Universität der Künste Berlin Fakultät Bildende Kunst 01 Institut Kunstwissenschaft und Ästhetik Hardenbergstr. 33 10623 Berlin

Katrin Dillkofer

Henri Matisse und das ikonische Bildverständnis. Die Wiederentdeckung der Ästhetik des östlichen Bildes in der Moderne

Dissertation zur Erlangung des Doktors der Philosophie, verteidigt am 16.08.2012 von Katrin Dillkofer im Fach Kunstwissenschaft, Matrikelnummer: 357139 Willibald-Alexis-Str. 3, 10965 Berlin Mobil: +49 (0)176 96 80 29 87 Mail: [email protected]

Gutachter:

Herr Prof. Dr. Robert Kudielka, Universität der Künste Berlin Herr Prof. Dr. Gottfried Boehm, Universität Basel

Meinen Eltern

ABSTRACT

Henri Matisse und das ikonische Bildverständnis. Die Wiederentdeckung der Ästhetik des östlichen Bildes in der Moderne.

Ausgehend von Matisse' Russlandreise im Herbst 1911 und seiner Begeisterung angesichts der russischen Ikonen untersucht die Dissertation, inwiefern die Ästhetik der Ikonen für Matisse hilfreich gewesen ist, eigene Bildprobleme zu lösen. Der erste Teil der Arbeit ist theoretischer Natur. Es geht darum, die Herkunft des ikonischen Bilddenkens aus dem griechischen Osten zu erkunden und seine sprachlichen und begrifflichen Wurzeln herauszustellen. Dies wird durch eine Konfrontation mit dem abendländischen Bildverständnis erhellt: Das eikon hat seinen Ursprung in der griechischen Antike und verheißt im Gegensatz zur westlichen, auf Nachahmung bedachten imago eine unmittelbare Kraft zur Gegenwärtigung, was sich beispielsweise im Zutrauen an die Ikone zeigt, den dargestellten Heiligen zu präsentieren, als sei er leibhaftig anwesend. Das Bild gilt als reales Äquivalent. Der zweite Teil der Arbeit bringt die entwickelte Terminologie zur Anwendung und widmet sich zwei konkreten Fragestellungen, die Matisse in der Malerei beschäftigen. Zum einen kommt die Problematik des Bildraums zur Sprache: Seit dem 16. Jahrhundert gilt das mathematische Prinzip der Zentralperspektive in der abendländische Malerei als maßgebliches Instrument zur Erzeugung bildlicher Raumillusion. Matisse jedoch genügt das perspektivische Verfahren nicht, um seine Bildräume zu organisieren. Gerade im ROTEN ATELIER wird sein Bestreben deutlich, den Fokus aufzubrechen, um die Beziehungen zwischen Dingen herauszustellen, die durch das allgegenwärtige Rot nach vorne drängen. Die zirkulare Bildanlage weist bemerkenswerte Analogien zum byzantinischen Kuppelmosaik der HIMMELFAHRT CHRISTI im Markusdom zu Venedig auf, dessen goldener Grund den Anwesenden ohne jedes Illusionsbestreben in einer realen Architektur das Paradies verheißt. Zum anderen geht es um Matisse' Schwierigkeit, dem menschlichem Gesicht im Bild gerecht zu werden. Auch hier befriedigt ihn das seit der Renaissance tradierte, abendländische Streben nach größtmöglicher Ähnlichkeit mit dem Dargestellten nicht. Zugunsten einer generalisierenden Darstellung verzichtet er darauf, die Individualität des Porträtierten naturalistisch ins Bild zu setzen. Durch eine Bildanalyse von Matisse' PORTRÄT VON MADAME MATISSE und DEM PORTRÄT VON GRETA PROZOR wird deutlich, dass er sich auch hier die ästhetischen Wesensmerkmale der östlichen Ikonen zu eigen macht. Henri Matisse and iconic thinking. The rediscovery of Eastern esthetics in modernism

Starting from Matisse's trip to Russia in the autumn of 1911 and his enthusiasm for Russian icons, this PhD thesis examines how the esthetics of the icons might have influenced Matisse in solving pictorial issues in his paintings. The first part is theoretical andexplores the Eastern origins of iconic thinking emphasizing its linguistic and conceptual derivations. This is further illuminated by contrasting it with Occidental esthetics: The eikon has its roots in Greek antiquity and holds the power of immediate representation. This is evident in the trust put in icons to not only visualize but make present the depicted saint. The icon is understood as an aequivalent for the real person. In contrast, the Western imago is understood as animitation and representation, therefore, a hierachy between the real person and its image is established. The second part of the thesis implements the terminology developed and attends to two concrete questions which Matisse dealt with in his paintings: On the one hand, there is the problem of the pictoral space. Since the 16th century the mathematical principle of central perspective applies in Western painting as an essential means to create illusory pictorial space. But this proved not an adequate option for Matisse as he set out to to organize the space in his paintings. In the RED STUDIO his endeavor to move beyond the concept of a single focus becomes evident as he tries to make visible the relations between the things which are pushed foward through the ever-present red. The circular composition shows striking analogies to the Byzantine mosaic of the ASCENSION OF CHRIST in the cupola of San Marco in Venice. Here the golden background promises the paradise in a real architectonic space without any effort to create pictoral illusions. On the other hand, there is Matisse's difficulty to do justice to the human face in his painting. He is not satisfied either with the occidental tradition dating back to the Renaissance of striving for the highest possible similarity with the person portrayed. In favor of a generalized representation, he renounces the naturalistic portrayal of the individual. The analyses of Matisse's PORTRAIT OF MADAME MATISSE and PORTRAIT OF GRETA PROZOR reveal that also when depicting the human figure Matisse internalizes the esthetic features of Eastern icons.

Inhaltsverzeichnis

Vorhaben und Dank 1

I. Prolog: Matisse‘ LA CONVERSATION 2

A. Matisse‘ LA CONVERSATION – Eine Bildbeschreibung 2 1. Figuration, Farbe und Raum 2 2. Konstellation: Bezogenheit und Ferne 3 3. Gegenwärtigung 4

B. Das Bild und sein Titel. LA CONVERSATION – Die Unterredung 6

II. Einführung 9

A. Eine Ästhetik des Ikonischen 9 B. Matisse‘ Begegnung mit dem Ikonischen 12 C. Die Unterredung als Denkfigur 15

III. Grundlagen einer Ästhetik des östlichen Bildes im Kontrast zur abendländi- 16 schen Ästhetik A. Die Bildsprache der Verkündigung an Maria in Ost und West 16 1. Das Verkündigungsereignis bei Lukas im Neuen Testament 16 2. Die Inkarnation und Überwindung des alttestamentarischen Bilder- 17 verbots 3. Charakteristika der ikonischen und abendländischen Bildsprache am 20 Beispiel von Verkündigungsdarstellungen aus dem Osten und Westen a) Schwierigkeiten der Konfrontation 20 b) Eine Verkündigungsikone des Sinai 22 (1) Begegnung 22 (2) Bildraum 23 (3) Unterredung 24 c) Ein Verkündigungsfresko des Fra Angelico 25 (1) Begegnung 25 (2) Bildraum 26 (3) Unterredung 27 d) Zusammenfassung: Charakteristika der jeweiligen bildlichen Dar- 28 stellung 4. Die Verwandtschaft der CONVERSATION mit der Verkündigungsdar- 29 stellung im Allgemeinen und der Ikone vom Sinai im Besonderen

B. Das ikonische Bilddenken in Abgrenzung zum abendländischen Bildver- 31 ständnis. Eikon versus imago: Die philosophie- und theologiegeschichtli- chen Grundlagen

1. Was ist das ikonische Bilddenken? 31 2. Byzanz und die griechische Antike 31 3. Das sinnlich-sinnenhafte Wesen der griechischen Sprache und das in 33 ihr wohnende Weltverständnis a) Eidénai: Wissen 34 b) Noeîn: ein geistiges Schauen/Vernehmen 35 c) Alétheia: Unentzogenheit, Unverborgenheit oder Wahrheit 35 (1) Martin Heidegger: Platons Lehre von der Wahrheit 36 (2) Platon: Die Wahrheit und die Malerei 37 (3) Martin Heidegger: Kunstwerk und Wahrheit 37 4. Der alte Bildbegriff: eikon 38 a) Martin Heideggers Überlegungen zum Bildbegriff eikon 39 b) Beispiele des Ikonischen 40 (1) Kleobis und Biton... und Matisse 40 (2) Ikone der heiligen Katharina 43 c) Zusammenfassung: Charakteristika einer ikonischen Bildsprache 45 5. Das theologische Fundament der christlichen Ikone 47 a) Basileios von Caesarea 47 b) Johannes von Damaskus 51 c) Zusammenfassung: Affirmative Haltung der Ostkirche zur diessei- 52 tigen Welt und in der Folge auch zu den Bildern 6. Das abendländische Bildverständnis: idea und imago 54 a) Platons Ideenlehre 54 b) Augustinus 54 7. Der Bildbegriff des Westens: imago 58 a) Seneca 59 b) Plinius der Ältere 60 c) Die ›Indienstnahme‹ des Bildes im Westen anhand von Beispielen 61 (1) Augustus von Primaporta 62 (2) Das Bildereignis von Giotto und die neue Zeit 63 (3) Leonardo da Vinci: Visualisierung 65 (4) Pietro Perugino: ›An-dachts-bild‹ 66

8. Fazit:Ikonisches versus abendländisches Bildverständnis 68

IV. Das Ikonische im bildnerischen Werk und Denken von Henri Matisse 72

A. Matisse’ elementare Sympathie für ein ikonisches Bilddenken 72 1. Die ›Notizen eines Malers‹ 72 a) Ausdruck 73 b) Der künstlerische Schaffensprozess 74 c) Verdichtung, Generalisierung, Konzentration 75 d) Die bildliche Wirksamkeit 76 e) Das ›Wort vom Lehnstuhl‹ und sein hoher Anspruch 78 f) Die Rolle des zeitgenössischen Künstlers 79 g) Zusammenfassung der ›Notizen‹ 80 2. Das Dekorative – Ein Einblick 81 a) Schwierigkeiten des Begriffs: ›Dekorativ‹, ›Dekoration‹ 81 b) Das ›decorum‹ in der antiken Rhetorik 81 c) Dekoration und Dekadenz 82 (1) Die hellenistische Skulptur 82 (2) Manierismus 82 (3) Rokoko 83 3. Matisse’ Begegnung mit Byzanz 83 a) Ausstellungen orientalischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhun- 84 derts b) Matthew Stewart Prichard 85 (1) Eine revolutionäre Ästhetik 87 (2) Matisse als künstlerischer Verwirklicher einer ästhetischen 89 Vision (3) Der Betrachtungsmodus der passiven Aufmerksamkeit 90 c) Roger Fry, LA CONVERSATION und die Bewahrheitung des›Wortes 91 vom Lehnstuhl‹

B. Matisse’ Auffassung von Figur und Raum 93 1. Die Vorliebe für die abendländischen Bildgattungen 93 a) Interieur 93 b) Stilleben 93 c) Porträt 93 2. Raum und Raumgefühl 94 a) Der physikalisch-technische Raum 94 b) Der mathematische Raum und das zentralperspektivische Ver- 95 fahren des Leon Battista Alberti c) Matisse’ Raumgefühl 99 3. Das ROTE ATELIER – Die Dinge und der Raum 101

4. Die ästhetische Verwandtschaft zwischen dem ROTEN ATELIER und 104 dem byzantinischen Kirchenraum a) Die Raumerfahrung des Prokop in der Hagia Sophia zu Konstan- 105 tinopel b) Die Raumerfahrung von Georges Duthuit im Markusdom zu Vene- 106 dig c) Das Himmelfahrtsmosaik im Markusdom 109 d) Zusammenfassung: Die Ähnlichkeit der Raumwirkung 110

C. Die Schwierigkeit des Porträts 111 1. Der Ursprung des Porträts in der italienischen Renaissance 111 a) Das Individuum und sein Bildnis 111 b) Tizians VIOLANTE – eine Bildbeschreibung 113 c) Piero della Francesca und Raffael 114 2. Die Bildnisse von Matisse 115 a) Das PORTRÄT VON MADAME MATISSE 116 (1) Prosopon – Gesicht ist gleich Maske 118 (2) Die Beziehung zwischen Maler und Modell 121 b) Das PORTRÄT VON GRETA PROZOR 123 (1) Der Begriff ›Charakter‹ 125 (2) Die byzantinischen Münzen 126 (3) ›Platz- nehmen‹ 129 (4) Porträtieren und Zeichnen 130 (5) Zwei Porträtzeichnungen Greta Prozors 134 (6) Abstraktion und Gegenständlichkeit 136 c) Zusammenfassung: Matisse und die Kunst des Porträts 140

V. Epilog: Die Reise nach Russland im Herbst 1911 141

Zusammenfassung der Arbeit 147

Literaturverzeichnis 157 Abbildungsverzeichnis 163

Abbildungen

Vorhaben und Dank

Diese Arbeit verfolgt ein doppeltes Anliegen – zwei Anliegen, die sich gegenseitig be- dingen. Zum einen gilt es, ein altes Bildverständnis, das die abendländische Kunstge- schichte in den Hintergrund gedrängt hat, sichtbar zu machen. Es handelt sich um das aus dem griechischen Osten stammende ikonische Bilddenken, das im Wort eikon seinen Ursprung hat und in Ikonen der byzantinischen Epoche eine eigenständige Bildgestalt gefunden hat. Es soll gezeigt werden, auf welchen ästhetischen und philosophischen Vo- raussetzungen das ikonische Bildverständnis beruht. Zum anderen gilt es, den Blick auf die Bildkunst eines modernen Künstlers zu rich- ten, der sich auf die ästhetischen Grundlagen des östlichen Bildes besonnen hat: Henri Matisse. Es ist keine Neuigkeit, dass Matisse von den byzantinischen Ikonen begeistert war, die er im Herbst 1911 während seines Aufenthalts in Moskau und St. Petersburg zu sehen Gelegenheit hatte. Allerdings unterlässt Matisse es, uns hinlänglich darüber aufzu- klären, worauf seine Faszination beim Anblick der Ikonen beruhte. In seinen Briefen und Schriften ist er diesen Fragen nicht nachgegangen. Stattdessen malt er Bilder, die von dem feinsinnigen Gespür für die Ikonen Zeugnis ablegen. Was uns antreibt, ist der Versuch, durch eine eingehende Auseinandersetzung mit den Bildern in Worten begreifbar zu machen, auf welche Weise das ikonische Bildver- ständnis in Matisse’ Malerei Gestalt annimmt. Indem wir die Frage nach den ästhetischen Grundlagen des östlichen Bilddenkens an das säkulare Werk eines modernen Künstlers richten, wird es uns wiederum möglich, einen neuen Blick auf die byzantinische Ikone selbst zu wagen, der sie aus dem tradierten ›Blickfang‹ befreit, zuvorderst ein Objekt des religiösen Kults der Ostkirche zu sein. Es gilt, die autonome ästhetische Wirksamkeit des ikonischen Bildes herauszuarbeiten.

Die Möglichkeit, diese Arbeit zu schreiben, verdanke ich vielen Menschen: Zuallererst meinen Eltern, die mich über alle Höhen und Tiefen hinweg immer ermutigt und unter- stützt haben. Herr Prof. Dr. Robert Kudielka ist der Ursprung von allem. In seinen Vorle- sungen und Seminaren hat er meine Faszination für die Malerei des Bilddenkers Henri Matisse geweckt. Er war es auch, der mich auf die Spur des ikonischen Bildverständnis- ses brachte. In zahllosen Gesprächen verhalf er mir, einen Weg durch die Wirren der östlichen Bildgeschichte zu bahnen. Ich danke den Autoren und ihren fruchtbaren Gedan- ken, Überlegungen und Ausführungen, zuvorderst Herrn Prof. Dr. Gottried Boehm. Dank gebührt auch Frau Wanda de Guébriant, der Leiterin der Archives Matisse in Paris, die es mir erleichterte, einen Überblick über die erhaltenen Korrespondenzen von Matisse zu gewinnen. Und ich danke meinen Geschwistern Steffi, Benedikt und Gregor und meinen Freunden, die mich durch ihren Sinn für das Reale fest am Boden hielten.

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I. Prolog: Matisse‘ LA CONVERSATION

A. Matisse‘ LA CONVERSATION1 – Bildbeschreibung

Figuration, Farbe und Raum

Unweigerlich taucht der Blick ein in eine tiefblaue Atmosphäre, trifft auf das nüchterne Gegenüber eines Mannes und einer Frau, die ihre Gesichter einander zuwenden. Alleror- ten dringt Blau hervor. Es umfängt die Figuren und ergreift selbst Besitz vom Stuhl, auf dem die Frau sitzt. Zwischen das Paar und durch die Ranken einer schwarzen Balustrade hindurch bricht durch ein Fenster das kräftig-frische Grün eines Gartens. Das Blau durchwirkt auch das Grün des Grases, indem es den roten Tupfenblumen seltsam teichar- tige Beete verschafft. Der ›Bläue‹ des Bildraums ist nicht zu entgehen, weil die Ausmaße des mächtigen Querformats das Blickvermögen des Betrachters an seine Grenze treiben. Die formale Anlage des Bildes könnte schlichter nicht sein. Zwei Figuren sind in Profilansicht gegeben: links der Mann im Pyjama aufrecht stehend, rechts die Frau im Morgenmantel erhaben sitzend, auf Abstand gehalten durch einen hochrechteckigen Fensterausschnitt, der den Blick in einen schemenhaften Garten freigibt. Die ornamenta- len Ranken der Balustrade sind Barriere und Verbindung zugleich – und setzen Bewe- gungen in verschiedene Richtungen in Gang: Das Grün des Gartens wird durch den Kon- trast zum schwarzen Gitter erst als äußerer Ort bestimmt. Im selben Moment findet dieses Draußen durch die dunklen Ranken hindurch wieder Einlass in das Innere des Raumes, so dass sowohl die Bewegungsrichtung von Innen nach Außen als auch von Außen nach Innen erfahrbar wird. Angesichts des Paares markiert die Balustrade zunächst die Breite des Fensters, das sich wie ein Hindernis zwischen Mann und Frau geschoben hat. Jedoch wird sie gleich- sam zu einem arabesken Band, das im rechten Unterarm der schwarz gewandeten Frau seinen Anfang nimmt und ihren Körper durch das vereinende Schwarz in Richtung des Mannes auf der anderen Seite ausdehnt. Doch bricht der Bewegungszug des Schwarz’ jäh ab, bevor er ihn erreichen kann. Der Mann steht stocksteif da – wie ein vereinzelter Pfeiler ragt er in der linken Bild- hälfte auf. Er hat einen festen Stand, obwohl das Format der Leinwand die Region der Füße ausspart. Auch die Schädeldecke des Mannes wird von der oberen Bildkante be- schnitten. Sein ganzer Körper ist entsprechend der weißen Streifen seines Pyjamas verti- kal ausgerichtet. Selbst der Bartwuchs und der Nasenrücken ordnen sich dem Gebot der Senkrechten unter. Augen, Nase, Mund und Brauen sind in dunklen Zügen aufgetragen, ohne jedoch die Individualität eines Gesichts herauszustellen. Der Betrachter vermag es aufgrund der unterschiedslosen Schwärze der Augen nicht, der Blickrichtung des Mannes zu folgen. Mit dem breiten Hals erscheint er starr und unrührbar wie ein monolithischer

1 Siehe: Abb. 1.

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Block. Lediglich der angewinkelte Arm, der die Hand in die Tasche seines Pyjamas schiebt, birgt das Moment einer zarten Öffnung hin zur anderen Seite des Bildes, hin zur Frau. Diese sitzt in einem schwarzen Morgenmantel mit breitem, grünem Ausschnitt in der rechten Bildhälfte auf einem Stuhl mit Armstützen und runder Lehne, welcher dem Blau des Raumes mittels schwarzer Konturen eingeschrieben ist. Sie reicht im sitzenden Zustand bis an die Schulterregion des Mannes heran, auch deshalb, weil ihr Bodenniveau gegenüber seinem erhöht ist. Erhöbe sie sich, würde sie ihn zweifellos an Größe übertref- fen. Die Frau befindet sich unversehrt im Raum, da sie nirgends durch das Format be- schnitten wird. Ihre Füße sind nicht zu sehen, weil sie der Morgenmantel überdeckt. Le- diglich ihre rechte Armbeuge scheint beeinträchtigt, da das Schwarz ihres Ärmels zu Gunsten der blauen Rückenlehne getilgt wurde. Die Spuren der Auslöschung markieren die Stelle des ursprünglichen Ellenbogengelenks. Sonderbar ist aufgrund der räumlich wirksamen Ambivalenz auch die rechte Armlehne, denn sie kann einerseits positiv als materiell vorhandene Stütze des aufgelegten Unterarms, andererseits jedoch auch als luf- tiger Zwischenraum aufgefasst werden, über dem der Arm gewissermaßen schwebend lastet. Die Frau richtet ihren Oberkörper auf und hebt den Kopf leicht an, als wolle sie das Gesicht des Mannes ins Visier nehmen. Tatsächlich aber ist auch die Richtung ihres Blicks nicht auszumachen, weil der ganze Augenbereich einheitlich schwarz gezeichnet ist. Ihr Gesicht entwächst einem plastisch aufgefassten Oval, das im Wangen- und Stirn- bereich schattige Modellierungen aufweist. Die Nase ragt als kleiner Zacken hervor und der Mund zeigt sich als kaum merklicher Einschnitt in die gebogene Linie des Profils. Auch hier bringen die Gesichtszüge keinen spezifischen Charakter zum Vorschein. Das schwarze Haar fällt über die Schultern und geht unscheinbar in das schwarze Gewand über.

Konstellation: Bezogenheit und Ferne

Beide Figuren wirken hermetisch und überindividuell. Trotz ihrer Starre und Singularität bleiben sie aufeinander bezogen. Wie zwei Pole, die einander bedürfen, um im gleichen Moment eine grundlegende Distanz aufrecht zu erhalten. Zwischen dem Stehenden und der Sitzenden bricht durch den Fensterausschnitt der grüne Garten herein. Diese abrupte Zwischensphäre kommt einem Abgrund gleich, welcher ein noch so vages Zueinander- kommen der Figuren verhindert: Sie bleiben einander fern. Auch die schwarze, schmie- deeiserne Balustrade unterstreicht die Ambivalenz der ›widerstrebigen Bezogenheit‹, indem sie gleichzeitig trennt und Verbindung schafft. Durch den Ausschnitt hereingeholt wird eine stilisierte Gartenlandschaft: ein Baum, dessen Krone jäh von der linken und oberen Kante des Fensters beschnitten wird, eine sattgrüne Wiese mit drei ovalförmigen Blumenbeeten, auf denen sich tulpenähnliche Blumen in roten Tupfen anordnen, und zuhinterst der untere Eingangsbereich in ein rosafarbenes Gebäude mit zwei blauen Tü- ren. Matisse hat Größe und Position des Ausschnitts sorgsam austariert. Das verraten die nachträgliche, erweiternde Ausmalung der Zone an der linken Kante des Fensters, sowie die blaue Übermalung der ehemals weiter rechts befindlichen Seitenkante. Diese Ver-

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schmälerung des Ausschnitts, die sich als blauer Vertikalstreifen an der rechten Kante entlang schiebt, lässt zwischen Balustrade, dem Oberkörper der Frau und ihrem Schoß ein seltsam unbestimmbares Raumkompartiment entstehen, das zudem von der gebogenen Kontur der Stuhllehne durchfahren wird – eine echte räumliche Grauzone. Hier, wo in einem kohärenten Raum eigentlich die unversehrte rechte Armbeuge der Sitzenden veror- tet wäre, befindet sich an ihrer Stelle eine blinde Scharnierstelle, ein Kraftzentrum, aus dem heraus sich der schwarze Unterarm – durch das Bogensegment zudem ausgestattet mit einem gehörigen Bewegungspotenzial – über die untere Balustradenleiste legt und gleichsam mit ihr verschmilzt: Wie ein Richtungsvektor drängt der Arm so zum gegen- über Stehenden, wendet sich begünstigt durch die Frontalseite der aufgestellten Hand dem Betrachter zu und lastet im gleichen Moment auf der Balustrade, der Schranke zum äußeren Ort. Die Beobachtung des heraustreibenden Armes mag im ersten Moment un- vereinbar mit der obigen Behauptung erscheinen: nämlich, dass der rechte Unterarm zu- vorderst oberhalb einer materiellen oder immateriellen Armlehne platziert ist, von der er in sonderbarer Weise gehalten wird. Beide Betrachtungen sind aber trotz des Wider- spruchs folgerichtig, da sie unterschiedlichen Blickrichtungen folgen, die beide in der Struktur des Bildes vorhanden sind: Die eine entspricht der tektonischen Perspektive des Stützens und Lastens von unten nach oben bzw. umgekehrt, die andere dem zaghaften Bewegungsschub der Frau von rechts nach links. Der Unterarm ist insofern ein fundamentales Zwischenglied, das sichtbar einem un- sichtbaren Ursprung entspringt und sich an der Schnittstelle zu den unterschiedlichen Wirklichkeitssphären platziert. Er schafft Verbindung und Distanz gleichermaßen. Durch jene vektorielle Eigenschaft des Unterarmes wird nicht nur der Bildraum sondern das gesamte Bildgeschehen der CONVERSATION aufspannt und eröffnet.

Gegenwärtigung

Das Gemälde vollzieht sich in einem feierlichen Ernst, getragen vom Zusammenspiel der formal reduzierten Figurationen und der satten, meist ungemischten Farbklänge, die un- mittelbar auf den Betrachter eindringen, bevor dieser seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Bildpunkt fokussieren könnte: das den gesamten Bildraum beherrschende Mittelblau, das leuchtende Schwarz, welches im Morgenmantel der Sitzenden, in ihrem Haar und im schmiedeeisernen Gitter der Balustrade Gestalt annimmt, das glühende Grün, welches sowohl im Fensterausschnitt als auch am Kragen des Morgenmantels ei- nen Ort findet, das Rot der Blumentupfen im Garten, die mit den ebenfalls ins Rot tendie- renden Nuancen des Baumstammes und anderen rot-braunen Passagen im Fensteraus- schnitt korrespondieren und schließlich die fleischfarbenen Töne in den Gesichtern und Händen der Figuren. Die Kontrastbeziehungen beschränken sich somit im Wesentlichen auf die Primärfarben Blau und Rot, auf die »Farbe« Schwarz, die Matisse gleichsam den Primärfarben zuordnet2, und auf das Komplementär zu Rot: Grün. So gewichtig und

2 Siehe die Bemerkungen Matisse’ anlässlich einer Ausstellung »Schwarz ist eine Farbe« in der Galerie Ma- eght in Paris im Dezember 1946, in denen er das physikalische Urteil, dass Schwarz aufgrund seiner absolu- ten Lichtabsorption eine Nichtfarbe sei, für die Malerei als ungültig zurückweist: »Schwarz ist eine Macht: Ich bin abhängig vom Schwarz, um die Konstruktion zu vereinfachen. […] Die Verwendung von Schwarz in der gleichen Art wie die andern Farben – Gelb, Blau oder Rot – ist nichts Neues. Die Orientalen haben

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mächtig das Blau auch sein mag, es gewinnt seine Strahlkraft erst durch die sorgfältig ausponderierten Beziehungen zu den anderen Klängen. Nur miteinander und gegenseitig können Farben und Figuren ihre Gegenwart hervorbringen, die zugleich die Gegenwart des Bildes selbst ist.

Schwarz als Farbe verwendet, namentlich die Japaner in ihren Stichen. Näher bei uns kommt mir ein be- stimmtes Bild von Manet in den Sinn, wo die schwarze Samtjacke eines jungen Mannes mit Strohhut in einem klaren, lichterfüllten Schwarz gemalt ist [FRÜHSTÜCK IM ATELIER 1868].« in: Matisse. Über Kunst, hg. von Jack D. Flam, Zürich 1982,191f (fortan: Flam 1982).

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B. Das Bild und sein Titel. LA CONVERSATION – Die Unterredung

Es ist kein Leichtes, präzise zu fassen, was auf dem Bild vor sich geht. Wie kann man dieses Geschehen zwischen Mann und Frau erklären? Bereits kurz nach seiner Fertigstellung3 erhält das Bild den Titel LA CONVER- SATION: Im Oktober 1912 wird das Gemälde in der von Roger Fry organisierten Second Post-Impressionist Exhibition in den Grafton Galleries in London unter diesem Namen präsentiert.4 So wird dem Betrachter nahegelegt, dass er es mit einer Unterredung zu tun hat. Aber was für ein merkwürdiges Gespräch ist das? Denn ganz offensichtlich haben sich der Mann und die Frau nichts mitzuteilen. Es gibt keine motivischen Anhaltspunkte – weder Gesten noch dingliche Gegenstände – die uns einen Hinweis auf den Grund ihrer eigentümlich interesselosen Konfrontation gäben. Jack D. Flam will in den Ranken des Balustradengitters sogar ein NON entdecken, das in alle Richtungen – von links nach rechts, von rechts nach links, von vorne nach hinten und von hinten nach vorn – in breiten

3 Weitläufig wird die CONVERSATION zwischen 1908 und 1912 datiert. Über den genauen Entstehungszeit- raum gibt es unterschiedliche Ansichten: Während Alfred H. Barr das Gemälde auf das Jahr 1909 datiert [siehe: Alfred H. Barr, Matisse. His Art and His Public, New York 1933, 126 (fortan: Barr 1933)], geht Pierre Schneider der Meinung von Matisse‘ Tochter Marguerite Duthuit folgend vom Jahr 1λ11 aus [siehe: Pierre Schneider, Matisse, München 1984, 25 (fortan: Schneider 1984)]. Überzeugend scheinen die Ausführungen von Jack D. Flam, der darauf aufmerksam macht, dass die CONVERSATION aufgrund der noch sichtbaren Spu- ren, die von der Verschiebung bzw. Umproportionierung der Figuren und des Fensters zeugen, in zwei Pha- sen entstanden sein muss. Flam legt den Beginn der Arbeit an der CONVERSATION aufgrund von Ähnlichkeiten in Stil, Komposition und Pinselstrich mit Werken wie der ROTEN HARMONIE oder BADENDE MIT EINER SCHILD- KRÖTE bereits auf das Jahr 1908 oder 1909 [siehe: Jack D. Flam, Matisse. The Man and His Art – 1869-1918, London 1986, 248-252 und 494 (fortan: Flam 1986)]. Dafür, dass das Gemälde erst einige Jahre später im Jahr 1911 bzw. 1912 endgültig fertiggestellt wurde, spricht nach der Auffassung Albert Kostenewitschs der rosafarbene Gebäudeanschnitt, der in dem Fensterausschnitt der CONVERSATION sichtbar wird und mit dem Motiv des ROSA ATELIERS in Einklang gebracht werden kann, welches zweifelsfrei auf das Jahr 1911 datiert wird [vgl . Albert Kostenevich, Collecting Matisse, Paris 1993, 118f (fortan: Kostenevich 1993)]. Tatsächlich ließ Matisse im Garten seines neuen Hauses in Issy-les-Moulineaux, das er am 1. Juli 1909 anmietete, wäh- rend des Sommers auf Empfehlung des Fotografen Edward Steichen ein Atelier in Fertigbauweise errichten [vgl.: Matisse. A Retrospective, verfasst von John Elderfield, Ausst. Kat., New York, London 1992, 182 (fortan: Elderfield 1992)]. Diesem Raum, der für Matisse der Ort malerischer Ermögli- chung schlechthin ist, verleiht er auch in seinen Gemälden DAS ROSA ATELIER und DAS ROTE ATELIER bildliche Gestalt. Zudem bezeugt ein an Matisse adressierter Brief des russischen Sammlers Sergej Schtschukin vom 22. August 1912, dass ein »blaues Bild (mit zwei Figuren)« großen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Zu die- sem Zeitpunkt wusste Schtschukin, der das Gemälde auch zu kaufen beabsichtigte, aber noch nicht, ob es bereits fertiggestellt war. In englischer Übersetzung ist der Brief veröffentlicht in Kostenevich 1993, 172. Angesichts der aufgeführten Anhaltspunkte und Argumente geht die Verfasserin davon aus, dass die CONVER- SATION zwischen dem Winter 1908/1909 und den Sommermonaten des Jahres 1912 entstanden ist. 4 Aus dem Brief Sergej Schtschukins vom 22. August 1912 wird auch deutlich, dass dem Sammler der Titel des Gemäldes zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt war [vgl.: Kostenevich 1993, 172]. Gut sechs Wochen später wird es auf der Second Post-Impressionist Exhibition vom 5. Oktober bis zum 31. Dezember unter dem Titel CONVERSATION gezeigt, bevor der russische Sammler das Gemälde erhält. Auch in den Texten, die Roger Fry anlässlich der Ausstellung verfasst, ist der Titel CONVERSATION belegt. Vgl. hierzu u. a.: Roger Fry, The Grafton Gallery: An Apologia, in: The Nation, 9 November 1912, 249-251, abermals gedruckt in: A Roger Fry Reader, hg. Von Christopher Reed, Chicago 1996, 112-116 und Second Post-Impressionist Exhibi- tion. British, French and Russian Artists, Ausst. Kat., Grafton Galleries London, London 1912.

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Lettern Verneinung kundtut.5 Als wollte es bedeuten: Hier gibt es nichts, was berichtet werden könnte! Und in der Tat versagt Matisse dem Betrachter jegliches Moment einer bildlichen Erzählung. Für unsere Frage nach dem Bildgeschehen ist es aufschlussreich, den Begriff Kon- versation und sein Herkommen genauer in Betracht zu nehmen: Conversatio stammt aus dem Lateinischen und leitet sich von dem Deponens con-versari her, das soviel bedeutet wie ›sich mit jemanden an einem Ort befinden‹, ›mit jemanden Umgang haben‹. Die Konversation ist ihrer Herkunft gemäß ganz allgemein ›der Aufenthalt an einem Ort mit jemanden‹ bzw. der ›Umgang an einem Ort mit jemanden‹.6 Über die Qualität dieses ge- meinsamen Umgangs gibt der Begriff zuvorderst keine Auskunft. Erst nach und nach wurde der Begriff Konversation auf den Vollzug des gemeinsamen Kontakts durch Worte und Handlungen angewandt.7 Der Konversationsbegriff in seiner ursprünglichen Bedeu- tung meint keinesfalls einen ergebnisorientierten Akt der Kommunikation, sondern viel- mehr eine offene Begegnung, die einen Spielraum für alle möglichen zwischenmenschli- chen Ereignisse birgt.8 In dieser elementaren Bedeutung erweist sich der Titel als tauglich, das Geschehen im Bild zu erhellen. Die Konversation wird gegenwärtig, weil sich hier zu allererst ein Mann und eine Frau in Begegnung befinden. Von den beiden Figuren, die in starrer Hal- tung zueinander verharren, geht eine seltsame Stille aus. Bei der CONVERSATION haben wir es allem Anschein nach mit einer Unterredung zu tun, die sich im Modus des Schweigens vollzieht.

5 Siehe: Flam 1986, 251f. 6 Die lateinische con-versatio besteht aus dem Präfix con in der Bedeutung von ›zusammen‹ oder ›völlig‹ und dem Stammverbum versare bzw. dem Deponens versari in der Bedeutung von ›drehen‹, ›hin- und her wenden‹ oder ›sich befinden‹. Vgl.: J. M. u.a., Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, Mün- chen/Düsseldorf/Stuttgart 2006, 124 und Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwör- terbuch, Band I, Basel 1962 (11. Auflage), 1662f. [Spaltenangabe]. 7»Die ›K[onversation]‹, nach lat. conversatio (Umgang, Verkehr), hat sich in der heutigen Bedeutung seit der Renaissance entwickelt: erst seit dieser Zeit gilt sie als Kunst des Umgangs, die sich der körperlich-geistigen Repräsentation des Selbst im Kontakt mit dem bzw. den andern widmet. […] In der Antike zerfällt die The- matik eher in einzelne Aspekte und wird auch in verschiedenen Disziplinen behandelt, wobei charakteristi- scherweise die Frage kontrovers diskutiert ist, wieweit das Gespräch, der sermo Gegenstand der Rhetorik sein kann bzw. sein soll. In der Neuzeit bleibt im Konversationsbegriff zunächst die Gesamtheit der [genannten] Aspekte bis mindestens ans Ende des 18. Jh. erhalten, ehe die sprachliche Seite ein Übergewicht bekommt und K. mit Gespräch zusammenfällt […].« Siehe: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rheto- rik, Band 4, Tübingen 1998, 1322ff. [Spaltenangabe] 8 Im Zusammenhang mit dem Konversationsbegriff ist auf den ikonographischen Bildtypus der Sacra Con- versazione hinzuweisen, der sich in der italienischen Altarmalerei des 15. Jahrhunderts ausbildet. Franz Kug- ler scheint den Begriff eingeführt zu haben. In seinem Handbuch der Kunstgeschichte, das 1842 erstmalig erscheint, kommt er im Zusammenhang mit den kirchlichen Bildern Tizians auf »verschiedene grössere Al- tartafeln der Madonna mit Heiligen und Anbetenden« zu sprechen, die sich »in ungezwungener Verbindung« zeigen. Diese würden »von den Italienern charakteristisch als ›heilige Conversazionen‹ benannt werden.«. Siehe hierzu: Franz Kugler, Handbuch der Kunstgeschichte, Zweiter Band, Stuttgart 1872, 438. Die motivi- sche Anlage gestaltet sich folgendermaßen: Im Zentrum thront die Madonna mit dem Jesusknaben und wird von zwei oder mehreren Heiligen umgeben, zu denen sich an den äußeren Rändern oftmals Stifter gesellen. Die Figuren führen kein Gespräch. Keiner teilt einem anderen etwas mit. Vielmehr befinden sich die Perso- nen in ›heiliger Gemeinschaft‹. Sie sind einfach beisammen. Vgl. hierzu: Simon Beer, Sacra Conversazione, Aachen/Basel 1999,10f. und Engelbert Kirschbaum (Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, Band 4, Freiburg im Breisgau 1972, 4f. [Spaltenangabe].

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Martin Heidegger hat klar gesehen, dass dem Schweigen innerhalb der Sprache eine tragende Rolle zukommt. Es darf nicht einfach als bezugslose Leere und als unbestimm- tes Nichts abgetan werden, sondern muss in Hinblick auf das »redende Sprechen«9 als Möglichkeitsform angesehen werden. So ist dann auch das »Ungesprochene […] nicht nur das, was einer Verlautbarung entbehrt, sondern es ist das Ungesagte, noch nicht Ge- zeigte, noch nicht ins Erscheinen Gelangte. Was gar ungesprochen bleiben muß, wird im Ungesagten zurückgehalten, verweilt als Unzeigbares im Verborgenen, ist Geheimnis.«10 Es ist ein stummes Gespräch, das die Figuren in Matisse‘ Gemälde voreinander zurück- weichen lässt, das sie auseinandertreibt und im selben Moment doch unvermeidbar ihre Nähe stiftet. Die Konversation kommt zum Vorschein als elementare Erfahrung einer Distanz, die sich unaufhörlich und immer wieder von Neuem einstellt. Jedoch werden wir dieser Distanz nicht nur motivisch in den Figuren gewahr. Auch unsere eigene Bezogen- heit zum Bild ist durch eine fundamentale Ferne geprägt: Das Gemälde wird für uns erst in dem Moment nahbar und erfahrbar, in dem wir vor ihm zurückweichen. Es fordert Distanz, damit es seine Sichtbarkeit preisgibt.

9 »Zum redenden Sprechen gehören als Möglichkeiten Hören und Schweigen. An diesen Phänomenen wird die konstitutive Funktion der Rede für die Existenzialität der Existenz erst völlig deutlich.« Siehe: Martin Heidegger, Sein und Zeit (1926), Gesamtausgabe, I. Abteilung, Band 2, Frankfurt am Main 1977, 214. 10 Martin Heidegger, Der Weg zur Sprache (1959), in: Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Gesamt- ausgabe, I. Abteilung, Band 12, Frankfurt am Main 1985, 241f. Vgl. auch: »Die Sprache, die spricht, indem sie sagt, bekümmert sich darum, dass unser Sprechen, auf das Ungesprochene hörend, ihrem Gesagten ent- spricht. So ist denn auch das Schweigen, das man gern dem Sprechen als dessen Ursprung unterlegt, bereits ein Entsprechen. Das Schweigen entspricht dem lautlosen Geläut der Stille der ereignend-zeigenden Sage.« Ebd., 251.

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II. Einführung

A. Eine Ästhetik des Ikonischen

Matisse‘ CONVERSATION steht nicht ohne ein gewisses Kalkül am Anfang dieser Arbeit. Diese verfolgt ein zweifaches Anliegen: Zum einen soll hier der Versuch unternommen werden, die Grundlagen einer eigentümlichen, alten Ästhetik herauszuarbeiten. Dabei handelt es sich um jenes aus dem griechischen Osten stammende Bildverständnis, das seinen begrifflichen Ursprung im Wort eikon hat und in der byzantinischen11 Ikonenkunst eine eigenständige Sprache und Bildgestalt entwickelt, die in der traditionellen russischen Ikonenmalerei bis heute lebendig geblieben ist. Zum anderen soll nachgewiesen werden, dass es zwischen dieser Ästhetik des Ikonischen und dem Bilddenken des modernen Ma- lers Henri Matisse bemerkenswerte Entsprechungen gibt, die nicht nur in der CONVERSA- TION, sondern auch in anderen Bereichen seines mehr als fünf Dekaden währenden künst- lerischen Schaffens sichtbar werden. Bislang steht die tiefergehende Fundierung einer Ästhetik des Ikonischen aus. Hier- für ist mitunter ausschlaggebend, dass die Hervorbringungen insbesondere der byzantini- schen Kunst in der gängigen Rezeption untrennbar mit der Kultur, dem Kultus und der religiösen Praxis des orthodoxen Christentums verbunden erscheinen. Das, was eine Iko- ne unter diesem Blickwinkel auszeichnet, ist eben nicht ihre spezifische, ästhetisch wirk- same Bildgestalt, sondern ihr Status als Objekt des religiösen Rituals.12 Als Einwand ge- gen eine ›rein-ästhetische‹ Rezeption dieser Werke wird deshalb oftmals hervorgebracht, dass sie die authentische spirituelle Erfahrungssituation der Ikonen gewaltsam ausblende und in nicht angemessener Weise neuzeitliche Begriffe von Ästhetik, Kunst und Kunst- theorie auf die Werke älterer Epochen übertrage.13 Demgegenüber wird hier die Auffas- sung vertreten, dass es nicht nur möglich sondern sogar notwendig ist, die Grundlagen

11 Hier wie auch im Folgenden wird ›byzantinisch‹ als reguläres Adjektiv aufgefasst, weshalb es auch in der Kombination ›byzantinische Kunst‹ kleingeschrieben wird, die in dieser Arbeit nicht als festgeschriebener Terminus verstanden sein will. 12 So hebt Hans Belting den Bruch hervor, der in der Renaissance das Bilderwesen nachdrücklich verändert und fordert in der Folge auch eine andere Rezeption dieser Werke. Er interessiert sich vorwiegend für die praktischen und theoretischen Zusammenhänge und Konventionen, in denen die Bilder auftreten. Es geht um die »Rolle der Bilder«, die in »symbolischen Handlungen [manifest wird]« und darum, dass Bilder dazu geeignet sind, »aufgestellt, und verehrt«, aber auch »zerstört und mißhandelt zu werden«. Die ästhetischen Belange der ikonischen Bildwerke kommen hier nicht zur Sprache. Siehe.: Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst , München 2004 [6. Auflage], 11. 13 Hier bezieht sich die Verfasserin auf die Argumentation Pascal Weitmanns, der sich in seiner Dissertation mit den theoretischen Äußerungen über bildende Künste und Musik vom 4. bis zum 9. Jahrhundert nach Chr. auseinandergesetzt und insofern notwendig neuzeitliche Begriffe und Kriterien der Kunstbetrachtung auf spätantike und mittelalterliche Phänomene angewendet hat. Siehe: Pascal Weitmann, Sukzession und Gegen- wart. Zu theoretischen Äußerungen über bildende Künste und Musik von Basileios bis Hrabanus Maurus, Wiesbaden 1997, 2f. und 298 (fortan: Weitmann 1997).

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einer solchen Ästhetik herauszustellen. Es geht darum, unseren Blick für die ästhetische Eigenart und Wirkungsweise – kurz für die Wirklichkeit der ikonischen Bilder – zu schär- fen, ohne die wiederum die rituelle Macht der Bilder nicht zu verstehen ist. In dieser Hin- sicht wird es auch erforderlich werden, den jeweils ästhetisch relevanten Kern sorgfältig aus der theologischen oder religiösen Ummantelung herauszulösen, insoweit diese von einer ästhetischen Perspektive ablenkt.14 An dieser Stelle muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Arbeit nicht darauf abzielt, eine detaillierte Systematik einer Ästhetik des Ikonischen darzulegen. Dies wäre aufgrund der inhärenten Paradoxien, Verstrickungen und Mehrdeutigkeiten, welche das große Thema des Ikonischen birgt, ein vermessenes Unterfangen. Das byzantinische Reich ist in seiner tausendjährigen Geschichte ein viel zu disparates und inkohärentes Gebilde, als dass es unter einhelligen Gesichtspunkten erschlossen werden könnte. Viel- mehr geht es uns darum, wesentliche Problematiken des Ikonischen aufzuspüren und in exemplarischen Analysen sichtbar zu machen. So sollen nach und nach die Grundzüge einer Ästhetik des Ikonischen in Erscheinung treten. In der Erforschung der Parallelen, die zwischen den Hervorbringungen byzantini- scher Kunst und Matisse‘ Bildkunst existieren, kann ein Brückenschlag zwischen der ikonischen Bildtradition und moderner Terminologie gelingen: Indem die ikonischen Belange in Matisse’ Malerei greifbar gemacht werden, werden im selben Moment auch die begrifflichen Kategorien, in denen die byzantinische Kunst angeschaut wird, aus ihrer Starre gelöst, in Bewegung gesetzt und geschärft. Es handelt sich um eine fruchtbare Analogie, die sich gegenseitig stützt, weil sie die Problematik des Ikonischen von der bildlich-konkreten wie von der begrifflich-allgemeinen Seite her angeht. Um den Charakter des Ikonischen zu klären, wollen wir die Geschichte des östlichen Bildes mit der des westlichen konfrontieren. Dabei ist zu beachten, dass der Bildbegriff zunächst nicht zwingend auf die zwei Dimensionen der Fläche beschränkt ist. Während im griechischen Osten das eikon in der archaischen Plastik – wie beispielsweise den kraftstrotzenden Kouroi (Jünglingen) – eine ursprüngliche Gestalt findet, favorisiert der Westen eine andere Art von Bild, dem er mit dem lateinischen Begriff imago Rechnung trägt. Das Abendland bringt das nachahmende, stets auf etwas verweisende Bild hervor, dessen wir bereits in den römischen Porträtbüsten gewahr werden. Anders als bei den griechischen Kouroi drängt uns hier nicht die plastische Gegenwart eines überindividuel- len jungen Mannes entgegen; bei den römischen Büsten liegt der Akzent vielmehr auf den markant ausgeprägten Gesichtszügen wie großen Hakennasen und eingekerbten Falten die als Spuren eines vierdienstvollen und geschichtsträchtigen Lebens gelten. Das Bild gewordene Gesicht stellt sich dar als ein Verweis auf das im Dienste der res publica ge- lebte Leben. Inwiefern das ikonische Bilddenken von einem abendländischen Bildver- ständnis abweicht, das nicht zuletzt in der italienischen Renaissance hochrangige Werke hervorbringt, soll die eingehende Analyse entsprechender Kunstwerke aus verschiedenen

14 Einen ersten formal- und gestaltorientierten Blick auf die mittelalterlichen bzw. byzantinischen Bilder hat Theodor Hetzer bereits in den 1930er Jahren im Rahmen seiner Studien zur Geschichte des Bildes gewagt. Dort geht er der Frage nach dem Wesen der bildlichen Gestaltung in ihrem geschichtlichen Verlauf nach, wobei er seine Argumentation vor allen Dingen auf bildimmanente Kriterien wie beispielsweise den Umgang mit der Fläche oder die Beziehung zwischen Fläche und Raum stützt. Vgl.: Theodor Hetzer, Studien zur Geschichte des Bildes (1936), in: Zur Geschichte des Bildes von der Antike bis Cézanne, Schriften Theodor Hetzers, hg. von Gertrude Berthold, Band 9, 25-100.

