höhen und Tiefen erlebt und aus dem Staunen nicht mehr rauskommt. Wo man Bilder entdeckt, die man im Alltag nicht unbedingt so erlebt, aber die schon Bezug dazu haben. Dramatische Geschichten, Bilderfahrungen, Überforderungen und dass man neugierig sein sollte und man das durchaus schlimm oder schlecht finden kann und dass man auch rausgehen kann. Wenn da nur ein kurzer Moment dabei ist, der im Kopf bleibt, und das war bei Christoph immer, weil er es schaffte, Alltagszusammenhänge in einem ganz neuen Licht erscheinen zu lassen, dann nimmt man etwas mit aus so einem Film. Auf keinen Fall sollte man das als geniales Meisterwerk sehen, sondern als Wahrnehmungs-Erfahrung für sein Leben mitnehmen und vielleicht ab und zu mal daran denken.

MUSIK „Tunguska“ Trommeln

18 DARÜBER RIMBAUD Es ist falsch, zu sagen, Ich denke, es müsste heißen: Man denkt mich.

MUSIK HOCH

ERZÄHLERIN Für seine Mitarbeiter und manchmal auch für das Publikum war und ist nicht leicht auszuhalten, dass die Filme von Christoph Schlingensief immer zugleich aus dem Kreativen und aus dem Destruktiven kommen. Damit stellt er sich in die Tradition des Surrealismus, einer Kunstbewegung, die es, sieht man einmal von Luis Bunuel und von den Perlen des Trash Movie ab, im Kino immer schwer gehabt hat gegen eine klassische Erzählweise. Christoph Schlingensief war ein Filmemacher, der Impulse aus der bildenden Kunst auf das Kino übertrug. Schon deswegen galt und gilt er manchen Verfechtern der reinen Kinematographie als suspekt.

O-TON 26 Christoph Schlingensief (beginnt mit Musik) Ich wehre mich dagegen, dass ein Künstler immer das Gute für sich in Anspruch nehmen sollte. Jemand der sich mit Medien beschäftigt, sollte mal sagen: Ich bin böse, ich will das Böse schildern. Das surrealistische Manifest besteht auch darin, wahllos in die Menge zu schießen. Einen Gegenstand in einen anderen Kontext zu setzen, ist doch ein böser Akt: Einen Flaschentrockner auszustellen oder einen Klostein, ist doch ein böser Akt. Oder zu sagen, ich nehme einen Eimer mit Farbe und schleudere den über eine Leinwand, ist doch ein böser Akt gegenüber den schönen Bildern aus dem Mittelalter. Oder zu sagen, ich mache eine Fettecke ins Haus oder nagele Ihnen meinen Fußnagel an die Wand. Mein Name ist Joseph Beuys, schönen Abend noch. Aber das beschreibt ja etwas Triebhaftes, der Auftrag, heute bin ich aber böse als Künstler, das funktioniert auch nicht. Nein, man merkt das, ab wann jemand in sich etwas Böses hat, was er auch loswerden muss. Ich habe diese Angst in mir, ich bin über einige Ecken mit Goebbels verwandt, meine Großmutter ist eine geborene Goebbels, das ist die Kusine der Kusine gewesen. Vielleicht gibt es da Moleküle in mir, das könnte auch ein Angst sein: Hoffentlich kommen die nicht zur Wirkung. Also muss ich es doch vorher schon abnutzen, bevor es sich nachher vielleicht selber so aufbläht und sagt: Der ist es jetzt, da bin ich wieder gekommen.

AUSSCHNITT „100 Jahre Hitler“

DARÜBER O-TON 27 Dietrich Kuhlbrodt Vorbesprechungen, Nachbesprechungen? Nie, null. Wir glaubten, dass er das toll macht und dass wir das dann auch toll machen. Wir haben nie irgendetwas über den Kopf, obwohl Schlingensief alles im Kopf hatte. Es ist ein fast körperliches Programm gewesen, wie auf Abenteuerspielplatz, so wie ein jugendliches ‚Lass uns Sachen kaputtmachen und Fenster zerschmeißen’. Diesen Geist gab es bei Schlingensief, also nicht kaputt machen sondern: ‚Lasst uns diese Sachen machen und alle Erwartungen von Film zerstören.’ Er wollte in Kenntnis dessen, was da passierte, sein Ding durchmachen.

19 ERZÄHLERIN Die Fenster, die der Filmemacher Christoph Schlingensief zerschmissen hat, sind längst wieder verglast. Filme, die nicht den Erwartungen von Fördergremien, Fernsehredakteuren und Mainstream-Publikum entsprechen, sind denkbar rar geworden. Damit Schlingensief-Filme befreiend wirken, sind sie auf die Mitarbeit der Zuschauer angewiesen. Die müssen sich schon ein wenig bemühen, hinter die Oberfläche des Heftigen und Geschmacklosen zu sehen, und dabei neben dem Peinigenden auch das Lustvolle entdecken. Auf die schulmeisterliche Frage eines Spiegel-Journalisten, warum um Himmels willen er nicht einmal eine Komödie mache, um sich von seinen Dämonen zu befreien, antwortete Christoph Schlingensief in komischer Verzweiflung: „Aber das mache ich doch dauernd.“