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Jahrhunderten deutlich machen. Die Unterscheidung zwischen einem ikonischen und einem abendländischen Bildverständnis wird durch eine genaue Untersuchung ausge- wählter theoretischer Texte und Äußerungen aus dem philosophischen und theologischen Umfeld bezeugt. In der Auseinandersetzung mit dem Wesen des Ikonischen treten zwei genuin bild- nerische Probleme in den Vordergrund, die in den byzantinischen Werken wie in Matisse’ Bildern ›augenfällig‹ werden: Zum einen ein eigentümlicher Umgang mit dem Bildraum, wobei die Aufmerksamkeit sowohl dem innerbildlichen Raum als auch dem Raum in seiner realen Ausdehnung als Raumkunst gilt – wie dies beispielsweise bei Wand- oder Deckenmosaiken der Fall ist. Zum anderen ist es die Begegnung mit dem menschlichen Antlitz, dem Bildnis15. Die Ikonenmaler vermögen es, den Charakter des darzustellenden Heiligen zu gegenwärtigen ohne seine individuellen Züge hervorzuheben. Matisse hat das Porträt zeit seines Lebens als schwer zu bewältigende Bildgattung empfunden. Gelungene und weniger gelungene Porträts befinden sich im steten Wechsel. Anhand zweier Bildbei- spiele – dem PORTRÄT VON MADAME MATISSE [Abb. 2] und dem PORTRÄT VON GRETA PROZOR [Abb. 3] – wollen wir zeigen, dass gerade diejenigen Bildnisse von Matisse überzeugen können, die sich die Gegenwartskraft der Ikonen zu Eigen machen. Ihre äs- thetische Wirksamkeit verdanken sie einem generalisierenden Zug. Hierin entfernen sie sich von den Werken der abendländischen Porträtkunst, die in der italienischen Re- naissance ihre Blütezeit erlebt. Maler wie Piero della Francesca, Tizian oder Raffael hat- ten die neuzeitliche Erfahrung von Individualität als Unterscheidbarkeit des einzelnen von jedem anderen erst ins Bild des menschlichen Antlitz’ gebracht. Am Ende der Arbeit steht ein gleichermaßen erstaunlicher wie zeitensprengender Befund: Denn die Ästhetik des Ikonischen kommt nicht nur in zahlreichen Belangen mit dem Bilddenken von Matisse überein, sondern berührt auch die Problematik des moder- nen Bildes im Allgemeinen. Hier wie dort geht es zuvorderst um Eigenständigkeit einer sich von den festen und messbaren Bezugsgrößen der Realität emanzipierenden Bildwirk- lichkeit, unter der Voraussetzung freilich, dass das ursprünglich Ikonische zu Gunsten eines ästhetischen Blicks aus seiner religiösen Verschränkung befreit wird. Dabei ist der weitgehende Verzicht auf eine illusionistische Zentralperspektive, die den Betrachter vor dem Bild ›feststellt‹, nur ein Moment, an dem sich die Raumvorstellungen von modernem Maler und Ikonenmaler begegnen, sei dieser Verzicht nun bewusst entschieden oder ›in- tuitiv‹ verwirklicht. Ein elementares Streben nach ›Selbst-Ständigkeit‹, kraft derer sich die Bildwirklichkeit dem Betrachter eröffnet, stiftet eine Verwandtschaft zwischen dem ikonischen und dem modernen Bild.

15 ›Bildnis‹ und ›Porträt‹ sind neuzeitliche Begriffe. Im Bewusstsein dieser Tatsache wird der Bildnisbegriff im Rahmen dieser Arbeit auch auf Ikonen bezogen, insoweit dem menschlichen Gesicht innerhalb der bildli- chen Darstellung große Aufmerksamkeit zuteil wird.

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B. Matisse‘ Begegnungen mit dem Ikonischen

Kehren wir nun zurück zu Matisse‘ CONVERSATION, bei der diese Arbeit ihren Anfang nimmt und auf welche die Argumentation im weiteren Verlauf immer wieder zurück- kommen wird. Bereits mehrfach wurde ein Zusammenhang zwischen diesem Gemälde und der byzantinischen Kunst hergestellt, allerdings ohne hierfür eine tiefgreifende Be- gründung zu liefern. So schreibt der russische Sammler Sergej Iwanowitsch Schtschukin, der spätere Käufer der CONVERSATION, in einem an Matisse adressierten Brief vom 12. August 1922: »Ich denke viel an Ihr blaues Bild (mit zwei Figuren). Mit seinen reichen und tiefen Farben erscheint es mir wie ein byzantinisches Email. Dies ist eines der schönsten Gemälde, das mir in Erinnerung geblieben ist.«16 Hier veranlasst Schtschukin der bloße, durch eindringliche Farbkonstellationen hervorgerufene Eindruck dazu, die CONVERSATION in die Nähe der byzantinischen Glasschmelzkunst zu rücken, weitere Gründe nennt er nicht. Und auch Pierre Schneider bleibt bei seinem Versuch, die Ver- wandtschaft zwischen Matisse‘ Gemälde und dem Byzantinischen zu erhellen, eine ele- mentare Erklärung schuldig. Er setzt das Bild als Schlüsselwerk an den Anfang seiner gewaltigen Monographie über Henri Matisse und zählt der Reihe nach einige Begeben- heiten auf, die Matisse‘ Berührung mit der byzantinischen Kunst unter Beweis stellen sollen: So berichtet er von der zunehmenden Wertschätzung der byzantinischen Kunst am Ende des 19. Jahrhunderts, die sich in Ankäufen der europäischen Sammlungen und di- versen Ausstellungen Bahn bricht, von denen auch Matisse als Besucher profitiert.17 Ma- tisse‘ Reise nach Russland im Herbst 1λ11 räumt Schneider einen hohen Stellenwert ein: In Moskau und St. Petersburg erhält der Maler die Möglichkeit, die einschlägigen Samm- lungen zu besuchen und ist dort – wie zahlreiche Interviews aus Zeitungsartikeln belegen – vor allen Dingen von den russischen Ikonen begeistert, welche die alte byzantinische Tradition ungebrochen fortsetzen. Schneider betrachtet dies in der Summe als triftigen Hinweis darauf, in der CONVERSATION nach direkten oder mittelbaren Bezugnahmen auf das Byzantinische zu suchen, kann diese jedoch in keiner befriedigenden Weise ausfindig machen: Über die »Zweidimensionalität«, die »blühende Farbigkeit« und eine »Erhaben- heit« hinaus, kann er keine ästhetische Verwandtschaft nachweisen18 Schließlich versucht er, die Dimension einer modernen Religiosität in die CONVERSATION hineinzudenken, um eine weitere Ebene des Vergleichs mit der Ikone als Bild des religiösen Rituals zu schaf- fen. Dies überzeugt nicht, da Schneider die Frage nach dem Religiösen in der CONVER- SATION sogleich auf die moderne Kunst im Allgemeinen ausweitet. Er weicht auf Kand-

16 Ins Deutsche übersetzt durch die Verfasserin, basierend auf den von Albert Kostenewitsch ins Englische übertragenen Briefen Sergej Schtschukins [ursprünglich in französischer Sprache] an Henri Matisse. Siehe: Kostenevich 1993, 172. 17 Schneider bezieht sich hier auf die Sammlung byzantinischer Kunst im . Mit der »denkwürdigen Ausstellung« in »München (1908)«, bei der Matisse »indirekt mit der byzantinischen Ästhetik vertraut ge- macht« wurde, ist wohl die große Münchener Ausstellung von Meisterwerken Muhammedanischer Kunst gemeint, die nicht, wie Schneider vermutet 1908, sondern erst 1910 stattfand. Auch der Aufenthalt im algeri- schen Biskra 1906 findet Erwähnung. Allerdings scheint es einer Klärung der genuin byzantinischen Belange in Matisse‘ Bildkunst nicht gerade zuträglich, allzu eilig die ohnehin schwer abzugrenzende islamische Kunst ins Spiel zu bringen. Vgl.: Schneider 1984, 14. 18 Siehe: Schneider 1984, 14.

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insky aus, dessen transzendente Kunsttheorie19 am Ende doch andere Ziele verfolgt als Matisse‘ bildnerisches Denken. So bleiben die Berührungsmomente mit der ikonischen Kunst in Schneiders Argumentation ohne eine tiefergreifende Konsequenz für Matisse‘ Malerei. Es ist unstrittig, dass Matisse profunde Kenntnisse der byzantinischen Kunst besaß und sich auch mit ihrer eigentümlichen Ästhetik auseinandergesetzt hat. So war er in den Jahren zwischen 1909 und 1914 eng mit dem Byzanzliebhaber Matthew Stewart Prichard befreundet, der ihn auf enthusiastische Weise mit jener alten Kunst vertraut machte. Aus Briefen und Notizen Prichards, die Rémi Labrusse im Rahmen seines Buches Matisse. La condition de l’image in sorgfältiger Auswahl veröffentlicht hat, geht deutlich hervor, über welche Themen im Umfeld der byzantinischen Kunst Matisse und Prichard debattierten.20 Dabei ist ein zuweilen utopisch gefärbter Enthusiasmus nicht zu übersehen, der die by- zantinische Kunst als Bezugsgröße heranzieht, um einer revolutionären Gegenwartskunst den Weg zu bahnen, die ihrerseits in den alltäglichen Lebenszusammenhang des Men- schen eingebunden ist. Selten ist Matisse‘ gedankliche Auseinandersetzung mit der byzantinischen bzw. ikonischen Kunst so dezidiert nachweisbar wie innerhalb der intellektuellen Freundschaft zu Prichard, die Labrusse in aufwendiger Archivrecherche erschlossen hat. Über weitere Begegnungen mit dem Ikonischen – sei es während seines Aufenthalts in Russland oder anlässlich seiner Reisen nach Italien, während derer er beispielsweise in Ravenna (1907)21, Venedig (1907)22 oder Palermo (1925)23 Gelegenheit hat, byzantinische Mosai- ken zu betrachten – scheint Matisse keine nähere Auskunft gegeben zu haben. Wie Wan- da de Guébriant, die Leiterin der Archives Matisse in Paris bestätigt, sind dort nach aktu- ellem Forschungsstand keine Notizen oder briefliche Korrespondenzen von Matisse er- halten, die über die bloße Begegnung hinaus eine intensive Auseinandersetzung mit der byzantinischen Ästhetik bezeugen würden.24 Die Argumentation in dieser Arbeit legt den Fokus ausdrücklich auf die Suche nach elementaren Entsprechungen zwischen dem alten östlichen Bildverständnis und Matisse‘ Bilddenken. Sooft wir im Laufe der Arbeit auf einzelne Personen oder Situationen zu

19 Vgl. beispielsweise: Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst (1911), Bern 1973. 20 Vgl.: Rémi Labrusse, Matisse. La condtion de l’image, Paris 1999, 94-115 (fortan: Labrusse 1999). In den Anmerkungen des Kapitels 1909-1914. Byzance, un paradigme befinden sich die jeweils zitierten Ausschnit- te aus den Briefen und Notizen von Prichard in englischer Originalsprache. Prichards schriftlicher Nachlass wird in den Archives of the Isabella Stewart Gardner Museum in Boston aufbewahrt. 21 Vgl.: Rémi Labrusse, Das Ende des Bilderkultes. Bemerkungen zu den »Symphonischen Interieurs«, in: Matisse. Figur – Farbe – Raum, hg. von Pia Müller-Tamm, Ausst. Kat., K20 Kunstsammlung Nordrhein- Westfalen, Ostfildern-Ruit 2005, 294 (fortan: Labrusse 2005). 22 Vgl.: Hilary Spurling, Der unbekannte Matisse. Eine Biographie 1869-1908, Köln 1999, 475f. 23 Vgl.: Pierre Schneider, Una »Belva« tra i Donatelli, in: Henri Matisse et l’Italie, hg. von Maria Cristina Poma, Ausst. Kat., Museo Correr Venedig, Mailand 1987, 23f. (fortan: Schneider 1987). 24 Dies bestätigt Wanda de Guébriant in einem Brief vom 23. August 2007 an die Verfasserin, der sich vor allen Dingen auf Matisse‘ Reise nach Russland im November 1911 bezieht. Rémi Labrusse, Pierre Schneider und Hilary Spurling haben im Zuge ihrer umfangreichen Veröffentlichungen zu Matisse und seinem Werk die Bestände der Archives Matisse, der Archives de la Bibliothèque byzantine sowie der Archives Duthuit in Paris [u. a.] eingesehen, sind dort aber offensichtlich auf keine Schriftstücke gestoßen, die eine weiterrei- chende intellektuelle Auseinandersetzung Matisse‘ mit dem Ikonischen belegen, da sie nichts davon erwäh- nen bzw. zitieren. Vgl. beispielsweise Spurlings zweibändige Biografie: Matisse, Köln 2007, Labrusse 1999 und Schneider 1984.

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sprechen kommen, die Matisse‘ Berührung mit einer Ästhetik des Ikonischen beleuchten, wird stets die ästhetische Fragestellung übergeordnet bleiben. Es geht darum diejenigen bildnerischen Probleme herauszustellen, die Matisse als modernem Künstler begegnen und die er mit dem Blick auf die ikonische Tradition zu bewältigen vermag.

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C. Die Unterredung als Denkfigur

Rufen wir uns noch einmal die wesentlichen Charakteristika des Gemäldes in Erinnerung: Die CONVERSATION entfaltet ihre spezifische Wirksamkeit, indem sie in einem blauen Raum vor einem beträchtlichen Fensterausschnitt eine Unterredung zur Darstellung bringt, die sich in ihrem Zustandekommen entzieht und dies sowohl auf der Ebene des Motivs – Mann und Frau sind gleichermaßen isoliert wie aufeinander bezogen – als auch auf der Ebene des bildlichen Vollzugs durch den Betrachter, der sich ebenso in Distanz zum Bild gesetzt sieht wie die beiden Figuren zueinander. Das ›Zugleich‹ von Zurück- weichen und Hervorkommen ist in der Struktur der CONVERSATION vielfach angelegt und zwar derart, dass formale und inhaltliche Dimensionen einander überlagern. Wir müssen diese Unterredung als komplexe Denkfigur auffassen, welche die Frage nach dem Vermögen des Bildes auf fundamentale Weise stellt: In der formalen Anlage scheint die CONVERSATION überschaubar, doch können wir die inhärenten Ereignisse und Beziehungen, welche die Figuren, Farben und Formen entfalten, in der Betrachtung nicht eindeutig und endgültig erfassen, weil es sich um einen »unendlichen Rapport«25, ein vielschichtiges und offenes Sinngefüge handelt. Matisse bringt in seinem Bild das Ge- spräch als mit Worten eigentlich kaum fassbares Schweigen zweier Figuren zur Erschei- nung, das wir aller Widrigkeiten zum Trotz nicht aufhören wollen zu erlauschen.

25 Siehe: Alois Riegl, Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 1893, 308ff.

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III. Grundlagen einer Ästhetik des östlichen Bildes im Kontrast zur abendländischen Ästhetik

A. Die Bildsprache der Verkündigung an Maria in Ost und West

Das Verkündigungsereignis bei Lukas im Neuen Testament

Mit einer Unterredung besonderer Art haben wir es auch bei der Verkündigung der Ge- burt Jesu an Maria zu tun, die einzig im Evangelium des Lukas ausführlich berichtet wird.26 Im Folgenden soll betrachten werden, was sich bei dieser Begebenheit ereignet:

»Und der Engel trat bei ihr [Maria] ein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über dies Wort und dachte: Was für ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefun- den. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, den sollst du Jesus nennen. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden.«27

Eigentümliches geht hier vor sich, wenn der Erzengel Gabriel Maria aufsucht, um der Jungfrau die baldige Geburt ihres Sohnes, des Gottessohnes zu verkünden. Maria ist zwar erschrocken, nimmt aber die Rede des Engels ohne große Widerworte hin, was angesichts der einschneidenden Bekanntmachung durchaus verwundern mag. Sie fragt lediglich: »Wie soll das geschehen, da ich doch von keinem Mann weiß?«28 Der Engel macht alles geschwind und ohne Zaudern klar: »Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Kind heilig genannt

26 »Im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa gesandt, die Nazareth heißt, zu einer Jungfrau; die war mit einem Mann mit Namen Josef vom Hause David verlobt; diese Jungfrau hieß Maria. Und der Engel trat bei ihr ein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über dies Wort und dachte: Was für ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, den sollst du Jesus nennen. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird über das Haus Jakob ewig König sein, und sein Reich wird kein Ende haben. Da sagte Maria zu dem Engel: Wie soll das geschehen, da ich doch von keinem Mann weiß? Der Engel antwortete ihr: Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Kind heilig genannt werden und Gottes Sohn. Und siehe, auch Elisabeth, deine Verwandte, ist mit einem Sohn schwanger in ihrem Alter und ist bereits im sechsten Monat, obwohl man sie für unfruchtbar hielt. Denn bei Gott ist nichts unmöglich. Maria aber sagte: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel verließ sie wieder.« Siehe: Lk 1, 26-38. 27 Lk 1, 28-32: »Et ingressus angelus ad eam dixit habe gratia plena Dominus tecum bededicta tu in mulieri- bus. Que cum vidisset turbata est in sermone eius et cogitabat qualis esset ista salutatio. Et ait angelus ei ne timeas Maria invenisti enim gratiam apud deum. Ecce concipies in utero et paries filium et vocabis nomen eius Iesum. Hic erit magnus Filius Altissimi vocabitur.« (Vulgata). 28 Lk 1, 34: »Quomodo fiet istud quoniam virum non cognosco?« (Vulgata).

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werden und Gottes Sohn.«29 Als Zeugnis für die Wirkvollmacht Gottes verweist Gabriel auf die betagte Elisabeth, die derweil bereits im sechsten Monat schwanger ist.30 So bleibt Maria nur, bevor der Engel wieder entschwindet, demütig die geistige und leibliche Emp- fängnis mit den Worten zu bekunden: »Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.«31 Hier geschieht zweifelsohne mehr, als dass Maria über ein bevorstehendes Ereignis in Kenntnis gesetzt würde. Das Ausgesprochene selbst ist leicht verständlich und eindeu- tig. Die Worte verkünden unabänderliches ›So-wird-es-sein‹. Indem Gabriel spricht und Maria geduldig das übersandte Wort Gottes erhorcht, geschieht zugleich das, wovon die Rede ist: In der Vulgata heißt es: »Fiat mihi secundum verbum tuum.« »Mir geschehe nach deinem Wort.« Maria wird schwanger und der göttliche Logos wird Fleisch. In die- ser Konversation, die der Engel aufgrund seines Verkündigungsauftrags beherrscht, er- eignet sich nichts Geringeres als die Inkarnation selbst. Das durch die Rede Offenbarte geht mit der Wirklichkeit dieser Offenbarung einher.

Die Inkarnation und die Überwindung des alttestamentlichen Bilderverbots

Auf dem Inkarnationsereignis liegt deshalb ein großes Gewicht, weil an ihm der Um- schlag der Wesensart Gottes vom Alten zum Neuen Testament sichtbar wird: Der Gott des Alten Testaments Jahwe – der Gott des Judentums – ist ein strenger, unsichtbarer Gott, der die Welt »außerhalb von sich«32 erschaffen hat. Den Menschen hat er aus der Erde dieser Welt gestaltet. Somit ist der alttestamentliche Gott von der Welt wie vom Menschen separiert. Er beginnt seine Geschichte mit den Menschen bzw. mit dem Volk Israel, indem er es aus der ägyptischen Gefangenschaft führt und mit Moses einen Bund eingeht. Dies findet seinen Ausdruck im ersten der Zehn Gebote, die Jahwe zu Moses auf dem Berg Sinai unter Donner und Blitzen in einer Wolke spricht und später auf steiner- nen Tafeln übergibt: »Ich bin der Herr [JHWH], dein Gott, der ich dich aus Ägypten, aus dem Diensthause, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.«33 Trotz der Sympathie, welche Jahwe Moses als Repräsentant des Volkes Israels entgegenbringt, bleibt er seinem Wesen nach eine »unerfaßbare Macht«34, die es verbietet, seine Göttlich- keit über die steinernen und bildlosen Tafeln hinaus zu verdeutlichen. Bereits das zweite Gebot ist das Gebot der Bildlosigkeit:

29 Lk 1, 35: »Et respondens angelus dixit ei Spritus Sanctus superveniet in te et virtus Altissimi obumbrabit tibi ideoque et quod nascetur sanctum vocabitur Filius Dei.« (Vulgata) 30 Lk 1, 36 31 Lk 1, 38. »Ecce ancilla Domini fiat mihi secundum verbum tuum.« (Vulgata) 32 Michel Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, München/Freiburg 2002, 20. 33 Siehe: Exodus 20,1-3 34 Gottfried Boehm, Die Bilderfrage, in: Was ist ein Bild?, hg. von Gottfried Boehm, München 1995, 328 (fortan: Boehm, Bilderfrage).

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»Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen.«35

Das rigorose Bilderverbot versagt jede bildhafte oder symbolische Darstellung Gottes bzw. seiner Schöpfung, denn eine bildliche Gestaltung würde dem Menschen ein schöp- ferähnliches Vermögen zugestehen, das Gott sich selbst vorbehält. Das Bilderverbot dient gewissermaßen als Garant dafür, dass die ursprüngliche Analogie zwischen dem Schöpfer und seiner Kreatur nicht verkehrt wird.36

Im Neuen Testament geschieht dann jedoch etwas Überwältigendes, das das alte Ver- ständnis von Gott gehörig ins Wanken bringt. Im Prolog des Evangelisten Johannes 1,14 heißt es: »Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns […]«. Dies ist nun der in der Tat schwer zu denkende Gedanke der christlichen Inkarnationslehre. Indem Jesus Chris- tus in die Welt kommt, wird das Wort des seit jeher unfassbaren und unsichtbaren Gottes Fleisch, wird Mensch. Ein völlig neuer Gedanke, der auch an dem alten Bilderverbot rüttelt und seine Legitimität in Frage stellt. Es ist ein schwer zu lösendes intellektuelles Dilemma, ein echtes Paradoxon, mit dem sich die Kirchenväter seit dem Ende des ersten Jahrhunderts auseinandersetzen: Wie ist es möglich, dass Jesus Christus zugleich wahrer Mensch und wahrer Gott ist? In der Folge darf die eine Wesensart der anderen nicht übergeordnet werden. Dem alten Verständnis, das von einem ewigen und entfernten Gott ausgeht, widerspräche es gänzlich, die Möglichkeit eines transzendentalen Heils in einem sterblichen Körper liegen zu sehen. Wie ist nun der Bogen über die weite Kluft zwischen altem und neuem Testament zu schlagen? Wie das Mysterium der Inkarnation zu fassen? An dieser Stelle ereignet sich eine gewaltige Kehre, die auch dem Bild neue Mög- lichkeiten eröffnet: Wenn Gott durch Christus Mensch geworden ist und um der Erlösung der Menschheit willen in einem sterblichen Körpers lebte, so argumentiert der ikonophile Johannes von Damaskus (650-ca.754) in seinen Verteidigungsreden für die heiligen Bil- der zu Beginn des Byzantinischen Bilderstreits (ca. 726-843), dann muss auch Christus in menschlicher Gestalt dargestellt werden, gerade weil Bilder den Analphabeten gewisser- maßen als Bücher dienen könnten, um das Heilsgeschehen begreiflich zu machen.37 Dies

35 Exodus 20, 4-5. 36 Vgl.: Boehm, Bilderfrage, 329. 37 Vgl.: Johannes von Damaskus, Contra imaginum calumniatores oratio III 9a. bzw. Pascal Weitmann, Sukzession und Gegenwart. Zu theoretischen Äußerungen über bildende Künste und Musik von Basileios bis Hrabanus Maurus, Wiesbaden 1997, 120.

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laufe dem alttestamentlichen Bilderverbot nicht zuwider, weil eben nicht Gott selbst als unsichtbares, unbegreifbares und grenzenloses Wesen dargestellt würde. Insofern wird das Bild durch die christliche Inkarnationslehre ins Recht gesetzt.38

38 Allerdings ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass gerade die bildliche Darstellung Christi Schwierigkeiten bereitete. Man wollte zwar Bilder, aber keinen Künstler, der sie herstellte. Das Bildermachen war weiterhin mit dem Vorwurf der Blasphemie behaftet. Man bevorzugte Bilder, die ›nicht von Menschen- hand gemacht‹ waren – die sogenannten acheiropoieta. Oftmals schrieb man diesen Christusbildern die Fä- higkeit zu, Wunder zu bewirken. Beliebt waren vor allen Dingen Bilder des Heilands, von denen man be- hauptete, sie seien durch einen Abdruck auf einem Kontaktmedium hervorgegangen – wie das beispielsweise bei dem berühmten Schweißtuch der Veronika der Fall ist. Solch ein Bild verfügte über eine »doppelte Evi- denz«, weil es sowohl die Wirklichkeit des Körpers bzw. seiner Ausdünstungen bezeugte als auch ein Bildnis seines Gesichts abgab. Die größtmögliche Unmittelbarkeit garantierte die größtmögliche Authentizität der Bilder. Derart war der problematische Schöpfungsprozess umgangen. Siehe: Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2006, 57. Ferner befasst sich Gerhard Wolf eingehend mit den ›nicht von Menschenhand gemachten‹ Bildern. Siehe: Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance, München 2002, 1-42.

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Charakteristika der ikonischen und abendländischen Bildsprache am Beispiel von Verkündigungsdarstellungen aus dem Osten und Westen

Schwierigkeiten der Konfrontation

Wie oben ausgeführt beschreibt die im Lukasevangelium dargebotene Verkündigung durch Gabriel an Maria genau denjenigen Moment, in dem das göttliche Wort Fleisch wird. Diese Szene ist für die bildlich-bildnerische Umsetzung gewissermaßen prädesti- niert, weil hier das Mysterium der Fleischwerdung in das Geheimnis des ›Bildwerdens‹ überführt werden kann. Auch beim Entstehungsprozess eines Bildes handelt es sich ja um einen Vorgang von Materialisierung, da sich Farben, Formen und Linien zu einer eigen- ständigen Bildgestalt figurieren. So verleiht das Verkündigungsgeschehen dem Ursprung des bildlichen Begehrens eine legitime und mögliche Form: ein per se undarstellbares Ereignis sichtbar zu machen. Bildliche Darstellungen der Verkündigung gibt es bereits seit dem dritten Jahrhun- dert. Die älteste nachgewiesene Formulierung des Themas befindet sich an einer Decke der Priscilla-Katakombe in Rom. Maria sitzt hier links, während der fast frontal stehende Engel seinen rechten Arm in ihre Richtung streckt. Dieser Darstellungstyp modifiziert sich über die Jahrhunderte innerhalb der verschiedenen territorialen Abschnitte des östli- chen und westlichen Römischen Reiches. So tauschen Maria und der Engel links und rechts im Bild und verändern auch ihre Posen des Sitzens, Stehens oder Kniens.39 An dieser Stelle soll jedoch keine detaillierte Analyse einer allmählichen ikonographischen Fixierung erfolgen. Vielmehr gilt das Interesse der Frage, welche grundlegenden Unter- schiede in der bildlichen Wirkung das Verkündigungsmotiv im griechischen Osten bzw. im abendländischen Westen hervorbringt. Eine derartige Gegenüberstellung ist schwierig, weil sich die Traditionslinien der bildlichen Darstellung in Ost und West nicht ohne maßgebliche Berührungen ausbildeten. Genannt seien hier nur die engen Beziehungen und gleichermaßen feindseligen Ausei- nandersetzungen zwischen den ökonomischen Zentren der östlichen bzw. westlichen Welt, Konstantinopel und Venedig, die einen regen kulturellen Austausch begünstigten, der auf beiden Seiten Spuren hinterließ – gerade in der Bildermacherei. Ein weiteres Problem liegt darin, dass aus dem Zeitraum vom sechsten bis zum Ausgang des neunten Jahrhunderts aufgrund der Bilderstürme im Rahmen des byzantini- schen Bilderstreits nur ein sehr geringer Bestand an Werken erhalten geblieben ist. Inso- weit dies die Ikonen betrifft, hat die größte Anzahl von ihnen im Katharinenkloster am Fuße des Sinai überlebt.40 Etwa ab dem elften bzw. zwölften Jahrhundert lässt sich eine kontinuierliche Entwicklung der Ikonenmalerei nachvollziehen. Allerdings ist erst seit Beginn des 13. Jahrhunderts auch eine gehörige Zahl von Ikonen aus den Gebieten des griechisch-orthodoxen Kulturraumes überbracht, die es erlaubt, handwerkliche oder sti- listische Besonderheiten der jeweiligen Werkstatt herauszustellen und zuzuordnen. Diese Ikonen stammen aus Griechenland, anderen Balkanländern, Russland und dem Nahen Osten.41

39 Vgl.: Marienlexikon, hg. von R. Bäumer und L. Scheffczyk, Bd. 6, St. Ottlien 1994, 608. 40 Vgl.: Kurt Weitzmann, Die Ikone. 6. bis 14. Jahrhundert, München 1978, 16 (fortan: Weitzmann 1978). 41 Vgl.: Weitzmann 1978, 16.

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Lange Zeit bleibt auch im Westen des Römischen Reiches der byzantinische Ein- fluss in der Bildherstellung dominant, u. a. deshalb, weil es den byzantinischen Herr- schern immer wieder gelingt, weströmische Provinzen für sich zu gewinnen. Die präch- tigen Wand- und Deckenmosaike im Mausoleum der Galla Placidia sowie in den Kirchen San Vitale und Sant‘ Apollinare Nuovo aus dem sechsten Jahrhundert in Ravenna zählen zu den frühesten und besterhaltenen Beispielen byzantinischer Mosaikkunst überhaupt. Aber auch in Rom sind außerordentliche Werke erhalten geblieben, wie beispielsweise die Mosaiken mit Szenen aus dem Alten Testament in der Kirche S. Maria Maggiore aus dem fünften Jahrhundert42, das Fresko der THRONENDEN MARIA ZWISCHEN DEN HEILIGEN FELIX UND ADAUCTUS in der Comodilla-Katakombe aus dem sechsten Jahrhundert43 oder die enkaustische Ikone der MADONNA DELLA CLEMENZA aus dem siebten bzw. achten Jahrhundert.44 Obwohl sich im Westen über die Jahrhunderte hinweg immer wieder das Bestreben bemerkbar macht, unter Berufung auf die kulturellen Wurzeln Westroms und insbesonde- re auf die theoretischen Äußerungen der lateinischen Kirchenväter zum Bild – wie bei- spielsweise die des Heiligen Augustinus – einem eigenständigen, westlichen Bilddenken den Weg zu bahnen, bleibt das Byzantinische bis weit in das 13. Jahrhundert hinein in der italienischen Malerei gegenwärtig. Noch in den Körperdarstellungen des florentinischen Malers Cimabue (1240-ca. 1302) schwingt die herbe Linearität der byzantinischen Ma- nier mit, wenngleich er im selben Moment den menschlichen Körper durch eine eigenwil- lige Form- und Farbauffassung verlebendigt und damit wesentliche Voraussetzungen für eine ›neuzeitliche‹ Malerei schafft. Erst im 14. Jahrhundert gelingt es den Italienern auf dem Fundament der Errungen- schaften Giottos in verschiedenen künstlerischen Zentren wie Florenz, Siena oder Rom, eine neuartige Malerei zu entwickeln, die nun auch individuelle Künstlerhandschriften zulässt. Dies ist die Vorphase der italienischen Renaissance.

Im Folgenden wird auf exemplarische Weise eine östliche Verkündigungsdarstellung mit einer westlichen konfrontiert werden. Dabei geht es um den Versuch, der spezifischen Wirkungsweise des östlichen bzw. westlichen Bildes nachzuspüren. Die beiden Bilder sind mit Bedacht ausgewählt: Auf der Seite des griechischen Ostens wird eine frühe und fein gearbeitete Verkündigungsdarstellung aus dem Katharinenkloster (Sinai) [Abb. 4], die Ende des zwölften Jahrhunderts mit großer Wahrscheinlichkeit in Konstantinopel entstand, vorgestellt und untersucht.45 Auf der Seite des Westens hingegen wird ein Ver- kündigungsfresko, das Fra Angelico als Dominikanermönch in der Mitte des 15. Jahr-

42 Abbildungen siehe: Beat Brenk, Die frühchristlichen Mosaiken in S. Maria Maggiore zu Rom, Wiesbaden 1975, Abb. 40ff. 43 Abbildungen siehe Weitzmann 1978, 48. 44 Abbildungen siehe Weitzmann 1978, 50. 45 Die Ikone stammt aus der letzten Phase der Kunst der Komnenenzeit und wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts neben drei weiteren Ikonen des späten 12. Jahrhunderts in den Fries der neu errichteten Ikono- stasis eingefügt, da es über den seitlichen Durchgängen zu den Nebenräumen des Altarraumes noch Leerste- len gab. So wurden die Ikonen lange von der Forschung übersehen. Ihre ursprüngliche Bestimmung ist unge- klärt. Siehe Weitzmann 1978, 92 sowie Kurt Weitzmann, Eine spätkomnenische Verkündigungsikone des Sinai und die zweite byzantinische Welle des 12. Jahrhunderts (1965), in: Kurt Weitzmann, Studies in the Arts at Sinai. Essays by Kurt Weitzmann, Princeton University Press, Princeton/New Jersey 1982, 271 (for- tan: Weitzmann 1965).

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hunderts im Kloster San Marco zu Florenz anfertigte, als Beispiel der sich subtil ausbil- denden abendländischen Bildrhetorik einer genauen Betrachtung unterzogen [Abb. 5]. Die Tatsache, dass die Bilder unter unterschiedlichen Voraussetzungen und zu ebenso verschiedenen Zwecken entstanden sind, ist für die Konfrontation der Bildsprachen nicht maßgeblich. Im Verlauf der Untersuchung wird sich zeigen, worauf der Schwerpunkt in der jeweiligen Darstellung des Inkanationsereignisses liegt. Hierdurch sollen Charakteris- tika für die Herkunft und die ästhetische Wirkungsweise der Bilder gewonnen werden.

Eine Verkündigungsikone des Sinai

Begegnung Allerorten Licht. Das ganze Bild, der ganze Raum erstrahlt in goldenem Glanz. In tän- zelnder Bewegung naht von links ein Engel an die vor einem turmartigen Tempel thro- nende Maria heran. Das edle braune Gewand des Engels reicht bis zu seinen baren Füßen. Es fließt und krümmt sich dabei zu feingliedrigen ornamentalen, golden schimmernden Faltenwürfen, welche die organischen Formen seines eleganten Körpers geschmeidig umspielen. Er hält in einer doppelten Drehbewegung inne. In seitlicher Schrittstellung kommt er heran, währenddessen er dem Betrachter den Rücken zuwendet und im selben Moment den Kopf abrupt zu Maria herumdreht. Es macht den Anschein, als würde er über dem Boden schweben. Und dies, obwohl seine großen gefiederten Flügel, die hier erstaunlicherweise nicht am Rücken sondern in der vorderen Schulterpartie ihren Aus- gang nehmen, nicht in Gebrauch sind. Das tänzelnde Bewegungsmotiv des Engels erin- nert dabei an die Skulptur einer tanzenden Mänade aus dem klassischen Griechentum, die dem Künstler aller Wahrscheinlichkeit nach bekannt war.46 Sein Gesicht und seinen rech- ten Arm wendet der Engel Maria zu, um ihr etwas zu bedeuten. Während er in der linken Hand den goldenen Botenstab hält, dient die vorsichtige Geste seiner rechten Hand einer- seits dazu, Marias Aufmerksamkeit zu erwecken, andererseits scheint es, als wolle er zugleich auch den Schrecken, den sein plötzliches Auftauchen verursacht hat, herabmil- dern. Sein feingezeichnetes Gesicht ist unter dem wohlgeordneten, lockigen Haar im Dreiviertelprofil gegeben. Er blickt mit ernster jedoch vertrauenserweckender Miene hinüber zu Maria. Er selbst wirkt innerlich erregt durch das, was sich hier zuträgt. Maria sitzt auf einem breiten goldenen Thron, der über und über mit delikaten Gra- vuren und an den Seiten der Lehne sogar mit weißen Perlen verziert und von roten Edel- steinen gekrönt ist. Ganz im Gegensatz zu diesem mächtigen Sitz ist Maria eine äußerst grazile Gestalt. Bedächtig und fragend blickt sie dem Engel entgegen. Trotz ihrer Erge- benheit strahlt ihr Gesicht Selbstbewusstsein aus. Schmal aber in aufrechter Haltung sitzt sie frontal auf dem kostbaren roten Polster des Thrones. Sie trägt ein schlichtes dunkel- blaues Kleid, darüber eine purpurbraune Paenula. Oberhalb ihrer roten Schuhe blitzt ein olivbraunes Unterkleid hervor. Die Ränder ihres Gewandes sind mit breiten Goldborten geschmückt. Marias Hände sind beinahe spielerisch damit befasst, unter Zuhilfenahme einer im Schoß gehaltenen Spindel Purpurfaden für den Tempelvorhang zu spinnen.47

46 Vgl.: Weitzmann 1978, 92 sowie Weitzmann 1965, 272. 47 Das apokryphe Evangelium des Jakobus berichtet davon, dass Maria im Tempel aufwächst und daraufhin in die Obhut Josephs in dessen Haus gegeben wird. Unter den Jungfrauen aus dem Stamme Davids wurde

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Ganz anders als der lichtdurchflutete Engel besitzt die farbig gewandete Maria in ihrer vertikalen Positur Bodenhaftung. Ihre Füße stützen sich fest auf dem goldenen Podest ab. Maria ist in ihrer lebensweltlichen Spinntätigkeit eindeutig der irdischen Sphäre zuzuord- nen. Allerdings verfügt auch sie aufgrund der stark akzentuierten Linearität ihrer Erschei- nung über keine naturalistische Körperlichkeit.

Bildraum Die Begegnung zwischen dem Erzengel Gabriel und Maria ereignet sich in einer eigenar- tig entrückten Sphäre. Der ganze Raum ist von überbordendem Gold erfüllt, das aus der Tiefe auf den Betrachter zu drängt. Ein eindringliches ›Zugleich‹ von unmittelbarer Ge- genwärtigkeit und wundersamer Distanz stellt sich bei der Betrachtung ein. Lediglich eine horizontale, sonderbar belebte Bodenzone mit architektonischen Elementen ver- schafft dem Raum eine vage Örtlichkeit. Im Vordergrund fließt ein dunkelgraugrüner Strom, in dem sich allerhand filigran gestaltetes Getier tummelt: springende Fische, klei- ne Enten, Reiher und sogar eine Art Tintenfisch sind im Wasser oder am Rande des Stromes zu erkennen. Der Fluss ist durch kantige Ausbuchtungen mit der goldenen Ufer- zone verzahnt, die wiederum von einer niedrigen Mauer mit kleinen Gebäuden begrenzt wird. Kurt Weitzmann legt nahe, das Flussmotiv auf einen Lobgesang zu Ehren Marias zurückzuführen, in dem sie als »Gnade-spendender Strom« gepriesen wird.48 Am rechten Rand unmittelbar hinter Marias Thron ragt ein Tempel mit einem spit- zen Satteldach in die Höhe. Er ist mit antikisierenden Säulenordnungselementen und fei- nen Ornamentleisten ausgestattet. Ähnlich wie der Thron ist der Tempel mit nach rechts oben, parallel fliehenden Seitenwänden gegeben. In einem Dachgarten nisten Vögel und auf dem Dachfirst zeigen sich zwei Störche. Der Vorhang zum Eingang des Tempels ist aufgeschoben und an der rechten Seite befestigt. Der Tempel in dieser Ikone ist eindeutig Maria zugeordnet. Er verweist auf den Ort ihrer Kindheit, an dem sie jungfräulich und monastisch heranwuchs.49 Der Wunder verheißende, goldgrundige und daher der alltäglichen Wirklichkeit so ferne Raum, in dem die Begegnung zwischen Maria und dem Engel Gabriel vonstatten- geht, bringt in seiner glänzenden Tonigkeit ein weiteres Detail an den Tag: Bei genauer Betrachtung wird in der Mitte oberhalb der Köpfe Marias und Gabriels der heilige Geist in Gestalt einer goldenen Taube sichtbar. Ein zarter Strahl, der in einem Himmelssegment seinen Ausgang nimmt und exakt auf Maria gerichtet ist, verhilft der Taube auf den rech- ten Weg. Genau dort, wohin der Strahl zielt, auf die Stelle unterhalb von Marias Herzen, schimmert in kaum sichtbarer Zeichnung das sitzende Christuskind in einer Mandorla.50

Maria ausgewählt, um aus echtem Purpur den Faden für den Tempelvorhang zu spinnen. Vgl.: Neutestament- liche Apokryphen, hg. von Wilhelm Schneemelcher, Tübingen 1990 [6. Auflage], 341ff . 48 Vgl.: Weitzmann 1978, 92 sowie Weitzmann 1965, 274. 49 Nach dem apokryphen Evangelium des Jakobus wird Maria von ihren Eltern mit drei Jahren in den Tempel gegeben, wo sie »wie eine Taube gehegt« wurde und »Nahrung aus der Hand eines Engels« empfing bis sie zwölf Jahre alt wurde. Siehe: Neutestamentliche Apokryphen, hg. von Wilhelm Schneemelcher, Tübingen 1990 [6. Auflage], 341f. 50 Vgl.: Weitzmann 1965, 274. Das feine Gespür, mit der der Meister der Sinaiikone das Mysterium der Inkarnation schildert, wird augenfällig, wenn wir der Ikone die kleinformatige Verkündigungstafel des lom- bardischen Künstlers Gentile da Fabriano (ca. 1370 – 1428) gegenüberstellen, die sich in der Pinakothek der vatikanischen Museen befindet. Auf der 1425 entstandenen Tafel ist es kein zarter Strahl, der die Taube des

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Wir erinnern uns an die Perikope aus dem Lukasevangelium, die von der Verkündigung berichtet. Gabriel entgegnet der erstaunten Maria auf die Frage, wie eine jungfräuliche Niederkunft denn möglich sein könne, dass der heilige Geist »über sie« kommen werde.51 Die Taube erscheint innerhalb eines schillernd rotierenden Kreises, der in seinem Effekt den Nimben Marias und des Engels gleicht. Diese Scheiben bewirken, dass sich der Blick des Betrachters zunächst auf den jeweils drehenden Kreis und die ihm zugehörige Gestalt fokussiert, dann aber zwischen den drei derart ausgezeichneten Protagonisten hin- und herzuspringen beginnt. Ihre Wirkungskraft verdanken diese Kreise keiner malerischen Behandlung, sondern einer Aufrauhung des Goldgrundes durch dicht nebeneinander ge- setzte Linien, in denen sich das Licht je nach Standpunkt des Betrachters verfängt und so die Beschleunigung der Scheiben hervorruft.52

Unterredung Dem Meister dieser Verkündigungsikone gelingt unter Zuhilfenahme der kreisrunden Gravuren eine eigentümliche Dramatisierung des Geschehens. Durch die Rotationsschei- ben erhält jede Figur ihre eigene Sphäre, ein jeweils für sich stehendes Bewegungskom- partiment, das gleichzeitig auf die anderen Figuren bezogen bleibt. Paradoxerweise scheint gerade diese Isolation der Protagonisten den Zusammenhang des heiligen Ge- schehens zu akzentuieren: die Fleischwerdung des göttlichen Wortes, die sich in der Un- terredung zwischen Gabriel und Maria mithilfe der Wirkmacht des heiligen Geistes er- eignet. Motive wie die Spindel, der Tempel oder auch der Gnade-spendende Strom um- spielen das Ereignis auf einer metaphorischen Ebene. Sie regen die Imaginationskraft des Betrachters an, das Verkündigungsereignis anekdotenhaft auszuschmücken, um es umso tiefer im Gedächtnis zu verankern. Die fein gezeichneten Gesichter Marias und Gabriels wie auch ihre zaghaften Ge- sten geben einen Hinweis auf ihre innere Empfindungslage. Doch sind die Ausdrücke ihrer Mienen und Hände eher still als beredt. Sie wollen nicht lauthals erzählen, nicht durch wuchtige Fingerzeige herausschreien, was hier gerade vor sich geht. Eine eindeutig lesbare Rhetorik der Gebärde ist zu Gunsten eines subtilen Mienenspiels zurückgenom- men. Es ist nicht der kommunikative Akt, nicht die Mitteilung des göttlichen Logos, die hier im Vordergrund steht. Das geheimnisvolle Geschehen wird gegenwärtig in der Span- nung der Figuren zwischen Zurückweichen und Nahekommen.

heiligen Geistes lenkt. Vielmehr handelt es sich hier um eine golden schimmernde Lichtsäule, die auf der Bilddiagonalen verlaufend großflächig in den Leib Marias eindringt. Gentile da Fabriano stellt die Fleischwerdung in harscher Buchstäblichkeit dar: Das Mysterium gerät ihm zum beinahe gewaltsamen Fak- tum. 51 Siehe: Lk 1, 35:» Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich über- schatten; darum wird auch das Kind heilig genannt werden und Gottes Sohn.« 52 Vgl.: Weitzmann 1965, 274.

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Ein Verkündigungsfresko des Fra Angelico

Begegnung In diesem Fresko ereignet sich die Zusammenkunft zwischen dem Engel und Maria, die beinahe im menschlichen Maßstab gegeben sind, bei hellem Tageslicht in einer Loggia, die sich nach links hin zu einer Blumenwiese öffnet. Von dorther ist wohl auch Gabriel gekommen. Er hat eine androgyne Gestalt, blondes lockiges Haar und feine Gesichtszüge, die er uns im Profil zeigt. Er trägt ein edles, rosafarbenes Gewand, das in geschmeidigen Falten ausläuft und mit einem goldenem Ornamentstreifen im Bereich der Brust und des Rocksaumes verziert ist. Die großen Flügel entspringen dem Rücken. Sie bestehen aus Federn, die in farbigen Reihen angeordnet sind. Die Spannweite der Flügel umfasst genau den Abstand zwischen zwei Säulen. In einem Ausfallschritt neigt sich Gabriel Maria zu. Die Hände hält er über dem Oberkörper gekreuzt. Der Schein seines kreisrunden Nimbus berührt dabei die mittige Säule auf Höhe des fein ausgearbeiteten korinthischen Kapitells. Sie ist zugleich die Symmetrieachse der beiden frontalen Arkaturen. Die wuchtige Säule bewirkt, dass Maria in ein eigenes, abgegrenztes Raumkompartiment rückt. Maria sitzt auf einem kargen Holzschemel inmitten der rechten Arkatur. Sie trägt ei- nen langen, nachtblauen Überwurf, der mit einer fein bestickten Goldborte gesäumt ist. Ihr welliges blondes Haar wird von einem bronzefarbenen Band gehalten, das wie eine Krone auf dem Kopf sitzt. Die Frontalseite ihres Oberkörpers bleibt vom Mantel unver- borgen. Hier wird ihr schlichtes Kleid sichtbar, das sich in seinem aufgehellten Ocker an den zarten weißlich-rosafarbenen Ton des Inkarnats annähert, das in Hals, Gesicht und Händen aufscheint und lediglich durch die goldenen Einfassungen des Ausschnitts und der Ärmel abgesetzt ist. Auch die die Loggia ist in einem weißlich-bräunlichem Ocker gehalten. Die farbigen Töne rücken durch die Beimischung von Weiß aneinander und entfalten durch den mattierenden Effekt der Freskotechnik einen feinen Klang. Abgese- hen von einigen schattigen Passagen innerhalb des Gewölbes der Loggia und des Mantel Marias gibt es kaum Ausbrüche ins Dunkle. Sogar die Gräser auf der Wiese erscheinen weiß aufgehellt. Die Geste des Engels erwidernd kreuzt Maria ihre Unterarme auf Höhe des Bauches und beugt ihren Oberkörper Demut bekundend nach vorne. Während das knabenhafte Gesicht Gabriels im Profil gegeben ist, scheint Marias Gesicht hinsichtlich der Bildebene in eine Diagonale gerückt. Es wirkt trotz der größeren Distanz zum Betrachter – sie be- findet sich etwas weiter hinten im Raum – größer als das des Engels. Auch ihr Nimbus ist größer als derjenige Gabriels. Marias Gesicht wird zum Umschlagsort der Blicke: Sie wendet es dem Engel zu und öffnet es im gleichen Moment auch in Richtung des Be- trachters. Somit wird die Inkarnation über die motivische Szene hinaus ausgeweitet. Der Betrachter wird in das Ereignis miteinbezogen.

Die Gesichtszüge der Maria sind klar und milde. Die schmale gerade Nase entspringt leicht gerundeten Brauen unterhalb einer hohen, edlen Stirn. Die mandelförmigen, brau- nen Augen blicken leicht nach oben. Die zarten rosafarbenen Lippen bleiben in ihrem schönen Schwung geschlossen. Das Kinn weicht vom klassischen Ideal ab, weil es leicht flieht. Dies unterstützt den Gesamteindruck, den wir von dieser anmutigen Maria gewin-

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nen: Sie ist keine, die sich einem Ereignis entgegenstellt, vielmehr scheint sie sich dadurch auszuzeichnen, dass sie sich dem Geschehen fromm fügt, sich »unterwirft«53.

Bildraum Die Loggia, in der die Verkündigung stattfindet, ist ein seltsam ambivalenter Raum: Die Säulenhalle öffnet sich zu zwei Seiten hin. Sie ist ein offener und geschlossener Raum zugleich, ist ›Außen‹ und ›Innen‹. Dieses doppelsinnige Moment wird durch das kleine Kristallfenster in der zurückliegenden Kammer akzentuiert, das seinerseits eine Korres- pondenz zwischen den beiden Sphären herstellt. Ein schmales Gestänge, das oberhalb der Kapitelle die Bögen durchzieht, markiert den ›inneren‹ Ort der Verkündigung. Der Archi- tektur äußerlich ist die Wiese mit roten und weißen tupfenartigen Blumen, zarten Gräsern und Pflanzen, die durch einen hohen Zaun von einem Wald aus Laubbäumen und zypres- senartigen Gewächsen abgegrenzt ist. Sogar hier im ›Freien‹ hält die Dialektik von Innen und Außen Einzug. Durch den Zaun wird ein Garten abgeschlossen: ein hortus conclusus. Als solcher steht er als Zeichen für die Unversehrtheit der Jungfrau. Die Wiese kann aber ebenso als Paradiesgarten betrachtet werden. Insofern ist sie auch als Zeichen für die Überwindung der Sünde, die Adam und Eva durch den Genuss des verbotenen Apfels vom Baum der Erkenntnis aus dem Garten Eden über die Menschen brachten, durch die ›neue Eva‹ lesbar. Es ist bemerkenswert, wie vielsinnig das Oszillieren zwischen Innen und Außen, zwischen dem Offenen und Geschlossenen in diesem Bildraum angelegt ist – und doch scheinen alle Ambiguitäten auf die unberührte Jungfräulichkeit Marias anzuspielen: Die Loggia, der Garten, das kleine Kristallfenster. All diese symbolischen Figurationen, die den Ort des Geschehens charakterisieren und in den umfassenden Zusammenhang der christlichen Heilsgeschichte einfügen, betonen die Wirkungskraft einer »intakten Schwel- le«.54 Besonders augenfällig wird dies an der leicht aus der Bildmitte nach rechts verscho- benen korinthischen Säule. Sie erfüllt vielfältige Aufgaben im Bildraum: Zum einen ist sie eines von sechs statischen Elementen, welche das Gewölbe der Loggia tragen, und damit fundamentaler Bestandteil eines architektonischen Raumes. Zum anderen fungiert sie als Barriere, die den Raum Marias von dem des Engels separiert. Sie ist ebenso dieje- nige Figur, welche die Wirklichkeit des Bildes und jene des Betrachters aneinandertreibt: Denn sie verbringt Maria, den Engel und auch uns selbst in die äquivalente Befindlichkeit eines örtlichen »Davor«.55 Mächtig ragt sie vor uns auf. Fast scheint sie an die Bildober-

53 Didi-Huberman hat in seiner umfassenden Studie zu dem Verkündigungsfresko von Fra Angelico im Klo- ster San Marco den Begriff der »Unterwerfung« hinsichtlich der Haltung Marias dem Moment zugeordnet, in dem sich die Inkarnation durch ihre Worte ereignet: »ecce…fiat mihi secundum verbum tuum.« Vgl.: Geor- ges Didi-Huberman, Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration, München 1995, 114 (fortan: Didi- Huberman 1995). 54 Didi-Huberman entwickelt diese Begriffe für die eigentümliche Dialektik des Öffnens und Schließens wesentlicher symbolischer Figuren in den bildlichen Darstellungen der Verkündigung: »Gewiß nicht ohne Grund erinnern die bemerkenswertesten dieser Details sehr oft, von nah oder fern, an den Gedanken einer überschrittenen, aber unversehrten, intakten Schwelle. […] Man gewinnt den Eindruck, daß die Maler hier ständig mit einem Detail zurückweisen, was ein anderes Detail zu affirmieren schien: Jedem Zeichen der Öffnung korrespondiert eines der Schließung, nach einem rhythmischen Prinzip von regelmäßigen Batte- ments und Kontrapunkten.« Siehe: Didi-Huberman 1995, 145. 55 Didi-Huberman betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Inschrift, mit welcher Fra Angelico

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fläche zu stoßen. Wir kommen unglaublich nahe an sie heran, ohne sie jedoch zu berüh- ren. Der Schein von Gabriels Nimbus tangiert die Säule exakt auf Höhe der Krenzleiste des korinthischen Kapitells, doch bleibt sie von seinem Körper unangetastet. Die Säule markiert eine gänzlich unversehrte Schwelle.

Unterredung Einzig unsere Blicke werden von dieser Barriere nicht angehalten. Sie dürfen gewähren. Sie durchqueren die Loggia, folgen den Richtungen, die der architektonische Raum vor- gibt. Sie laufen zwischen Gabriel und Maria hin und her, deren Körper beinahe symmet- risch aufeinander bezogen sind: Dem sich im Ausfallschritt neigenden Engel antwortet eine gebeugte Maria, beide mit gekreuzten Unterarmen und Händen. Maria empfängt das göttliche Wort. Sie weicht nicht, sie unterwirft sich dem Ge- schehen.56 Paradoxerweise wird Maria gerade durch diesen passiven Zug zur Handelnden. Durch die Öffnung ihres Gesichtes und Oberkörpers hin zum Betrachter und durch den in sich gekehrten Blick stiftet sie zu einem innerlichen Nachvollzug des Inkarnationsereig- nisses an. Sie setzt nicht nur eine Seh-, sondern auch eine Denk- und Kontemplationsbe- wegung in Gang, welche sich auf die gesamte Darstellung ausweitet und allenthalben auf die dialektischen Formationen des Offenen und Geschlossenen, des Innen und Außen trifft, die sich zu einem vielschichtigen und vielsinnigen System verknüpfen. Maria ist diejenige Figur, die das Bild in alle Richtungen und Dimensionen organisiert.

Die intellektuelle Möglichkeit, welche das Bild birgt und an den Betrachter heranträgt, erschließt sich mithin dadurch, dass sich das Fresko auf der Innenwand des Nordkorridors im Kloster San Marco in Florenz befindet, wo es weitgehend den Brüdern des dort ansäs- sigen Dominikanerordens vorbehalten blieb, also einem theologisch gebildetem Publikum zugeeignet war. Angesichts der Verkündigung wurden die Geistlichen herausgefordert, die exegetische Arbeit an der Heiligen Schrift in eine ›auslegende‹ Betrachtung der Ver- kündigung zu überführen, die sich eben gerade dadurch auszeichnet, nicht buchstäblich

das Fresko auf Höhe des Sockels der Loggia versah: VIRGINIS INTACTE CUM VENERIS ANTE FIGURAM PRE- TEREUNDO CAVE NE SILEATUR AVE, das er wie folgt übersetzt: »Wenn du vor die Figur der unberührten Jung- frau kommst, gib beim Vorbeigehen acht, daß du das Ave nicht stillschweigend übergehst.« Es handelt sich um eine Aufforderung an den frommen Menschen, vor der gemalten Figur innezuhalten und zu beten. Exakt unterhalb der zentralen Säule befindet sich das Wort »ante«, das den Betrachter sowohl buchstäblich als auch sinnhaft »vor« der Säule bzw. »vor« dem Ereignis verortet. Vgl.: Didi-Huberman 1995, 130f. und 151f.. 56 Michael Baxandall hat sich in seiner Untersuchung Die Wirklichkeit der Bilder eingängig mit den Sehge- wohnheiten im italienischen Quattrocento auseinandergesetzt. Er macht auf überzeugende Weise deutlich, dass die Maler ihre Bilder stets in Abhängigkeit von den vorherrschenden Wahrnehmungstechniken und Rezeptionskonventionen ihrer potenziellen Betrachter schufen. Baxandall modifiziert fünf ›rhetorische‹ Zu- stände, in denen Maria in den Verkündigungsdarstellungen der Renaissance gezeigt wird. Diese entsprechen den fünf »lobenswerten Konditionen«, die der Volksprediger Fra Roberto Caracciolo da Lecce entlang des Verkündigungsberichtes des Lukas herausstellt: 1.) Conturbatio (Aufregung beim Eintritt des Engels), 2.) Cogitatio (Überlegung, um welchen Gruß es sich handelt), 3.) Interrogatio (Nachfragen, wie eine jungfräuli- che Empfängnis funktionieren könne), 4.) Humiliatio (Unterwerfung) und 5.) Meritatio (Verdienst: Erhebung der Seele Marias nach dem Fortgang des Engels). Den ersten vier Zuständen ordnet er gemäß der Körperhal- tung Marias jeweils ein Bild eines Meisters des Quattrocento zu. Vgl.: Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Olten/Wien 1988, 44ff. und 66ff.

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und illustrativ, sondern metaphorisch-»unähnlich«57 zu sein. Die Verkündigung fügt sich in einen theologischen Freskenzyklus, den Fra Angelico – selbst ein Mönch des Ordens – konzeptionell verantwortete und mit der Unterstützung von Gehilfen innerhalb weniger Jahre vollendete: Insgesamt galt es, sowohl die Kirchen von San Marco mit einem Altar- bild samt Seitenflügeln auszustatten als auch rund 50 Fresken im Kreuzgang des angren- zenden Klosters und in den Zellen des Dormitoriums fertigzustellen.58 Die Fresken offen- baren eine große Nähe zu den drei christlichen Dogmen Inkarnation, Passion und Aufer- stehung, die das christliche Heilsgeschehen aufspannen. Es ist die große Leistung Fra Angelicos, dieses Heilsgeschehen in ein komplexes und assoziatives Netz visueller Erfah- rungen und theologischer Auslegungsmodi überführt zu haben. In der Verkündigung ist der Dramaturg Frau Angelico nicht zu übersehen. Er ist der malende Mittler eines Mysteriums – der Fleischwerdung des göttlichen Logos. Frau An- gelico bettet das Geschehen in einen feinen Zusammenhang von Figuren, Raum und Far- ben ein und entspinnt derart ein narratives Geflecht. Trotz der in alle Richtungen wu- chernden Sinnfülle bleibt der Fokus auf der Mitteilung des Engels an Maria. Die ordnen- de Hand des Malers führt Regie.

Zusammenfassung: Charakteristika der jeweiligen bildlichen Darstellung

An dieser Stelle sei noch einmal zusammengetragen, auf welche Weise die Ikone aus dem Katharinenkloster und das Fresko Fra Angelicos ihre bildliche Wirkung entfalten, und inwiefern sie sich eben darin unterscheiden. Die Ikone zeigt Maria und den Engel in ›weichender Bezogenheit‹. Die Spannung zwischen Nähe und Ferne wird aufrechterhalten. Jede Figur ist nicht nur Teil eines sinn- haften Gesamtzusammenhangs, den das Verkündigungsgeschehen vorgibt, sie steht auch für sich alleine und verfügt über die Möglichkeit sich zu isolieren, was die Rotationsnim- ben noch unterstreichen. Erstaunlich ist die kostbare und farbig-detaillierte Ausarbeitung der Figuren und Gegenstände, die leuchtend und glänzend in die Augen fallen. Die Auf- merksamkeit des Betrachters schwankt zwischen einer fokussierenden Betrachtung der einzelnen Gestalten und der Hingabe an die Gegenwart des fernen Ereignisses. In Fra Angelicos Fresko hingegen bleibt das Konträre der Figuren nicht bestehen. Alle Spannung wird in einer vielschichtigen Bezogenheit der Bildelemente ausgeglichen. Maria und der Engel weichen nicht voreinander, vielmehr machen der Ausdruck ihrer Gesichter, Körperhaltung und Gesten deutlich, dass sie einander zugetan sind. Die sich dem Wort des Engels demütig ergebende Maria wird zur ordnenden Kraft, die nicht nur ›reagiert‹ sondern auch über die Blickrichtungen im Bild ›regiert‹. Kein Bildelement lässt sich aus dem vielschichtigen Bild- und Sinnzusammenhang isolieren, denn Farben, Figu-

57 Georges Didi-Huberman führt des Begriff der »Unähnlichkeit« im Rahmen des alttestamentlichen Bilder- verbots ein: »So hütet euch nun wohl, denn ihr habt keine Gestalt [keine Ähnlichkeit] gesehen an dem Tage, da der Herr mit euch redete aus dem Feuer auf dem Berge Horeb - , daß ihr euch nicht versündigt und euch irgendein Bildnis macht, das gleich sei einem Mann oder Weib, einem Tier auf dem Land oder Vogel unter dem Himmel, dem Gewürm auf der Erde oder einem Fisch im Wasser unter der Erde.« heißt es im Deutero- nomium [5. Mose], 4,15- 4,18. Unähnlichkeit bedeutet hier nicht, dass Gott keine Erscheinung hat, denn er zeigt sich den Menschen durchaus, beispielsweise im Phänomen einer Wolke. Es ist aber eben gerade nicht das ähnliche Bild, indem er sich gegenwärtig macht. Vgl.: Didi-Huberman, 1995, 200. 58 Vgl.: John T. Spike, Fra Angelico. Leben und Werk, München 1997, 62ff.

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ren und auch der Bildraum selbst sind vollkommen aufeinander abgestimmt und zu einer unauflöslich Einheit verzahnt. Während die Ikone das Mysterium der Inkarnation als sinnliches, die Wahrnehmung affizierendes Phänomen feierlich darbietet, verwandelt Fra Angelico das Geschehen in ein komplexes visuelles Gefüge, das auf metaphorische Weise mit einem intellektuellen, theologischen Sinnsystem korrespondiert. Der unmittelbar wirkenden Gegenwärtigkeit der Ikone steht der sich durch alle Bildebenen hindurch vermittelnde Erzählmodus des Freskos gegenüber.

Die Verwandtschaft der CONVERSATION mit der Verkündigungsdarstellung im Allge- meinen und der Ikone vom Sinai im Besonderen

Zuvorderst sticht die analoge Anordnung der Figuren ins Auge: Links der aufrecht ste- hende Mann, rechts die im Lehnstuhl sitzende Frau, beide in Profildarstellung gegeben. Die heilige Begegnung von Gabriel und Maria findet bei Matisse eine Entsprechung im säkularen Gegenüber von Mann und Frau.59 Wenn Fra Angelico eine korinthische Säule als unversehrte Schwelle zwischen den Engel und Maria setzt, so platziert Matisse statt- dessen zentral einen wuchtigen Fensterausschnitt, der den Blick über eine Balustrade in einen seltsam künstlichen Garten freigibt. Doch während Fra Angelicos Säule alle Span- nung in sich verkörpernd aufnimmt, sie gewissermaßen personifiziert und damit gleich- sam löst, hält Matisse‘ Fensterausschnitt die Spannung zwischen Mann und Frau buch- stäblich ›offen‹. Wenn wir nun unser Interesse darauf richten, wie die Konfrontation zwischen den Figuren in den drei Bildern beschaffen ist, welche Wirkung ihr Gegenüber im Wesentli- chen bestimmt, werden wir der ästhetischen Verwandtschaft gewahr, die zwischen der CONVERSATION und der Sinaiikone besteht. Auf der Ikone bewirken allein die Posen und die Positionierung der Figuren samt der sie umkreisenden Nimben, dass sie sowohl singu- lär als auch aufeinander bezogen in Erscheinung treten. Die Spannung zwischen Weichen und Nahen bleibt bestehen. Es bedarf keines hindernden Gegenstandes zwischen dem Engel und Maria, um ihre Distanz zu wahren. In Matisse‘ CONVERSATION ist der Fensterausschnitt mit der vorgeschalteten Balu- strade kein schlichtes Stör- oder Schwellenmoment. Vielmehr unterstreicht er den para- doxalen Effekt eines ›weichenden Aufeinanderbezogenseins‹. Die Balustrade erfüllt eine doppelte Funktion: Sie trennt, indem sie den Abstand zwischen Mann und Frau bemisst und stiftet im gleichen Moment durch die gusseisernen Ranken ihre Zusammengehörig- keit. Auch die tragende Funktion, welche dem monochromen Grund in seiner räumlichen

59 Auch Kostenewitsch kommt auf die Verwandtschaft zu sprechen, die zwischen der figuralen Anlage der CONVERSATION und den ikonographischen Darstellungen der Verkündigung in der Renaissance besteht. Als Beispiele, die Matisse aller Wahrscheinlichkeit nach gesehen hat, führt er Simone Martinis Verkündigung in den Uffizien in Florenz und Giottos Fresken in der Arenakapelle zu Padua an, hier insbesondere die Verkün- digung an Anna. Kostenewitsch betrachtet dies aber nur als einen unter vielen Einflüssen, die Matisse in der CONVERSATION verarbeitete und verfolgt den Gedanken nicht weiter. Auf das Thema des Gesprächs geht er angesichts der Verkündigungsdarstellungen nicht ein. Vgl.: Kostenevich 1993, 119.

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Wirkung zuteilwird, verbindet Matisse‘ CONVERSATION mit der Sinaiikone. Sowohl das leuchtende Blau als auch das glänzende Gold bewirken die Erfahrung einer auf den Be- trachter zudrängenden Ferne: Einerseits erscheint der Raum unglaublich nahe, weil der monochrome Anstrich die Oberfläche des Bildes gegenwärtig macht, andererseits entfal- tet er im selben Moment einen Sog in eine atmosphärische Tiefe, der den Betrachter fort- katapultiert aus der ihn umgebenden Alltagswirklichkeit hinein in einen transzendenten Erfahrungsraum. Unablässig schwankt der Betrachter zwischen den beiden extremen Erfahrungen hin und her.

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B. Das ikonische Bilddenken in Abgrenzung zum abendländischen Bildverständnis. Eikon versus imago: Die philosophie- und theologiegeschichtlichen Grundlagen

Was ist das ikonische Bilddenken?

Mit dem ›ikonischen Bilddenken‹ meinen wir dasjenige Denken, welches mit den bildli- chen Hervorbringungen unmittelbar verflochten ist. Eine derartige Wechselbeziehung offenzulegen, verlangt einige Sorgfalt. Wenn in der gegenwärtigen kunsthistorischen wie theologischen Forschung im Zusammenhang mit den Ikonen von einem theoretischen Bildbegriff die Rede ist, so basiert dieser vornehmlich auf den theologischen Argumenta- tionen, die im Rahmen des byzantinischen Bilderstreits überbracht sind. Diese thematisie- ren die Frage nach der Legitimität christlicher Bilder im Spannungsfeld zwischen mosai- schem Bilderverbot und neutestamentlicher Trinitäts- bzw. Inkarnationslehre. Zweifellos liefert die theologische Debatte wichtige Anhaltspunkte für die Bildsprache der Ikonen, wie wir im weiteren Verlauf sehen werden. Doch ermöglicht sie allein noch keinen trifti- gen Zugang zu dem eigentümlichen Charakter jener Bilder, die parallel in der Wirklich- keit entstanden. Die Forschung neigt mitunter dazu, den besonderen ästhetischen Charak- ter der Ikonen zu verkennen, wenn sie deren einfache und hermetische Formensprache als letztes Zugeständnis einer bildlichen Darstellung infolge der vehementen Anfeindungen durch die Ikonoklasten auffasst.60

Byzanz und die griechische Antike

Das Bilddenken, aus dem die Ikonen hervorgehen, ist ein vielschichtiges und lebendiges, das von einem Minimalkonsens dieser Art weit entfernt ist. Um ihm näher zu kommen, erscheint es hilfreich, ein Augenmerk auf den Ursprung der byzantinischen Kultur zu richten, d. h. ihre griechischen Wurzeln zu vergegenwärtigen. In der folgenden Darstel- lung beziehen wir uns im Wesentlichen auf die Ausführungen Robert Brownings, der feinsinnig herausgearbeitet hat, welch enge Bindung über die Jahrhunderte hinweg zwi- schen dem alten Griechenland und Byzanz bestand.61

60 Es ist problematisch, den philosophischen Bildbegriff isoliert vom real existierenden Bild zu betrachten, weil so wesentliche Berührungsmomente zwischen Bilddenken und Bildermachen ausgeschlossen werden. Derart verfährt Hans Belting, wenn er »Eikon als Bildbezug in der Sprache der Philosophie« strikt von der »Ikone als Bildbeschreibung für Tafelbilder« unterscheidet. Jedoch gibt Belting selbst zu bedenken, dass »in der griechischen Wortgeschichte immer auch die Anschauung sinnlicher Bilder [nahelag], weshalb man zu diesen gehörig Distanz halten musste.« Siehe: Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005, 80. 61 Vgl. hierzu: Robert Browning, Byzantium and ancient Greece, in: From Byzantium to El Greco, Greek Frescoes and Icons, hg. von Myrtali Acheimastou-Potamianou, Ausst. Kat. der Royal Academy of Arts Lon- don, des Griechischen Kultusministeriums und des Byzantinischen Museums Athen, Athen 1987, 31-34 und Robert Browning, The Continuity of Hellenism in the Byzantine World: Appearance or Reality?, in: Robert Browning, History, Language and Literacy in the Byzantine World, Northampton 1989, 111-128 (fortan:

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Byzantion wurde von den Griechen um 660 vor Christus am südwestlichen Ausgang des Bosporus als Koloniestadt gegründet. Ihre günstige Lage wusste auch Kaiser Kon- stantin zu schätzen, der sie etwa 1000 Jahre später zur neuen Hauptstadt des Römischen Reiches machte und ihr den Namen Konstantinopel gab. Das byzantinische Reich währte 1123 Jahre und endete mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453. Trotz aller kriegerischen Wirren und politischer Krisen, welche die Byzantiner durchlebten, gab es ein stabiles Gegengewicht, und das war die alte griechische Kultur. Vor allem die griechische Sprache garantierte Kontinuität. Sie veränderte sich im Verlauf des Mittelalters nur langsam. So gab es keine sprachliche Barriere, die den Byzantiner von der Welt des antiken Griechentums abschnitt. Die homerischen Epen, die Tragödien von Aischylos und Sophokles und die platonischen Dialoge waren dem gebildeten By- zantiner ebenso zugänglich wie die christlichen Schriften des heiligen Paulus und der Kirchenväter aus dem vierten und fünften Jahrhundert – wie beispielsweise Athanasius, Basileios von Caesarea, Gregor von Nazianz. In diesem Klima wuchs die christliche Kirche des Ostens heran. Hier ereignete sich die eigenartige Synthese von hellenistischer und judäisch-christlicher Kultur. Einige Ele- mente der klassischen griechischen Tradition ließen sich nahtlos in die christlich- byzantinische überführen. So schulte die christliche Dogmatik ihre Argumentation an der der platonischen und aristotelischen Philosophie, die sie modifizierte und damit für ihre Zwecke tauglich machte. Doch hielten sich einige volkstümliche Gebräuche und magi- sche Rituale, die nicht mit der christlichen Lehre vereinbar waren. Spuren der heidnisch- antiken Herkunft blieben in der byzantinischen Gesellschaft immer sichtbar. Noch viele Jahrhunderte, nachdem das Christentum zur offiziellen Staatsreligion geworden war, gab es philosophische Gruppierungen, die das Christentum nicht absorbieren konnte. Browning hebt hervor, dass die Byzantiner über einen großen Reichtum an klassi- scher und hellenistischer Kunst verfügten. Antike Skulptur, Architektur und Bauplastik waren noch umfänglich erhalten. Jedermann hatte im täglichen Leben Umgang damit. Die plastische Gestaltungskraft der Alten war lebendig geblieben und entfaltete ihre Wirkung auf die sich allmählich ausprägenden bildnerischen Konventionen des neuen Reiches. Als die Römer durch die Einführung ihres zentralen Verwaltungsapparates, ihrer Rechtsordnung und ihres militärischen Systems die organisatorische Struktur des Reiches maßgeblich lateinisch auszuformen begannen, blieb die Sprache des Stadtlebens, der Wissenschaft und der Bildung weiterhin griechisch. Es kam zu einer Koexistenz paralle- ler Bereiche.62 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Byzantiner die klassische Tra- dition keineswegs unverändert beließen, sondern einen kreativen Gebrauch von ihrem Erbe machten, um die Bedürfnisse einer neu entstandenen Gesellschaft zu befriedigen. Jedoch ist die ur-griechische Art und Weise, Dinge zu denken und anzuschauen, dabei nie verloren gegangen.

Browning 1989). 62 Vgl.: Browning 1989,114.

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Das sinnlich-sinnhafte Wesen der griechischen Sprache und das in ihr wohnende Weltverständnis

Wie ist nun aber jene ursprüngliche griechische Denk- und Betrachtungsweise zu fassen, wenn wir davon ausgehen, dass sie für die Eigenart der ikonischen Bilder eine maßgebli- che Rolle spielt? Dafür müssen wir uns auf die elementarste Ebene der griechischen Kul- tur begeben, die der griechischen Sprache. Wolfgang Schadewaldt hat in seinen Tübinger Vorlesungen zu den Anfängen der Philosophie bei den Griechen herausgestellt, dass zwischen Sprache und Denken ein existenzieller Zusammenhang besteht: Die Sprache ist dasjenige Medium, welches das Denken trägt.63 Schadewaldt macht zunächst die Eigentümlichkeit der griechischen Spra- che in ihrer Herkunft, ihrer Struktur und ihrer Grammatik sichtbar, um hernach in einigen ›Grundbegriffen‹ dasjenige Weltverständnis anklingen zu lassen, das sich in der griechi- schen Sprache und der Bedeutungskraft ihrer Worte zu erkennen gibt. Schadewaldt kann zeigen, dass Wort- oder Begriffsbildungen immer mit einem Denkvorgang einhergehen. »Keiner kann aus seiner Sprache herausdenken.«64 Während Schadewaldt aber von die- sem Punkt aus zu den ›Vorsokratischen Philosophen‹ weiterschreitet und mit dem erwor- benen sprachlichen Rüstzeug deren »vorphilosophisches« Denken erläutert, möchten wir den Fokus auf den plastischen Sinn der griechischen Sprache legen und einen Brücken- schlag zu dem Bildverständnis versuchen, das in ihr wurzelt und bis in die byzantinische Zeit reicht. Es soll gezeigt werden, dass dem ikonischen Bilddenken ein maßgeblich grie- chisches zu Grunde liegt. Dies tun wir im Bewusstsein der bedeutungsmäßigen Verschie- bungen und Veränderungen, die sich in der griechischen Sprache und Welt über die Jahr- hunderte hinweg zugetragen haben. So kehren wir zunächst zurück zu Schadewaldts einfühlsamer Darstellung des We- sens der griechischen Sprache. Ganz grundsätzlich verweist er auf den faszinierenden Bezug, in welchem der Mensch mit dem »Kraftfeld«65 der Sprache steht, weil wir dabei

» […] sowohl ganz wir selbst sind, individuell, und doch zugleich allgemein. Auch das Individuellste, das in uns aufkommt und von dem wir das Gefühl haben, daß es allein unser ist, steht, indem wir es aussprechen, schon in Zusammenhängen genereller Art. Es gibt kein besseres Beispiel dafür, wie Individuelles und Generelles in ständiger Wechselwirkung miteinander stehen, als die Weise, wie der Einzelne im Sprechen im- mer er selbst als Individuum ist und doch zugleich ein Generelles in Bewegung setzt.«66

Schadewaldt betrachtet das Griechische als ein lebendiges Sinn- und Klanggefüge, das sich durch eine eigene »Physiognomie«67 auszeichnet. Charakteristisch für die griechische Art des Sprechens und des Denkens ist, dass es eigentümlich zwischen Abstraktion und

63 Vgl.: Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Tübinger Vorlesungen Band 1, Frankfurt am Main 1978,122-209 und 471-481 (fortan: Schadewaldt 1978). 64 Siehe: Schadewaldt 1978, 126. 65 Siehe: Schadewaldt 1978, 124. 66 Siehe: Schadewaldt 1978, 126. 67 Siehe: Schadewaldt 1978, 128.

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Konkretion steht und aus dieser Position heraus ein besonderes Vermögen entfaltet. Die Elemente der Sprache »sind flexible Elemente, die die Fähigkeit haben, mit anderen in unmittelbar sinnliche Beziehung zu treten.«68 Der indogermanische Satz ist ein variables Bezugssystem, das zulässt, dass sich manche Gruppierungen enger zusammenschließen als andere. So erscheint beispielsweise das Attribut dem Substantiv zugehörig, während das Adverb dem Verb beigeordnet ist. Die Flexion ermöglicht zudem vielfältige Bezüge und »bewirkt, daß gewisse Teile des Satzes gleichsam einander ansehen können.«69 Scha- dewaldt folgert, dass sich das Griechische aufgrund seiner »glücklichen« Mittelstellung als besonders taugliches »Mittel der Weltbewältigung« erwiesen hat und damit gleicher- maßen zur Grundlage von Philosophie und Technik geworden ist.

Im Folgenden wollen wir einige Begriffe vorstellen, die deutlich machen, wie wesentlich im Griechischen das Sinnhafte mit dem Sinnlichen verbunden ist.

Eidénai: Wissen

Hilfreich erscheint zunächst einmal, den Begriff des Wissens zu beleuchten: Der Infinitiv ist eidénai. Oida heißt: ich weiß. Der Perfektstamm in oida, der vom Stamm vid gebildet wird und die Bedeutung von ›sehen‹ hat, meint denjenigen Zustand, der aus diesem Wis- sen hervorgegangen ist. Wissen hat folglich im wörtlichen Sinn mit einem ›Gesehen- Haben‹ zu tun, das im Wort noch wirksam ist. Wissentlich kann man nur dasjenige besit- zen, was man auch gesehen hat. Schadewaldt formuliert treffend:

»Wissen gehört also in den Bereich der Sicht und ist als resultierender Zustand ein Ver- fügen über Sichten. Das Leben bietet Sichten, und wenn ein Mensch wirklich vieles ge- sichtet hat, nicht bloß mit dem Auge darüber hinweggegangen ist, und diese Sichten in sich anreichert, hortet, dann ›weiß‹ er.«70

Der Vorgang des Sehens ist deshalb faszinierend, weil ihm gleichermaßen ein aktives und ein passives Moment innewohnen. Indem ich sehe, bin ich tätig und ebenso erleide ich auf eine Weise auch das, was ich sehe – werde von ihm affiziert. Schadewaldt betont, wie grundlegend dieses sonderbare Beieinandersein von Subjekt und Objekt ist, das weit ent- fernt ist von einem entzweienden Dualismus, wie wir ihn aus unserem Sprachempfinden kennen. Die Welt von einer subjektiven Perspektive zu erfahren, ist dem Griechen völlig fremd. Im Vollzug des Sehens ist der Bezug zwischen dem Ich und der Welt bereits »überbrückt«.71

68 Siehe: Schadewaldt 1978, 133. 69 Siehe: Schadewaldt 1978, 133. 70 Siehe: Schadewaldt 1978, 163. 71 Siehe.: Schadewaldt 1978, 163.

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Noeîn: ein geistiges Schauen/Vernehmen

Ähnlich verhält es sich mit dem hiermit verwandten Wort, das gewöhnlich mit ›denken‹ übersetzt wird. Noeîn kommt von nóos/nus. Ferner gibt es nóesis, und nóema. Der Infini- tiv noeîn bezeichnet die Tätigkeit; die Endung -ma meint den einzelnen Gedanken; die Bildung aus -sis hat Vollzugscharakter und der nus ist das Ausführende.72 Nach Schade- waldts Auffassung handelt es sich bei diesem Wortfeld des geistigen Tuns um eine weite- re Art des sinnlichen Vernehmens, in diesem Fall unter Zuhilfenahme der Nase. Er leitet es von dem Stamm snovos, snow her, was so viel bedeutet wie ›schnaufen, schnauben‹ und folgert hieraus, dass das noeîn in dem Vermögen wurzelt, Dinge zu ›erwittern‹ oder zu ›erspüren‹. Der griechische nus ist demnach ein »ziemlich umfassende[s], instinkti- ve[s], nicht intellektuelle[s] Merkvermögen«73. Im Gegensatz zum Leib, der mit dem Auge sieht, blickt die Seele mit dem nus. Der nus ist ein merkwürdiges Vermögen des ›Schauens‹, das wiederum vom ›Sehen‹ geschieden werden muss. Denn während das Sehen immer etwas Einzelnes in den Fokus nimmt, orientiert sich das Schauen stets auf ein Totales hin. Schadewaldt betont, dass wie beim Begriff des ›Wissens‹ auch beim noeîn das Subjektive und das Objektive zueinandergehören. »So vor allem im nóema, was den einzelnen Gedanken bezeichnet, als das Resultierende aus dem noeîn, und dies so Bemerkte ist dann der Gedanke. Der Gedanke war ein Bemerktes für die Griechen nie nur Illusion, nichts Ausgedachtes oder von der Welt Getrenntes.«74 Das deutsche Wort ›Geist‹ wird dem nus deswegen nicht gerecht, weil es nicht dessen Zugewandtheit zur Welt in sich trägt.

Alétheia: Unentzogenheit, Unverborgenheit oder Wahrheit

Wir gelangen nun zu einem Begriff, der sich auch für die Bildkunst als wichtige Bezugs- größe erweisen wird. Alétheia ist das griechische Wort für Wahrheit. Doch wird die Übersetzung als ›Wahrhaftigkeit‹ oder ›Wahrheit‹ der eigentümlichen Struktur des Be- griffes nicht gerecht, weil unser Verständnis von dem scholastischen Wahrheitsbegriff der adaequatio intellectus ad rem ausgeht, wonach eine vernunftmäßige Aussage eben dann als wahr gilt, wenn sie sich dem Sachverhalt weitestmöglich ›angleicht‹. Die alétheia hingegen ist in keiner Weise auf eine derartige ›Angleichung des Intellekts an die Sache‹ bedacht und ebenso wenig auf den Beweis rationaler Aussagen ausgerichtet. Vielmehr – und darin sind sich Schadewaldt und Martin Heidegger einig – meint alétheia eine be- stimmte Weise, »wie das Seiende selbst sich uns zeigt.«75 Philologisch betrachtet, lässt sich das Wort in drei Teile gliedern: a-leth-eia. Das a ist ein Privativum und kann hier mit ›un‹ übersetzt werden, leth stammt von dem Neut- rum lathos und bedeutet so viel wie ›Entzug‹. Eia ist eine abstrahierende Endung und entspricht sinngemäß dem deutschen ›-heit‹.76 Daraus bildet sich das deutsche Wort ›Un- entzogenheit‹, welches Schadewaldt Heideggers Begriff der »Unverborgenheit« vor-

72 Vgl.: Schadewaldt 1978, 163. 73 Siehe: Schadewaldt 1978, 164. 74 Siehe Schadewaldt 1978,165. 75 Siehe Schadewaldt 1978, 195. 76 Vgl.: Schadewaldt 1978, 194ff.

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zieht.77 Er begründet dies damit, dass dem Begriff ›Verborgenheit‹ etwas Geheimnisvol- les anhaften würde, das dem Begriff alétheia nicht entspräche. Zur Verdeutlichung, wel- che Art der Entzogenheit in der alétheia mitschwingt, zieht Schadewaldt mit kryptein ein griechisches Wort heran, das im wörtlichen Sinne ›verbergen‹ oder ›zudecken‹ bedeutet. Das kryptein wird immer dann gebraucht, wenn mir durch einen verdeckenden Gegen- stand die Sicht entzogen wird. Lanthanein hingegen, welches dem lathos verwandt ist, meint ein funktionales Verhalten des Sich-Entziehens. Als Beispiel führt Schadewaldt den Satz an: lathe biósas, ›Sei verborgen als einer, der lebt (in deinem Leben)‹, was nichts anderes als die Aufforderung zu einem zurückgezogenen Leben fernab der Öffent- lichkeit ist. Die Lethe ist folglich diejenige daimonische Macht, die in jedem erdenklichen Lebensbereich etwas zu entziehen vermag, wie beispielsweise eine Wolke, oder ein auf- kommender Nebel, die mit einem Mal der Sicht entziehen, was eben noch da war.78 Die alétheia ereignet sich in einer Welt, in der Subjekt und Objekt ohne eine scharfe Trennungslinie gemeinsam existieren. Die alétheia ist ein Modus des Seins, der offen zur Erscheinung bringt, doch ohne den defizitären Modus der ›Entzogenheit‹ nicht zu denken ist.79 Die alétheia trägt in sich die Spannung zwischen Offensichtlichkeit und Entzogen- heit, zwischen der klaren Sicht und der ihr abgeneigten Seite.

Martin Heidegger: Platons Lehre von der Wahrheit

Die Dynamik, welche der alétheia in dem Heraustreten aus der Entzogenheit innewohnt, hat der Begriff jedoch in einem besonderen Augenblick eingebüßt. Heidegger hat das klar gesehen und auf den einschneidenden Wendepunkt hingewiesen, den Platons Höhlen- gleichnis80 markiert. In seiner Schrift Platons Lehre von der Wahrheit81 führt er plastisch vor Augen, wie die alétheia ihrer fundamentalen Seinsbezogenheit verlustig geht: Das Bild, das Platon verwendet, ist das des Aufstiegs aus dem Dunkel einer Höhle, in der mit Hilfe eines Feuers diffuse Schattenbilder an die Wand geworfen werden, hinaus ins Freie, wo die Dinge deutlich zu sehen sind, hin zum höchsten und hellsten Licht der platoni- schen ›Idee‹. Im Bild der dunklen Höhle, das ihr Pendant eines lichten Draußen impli- ziert, ist die Spannweite der alétheia zwischen Verborgenem und Offensichtlichem noch vorhanden; doch weicht dieses Oszillieren im Lauf des Dialogs dem starren Hinblicken auf das gleißend helle Licht der Sonne, die als absolute Idee jede Verhältnismäßigkeit überwunden hat. Sie ist ›an sich‹ und die Ursache von allem.82 Diesem Allerhellsten und - klarstem entspricht das wahrhafte Aussehen der Dinge, das eidos bzw. die idea. Fortan ist

77 Vgl.: Schadewaldt 1978, 195f. 78 Vgl.: Schadewaldt 1978, 196f. 79 Vgl.: Schadewaldt 1978, 197f. 80 Siehe: Platon, Der Staat (Politeia), VII, 514a-517a. 81 Siehe: Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit (1931/32,1940), in: Martin Heidegger, Wegmar- ken, Gesamtausgabe, I. Abteilung, Band 9, Frankfurt am Main 1976, 203-238 (fortan: Heidegger, Platon). 82 Heidegger macht darauf aufmerksam, dass in der Passage des Höhlengleichnisses, welche den Rückstieg des Befreiten in die Höhle und den hierauf entbrennenden Kampf mit den sich der Befreiung verweigernden Gefangenen beschreibt, das Wort aletes, das ›Unverborgene‹, von Platon nicht mehr verwendet wird. Vgl.: Heidegger, Platon, 223.

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es die »Richtigkeit«83 des Sehens, nach der die Dinge beurteilt werden. Platon ebnet ei- nem neuen Verständnis von alétheia den Weg, indem er ein hierarchisches Wertesystem schafft, welches jedes Ding gemäß seinem erkenntnismäßigen Rang einstuft. ›Wahr‹ ist nun nicht mehr das, was aus einer Entzogenheit heraus offen hervortritt, sondern als ›wahr gilt‹, was auf eine absolute Instanz hin als adäquat erkannt wird.

Platon: Die Wahrheit und die Malerei

Bekanntlich kommt Platon im zehnten Buch der Politeia auf die Malerei zu sprechen, der er aufgrund ihres täuschenden Präsentationsvermögens einen unrühmlichen ontologi- schen Platz zuweist. Er setzt sie in Relation zur Wahrheit. Als Nachahmender hat der Künstler einen geringeren Rang als der Handwerker, der sich noch an der Idee eines Ge- genstandes orientiert, wenn er beispielsweise einen Stuhl herstellt. Der Maler hingegen vermag nur ein trügerisches Bild des Stuhls zu geben: Er schafft eine Illusion. Seine Bil- der stehen »im dritten Grad« zur Wahrheit, weil sie über zwei Instanzen vom Seienden entfernt sind.84 Die Malerei ist eine ›mimetische‹85 Kunst und gilt Platon als beschränkt, weil sie die Realität anhand von Linie und Farbe in die zwei Dimensionen der Fläche bannt. Sie, so wirft Platon der Malerei vor, sei eben nicht auf die Wahrhaftigkeit des Sei- enden ausgerichtet, sondern gebe sich mit dem vagen Erscheinungsbild der Dinge zufrie- den.

Martin Heidegger: Kunstwerk und Wahrheit

Die starre Relation, die Platon zwischen dem gemalten Bild und der ›Wahrheit‹ herstellt, übersieht jedoch die Kraft, die dynamis, die in einem Kunstwerk wirksam werden kann. Während Platon vor allem die Distanz betont, in welcher die Werke der Malerei und Dichtung in Hinblick auf die ›echte‹ Realität verharren, entdeckt Heidegger das Wesen eines gelingenden Kunstwerks in seinem Vermögen, eine eigenständige Wirklichkeit hervorzubringen. Heidegger hat in seinem Kunstwerkaufsatz86 die Frage nach dem Wesen des Kunstwerks mit der Frage nach der ›Wahrheit‹ auf eine merklich andere Weise ver- knüpft. Analog zu Schadewaldts »Unentzogenheit« gelangt Heidegger durch wortgetreue Übertragung der alétheia zu seinem Terminus »Unverborgenheit«87. Nach Heideggers

83 Siehe: Heidegger: Platon, 232-234. 84 Siehe: Platon, Der Staat (Politeia), X, 596e- 598d. 85 Hier ist mimesis bzw. ›mimetisch‹ im Sinne von ›Nachahmung‹ bzw. ›nachahmend‹ zu verstehen. Ur- sprünglich stammt der Begriff allerdings aus der Welt des Tanzes und der Musik. Mimesis ist zunächst einmal die tänzerische Darstellung von Rhythmus und musikalischer Begleitung gewesen. Vgl.: Hermann Koller, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern 1954, v.a. 39ff. und 119ff. 86 Siehe: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36), in: Martin Heidegger, Holzwege, Gesamtausgabe, Band 5, Frankfurt am Main 1977, 1-74 (fortan: Heidegger, Kunstwerk). 87 »Das Unverborgene muß einer Verborgenheit entrissen, dieser im gewissen Sinne geraubt werden. Weil für die Griechen anfänglich die Verborgenheit als ein Sichverbergen das Wesen des Seins durchwaltet und somit auch das Seiende in seiner Anwesenheit und Zugänglichkeit (»Wahrheit«) bestimmt, deshalb ist das Wort der Griechen für das, was die Römer »veritas« und wir »Wahrheit« nennen, durch das α Privativum (ά-εα) ausgezeichnet. Wahrheit bedeutet anfänglich das einer Verborgenheit Abgerungene. Siehe: Heidegger, Pla-

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Auffassung geht kein Kunstwerk in der Funktion der Nachahmung auf. Es zielt nicht auf die möglichst korrekte Wiedergabe der Realität.88 Vielmehr sieht Heidegger die ›Wahr- heit‹ im Kunstwerk »am Werk«89. Das Kunstwerk verfügt über eine Ereignisstruktur – oder triftiger: ›ist‹ selbst ein Geschehnis. Sooft der Betrachter das Kunstwerk in den Blick nimmt, sooft vermag es sich vor dessen Augen zu vollziehen. Bei Heidegger koinzidiert die Frage nach der alétheia eines Kunstwerks mit der Frage nach seinem Wesen. Das besondere Sein, das ein Kunstwerk an den Tag bringt, ist (seine) ›Wahrheit‹: »Das Wesen der Kunst, worin das Kunstwerk und der Künstler zumal beruhen, ist das Sich-ins-Werk- setzen der Wahrheit.«90 Die ›Wahrheit‹ des Werkes offenbart demnach eine Weise, wie sich Wahrheit überhaupt ereignet. Das Kunstwerk verweist auf nichts, das außerhalb sei- ner selbst liegt.

Der alte Bildbegriff: eikon

Wir haben gesehen, dass die vorgestellten Begriffe von einer eigentümlichen Spannung geprägt sind. Sie geben einen Hinweis darauf, wie die Griechen die Welt dachten und betrachteten. So gelangen wir nun zu dem entscheidenden Begriff, dem unser elementarer Rekurs auf die Sprache gilt: Dem alten Begriff für Bild, eikon. Das Wort leitet sich vom Stammwort eikein her, das ›zurückweichen‹ oder ›nachgeben‹91 bedeutet. Dem ikonischen Bild ist eine Distanz wesentlich, aus der heraus es sich zeigt. Der Begriff denkt denjeni- gen mit, dem es sich zeigt, den Betrachter. Die Distanz ist fundamental für die Wirksam- keit des Bildes, da ohne Ferne kein Bezug und damit auch keine Nähe entstehen kann. Wir haben es wieder mit jenem merkwürdigen ›Beieinandersein‹, mit einer Verknüpfung von subjektiver und objektiver Ebene zu tun. Aktive und passive Anteile wechseln zwi- schen dem Bild und seinem Betrachter ständig hin- und her: Das Bild zeigt sich, es wird gesehen, der Betrachter sieht, ihm wird etwas zur Erscheinung gebracht. Wir müssen uns unweigerlich an die Verkündigungsikone aus dem Katharinenkloster erinnern, die wir uns so eingehend angesehen haben: Die zurückweichende Maria, der herannahende Engel, unsere eigene Ferne zur Ikone, die mit einem Mal in absolute Nähe umschlägt.

ton, 223. 88 »Wenn wir hier und sonst die Wahrheit als Unverborgenheit fassen, flüchten wir uns nicht nur zu einer wörtlicheren Übersetzung eines griechischen Wortes. Wir besinnen uns auf das, was dem uns geläufigen und darum vernutzten Wesen der Wahrheit im Sinne von Richtigkeit als Unerfahrenes und Ungedachtes zugrunde liegt. Man bequemt sich bisweilen zu dem Eingeständnis, daß wir natürlich, um die Richtigkeit (Wahrheit) einer Aussage zu belegen und zu begreifen, auf etwas zurückgehen müßten, was schon offenbar ist. Diese Voraussetzung sei in der Tat nicht zu umgehen. Solange wir so reden und meinen, verstehen wir die Wahrheit immer nur als Richtigkeit, die zwar noch einer Voraussetzung bedarf, die wir selbst – der Himmel mag wis- sen, wie und weshalb – nun einmal machen.« Siehe: Heidegger, Kunstwerk, 38. 89 Siehe: Heidegger, Kunstwerk, 45. 90 Siehe: Heidegger, Kunstwerk, 59. 91 Siehe: Menge-Güthling, Langenscheidts Großwörterbuch der griechischen und deutschen Sprache, Erster Teil, Griechisch-Deutsch, Berlin/München/Zürich 1967, 206.