O-TON 28 Frieder Schlaich Das hat Christoph bei den Filmen nicht so verstanden, dass sie so verschrecken. Das hat ihn schon überrascht: Wieso lacht hier niemand? Wieso verstehen die Leute es so falsch? Aber es gab etwas in Christoph Arbeit, was typisch war: dass er oft im Schnitt sehr destruktiv war. Er hat einer glatten Oberfläche nicht vertraut und die Filme im Schnitt oft nochmal massakriert. Er war eigentlich nie glücklich mit seinen Filmen, die Zweifel waren schon sehr groß bei ihm. Einerseits geliebt werden wollen von Publikum, aber sich nie anbiedern und wirklich was aussprechen – das war genau sein Konflikt. „Wer es ernst meint, muss Gas geben.“ Das ist auch so ein Ausspruch von Christoph. Die Produktivität hat sich nach den Filmen, da gab es einen gewissen Rhythmus von Langsamkeit für seine Verhältnisse, dass er nur jedes Jahr oder alle zwei Jahre einen Film machen konnte. Am Theater oder bei Aktionen hat er vier Projekte im Jahr gemacht, das war nicht aufzuhalten. Das hatte auch den Grund, dass er mit Kritik nicht gut umgehen konnte und sich dadurch geschützt hat, dass er sich ins nächste Projekt gestürzt hat: Ein Tag eine Krise mit einer schlechten Kritik, dann sofort verdrängen und das nächste – das war eine Arbeitsweise von ihm.

ERZÄHLERIN Ein Künstler, der immer in Bewegung blieb. Einerseits aus Neugierde, andererseits auf der Flucht. Auf der Flucht nach dem nächsten Scheitern, auf der Flucht aber auch vor dem Erfolg. Mit „Das deutsche Kettensägenmassaker“ hatte Schlingensief so genau das Unbehagen an einem Akt der deutschen Wiedervereinigung und ihrer durchaus obszönen Elemente getroffen, dass er damit viele Menschen auch außerhalb der Cineasten-Kreise erreichte. Es ist vielleicht der einzig wahre Film zur deutschen Einheit.

AUSSCHNITT „Das deutsche Kettensägenmassaker“: „Deutschland einig Voderlond“

DARÜBER ERZÄHLERIN Der deutschen Filmkritik war das auch wieder zu viel.

AUSSCHNITT HOCH

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DARÜBER ZITATOR „Was jedoch dieses ‚deutsche Kettensägenmassaker’ von Christoph Schlingensief, jenseits aller aggressiven Blutsauereien beim Ossi-Schlachten in der Grenzlandherberge der Gekröse- schmatzenden Metzel-Irren, so schwer genießbar macht, ist die stupide Verblödelung der Grand Guignol-Schlachtschüssel.“

ERZÄHLERIN So urteilte 1990 die Münchner Abendzeitung. Zu dieser Zeit jedenfalls hätte Christoph Schlingensief der Star des deutschen Polit-Punk-Films sein können, ein ewiger Underground-Held vielleicht, den man kultisch verehrt – nicht obwohl sondern gerade weil ihn das bürgerliche Feuilleton so ablehnte. Aber auch diesen Platz wollte Schlingensief auf Dauer nicht einnehmen. Er wollte diese Kultur, die so perfekt die Wirklichkeit auszublenden gelernt hatte, von innen her angreifen. Und gleichzeitig, das ist kein Widerspruch, auch ein Teil dieser Kultur werden. Auch deswegen musste er das Kino genauso wie den komfortablen Platz im Underground verlassen. Und vom Filmemacher zum Allround-Künstler werden. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

MUSIK „Tunguska“ Trommeln

DARÜBER RIMBAUD In sommerlicher Abendstunde geh ich meinen Weg; Zerstochen von Grannen, zertret ich das Gras: Mein Bein spürt die Kälte, von Träumen bewegt, Lass ich den Wind mein bloßes Haupt baden. Ich halte den Mund, denn mein Kopf ist so leer: Doch ewige Liebe beseelt meine Spur; Und wie ein Zigeuner, der sich verzehrt Nach Frauen, durchstreif ich voll Glück die Natur.

MUSIK HOCH

O-TON 29 Christoph Schlingensief Es geht mir immer um die Entschälung wie bei einer Zwiebel, wo man dann immer wieder auf die Angst kommt. Das ist schon bei den frühen Filmen so, dass der eigentliche Antriebsfaktor, die Produktivkraft die Angst ist und die baut dann die Schalen drum herum und ich kann sehr gut ablenken von meinen Problemen. In Wirklichkeit ist aber eine unglaubliche Spannung und Angst da, die wenn sie dann zu einer Entladung käme, vielleicht auch Menschen das Leben kosten würde.

21 Allein würde ich da nicht zur Klippe laufen. Die Obsessionen sind in die Schweine gefahren und die Schweine sind die Klippen runtergestürzt, und ich wäre dann der, der das gemacht hat. Und somit ist der Film für mich auch keine Therapie, sondern ein Aufbruch in eine Radikalität, die ich beim deutschen Film vermisse.

AUSSCHNITT „Die 120 Tage von Bottrop“ : „Es ist nie zu spät, das Unmögliche zu wollen. Auch wenn man es nie erreichen kann.“ Applaus

MUSIK

DARÜBER ZITATOR Das war „75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand“ Der Filmemacher Christoph Schlingensief Von Markus Metz & Georg Seeßlen Mit Texten von Arthur Rimbaud. Es sprachen: Susanne Hampl, Martin Bross und Louis Friedemann Thiele. Ton und Technik: Eva Pöpplein und Anna Deim. Regie: Robert Steudtner Redaktion: Klaus Pilger Produktion: Deutschlandfunk 2015.

MUSIK HOCH

ENDE