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Martin Heideggers Überlegung zum Bildbegriff eikon

Martin Heidegger hat diese vor-platonische Bedeutung des Bildbegriffes gesehen und im Rahmen seines Aufsatzes Sprache und Heimat ebenso prägnant eingefangen.92 Das »dich- terische Sagen«, welches etwas »Wesenhaftes« zur Erscheinung bringe, habe »den Grundzug des Bildens«.93 Aufschlussreich ist insbesondere, dass Heidegger eine etymo- logische Entsprechung zwischen dem deutschen Wort ›Bild‹ und dem griechischen eikon aufdeckt:

»›Bilden‹ geht zurück auf das althochdeutsche Zeitwort ›pilon‹; dies meint das Stoßen, Treiben, Hervortreiben. Bilden ist Her-vor-bringen, nämlich vor ins Unverborgene, Of- fenbare und her aus dem Verborgenen und Sichverbergenden. Das so verstandene Her- vorgebrachte, Gebildete ist das Gebild. Insofern dieses zum Vorschein und damit ins Scheinen kommt, bietet es einen Anblick und ist als Gebild zugleich das ursprüngliche Bild. Insofern dieses zum Vorschein und damit ins Scheinen kommt, bietet es einen Anblick und ist als Gebild zugleich das ursprüngliche Bild. Dagegen bleibt das Ab- und Nachbild stets nur Bild in einer abgeleiteten Bedeutung. Diese steckt auch bereits im lateinischen Namen imago, daraus das Stammwort imitari – nachahmen, nachbilden spricht. Dagegen hat der aus dem Griechischen stammende Name Ikon einen tieferen Sinn, herkommend vom Zeitwort εώ, d. h. zurückweichen vor, zurücktreten vor et- was und so dieses Wovor auf sich zukommen – und damit erscheinen – lassen. Bild gehört ursprünglich ins Gebild als Hervorbringung, nicht umgekehrt.«94

Wenn wir Heideggers Ausführung folgen, die auch unsere eigenen Überlegungen bekräf- tigt, dann hat das alte Verständnis vom ›Bild‹ bzw. eikon nichts mit jenen trügerischen Illusionen gemein, die Platon den Maler im zehnten Buch der Politeia verfertigen lässt. In keiner Weise geht es hier um drittrangige Abbilder der Wirklichkeit, die vom wahren Aussehen der Dinge meilenweit entfernt sind. Denn Bilder sind nicht bestrebt, ›ideal‹ oder möglichst wirklichkeitsgetreu zu wirken; das genuin ›Ikonische‹ besteht vielmehr darin, dass sie ›bilden‹, dass sie eine eigene Wirklichkeit (aus einer Entzogenheit) hervor- treten lassen. Als Kontrastbegriff zu eikon führt Heidegger das lateinische Wort imago an, dem die Nachahmungsfunktion (imitari) förmlich eingeschrieben ist. Auf diesen für die abendländische Kunstgeschichte so wesentlichen Bildbegriff werden wir an späterer Stelle ausführlich zu sprechen kommen. Hier sei nur auf die elementare Schwierigkeit hingewiesen, die griechische Sprache in die lateinische zu übertragen. Weil die Denkwei- sen, auf denen die Sprachen gründen, so verschieden sind, lässt sich keine vollständige

92 Den Hinweis auf die folgende Textstelle verdankt die Verfasserin Robert Kudielka, der in seinem Beitrag in der Festschrift anlässlich des 100. Geburtstag von Martin Heidegger auf die Verfasstheit dieses alten Bild- begriffes zu sprechen kommt und in diesem Zusammenhang besagte Textstelle anführt. Siehe: Robert Ku- dielka, Vom Löffelschnitzen, von der Verwirrung der Bilder und einer Theorie vom Berge, in: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, hg. von Walter Biemel und Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1989, 287-310. 93 Siehe: Martin Heidegger, Sprache und Heimat (1960), in: Aus der Erfahrung des Denkens 1910-1976, Gesamtausgabe, I. Abteilung, Band 13, Frankfurt am Main 1983, 171 (fortan: Heidegger 1960). 94 Siehe: Heidegger 1960, 171.

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Kongruenz zwischen den jeweiligen Worten und dem, was sie bedeuten herstellen. Be- sonders offen trat dieses Problem zu Tage, als man sich daran machte, die Heilige Schrift vom Griechischen ins Lateinische zu übersetzen. Es kam zu folgenreichen bedeutungs- mäßigen Verschiebungen.

Beispiele des Ikonischen

Wir wollen nun versuchen, den ikonischen Bildbegriff anhand von tatsächlichen Bildern greifbar zu machen. Eikon bezeichnete keineswegs nur das zweidimensionale Bild, son- dern ebenso das dreidimensionale, plastische Werk. Bevor vom Inbegriff des ikonischen Bildes – der christlichen ›Ikone‹– die Rede sein wird, soll zunächst ein erheblich älteres Bildwerk in den Blick genommen werden. In der folgenden Betrachtung, die exemplari- schen Charakter hat, wollen wir uns auf die ästhetische Erscheinung des Ikonischen kon- zentrieren.

Kleobis und Biton… und Matisse

Während des siebten und sechsten vorchristlichen Jahrhunderts entsteht in Griechenland die sogenannte archaische Skulptur. Diese Zeitspanne entspricht in etwa der vorphiloso- phischen, d. h. vorsokratischen Phase der Philosophie. Als charakteristisch für die frühe griechische Kunst können die Kouroi, die aufrecht dastehenden Jünglingsgestalten sowie ihre weiblichen Pendants, die mädchenhaften Koren, gelten. Viele dieser Figuren tragen ein eigenartiges Lächeln im Gesicht, das weder unmittelbar fröhlich noch ironisch wirkt. Gemeinhin wird es als »archaisches Lächeln« bezeichnet. Auch die Krieger auf dem Westgiebelfries des Aphaiatempels auf der Insel Ägina, die im Kampf ihrer Endlichkeit ins Auge sehen, lächeln in jener merkwürdig wissenden Weise. [Abb. 6]. Während die Jünglinge meistens nackt dargestellt sind, tragen die Mädchen ein einfaches langes Ge- wand, das gegürtet wird – den Chiton oder den Peplos. Ein besonderes Jünglingspaar soll hier stellvertretend untersucht werden. Die Wahl fällt nicht ohne Hintergedanken auf die Kouroi KLEOBIS UND BITON [Abb. 7]. Es handelt sich um die knapp zwei Meter großen Marmorstatuen zweier Brüder aus dem beginnen- den sechsten Jahrhundert, die Ende des 19. Jahrhunderts nahe dem Apollonheiligtum in Delphi ausgegraben wurden. Die Überreste der Inschriften auf den kubischen Plinthen legen nahe, die beiden Jünglinge als besagtes Brüderpaar zu identifizieren. Allerdings ist nicht zu klären, welcher der beiden Kleobis und welcher Biton ist. Darüber hinaus benen- nen die Inschriften auf den Plinthen den Bildhauer Polymides aus Argos.95 Von den heroischen Taten des Brüderpaares berichtet Herodot in seinen Historien: Kleobis und Biton waren groß gewachsene, kräftige Argivier, die aus den Kampfspielen schon viele Male als Sieger hervorgegangen waren. Als ihre Mutter, eine Priesterin der Hera, nicht rechtzeitig zu einem Fest der Göttin auf den hoch gelegenen Tempel zu kom- men drohte, weil die Zugtiere noch nicht von der Feldarbeit zurückgekehrt waren, spann-

95 Vgl.: Gisela Marie Augusta Richter, Kouroi. Archaic Greek Youths. A Study of The Development of the Kouros Type in Greek Sculpture, London1960, 49 (fortan: Richter 1960).

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ten sich die beiden Jünglinge kurzerhand selbst vor den Wagen und brachten ihre Mutter geschwind zu der 45 Stadien96 weit entfernten Anhöhe des Tempels. Daraufhin erhielten Kleobis und Biton das ›schönste‹ Geschenk, das ein Mensch von einem Gott erhalten kann: Den frühen Tod. Als sich Kleobis und Biton nach den Strapazen im Heiligtum nie- derlegten, schliefen sie ein und wachten nie wieder auf. Kleobis und Biton starben ruhm- reich im Vollbesitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte. Zu Ehren der beiden Jünglin- ge ließen die Argivier Statuen errichten, die in Delphi dem Apollon geweiht wurden.97 Die Unterschiede in der plastischen Ausarbeitung der beiden Brüder sind marginal: Der ein Jahr früher Aufgefundene, ist etwas größer als der andere und besitzt sechs an- stelle von sieben Haarzöpfen am Hinterkopf. Bei der Herstellung der Figuren waren diese Unterschiede aller Wahrscheinlichkeit nicht beabsichtigt, sondern ergaben sich aufgrund der nicht bis ins Detail kontrollierbaren Verfertigungsbedingungen. Viel gewichtiger erscheint der unterschiedliche Erhaltungszustand.98 Während die sechszöpfige Statue recht unbeeinträchtigt geborgen werden konnte – abgesehen von den fehlenden Passagen der mittlerweile restaurierten Füße und Knöchel gibt es lediglich kleinere Abbrüche wie die Nase, eine schmale Partie des Kinns, den rechten Daumen, Details des Geschlechts und einzelne Stirnlocken – haben die Zeiten seinem Bruder erheblich mehr zugesetzt. Ihm fehlt nicht nur der rechte Arm vollständig und der linke Unterarm; seine ganze Oberflä- che ist arg verwittert, so dass Gesichtszüge und Körperstrukturen auf der Oberfläche des Marmors verblasst sind.

Aufschlussreich für den Gang unserer Überlegungen ist, dass Matisse, der eine große Sympathie für die archaische Plastik der Griechen hegte, 1909 einen etwas größer dimen- sionierten Abguss des unversehrteren Jünglings von 2,42 Metern Höhe erwarb.99 Wann immer die Rede von dieser Skulptur war, hieß Matisse sie »Kleobis«.100 Über mehr als vier Jahrzehnte war sie ein wichtiger Gefährte, die ihm half, sich seiner eigenen künstleri- schen Erkenntnisse zu vergewissern: »Sie enthüllte mir keine neuen Schönheiten, aber die vordem entdeckten zeigten sich intensiver und tiefer als in unseren früheren Begegnun- gen.«101 Matisse entdeckt in der archaischen Formsprache eine gelungene Darstellung menschlicher Lebendigkeit, die über die Zeiten hinweg Gültigkeit besitzt:

»Diese überlebensgroße Figur, mit ihren scheinbar starren Formen, mit ihren parallelen Gliedern, in denen man den ägyptischen Einfluß erkennt – wie ist sie so lebendig! Sie ist von einer dichteren und tieferen Lebendigkeit als die ägyptischen Skulpturen, von einer menschlicheren Lebendigkeit auch.«102

96 Stadion bezeichnet ein antikes griechisches Längenmaß mit einer Strecke von 600 Fuß, was je nach regio- nalem Fußmaß etwa einer Länge von 165-196 m entspricht. 97 Vgl.: Herodot, Historien 1, 31. 98 Vgl.: Richter 1960, 49. 99 Vgl.: Shaping the Beginning. Modern Artists and the Ancient Eastern Mediterranean, verfasst von Fried- rich Teja Bach, Ausst. Kat., Museum of Cycladic Art Athen, Athen 2006, 106f. und 120 (fortan: Bach 2006). 100 In seinem Essay von 1950, der in der Zeitschrift Traits unter dem Titel: Henri Matisse vous parle, veröf- fentlicht wurde, spricht Matisse von »Kleobis«. Vgl.: Henri Matisse, Matisse spricht zu Ihnen (1950), in: Flam 1982, 221. 101 Siehe: Flam 1982, 222 . 102 Siehe: Flam 1982, 221f.

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Zunächst stellte Matisse die Statue in seinem Garten auf, so dass er sich frei um sie her- umbewegen konnte.103 Weil die Skulptur unter den winterlichen Regengüssen zu leiden schien, erhielt sie ihren festen Platz in Matisse‘ Atelierwohnung in Nizza.104

Bei der folgenden Analyse werden wir uns auf die besser erhaltene Figur beschränken und der Einfachheit halber Matisse‘ Bezeichnung als »Kleobis« übernehmen. Die 1893 entdeckte, vollplastische Figur befindet sich samt ihrem Pendant im Archäologischen Museum in Delphi. In leichter Schrittstellung steht der etwas überlebensgroße Jüngling völlig aufrecht auf dem flachen Sockel, welcher der Weite und Breite seines zaghaften Schritts entspricht. Der ganze Körper wirkt angespannt und zugleich in sich ruhend. Die Arme hält Kleobis gerade nach unten, aber er lässt sie nicht hängen. Die Hände krümmt er zu einer Faust, wobei die Daumen außerhalb der Wölbung verbleiben. Der Jüngling ist vollständig symmetrisch hinsichtlich der Mittelsenkrechten ausgestaltet. Die Schrittstel- lung bewirkt keinen kontrapostischen Belastungswechsel, das Becken tritt nicht aus der vertikalen Körperachse. Kleobis steht mit beiden Beinen auf dem Boden. Die trainierten Muskelpartien formen von innen heraus einen prallen, kraftstrotzenden Leib. Die Beine wirken bei aller Wuchtigkeit elegant, da die strammen Oberschenkel und Waden durch die konkaven Kurven der Kniegelenke rhythmisiert werden. Im Verhältnis zu der Bein- partie erscheint der kegelförmig aus dem Unterleib hervorwachsende Rumpf unproporti- onal klein. Die Taille ist für einen Mann außergewöhnlich schmal. Brust und Schulter sind hingegen breit ausgeformt. Brustbein, Schlüsselbein und die dort befindliche Musku- latur bilden voluminöse Segmente aus, die eine panzerartige Wirkung hervorrufen. Zu- dem ist der Bereich des Brustkorbs durch eine Sinuslinie markiert, deren Scheitelzone parallel zu den Wölbungslinien der Brust verläuft. Die merkwürdig kurzen Oberarme verstärken den Eindruck einer körperlichen Anspannung des Jünglings. Der Hals ragt breit und stämmig über der Kehle auf, darauf lastet ein schwerer Kopf, dessen Ober- und Rückseite recht flach gegeben sind. Die untergliederten Haarzöpfe unterstreichen die kubische Anmutung durch ihren horizontal-vertikalen Rastereffekt. Während vom Schei- tel sechs üppige Zöpfe über den Hinterkopf hinunterlaufen, kommen auf der Vorderseite jeweils drei Zöpfe hinter den Ohren hervor, die das ohnehin schon flächige Gesicht in

103 Dieses einfache ›Dastehen‹ entspricht der Art und Weise, wie die griechischen Kouroi tatsächlich ›plat- ziert‹ wurden. Meist entstanden die Jünglinge in einem sakralen oder sepulkralen Zusammenhang. Die Sta- tuen wurden unprätentiös auf ihrem flachen Sockel aufgestellt, entweder im oder unweit des Heiligtums desjenigen Gottes, dem sie geweiht waren – dabei handelte es sich zumeist um Apoll – oder unmittelbar in der Natur – auf den Grabhügeln der Nekropolen. Diese sepulkralen freistehenden Kouroi sind anders als die Reliefdarstellungen auf den Gräbern, nicht als Porträts der Verstorbenen aufzufassen. Sie stellen einen Bezug zum Toten her, indem sie der jugendlichen Körperkraft schlechthin Gegenwärtigkeit verleihen, deren tapferer Einsatz nur innerhalb der Grenzen des Menschseins, also in der menschlichen Endlichkeit erfüllenden Nach- ruhm bescheren kann. Dies galt für einen Krieger wie für einen Arzt. Dass das Menschsein wesentlich durch die Sterblichkeit charakterisiert ist, war für die Griechen eine fundamentale Erkenntnis, die ihre Haltung zum Leben maßgeblich prägte. Schon auf der Wand in der Vorhalle des Apollontempels in Delphi stand der wei- sende Spruch: »gnôthi seautón«, welcher bedeutet: »Erkenne dich, o Mensch, in deiner Sterblichkeit!« Ein anderer in der Nähe angebrachter Spruch bestärkt die Ermahnung, sich allenthalben auf die menschliche Begrenztheit zu besinnen: »medèn ágan«, was mit »Nichts zu sehr« zu übersetzen ist. Vgl.: Wolfram Martini, Die archaische Plastik der Griechen, Darmstadt 1990, 69-77 (fortan: Martini 1990) und Historisches Wörter- buch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Band 9, Darmstadt 1995, 406. Siehe auch: Wolfgang Schadewaldt, Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, Frankfurt am Main 1975, 21f. 104 Siehe: Flam 1982, 222.

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parallelen Strängen säumen und über die Schultern hinabreichen. Auf der fliehenden Stirn setzen knapp oberhalb der stark gewölbten Augenbrauenwulste kleine spiralförmige Lo- cken an, in deren Mitte jeweils ein Loch ist. Aus den Augenbrauen entspringt die Nase, deren Abbruchfläche auf eine gehörige Breite verweist. Die mandelförmigen Augen sind groß und weit aufgerissenen. Oberhalb des mächtigen, runden Kinns befindet sich der vollippige Mund. Trotz der geradlinigen, horizontalen Spalte, die Ober- und Unterlippe voneinander trennt, tritt Kleobis dem Betrachter heiter gegenüber. Dies bewirken die kleinen dreieckigen Einkerbungen der Mundwinkel sowie eine leicht angespannte Wan- genregion. Dieses zaghafte Lächeln lässt Kleobis lebendig erscheinen. Wir stoßen auf eine stupende Paradoxie: Auf der einen Seite erscheint uns dieser Kleobis vor allem nüchtern, symmetrisch und in seiner plastischen Kontur hermetisch abgeschlossen. Ein Unbeweglicher, ein Unnahbarer, einer, der uns durch keine Geste einen Hinweis auf seine heroischen Taten gibt. Auf der anderen Seite werden wir einer Kraft gewahr, die sich an dem Körper des Jünglings von innen heraus entfaltet. Die pral- len Rundungen der Muskulatur, die aufrechte Haltung, die Spannung, welche den gesam- ten Körper durchzieht. Jeder Teil seines Leibes scheint ein eigenes Energiepotenzial zu besitzen, das er gegenüber einem anderen zur Geltung zu bringen sucht. Derart erwächst ein Wechselspiel zwischen Tragen und Lasten, zwischen der Kraft, die alles in seiner Schwere zum Boden hinzieht und derjenigen, die sich dagegenstemmt. Eine Art von Be- weglichkeit ist also durchaus vorhanden, und zwar in Form eines widerstrebigen Rapports zwischen den einzelnen Teilen und dem Ganzen des Körpers. Auch der Blick des Be- trachters ist herausgefordert, diese Bezüge immer wieder aufs Neue herzustellen. Es sind keine individuellen Züge, die Kleobis auszeichnen. Und doch scheint es un- angemessen, ihn aufgrund der ›einfachen‹ Struktur seiner Gestalt als bloßen Stereotyp zu betrachten. Er verfügt über etwas Eigenes – er hat Charakter. Die Formen, Segmente, Elemente und Strukturen verdichten sich zu der nüchternen Eleganz eines unsterblichen Jünglings. Er steht streng und feierlich da. Er ruht in sich, ist ebenmäßig, stark, aufrecht, gegenwärtig, schön. Es ist schwer zu entscheiden, ob die Schrittstellung, in der er vor uns Haltung bezieht, die Richtung zu uns hin oder von uns fort meint. Sein Stand hat von beidem etwas: vom Nahen und vom Fortweichen.

Ikone der heiligen Katharina

Wir springen nun etwa 18 Jahrhunderte weiter und gelangen zu einer Ikone aus dem 13. Jahrhundert. Es handelt sich um eine fein gearbeitete byzantinische Ikone, welche die HEILIGE KATHARINA zeigt. Auf der Tafel, die sich wiederum im Katharinenkloster am Fuße des Sinai befindet, ist die Heilige als Ganzfigur [Abb. 8] gegeben, eingerahmt von Szenen aus ihrem Leben.105 Wir wollen uns bei unserer Betrachtung auf die zentrale Figur

105 Die Verbindung von Porträt und Heiligenlegende kommt dem festlichen Gebrauch zu Gute. Nur an Festen wurden die Legenden vorgetragen, die vom tugendvollen Leben und wundersamen Handeln des Heiligen berichten. Die bildliche Abfolge der Szenen entspricht dabei dem liturgischen Lektüreplan der Vita. Die zentrale Figur hingegen, die das Aussehen des Heiligen vergegenwärtigt, gilt der Verehrung. Vgl.: Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst , München 2004 [6. Auflage], 426.

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konzentrieren – vor allen Dingen auf die Weise ihres ›Dastehens‹, um herauszufinden, ob es in der Sprache der Ikone eine Verwandtschaft mit jener alten Skulptur des Kleobis gibt. Die heilige Katharina ist eine fromme Jungfrau aus Alexandrien, die als historische Persönlichkeit nicht zweifelsfrei bezeugt werden kann, die aber nachweisbar seit dem achten Jahrhundert verehrt wird. Der Legende nach war sie eine außerordentlich schöne und gebildete Frau aus königlichem Hause, die eine umfangreiche philosophische Bil- dung genoss. Als der Kaiser von den Christen heidnische Götteropfer befiehlt, stellt Ka- tharina ihn mutig zur Rede. Dieser bietet 50 Gelehrte und Philosophen gegen sie auf, die Katharina allerdings kraft ihrer intelligenten Argumentation davon überzeugt, sich taufen zu lassen. Daraufhin lässt der Kaiser Katharina ins Gefängnis werfen. Sie soll mit einem mit Messern gesäumten Rad gefoltert werden, wovor sie jedoch ein Engel errettet. Ihrer Enthauptung kann sie dann doch nicht entgehen. Anstelle von Blut fließt Milch aus ihren Wunden. Katharinas Leichnam soll von Engeln auf den Sinai gebracht worden sein.106

Die Figur der heiligen Katharina erstreckt sich über die gesamte Höhe der inneren, gold- grundigen Bildfläche. In ihrer aufrechten Pose nimmt sie die Mittelachse ein. Ihre Kontur ist durch die Wölbung des grünblauen Adlermantels und den Nimbus gegeben, der ihren Kopf samt der hohen Krone mit einem Durchmesser umfängt, der in etwa der Breite ihrer Schultern entspricht. Es gibt keine Elemente und Körperteile, welche aus dieser Kontur herausragen. Die Extremitäten verschwinden unter dem langen Gewand, das zum Hals hin durch eine breite, ringartige Borte abgeschlossen wird und bis zur dunklen Bodenzo- ne reicht. Auch das tropfenförmige Schild mit dem russischen Kreuz fügt sich in den Umriss der Figur. Allein Katharinas Fußspitzen lugen hervor. Indem das Gewand die sinnlichen Formen der schönen Heiligen seinem strengen Umriss einverleibt, unterstreicht es im gleichen Moment die würdevolle Haltung ihres Körpers. Der kostbare Mantel und die vertikale, edelsteinverzierte Schärpe wirken hart und stabil. Die schmalen Mantelfalten, die ihrerseits der Vertikalen folgen, unterstreichen den Effekt eines festen und steifen Textils. Das Gewand verleiht der Figur einen skulptu- ralen Charakter. Die Heilige hat in ihrem Dastehen etwas von einer Säule – derart wie sie den Bild- raum in vollständiger Höhe durchfährt. Es scheint als trüge sie die obere Bilderleiste des Rahmens wie einen Architrav; ihre Bewegungsrichtung ist die von unten nach oben, ein Emporstreben, das durch einige Momente des Lastens in Zaum gehalten wird. Der Mantel ist schwer und drängt nach unten, ebenso gewichtig liegt die schlichte, goldene Krone auf Katharinas Haupt. Insofern ist die heilige Katharina einer griechischen Kore vergleichbar: Die mit geschlossenen Beinen dastehenden weiblichen Skulpturen wurden in der Archi- tektur häufig in tragender Funktion als sogenannte Karyatiden eingesetzt. In Athen stüt- zen sechs Frauenfiguren anstelle von Säulen die Vorhalle des Erechtheions auf der Akro- polis. Beide Hände erhebt Katharina auf Brusthöhe zum Gestus der Fürbitte107. Die ange- winkelten Arme verschwinden dabei unter ihrem Mantel, an dessen linker Öffnung aber-

106 Vgl.: Lexikon der heiligen und der Heiligenverehrung, Band 2, hg. von Walter Kasper u. a., Frei- burg/Basel/Wien 2003, 883-886 [Spaltenangabe]. 107 Vgl.: Walter Felicetti-Liebenfels, Geschichte der byzantinischen Ikonenmalerei, Olten/Lausanne 1956, 29.

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mals eine prächtige, edelsteinverzierte Borte aus Gold nach unten hängt. Während sie in ihrer rechten Hand ein kleines Kreuz hält, wendet sie die Innenseite der linken Hand of- fen dem Betrachter zu. Die Geste erweckt einerseits den Eindruck, als wollte sie uns von einer allzu großen Annäherung zurückhalten. Andererseits scheint sie selbst diejenige zu sein, die zurückweicht. Die offene Handfläche ist dabei paradoxerweise derjenige Teil des Körpers, der uns am nächsten kommt, weil er die Oberfläche der Ikone selbst präsen- tiert. Trotz dieser Geste tritt uns die Heilige nicht als Akteurin entgegen. Katharinas besonnenes Antlitz mit den starken, dunklen Augen, der langen schlan- ken Nase und dem zarten Mund ist frontal auf den Betrachter ausgerichtet, doch driftet ihr Blick vorbei an uns, hin zur rechten Seite. Die Heilige scheint sie in sich versunken. Der kreisrunde Nimbus, der ihr Gesicht umfängt und ihm eine eigene Sphäre schafft, unter- stützt den Effekt der Kontemplation. So wie die heilige Katharina dasteht, ist sie ganz und gar bei sich. Es gibt keinen Zweifel, dass dem Betrachter hier ein Mensch von buchstäblich ›aufrechter‹ Haltung gegenübertritt. Trotz der nüchternen Strenge ihrer Gestalt wirkt sie nicht leblos. Das Gold, das nicht nur den ganzen Raum sondern auch in ihrem Gewand, ihrem Schmuck und in der Krone hervorscheint, kontrastiert feierlich mit dem grellen Rot ihres breiten Gürtels und der Edelsteine. Dieses Leuchten nimmt die ganze Figur in Beschlag und ver- leiht der Heiligen eine feierliche Gegenwart. Der Unmittelbarkeit farblicher Pracht steht das zaghafte Zurückweichen der weiblichen Figur gegenüber. Die direkte Nähe korres- pondiert mit Gesten und Gebärden, die eine Entfernung suchen.

Zusammenfassung: Charakteristika einer ikonischen Bildsprache

Wie ist nun das Ikonische zu fassen, nachdem wir auf der einen Seite den archaischen Kleobis und auf der anderen Seite die Ikone der heiligen Katharina aus dem Sinaikloster exemplarisch in den Blick genommen haben? Welche Entsprechungen gibt es hinsichtlich ihrer bildlichen Wirksamkeit? Einige Ähnlichkeiten, welche vor allem die stilistische Struktur der Figuren betref- fen, sind bemerkenswert: Der eine wie die andere stehen auf eine entschiedene Weise einfach da, gerade und aufrecht. Sie ragen. Beiden ist ein blockhafter, vertikal orientierter Umriss gemein, von dem weder die Haltung der Arme noch der Beine abweicht: Sie tra- gen eine Isolation nach außen. Beide scheinen in der einfachen und nüchternen Formation ihres Körpers zu ruhen. Dem hermetischen Charakter der abstrakten Form korrespondiert jeweils ein sinnliches, materielles Darstellungsmoment. Während die Ikone mit ihrer luziden Farbigkeit das Auge des Betrachters rührt, bietet der Kouros Kleobis seine pralle Plastizität dar, die in der Betrachtung regelrecht fühlbar wird.108 Beide Figuren bringen ihre Gegenwart aus einer Spannung zwischen Distanz und Nähe hervor:

108 Zu bedenken bleibt allerdings, dass auch eine archaische Skulptur wie der Kleobis farbig bemalt gewesen sein könnte, was die sinnliche Eindringlichkeit seine Erscheinung sicherlich noch unterstrichen hätte. Vgl.: Vinzent, Die Farben der archaischen und der frühklassischen Skulptur, in: Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur, hg. von V. Brinkmann u. a., Ausst.Kat., Museum für Kunst und Gewerbe in Zu- sammenarbeit mit den Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek München und der Stiftung Archäolo- gie, München 2007, 34-51.

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Das ist der rote Faden, der sich von der griechischen Archaik hinein in die byzanti- nische Zeit spinnt und das Ikonische in seiner ursprünglichen griechischen Denkweise hervorscheinen lässt. Das Ikonische zeichnet sich vor allen Dingen dadurch aus, dass es – ob als Bild oder Skulptur – eine Gegenwart hervorbringt, die den Betrachter unmittelbar affiziert.

Der Altertumswissenschaftler Ernst Buschor hat bereits in seinem 1942 erschienenen Buch Vom Sinn der griechischen Standbilder109 auf die formale Verwandtschaft zwischen der frühen griechischen Skulptur und den spätgriechischen bzw. byzantinischen Bildwer- ken hingewiesen. Das, was er für die plastischen Werke aus der späten griechischen Zeit herausarbeitet hat, kann ebenso für die Ikonen gelten:

»Ein gewisser Vergleich [der späten griechischen Werke] mit der ersten Phase der griechischen Plastik, mit den Statuen der ›seienden Wirklichkeit‹ scheint gegeben. Bei- de Bezirke äußern sich in großen einfachen Zeichen in Statuen von kubischen Bau und ornamentaler Schönheit, in unkontrapostischen, unpsychologischen Werken, ohne Ein- gehen auf das Zeitliche und Momentane. Beide suchen den Menschen in einer ewigen bleibenden Schicht auf, verhelfen dieser Schicht im bedeutsamen Bild zur denkmalhaf- ten Dauer.«110

Anhand von Analysen ausgewählter plastischer Werke verdeutlicht Buschor, wie sich die stilistische Ähnlichkeit zeigt. Das bronzene Kruzifix aus Werden111 beschreibt er wie folgt:

»[…] Die Seinsform des neuen abendländischen Menschen mit seinem von neuem Zwiespalt und neuer Hoffnung getrösteten Seele stellen sie so jugendfrisch, so unmit- telbar und anschaulich nah vor Augen, wie die frühgriechischen Statuen den ungebro- chener blühenden Leib und Geist des antiken Menschen. Das Bild des Gekreuzigten von Werden […] ist von dem erschütternden Ernst schlichtester Gegenständlichkeit ge- tragen.«112

Buschors Beobachtungen können unsere Überzeugung bestärken, dass sich das Ursprüng- lich-Ikonische als gestalterische Kraft über die Jahrhunderte hinweg bewahrt und bewährt hat.

109 Ernst Buschor, Vom Sinn der griechischen Standbilder (1942), Berlin 1977 (fortan: Buschor 1977). 110 Siehe: Buschor 1977, 32. 111 Das Kruzifix ist auch unter dem Namen »Helmstedter Kreuz« bekannt. Es ist ein Werk der späten ottoni- schen Kunst, die in vielerlei Hinsicht an die spätantike bzw. byzantinische Tradition anknüpft. 112 Siehe: Buschor 1977, 54.

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Das theologische Fundament der christlichen Ikone

Bislang haben wir uns ausgiebig mit dem Aussehen des ikonischen Bildes auseinanderge- setzt. Im Folgenden wollen wir uns nun eingehender mit den christlichen Vorstellungen der Ostkirche befassen, welche die Entstehung der Ikone begünstigten. Wie konnte es gelingen, die christliche Theologie mit jener genuin griechischen Sympathie für das Bild zu vereinen? Welche Argumente lassen sich für das Bild geltend machen, wenn es darum geht, es gegenüber dem von den Bilderfeinden so unnachgiebig vertretenen, mosaischen Bilderverbot zu verteidigen? Es ist nicht ohne Schwierigkeit, Ordnung in den vielschichtig verwobenen Entste- hungszusammenhang zu bringen, gerade wenn man darum bemüht ist, in der byzantini- schen Ikone nicht bloß ein von der Religion in Dienst genommenes Kultobjekt zu erken- nen, auf das sie nach einem ersten Hinsehen allzu oft reduziert wird, sondern ein eigen- ständiges Bildphänomen, das von einer uralten griechischen Tradition herkommt und während der byzantinischen Zeit unter Einwirkung der christlichen Lehre eine program- matische Seite hinzugewinnt. Zunächst einmal müssen wir uns ins Bewusstsein rufen, dass die maßgeblichen or- thodoxen Theologen der byzantinischen Ära vom vierten bis zum neunten Jahrhundert selbst ›echte‹ Griechen gewesen sind, was ihre denkerische Herkunft betrifft. Ihre Aus- bildung und Erziehung erhielten sie entsprechend dem antiken Kanon zumeist in Philoso- phie, Rhetorik, Literatur, Geschichte, Geometrie, Medizin und den Naturwissenschaften. Ihr Unterricht erfolgte in griechischer Sprache, und auch ihre eigene Schriftsprache war und blieb griechisch. Gerade die Schriften und Predigten der Kirchenväter des vierten und fünften Jahrhunderts wie Athanasius, Basileios von Caesarea, sein jüngerer Bruder Gre- gor von Nyssa und Gregor von Nazianz zeugen von der Wahrnehmungsorientiertheit des griechischen Denkens und Sprechens.

Basileios von Caesarea

Um dies zu verdeutlichen, wollen wir uns exemplarisch vor Augen führen, welche Über- legungen der kappadokische Kirchenvater Basileios von Caesarea über das Schöne im Allgemeinen und das Kunstschöne im Besonderen anstellte. Da wir uns im vierten bzw. fünften Jahrhundert in einer Zeit weit vor den reflektierten Begriffen einer modernen Ästhetik befinden, ist es notwendig, die entsprechenden Äußerungen in den schriftlichen Überlieferungen ausfindig zu machen und den jeweiligen Problemkern aus seinem theo- logisch-dogmatischen Argumentationsrahmen herauszulesen. Diese Arbeit hat in einer stupenden Ausführlichkeit Pascal Weitmann in seiner Dissertation113 geleistet, in der er die theoretischen Äußerungen über bildende Künste und Musik von Basileios bis Hraba- nus Maurus einer eingehenden Untersuchung unterzieht. Es gelingt ihm, die Grundlagen

113 Pascal Weitmann, Sukzession und Gegenwart. Zu theoretischen Äußerungen über bildende Künste und Musik von Basileios bis Hrabanus Maurus, Wiesbaden 1997 (fortan: Weitmann 1997).

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einer mittelalterlichen ›Ästhetik‹ zum Vorschein zu bringen. In der folgenden Analyse beziehen wir uns auf die von Weitmann aufbereiteten Textstellen. Basileios der Große wurde um 330 im kappadokischen Caesarea geboren. Sein Va- ter wirkte als Rhetor und Sachverwalter. Sein Studium vollzog er an den Rhetorenschulen von Caesarea, Konstantinopel und Athen. Nach seiner Rückkehr arbeitete Basileios kurz- zeitig als Rhetor, ließ sich aber bald darauf taufen, besuchte in Ägypten, Palästina und Syrien die führenden Asketen und widmete sich schließlich selbst dem mönchischen Le- ben. Um 370 empfing er die Weihe zum Bischof und machte aus dieser Position heraus den Kampf gegen den Arianismus114 zu seinem vornehmen Ziel. Um 376 verfasste er seine beiden Mönchsregeln in ihrer letztgültigen Fassung. Am 1. Januar 379 starb Basi- leios in Caesarea.115 Basileios erweist sich für unsere Darstellung deshalb als geeigneter Vertreter der ostkirchlichen Theologie, weil er als einer der frühen ›Großen Kirchenväter‹ das orienta- lische Mönchtum weithin prägte und ob seiner rhetorisch schlagkräftigen Argumentatio- nen über Jahrhunderte hinweg eine maßgebliche Autorität blieb, auf die man sich immer wieder bezog. Wesentliche Aussagen, die für unsere Frage nach der christlichen Färbung des Ikonischen in Byzanz relevant sind, finden sich in Basileios‘ Predigten über die sechs Tage der Schöpfung116, im sogenannten Hexaemeron. Die neun Predigten über den alttes- tamentlichen Schöpfungsbericht hat Basileios in Caesarea aller Wahrscheinlichkeit nach in der Fastenzeit des Jahres 378 verfasst. Wenn wir uns den biblischen Schöpfungsbericht vergegenwärtigen, fällt auf, dass Gott mehrfach sein geschaffenes Tagwerk beurteilt. In der Lutherbibel heißt es dann jeweils: »Und Gott sah, dass es gut war.« In der griechi- schen Fassung des Alten Testaments, der Septuaginta, steht anstelle von »gut« αός. Im altgriechischen Wort kalós klingt neben dem pragmatischen Aspekt des Guten oder Taug- lichen auch der ästhetische Aspekt des Schönen an. Basileios‘ Bemühen, in seinen Predigten zum Hexaemeron, die schöpferische Tätig- keit Gottes zu erklären, offenbart nicht nur seine vorbehaltslose Wertschätzung für die irdischen Dinge in ihrer materiellen ›Herrlichkeit‹, sondern gibt auch einen Hinweis au die naturwissenschaftliche Forscherlust des Kirchenvaters. Den Schöpfergott vergleicht Basileios mit einem Künstler.117

114 Der Arianismus ist eine christlich-theologische Lehre aus dem frühen vierten Jahrhundert, die nach dem Priester Arius (†33θ) benannt ist. Sie steht im Gegensatz zum Trinitätsdogma: Die Arianer bestritten die Wesensgleichheit von Gott Vater und Gott Sohn. Da Jesus von Gott geschaffen sei, könne er unmöglich mit ihm identisch sein. Die Arianer gestanden Jesus Christus zwar eine außerordentliche Stellung zu, ordneten ihn jedoch Gott unter (Subordination). 115 Vgl.: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, hg. von Theodor Klauser, Band I, Stuttgart 1950,1261f. [Spaltenangabe]. 116 Siehe: Gen 1. 117 »Weil ja auch eine Hand für sich und ein Auge für sich allein und jedes der Glieder einer Statue, abgeson- dert liegend, dem Finder nicht schön erscheinen würden: Zur gehörigen Anordnung aber wiederhergestellt, bietet das Schöne, das aus dem richtigen Verhältnis sich ergibt, kaum sichtbar zuvor, sich auch dem Laien verständlich dar. Der Künstler indessen kennt auch vor der Zusammenfügung das Schöne eines Einzelteils und lobt die Teile einzeln, weil er die Vorstellung auf den Endzweck richtet. Als ein solcher Kunstreicher ist jetzt also demnach Gott beschrieben worden, Lobredner der Werke im einzelnen; er will aber das gebührende Lob ebenso mit dem Kosmos als Ganzem erfüllen, wenn er vollendet ist.« Siehe: Hexaemeron III 32 A-C bzw. Weitmann 1997, 11.

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Eine Passage erweist sich für unsere Frage nach dem Charakter des Ikonischen als besonders aufschlussreich. Zu Beginn des Schöpfungsberichts stößt Basileios auf ein Problem, für das er eine Lösung aufzeigen möchte. Ihn beschäftigt der Moment, in dem Gott es auf der Erde Licht werden lässt und dieses für kalós – für schön – befindet.

»›Und Gott sah, daß das Licht schön (kalós) war.‹118 Welches Lob könnten wir dem Licht für angemessen erklären, das vorab das Zeugnis des Schöpfers hat, daß es schön ist? Denn bei uns überlässt der Verstand (lógos) den Augen die Entscheidung, der über diese Dinge so weit nichts zu sagen hat, wie die Wahrnehmung vorab Zeugnis ablegt. Wenn aber das Schöne im Körper aus dem richti- gen Verhältnis (symmetría) der Teile zueinander und der sich zeigenden Schönfarbig- keit das Sein hat, wie wird dann beim Licht, das von einfacher Natur und gleichförmig ist, das Prädikat des Schönen gewahrt? Etwa, daß dem Licht das richtige Verhältnis nicht in seinen eigenen Teilen, sondern in dem für das Sehen Schmerzlosen und Ange- nehmen bezeugt wird? So ist nämlich auch Gold schön, indem es nicht aus dem richtigen Verhältnis der Teile, sondern allein aus der Schönfarbigkeit das Verführerische für das Sehen und das Er- freuliche besitzt. Und der Abendstern ist der Schönste der Sterne, nicht durch Besitz des richtigen Verhältnisses der Teile, aus denen er zusammengesetzt ist, sondern durch das irgendwie Schmerzlose und seinen angenehm in die Augen fallenden Glanz119

Basileios fragt nach der eigenartigen Schönheit des Lichts. Er beobachtet, dass es zwei Weisen gibt, in denen sich Schönheit zeigen kann. Basileios unterscheidet die Art, wie die Schönheit des Lichts wirkt, von der Schönheit derjenigen Dinge, welche den Men- schen aufgrund des richtigen Verhältnisses der Teile zugänglich wird. Das Kriterium der adäquaten Proportion ist vom Verstand her begründbar und seit der Antike tradiert. Be- reits im fünften Jahrhundert vor Christus sah Polyklet das Bild eines idealschönen Kör- pers in der vollkommenen Relation der einzelnen Teile verwirklicht. Dies belegen die römischen Überlieferungen seines theoretischen Kanons. Für die Empfindung des Phänomens Licht hingegen spielt ein solch korrektes Ver- hältnis keine Rolle. Als Beispiele für die eigenartige Wirkung des Lichts nennt er das Edelmetall Gold und den Abendstern. Er beschreibt die Art und Weise, wie diese die menschlichen Sinne affizieren: Gold hat einen »verführerischen« Glanz, welcher die Au- gen »erfreut«, wohingegen das Licht des Abendsterns schön ist, weil es die Augen »nicht schmerzt«, sondern »angenehm« spürbar wird. Nach Basileios‘ Auffassung empfinden wir das Licht gerade deshalb als schön, weil es aufgrund seiner »Einfachheit« und »Gleichförmigkeit« unmittelbar auf unsere Sinne wirkt.120 Basileios verwendet in diesem

118 Gen. 1,4. 119 Siehe: Hexaemeron II 19 D-20 A bzw. Weitmann 1997, 8. 120 Etwa 100 Jahre vor Basileios stößt Plotin (205-270 nach Chr.) in seiner ersten Enneade auf die Unzuläng- lichkeit der Symmetrie, um das Wesen des Schönen (kalós) zu fassen. Ähnlich wie Basileios gibt er in seiner Argumentation die Einfachheit einiger Phänomene zu bedenken, deren Schönheit sich nicht auf »ein Wohl- verhältnis der Teile zu einander« zurückführen lässt. Als Beispiele zieht er »die schönen Farben«, die seiner Ansicht nach keine äußerlichen Eigenschaften von Körpern sind, »das Licht der Sonne«, »das Gold« und »das Funkeln der Nacht« heran. Die genannten Beispiele legen nicht nur nahe, dass Basileios mit Plotins Enneaden vertraut war, sie dürfen darüber hinaus als Zeugnis dafür gelten, dass die Wertschätzung für das Einfache, das über die Sinne bzw. die Augen zugänglich wird, tatsächlich ein Charakteristikum der griechi-

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Zusammenhang ausnehmend viele Worte, die dem Bereich des Sinnlichen entstammen; einer rationalen Begründung bedarf die Aussage, dass das Licht schön ist, darüber hinaus nicht. Basileios gelangt in seinem Nachdenken über die besondere Schönheit des Lichts zu einer differenzierten Betrachtung ästhetischer Objekte und Phänomene. In einer Passage in seinem Buch De Spiritu Sancto121 kommt er auf die Bildwerke (eikones) selbst zu spre- chen. Er gibt sich als ›Bilderfreund‹ zu erkennen, wenn er ihnen unter Bezugnahme auf die Trinitätslehre einen selbstverständlichen Stellenwert einräumt:

»Sohn nämlich ist in dem Vater, und Vater ist in dem Sohn, weil auch dieser so be- schaffen ist wie jener und jener wie dieser; und darin besteht das Eine der Trinität. So daß sie nach der Eigentümlichkeit der Gesichter (prosopon) zwar eines und ein weite- res, nach dem Gemeinsamen der Natur aber die beiden zusammen Eins sind. Wie nun, wenn aber eines und eines – sind es dann nicht zwei Götter? Nicht, insofern auch das Bildnis (eikon) des Kaisers ›Kaiser‹ genannt wird und doch nicht zwei Kaiser existie- ren. Die Macht wird nämlich weder gespalten noch die Ehre verteilt. Wie nämlich die uns beherrschende Regierung und Behörde eine sind so ist auch die Lobpreisung durch uns eine und nicht viele, weil sich die Wertschätzung des Bildes auf das Vorbild (pro- totypon) überträgt. So nun ist hierin das Bild durch Nachahmung, wie dort der Sohn von Natur. Und wie bei den Kunstwerken von der Form her die Ähnlichkeit besteht, so ist bei der göttlichen und nicht zusammengesetzten Natur die Einung in der Gemein- schaft des Göttlichen.«122

Vorrangig geht es Basileios in diesem Abschnitt darum, das Trinitätsdogma plausibel darzulegen. Die Wesensgleichheit von Gott Vater, Gott Sohn und heiligem Geist ist ein schwer zu denkender Gedanke. Von vielen Seiten wurde die Lehre angefochten, zuvor- derst aus den Reihen der Arianer. Basileios eröffnet das Problem, indem er fragt, wie es sein kann, dass Gott Vater und Gott Sohn verschiedene Gesichter haben und im gleichen Moment eine sie einende Natur besitzen. Er beantwortet seine Frage mit einem Vergleich: Das Einssein von zwei beim ersten Hinsehen verschiedenen Dingen wird in der Relation zwischen Kaiser und Kaiserbildnis deutlich. Weil zwischen ihnen Ähnlichkeit besteht, sind sie als äquivalent anzusehen. Das Bildnis des Kaisers verfügt über dieselbe Kraft zur Gegenwärtigung wie der leibhaftige Kaiser selbst. Folglich sind das Original und sein Bild in ihrer Erscheinungskraft identisch. Basileios stellt das Kaiserbild als vollgültigen Repräsentanten des Kaisers vor. Indem Basileios die Identität von Gott Vater und Gott Sohn durch sein Gleichnis vom Kaiserbild nachvollziehbar macht, gelingt es ihm zugleich, das alttestamentliche Bilderverbot in Abrede zu stellen. Denn die Ähnlichkeitsbeziehung, in der die reale Per- son und ihr Bild zueinanderstehen, feit das gefertigte Bild vor dem Vorwurf, ein Götzen- bild zu sein, das bloß der geistlosen Materie huldigt.

schen Welterfahrung ist, die über die Jahrhunderte hinweg lebendig bleibt. Vgl. Plotins Schriften, übersetzt von Richard Harder, Band I, Hamburg 1956, 1, 4-6. 121 Das Buch wurde Bischof Amphilochios von Ikonion gewidmet und Ende 374 bis 375 fertiggestellt. Vgl.: Weitmann 1997, 16. 122 Siehe: De Spiritu Sancto XVIII 45 (149 B/C) bzw. Weitmann 1997, 15f.

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Basileios hätte die kühnen Analogie zwischen der heiligen Dreieinigkeit und dem profanen Verhältnis zwischen Kaiser und seinem Bildnis nicht ohne einen profunden Rückhalt gewagt – und das ist die heilige Schrift selbst: Gott hat den Menschen »zu sei- nem Bilde« geschaffen, heißt es bereits im Schöpfungsbericht der Genesis.123 Der Mensch ist Ebenbild Gottes. Das betreffende Wort in der Septuaginta ist eikon. Im neuen Testa- ment macht vor allen Dingen Paulus in seinen Briefen von dem Bildbegriff Gebrauch. Er wendet ihn an, um das Verhältnis zwischen Gott und seinem Sohn zu charakterisieren. Christus ist das Bild Gottes – eikon.124

Merkwürdig unschlüssig hingegen mutet in der der oben zitierten Stelle aus De Spiritu Sancto Basileios‘ Argument an, das die Identität zwischen Kaiser und Bildnis begründen soll: Er bringt die Verehrung ins Spiel, die vom hergestellten Bild auf den Prototyp bzw. auf das Urbild übergeht. Die Schwierigkeit liegt darin, dass Basileios durch die Begriffe ›Bild‹ und ›Urbild‹ eine Hierarchie einführt, die dem postulierten Einssein zuwiderläuft. Die paradoxale Ambivalenz von Äquivalenz und Hierarchie wird nicht aufgelöst. Das scheint Basileios jedoch nicht weiter zu bekümmern. Für ihn ist offensichtlich die Aussa- ge entscheidend, dass im Bild überhaupt etwas von der Heiligkeit des Urbildes gegenwär- tig wird und Bilder damit selbst über die Kraft zur Gegenwärtigung verfügen. Bild und Abbild sind ihrer Wirksamkeit nach äquivalent. Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass Basileios in seiner Herangehensweise an die ästhetischen Belange des Schönen, der Kunst und der Bilder keinen systematischen Anspruch verfolgt. Er stößt auf einzelne Fragen, die er dann gleichermaßen spontan wie gründlich zu beantworten trachtet. Er spricht für die Bilder. Er setzt sie ins Recht. Er tut dies aber ohne das Kalkül eines Advokaten, der die Strategie einer Verteidigung oder Legitimation verfolgt. Basileios’ Haltung gegenüber den Bildern ist affirmativ. Ihr Exis- tenzrecht steht in keinem Moment in Frage. Für Basileios scheint die Bilderfrage unproblematisch, weil er für das sinnlich Schö- ne ganz selbstverständliche Sympathien hegt. Dies verweist auf den griechischen Ur- sprung seines Denkens. In diesem Sinn ist ein echter ›Bilderfreund‹, der nicht erst der Feinde bedarf, um sich als solcher auszuzeichnen.

Johannes von Damaskus

Ganz anders sieht das bereits im achten Jahrhundert zu Beginn des byzantinischen Bilder- streits (726-843) aus. Johannes von Damaskus125, der große Fürsprecher der Bilder und Verteidiger der Bildverehrung, trägt seine Gedanken zur Bilderfrage nun mit programma- tischem Anspruch und sorgfältig strukturiert vor. Davon zeugen seine Reden gegen die Bilderfeinde, die sogenannten Orationes contra imaginum calumniatores. Die selbstver- ständliche Zuneigung zum Bild weicht in der seiner Argumentation einer systematischen

123 Gen. 1, 26f. u. a. 124 2. Kor. 4, 4; Kol. 1,15; Hebr. 1, 3. 125 Johannes von Damaskus wurde um 650 in Damaskus geboren, sein christlich-arabischer Vater war Fi- nanzminister des Kalifen. Wegen zunehmender Christenfeindlichkeit zog Johannes sich vor dem Jahre 700 von der Mitarbeit bei seinem Vater in das Sabaskloster nahe Jerusalem zurück. Dort verfasste er nach 743 sein Hauptwerk Πγ γνώσεως und wurde zum Presbyter ernannt; er starb vor 754. Vlg. Weitmann 1997, 116.

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Aufdröselung aller Probleme, welche die Frage nach dem Bild in Hinblick auf die christ- liche Lehre aufwirft. Widersprüchen begegnet er mit strengen Regeln. In Johannes’ Au- gen hat das Bild zuvorderst eine dienstbare Funktion. Es verweist es auf sein Urbild, ist ihm gegenüber aber unvollständig, wodurch das Identitätspostulat des Basileios gänzlich aufgehoben wird.126 Gerade als Bücher für die Analphabeten erfüllen die Bilder eine sinn- volle und wichtige Funktion, weil derart die heilige Geschichte auch für diejenigen zu- gänglich wird, die nicht lesen können.127 Auf dem 692 in Konstantinopel abgehaltenen Konzil (Concilium Quinisextum) wurde mit dem Kanon 82 ein begrenztes Repertoire an Motiven festgelegt, für welche die malerische Darstellung erlaubt war. Johannes konkre- tisiert diesen Kanon, der zugleich die Grundlage des Motivkatalogs des Malerbuches vom Berge Athos werden wird.128

»Präge aus die unsagbare Erniedrigung dieses fleischgewordenen Gottes, die Geburt aus der Jungfrau, die Taufe im Jordan, die Verklärung auf dem Tabor, die Leiden – die Bürgen der Leidlosigkeit, die Wunder – die Kennzeichen seiner göttlichen Natur und Wirkkräfte, durch Wirkkräfte des Fleisches vollendet – präge aus die rettende Grable- gung des Retters, die Auferstehung, die Himmelfahrt. Alles male mit Wort und Farben in Büchern und Tafelbildern.«129

Die Frage nach dem Existenzrecht der Bilder wird hier auf eine dezidiert ikonographische Ebene verlagert und durch eine konkrete Vorgabe konsequent beantwortet. Die ethisch- religiöse Nützlichkeit ist das entscheidende Kriterium, welches für die Bilder spricht. Nur als Hilfsmittel und Verweise sind sie legitim. Die ästhetische Wirksamkeit der Bilder spielt in Johnannes‘ Perspektive kaum eine Rolle mehr.

Zusammenfassung: Affirmative Haltung der Ostkirche zur diesseitigen Welt und in der Folge auch zu den Bildern

Zwischen Basileios und Johannes liegt ein Zeitraum von mehr als 300 Jahren, in dem eine erstaunliche Wendung in Hinblick auf die Legitimation der Bilder von statten geht. Während sich der Damazener vor allen Dingen aus pragmatischen Gründen für die Bilder

126 So sagt Johannes in seiner Contra imaginum calumniatores oratio III 16: »Erstens: Was ist ein Bild? Ein Bild ist also nun ein Ebenbild und Muster und Abdruck von irgend etwas, in sich das Abgebildete zei- gend; aber das Bild scheint durchaus nicht in jeder Hinsicht mit dem abgebildeten Urbild identisch zu sein – das Bild ist nämlich eine Sache und das Abgebildete eine andere – und man kann durchaus zwischen ihnen Unterschiede sehen, weil nicht das eine dieses und das andere jenes ist. Daher kann ich etwa sagen: Wenn das Bild des Menschen auch das geprägegleiche Bild des Körpers ausdrücken mag, so hat es doch nicht die geistigen Wirkkräfte; weder nämlich lebt es noch denkt es oder gibt Laute von sich, weder hat es Sinneswahrnehmungen noch bewegt es ein Glied. Auch der Sohn, als natürliches Abbild des Vaters, hat ihm gegenüber eine gewisse Abänderung: Sohn ist er nämlich und nicht Vater.« Vgl.: Weitmann 1997, 117. 127 Siehe: Johannes von Damaskus, Contra imaginum calumniatores oratio I 17 bzw. Weitmann 1997, 118. 128 Vgl.: Weitmann 1997,122. 129 Siehe: Contra imaginum calumniatores oratio III 8 bzw. Weitmann 1997, 122.

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ausspricht, ist Basileios‘ Argumentation noch von jener urgriechischen Sympathie für die sinnliche Welt getragen. Es ist wichtig, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass Basileios noch keine Ikonen, d. h. keine bis ins Detail ausgeprägte Ikonenkunst vor Augen hat, wenn er sich auf den Begriff eikon bezieht. Das, was in den zitierten Passagen vor allen Dingen herausklingt, ist sein grundlegendes Vertrauen in die Sinnenkraft des Auges. Basileios traut der Sichtbarkeit der Welt und lässt der irdischen Schöpfung damit eine uneingeschränkte Wertschätzung zuteilwerden. Der an sich sachliche Blick des Kirchenvaters ist hier nicht frei von Emoti- onalität. Dem Geschaffenen, sei es von Gottes- oder Menschenhand – wohnt in seinen Augen nichts Trügerisches inne: Sein Beispiel vom Kaiserbild zeigt zudem, dass das un- ter dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit Gestaltete mit der Wirkmacht des ursprünglichen Vorbildes verschmilzt. Dem ›Abbild‹ spricht er denselben ontologischen Status zu. We- sen und Erscheinung gelten ihm gleich viel. Basileios bereitet den christlichen Bildern ein Fundament, ohne das konkret zu re- flektieren oder anzustreben. Er befähigt das bildnerische Werk zur Eigenständigkeit. Die treibende Kraft des griechisch-orthodoxen Bildes ist demnach von Anfang an ein Zu- spruch: eine Affirmation. Der innerlichen Jenseitsorientierung des aufstrebenden Chris- tentums setzt Basileios einen immanenten Aspekt entgegen: die Herrlichkeit der Schöp- fung. Sie verdient die Lobpreisung der Menschen: »Und Gott sah alles an, was er ge- macht hatte; und siehe da, es war sehr gut.«.130 Es gilt, die Welt zu feiern. Trotz des hart- näckig sich haltenden theologischen Misstrauens gegen alles Irdische wird die Ostkirche diese Bejahung des Diesseitigen als Grundtendenz bewahren.

So ist dann auch die allmählich erblühende Ikonenkunst zuvorderst als eine Weise des ›Gottesdienstes‹ zu verstehen. Das Herstellen und das Aufstellen der Ikone sind Teil des liturgischen Zeremoniells. Der Ikonenmaler verwendet Farben, Holztafeln und bunte Mosaiksteinchen – allesamt Dinge, die der materiellen Welt entstammen und insofern auch von der Herrlichkeit Gottes zeugen. Die artistische Fertigkeit verhilft den Elementen zu einer bildlichen Gestalt, welche die Pracht des Himmels auf Erden vergegenwärti- gen.131 Das Moment der Transzendenz wird in die Welt hineingeholt. Das Absente wird präsent. Nur unter der Voraussetzung, dass wir uns diese positive Grundhaltung gegenüber der materiellen Welt bewusst machen, wird nachvollziehbar, weshalb es der Ikonenkunst in der Ostkirche ungeachtet aller Anfeindungen von Seiten der Bilderstürmer gelingt, einen festen Platz im alltäglichen Leben der Menschen zu erlangen und eine Jahrhunderte währende Tradition auszubilden.

130 Gen. 1, 31. 131 Vgl.: Kallistos Ware (Bischof von Diocleia): The Theology and Spirituality of the Icon, in: From Byzanti- um to El Greco. Greek Frescoes and Icons, hg. von Myrtali Acheimastou-Potamianou, Ausst. Kat. der Royal Academy of Arts London, des Griechischen Kultusministeriums und des Byzantinischen Museums Athen, Athen 1987, 37-39.

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Das abendländische Bildverständnis – idea und imago

Platons Ideenlehre

Im Gegensatz zum griechischen Osten begegnet das Abendland der materiellen Welt mit Ablehnung. Der Westen hegt einen tiefen Zweifel allem, was mit den Sinnen erfahren wird. So steht auch das Existenzrecht der Bilder immerfort in Frage. Dennoch gelingt es der abendländischen Bildkunst, sich kraftvoll zu entwickeln. Man kann es so formulieren: Die Bilder im Westen entstehen einer permanenten Anfechtung zum Trotz. Aber woher stammt diese merkwürdige Abneigung des Westens gegenüber dem Sinnlichen? Wo hat sie ihre Wurzeln? Wir haben bereits darauf hingewiesen, welch ekla- tanten Einschnitt Platons Ideenlehre in der Geschichte des Denkens darstellt. Er ist derje- nige, der eine hierarchische Struktur in die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ein- führt. Die sinnliche Wahrnehmung erfährt eine stupende Abwertung gegenüber dem geis- tigen Vermögen, dem allein die Welt der Ideen zugänglich ist. Die Malerei ist Platon eine Kunst der Täuschung – sie steht im dritten Glied zur Wahrheit. Sie ist Abbild vom Abbild und damit am weitesten von der absoluten Idee entfernt. Seither ist diese hierarchische Stufung dem Blick auf die Welt eingeschrieben. In Europa gibt es kaum eine philosophische Schule, die sich dem Einfluss der platonischen Ideenlehre entzogen hat. Allein die Epikureer taten sich durch ihren egalitären Materia- lismus leicht, sich gegen das Graduelle der platonischen Philosophie zu verwahren.

Augustinus

Für die frühen Theologen ist Platon – zumeist vermittelt durch die Neuplatonisten – eine maßgebliche Autorität. Der große Kirchenvater des Westens, Augustinus, wird hier als ›lateinisches Pendant‹ zum ›griechischen‹ Basileios vorgestellt. Er teilt Platons Gering- schätzung der sinnlichen Wahrnehmung und führt den scharfen Dualismus zwischen der geistigen und körperlichen Welt fort. Für die katholische Kirche bleibt Augustinus über die Jahrhunderte hinweg ein wichtiger Bezugspunkt, gerade in ästhetischen Belangen. Auf die orthodoxe Kirche ist sein Einfluss hingegen gering, einerseits, da seine Schriften erst im 14. Jahrhundert ins Griechische übersetzt und in der Folge erst spät in Konstan- tinopel bekannt werden, andererseits, weil es Abweichungen in grundlegenden Fragen gibt. Augustinus wurde am 13. November 354 in Thagaste (Numidien) geboren. Sein Va- ter war ein städtischer Beamter. In Madaura und in Kathargo erfuhr er eine Ausbildung als Lehrer der freien Künste. Durch die Lektüre von Ciceros Hortensius fand er 373 Zu- gang zur Philosophie und schloss sich kurz darauf für neun Jahre den Manichäern an, zu denen er trotz gehöriger Zweifel auch noch in späteren Jahren Beziehungen pflegte. Im Jahr 386 lernt er Plotin in der lateinischen Übersetzung des Marius Victorinus kennen. Nach seiner Taufe 387 erhielt er 391 in Hippo Regius die Priesterweihe, wo er 396 Bi-

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schof wurde. Ebendort starb Augustinus am 28. August 430.132 Augustinus war ein lateinischer Gelehrter, der zu Lebzeiten niemals in den griechi- schen Osten gelangte. Zu den theologischen Schriften der griechischen Kirchenväter hat er vorwiegend durch die lateinische Übersetzung Zugang gefunden. Seine eigene Kennt- nis des Griechischen blieb auf einem geringen Niveau.133

Für Augustinus ist eine Herangehensweise an das Schöne und die Kunst wie die des Basi- leios undenkbar, weil er der Sinnenwelt nicht traut. In unserer Analyse beziehen wir uns wiederum auf die von Weitmann aufbereiteten Quellentexte. In den Soliloquia findet sich folgende Passage:

»RATIO (Vernunft): Jenes jedoch, das ich ›Täuschung‹ nenne, wird von Täuschenden bewirkt. Diese unterscheiden sich darin von Betrügenden, daß alle Betrügenden anstre- ben zu betrügen; aber nicht jeder will betrügen, der täuscht – denn sowohl viele Mimus-Spiele (mimus) wie auch Komödien und viele Gedichte sind voll von Täu- schungen, mit der Absicht, eher zu vergnügen als zu betrügen, und beinahe alle, die scherzen, täuschen.[…] Scheint dir etwa nicht dein Bild (imago) aus dem Spiegel gleichsam du selbst sein zu wollen, aber deshalb falsch zu sein, weil es das nicht ist? AUGUSTIN: Sehr scheint es so. RATIO: Was? Jedes Gemälde oder auch Götzenbild (simulacrum) irgendwelcher Art und dieser Art alle Produkte der Werkmeister – bemüht es sich etwa nicht, jenes zu sein, als dessen jeweilige Ähnlichkeit es gemacht ist? AUGUSTIN: Wiederum bin ich überzeugt. RATIO: Und auch die Phänomene, mit denen, sei es die Schlafenden, sei es die Wahn- sinnigen, betrogen werden, räumst du ein – wie ich meine – daß sie dieser Art seien? AUGUSTIN: Und nichts eher; [… ] RATIO: Was ferner sage ich mehr von der Bewegung der Türme oder auch vom einge- tauchten Ruder oder auch den Schatten der Körper? Es ist, wie ich annehme, offenbar, daß sie nach diesem Maßstab zu messen sind. AUGUSTIN: Ganz offenbar. RATIO: Ich schweige von den übrigen Sinnen, denn niemand, der nachdenkt, entdeckt nicht dies, daß wir in den Sachen selbst, die wir wahrnehmen, ›falsch‹ nennen, was versucht, etwas anderes zu sein und es nicht ist. AUGUSTIN: Recht sprichst du: Aber ich wundere mich, warum dir von dieser Art jede Gedichte und Scherze und die übrigen Betrügereien abzutrennen schienen? RATIO: Da es ja selbstverständlich eines ist, betrügerisch sein zu wollen, ein anderes nicht wahr sein zu können. Daher können wir die eigentlichen Werke der Menschen wie Komödien oder Tragödien oder Mimus-Spiele und andere dieser Art, mit den Wer- ken der Maler (pictor) und Bildhauer (fictor) verbinden. Es kann nämlich ein gemalter Mensch ebensowenig wahr sein, wenn er auch noch so sehr zur Gestalt des Menschen tendiert wie jene, die in den Büchern der Komiker beschrieben sind. Und sie wollen

132 Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, hg. von Theodor Klauser, Band I, Stuttgart 1950, 981ff. [Spaltenangabe] sowie Weitmann 1997, 20. 133 Vgl.: Weitmann 1997, 20 und Reallexion für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinander- setzung mit der antiken Welt, hg. von Theodor Klauser, Band I, Stuttgart 1950, 982 [Spaltenangabe].

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nämlich nicht falsch sein oder sind in irgendeiner ihrer Bestrebungen falsch, sondern gleichsam mit Notwendigkeit, soviel sie dem Belieben des Bildners (fingens) folgen können. […] AUGUSTIN: Was denn ist es? RATIO: Was glaubst du, wenn nicht, daß diese alle von daher in etlichem wahr sind, woher sie in etlichem falsch sind und zu ihrem Wahren das allein ihnen nützt, was zum anderen Falschheiten (falsus) sind? Weshalb sie zu dem, das sie entweder sein wollen oder müssen, in keiner Weise gelangen, wenn sie vermeiden, falsch zu sein. Unter wel- cher Bedingung wäre nämlich dieser, den ich oben erwähnt habe, ein wahrer Tragöde, wenn er nicht ein falscher Hector sein wollte, […]? Oder woher wäre es ein wahres Gemälde, wenn es nicht ein falsches Pferd wäre? Woher im Spiegel ein wahres Bild des Menschen (vera hominis imago), wenn nicht ein falscher Mensch (falsus homo)? AUGUSTIN: Ich [sehe] in diesem Beispiel nichts der Nachahmung Würdiges. […] sondern jenes Wahre ist zu suchen, das nicht gleichsam von doppelgesichtiger Ver- nunft und sich entgegen ist, so daß es einerseits wahr, andererseits falsch wäre. RATIO: Gewissermaßen große und göttliche Eigenschaften verlangst du. Von denen wir doch, wenn wir sie gefunden haben, gestehen werden, daß die Wahrheit selbst aus diesen angefertigt und gleichsam zusammengeschmolzen ist – wonach alles benannt wird, das in irgendeiner Weise wahr genannt wird? AUGUSTIN: Nicht ungern stimme ich zu.«134

Dieser Dialogausschnitt gibt einen guten Einblick in das Kunstverständnis des Augusti- nus. Auffällig ist zunächst seine fundamentale Skepsis gegenüber der sinnlichen Wahr- nehmung. Alles, was uns durch die Sinne zugänglich wird, gilt ihm per se als »falsch«, das heißt: »unwahr«. Dieses Misstrauen verheißt auch den Kunstwerken keinen guten Stand, denn hervorgegangen aus der Nachahmung eines sinnlich wahrnehmbaren Vorbil- des sind sie zwangsläufig dem Trügerischen anheimgegeben. Trotzdem erkennt Augusti- nus die Existenz eines Kunstraums an, innerhalb dessen die Fiktion eine gewisse Recht- mäßigkeit genießt. Ein Kunstwerk muss, um in seiner Sphäre als wahr zu gelten, förmlich ›falsch‹ sein. Durch die künstlerische Darstellung geschieht eine essentielle Verfälschung des Vorbildes, doch diese macht als Form gerade die Echtheit des Werks aus. Dieses Zugeständnis eines partiellen Wahrheitsmoments verrät, mit welch feinem Gespür Augustinus den Raum der Kunst betritt. Sein tiefer Zweifel an allem Sinnlichen veranlasst ihn zwar dazu, die Welt der Kunst als ganze abzuwerten, doch klingt in sein Argument bereits eine Qualität an, welche dem Kunstwerk erst in der Moderne zugespro- chen wird. Für Augustinus scheint schon im vierten Jahrhundert klar zu sein, dass die Kunst an der großen Aufgabe der Wiedergabe von Wirklichkeit schlechterdings scheitern muss, weil die Wahrheit des Bildes eine andere ist als die der Realität. Augustinus führt diesen Gedanken nicht weiter aus. Sein prinzipielles Misstrauen verbietet es ihm so weit zu gehen wie Basileios, der dem Werk bzw. dem Kaiserbild aufgrund einer gestalterisch hervorgebrachten Ähnlichkeit eine gleichwertige Wirksamkeit zusprechen konnte. Ganz im Sinne Platons müssen für Augustinus alle Kunstwerke minderwertig hinsichtlich des

134 Siehe: Soliloquia II 9, 16-10, 18 bzw. Weitmann 1997, 37f.

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vollkommenen Urbildes bleiben.

So sehr Augustinus alles Sinnliche beargwöhnt, so sehr schätzt er alles Vernunftmäßige. Auch das Schöne zeichnet sich seiner Auffassung nach zuvorderst durch eine rationale Struktur aus. Ein kurzer Abschnitt aus De ordine macht seine Sichtweise am Beispiel der Farbe und des musikalischen Klanges deutlich:

»[…] was aber die Ohren betrifft, ist schön zu nennen, wenn wir sagen, daß etwas ver- nünftig zusammenklingt (concentus) und daß der zahlenmäßige Gesang (cantus) ver- nünftig zusammengesetzt sei, was nun mit dem eigenen Namen ›Lieblichkeit‹ bezeich- net wird. Aber wir pflegen weder bei schönen Sachen vernünftig zu nennen, daß uns die Farbe verführt noch bei den Ohren Lieblichkeit, wenn die geschlagene Saite gleich- sam klar (liquidus) und rein (purus) tönt. Es bleibt also, daß wir im Ergötzen (voluptas) dieser Sinne das als zur Vernunft gehörig einräumen, wo eine Art von Ausmessung (dimensio) und dazu Takt ist.«135

Hier zeigt sich, wie sehr sich Augustinus gegen die bloße Lust an schönen Farben und Klängen sträubt. Es drängt ihn förmlich, die mathematisierbaren Qualitäten der Schönheit in den Vordergrund zu stellen. Nicht die Reinheit des Klanges und die Lieblichkeit der Farbe sind schön, sondern der vernunftmäßige Zusammenklang, der Takt oder eben das Kontrastgefüge, wenn wir diesen Gedanken auf die Malerei übertragen wollen. Schönheit kann nicht mit den Augen gesehen werden oder mit den Ohren gehört werden. Hierzu bedarf es des Geistes, weil er allein imstande dazu ist, die rationale Ordnung zu erkennen. Dieser intellektualistische Ausgangspunkt ist für die ästhetischen Äußerungen des Augustinus charakteristisch. Die Unmittelbarkeit des sinnlichen Eindrucks, die bei Basi- leios noch große Wertschätzung erfuhr, wird zurückgewiesen. Ausschlaggebend ist einzig das, was als Struktur oder Zahlenmäßigkeit ›mittelbar‹ durch den Geist erfasst werden kann. Besonders deutlich tritt jene Präferenz für die geistige Aktivität in der augustini- schen Theologie hervor. Anders als sein ostkirchlicher Gewährsmann Basileios entdeckt Augustinus in der Heiligen Schrift zuvorderst nicht die Aufforderung, sich der Schönheit der irdischen Welt gewahr zu werden, geschweige denn diese genießend zu erfahren; vielmehr richtet er seine Aufmerksamkeit auf die dort offenbarten unendlichen Wahrhei- ten, die nur durch eine allmählich in die Tiefe vordringende Exegese im Geist erschaut werden können. Augustinus kehrt seinen Blick fort von den äußeren Dingen hinein ins Innere der Seele, welche allein der Ort des wahren Glaubens ist. Diese augustinische Wendung zur ›geistigen Innigkeit‹ ist zugleich eine Wendung zur Transzendenz: Erst in einer jenseitigen Welt findet das christliche Heilsgeschehen in Form des ewigen Lebens Vollendung. Diese Akzentverschiebung vom Diesseitigen auf das Jenseitige wird für die Entfaltung des westlichen Christentums weithin prägend sein.

135 Siehe: De ordine II 11, 33 bzw. Weitmann 1997, 28.

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Aufgrund der detailgenauen ästhetischen Betrachtungen, die Augustinus anstellte, können wir schließen, dass er mit vielerlei Arten von Kunstwerken Umgang hatte. Ihr Existenzrecht zweifelte er trotz seiner tiefen Skepsis nicht an. Hierin ist bereits der selt- sam paradoxe Keim der abendländisch-christlichen Bildgeschichte zu entdecken: Dass es Bildwerke gibt, obwohl man sie eigentlich nicht gutheißen kann. Trotz oder gerade auf- grund eines starken Impulses der Anfechtung wird sich eine mannigfaltige Bildkultur Bahn brechen.

Der Bildbegriff des Westens: imago

Wenn Augustinus von Bildern spricht, verwendet er zumeist das lateinische Wort imago. Das ist der Bildbegriff, der für die Geschichte des Abendlandes maßgeblich sein wird. Doch was hat es mit imago auf sich? Woher kommt das Wort? Und: inwiefern gibt es essentielle Abweichungen vom griechischen eikon? Imago ist zwar die gängige Übersetzung des griechischen eikon, doch hat es bedeu- tungsmäßig andere Wurzeln. Heidegger weist in der oben zitierten Passage darauf hin, dass das lateinische imago dem Deponenz imitari verwandt ist, welches ›nachahmen‹ bedeutet. Auch Kurt Bauch bestätigt diesen Zusammenhang.136 Imago ist derjenige Bild- begriff in der lateinischen Sprache, der am umfassendsten Verwendung findet und ver- schiedene Arten von Bildern impliziert: Er meint das künstlerische Bild wie beispielswei- se ein ›Porträt‹ ebenso wie das schemenhafte Bild eines ›Schattens‹ oder eine ›Vorstel- lung‹. Er bezeichnet aber auch das Ahnenbild in Form einer ›Totenmaske‹ aus Wachs. Der Akzent liegt jedenfalls auf der Nachbildung und hebt insofern die mittelbare Rolle des Bildes bzw. seine Verhältnismäßigkeit in Hinsicht auf ein Original hervor. Ferner sind in der römischen Antike signum und simulacrum gebräuchlich, um das heidnische ›Götterbild‹ zu bezeichnen, während effigies zumeist das ›Bildnis‹ meint. Diese Begriffe sind aber in ihrem bedeutungsmäßigen Horizont längst nicht so weitläufig wie imago und erscheinen in der Summe erheblich seltener. Im christlichen Mittelalter ist imago das Wort für Bild.137 Imago setzt also ein Verständnis vom Bild voraus, das mit dem griechi- schen eikon in keiner Weise kongruent ist. Es ist nicht möglich, den Begriff imago letztgültig dingfest zu machen. Das wider- spräche schon der Lebendigkeit der Wortgeschichte selbst. Wohl aber lässt sich aus dem Kontrast zum griechischen eikon aufzeigen, in welchem Umfeld das ›lateinische Bild‹ beheimatet war und welche Zuständigkeiten ihm dort zugedacht waren. Platon tritt in unserer bisherigen Betrachtung als ein maßgeblicher Urheber der abendländischen Philosophie und Denkweise in Erscheinung. Als lateinisch-christlichen Nachfolger in ästhetischen Belangen haben wir ihm im Verlauf unserer Überlegungen den Kirchenvater Augustinus beigesellt. Beiden ist gemein, dass sie das Bild aus Gründen

136 Kurt Bauch setzt sich in seinem Aufsatz Imago eingehend mit der Bildgeschichte des christlich geprägten, lateinischen Mittelalters unter besagtem Terminus auseinander. Siehe: Kurt Bauch, Imago, in: Was ist ein Bild?, hg. von Gottfried Boehm, München 1994, 276 (fortan: Bauch Imago). 137 Vgl.: Bauch Imago, 276.

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seiner Geistes- bzw. Ideenferne geringschätzen. In Platons Augen ist der Maler am wei- testen von der Wahrheit entfernt, weil er sich in seinen Schaffen nicht an den Ideen, son- dern an der sinnlichen Erscheinung der Dinge orientiert. Augustinus folgt ihm auf dieser Linie, analysiert Probleme und Gefahren der Bildkünste, arrangiert sich allerdings mit ihrer Existenz ohne sie gänzlich zu verteufeln. Diese idealistische Linie, welche die Bilder permanent in Frage stellt, stößt im latei- nischen Westen nun auf die stark pragmatisch orientierte Denk- und Lebenskultur der Römer. Was dem ersten Anschein nach rein gar nicht zueinanderpassen will, wird im Lauf der Geschichte durch geschickte Umdeutungen und Akzentverschiebungen passig gemacht.

Seneca

Die nachahmende Malerei, der Platon als trügerischer Kraft vehemente Ablehnung entge- genbrachte, gewinnt bei den Römern eine gewisse Anerkennung, weil man sie nun in den Dienst an der Wirklichkeit – welche vor allem in der Natur erblickt wird - stellt. Man könnte sagen, Platons Ideenlehre wird etwas nahbarer und ›anwendungstauglicher‹ ge- macht. Keinesfalls zieht diese römisch-pragmatische Aneignung jedoch Platons Einfüh- rung einer hierarchischen Wirklichkeitsstruktur in Zweifel. Deutlich lesbar wird die latei- nische Umdeutung bei dem Stoiker Seneca, der als philosophischer Erzieher und Schrift- steller im ersten nachchristlichen Jahrhundert in Rom wirkte138. In seinem 58. Brief an Lucilius legt er sein Verständnis von der platonischen Idee dar:

»Was eine Idee (idea) ist, das heißt, was sie nach Platons Meinung ist, vernimm nun: ›Die Idee ist das ewige Vorbild (exemplar) dessen, was durch die Natur hervorgebracht wird.‹ Ich will zur Definition eine Deutung beigeben, damit Dir die Sache verständli- cher wird: Ich möchte ein Bild von Dir malen. Als Vorbild für mein Gemälde habe ich Dich, von dem mein Verstand irgendwelche Eigenheiten wahrnimmt, um sie in sein Werk einzubringen. So ist jene Erscheinung, die mich belehrt und informiert und von der sich meine Nachgestaltung (imitatio) herleitet, eine ›Idee‹. Demzufolge verfügt die Natur über zahllose Vorbilder von Menschen, Fischen und Bäumen, an denen sie alles, was sie erschaffen muß, ausrichtet. […] Kurz zuvor habe ich mich des Gleichnisses (imago) vom Maler bedient. Wollte jener ein farbiges Bild Vergils malen, würde er ihn lange ansehen. Die Idee wäre Vergils äußere Erscheinung, das Vorbild des künftigen Gemäldes. Was der Künstler dem Vor- bild entnimmt und in sein Werk einbringt, ist die ›Gestaltung‹ (idos). Worin der Unterschied liegt, fragst Du? Das eine ist das Vorbild, das andere die dem Vorbild entnommene und dem Werk zugrunde gelegte äußere Erscheinung. Sie ahmt der Künstler einerseits nach, andererseits erschafft er sie. Ein Standbild hat ein gewis- ses Aussehen (facies); das ist seine Gestaltung. Nun hat auch das Vorbild selbst, bei dessen Betrachtung der Meister das Standbild schuf, ein bestimmtes Aussehen: Das ist

138 Lucius Annaeus Seneca wurde um das Jahr 1 nach Chr. in Corduba geboren und starb 65 unweit von Rom. Die Epistulae morales ad Lucilium entstanden in den Jahren vor seinem Tod.

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die Idee. Wenn Du nun auch noch eine weitere Unterscheidung verlangst. Die Gestal- tung ist werkimmanent, die Idee außerhalb des Werks, und nicht nur außerhalb von ihm, sondern schon vor ihm da.«139

Indem Seneca die platonische Idee als natürliches Modell interpretiert, dem der Künstler durch einen Umwandlungsprozess zu bildlicher Gestalt verhilft, gelingt es ihm geschickt, eine Brücke über den Abgrund zu schlagen, die Idee und Kunstwerk bislang unüberwind- bar trennte. Hier rücken das Kunstwerk (idos) und damit auch das imago erstaunlich nahe an die idea heran – und dies gerade mithilfe der künstlerischen Nachahmung.

Plinius der Ältere

Ein Zeitgenosse Senecas, der als Staatsmann und Gelehrter seinerseits in Rom tätig war, ist Plinius der Ältere140. Im 35. Buch seiner Naturalis Historiae141, in der er das natur- kundliche Wissen seiner Zeit versammelt, kommt Plinius auch auf die Malerei zu spre- chen. Plinius‘ Interesse ist enzyklopädischer Natur. So trägt er in der Art eines Berichter- statters mit historischem Kennerblick alle Fakten zusammen, die dem Leser seinem Er- messen nach die Bewandtnis von Farben, Malerei und Plastik näherbringen. In diesem Zusammenhang kommt er auch auf den Anfang der Malerei und der Plastik zu sprechen – auch wenn er das eigentlich gar nicht will – und berichtet anekdotisch:

»Die Frage über den Ursprung der Malerei (pictura) ist ungeklärt und gehört nicht in den Plan meines Werkes. Die Ägypter behaupten, sie sei bei ihnen 6000 Jahre, ehe sie nach Griechenland kam, erfunden worden – offensichtlich eine eitle Feststellung; die Griechen aber lassen sie teils zu Sikyon, teils bei den Korinthern ihren Anfang nehmen, alle jedoch sagen, man habe den Schatten (umbra) eines Menschen mit Linien (linea) nachgezogen (circumducere); deshalb sei die erste Malerei so beschaffen gewesen, die nächste habe nur je eine Farbe verwendet und sei später die einfarbige (monochroma- ton) genannt worden, nachdem eine kunstvollere Malerei erfunden war; in dieser Weise besteht sie auch heute noch.«142

In einem fast beiläufigen Ton erzählt Plinius nüchtern und knapp den Gründungsmythos der Malerei: Sie sei durch das Nachzeichnen des Umrisses eines menschlichen Schatten- wurfs entstanden. Die lineare Kontur stelle insofern das erste zeichnerische Men-

139 Siehe: Seneca, Epistula 58, 19-21 in: Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, Band 1, hg. von Gerhard Fink, Düsseldorf 2007, 314-317. 140 Gaius Plinius Secundus Maior wurde 23 nach Chr. in Como geboren. Er kam bei dem Ausbruch des Vesuvs im August 79 in der Stadt Stabiae ums Leben. 141 Die Naturkunde (Naturalis Historiae) besteht insgesamt aus 37 Büchern. Sie befasst sich mit unter ande- ren mit den Gebieten: Kosmologie, Geologie, Anthropologie, Physiologie, Zoologie, Botanik, Ackerbau, Medizin, Pharmalogie, Mineralogie und bildende Kunst. 142 Siehe: Plinius d. Ä., Naturalis Historiae (Naturkunde), Buch XXXV, hg. von Roderich König, München 1978, V, 15 bzw. 20-23.

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schen(ab)bild dar. Wie selbstverständlich nimmt Plinius damit hin, dass die Bildkunst in der Nachahmung eines natürlichen Modells wurzelt und dass diese Nachahmung zuvor- derst auf der zeichnerischen Linie basiert. Die Farbigkeit spielt eine untergeordnete Rolle. Die eindimensionale Linie wird mitsamt der Fläche, die sie umgibt, zum Repräsentanten einer dreidimensionalen, körperlichen Wirklichkeit. Auch für den Ursprung der Plastik spielt die Linie eine maßgebliche Rolle. Plinius fährt fort:

»Mit einem Erzeugnis des gleichen Erdmaterials erfand in Korinth der Töpfer Butades aus Sikyon als erster ähnliche Bilder (similitudines) aus Ton zu formen, und zwar mit Hilfe seiner Tochter, die aus Liebe zu einem jungen Mann, der in die Fremde ging, bei Lampenlicht an der Wand den Schatten seines Gesichtes (facies) mit Linien umzog; den Umriß füllte der Vater mit daraufgedrückten Ton und machte ein Abbild (typus), das er mit dem übrigen Tonzeug im Feuer brannte und ausstellte.«

Hier referiert Plinius im Grunde dasselbe metaphorische Argument: Wieder ein Schatten- riss, wieder ein natürliches Bild, das in ein handgemachtes verwandelt wird – freilich ohne große künstlerische Dreingabe. Doch entsteht die Profilkontur des jungen Mannes diesmal nicht durch das Nachziehen des Umrisses, sondern durch das plastische Ausfül- len der Schattenfläche mit Ton. Zudem spricht Plinius hier den Zweck an, welchem das Relief dienen soll. Entscheidend hierfür ist der Begriff similitudo, der Ähnlichkeit bedeu- tet. Der bald abwesende Geliebte wird gemäß seiner realen Gesichtszüge zur Erscheinung gebracht, damit sich die Zurückgebliebene seiner erinnern kann.

Die ›Indienstnahme‹ des Bildes im Westen anhand von Beispielen

Damit ist auch die Verweisfunktion angesprochen, welcher das hergestellte Bild obliegt. Das Bild erlangt keine Eigenständigkeit; vielmehr gewinnt es seine Kraft aus der Relation zum wirklichen Vorbild, das als Bezugsgröße ausschlaggebend bleibt. Die größtmögliche Echtheit gerät zum vordergründigen Gestaltungskriterium. Anders als das eikon, welches die ›leibhaftige‹ Gegenwart des Abwesenden durch eine gestaltete Äquivalenz hervor- bringt, scheint das lateinische Bild den Akzent auf die Abwesenheit zu setzen, die im Bild spürbar wird. Die Richtungstendenz ist hier genau umgekehrt: Es geht beim imago nicht um die unmittelbare Gegenwart der Darstellung bzw. des Dargestellten als vielmehr um die ›Re-präsentation‹ oder ›Wiedergabe‹ derselben. Diese Akzentverlagerung stellt einen feinen aber entscheidenden Unterschied zwischen dem griechisch-östlichen und dem lateinisch-westlichen Bild dar. Auch im weiteren geschichtlichen Verlauf wird die Bildkunst des Abendlandes den Akzent auf dem Abwesenden belassen. Sie wird gewissermaßen in seinen Dienst gestellt. Dafür findet sie verschiedene Formen: Man denke an die facettenreiche Memorialkunst, die bereits in der römischen Antike – als der Polytheismus in hoher Gunst steht – ihren Anfang nimmt. Hier werden mitunter Sarkophage, Säulen und Triumphbögen mit auf- wendigen Reliefs ausgestaltet, welche die tugendhaften Leistungen und staatstragende Taten des Verstorbenen als storia – als Erzählung – in Erinnerung rufen.

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Augustus von Primaporta

Welch große Bedeutung ein tüchtiges und verdienstvolles Handeln zu Lebzeiten für die Römer hatte, offenbart beispielhaft die Panzerstatue des AUGUSTUS VON PRIMAPORTA, die um 20 v. Chr. entstand. Barfüßig und mit erhobenem Arm steht der Kaiser mit zu- gleich ernster und bedächtiger Miene in kontrapostischer Haltung da [Abb. 9]. Unser Augenmerk gilt der feingliedrigen Ausgestaltung seines Brustpanzers [Abb. 10]. In der Forschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass im Zentrum des Panzers die Übergabe der Feldzeichen des Parherkönigs an einen Vertreter der römischen Legionen dargestellt ist. Die Statue wurde unmittelbar nach diesem diplomatischen Sieg gefertigt. Die Szene der Übergabe wird von zwei bekümmert dasitzenden Frauenfiguren gesäumt, welche je die unterworfenen (ohne Schwert) bzw. die ›bloß‹ gedemütigten, und deswegen tributpflichtigen Völker (mit Schwert) repräsentieren. Desweiteren wird das historische Ereignis von verschiedenen Gottheiten – darunter der Himmelsgott Caelus, die Erdgöttin Tellus, Diana und Apoll – in schwebender Konstellation eingefasst, um es als ein göttlich gefügtes in Erscheinung treten zu lassen.143 Das vordringliche Thema der skulpturalen Gestaltung ist der triumphale Sieg des Kaisers, der hier als Götterspross auftritt.

Wenn wir in diesem Zusammenhang an einen ganz andersartigen Helden, nämlich den griechischen Kouros Kleobis denken, wird deutlich, auf welch unterschiedlichen An- schauungen und Denkweisen die bildnerische Gestaltung jeweils beruht. Einem griechi- schen Bildhauer des sechsten bzw. fünften vorchristlichen Jahrhunderts wäre es niemals eingefallen, einer historischen Begebenheit derart buchstäblich zu huldigen. Er suchte die Möglichkeiten des Ausdrucks allein in der Proportion des Körpers selbst zu finden. Spannung erreichte er durch die Anordnung und Haltung der Körperteile zueinander und in Relation zur Horizontalen und Vertikalen. Die Figur verstand er gewissermaßen als Ensemble – als ganzheitliches Gefüge der Elemente. Freilich schuf auch der griechische Bildhauer die Skulptur nicht ohne einen vorgegebenen Zweck – so wurden die Kouroi in Heiligtümern oder auf Grabhügeln aufgestellt.144 Doch handelten diese Statuen junger kraftvoller Männer nicht explizit von den Verdiensten des Verstorbenen. Wir rufen uns Kleobis und seinen Bruder Biton ins Gedächtnis: Diese konnten nur aufgrund der Inschriften auf ihren Plinthen identifiziert werden. Die Legende ihres Hel- dentums ging aus ihrer plastischen Gestaltung nicht hervor. Während das Leben im Ge- sicht des Augustus sichtbar Spuren hinterlassen hat, die in den tiefernsten Augen unter- halb der gesenkten Brauen, der in Falten gelegten Stirn unter den wulstigen Stirnlocken, der breiten Kinnzone sowie dem schmal angespannten Mund mit den eingekerbten Win- keln Ausdruck finden, lächeln Kleobis und Biton auf eine seltsam unspezifische Weise ihr breites archaisches Lächeln. Augustus wird als ein ganz bestimmter – man könnte beinahe sagen ›individueller‹ – geschichtsträchtiger Mann inszeniert, dem Ehre gebührt. Sein Porträt ist durch die Ausübung politischer Macht gezeichnet. Kleobis und Biton hingegen sind in ihrem kraftstrotzenden Dastehen die jungen Helden, die sie sind – als

143 Vgl.: Paul Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, München 1987, 192ff. Zank stellt in diesem Zu- sammenhang auch die motivische Nähe heraus, die zwischen der ikonographischen Gestaltung des Panzers und der Dichtung des Horaz besteht. 144 Vgl.: Fußnote 103.

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seien sie immer wieder aufs Neue bereit, die heroische Tat zu vollbringen, anstelle der Zugtiere den Wagen ihrer Mutter in Windeseile auf die Anhöhe des Heratempels zu brin- gen. Ihrer Gestalt haftet etwas zeitlos Gültiges an – eine merkwürdige Aktualität. Das Abwesende spielt im lateinischen Westen insofern eine entscheidende Rolle, als dass es der Grund und zugleich auch die Legitimation für die Bildnerei selbst ist. Die Erinnerung wird durch ein Standbild wie das des Kaisers – das hier durchaus wörtlich als ›Denkmal‹ zu verstehen ist – wie durch einen Katalysator in Gang gesetzt. Deswegen gerät die phänomenale Authentizität zu einem wichtigen Gestaltungskriterium. Die Statue des AUGUSTUS VON PRIMAPORTA soll die pietas, die staatstragende Frömmigkeit des ersten römischen Imperators verkörpern. Sie funktioniert als erzählendes ›Abbild‹ der historischen Person – besonders das Gesicht des Kaisers wirkt so, als sei es von einem wirklichen abgenommen, wenngleich allzu persönliche Züge in der plastischen Ausge- staltung zurückgehalten werden.

Das Bildereignis von Giotto und die neue Zeit

Memoria und storia sind im Westen untrennbar miteinander verwoben: Wenn wir uns erinnern, geschieht das innerhalb eines erzählerischen Zusammenhangs. Bildnerisch funktioniert das beispielweise so wie in der eben vorgestellten Reliefszenerie auf dem kaiserlichen Brustpanzer. Dieses Wiedererinnern einer geschichtlichen Begebenheit mit- hilfe einer bildlichen Darstellung wird weit über die Antike hinaus eine entscheidende Aufgabe der Kunst im Abendland bleiben. Besonders deutlich tritt diese Zuständigkeit in der italienischen Renaissance zutage. Nach wie vor bildet die christliche Lehre im Quatt- ro- und Cinquecento die weltanschauliche Grundlage und bleibt insofern auch für die Malerei die verbindliche Bezugsgröße. Szenen und Ereignisse der Heiligen Geschichte gehören weiterhin zum vorherrschenden Themenrepertoire des Renaissancekünstlers, doch macht sich dieser nun daran, Muster und rhetorische Strategien zu entwickeln, wel- che das Bild dazu befähigt, die Geschichte selbstständig zu erzählen. Meisterlich zeigt dies Giotto bereits um 1305 in der Arenakapelle zu Padua. Drei übereinander gestaffelte Freskenbänder, die das Innere des rechteckigen Raumes ›ein- spannen‹, stellen Szenen aus dem Leben der Maria und dem Leben Jesu dar. Jede einzel- ne Begebenheit ist durch einen ornamentierten Rahmen eingefasst, der sie von der vorhe- rigen bzw. späteren Szene trennt und zugleich mit ihr verbindet. Und auch zwischen den Freskenbändern selbst kommt es zu Korrespondenzen, die durch den Rhythmus der hori- zontalen und vertikalen Ornamentleisten aktiviert werden. So wird der ganze Innenraum durch das Freskenprogramm zugleich visuell und narrativ organisiert. Für jede Szene erfindet Giotto eine spezifische kompositorische Anlage, welche als komplexes Gefüge aus Formen, Farben, Richtungstendenzen und Raumzusammenhängen145, das heilige Er- eignis einprägsam zur Darstellung bringt. In der FLUCHT NACH ÄGYPTEN [Abb. 11] zeigt Giotto im Zentrum Maria, wie sie mit dem kleinen Jesusknaben auf dem Schoß auf einem Esel reitet. Joseph schreitet mit einem jungen Mann voran, welcher den Esel zieht. Drei weitere Jünglinge bilden eine Art Gefolgschaft. Ihre Mienen und Gesten verraten, dass sie sie sich darüber verständigen, weshalb sich das Paar mit dem kleinen Kind auf der Flucht

145 Vgl.: Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik, München 1980, 8.

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befindet. Man geht zügigen Schritts, jedoch ohne Hast. Die Bodenzone steigt entspre- chend der Bewegungsrichtung des Zuges von links nach rechts leicht an. Die zentral plat- zierte Maria mit dem Jesusknaben wird von der Kontur eines steilen Felsens eingefasst und akzentuiert. Die Muttergottes ist gewissermaßen der organisierende Fixpunkt der Darstellung – und das in mehrerlei Hinsicht: In ihrer linken Kontur manifestiert sich, unterstrichen durch die Falten des herabhängenden Gewandes, die Vertikale als mittlere Bildachse. In ihr nimmt die Interaktion zwischen Formen, Farben und Richtungen ihren Ausgang. Das strenge Profil markiert abermals den Bewegungsablauf von links nach rechts. Das kräftige Mittelblau ihres Mantels – von dem im heutigen Zustand nur noch kleine Flecken zeugen – erscheint in der breiten Himmelszone oberhalb der Felsgipfel von Neuem, wohingegen das Rot ihres Kleides im Gewand eines nachfolgenden Jüng- lings wieder auftaucht. Joseph dreht sich zu ihr zurück, um Blickkontakt aufzunehmen und auch der umherschweifende Blick des Betrachters kehrt von seinen Erkundungen des Bildraumes immer wieder zu ihr zurück. Die biblische Erzählung von der Flucht nach Ägypten ist das inhaltliche Fundament des Bildes, doch verfährt Giotto in seiner maleri- schen Arbeit keinesfalls illustrativ. Vielmehr schafft er eine bildliche Struktur, welche das Ereignis in die Sichtbarkeit überführt.146 Matisse ist von Giottos Fresken, die er auf seiner Italienreise im Jahr 1907 besichtigt, überwältigt. In den Notizen eines Malers von 1908, auf die wir im weiteren Verlauf ausführlich zu sprechen kommen werden, betont Matisse die unmittelbare bildliche Wirkung, die aus den »Linien«, der »Komposition« und der »Farbe« der Fresken hervorgehe.147 Ihre Gegenwartskraft schätzt Matisse höher als jedes narrative Vermögen.

Allmählich gewinnen auch säkulare Interessen an Bedeutung: Es ist die Epoche der mächtigen Patrizierfamilien wie den Florentiner Medici, die durch Bankgeschäfte und Handel große Reichtümer anhäufen. Sie erringen politischen Einfluss und machen diesen vor allen Dingen gegenüber der Kirche geltend. Wichtige kirchliche Ränge bis hin zum höchsten Priesteramt – dem des Papstes – werden über Generationen hinweg aus ihren Reihen gestellt. So gab es immer eine kirchliche Instanz auf oberster Ebene, welche die weltlichen Interessen der Familie im Auge behielt. Darüber hinaus erwacht eine regelrechte Gier nach neuem Wissen, die den Horizont der bislang maßgeblichen theologischen Bildung übersteigt. Es entwickelt sich eine weit- reichende Lust am Forschen. Das antike Wissen wird wiederentdeckt und angewandt, um weiterzuschreiten. In der neuen Zeit will man die Welt bis in jedes Detail auskundschaf- ten. Die großen Entdeckungsreisen fallen nicht zufällig in diese Epoche. So gelingt 1492 dem Genueser Seemann Christoph Kolumbus im Dienste Spaniens die Wiederentdeckung des amerikanischen Kontinents, wenngleich er sich bis zu seinem Lebensende nicht be- wusst war, was für ein Land er da eigentlich entdeckt hatte. Neue Kontinente und Ozeane werden erschlossen, nie gesehene Arten von Pflanzen und Tieren registriert, faszinierende Apparaturen und Gerätschaften erfunden.

146 Vgl.: Max Imdahl, Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur (1979), in: Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3, hg. von Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1996, 424. 147 Siehe: Flam 1982, 75.

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Leonardo da Vinci: Visualisierung

Leonardo da Vinci (1452-1519) ist der große zeichnende Forscher und Experimentator der neuen Epoche: In seinen Blättern seziert er Körper, besieht verschiedenartige Struktu- ren wie beispielsweise strudelnd-wirbelnde Wasseroberflächen [Abb. 12], entwickelt fantastische Maschinerien. Zugleich malt er Bilder, die klassisch christliche Themen zur Darstellung bringen, erwähnt seien an dieser Stelle nur seine zahlreichen Madonnendar- stellungen und das ABENDMAHLSFRESKO im Refektorium der Konventskirche Santa Ma- ria delle Grazie in Mailand. Auf den ersten Blick mögen die unzähligen Skizzen und Zeichnungen, welche aus einer beinahe obsessiven Naturbeobachtung hervorgehen, nicht recht mit den konventionellen ikonographischen Szenen seiner Gemälde und Fresken zusammengehen. Doch Leonardos unablässiges Ringen darum, Strukturen aus der Natur sichtbar zu machen, findet ebenso eindrucksvoll Eingang in die Farbgebung und Formen- sprache seiner malerischen Werke. Wenngleich hier nicht der Raum ist, auf das Bildden- ken Leonardos tiefer einzugehen, so sei doch beispielhaft auf einige seiner malerischen Errungenschaften hingewiesen. Leonardo hat niemals nur ein gestalterisches Problem im Auge. Sein Interesse ist immer ein universelles, weshalb er die malerischen Ausdrucks- möglichkeiten an auf verschiedentliche Weise erprobt. Umfänglich geht es ihm jedoch jeweils um die Plausibilität einer natürlichen Dar- stellung: Ob es sich um die Lockenpracht JOHANNES’ DES TÄUFERS [Abb. 13] handelt, die er mit ebensolch akribischer Sorgfalt herausstilisiert wie die Wirbel und Spiralen des bewegten Wassers in seinen Zeichnungen148, oder um eine weit entfernte bergige Land- schaft, an der er eine auf der realen Wahrnehmung beruhende atmosphärische Unschärfe bemerkt, je weiter sie in die Ferne weicht. Für diesen Effekt erfindet Leonardo das sfu- mato, jenen blass-rauchigen, verblauenden, malerischen Dunst aus weißlichen Lasuren, in den er die Landschaft taucht. Auch vermag es Leonardo, seinen weiblichen Figuren eine besondere Sanftheit zu verleihen. So zärtlich und mild blickend hat selten zuvor eine Muttergottes das Jesuskind gehalten, ohne dabei kitschig oder frömmelnd auszusehen. Leonardo erweist sich im Rahmen unserer Überlegungen als gewinnendes Beispiel für einen abendländischen Künstler, weil er die malerischen und zeichnerischen Grenzen auslotet, um ein Bild der Wirklichkeit hervorzubringen, das ihre Kräfte und Energien aufdeckt. So viele Freiräume er den Künsten und im Besonderen der Malerei auch er- schließt, er weicht in keinem Moment von seinem Vorbild, der Natur zurück – stellt sich in ihren Dienst. Auch Leonardo ist unter diesem Blickwinkel als ›nachahmender‹ Künst- ler aufzufassen, weil er die Kunst auf universelle Weise als ›Mittel‹ zur Sichtbarmachung gebraucht. Er selbst vergleicht die die Tätigkeit des Malers mit der eines aufmerksamen Spiegels:

148 Leonardo selbst notiert um 1513 zu einer Zeichnung, die sich in der Royal Library in Windsor befindet (fol. 12579): »Achte auf die Bewegung des Fells des Wassers, es ist wie das Haar, das zweierlei Bewegungen hat, die eine folgt dem Gewicht der Mähne, die andere den Linien der Wellen. So hat das Wasser die Wellen seiner Wirbel, ein Teil davon folgt dem Schwung der Hauptströmung, der andere der aufschlagenden und rückprallenden Bewegung.« Siehe: Pietro C. Marani, Leonardo, Das Werk des Malers, München 2001, 311.

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»Der Geist des Malers muß dem Spiegel ähnlich werden, der, ständig wechselnd, die Farbe dessen annimmt, das vor ihm steht und sich mit ebensoviel Abbildern füllt, wie er Gegenstände vor sich hat. Du weißt also, Maler, daß du nur gut sein kannst, wenn du, als universaler Meister, alle mannigfaltigen Formen nachahmst, die die Natur her- vorbringt, was dir aber nicht gelingen wird, wenn du sie nicht vorher ansiehst und in deinem Geist abbildest.«149

Pietro Perugino: ›An-dachts-bild‹

Ein Zeitgenosse und Freund Leonardos beschreitet als Maler einen anderen Weg. Pietro Perugino (1448-1523), der gemeinsam mit Leonardo bei Verrocchio in die Lehre ging, widmet seine Malerei beinahe ausschließlich christlichen Themen. Ähnlich wie Leonardo geht es Perugino darum sichtbar zu machen. Allerdings verfolgt seine ›Visualisierung‹ andere Ziele als die Freisetzung von Kräften und Energien der Natur. Perugino sucht nach Möglichkeiten, die Heilige Geschichte hervorzurufen, und zwar nicht – wie man zunächst meinen möchte – ›in‹ den Bildern selbst, sondern tatsächlich ›durch‹ die Bilder hindurch. Auch er setzt die Malerei auf seine Weise als ›Mittel‹ ein, nimmt sie in Dienst:

Auf der PALA CHIGI [Abb. 14], die Perugino für den Altar in der Familienkapelle des Bankiers Chigi in der sienesischen Kirche Sant‘ Agostino anfertigt, ist eine Kreuzigung dargestellt. Der Bildraum des Hochformats ist geteilt. In der unteren Hälfte befinden sich acht heilige Personen, darunter die Mutter Maria, Maria Magdalena und Johannes der Täufer. Über jedem von ihnen kreist ein sphärischer Nimbus als schmal glänzender Ring. Die Heiligen am Fuße des Kreuzes befinden sich in einer hügeligen Landschaft. Zierliche Bäume, ein See und Berge sind zu erkennen. Darüber hinaus wird der Ort der Handlung nicht weiter bestimmt. Allen Heiligen ist gemein, dass sie auf merkwürdige Weise in sich gekehrt und isoliert wirken. Kein einziger von ihnen nimmt Blickkontakt mit dem Be- trachter auf, im Gegenteil die Blicke driften hinfort, vorbei, nach oben, zur Seite, auf den Boden, ohne jedoch etwas zu fokussieren. Die Pupillen sind nicht einmal frontal ausge- richtet, sondern immerzu aus der Zentralstellung herausgerückt.

In der oberen Bildhälfte geht es ähnlich isoliert zu. Hinein in den halbdämmrigen Him- mel, der oberhalb der zartblauen Silhouette des bergigen Horizonts beginnt, ragt das hohe Kreuz, an das der Heiland geschlagen ist. Sein Haupt ist gesenkt, ebenso seine Augen. Der nackte Körper, um dessen Lenden ein Leinentuch geschlungen ist, sieht müde und blass aus. Die Spuren der Peinigung kommen nur verhalten zum Ausdruck. Die Wunde unter der rechten Brust blutet leicht. Zwei Engel zur Linken und Rechten des Gekreuzig-

149 Siehe: Leonardo da Vinci, Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, hg. Von André Chastel, aus dem Italienischen und Französischen übertragen von Marianne Schneider, München 1987, 164. Einige Sätze später gibt Leonardo allerdings zu bedenken: »Der Maler, der mit Routine und nur dem Auge nach malt, aber ohne nachzudenken, ist wie der Spiegel, der alles vor ihm Befindliche abbildet, ohne etwas davon zu wissen.« Leonardo fordert vom Maler ein aktives und kritisches Bewusstsein. Von einer uninspirierten Malerei, die nur passiv wiedergibt, will er nichts wissen. Siehe ebd., 165.

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ten fangen das Blut, das aus den genagelten Handflächen tropft, in einem goldenen Kelch auf. Auch ihre Blicke fliehen davon. Oben auf dem Kreuz befindet sich als Symbol für die Wiederauferstehung eine Art Nest, in dem ein Pelikan seine Jungen füttert.150 Die gesamte Kreuzigungsszene ist symmetrisch angeordnet. Die Heiligen figurieren sich entsprechend ihrer aufrechten oder knienden Haltung spiegelbildlich um das Kreuz, und auch die Engel – neben den beiden Engeln gibt es noch vier körperlose Engelsgesich- ter – fügen sich in diese geometrische Ordnung. Der bergige Horizont trennt die irdische von der himmlischen Sphäre auf mittlerer Höhe. Damit schafft Perugino ein eindringli- ches Schema, um das Kreuzigungsgeschehen zu organisieren: Der Gekreuzigte ist in der Himmelszone platziert, die ihn von den ›irdischen‹ Heiligen örtlich abhebt; das Kreuz steigt von unten hinauf. Die ›Wieder-auf-Erstehung‹ ist somit bereits auf einer fundamen- tal kompositorischen Ebene angelegt – höchst konkret und zugleich bestechend einfach. Ganz oben, zur Linken und Rechten des Kreuzes erscheinen Sonne und Mond, die eine zyklische Bewegung suggerieren. Nach jeder Nacht beginnt von Neuem ein Tag. Und so wird auch Christus wiederkehren. Die dominante Strukturkraft des Bildraumes korrespondiert auf eigentümliche Wei- se mit den in sich versunkenen Bildfiguren: Wenn wir ihre Gesichter näher betrachten, bemerken wir, dass in keinem von ihnen – nicht einmal in dem des Gekreuzigten – die Züge individuell ausgestaltet sind. Alle Gesichter bleiben einer allgemeingültigen Typik verhaftet, die eine persönliche Charakterzeichnung ausspart. Michael Baxandall hat sich in seinem Buch Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts151 umfassend mit den Bildkonventionen in der italienischen Renaissance auseinandergesetzt. Er widerlegt das vorherrschende Klischee vom ›autonomen‹ Renais- sancekunstwerk und stellt heraus, dass gerade in der religiösen Malerei eine offene Inter- aktion von Bild und Betrachter üblich war, was er im Besondern für die Arbeiten Perugi- nos geltend macht. Baxandall weist darauf hin, dass der Maler seinen Betrachter immerzu als »aktive Instanz der inneren Visualisierung«152 mitzubedenken hatte. Denn jeder from- me Gläubige war darin geübt, sich die Heilige Geschichte mittels geistiger Übungen zu vergegenwärtigen. Es gab sogar Handbücher, die Anweisungen für den Imaginationsakt gaben.153 Hierdurch wird auch verständlich, weshalb Perugino seine Figuren als allgemei- ne Typen darstellt. Für die individuelle Ausgestaltung war die Vorstellungskraft jedes einzelnen Betrachters zuständig. Eine detaillierte Charakterzeichnung wäre als dominan- ter Eingriff in den Spielraum des Betrachters empfunden worden. So klingt hier jene ›geistige Innigkeit‹ an, die Augustinus im westlichen Christentum stark gemacht hat: Der Glauben ist Angelegenheit der Seele und damit in erster Linie geistige Aktivität. Das religiöse Gemälde stand also keinesfalls hermetisch für sich. Die PALA CHIGI kann wörtlich als ›An-dachts-bild‹ verstanden werden, denn Perugino ging es nicht da- rum, das Kreuzigungsereignis im Bild vollständig sichtbar und gegenwärtig zu machen.

150 Im Physiologus wird die Fähigkeit des Pelikans beschrieben, seine rechte Brust zu öffnen, um mit dem ausströmenden Blut seine toten Jungen zum Leben zu erwecken. Deswegen wird der Pelikan in der christili- chen Ikonographie als Symbol für die Erlösung durch den Opfertod Christi gedeutet. Vgl.: Hannelore Sachs u.a.: Wörterbuch der christlichen Ikonographie, Regensburg 2004 (8. Auflage), 289f. 151 Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Wolten/Wien 1988 (fortan Baxandall 1988). 152 Siehe: Baxandall 1988, 61. 153 Vgl.: Baxandall 1988, 60ff.

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Vielmehr war er darauf bedacht, die individuellen Vorstellungen des Betrachters in Gang zu setzen und diese mithilfe der Strukturkraft seiner Bildanlage zu ordnen. Insofern kann man sagen, dass hier die Malerei von ihrer potenziellen Gegenwärtigungskraft suspen- diert wird. Für unsere Betrachtung ist die Tatsache entscheidend, dass auch Perugino in seiner Malerei den Akzent auf dem Abwesenden belässt und sich damit als Repräsentant der westlichen Malerei empfiehlt. Subtext der malerischen Darstellung ist die christliche Heilsgeschichte, in deren Zentrum die Kreuzigung steht. In keinem Moment emanzipiert sich das Bild davon. Peruginos PALA CHIGI ist ein feinsinnig kalkuliertes visuelles Medi- um, welches mithilfe der geistigen Tätigkeit des Betrachters das heilige Geschehen sug- geriert.

Fazit: Ikonisches versus abendländisches Bildverständnis

Die bisher angestellten Überlegungen und Betrachtungen erlauben es nun, wesentliche Kriterien zu benennen, welche das ikonische bzw. das abendländische Bildverständnis charakterisieren und von einander unterscheidbar machen. Das ikonische Bildverständnis wurzelt tief in der griechischen Denkweise, die von einer großen Sympathie zur sinnlichen Welt getragen ist. Diese ist bereits in der Sprache verankert. Die Wirklichkeit der Dinge wird in der Spannung erfahrbar, die ihnen inne- wohnt – zwischen Verborgenheit und Unentzogenheit (alethéia). Die Fähigkeit der Dinge sich zu offenbaren, wäre ohne den anderen, defizitären Modus der Entzogenheit gar nicht möglich. Auch die bildnerischen Werke, die eikones, können nur deswegen leibhaftig in Erscheinung treten, weil sie in sich jene ambivalente Spannungskraft tragen. Dabei ist es ganz gleich, ob es sich um eine archaische Skulptur wie den Kleobis handelt, oder um eine byzantinische Ikone. Die eigentümliche Unmittelbarkeit, welche sie auszeichnet, gewinnen sie durch jenes Hervortreten aus dem Verborgenen – aus einer Distanz. Zudem konnten die ästhetischen Äußerungen des Kirchenvaters Basileios belegen, dass etwas von diesem urgriechischen Grundvertrauen in die Sinnenwelt auch im griechisch- orthodoxen Christentum überdauert hat – und dies aller Anfeindungen durch die Bilder- stürmer zum Trotz. Die byzantinische Ikone ist vor aller zeremoniellen und kultischen Vereinnahmung zuallererst ein höchst eigenständiges Bildwerk, das aufgrund seiner eingängigen Struktur aus Formen, Farben und Richtungszusammenhängen, die sich immerfort an der Horizon- talen und Vertikalen justieren, ihre besondere Wirksamkeit entfaltet: Sie bringt Gegen- wart hervor. Eine Ikone zelebriert in einem ganz buchstäblichen Sinn, die diesseitige Pracht der Schöpfung Gottes.

Im Westen hingegen begegnet man dem Bild von Beginn an mit größerer Skepsis. Jede Form von Sinnlichkeit wird kritisch betrachtet. Alle Einwände, die man dem Bild entge- genbringen kann – sei es das alttestamentliche Bilderverbot oder die platonische Ideen- lehre – bleiben über die Zeiten hinfort dominant. Wenn Bilder gemalt werden, dann müs- sen sie sich immer gegenüber einer Anfechtung behaupten. Dies führt dazu, dass die

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Bildkunst fortwährend herausgefordert ist, sich ins Recht zu setzen, weshalb sie sich in den Dienst einer ›höheren‹ Sache nehmen lässt. Den Römern ist dabei die Leistung zuzusprechen, die transzendente platonische Idee nahbarer und damit auch für die Kunst zugänglich gemacht zu haben. Künstlerische Nachahmung ist nicht mehr länger ein trügerischer Abklatsch der Wahrheit, sondern er- möglicht wirklichkeitsgetreue Wiedergabe. Die Kunst wird ein Mittel der Repräsentation. Ganz gleich, ob sie die pietas des großen Kaisers Augustus verkörpert, oder wie im Falle Peruginos die Heilige Geschichte mithilfe eines ›An-dachts-Bildes‹ suggeriert: Immer existiert als Referenzebene eine höhere Idee, die im Bilde nicht gänzlich erfahrbar wird. Der Akzent liegt auf der Abwesenheit derselben. Die abendländischen Künstler entwickeln verschiedene Strategien, um diese Ideen durch das Bild zu transportieren. Selbst die Werke des großen Experimentators Leonardo halten an einer gewissen Mittelbarkeit fest. Sie bleiben im Dienst der sichtbaren Wirk- lichkeit. In der Passage eines Briefes, den Raffael im Jahr 1515 an den Grafen Baldassare Castiglione schreibt, wird deutlich, dass der Maler nun wie selbstverständlich auf die einst so weltentfernte, transzendente Idee Platons zugreift. Für Raffael ist es keineswegs mehr widersinnig, die im Geiste sich formende Idee in eine bildliche Gestalt zu überfüh- ren. Vielmehr ist es Ziel der künstlerischen Arbeit, der Idee möglichst nahe zu kommen, um ihr im Bilde eine glaubhafte und eindringliche Form zu erfinden. Diese Verfahrens- weise zieht er offensichtlich der aufwändigen Modellsuche in der realen Welt vor:

»Übrigens muß ich Euch sagen, daß ich, um eine Schöne zu malen, deren mehrere se- hen müßte; und zwar unter der Bedingung, daß Ew. Herrl. sich bei mir befände, um ei- ne Auswahl der Allerschönsten zu treffen. Da nun aber immer Mangel an richtigem Ur- teil wie an schönen Frauen ist, bediene ich mich einer gewissen Idee, die in meinem Geist entsteht. Ob diese nun einige künstlerische Vortrefflichkeit in sich trägt, weiß ich nicht; wohl aber bemühe ich mich, sie zu erreichen. Und damit empfehle ich mich Ew. Herrlichkeit.«154

Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein wird die Bildkunst ihrer Aufgabe, verbindliche Wertesysteme zu repräsentieren, die vorrangig durch die kirchlichen und weltlichen Herr- schaftsinstitutionen bestimmt werden, nicht verlustig gehen. Erst mit dem Anbrechen der Moderne, wenn mit einem Mal die geltende Weltordnung samt ihren Werten ins Taumeln gerät, wird sich die Bildkunst aus dieser instrumentellen Vereinnahmung lösen können. Spätestens Ende des 19. Jahrhundert ist die Epoche der großen Monarchien vorüber. Im Zuge der allmählichen Demokratisierung Westeuropas verliert auch die Kirche an Ein- fluss. Frei von jeder dienstbaren Funktionalität muss sich die Malerei nunmehr selbst ihren Ort und ihre Notwendigkeit erringen, was unter der Künstlerschaft mitunter große Ratlosigkeit verursacht.

154 Raffael an den Grafen Castiglione (Rom, 1515), in: Hermann Uhde-Bernays (Hrsg.), Künstlerbriefe über Kunst. Von der Renaissance bis zur Romantik, Frankfurt am Main 1960, 14.

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Zuletzt wollen wir noch einmal auf Giotto zu sprechen kommen, dessen FLUCHT AUS ÄGYPTEN aus der Arenakapelle zu Padua wir oben betrachtet haben. Wir müssen feststellen, dass jenes Fresko weder unter unseren erarbeiteten Kriterien des ikonischen noch des abendländischen Bildverständnisses zu fassen ist. Vielmehr scheint dort etwas von beiden bildlichen Denkweisen anwesend zu sein. Daher meinen wir, dass Giotto eine Schwellenposition zwischen dem ikonischen und dem abendländischen Bildverständnis zukommt. Das narrative Moment ist in dem Freskenzyklus gewichtig, doch verfährt Giot- to in seiner Bilderzählung nicht illustrativ. Das hat auch Matisse klar gesehen.155 Giotto erarbeitet ein komplexes Gefüge aus Farben, Formen und Bewegungstendenzen, welches den Referenztext in ein sichtbares Ereignis verwandelt. Die lebendige Bildstruktur er- möglicht es dem Betrachter, das biblische Geschehen mit seinen eigenen Augen nachzu- vollziehen. Giotto verleiht der heiligen Geschichte in seinen Fresken eine Gegenwarts- kraft, welche sich von derjenigen der byzantinischen Ikonen durch einen höheren Grad an Komplexität unterscheidet. Sämtliche Sujets fügen sich in den mathematisch-tektonisch konzipierten Bildraum. Das Bild wird zu einer inhärenten Einheit, welche für den Be- trachter leicht zugänglich ist. Die Figuren und Orte erscheinen natürlich und lebensecht. Giotto entwickelt eine subtile Bildrhetorik, die es ermöglicht, die Handlungen der darge- stellten Figuren tatsächlich erfahrbar zu machen. Für unsere These, dass Giotto eine Schwellenfigur zwischen östlichem und westli- chem Bilddenken darstellt, ist auch Max Imdahls Methodenlehre der »Ikonik« auf- schlussreich, die er seinerseits an Giottos Freskenzyklus in der Arenakapelle erprobt. Imdahl stellt heraus, dass sich für derartige Bilder kunsthistorische Analyseverfahren als unzulänglich erweisen, die wie Erwin Panofskys ikonographische bzw. ikonologische Methode156 alle Energie auf die bedeutungsmäßige Entschlüsselung des lesbaren Subtex- tes verwenden und dabei an dem eigentlichen bildlichen Vermögen – seiner Gegenwärti- gungskraft oder eben: seiner ikonischen Wirksamkeit – vorbeisehen. Der ›ikonische‹ Sinn eines Bildes ist nach Imdahls Auffassung hingegen ein umfassender, weil er erzählerische und formale Aspekte als ineinander verwoben erkennt.157 Panofsky hat sich in seinen Untersuchungen hauptsächlich mit der abendländischen Kunst auseinandergesetzt: den Werken der Altniederländer, Albrecht Dürers oder Nicolas Poussins usf.. Dafür hatte er offensichtlich eine Präferenz. Dies wiederum spricht für unseren Befund, dass in jenen westlichen Bildern eine bedeutungsmäßige Ebene – wie beispielsweise ein allegorischer Zusammenhang – auffällig wird, der den Betrachter ge- wissermaßen dazu anhält, darin einen symbolischen Kern zu entdecken. Damit soll hier keineswegs der abendländischen Malerei die Fähigkeit abgesprochen werden, überhaupt unmittelbare, bildliche Gegenwart hervorzubringen. Hierdurch wollen wir lediglich unsere Annahme stützen, dass in der westlichen Malerei der Akzent im hö- heren Maße auf einer Bezugsebene liegt, die sich außerhalb des Bildes befindet. Giottos Fresken in der Arenakapelle sind gerade deswegen auf einer Schwelle zwischen dem ikonischen und dem abendländischen Bilddenken zu verorten, weil sie einerseits über

155 Vgl. Flam 1982, 75. 156 Siehe: Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance, in: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975. 157 Siehe: Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik, München 1980.

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gewaltige bildliche Gegenwart verfügen, andererseits aber ebenso evident an eine Ge- schichte geknüpft sind, die zu erzählen ihre Aufgabe ist. Es soll hier nicht bestritten werden, dass es zwischen dem östlichen und dem westli- chen Bilddenken vielerlei Überschneidungen und gemeinsame Wegstrecken gibt. Was wir mit aller Kraft vermeiden wollen, ist ein wertendes Urteil, welches die ikonische von einer abendländischen Bildtradition im Sinne einer Entwicklungsgeschichte überholt sieht. Die neuzeitlich-westliche Kunstgeschichtsschreibung, die in der italienischen Re- naissance ihren Anfang nimmt, darf ob ihrer bis heute währenden Dominanz nicht dar- über hinwegtäuschen, dass es eine andere, eigenständige östliche Bildtradition gegeben hat und gibt. Eben dieses ikonische Bildverständnis wird in der Moderne wiederentdeckt. Die Si- tuation der Krise und die Suche nach neuen Wegen schärfen die Aufmerksamkeit für die Wirkungsweise des östlichen Bildes. Matisse ist einer von den Künstlern, die besonders tief in dieses Bilddenken eintauchen.

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IV. Das Ikonische im bildnerischen Werk und Denken von Henri Matisse

A. Matisse’ elementare Sympathie für ein ikonisches Bilddenken

Die ›Notizen eines Malers‹

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Malerei in Europa ratlos geworden. Die ›Moderne‹ ist angebrochen und geht mit den alten Konventionen hart ins Gericht. Seit dem Fortbre- chen ihrer Aufgabe, verbindliche gesellschaftliche Werte zu repräsentieren, kurz: in Dienstbarkeit von Monarchie und Christentum zu stehen, ist die westliche Malerei in einer fortdauernden Krise befangen, die sie nicht mehr lösen wird. Jeder zeitgenössische Künstler muss diese Krise begreifen, um einen gangbaren Weg aus ihr heraus zu finden. Weil das Band zwischen der gesellschaftlichen Realität und der Kunst endgültig zerrissen ist, wird sie sich keine universal gültige Aufgabe mehr erringen. Ein jeder ist auf seine Weise herausgefordert, von vorne anzufangen.

Henri Matisse sieht diese Lage sehr klar. Er spricht dezidiert aus, vor welche Herausfor- derungen er sich als Künstler gestellt sieht. Im Dezember 1908 hat er zum ersten Mal Gelegenheit, seine Gedanken einem größeren Publikum mitzuteilen. Unter dem beschei- denen Titel Notizen eines Malers (Notes d’un peintre) erscheint Matisse‘ künstlerische Stellungnahme in der Zeitschrift La Grande Revue zusammen mit einigen Abbildungen seiner jüngsten Arbeiten.158 Wenngleich dieses Künstlerbekenntnis nicht frei von Provo- kation und Polemik gegenüber anderen künstlerischen Positionen ist, so handelt es sich doch um einen höchst gewissenhaften und ehrlichen Versuch, gerade heraus das auszu- sprechen, was einen Maler auf der Höhe der Zeit umtreibt. Matisse erweist sich hierbei nicht nur als feinfühliger Artist, sondern auch als erstaunlich hellsichtiger Zeitgenosse von großer reflektierender Kraft. Die Notizen verdienen unsere besondere Aufmerksam- keit, weil sie zu Beginn seiner künstlerischen Karriere wesentliche Fragen aufgreifen, die für Matisse‘ gesamtes Schaffen gültig bleiben: Hier formuliert er das Fundament seines bildnerischen Denkens. Wir wollen in der folgenden Betrachtung unser Augenmerk auf diejenigen Ansich- ten und Erkenntnisse Matisse‘ richten, die angesichts der Krise eine gewisse Aufge- schlossenheit gegenüber der griechisch-östlichen Tradition bzw. dem byzantinischen Bildverständnis verraten.

158 Es handelt sich um folgende Werke: LA LISEUSE (1906), NU DEBOUT (1907), NU ASSIS (1908), NU NOIR ET OR (1909), LES JOUEURS DE BOULES (1908). Binnen eines Jahres nach Erscheinen wurde der Text ins Russische und Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Vgl.: Flam 1982, 280f.

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Matisse‘ Bekenntnis ist kein systematisch ausgearbeiteter Text. Der Maler gibt sich be- scheiden und wendet sich in einer einfachen Sprache an sein Publikum, so einfach, dass man als Leser zunächst Gefahr läuft, die Brisanz seiner Aussagen zu verkennen. Er macht deutlich, dass er nicht als Gelehrter das Wort ergreift, sondern als Maler, der lediglich versucht, seine »Gefühle und Absichten [...] deutlich zu machen, ohne [sich] viel um den schriftlichen Ausdruck zu kümmern.«159 Wichtiger als alles andere seien ohnehin die Werke selbst, die »für sich zu sprechen«160 im Stande sind. Er rechtfertigt seine Äußerun- gen, indem er sich von der französischen Salonmalerei distanziert:

»Zunächst einmal weiß ich wohl, daß viele Leute die Malerei gern als Anhängsel der Literatur betrachten und von ihr den Ausdruck spezifisch literarischer Gedanken erwar- ten, statt der allgemeinen, ihren Mitteln entsprechenden Ideen; trotzdem wird man nicht ohne Erstaunen den Maler Übergriffe auf das Gebiet der Literatur machen sehen.«161

Matisse nennt hier ganz beiläufig zwei wesentliche Kriterien seines Malereiverständnis- ses. Erstens: Seine Bilder sind keine Illustrationen literarischer Themen, weshalb er sich nicht als deren Interpret versteht. Und zweitens: Die Realisierung seiner Bildideen ist unmittelbar abhängig von den Bildmitteln, die ihm als Maler zur Verfügung stehen. Ma- tisse deutet hier bereits an, dass seine Malerei auf einem Umsetzungsprozess basiert, der das in der Realität Gesehene in etwas verwandelt, das über eine eigene Wirklichkeit ver- fügt, kurz – über Autonomität. Im gesamten Text spielt Matisse mit Andeutungen und denkt die Gedanken oftmals nicht zu Ende. Dadurch können seine Worte im ersten Augenblick harmlos und mitunter sogar leichtfertig wirken. Was in jedem Moment für ihn spricht, ist sein malerisches Ge- spür. Seine Kritik an der traditionellen Kunst ist treffsicher. Matisse gelingt es glaubhaft darzulegen, dass er als Maler notwendig diesen Weg gehen muss.

Ausdruck

Auf einen Begriff, der die malerische Darstellung qualifiziert, legt Matisse besonderen Wert. Es ist der Ausdruck (expression), der ihm als malerische Kategorie schlechthin gilt. Die Tragweite des Begriffes ist sehr weitreichend, ja sogar doppelbödig angelegt:

»Aber der Gedanke eines Malers gilt nicht unabhängig von seinen Ausdrucksmitteln, denn er ist nur so viel wert, als ihm Mittel zu Gebote stehen. Diese müssen umso um- fassender sein (und mit umfassend meine ich nicht kompliziert), je tiefer der Gedanke ist. Ich kann keinen Unterschied machen zwischen meinem Lebensgefühl und der Art, wie ich es ausdrücke. Der Ausdruck liegt für mich nicht in der Leidenschaft, die etwa auf einem Gesicht er- schiene und die sich in einer heftigen Bewegung ausdrücken würde. Er liegt in der gan-

159 Siehe: Flam 1982, 69. 160 Siehe: Flam 1982, 68. 161 Siehe. Flam 1982, 68

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zen Anlage meines Bildes: der Platz, den die Körper einnehmen, die sie umgebenden leeren Räume, die Proportionen, das alles hat daran teil. Komposition ist die Kunst, die verschiedenen, dem Maler für den Ausdruck seiner Gefühle zu Gebote stehenden Ele- mente auf gefällige Weise anzuordnen. In einem Bild soll jeder Teil sichtbar sein und diejenige Rolle spielen, die ihm zukommt, sei sie nun wesentlich oder sekundär. Alles was dem Bild nicht nützlich ist, ist allein schon dadurch schädlich. Ein Werk muss im ganzen harmonisch sein: Jedes überflüssige Detail würde im Gemüt des Betrachters ein anderes, wesentliches Moment verdrängen.«162

Was hier geschieht, ist eine gehörige Überschreitung der herkömmlichen Ausdrucks- konvention. Matisse bezieht den Ausdruck nicht allein auf die unmittelbare emotionale Äußerung des künstlerischen Subjekts, wie wir es vergleichsweise bei den deutschen Expressionisten – besonders bei den Vertretern der Künstlervereinigung Die Brücke – sehen können. Darüber hinaus verortet Matisse den Ausdruck in der Bildanlage selbst. Nur ein ausbalanciertes Gefüge, das alle Bildmittel harmonisch organisiert, verfügt über die Kraft zum Ausdruck. Eine Dramatisierung der Bildsprache durch auffällige Mimik und Gestik der Figuren lehnt Matisse ab. Alle Bildmittel – seien es Farben, Linien, Leer- stellen, Flächen, Proportionen oder figürliche Elemente – haben die gleiche Wichtigkeit. Auf das Ganze, das sie bilden, kommt es an. Wie ist nun aber ein solcher Ausdruck vorzustellen, der einerseits das Gefühl des Künstlers preisgibt und sich andererseits aus einer völlig autarken Bildwirklichkeit speist? Beherzt geht Matisse das Problem des Ausdrucks von zwei Seiten an: Einmal ist es der künstlerische Schaffensprozess, in dem er die Emotion des Künstlers als wesentli- ches Material, letztlich als Grund des Bildes voraussetzt. Zum anderen bedenkt Matisse das Problem vom Bild selbst her, das als ein aus Bildmitteln Gefügtes Eigenständigkeit und Ausdrucksfähigkeit erringt. Dass sich dieses Ausdrucksverständnis einigermaßen widersprüchlich ausnimmt, scheint Matisse nicht weiter zu bekümmern. Er lässt beide Herangehensweisen unvermittelt stehen. Und gerade in dieser Disparatheit erscheinen sie bestechend plausibel.

Der künstlerische Schaffensprozess

Wir können dies als Hinweis darauf verstehen, wie schwierig, ja unmöglich es ist, denje- nigen Moment innerhalb des künstlerischen Schaffensprozesses zu beschreiben, in dem sich das Bild von seinem Schöpfer emanzipiert. Zur Frage steht zu keinem Zeitpunkt, dass der Ursprung des Bildes etwas mit dem Künstler zu tun hat, der es hervorbringt. Dieses ›Etwas‹ nennt Matisse Emotion, wobei er damit keinen leidenschaftlichen Erguss meint, als vielmehr ein gefühlsmäßiges Berührtsein von der Welt, welches die bloße Wahrnehmung übersteigt. So kommt es zu einem Umsetzungsvorgang, in dem der Maler jene Emotion mithilfe der bildnerischen Mittel in Malerei verwandelt. Damit das Bild aber ›gelingen‹ kann, muss sich notwendig ein Sprung ereignen, in dem es die Bande zu seinem Hervorbringer durchschneidet, sich von ihm losreißt. Selbstverständlich bleibt das Bild nach wie vor ein vom Künstler Gemachtes, doch ist es frei geworden und bedarf seiner nicht mehr, um dem Betrachter gegenüberzutreten. Weiter konkretisieren lässt sich

162 Siehe: Flam 1982, 69f.

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die Feststellung nicht, dass es solch einen Sprung gibt oder vielmehr geben muss. Das hat Matisse erkannt.

Verdichtung, Generalisierung, Konzentration

Die Ausdrucksproblematik ist nach Matisse‘ Dafürhalten unabdingbar mit dem Herstellen von Verdichtung oder Intensität verknüpft. Nicht dem Oberflächlichen, nicht dem Mo- mentanen und gleich gar nicht dem nur auf den spektakulären Effekt Ausgerichteten gilt Matisse‘ Aufmerksamkeit. Ihm geht es darum, Tieferliegendes sichtbar zu machen. Die Notwendigkeit zu verdichten zielt, wie wir sehen werden, auf verschiedene Dimensionen der bildnerischen Gestaltung.

»Ich will jenen Zustand von Verdichtung der Empfindungen erreichen, der das Bild ausmacht. Ich könnte mich mit einem Werk des ersten Wurfs zufriedengeben, aber ich würde seiner nachher überdrüssig werden, und ich will lieber daran weiterarbeiten, um das Werk später als ein Abbild meines Geistes wiedererkennen zu können. [...] Ange- nommen, ich habe einen Frauenkörper zu malen: erst gebe ich ihm Grazie, einen Charme, aber es handelt sich darum, ihm noch etwas darüber hinaus zu verleihen. Ich verdichte also die Bedeutung dieses Körpers, indem ich seine wesentlichen Linien her- ausarbeite. Der Charme wird auf den ersten Blick weniger augenfällig sein, aber er wird mit der Zeit von dem neuen Bild ausgehen, das entstanden ist und eine umfassen- dere, zutiefst menschliche Bedeutung hat. Sein Charme wird weniger in die Augen springen, da er nicht seinen ganzen Gehalt ausmacht, aber er ist darum nicht weniger präsent, enthalten nämlich in der allgemeinen Auffassung meiner Figur.«163

Matisse ist darauf bedacht, seiner Darstellung Stabilität und Halt zu verleihen. Die natür- liche Anmut eines sorglos dahingemalten Motivs genügt ihm nicht. Es geht vielmehr darum, seine »wesentlichen« Züge sichtbar zu machen. Matisse scheint also auf eine ge- neralisierende Ausdrucksweise wert zu legen. Im gleichen Atemzug kritisiert er die Im- pressionisten, weil sie sich mit »flüchtige[n] Eindrücke[n]«164 zufrieden gäben. Er macht ihnen zum Vorwurf, dass sich ihr Augenmerk allein auf den Augenblick richten:

»Unter dieser Abfolge von Augenblicken, welche die oberflächliche Existenz der We- sen und der Dinge ausmacht und welche diese unter wechselnden, bald entschwunde- nen Aspekten erscheinen läßt, kann man einen wahreren, wesentlicheren Charakter er- forschen; an diesen wird der Künstler sich halten, um eine dauerhaftere Interpretation der Wirklichkeit (une interprétation plus durable) zu geben.«165

Auch der zeitliche Aspekt obliegt Matisse‘ Verdichtungsabsicht. Ihm missfällt eine Auf- fassung von Zeit, die sich als die lineare Sukzession von Augenblicken präsentiert. So- bald ein solcher vorüber ist, ist er unwiederbringlich verloren. Er kontrastiert diese Zeit-

163 Siehe: Flam 1982, 70f. 164 Siehe: Flam 1982, 71. 165 Siehe: Flam 1982, 71f.

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vorstellung mit dem Begriff der Dauer (durée), den er wiederum mit ›Wesentlichkeit‹ und ›Wahrheit‹ auflädt. Matisse‘ »dauerhafte Interpretation der Wirklichkeit« zielt auf eine ganzheitliche Erfassung der Dinge durch die Mittel der Kunst. Zeitlichkeit wird in Bewegung sichtbar. Folglich kommt es auch in der Darstellung von Bewegung entscheidend auf Verdichtung an. Um diesen Sachverhalt zu erläutern, bezieht sich Matisse auf die Bildhauerkunst.

»Die im Fluß erfaßte Bewegung hat für uns nur dann einen Sinn, wenn wir die gegen- wärtige Phase weder von der vorhergehenden noch von der darauf folgenden isolieren. Es gibt zwei Arten, die Dinge auszudrücken: die eine ist die, sie ungeschminkt zu zei- gen, die andere, sie kunstvoll zu beschwören. Indem man auf die sozusagen wörtliche Wiedergabe der Bewegung verzichtet, erhält man mehr Schönheit und Größe. Betrach- ten wir eine ägyptische Statue: sie erscheint uns starr; und doch fühlen wir, daß sie das Abbild eines der Bewegung fähigen und trotz seiner Steifheit belebten Körpers ist. Auch die Griechen sind ruhig: ein Mann, der einen Diskus wirft, wird in dem Moment erfaßt, wo er sich konzentriert oder in der gespanntesten und kritischten Stellung ist, die sein Wurf erfordert, und der Künstler hat die Bewegung in einer Verkürzung zu- sammengefaßt, die das Gleichgewicht wiederherstellt und die Vorstellung der Dauer von neuem erweckt. Bewegung ist an sich unstabil und paßt nicht zu etwas so Dauer- haftem wie einer Statue, es sei denn, der Künstler sei sich der ganzen Handlung bewußt gewesen, von der er nur einen Moment darstellt.«.166

Matisse verwirft hierin die physikalische Vorstellung einer Bewegung, die gemäß der linear verstreichenden Zeit kontinuierlich in einem Raum vollzogen wird – die sogenann- te ›Ortsbewegung‹. Der Fotografie gelingt es nicht, eine natürliche Erfahrung von Bewe- gung hervorzurufen, solange sie ›bloß‹ einen Bewegungszustand als Momentaufnahme wiedergibt. Genauso wenig ist ein buchstäblich angewandter Naturalismus hilfreich, um Bewegung überzeugend zu visualisieren. Demgegenüber erscheinen gerade die ägypti- schen oder griechischen Skulpturen glaubwürdig, weil in ihnen die Bewegung als etwas Ganzheitliches aufgefasst wird. »Verdichtung«, »Verkürzung« und »Konzentration« sind nach Matisse‘ Dafürhalten für die plastische Gestaltfindung unabdingbar.167

Die bildliche Wirksamkeit

Zur Sprache bringt Matisse in den Notizen auch das Thema der Rezeption. Er formuliert seinen Anspruch an ein gelungenes Werk und beschwört im gleichen Atemzug die Wir-

166 Siehe: Flam 1982, 72. 167 Es ist nicht zu übersehen, dass diese Überlegungen zur Zeitlichkeit und Bewegung eine auffällige Ähn- lichkeit mit Henri Bergsons jüngst formulierten Gedanken in der Schöpferischen Entwicklung (1907) zeigen. Vgl. beispielsweise: »Das Universum dauert. Je tiefer ins Wesen der Zeit wir eindringen, desto tiefer begrei- fen wir, daß Dauer Erfindung, Schöpfung von Formen bedeutet, ununterbrochenes Hervortreiben von absolut Neuem.« Siehe: Henri Bergson, L'évolution creatrice, Paris 1907. Erste deutsche Übersetzung: Schöpferische Entwicklung, Jena 1912. Seitenangaben entsprechend der Ausgabe: Henri Bergson, Schöpferische Entwick- lung (1907). Nobelpreis für Literatur 1927, Zürich 1927, 57 (fortan: Schöpferische Entwicklung 1927) Man kann nicht mit Sicherheit nachweisen, dass Matisse sich zu diesem Zeitpunkt unmittelbar mit Bergsons Philo- sophie auseinandersetzte. Auf jeden Fall war er mit Bergsons Gedanken vertraut, da sie in allen Pariser Künstler- und Intellektuellenzirkeln rege diskutiert wurden.

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kung, die er beim Betrachter auszulösen hofft. Matisse geht dabei sprunghaft vor. Er be- müht sich nicht um eine logische Argumentation, lässt einen Gedanken unvermittelt auf den anderen folgen. Es handelt es sich um eine Art Setzung, die in ihrer postulierten Selbstverständlichkeit fasziniert.

»Was mich am meisten interessiert, ist weder das Stilleben noch die Landschaft – es ist die Figur. Mit der Figur kann ich mein sozusagen religiöses Lebensgefühl am besten ausdrücken. Es liegt mir nichts daran, anatomische Genauigkeit wiederzugeben. Wenn ich ein italienisches Modell habe, das auf den ersten Blick nur die Vorstellung einer rein animalischen Existenz erweckt, dann entdecke ich dennoch an ihm wesentliche Züge, und diese Züge tragen jenen Charakter hoher Ernsthaftigkeit, der in jedem menschlichen Wesen liegt. Ein Werk muß seine ganze Bedeutung in sich selbst haben und sie dem Beschauer aufdrängen, noch ehe er seinen Gegenstand zur Kenntnis ge- nommen hat. Wenn ich die Fresken von Giotto in Padua sehe, kümmere ich mich nicht darum, welche Szene aus dem Leben Christi ich vor Augen habe, aber ich erfasse so- fort die Stimmung, die davon ausgeht, denn sie liegt in den Linien, in der Komposition, in der Farbe. Der Titel wird meinen Eindruck nur noch bestätigen können.«168

Matisse hat gegenüber der literarischen, illustrativ verfahrenden Kunst beträchtliche Vor- behalte, da sich die Bedeutung dieser Werke in der narrativen Vorgabe erschöpft. Der Makel besteht darin, dass sie sich nicht eigenständig zur Geltung bringen können. Inso- fern ist Matisse‘ Rekurs auf Giottos Fresken nicht ohne Kalkül. Im Jahr zuvor (1907) war er nach Italien gereist und hatte in diesem Rahmen auch die Arenakapelle in Padua be- sichtigt. Wie einschlägig die Erfahrung von Giottos Werk für Matisse gewesen ist, belegt der letzte Brief, den Matisse am 7. Mai 1946 an seinen Freund Pierre Bonnard ein halbes Jahr vor dessen Tod schreibt. Darin heißt es: »Giotto ist für mich der Gipfel meiner Sehn- süchte, aber der Weg, der zu etwas Entsprechendem führt, ist in unserer Epoche zu lang für ein einzelnes Leben. Gleichwohl sind die Etappen dorthin interessant.«169 Das Grandiose von Giottos Malerei ist nach Auffassung von Matisse nicht in der Darstellung der heiligen Geschichte zu sehen, sondern in der Wirkungskraft, die von der bildlichen Gestalt selbst herrührt. Da Giotto in der Kunstgeschichtsschreibung als Erfin- der der neuzeitlichen narrativen Malerei gilt, ist diese Wertung einigermaßen provo- kant.170 Matisse bestreitet mit seiner Aussage zwar nicht, dass es einen narrativen Gehalt geben kann, aber er katapultiert ihn in die allerletzte Reihe. Wir haben bereits auf die Schwellenposition aufmerksam gemacht, die Giotto zwischen dem ikonischen und dem abendländischen Bildverständnis zukommt. Matisse scheint Giotto hier für die ›ikoni- sche‹ Sache‹ vereinnahmen zu wollen. Er ist davon überzeugt, dass die Bedeutung eines Werkes allein in der malerischen Umsetzung zu Tage tritt und nicht von dem dargestell- ten Motiv abhängig ist: »Ein Werk muss seine ganze Bedeutung in sich selbst haben«.

168 Siehe: Flam 1982, 75. 169 Siehe: Hannelore Schlaffer und Heinz Schlaffer (Hg.), Pierre Bonnard und Henri Matisse. Briefe und Karten, Stuttgart 1993, 119. 170 Giottos Bildkunst zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie die narrativen Struktur mit einer komplexen Kompositionsanlage verflicht.

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Dies ist umso bemerkenswerter, weil Matisse kurz zuvor hervorhebt, dass sein größtes Interesse der (menschlichen) Figur gilt. Wie ist das zu verstehen? Tatsächlich ist Matisse ein figürlicher Maler, aber seine Malerei erfüllt sich nicht in der Verkörperung von Figu- ren oder Gegenständen. Es geht ihm nicht darum, das Modell naturalistisch ins Bild zu setzen, sondern dessen Wesen in die gesamte Bildanlage zu transportieren, d.h. auf der Fläche auszubreiten. Der Fokus liegt nicht auf dem menschlichen Gesicht und der exak- ten Wiedergabe seiner Züge, im Gegenteil, es muss gewissermaßen ›defokussiert‹ wer- den, um überhaupt einen ›Charakter‹ hervorbringen zu können.171 Darin liegt ein Paradox: Verdichten und Zerstreuen – beides muss gleichzeitig geschehen. Die Figur soll in der malerischen Umsetzung Teil einer ganzheitlichen Figuration werden, die Wesenskraft zum Ausdruck bringt. Aufgrund ihrer inhärenten Widersprüchlichkeit kann man bei diesen Gedanken leicht ins Taumeln geraten: Matisse huldigt dem Bild als eine Komposition aus Farben und Linien auf der Fläche und im gleichen Moment gewinnt er dieser Oberfläche eine metaphysische Wahrheit ab. Wenn von seinem »sozusagen religiösem Lebensgefühl« die Rede ist, das in seinen Werken zum Ausdruck kommen soll, schreibt er ihnen auch eine spirituelle Dimension zu.

Das ›Wort vom Lehnstuhl‹und sein hoher Anspruch

Im sogenannten Wort vom Lehnstuhl, das unmittelbar auf die analysierte Passage folgt, wird Matisse‘ eigentümlich paradoxer Anspruch an eine ›heutige‹ Kunst noch einmal spürbar. Er formuliert ihn als Traum, als eine Utopie, deren Erfüllung er für möglich hält:

»Ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunru- higende und sich aufdrängende Gegenstände, von einer Kunst, die für jeden Geistesar- beiter, für den Geschäftsmann so gut wie für den Literaten ein Beruhigungsmittel ist, eine Erholung für das Gehirn, so etwas wie ein guter Lehnstuhl, in dem man sich von physischen Anstrengungen erholen kann.«172

Matisse ist für diesen Satz oft gescholten worden. Man hat ihn aus dem Zusammenhang der Notizen gerissen und Matisse aufgrund seines Vergleichs der Kunst mit einem »Beru- higungsmittel« bzw. »Lehnstuhl« zum Fürsprecher einer genusssüchtigen, hedonistischen Kunst erklärt. Die Befriedigung seichter Bedürfnisse als Wirkungsweise seiner Kunst zu feiern, entspricht mit Sicherheit nicht Matisse‘ künstlerischer Absicht. Um Missverständ- nisse zu vermeiden, müssen wir etwas genauer hinsehen und – wenn nötig – zwischen den Zeilen lesen. Auf der einen Seite macht Matisse durch den Vergleich deutlich, dass er die Sphäre der Kunst von der tätigen Welt des Alltags unterscheidet. Ihm geht es nicht vorderdings um das Wohlgefühl, das sich angesichts eines ›schönen‹ Gemäldes einstellt, sondern um die Ermöglichung einer ›echten‹ ästhetischen Erfahrung. Ein gelungenes Kunstwerk kann den Betrachter aus seiner gewöhnlichen, d. h. »physischen« Erfah-

171 Auf der eigenwilligen Auseinandersetzung Matisse‘ mit der Gattung des Porträts werden wir an späterer Stelle ausführlich eingehen. Siehe Kapitel IV, C. 172 Siehe: Flam 1982, 75.

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rungswelt herausstellen, ihm einen spirituellen Raum eröffnen, in dem »Gleichgewicht«, »Reinheit« und »Ruhe« herrschen. Auf der anderen Seite wählt Matisse mit dem Beispiel des Lehnstuhls ein Möbelstück, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in jeder gut bürgerli- chen Wohnung zu finden war. Der Lehnstuhl ist also zugleich auch ein vertrauter Gegen- stand der lebensweltlichen Umgebung. Da ist wieder diese merkwürdige Ambiguität: Matisse hat eine Kunst vor Augen, die ›außerordentlich‹ ist und im selben Moment etwas Beiläufiges besitzt, das nicht befremdet oder übermäßig erstaunt; eine Kunst, die feierlich ist und zugleich heiter, die bar jedweder inhaltlichen Schwere Wesentliches offenbart und doch ›selbst-verständlich‹ ist. Wir werden später sehen, ob und inwieweit Matisse diesem hehren Anspruch in seinen eigenen Werken gerecht werden kann.

Die Rolle des zeitgenössischen Künstlers

Gegen Ende des Textes gibt Matisse zu verstehen, welche Aufgabe er dem zeitgenössi- schen, modernen Künstler zuschreibt. Das klingt erst einmal sehr beschwichtigend:

»Man wird mir vielleicht sagen, daß man von einem Maler andere Einsichten in die Malerei erwarten dürfte und daß ich alles in allem nur Gemeinplätze vorgebracht hätte. Darauf würde ich antworten, daß es keine neuen Wahrheiten gibt. Die Rolle des Künst- lers wie die des Wissenschaftlers beruht darauf, gängige Wahrheiten zu erfassen, die man ihm oft wiederholt hat, aber die für ihn eine neue Bedeutung erhalten und die er sich an dem Tag zu eigen macht, an dem er ihren tieferen Sinn erfasst hat.«173

Im letzten Absatz lesen wir dann:

»Ich gebe gerne zu, daß sich aus einem Werk von Raffael oder von Tizian ein vollstän- digerer Satz von Regeln herleiten läßt als aus einem von Manet oder von Renoir; aber die Regeln, denen Manet oder Renoir folgten, haben ihrem Temperament entsprochen, und ich ziehe die geringste ihrer Arbeiten allen Bildern jener Maler vor, die sich damit begnügten, eine Neuauflage der VENUS VON URBINO174 oder der MADONNA MIT DEM STIEGLITZ175 herzustellen. Sie können in diesem Stil niemals etwas Neues und Besseres machen, denn wir gehören wohl oder übel unserer Zeit an mit ihren Ansichten und Ge- fühlen und sogar mit ihren Irrtümern. Alle Künstler tragen den Stempel ihrer Epoche, aber die größten Künstler sind diejenigen, die von ihr am tiefsten geprägt sind. Unsere Epoche wird von Courbet besser dargestellt als von Flandrin, von Rodin besser als von Frémiet.«176

173 Siehe: Flam 1982 76. 174 Tizian, VENUS VON URBINO (1534) 175 Raffael, MADONNA MIT DEM STIEGLITZ (1506) 176 Siehe: Flam 1982, 77.

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Wenn Matisse behauptet, dass es »keine neuen Wahrheiten« gibt, dann kokettiert er mit einem Traditionalismus, den er jedoch sogleich relativiert. Denn der Wahrheit müssen immer wieder »neue Bedeutungen« abgerungen werden. Matisse‘ Vorstellung von Kunstgeschichte wird in der letzten Passage greifbarer. Matisse distanziert sich von jed- weder nostalgischen Verklärung einer vergangenen Epoche. Um in der Manier eines Leo- nardo zu malen, bedarf es lediglich der handwerklichen Fertigkeit zur Nachahmung, je- doch ist dazu keinerlei künstlerische Inspiration oder Haltung vonnöten. Seiner Auffas- sung nach ist die Kunst unabdingbar mit dem gegenwärtigen Zeitgeschehen verflochten. Ein ernsthafter Künstler muss sich bewusst sein, muss spüren, dass er durch seine Zeit geprägt ist. Wer diese Verwobenheit verkennt, ist nicht dazu in der Lage, große Werke hervorzubringen. Matisse‘ Blick auf die Kunstgeschichte ist also weder konservativ noch fortschrittsgläubig. Die Kunst entwickelt sich nicht linear zum jeweils Höheren hin, son- dern ist zu jeder Zeit herausgefordert, ihre Bedeutung aufs Neue hervorzubringen.

Zusammenfassung der ›Notizen‹

Matisse umreißt in den Notizen, worauf seine Malerei und sein bildnerisches Denken beruhen. Die Reflexionen zielen auf die wunden Punkte des überkommenen Kunstbe- triebs und auf die Unzulänglichkeiten der etablierten Malerei. Er skizziert seinen Weg aus der Krise, auf dem die Kategorie des Ausdrucks eine entscheidende Rolle spielt. Dieser ist ihm weniger der Niederschlag eines subjektivistischen Gefühlsgebarens, als vielmehr die generalisierende und verdichtende Kraft der Bildanlage selbst. Zugunsten der unmit- telbaren Wirksamkeit des Bildes stellt er mimetische sowie narrative Intentionen hintan. Das heißt nicht, dass es keine figürlichen oder gegenständlichen Elemente gibt; es heißt nur, dass die Bedeutung des Bildes nicht in diesen wiedererkennbaren Motiven aufgeht. Er versteht die Bilder als einen Gesamtzusammenhang, in denen alle Bildmittel – also die Farbe wie die Linie, die Fläche wie der Punkt, das Motiv wie der Farbauftrag – eine tra- gende Funktion spielen. Matisse will Bilder malen, die dem Betrachter wie von selbst in die Augen fallen – einnehmend, doch ohne die Anstrengung einer inhaltlichen Entschlüs- selung. Wie aber sind diese intellektuell bestechenden Gedanken bildnerisch zu realisieren? Dazu bedarf es eines untrüglichen Gespürs für die realen Probleme des Bildes selbst. Wie gelingt es Matisse beispielsweise einen Raum plausibel darzustellen, wenn er die Zentral- perspektive aufgrund ihrer starren Regularität zu Gunsten einer mimetischen Wirkung ablehnt? Und wie ›befinden‹ sich seine Figuren und Figurationen darin, wenn es nicht mehr die Gravitationskraft ist, welche sie auf der Erde ›stehen‹ lässt Um derartige Wag- nisse in Angriff zu nehmen, blickt Matisse in die Geschichte der Kunst. Dabei begibt er sich nicht nur auf den abendländischen Pfad, welchen große Meister wie Raffael, Remb- randt oder Chardin ebnen, sondern lässt sich auch von den Hervorbringungen älterer, vor allen Dingen orientalischer Kulturen inspirieren. Matisse verfügt über die Fähigkeit, die besondere ästhetische Wirksamkeit der andersartigen Bildfindung zu erkennen und für seine eigene ›aktuelle‹ Malkunst fruchtbar zu machen. Matisse ist ein ›empfänglicher‹ Maler, aber er ist darin ebenso originär.

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Rufen wir uns noch einmal Matisse‘ merkwürdig doppeldeutige Kunstauffassung ins Gedächtnis. Er träumt von einer Kunst, die sich mit großem Interesse der (menschlichen) Figur zuwendet und im selben Moment gegenüber der Realität nicht nachahmend ver- fährt, die immanent ist und zugleich die Banalität des Faktischen übersteigt. Eine Kunst, die in die reale Welt des Alltags hineinragt, indem sie eine echte ästhetische Erfahrung ermöglicht. Eine Kunst schließlich, die heitere Beiläufigkeit mit spirituellem Ernst ver- eint. Was hier anklingt, ist nichts anderes als Matisse‘ Vorstellung einer hohen ›dekorati- ven‹ Kunst.

Das Dekorative – Ein Einblick

Schwierigkeiten des Begriffs: ›Dekorativ‹, ›Dekoration‹

Der Begriff des ›Dekorativen‹ ist in der Welt der Kunst kein unproblematischer, weil er durch die Zeiten hindurch unterschiedlich bewertet wurde. Die sogenannten dekorativen Künste genießen bis heute einen höchst zweifelhaften Ruf. Gemeinhin werden sie den angewandten Künsten zugerechnet. Dekoration gilt als schmückendes Beiwerk, das die Gebrauchsgegenstände des Alltags schöner macht als sie notwendig sein müssten. So ist sie mitunter dem Vorwurf ausgesetzt, sich mit dem schönen Schein zufrieden zu geben. Schließlich schwingt beim Dekorativen immer auch das Moment der Täuschung mit, als handle es sich um eine leere Hülle, ausgestattet mit hübschen Schnörkeln und reizvollen Verzierungen. Am Dekorativen haftet der Makel des fehlenden Gehalts, der Verdacht der flachen Attitüde.

Das ›decorum‹ in der antiken Rhetorik

In der Kunstgeschichte gab es immer wieder Phasen und Strömungen, in denen sich das Dekorative ausprägte – zumeist in der Form des Ornamentalen. Der Begriff decor, -oris stammt aus dem Lateinischen und bedeutet ›Anstand, Würde Angemessenheit‹ aber auch ›Schmuck und Zierde‹. Decorus ,-a, -um ist das zugehörige Adjektiv. Das unpersönli- che Verbum decet heißt soviel wie: ›es schickt sich‹ oder ›es ziemt‹ sich.177 In der antiken Rhetorik spielt das decorum eine entscheidende Rolle. Die Frage nach der Angemessen- heit gilt kategorisch – sowohl hinsichtlich des Aufbaus als auch in Bezug auf das Thema und die Sprache der Rede. Es kommt darauf an, den Ansprüchen der Schicklichkeit um- fänglich gerecht zu werden, das heißt die Rede als ein glaubwürdiges Zusammenspiel von Thema, Aufbau, Text und Vortragsweise – kurz: als Gesamtgefüge – zu realisieren. Nur wenn dies gelingt, kann der Zuhörer überzeugt werden. Ein äußeres Regelwerk ist hierfür nur bedingt hilfreich, denn die innere Stimmigkeit der Rede kann nicht von außen herbei- geführt werden. Das Dekor hat also seiner rhetorischen Herkunft nach eine grundlegende Funktion. Es ist keinesfalls Beiwerk sondern notwendiges Strukturelement, um die Rede in sich plausibel zu gestalten.178

177 Siehe: J. M. Stowasser u.a., Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, Mün- chen/Düsseldorf/Stuttgart 2006, 139 und 141. 178 Vgl.: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 2, Tübingen 1993, 423ff.

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Dekoration und Dekadenz

Die Skepsis, die dem Dekorativen entgegengebracht wird, rührt auch von dem Zusam- menhang her, der zwischen einer ausklingenden kulturellen bzw. künstlerischen Strö- mung und der Neigung zu einer verzärtelten, gekünstelten oder überladenen Stilart herge- stellt wird. Das gilt für die Werke der Baukunst ebenso wie für die der Bildhauerei und Malerei. ›Dekadenz‹ und ›Dekoration‹ – die beiden Begriffe fallen häufig in einem Atemzug: Auf den verschlungenen Weg des dekorativen Spiels gerieten all diejenigen Künstler, denen ihre Zeit nichts mehr abverlangt. Als ob es hier am Grund mangele, We- sentliches zum Ausdruck zu bringen. Das Dekorative diene – so wird uns glauben ge- macht – der Unterhaltung der Müdgewordenen in einer langweiligen Epoche. Unter die- sen Verdacht geraten Werke des spätgriechischen Hellenismus ebenso wie solche des Manierismus oder Rokoko. Ein solcher Argwohn ist voreilig und muss das Wesen des Dekorativen verfehlen. Zwar lässt sich tatsächlich in der Folge großer klassischer Ten- denzen ein Hang zum Spielerischen feststellen – ein Aufbrechen der geordneten Kompo- sitionen in alle Richtungen, ins arabeske Kreuz und Quer des Raumes – der sich in deko- rativen Gesten und Themen Bahn bricht. Doch ist diese spielerische Lust am schönen Schein nicht ohne die Kehrseite eines abgründigen Ernstes zu verstehen.

Die hellenistische Skulptur

Die hellenistische Skulptur verkörpert nicht mehr die ideale Geistigkeit der klassischen Zeit – deren stilles Insichruhen. Vielmehr erweitert sie ihren Interessenhorizont: Sie ent- deckt das Besondere in den menschlichen Gesichtszügen und gewinnt einen Blick für Kleinigkeiten wie Faltenwürfe, Haarlocken und modische Frisuren. Ebenso nimmt sie das Tragisch-Komische, das Groteske wie auch das Erotisch-Lustvolle in ihre plastische Formensprache auf. Die hellenistische Skulptur probiert sich aus und wagt sich hinein in die Wirklichkeit, die sich mal heiter, mal hässlich geriert. Das ist alles andere als deka- dent.

Manierismus

Auch der sogenannten manieristischen Periode wird Unrecht getan, wenn man sie als einen zur gekünstelten Disproportion und Deformation neigenden Abkömmling der hu- manistischen Renaissance betrachtet. Hier werden menschliche Proportionen abstrahiert, hier wird das Dunkel-Unheimliche durch den Kontrast einer schmutzig-trüben Palette mit singulären grellen Farbakzenten evoziert, kurz: hier wird mit bildimmanenten Mitteln experimentiert und eigenständiges Ausdruckspotenzial errungen.

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Rokoko

Ebenso wenig darf das Rokoko als eine fröhlich-unbekümmerte Nachhut des Barock missverstanden werden. Das vordergründige Thema gibt die ausschweifige Welt des Amusements ab, die uns in pastellener Bonbonfarbe appetitlich vor Augen tritt: Theater, Feste – Vergnüglichkeiten aller Art. In einem herrlichen Garten wird ein junges Mädchen in bauschig gerüschtem Rock geschaukelt. Doch ist die idyllische Szene in Fragonards Gemälde DIE SCHAUKEL [Abb. 15] nicht so keusch und harmlos, wie sie uns im ersten Moment erscheinen will, denn ein feiner Herr in ›günstiger‹ Pose nimmt den Schoß des Mädchens sehr genau in Betracht. Die Welt, die das Rokoko ins Bild setzt, ist eine kos- tümierte. In den Kapriolen der scherzenden und schwelgenden Galants tritt eine schelmi- sche Lüsternheit zu Tage, die auch dem Betrachter widerfährt: Durch sein Blicken wird er seinerseits zum genießenden Voyeur. Die Bildkunst des Rokoko birgt die augenzwin- kernde Erkenntnis, dass die Menschen nun einmal so sind wie sie sind, nämlich bei aller Noblesse sehr einfach gestrickt. Allerdings erlaubt sich die Reflexion kein wertendes Urteil. Es gibt keine höhere Warte, von der aus der Künstler blickt und malt.

Soviel mag als Einblick genügen, um die Problematik des Dekorativen gemäß seiner Herkunft und seiner kunstgeschichtlichen Reputation zu verdeutlichen. Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Begriff und seiner vielseitigen Verwendung ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten.179 Der Kontrast zum Aufgezeigten wird sich als hilfreich erweisen, um die Besonderheit von Matisse‘ Vorstellung des Dekorativen schärfer her- auszuzeichnen. Wir haben gesehen, dass Matisse eine Kunst vor Augen hat, die gleicher- maßen heiter und leicht wie ernsthaft und spirituell ist. Eine Kunst, die den Betrachter aus der Erfahrungswelt des Alltags herausrückt und ihn zugleich gewissermaßen beiläufig umfängt. »Das Dekorative ist etwas sehr Kostbares an einem Kunstwerk. Es ist ein we- sentlicher Bestandteil. Es hat nichts Abwertendes, wenn man von den Werken eines Künstlers sagt, sie seien dekorativ.«180 Für Matisse ist jede großartige Kunst ihrem Wesen nach dekorativ. In den Notizen haben wir bereits gehört, dass das Lob auf Giottos Fresken in der Arenakapelle zu Padua in einem Atemzug mit dem Wort vom Lehnstuhl fällt und in Matisse‘ Augen folglich als hervorragendes Beispiel dekorativer Kunst gelten muss.

Matisse’ Begegnung mit Byzanz

Nun ist auch ist die byzantinische Kunst eine Kunst von hohem dekorativen Rang, die darüber hinaus über große spirituelle Kraft verfügt. Wir haben bereits in Erfahrung ge- bracht, dass das östliche Christentum das alttestamentliche Bilderverbot lockerte, um durch die bildliche Visualisierung von Christus und den Heiligen deren gottesdienstliche Verehrung zu erleichtern. Die Darstellung der menschlichen Figur war hier ausdrücklich gewollt, solange sie der Gegenwärtigung der Heiligen Geschichte diente. Dies ist der

179 Einen Versuch in diese Richtung unternimmt Haidrun Brauner in ihrer Dissertation (1992) »Natürlich ist das Dekoration«, Perspektiven eines Begriffes in der Kunst des 20. Jahrhunderts, ausgehend von Henri Ma- tisse, Frankfurt am Main 1993. 180 Matisse im Gespräch mit Léon Degand (1945). Siehe: Flam 1982, 191.

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entscheidende Unterschied zur islamischen Kunst, die jedwede Darstellung lebendiger Wesen aufs Strengste untersagte. Die islamische Kunst entfaltet ihre hohe bildnerische Kraft in einer sich über Flächen spielerisch ausbreitenden Ornamentik – in Teppichen, Stoffen, Wand- und Bodenmosaiken, um nur einige Beispiele anzuführen. Territorial ist die byzantinische Kunst von der islamischen kaum zu scheiden. Zwischen dem achten und 13. Jahrhundert kam es mancherorts zu einem regelrechten Schlagabtausch zwischen muslimischen und christlichen Herrschern. Die Neigung zum Ornamentalen gedieh folg- lich auf beiden Seiten und befruchtete sich gegenseitig. Gerade durch die Einbindung der Figur in jenen ornamental durchdrungenen Bildzusammenhang gelangt die byzantinische Kunst zu ihrer einprägsamen Gestalt.

Ausstellungen orientalischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Bei all dem, was wir bislang über Matisse’ ästhetische Vorstellungen aus den Notizen eines Malers in Erfahrung gebracht haben, mögen schon diese einfachen stilistischen Charakteristika genügen, um deutlich zu machen, weshalb sich Matisse von der byzanti- nischen Kunst angezogen fühlen musste. Begünstigt wurde diese Neigung durch das auf- keimende Interesse an der orientalischen Kunst im westlichen Europa, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Ausstellungen zum Ausdruck kam. Alois Riegl, der als Kurator die Textilabteilung des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie in Wien betreute, hatte von kunstwissenschaftlicher Seite den dekorativen Künsten zu neu- em Recht verholfen. In seinen Stilfragen181, die 1893 erschienen, erklärt er den Ursprung der ornamentalen Kunst aus dem tiefen menschlichen Bedürfnis nach schönen und wohl- tuenden Formen. Die Ausprägung einer vielfältigen und feinsinnigen ornamentalen For- mensprache ist nach Riegls Ansicht nicht, wie sein materialistischer Gegner Gottfried Semper behauptet, als Folge technischer Bedingungen innerhalb des Webprozesses zu verstehen, sondern allein aus dem inneren Begehren des Menschen.182 Es findet im »un- endlichen Rapport« der Arabeske seine vornehmste Gestalt. Matisse hatte im Februar 1λίι Gelegenheit, die von der ›Union Centrale des Arts Décoratifs‹ organisierte Ausstellung orientalischer Textilien im Louvre zu besuchen. Neben ottomanischem Samt, safawidischen Teppichen und fatimidischer Seide wurden dort auch byzantinische Stoffe präsentiert.183 Eine kleine Anzahl koptischer, sassanidi- scher und byzantinischer Textilien konnte Matisse ebenfalls in der groß angelegten »Aus- stellung von Meisterwerken muhammedanischer Kunst« in München bewundern, die er im Oktober 1910 besuchte.184 Die Ausstellung hinterließ einen bleibenden Eindruck.185

181 Alois Riegl, Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 1893 (fortan: Riegl 1893). 182Siehe: Riegl 1993, 30f. 183 Vgl.: Rémi Labrusse, »What Remains Belongs to God«. Henri Matisse, Alois Riegl and the Arts of Islam, in: Matisse, His Art and his Textiles. The Fabric of Dreams, Ausst. Kat., Royal Academy of Arts London, London 2004, 51 (fortan: Labrusse 2004). 184 Vgl.: Labrusse 2004, 60. 185 Viele Jahre später kommt Matisse noch einmal auf die Ausstellung in München zu sprechen. Der kurze Text Der Weg der Farbe [Le chemin de la couleur] erscheint 1947 in der zweiten Ausgabe der Zeitschrift Art Présent: »Aus Instinkt bewunderte ich die Frühen Meister des Louvre und danach die orientalische Kunst, hauptsächlich die hervorragende Ausstellung von München, und zwar deshalb, weil ich dort eine neue Bestä-

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Eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der byzantinischen Kunst verdankt Matisse allerdings einem Engländer namens Matthew Stewart Prichard (1865-1936).

Matthew Stewart Prichard

Matisse und Prichard begegnen sich zum ersten Mal am Anfang des Jahres 1909. Prichard hatte die eben erschienenen Notizen eines Malers mit Begeisterung gelesen. Michael und Sarah Stein, die in den frühen Jahren zu den wenigen Freunden und Förde- rern von Matisse zählten, machen die beiden miteinander bekannt. Matisse und Prichard sind von Beginn an auf derselben Wellenlänge, weil sie beide gleichermaßen euphorisch eine neue Ästhetik zu verwirklichen trachten – in der Kunst wie im Denken. In den fol- genden fünf Jahren – bis zum Ende des Ersten Weltkrieges – sind sie freundschaftlich verbunden und treffen sich regelmäßig.186 Matthew Stewart Prichard wurde am 4. Januar 1865 in Bristol geboren. Er studierte Jura in Oxford, zog eine juristische Karriere aber nicht lange in Betracht. Lieber widmete er sich den Fragen der Ästhetik. Durch den amerikanischen Sammler Edward Perry War- ren, in dessen Auftrag er nach Europa reiste um hochwertige Antiquitäten zu erstehen, lernte er auch dessen Bruder Samuel Denis Warren kennen, der 1901 zum Präsidenten des Bostoner Museum of Fine Arts berufen worden war. Kurz darauf avancierte Prichard selbst zu dessen Stellvertreter und versuchte alles Mögliche, um seine Vorstellungen von einem ›anderen‹ Museum durchzusetzen.187 Prichard scheiterte und ließ sich 1908 in Paris nieder. In einem Brief, datiert auf den 26. November 1909, den Prichard an Isabella Ste- wart Gardner, eine treue (intellektuelle) Freundin und Kunstsammlerin aus Boston richtet, bringt er sein Unbehagen an der Sterilität der gegenwärtigen Museen zum Ausdruck. Er bedient sich dabei einer Sprache, die sehr eindringlich und voller Leidenschaft ist:

»[...] Ich meinerseits bin davon überzeugt, daß das moderne Museum auf einer falschen Voraussetzung beruht; der Name – Kunstmuseum – hat die Leute getäuscht, indem es sie glauben machte, die Museen hätten es mit der Kunst zu tun, während sie sich in Wirklichkeit mit dem Wissen beschäftigen. Der Ausdruck ›Kunstwerk‹ ist sehr tückisch und trügerisch. Sie werden mit mir über- einstimmen, wenn ich sage: man muß stattdessen ›Künstlerwerke‹ gebrauchen, wenn ich hinzufüge, daß die Kunst da anfängt, wo der Künstler verschwindet. Der Künstler ist der Mensch, der wahrnimmt, daß unsere Beziehungen zum Leben unbefriedigend sind; er vermittelt ihnen den Rhythmus, hier durch die Musik, dort durch die Architek- tur, indem er dieses Kleid zeichnet, jenen Garten bepflanzt, eine Wand bemalt, unser Geschirr gestaltet, unsere Zeremonien organisiert – überall erscheint dieser freie Strom des Geistes in der Form des Rhythmus. Wir sind uns eines tieferen, leidenschaftliche- ren, ruhmreicheren und freudigeren Lebens bewußt. Auf dem Boulevard bewege ich tigung fand. Die persischen Miniaturen zum Beispiel zeigten mir die ganze Spannweite meiner Empfindun- gen. In der Natur konnte ich wiederentdecken, wie sie sein sollten. Durch ihre Requisiten erweckt diese Kunst die Vorstellung eines größeren Raums, eines wahrhaft plastischen Raums. Das half mir, von der Malerei der Intimität wegzukommen.« Siehe: Flam 1982, 207f. 186 Vgl.: Rémi Labrusse, Matisse. La condition de l’image, Paris 1999, 96 (fortan: Labrusse 1999). 187 Vgl.: Pierre Schneider, Matisse, München 1984, 732 (fortan. Schneider 1984) und Labrusse 1999, 94.

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mich leichter; vor einer Kathedrale denke ich freier; meine Gedankenassoziationen werden edler, wenn ich mit einer gutgekleideten Frau spreche; die Atmosphäre eines mit Fresken bemalten Klassenzimmers spannt wieder die Saiten meiner Seele straff, doch in solch einer vergoldeten Atmosphäre habe ich kein Bewußtsein des Künstlers; meine Aufmerksamkeit richtet sich mehr dem zu, was in diesem Augenblick auf dem Spiel steht, was es auch sei; denn der Künstler hat sich zurückgezogen und beschäftigt sich anderswo. Nehmen Sie nun dieses Fresko von der Wand ab, und tragen Sie es heimlich ins Muse- um, Saal 16. Ziehen Sie dieses Kleid einer Schneiderpuppe in der Kostümabteilung über; schieben sie den Teller zwischen zwei andere von demselben Künstler oder all- zuoft von einem Imitator – wo sind Sie dann? Sie befinden sich nicht mehr im Leben als Handeln und Denken; Sie werden nicht mehr von einem intensiveren Gefühl erfüllt; sondern Sie stecken in der Wissenschaft, die zu identifizieren versucht und Begriffe schafft und das Gefühl zu allen Teufeln schickt. Man gruppiert dann die Dinge unter Künstlernamen und man gliedert die Dinge auf, die ihrer Umgebung entrissen wurden, wo sie keine Dinge, sondern undifferenzierte Teile großer Gesamtheiten waren. [...]«188

Prichard macht den zeitgenössischen Museen zum Vorwurf, dass es ihr Engagement nicht der Kunst selbst gelte, sondern der bloßen Wissensvermittlung. Seiner Auffassung nach verlieren die Kunstwerke ihre lebendige Kraft, wenn sie analysiert und ihrem ursprüngli- chen Zusammenhang entrissen präsentiert werden. Prichard sieht darin einen Vorgang der Entfremdung. Der Betrachter hätte im heutigen Museum keine Möglichkeit mehr, die Kunst als Kunst zu spüren. Die Werke seien nichts mehr anderes als bloße Zeitdokumen- te. Prichard greift in seinem emphatischen Tonfall zahlreiche Beispiele auf, die leicht nachvollziehbar sind, um die Adressatin für seine Herzensangelegenheit einzunehmen. Man kann sich gut ein Bild davon machen, wie eindrucksvoll Prichard als Redner gewirkt haben muss. Denn vor allen Dingen war er ein Mann des gesprochenen Wortes. Außer den Korrespondenzen, die Prichard mit Isabella Stewart Gardner und anderen intellektu- ellen Freunden führte, und wenigen Essays, Redemanuskripten und Notizbüchern gibt es keine schriftlichen Hinterlassenschaften, die von Prichards revolutionärer Ästhetik Zeug- nis ablegen. Es ist vor allem Rémi Labrusse‘ Verdienst, Prichards in Vergessenheit gera- tene Gedanken der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben: In sorgsamer Archivar- beit hat er Prichards Briefe und Notizen thematisch aufgearbeitet und in Auszügen in den Apparat seines Buches Matisse. La condition de l’image gefügt.189 Prichard, der ohne zu einer professionellen Tätigkeit gezwungen zu sein über ein stattliches Auskommen verfügte, gab sich als mystischer Dandy, der zuweilen mit recht absonderlichen Manieren aufwartete. So untersagte er beispielsweise seinen Schülern und Anhängern den Verzehr von Fleisch. Außerdem hatte er ein Faible für katholische Zere-

188 Auszug aus dem Brief Prichards an Isabella Stewart Gardner, datiert auf den 26. November 1909. Siehe: W. M. Whitehall, Some Correspondence of Matthew Stewart Prichard and Isabella Stewart Gardner, in: Fenway Court, 1974, 17f. (fortan: Fenway Court 1974; deutsche Übersetzung: Schneider 1984, 732f.). 189 Der umfangreichste Teil der schriftlichen Hinterlassenschaften Prichards befinden sich in den Archives of the Isabella Stewart Gardner Museum in Boston. Aus der Inventarliste geht hervor, dass Prichard zwischen 1902 und 1924 insgesamt 285 Briefe an Isabella Stewart Gardner richtet. Weitere Dokumente Prichards befinden sich in den Archives Duthuit in Paris sowie in den Archives Bernard Berenson.

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monien in der Madeleinekirche, wenngleich er selbst nicht christlich war.190 Gleichwohl pflegte er enge Kontakte zu der vornehmen und kunstaufgeschlossenen Pariser Gesell- schaft. Mit Sarah Stein war er eng befreundet. Einmal in der Woche gab es im Hause Stein einen Empfangstag, an dem sich bis zu 30 Personen einfanden, um Prichard spre- chen zu hören.191

Eine revolutionäre Ästhetik

Prichards Vision einer neuen Ästhetik basiert zum einen auf der byzantinischen Kultur, die er sehr gut kannte, zum anderen auf der Philosophie Henri Bergsons, die durch dessen 1907 veröffentlichte Schöpferische Entwicklung192 Furore machte und in sämtlichen Pari- ser Intellektuellenzirkeln debattiert wurde. Mit der Originalität seiner plastischen Denk- kraft erweckt Prichard die Zivilisation Byzanz zum Leben und verschränkt sie mit der Dynamik der Bergsonschen Lebensphilosophie.193 In den Notizen eines Malers haben wir bereits Bergsons anderen Blick auf die Zeitlichkeit gestreift. Matisse bringt an besagter Stelle sein Unbehagen an der Malweise der Impressionisten zum Ausdruck. Er macht ihnen zum Vorwurf, dass sie nur flüchtige Augenblicke wiedergäben, die keine »Dauer« besäßen.194 Die› ›Dauer‹ bzw. die durée ist dasjenige, was den wahren Kern der Existenz trifft. Jedes Lebewesen besitzt seine eigene Dauer, die nicht als begrenztes Intervall aus einem linearen Zeitkontinuum herausgelöst werden kann, sondern sich unverzichtbar in die unendliche Entwicklung des Lebens hineinflicht.195 Bemerkenswert an der Philoso- phie von Bergson ist zuvorderst, dass er das Leben selbst ins Zentrum rückt – und dies in einer emotional bewegten Sprache. Die ›Lebensschwungkraft‹ bzw. der elan vital bringt unentwegt neue Formen hervor, wobei das Interesse eben kein übergeordnetes Woraufhin dieser Entwicklung ins Visier nimmt, sondern sich von dem Phänomen der lebendigen Vielfalt faszinieren lässt.196

Prichards glühender Sympathie für Byzanz auf der einen entspricht seine harsche Ableh- nung der klassischen, westlichen Tradition auf der anderen Seite. Während er der byzan- tinischen Kunst ihre besondere Gegenwartskraft und ihr Eingebundensein in die Lebens- welt des Menschen zu Gute hält, macht er der abendländischen Kunst zum Vorwurf, dass sie auf äußerlichen Gesetzmäßigkeiten wie der Schönheit basiere und in der illusionisti-

190 Vgl.: Labrusse 1999, 98. 191 Vgl.: Schneider 1984, 732. 192 Henri Bergson, L’eveolution creatrice, Paris 1907. 193 Vgl.: Labrusse 1999,99. 194 Vgl.: Flam 1982, 71. 195 »Das Entscheidende ist die Kontinuität des ins Unendliche gehenden Fortschritts, eines unsichtbaren Fortschritts, darin jeder sichtbare Organismus die kurze Zeitspanne lang, die ihm zu leben gegönnt ist, mit- wandert.« Siehe: Schöpferische Entwicklung 1927, 70f. 196 »Dennoch ist eben dies unsere Täuschung, wenn wir die Entwicklung des Lebens als Übergang von ›Ho- mogenen zu Heterogenem‹ oder durch irgend andere, aus der Zusammensetzung intellektueller Fragmente gewonnene Begriffe definieren. Wir stellen uns an einen der Endpunkte der Entwicklungsbewegung, gewiß den hauptsächlichsten, keineswegs aber den einzigen. Und nicht einmal von diesem eignen wir uns alles an, was er birgt. Denn was wir vom Intellekt festhalten, sind nur ein oder zwei von all den Begriffen, in denen er sich äußert: und dieser Teil eines Teiles ist es, den wir zum Stellvertreter des Ganzen erklären, zum Stellver- treter dessen sogar, was über alles Feste hinausschwillt, zum Stellvertreter der Entwicklungsbewegung selbst meine ich, deren jeweilige Phase nur dieses ›Ganze‹ ist. Siehe: Schöpferische Entwicklung 1927, 89.

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schen Wiedergabe einer tätig-tüchtigen Welt ihre vornehmliche Funktion finde; ihr mang- le es an innerer Lebendigkeit. Aus diesem Kontrast heraus verhilft er der alten Zivilisati- on Byzanz zu neuem Recht. Prichard besitzt zwar ein hervorragendes Wissen der byzan- tinischen Kultur – vor allen Dingen aber ist er ihr Liebhaber. Da er für die Sache brennt, wäre jeder neutrale Blick ungebührlich. Prichard ist ein ›seriöser Schwärmer‹, der von Byzanz Gebrauch macht, um seine eigene ästhetische Utopie zu konstruieren. Dabei scheut er keineswegs den Raum des Spekulativen zu betreten. Prichard beobachtet sehr aufmerksam, welche Erschütterungen den bildenden Künsten gegenwärtig widerfahren. Der Verlust ihrer einstigen Aufgabe, Werte und Konventionen zu repräsentieren, bietet in seinen Augen die großartige Gelegenheit zu einer fundamentalen Erneuerung. Die Sphäre der Kunst soll wieder eine lebendige werden. In seinem ästhetischen System ist die Kunst derjenige Raum, in welchem die geistige Kraft einer Epoche gleichermaßen aktiviert und sichtbar werden kann.197 In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass es Prichard keinesfalls darum geht, Byzanz als historische Epoche nostalgisch heraufzube- schwören. Vielmehr entdeckt er in der byzantinischen Bewegung eine strukturelle Dyna- mik, welche seine Vision einer modernen Ästhetik gleichermaßen fundiert und inspi- riert.198 Aus dem Jahr 1913 stammt folgende Notiz:

»I look at an object of Byzantine art with affection. As a student of art I am pleased by its evocative character. The action which suggests Christianity under the guise of love and not of dogma appeals to me also. But there is no justification for me to possess it. Our action to-day must find other symbols and we must remember that our psychology has changed. […] We cannot react to Byzantine art as did the Byzantine. We feel the slight psychological insufficiency of its constitution as well as our estrangement from its meaning. Art must always be modern.«

Wir erinnern uns, dass auch Matisse in den Notizen das schwierige Verhältnis der ver- gangenen zur gegenwärtigen Kunst aufgriff. Er sprach von immergültigen Wahrheiten, denen immer wieder neue Bedeutungen beigebracht werden müssten, weil der Künstler notwendig in seiner eigenen Zeit befangen ist.199 Ein Kunstwerk bleibt über die Jahrhun- derte hinweg in seiner ästhetischen Erscheinung wirksam – es affiziert den Betrachter nach wie vor. Durch den Akt des Kopierens würde es allerdings seine geschichtliche Di- mension verlieren und damit jeden künstlerischen Rang.

197 In einem späteren Brief an Isabella Stewart Gardner, datiert auf den 21. März 1921, fasst Prichard einen soeben gehaltenen Vortrag zusammen. Auch Jahre später bleibt Prichard seiner visionären Ästhetik treu: »Der Plan bestand darin zu zeigen, daß die klassische Kunst, sei es nun die griechische oder die der Renais- sance, keine Kunst sein kann, denn es ist unmöglich, die Kunst auf der Schönheit aufzubauen. [...] Sie ist vielmehr eine ziemlich grobe Form der Erfahrung, da sie im Gegensatz zum schöpferischen Elan steht und sich daher auch dem Willen des Lebens widersetzt. Dann zeigte ich, daß die byzantinische eine wahre Kunst ist und auf der Gefühlskraft der Architektur, der Musik und des Gottesdienstes beruhte, die uns bewegen, wenn wir unaufmerksam sind; und nach einer Salve oder zwei Schüssen gegen die italienische Malerei und Skulptur schloß ich damit, daß ich ein Vorgefühl einer neuen Religion vermittelte, die keine individualisti- sche, intellektualistische und in Wirklichkeit materialistische Religion sein würde, wie es das institutionali- sierte Christentum ist, sondern eine geistige, schöpferische Vereinigung.« Siehe: Fenway Court 1974, 27; deutsche Übersetzung: Schneider 1984, 733. 198 Vgl.: Labrusse 1999, 104. 199 Flam 1982, 76f.

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Matisse als künstlerischer Verwirklicher einer ästhetischen Vision

Matisse ist in den Augen Prichards derjenige Künstler, dem es am ehesten gelingt, eine innovative Malerei zu verwirklichen. Die beiden Männer treffen sich im Louvre oder anlässlich von Ausstellungen, um über die unterschiedlichsten Werke der Kunstgeschich- te zu debattieren. Obwohl Prichard in seiner Begeisterung für die orientalische Tradition in Matisse einen Gefährten findet, hat jener durchaus Schwierigkeiten damit, die abend- ländische Kunst allzu eilfertig abzutun. Zu groß ist Matisse‘ Bewunderung für die alten Meister des Louvre. Er sträubt sich dagegen, das dekorative Potenzial allein in der östli- chen Kunst zu verorten.200 Prichard besucht Matisse häufig in seinem Atelier, wo sie sich über die jüngsten Ar- beiten des Künstlers verständigen. Was die beiden Männer eint, ist das Wissen um die zeitgenössische Krise der Kunst und ihr Bestreben, einen Weg aus ihr heraus zu finden. Vor allem aber erkennt Prichard, dass Matisse‘ Bilder – wenn sie in ihrer Machart auch noch so grob erscheinen mögen – auf einer äußerst wachsamen artistischen Intelligenz gründen:

»I suppose Matisse will go out of date in turn, but in spite of his horribly untidy tech- nique, he seems the greatest of the modern men. Being both painter and sculptor he has a greater foundation than most, and he has founded himself on a tremendous draughts- manship. I have seen a photograph of his last composition, a ring of dancing women, or a ring expressing the rhythm of women dancing, for their existence is only suggested by light female symbols against a blue and darker background. Rodin is the only one who is based firmly enough to be continually progressing […]. Both are distinguished by exceptional intellectual powers, without which, and without which of a very solid and stolid sort, a man wields his brushes in vain.«201

Bereits in diesen wenigen Zeilen wird deutlich, dass Prichard eine ausgezeichnete Fähig- keit besitzt, Kunstwerke anschaulich zu analysieren. Er sieht sehr genau, welch entschei- dende Rolle für Matisse‘ Malerei sowohl die in der Bildhauerei erworbenen plastischen

200 In einem Brief an Helen Sears, einer jungen Förderin aus Boston, berichtet Prichard am 13. Februar 1910 von einer Debatte über ein Gemälde Rembrandts: »Earlier in the afternoon we had a conference at the Louvre about Rembrandt. My position about art seemed to disconcert him and he had to wriggle extraordinarily. He had to say that the subject in the PÈLERINS D’EMMAUS was unimportant, that Fromentin had not understood Rembrandt, that R’s pictures had decorative force and should be considered in that way; and when I showed him some Byzantine things he had to adopt an attitude which was very elaborate, artificial and untenable. He returned to the matter later in the afternoon in a way to show he was uncomfortable still. I gave Mrs. Stein a list of twenty or more differences between Matisse and Rembrandt which in heaven’s name I adjured her not to lose, and it will be amusing to hear the outcome. To me he quite certainly does not see the real bearing of his own work or that he is an innovator and an innovator whom others will follow soon. He said to me in the Louvre: ›Then you don’t like all these pic- tures – in the Long Gallery – and you place oriental art higher than them!‹ I said that to me oriental art was clearly higher than European, but I did not add that the importance of his painting was that it approached the oriental and was going away from the modern western methods. It is useless to hurry people: first they must arrive at conceiving your point of view – that’s the rub. Once they get there they will adopt it at once, for they never have one of their own!« Siehe: Labrusse 1999, 378. 201 Auszug eines undatierten Briefes an Isabella Stewart Gardner. Siehe: Labrusse 1999, 276f.

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als auch zeichnerischen Fähigkeiten spielen. Bezugnehmend auf eine Version des TAN- ZES, die ihm als Farbfotografie vorliegt, erscheint ihm die Beschreibung des bloßen Mo- tivs als »Kreis tanzender Frauen« unbefriedigend, denn er modifiziert sie sogleich intui- tiv. Sichtbar werde vielmehr »ein Kreis, der den Rhythmus tanzender Frauen zum Aus- druck bringt, deren Existenz allein durch den Kontrast heller weiblicher Figuren zu einem dunkleren, blauen Hintergrund hervorgerufen wird.« Es ist die Bewegung des Tanzes selbst, die sich in diesem Bild zeigt. Diese Beobachtung Prichards trifft, wie wir in den Notizen gesehen haben, sehr genau das, was Matisse in seiner Bildkunst anstrebt: eine Malerei, die keiner äußeren Sinnstiftung bedarf, sondern alle Bedeutung in sich trägt. Matisse kann Prichards Fähigkeit zur bildimmanenten Reflexion gar nicht hoch ge- nug schätzen. Für ihn ist es eine glückliche Fügung, auf jemanden getroffen zu sein, der seine bildnerischen Probleme nicht nur verstehen, sondern auch intellektuell unterfüttern kann. Prichard sensibilisiert Matisse für die ästhetische Wirksamkeit der orientalischen, besonders aber der byzantinischen Kunstwerke. Er hilft ihm, seinen Horizont zu erwei- tern. Matisse erweist sich als gelehriger Schüler und versucht die neu gewonnenen Ein- blicke für seine Malerei fruchtbar zu machen.202 Natürlich schmeichelt es Matisse, dass der Freund so viel auf seine künstlerische Arbeit hält und ihn darin bekräftigt, ein großer Erneuerer zu sein. Nebenbei gelingt es Matisse, sich mithilfe der Philosophie Bergsons von den Kubisten und Futuristen abzugrenzen, die in ihren Bildfindungen analytisch ver- fahren und dabei doch an der Repräsentation festhalten.203

Der Betrachtungsmodus der passiven Aufmerksamkeit

Prichard interessiert sich vor allen Dingen für die ästhetische Wirkungsweise von Matis- se’ Bildern. Bei ihrer Betrachtung macht er eine erstaunliche Entdeckung:

»If you pay attention to his paintings, you will find they represent nothing, that your function of analysis and comparison fails you: The intelligence is baffled in the pre- sence of a Matisse. Attention to Matisse as attention to music will lead to a mystical ec- static state, such as that produced by drugs or music, where you have visions of the au- delà but learn nothing of the reality which Matisse has given you. If you receive them in state of distraction, that is when they are used in an applied fashion and your atten- tion is given to some vital matter of action – as your attention should be employed in life – they will aid you to keep your attention fixed.«204

Angesichts der Bilder von Matisse wird der Betrachter offensichtlich von jeglicher Kon- zentrationsleistung suspendiert. Wenn er versucht, das Geschehen mit seinem Verstand

202 Matisse‘ Tochter Marguerite Duthuit, beschreibt die Wichtigkeit, welche die Begegnung mit Prichard für ihren Vater hatte, in ihren späten Notizen wie folgt: »Les conversations avec Prichard, comme avec les Stein, aidaient Matisse à sortir de l’ambiance d’atelier, à se distraire des préoccupations quotidiennes – ouvraient la perspective d’horizons plus larges qui le trou- blaient sur le moment mais ne pouvaient être que féconds.« Siehe: Labrusse 1999, 97 203 Vgl.: Labrusse 1999, 99. 204 Notiz zu Beginn des Jahres 1911. Siehe: Labrusse 1999, 378.

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zu begreifen und die Bedeutung des Dargestellten zu entschlüsseln, scheitert er. Es gibt keinen hintergründigen Sinn, der zu erraten wäre. Zu sehen ist nicht mehr und nicht we- niger als das Bild selbst, welches sich aus farbigen Formen und Flächen figuriert. Es ist ganz und gar da, aber es fordert nicht: keine Fokussierung, keine gerichtete Aufmerksam- keit. Der Betrachter wird von den Bildern umfangen. Prichard geht noch weiter. Wenn man die Bilder im Zustand der Zerstreuung wahrnimmt und sich gleichzeitig einer wich- tigen Tätigkeit widmet, dann können Matisse’ Bilder einem sogar helfen, die Konzentra- tion hierauf zu bewahren. In dieser passiven Betrachtungsweise der Bilder klingt – freilich in verwandelter Form – Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft an. Kant bemerkt, dass sich das ästheti- sche Geschmacksurteil gerade dadurch auszeichnet, dass es »ohne alles Interesse« ist.205 Die ästhetische Erfahrung, beispielsweise die Betrachtung eines Kunstwerks, läuft auf kein Ziel hinaus. Die Vorstellungskräfte geraten in ein »freies Spiel«206, das sich immer wieder von Neuem beleben kann. Kants Definitionen sind von prinzipieller Natur, das heißt, sie basieren auf der inhärenten Folgerichtigkeit seines denkerischen Systems. Es ist davon auszugehen, dass Prichard mit Bedacht auf Kants Ästhetik Bezug nimmt und dessen allgemeine Überlegungen in Hinblick auf die Erfordernisse seiner ei- genen, dekorativen Ästhetik weiterdenkt und modifiziert. Sinnspruchartig mutet folgende Notiz an:

»The aim of decoration is to engage and baffle the inattention. We decorate that on which we do not wish the attention to rest, e.g. clothes, walls, etc. Decoration is food for the inattention.«207

Roger Fry, LA CONVERSATION und die Bewahrheitung des ›Wortes vom Lehnstuhl‹

Wir wissen nicht, welche Bilder Prichard genau vor Augen hat, wenn er der ›ungerichte- ten‹ Betrachtung huldigt. Allerdings gibt es einen zweiten, der angesichts eines ›besonde- ren‹ Gemäldes von Matisse die passive Aufmerksamkeit ins Spiel bringt. Es handelt sich um die CONVERSATION, die wir zu Beginn unserer Ausführung besehen haben. Der be- sagte Zweite ist Roger Fry.208 Er präsentiert das Gemälde im Oktober 1912 wenige Wo-

205 »Man muß nicht im mindesten für die Sache eingenommen, sondern in diesem Betracht ganz gleichgültig sein, um in Sachen des Geschmacks den Richter zu spielen. Wir können aber diesen Satz, der von vorzügli- cher Erheblichkeit, nicht besser erläutern, als wenn wir dem reinen uninteressierten Wohlgefallen im Ge- schmacksurteile dasjenige, was mit Interesse verbunden ist, entgegensetzen.« Siehe: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), hg. von Wilhelm Weischel, Frankfurt am Main 1974, 116f. (fortan: KdU) 206 Siehe: KdU, 132. 207 Notiz, nicht datierbar. Siehe: Labrusse 1999, 278. 208 Roger Fry (1866 – 1934) ist ein englischer Kunstkritiker, der auch selbst malte. Die modernen künstleri- schen Entwicklungen setzt er mit der jüngeren und älteren Kunstgeschichte in Bezug. Sein sorgfältiger Blick gilt vor allen Dingen den Werken in ihrer ästhetischen Wirksamkeit. Fry spricht von zwei Naturen, die in jedem Künstler wohnen: Dieser ist auf der einen Seite der realen Erfahrungswelt (vision) verpflichtet, die er repräsentativ zur Darstellung bringt, auf der anderen Seite begehrt er als Schöpfer (maker/designer), etwas Neues in die Welt zu bringen, kurz: ein Kunstwerk (objet d’art) zu schaffen. Diese beiden Naturen sind durch die Zeiten hindurch wirksam geblieben. Die ganze Kunstgeschichte spielt sich zwischen diesen beiden Polen ab. Ähnlich wie Matthew Stewart Prichard befindet Fry die abendländische Kunstgeschichte von 1300-1900 als eine Epoche, in welcher die repräsentativen Kräfte übermächtig sind. Auch er führt als Gegenbeispiel die

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chen nach seiner Fertigstellung in der Second Post-Impressionist Exhibition in den Graf- ton Galleries in London.209 Im Rahmen eines Artikels, der anlässlich der Ausstellung er- scheint, beschreibt er das Bild von Matisse:

»In his CONSERVATION there is no dramatic tension. This commonplace event is seen with epic generalization. It becomes placid, monumental end sedate, like some early Assyrian sculpture. At first sight it is grotesque. That is because of our inveterate habit of translating images back into life instead of regarding them simply and passively. In looking at early art we have learned this passive attention because the act of translation is difficult to us; we know too little of the actual life which gave rise to the image. It needs some familiarity with such a decoration as the CONVERSATION to do this, but when once it is done, the strange impressiveness of the design, the perfect rightness of the relations, becomes apparent, and in the end one is inclined to agree with Matisse that the mood his art inspires is one of serenity and repose.« 210

Unabhängig von Prichard bemerkt Fry, dass Matisse‘ Malerei nicht in der Wiedererken- nung von Motiven oder einer Handlung aufgeht. Die CONVERSATION erzeugt keine dra- matische Spannung, sie erzählt nichts. Sobald sich der Betrachter bereit findet, von der Suche nach einem dramatischen Höhepunkt abzulassen und sich der ästhetischen Wirk- samkeit des Bildes als Ganzes hingibt, eröffnet sich ihm ein atmosphärischer Raum. In unserer eigenen anfänglichen Betrachtung der CONVERSATION haben wir erlebt, wie un- ser Auge von selbst zu springen anfängt. Es schweift in unablässiger Bewegung kreuz und quer über die Bildfläche, von der sitzenden Frau zum stehenden Mann, von drinnen nach draußen und vice versa, von den roten Farbtupfen der Gartenzone zu dem gewalti- gen, alles umfangenden Blau des Raumes. Das Geschehen der CONVERSATION ereignet sich in diesem endlosen Schwanken zwischen allen Richtungen – zwischen Nähe und Ferne.

Matisse‘ hoher Anspruch an eine dekorative Malerei, wie er im Wort vom Lehnstuhl an- klingt, scheint in unserer visuellen Erfahrung der CONVERSATION seine Erfüllung zu fin- den. Indem wir alle Aufmerksamkeit fahren lassen, wird unser Geist frei und entlastet. Man könnte genau dies für die spirituelle Dimension halten, von der Matisse in den Noti- zen gesprochen hat.

byzantinische Bewegung an, welche durch ihr expressives Begehren das Kunstwerk wiedergewinnt. Vgl.: Roger Fry, Henri Matisse, London 1935, abermals gedruckt in: A Roger Fry Reader, hg. Von Christopher Reed, Chicago 1996, 401ff.. 209 Die Ausstellung dauert vom 5. Oktober bis zum 31. Dezember 1912. Roger Fry präsentiert unter dem historisch aufwartenden Titel Second Post-Impressionist Exhibition aktuelle künstlerische Positionen aus Frankreich, England und Russland, wobei die Arbeiten von Henri Matisse und im Zentrum der Ausstellung stehen. 210 Siehe: Roger Fry, The Grafton Gallery: An Apologia, in: The Nation, 9 November 1912, 249-251, aber- mals gedruckt in: A Roger Fry Reader, hg. Von Christopher Reed, Chicago 1996, 112-116.

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B. Matisse’ Auffassung von Figur und Raum

Die Vorliebe für die abendländischen Bildgattungen

Der Effekt der Zerstreuung, den wir während der Betrachtung der CONVERSATION erle- ben, legt nahe, dass Matisse dem Raum, den Dingen und Figuren in seiner Bildkunst grundlegend anders begegnet als wir es von unserem alltäglichen, rational ausgerichteten Umgang mit ihnen gewohnt sind. Kein singuläres Motiv und auch kein singulärer Gegenstand sollen in den Fokus ge- raten, die einen eindeutigen Sinn- oder Zweckzusammenhang stiften würden. Die Rezep- tion im Modus der uninteressierten Aufmerksamkeit setzt voraus, dass zwischen den ein- zelnen Elementen des Bildes bzw. den Bildmitteln keine Hierarchien existieren. Alles wird egalitär aufgefasst: Die Farben, die Weise ihres Auftrags, die linearen Elemente der Zeichnung und all das, was an Figur oder Figuration denken lässt. Mit einer ornamentalen All-over-Behandlung der Fläche wäre diesem Anspruch mit Leichtigkeit Genüge getan. Dann jedoch hätten wir es mit einer dekorativen Anwendung zu tun und nicht mit einer ganzheitlichen bildnerischen Komposition, wie sie Matisse darbietet. Es ist bemerkenswert, dass Matisse gerade in jenen Jahren der Freundschaft mit Prichard den klassischen abendländischen Bildgattungen treu bleibt. Mit Vorliebe malt er ›Interieurs‹, ›Stilleben‹ und ›Porträts‹. Sehen wir uns die einzelnen Gattungen der Reihe nach an:

Interieur

Das Interieur gibt in der Regel einen eingerichteten Innenraum wieder, in dessen Kanten und Fluchten die Gesetze der Zentralperspektive wirksam werden. Häufig gibt es ein Fenster, welches den Kontrast zu einer außen liegenden Wirklichkeit thematisiert. Zuwei- len ist es von menschlichen Figuren belebt.

Stilleben

Das Stilleben hat einiges mit dem Interieur gemein, denn die künstliche Anordnung und Ausbreitung der leblosen Dinge verlangt nach einem ›inneren‹ Ort. Stilleben werden häu- fig auf Tischen arrangiert. Den Dingen ist all das genommen, was ihrem ursprünglichen Wesen gemäß ist – gerade ihrer natürlichen Herkunft sind sie beraubt: Es finden sich Schnittblumen in Vasen, überreife Früchte in und außerhalb von Behältnissen, Jagd- Trophäen auf blanken Tischtüchern.

Porträt

Das Porträt hingegen setzt einen Menschen ins Bild. Jedoch bezieht sich der Anspruch des Porträts nicht nur auf die physiologische Erscheinung des jeweiligen Menschen, es will ihn auch in seiner ganzen Individualität und Intimität sichtbar machen. Es ist die repräsentative Bildgattung schlechthin. Der Fokus liegt auf dem Gesicht, weil seine Züge

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und die Mimik am meisten über den Menschen zu verraten scheinen. Das Antlitz und auch sein Bildnis gelten als Spiegel der Seele. Allen drei Gattungen ist gemein, dass sie der unaufhebbaren Wechselbeziehung bildliche Gestalt verleihen, die zwischen Raum und Ding oder zwischen Raum und menschlicher Figur besteht. Das Bild bietet einen Ort dar, an dem sich jemand oder etwas befindet. Unabhängig von dieser Umgebung hätte das Ding oder die Figur keine Mög- lichkeit, ihre Gegenwart zu entfalten. Umgekehrt wird die jeweilige Räumlichkeit erst durch dasjenige, was sie birgt, visuell erfahrbar. Derart ist die räumliche mit der figürli- chen Dimension unauflösbar ineinander verschränkt. Das Interieur bedarf seines Inven- tars, um als Innenraum in Erscheinung zu treten. Die Oberfläche des Tisches bliebe ohne das Arrangement des Stillebens als solche ohne rechten Sinn und der besondere Mensch könnte sich ohne einen ihm zugehörigen bildlichen Ort schwerlich als glaubwürdiges Individuum hervortun. Matisse fühlt sich offensichtlich von der Möglichkeit angezogen, in diesen Bildfor- men jenen wechselseitigen Beziehungen nachzuspüren, die zwischen Gegenständen, Fi- guren und Raum existieren. Gleichzeitig möchte er dem dekorativen Anspruch der neuar- tigen Ästhetik genügen, welche er mit der Hilfe seines Freundes Prichard intellektuell durchdrungen hat: Es gilt also, Bilder zu malen, die auf der einen Seite gegenständlich sind, auf der anderen Seite aber davon absehen, die Konzentration des Betrachters auf ein wiedererkennbares Motiv zu lenken. Der Blick soll in fortwährende Bewegung versetzt werden.

Raum und Raumgefühl

Der physikalisch-technische Raum

Was aber macht überhaupt ›den‹ Raum aus? Wenn wir uns in der ›alltäglichen Wirklich- keit‹ bewegen, vertrauen wir auf unsere Fähigkeit des räumlichen Sehens. Es ist dasjenige Sehen, welches den Raum als eine Ausdehnung in drei Dimensionen anschaut und seinen Zwecken gemäß durchdringt. Es ist der Raum der physikalisch-technischen Konstruktion. Entfernungen werden greifbar, indem wir die Strecke zwischen Punkt A und Punkt B bemessen. Die Definition eines Körpers erfolgt, indem sein Volumen aus Höhe, Breite und Tiefe errechnet wird. Der Raum erscheint als ein unendlich großer Behälter, in dem sich Körper und Dinge befinden. Mit Hilfe eines Koordinatensystems werden sie verort- bar. Für die Art und Weise, wie sich die Dinge und Körper im Raum bewegen, gibt es keinen Begriff. An ihre Stelle rücken als relevante Größen ›Geschwindigkeit‹ und ›Be- schleunigung‹, welche unter Zuhilfenahme der Zeit als vierter Dimension in einem Quo- tienten gefasst werden: Geschwindigkeit als Distanz/Zeitintervall, Beschleunigung hinge- gen als Distanz/Zeitintervall2. Dieser physikalische Raum – so abstrakt er in seinem Ur- sprung auch sein mag – ist derjenige, welcher das Leben der Menschen beherrscht und der es ihnen zugleich gestattet, selbst Herrschaft auszuüben. Hier lassen sich Ziele tat-

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sächlich (örtlich) erreichen, hier ist alles fassbar, manifest und konkret, weil die wissen- schaftliche Vorstellung im Vorhinein seine Bedingungen und Möglichkeiten festlegt. Die Lebendigkeit und der Eigenwille der Dinge sind hierin nicht vorgesehen.

Der mathematische Raum und das zentralperspektivische Verfahren des Leon Battista Alberti

Die Wissenschaft, welche den physikalischen Raum in den Blick nimmt, ist die Optik – die Lehre vom Sehen. In der antiken Optik blieb stets die Vorstellung maßgeblich, »dass eine doppelläufige Bewegung vom Auge wie von jedem einzelnen Objekt«211 ausgeht. Nach dieser Überzeugung kommt es zu einer physischen Berührung des Auges mit dem gesehenen Gegenstand: Einerseits hinterlässt dieser einen Abdruck im Auge, andererseits gehen von den Augen selbst Sehstrahlen aus, welche wiederum den Gegenstand erfassen. Die Augen sind aktiv und passiv zugleich. Sie können das, was im Tageslicht erscheint, empfangen, vermögen aber zugleich, selbst Licht hervorzubringen. Sie sind Lichtträger (phosphora). Wir kennen in unserer Sprache noch das alte Wort ›Augenlicht‹, das uns zum Sehen verhilft. Der arabische Mathematiker Alhazen (965-1040) nahm die antike Optik zum Ausgangspunkt seiner Forschungen.212 Er betraute das Licht mit einem Eigen- wert. Anders als die antiken Naturphilosophen interessierte ihn dabei weniger die Frage, wie sich die realen Körper im Auge abbilden bzw. widerspiegeln (Reflektion). Vielmehr wollte er erforschen, auf welche Weise sich das Licht bricht (Refraktion) und seinen Weg ins menschliche Auge findet. Der Akzent lag auf dem Licht selbst, nicht auf den Gegen- ständen. Alhazens optische Theorie war an den europäischen Hochschulen seit dem 13. Jahrhundert hinlänglich bekannt und galt noch Johannes Kepler und Galileo Galilei als maßgeblicher Ausgangspunkt für ihre Forschungen. Alhazen betrieb seine optischen Er- kundungen auf der Grundlage der Mathematik. Der islamische Wissenschaftler wollte die Wege des Lichts »vermessen«.213 Er sah es als eine Kraft an, welche die mathematische Ordnung des Kosmos »enthüllte«.214 Obwohl die abendländische Optik auf den Erkenntnissen Alhazens beruhte, und sei- nen Antrieb in Hinblick auf Vermessung und Messbarkeit teilte, schlug sie doch einen anderen Weg ein. Der Eigenwert des Lichtes als Ziel ihrer Forschungen anzusehen, war den Wissenschaftlern des christlichen Abendlandes fremd. Sie waren vielmehr darauf bedacht, durch mathematische Gesetzmäßigkeiten auch im Blicken der Dinge und Körper Herr zu werden. Die Frage blieb allein, welchen erkenntnismäßigen Rang man diesen ›Sehbildern‹ beimessen sollte und durfte. 215

211 Siehe: Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine-west-östliche Geschichte des Blicks, München 2008, 114 (fortan: Belting 2008). 212 Vgl. Belting 2008, 105. 213 Siehe: Belting 2008, 104ff. 214 Siehe: Belting 2008, 113. 215 Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich, die Umdeutung von einer Sehtheorie (Optik) in eine an- wendbare Bildtheorie, wie sie im italienischen Quattro- und Cinquecento von Seiten der Künstler und Kunst- theoretiker forciert wird, in ihrer Komplexität darzustellen. Hans Belting hat dieses Phänomen in seinem Buch Florenz und Bagdad. Eine west-östliche Geschichte des Blicks eingehend untersucht. Dabei rückt er den arabischen Mathematiker Abu Ali al-Hahsan Ibn al-Haitham (965-1040) ins Zentrum des Interesses, der im Westen Alhazen genannt wird. Bezugnehmend auf die antike Optik des Euklid und Ptolomäus gilt Alhazens

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Hans Belting weist auf die entscheidende Rolle hin, welche der italienische Mathe- matiker Biagio Pelacani (gestorben 1416) für die Konzeption eines berechenbaren Sehr- aumes spielte, »der das Sichtfeld des Auges symbolisierte«.216 Pelacani verhilft der stets unter dem Verdacht des Trugs stehenden Seherfahrung zu neuem Recht, indem er sowohl den Raum als auch die in ihm befindlichen Dinge auf ein blickendes Subjekt bezieht. Raum und Dinge stehen diesem Subjekt gegenüber, das Kenntnis von ihnen erlangen will. Die Ausdehnung (latitudo) des Raums sowie die Abstände zwischen den Dingen (distantia) sind messbare Größen und stellen dem Sehbild in allen drei Dimensionen »ge- sicherte Daten« zur Verfügung.217 Die visuelle Wahrnehmung erfährt somit eine folgen- reiche Aufwertung: Die Sehkraft erhält bei Biagio Pelacani kognitiven Rang und stattet auch die Bildkunst mit neuer Souveränität aus.

So fußt das konstruktive Verfahren der Zentralperspektive, das die italienische Malerei im 15. Jahrhundert ausbildet, auf eben jener Vorstellung eines mathematischen Raumes. Im Folgenden orientieren wir uns an der Argumentation Dieter Rahns, der in seiner Stu- die Raumdarstellung und Zeitbezug in der Malerei die fundamentale und ›langfristige‹ Bedeutung der mathematischen Konstruierbarkeit für die Konstitution des malerischen Bildraums herausgestellt hat.218 Die gemalten Dinge, Gegenstände und Figuren sollen einer einheitlichen Ordnung eingeschrieben werden, um der räumlich gesichteten Realität aufs Beste zu entsprechen. Leon Battista Alberti ist der erste, der die wissenschaftlichen Ansprüche an die Malerei formuliert und in seinem 1435/36 erschienenen Traktat Della Pittura systematisch fasst. Er gibt detailgenau darüber Auskunft, worauf bei der maleri- schen Nachbildung des Naturvorbildes Sorgfalt verwandt werden muss. Die korrekte

Aufmerksamkeit den Wegen, die das Licht nimmt – wie es ›zum‹ bzw. ›in‹ das menschliche Auge findet. Er erarbeitet eine detaillierte Sehtheorie, die in Form seines ›Buches der Optik‹ bereits im 13. Jahrhundert an den westlichen Hochschulen bekannt war und für die europäischen Naturwissenschaften bis weit in die Neu- zeit hinein ein wesentliches Fundament blieb. Jahrhunderte lang trägt dieses Werk den lateinischen Titel Perspectiva, weshalb es in Lauf der Geschichte oftmals voreilig auf die Belange der Bildkunst bezogen wur- de. Belting betont, welch entscheidende Bedeutung der östlich-islamischen bzw. westlich-christlichen Her- kunft beizumessen ist, wenn es um die Fragen und Ziele geht, welche Wissenschaften oder Künste in ihren Untersuchungen des Blicks verfolgen. Der Moslem Alhazen schaut die optischen Eindrücke nicht als Abbil- der von Körpern an, die als Grundlage von materiellen Bildern oder gemalten Darstellungen dienen könnten. Das strenge Bilderverbot des Islam schließt eine solche Herangehensweise von vornherein aus. Die Wahr- nehmung der Außenwelt erfolgt nicht durch Abdrücke, welche die realen Körper im Auge hinterlassen, - dies war die Vorstellung der antiken Optik (Reflekion) - sondern »punktweise werden Formen von den Oberflä- chen der Dinge« durch Sehstrahlen übertragen (S. 113). Alhazens verfolgt die Bahnen des Lichts und seine Brechungen (Refraktion). Das Licht ist in der arabischen Optik bedeutsamer als die körperlichen Phänomene selbst. Alhazens Forscherdrang liegt Beltings Ansicht nach eine Weltanschauung zu Grunde, in der das Licht (anstelle von Schwerkraft und Zufall) die beherrschende Kraft des Kosmos ist. Einerseits folgt es den physi- kalischen Gesetzen und ist insofern ganz diesseitig, andererseits werden gerade im Licht die mathematischen Gesetze, auf welcher die kosmische Ordnung beruht, offenbar. Den Theoretikern und Künstlern der Renais- sance ist die optische Lehre Alhazens wohl bekannt. Allerdings bauen sie die Sehtheorie in eine Bildtheorie um, indem sie den Fokus fort von den ›eigenwertigen‹ Lichtbahnen auf ein berechenbares Blickfeld rücken, in dem sich die Dinge und Körper befinden. Dieses mathematisch organisierte Sichtfeld ließ sich auf die Bildkunst anwenden. Damit war das mächtige Verlangen befriedigt, den wissenschaftlichen Ansprüchen der Messbarkeit auch in der Malerei zu genügen. Vgl.: Belting 2008. 216 Siehe: Belting 2008, 163. 217 Siehe: Belting 2008, 162. 218 Vgl.: Dieter Rahn, Raumdarstellung und Zeitbezug in der Malerei. Zur Kunst und Kunstgeschichte André Massons, Mittenwald 1982, 26-29.

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Wiedergabe des optischen Eindrucks ist hierbei das ausschlaggebende Kriterium. Alberti ist darauf bedacht, die Malkunst auf mathematischen Prinzipien zu gründen und sie derart einer technischen Anwendung zuzuführen. Im Vorwort beschreibt er sein Vorhaben wie folgt:

»Beim Schreiben dieser sehr knappen (drei) Abhandlungen über die Malkunst werden wir, damit unsere Rede gut verständlich sei, zunächst bei den Mathematikern jene Din- ge holen, die unseren Gegenstand betreffen; und wenn sie bekannt sind, werden wir, soweit unser Talent reicht, die Malkunst aus den ersten Grundlagen der Natur darle- gen.«219

Alberti unterlässt es nicht, auf den Unterschied aufmerksam zu machen, der zwischen dem Vorgehen des Mathematikers und dem des Malers besteht. Während ersterer Raum und Dinge rein verstandesmäßig und deshalb unabhängig von jeder stofflichen Anschau- ung konstruiere, gelte das Interesse des Malers der Nachbildung der sichtbaren Welt. Diese scheinbare Bescheidung des Malers lenkt aber paradoxerweise gerade von dem zentralen Anliegen Albertis ab, die gesichteten Dinge selbst in konstruierbare Körper zu verwandeln, die sich aus Punkten, Linien und Flächen formieren. Die Art und Weise, wie die Dinge in Erscheinung treten – die Stimmung oder Emotion, welche sie auslösen, inte- ressiert ihn dabei nicht. Maßgeblich ist die einheitlich konstruierte Komposition. Um das perspektivische Verfahren, welches die gelingende ›Nachahmung‹ garantieren soll, an- schaulich zu machen, setzt Alberti die zu bemalende Bildfläche mit dem Durchschnitt durch die Sehpyramide gleich:

»Wenn sie denn die Fläche mit ihren Linien umschreiben und mit Farben die um- schriebenen Stellen ausfüllen, sollen sie lernen, dass nichts anderes gesucht wird, als wie die Formen der gesehenen Gegenstände auf dieser Fläche darzustellen sind, näm- lich genau so, als ob die Fläche aus durchsichtigem Glas wäre, sodass die Sehpyramide sie durchdringen könnte, und ein bestimmter Abstand, eine bestimmte Beleuchtung und eine bestimmte Stellung des Zentralstrahls in der Luft und an irgendwelchen anderen Orten angenommen werden.«220

Die Konstruktion des Raumes und der in ihm befindlichen Dinge gemäß jenes Durch- schnitts durch die Sehpyramide ist nur unter der Bedingung möglich, dass die notwendi- gen Parameter ›festgestellt‹ werden: Die Entfernung des Malers inklusive seines Augen- punktes von der Bildfläche sowie die Lichtsituation. Von der Tatsache, dass der Maler im Normalfall mit einem Augenpaar blickt – bei seiner räumlichen Konstruktion folglich einen zweiten Zentralstrahl zu berücksichtigen hätte – sieht Alberti zu Gunsten eines ›einheitlichen‹ Konstruktionsprinzips ab. Das Problem der praktischen Umsetzung dieser imaginierten Sehpyramide mit glä- serner Basis scheint Alberti gesehen zu haben. Denn wenig später bemüht er eine weitere Vorstellung, welche das malerische Verfahren verdeutlichen soll und konkretisiert seine

219 Siehe: Leon Battista Alberti, Della Pittura/Über die Malkunst (1435/36), hg. von Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda, Darmstadt 2002, 67 (fortan: Alberti 2002). 220 Siehe: Alberti 2002, 84f.

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Anweisungen. Nun vergleicht er die Bildfläche mit dem berühmt gewordenen ›offenen Fenster‹:

»So weit haben wir alles dargelegt, was zum Sehvermögen und zur Schnittfläche ge- hört. Da es aber nicht nur nützlich ist, Kenntnis von der Schnittfläche zu haben, son- dern der Maler einen Schnitt auch ausführen können muss, wollen wir nun darüber sprechen. Alles andere beiseite lassend, werde ich hier nur davon sprechen, wie ich selbst beim Malen vorgehe. Als Erstes zeichne ich auf der zu bemalenden Fläche ein rechtwinkliges Viereck von beliebiger Größe; von diesem nehme ich an, es sei ein offenstehendes Fenster, durch das ich betrachte, was hier gemalt werden soll; und darauf lege ich nach Belieben fest, von welcher Größe ich die Menschen in meinem Gemälde haben möchte; die Länge dieses Menschen zerlege ich in drei Teile, die für mich proportional sind zu dem Län- genmaß, welches ›Elle‹ heißt. Denn misst man einen gewöhnlichen Menschen aus, so sieht man, dass seine Länge fast drei Ellen beträgt; mit diesen [proportionalen] Ellen unterteile ich die Grundlinie des Rechtecks in so viele Abschnitte, wie sie fasst; und damit ist für mich diese Linie selbst proportional zum letzten Größenverhältnis [unter- teilt], das zuvor in der Senkrechten festgelegt wurde. Dann bringe ich innerhalb dieses Rechtecks, wo es mir richtig scheint, einen Punkt an, der den Ort einnimmt, auf wel- chen der Zentralstrahl trifft, und den ich deshalb ›Zentralpunkt‹ nenne. Dieser Punkt sollte passenderweise nicht höher über der Grundlinie des Rechtecks angebracht wer- den, als es der Größe des Menschen entspricht, den ich darin zu malen habe, denn auf diese Weise scheinen der Betrachter und die gesehenen gemalten Gegenstände auf der gleichen Ebene zu stehen. Nachdem also der Zentralpunkt nach meiner Anweisung an- gebracht worden ist, ziehe ich von ihm gerade Linien zu jeder Unterteilung der Ab- schnitte auf der Grundlinie des Rechtecks; diese gezogenen Linien zeigen mir, wie je- des quer verlaufende Größenverhältnis aufeinander folgt und sich verändert, beinahe bis ins Unendliche.«221

Durch die Fenstermetapher weist Alberti dem Bildraum eine Bewegungsrichtung zu. Der Raum öffnet sich ›vor‹ dem Auge des Betrachters und flieht nach draußen – in die Ferne. Der Bildraum gibt sich insofern als glaubwürdige Fortsetzung eines inneren Raums zu verstehen. Das bedeutet zugleich, dass sich der blickende Betrachter selbst außerhalb des Bildraums befindet: »Ein Fenster erlaubt dem Betrachter, mit seinem Körper ›hier‹ zu sein und zugleich körperlos ›dorthin‹ zu kommen, wohin nur ein Blick gelangen kann. […] Während das Auge das Hindernis der Wand überwindet, entkörperlicht es den Be- trachter, der am Fenster steht.«222 Es ist bemerkenswert, dass sich das lineare Gerüst die- ses Bildraums allein von der Lage des zentralen Augenpunktes im Verhältnis zur Bildflä- che her konstruieren lässt. Das Lot von jenem Punkt auf die Fläche markiert den soge- nannten Fluchtpunkt, in dem sich alle Tiefenlinien schneiden. Die Waagrechte durch diesen Punkt ergibt die Horizontlinie. Hierzu ist kein einziger Körper oder Gegenstand

221 Siehe: Alberti 2002, 93. 222 Siehe: Belting 2008, 263.

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vonnöten. Der Bildraum ist an sich und funktioniert unabhängig von den Dingen – er liegt ihnen voraus.223

Die abendländische Malerei hat das zentralperspektivische Verfahren als grandiosen Fort- schritt der räumlichen Darstellung erfahren und die Konstruktion zum maßgeblichen Ge- staltungsprinzip erhoben. Fortan ist dem Blick auf die ›Natur‹ das perspektivische Koor- dinatennetz eingeschrieben, welches die Dinge und Figuren als Gegenüberstehende – als Objekte erfasst. Maler wie Betrachter sind vor dem Gemälde ›festgestellt‹. Der Preis, welchen die perfekte Anwendung der perspektivischen Projektion fordert, ist die Bewe- gungslosigkeit. Nun haben natürlich nicht alle italienischen Künstler des 15. und 16. Jahrhunderts diese Maltheorie Albertis einfach ›blind‹ angewendet. Gerade bei den gro- ßen Meistern wie Piero della Francesca (1420-1492), Leonardo (1452-1519), Raffael (1483-1520) oder Michelangelo (1475-1564) ist die Zentralperspektive neben der Farb- perspektive und dem Prinzip der parallelen Staffelung nur eines von vielen Mitteln, der Darstellung räumliche Plausibilität zu verleihen. Doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass jenes konstruktive Verfahren, welches den Bildraum einer einheitlichen Ordnung unterwirft, in der abendländischen Malerei bis ins 19. Jahrhundert hinein ein selten hin- terfragtes Vorrecht in Anspruch nehmen konnte.

Matisse‘ Raumgefühl

Auch in Matisse‘ Malerei spielt das Fenster als Motiv und Metapher eine besondere Rol- le, wenn es darum geht, die Vorstellung vom Bildraum zu vermitteln. Als der Kunstkriti- ker E. Tériade Matisse nach dem Grund für die Beständigkeit des Fenstermotivs in seiner Bildkunst fragt, entgegnet Matisse:

»Ich will meine Empfindung wiedergeben. Diese seelische Verfassung wird hervorge- rufen durch die Gegenstände, die mich umgeben und die in mir weiterwirken: angefan- gen beim Horizont bis zu mir selbst, ich selbst mit eingeschlossen. Denn sehr oft ver- setze ich mich in das Bild, und ich nehme wahr, was hinter mir ist.«224

In diesen wenigen Zeilen tut Matisse nichts Geringeres, als den Sinn der westlichen Fen- stermetapher in ihr Gegenteil zu verkehren: Einerseits ändert er die Richtung des Blicks, den er nicht in die Ferne fliehen lässt, sondern vom Horizont in seine unmittelbare Um- gebung ›hereinholt‹; andererseits macht er seinen eigenen Körper im Bildraum gegenwär- tig und bringt ihn mit den anderen Dingen und Gegenständen ins Spiel. Matisse‘ Vorstel- lung von dem, was ›Raum‹ in der Kunst bedeutet, steht folglich im harschen Kontrast zu jenem mathematischen Raumverständnis, das seinen bildnerischen Ausdruck in der Zent- ralperspektive findet. In einem Gespräch mit André Verdet, das im Frühling 1952 in Ci- miez stattfindet, äußert sich Matisse wie folgt:

223 Vgl. hierzu: Belting 2008, 260f. 224 Siehe: Flam 1982, 113.

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»Die Größe einer Leinwand ist nicht wichtig. Was ich immer vermitteln will, das ist das Gefühl des Raums, auf der kleinsten Leinwand genauso wie in der Kapelle von Vence. Alles, was durch die Netzhaut eindringt, prägt sich in einer kleinen Kammer ein und wird dann durch die Phantasie vergrößert. Man muß die richtige Quantität und Qualität der Töne finden, die das Auge beeindrucken, den Geschmackssinn und das Gemüt. Jemanden eine Jasminpflanze voll genießen lassen, zum Beispiel. Die Menge und die Qualität der Farbe ausfindig machen. Sehen Sie sich diese Komposition an: ein Garten: Also dieser Garten ist die Erinnerung an die Gefühle, die ich in der Natur drau- ßen empfand, und die ich nun nach vorn projiziere, die ich in den Raum ausdehne.«225

In keiner Weise geht es Matisse in seiner Bildkunst um die Reproduktion eines rein opti- schen Raumeindrucks. Vielmehr möchte er das »Gefühl« eines Raums transportieren, das von einer ganzheitlichen Sinneswahrnehmung an etwas Gesehenes, Gespürtes und Erleb- tes ebenso getragen ist wie von der »Erinnerung« und der »Phantasie« daran. Die von Matisse als Beispiel herangezogene »Jasminpflanze« ist ein ›lebendiges‹ Ding, der Garten wiederum ein ›lebendiger‹ Ort. Es gilt also eine farbliche Komposition hervorzubringen, welche das mit ihnen verbundene synästhetische Gefühl samt ihrer imaginären Sphäre gegenwärtigen kann. Wie selbstverständlich denkt Matisse die Dinge und den Raum als zueinander gehörig. Das Gefühl eines Raumes kann ohne das Gefühl eines in ihm befind- lichen Gegenstandes schlechterdings nicht sein. Weder liegt der Raum den Dingen, noch gehen die Dinge dem Raum voraus. Das Gefühl des Künstlers bindet sie in unlösbarer Gleichzeitigkeit aneinander. Das Raumgefühl ist aber nicht in dem individuellen Erleben des Künstlers befangen. Durch die malerische Transformation, die den Intellekt in die Gestaltung miteinbezieht, wird es aufgebrochen. Es öffnet sich jedem Betrachter.

Kurz nach dieser Passage sagt Matisse mit Nachdruck:

»Man muß aufrichtig sein, und das Kunstwerk existiert nur dann voll und ganz, wenn es mit menschlichem Gefühl erfüllt ist und wenn es in seiner ganzen natürlichen Auf- richtigkeit erscheint und nicht etwa in der Durchführung eines vorgegebenen Pro- gramms. So können wir die Werke der heidnischen Künstler vor den christlichen primi- tiven Künstlern ohne Hemmungen betrachten. Andererseits fühlen wir uns unbehaglich vor gewissen Werken der Renaissance mit ihren reichen, üppigen und provozierenden Materialien. Wir sind verlegen darüber, dass so viel künstliches Gepränge am christli- chen Gefühl teilhaben kann. Ja, das kommt mir von Herzen: fabriziert für die Reichen. Der Künstler läßt sich auf das Niveau des Mäzens hinab. In der heidnischen Kunst ist der Künstler ehrlich gegen sich selbst. In der zweideutigen Situation der Renaissance wird der Künstler allzu oft vom Bestreben geleitet, den Mäzen zufriedenzustellen. Der Geist des Künstlers ist also eingeschränkt.«226

Das ehrliche menschliche Gefühl ist für Matisse der Gradmesser für ein gelingendes Kunstwerk. Hierin waltet auch das kreative Moment, das er für die künstlerische Tätig-

225 Siehe: Flam 1982, 256f. 226 Siehe: Flam 1982, 257f.

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keit in Anspruch nimmt. Das geistlose Durchführen von Aufträgen lehnt er ab, vor allem, wenn das Ergebnis durch technische Raffinesse und prächtige Ausstaffierung Eindruck schinden will. Matisse greift »gewisse Werke der Renaissance« an, denen er eine derartig unlautere Prunk- und Protzsucht zum Vorwurf macht. Den Werken heidnischer Künstler erteilt er dagegen aufgrund ihrer einfachen aber authentischen Wirkung seine Gunst. Ma- tisse‘ Anliegen ist es, dem Betrachter eine aufrichtige Kunsterfahrung zu ermöglichen. Und diese Kunsterfahrung ist offensichtlich zwingend an die Erfahrung eines Raumes gekoppelt, der nicht der wissenschaftliche Raum ist, sondern ein wahrhaftig ›gefühlter‹. Kunsterfahrung ist in Matisse‘ Verständnis also Raumerfahrung. Dabei spielt es kei- ne Rolle, ob diese Räume auf einer Leinwand entstehen oder sich in den realen Raum hinein ausdehnen. Immer geht es darum, »die Vorstellung der Unendlichkeit«227 hervor- zurufen. 1951 bekräftigt Matisse in einem Interview mit Maria Lutz228, dass im Zentrum seiner künstlerischen Arbeit seit jeher die Vermittlung seines Raumgefühls gestanden habe:

»Ich könnte nichts über mein Raumgefühl sagen, das in meinen Bildern nicht schon ausgedrückt wäre. Es könnte nichts klarer sein, als das, was Sie auf dieser Wand sehen: diese junge Frau, die ich vor dreißig Jahren gemalt habe...; dieses ›Blumenbukett‹..., diese ›schlafende Frau‹, die erst vor ein paar Jahren entstanden sind, und hinter Ihnen dieser auf farbigem Papier ausgeschnittene endgültige Entwurf zu einem Buntglasfen- ster. Von BONHEUR DE VIVRE – damals war ich fünfunddreißig – bis zu diesem Entwurf – ich bin jetzt zweiundachtzig – bin ich der gleiche geblieben: nicht so, wie es meine Freunde verstehen, die mir um jeden Preis Komplimente über meine Aussehen machen wollen, aber weil ich während dieser ganzen Zeit auf der Suche nach den gleichen Din- gen war, die ich vielleicht mit verschiedenen Mitteln realisiert habe. Mein Ehrgeiz war kein anderer, als ich die Kapelle [von Vence] machte. Auf einem sehr beschränkten Raum, denn die Kapelle ist fünf Meter breit, wollte ich einen geisti- gen Raum ausdrücken, wie ich es bist jetzt auf Bildern von fünfzig Zentimetern oder einem Meter gemacht hatte, das heißt einen Raum, den selbst die Existenz der darge- stellten Dinge nicht begrenzt.«229

Das ROTE ATELIER – Die Dinge und der Raum

Wie aber fühlt sich ein solch »aufrichtiger« Raum an, wenn wir ihn betrachten und in welcher Weise erscheinen uns die Gegenstände, die diese Räume beleben? Sind die Din- ge tatsächlich fähig, sich der funktionalen und bedeutungsmäßigen Bindung zu entledi- gen, die ihnen die sichtbare Realität notwendigerweise angedeihen lässt? Um Matisse’ Raumgefühl auf die Spur zu kommen, wollen wir uns ein besonderes Gemälde genauer

227 Siehe: Flam 1982, 246 228 Henri Matisse, Zeugnis (1951), in: Flam 1982, 240-243. 229 Siehe: Flam 1982, 240.

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ansehen. Es handelt sich um ein Interieur, das während der Freundschaft mit Prichard entstanden ist: Das ROTE ATLELIER [Abb. 16]. Es gehört neben dem ROSA ATELIER, dem INTERIEUR MIT AUBERGINEN und der FAMILIE DES MALERS der Reihe der sogenannten ›Symphonischen Interieurs‹ an, die alle um 1λ11 entstanden sind.

Ein mittelroter Raum breitet sich vor uns aus, in dem sich allerhand Dinge versammeln. Die Bodenkanten und die Konturen der Mobiliars, welche ihn einrichten, geben sich zu- rückhaltend. Es handelt sich um schmale Aussparungen, welche die hellere Untermalun- gen der Leinwand samt der Vorzeichnung durchblitzen lassen. Hier und da scheint es so, als sei eine Linie ausgekratzt oder mit weißer Farbe akzentuiert. Das Interieur ist der ro- ten Farbmaterie förmlich ›eingeschrieben‹. Ein einzelnes Möbelstück fällt aus dem atmosphärischen Rot hinaus. Es handelt sich um einen bequemen Lehnstuhl mit längsgestreifter, weißlich-gelber Sitzfläche, der auf der rechten Seite steht. Dominanter und plastischer hingegen nehmen sich die bunten Kunstdinge aus, die sich überall im Raum platzieren. An den Wänden hängen oder lehnen Bilder, die sichtlich aus der Hand des Malers stammen – einige Werke lassen sich identi- fizieren: Im rechten oberen Eck hängt LUXUS. Die Formation der drei allegorischen weib- lichen Akte ist deutlich zu erkennen. Etwas weiter links zeigt sich der JUNGE SEGLER mit seinem blauen Obergewand und der grünen Hose in unverkennbarer Pose. An der linken Wand lehnt die GROßE NACKTE auf pink geblümtem Rosa – ein Gemälde, das Matisse später zerstörte. Unterhalb von LUXUS sind eine gräulich-schwarze und eine weiße Plastik auf kleinen Hockern so aufgestellt, als handle es sich um achsensymmetrische Pendants. Sie sind einander zugewandt. Bei der dunklen handelt es sich ganz offensichtlich um Matisse‘ LA SERPENTINE, einem sich abstützenden, nackten Mädchen in lasziv-anmutig schwingender Silhouette. Neben den Bildwerken gibt es hier auch allerlei Kunsthand- werk: dekorative Teller, Vasen und ornamentierte Gefäße, die im Raum verteilt sind. Oberhalb der Kommode ist eine Stoffborte angebracht, welche auf den Kopf gestellte, breit gezogene Herzen auf blauem Grund schweben lässt. Auf dem Tisch, der uns links entgegendrängt, steht eine bauchige Vase, aus deren schmalem Hals sich Kapuzinerkresse mit runden Blättern um eine kleine Figur rankt. Die Ranken der Pflanze nehmen genau dasjenige runde Segment ein, welches der Lehnstuhl in der Sitzfläche als Hohlform aus- spart. Durch die Verdoppelung der geschwungenen Kontur, die einmal einer konvexen Krümmungslinie und im anderen Fall einer konkaven zugehört, treten die Pflanze und der Lehnstuhl miteinander in Korrespondenz. Matisse weist hierdurch auf die Möglichkeit hin, im Lehnstuhl Platz zu nehmen, ohne sie jedoch – und das ist entscheidend – zu reali- sieren. Dieser Ort gibt sich wie ein Stilleben. Die Dinge sind hier nicht leblos, sondern höchst agil. Das Rot ist allgegenwärtig und trägt als dauernde Kontrastkonstante die Un- terredung der Dinge. In den Körpern der jungen Frauen aus LUXUS scheint es als Inkarnat hervor, es gibt dem frischen Grün der Kapuzinerkresse sein farbliches Komplementär, es durchdringt die leeren Rahmen, die links neben der Standuhr lehnen. Durch seine mittlere Tonigkeit und seine Dichte erwirkt es eine eigenartige Gegenwärtigkeit. Die Standuhr, welche die Mittelachse der Komposition markiert, verdient Beach- tung. Ihr Ziffernblatt scheint aus römischen Zahlen zu bestehen, die allerdings kaum les- bar sind. Doch viel gravierender ist: Es fehlen die Zeiger. Diese Uhr steht im wahrsten Sinne des Wortes still. Die im Bild herrschende Zeit wird nicht in verstreichenden Inter-

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vallen ablesbar. Es gibt auch kein Pendel, welche sie dem Rhythmus ihrer Bewegung einschreiben würde. Und trotzdem wäre es nicht richtig zu behaupten, dass die Zeit an diesem roten Ort nicht anwesend wäre. Es existiert nämlich eine andere Art von kreisen- der Bewegung, die unregelmäßig ist und nicht so genau getaktet, wie das Ticken einer Uhr. Es ist die Art und Weise, wie sich die Dinge hier im Raum verteilen. Sie sparen einen mittleren Bereich am Boden aus, um den sie sich herum versammeln. Das Auge folgt dem buntfarbigen Reigen der Bilder und Gegenstände, wobei es selbst wählen kann, ob es ihm von links nach rechts oder von rechts nach links nachgehen möchte. Auch steht es ihm frei, die eine oder andere Etappe zu überspringen. Diese Kreisbewegung hat ihren eigenen Rhythmus. Niemals kommt sie zu einem Ende. Das ist die ›Zeit‹, oder angemes- sener die ›Dauer‹, welche diesem Bild innewohnt. Auch für jenes merkwürdige Ziffern- blatt, welches metaphorisch für die im Bild herrschende ›außer-ordentliche‹ Kreisbewe- gung steht, findet Matisse ein dingliches Pendant, den dekorativen Teller ganz vorne, der durch die untere Bildkante angeschnitten wird. Um die blauen Konturen einer Nackten mit angewinkelten Beinen und hinter dem Kopf verschränkten Armen erscheinen um den Rand des Tellers kleine Blümchen. Sie beschreiben ihrerseits einen Kreis, der ihrer unre- gelmäßigen Abstände halber verspielt und keinesfalls berechnet-exakt wirkt. Der ge- krümmten Nackten mit den dekorativen Blümchen wiederum antwortet ein weiteres Ding im Bild. In breiter Streuung blühen die Ornamente um die hingestreckte GROßE NACKTE erneut auf. Ein Echo – das Echo eines Echos. Der Titel gibt an, dass es sich bei dem Raum der Darstellung um das Atelier des Künstlers handelt. Eine zeitgenössische Fotografie [Abb. 17] belegt, dass Matisse‘ Ate- lier um 1λ11 tatsächlich in dieser Weise ›eingerichtet‹ war. Er umgab sich am Ort seines Schaffens mit ›dekorativen‹ Dingen: Stoffen, Möbeln und seinen eigenen Bildern. Der Raum hatte etwas sehr Wohnliches an sich. Von außen sah das Atelier hingegen völlig nüchtern und steril aus. Es wirkte wie ein Container [Abb. 18]. Auf Empfehlung des Fo- tografen Edward Steichen hatte Matisse 1909 im Garten seines Wohnhauses in Issy-les- Moulineaux, einem südwestlich gelegenem Vorort von Paris, ein Fertigbaumodell errich- ten lassen.230 Es handelte sich also um ein wahrhaft ›künstliches‹ Gebilde – von innen wie von außen. An sich ist das Atelier der Ort, an dem der Maler arbeitet. Jedoch gibt es in Matisse‘ Gemälde keine Spuren, die auf die künstlerische Tätigkeit selbst verweisen würden: Kein in Arbeit befindliches Bild auf der Staffelei, keine Farben, keine Palette, keine Pinsel, kein Modell und vor allen Dingen: keinen Maler. Lediglich die Zeichenstifte, die vorne an den Bildrand stoßen, lassen vermuten, dass an diesem Ort für gewöhnlich ein Künstler am Werke ist. Wir sehen ein aufgeräumtes Zimmer. Und wir sehen die Resultate des künstlerischen Schaffensprozesses – die fertigen Bilder und Plastiken, wie sie sich auf lebendige Weise in der roten Farbmaterie figurieren. Matisse konfrontiert den Betrachter nicht mit den Mühen der malerischen Arbeit – auch nicht mit dem Furor oder der Möglichkeit des Scheiterns. Was er zeigt, ist ein völlig klares, ausbalanciertes Bild, das in seiner Gestalt alle Schinderei vergessen macht. Das Interieur öffnet sich. Es lässt uns zwischen Tisch und Stuhl mittig eintreten. Die perspektivischen Linien in den Kanten des Raumes, des Tisches und des Holzstuhles sind merkwürdig inkohärent: Die linke Raumkante läuft auf einen ganz anderen Zentralpunkt

230 Vgl.: Elderfield 1992, 182.

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zu als die Längskanten des daneben befindlichen Tischs. Auch bewirken diese Linien keinen Zug in die Tiefe hinein, im Gegenteil: Der Raum scheint uns entgegenzukommen. Besonders offensiv schlägt uns jene Umkehrung der räumlichen Bewegungsrichtung je- doch im Umriss des Holzstuhles am rechten Bildrand entgegen: Die Kanten seiner Sitz- fläche verjüngen sich jäh in unsere Richtung. Der Fluchtpunkt liegt außerhalb der Bild- grenzen rechts unten in der Sphäre des Betrachters. Das zentralperspektivische Konstruk- tionsverfahren ist auf den Kopf gestellt.

Hieraus erhellt sich, dass Matisse‘ Bildraum mit dem mathematischen Einheitsraum Al- bertis nichts gemein hat. Auch Matisse schafft in seinem Interieur ›Ordnung‹, doch tut er dies nicht, indem er den Gegenständen ein steifes Koordinatennetz überstülpt, sondern, indem er die Dinge miteinander in Korrespondenz treten lässt. Die Zueinandergehörigkeit der Dinge stiftet den Ort, welches das Gemälde zur Darstellung bringt. Das ROTE ATE- LIER darf aber nicht als ›anti-albertinisches‹ Programmbild missverstanden werden. Die Abweichungen von den Gesetzen der Zentralperspektive sind gewiss nicht das, was dem Betrachter beim ersten Hinblicken in die Augen sticht und schon gleich gar nicht das, worauf es Matisse ankommt. Als Maler beherrscht Matisse das zentralperspektivische Verfahren und weiß um die bildnerischen Möglichkeiten, die es bietet. Nur deshalb kann er es überhaupt erst ad absurdum führen. Bemerkenswert ist, dass das ROTE ATELIER, obwohl es die räumlichen Darstellungskonventionen außer Kraft setzt, nicht irritiert, son- dern überaus glaubwürdig wirkt – als ob das vom Gemälde abgeforderte ›bewegte Bli- cken‹ in uns eine lang vergessene, ursprünglichere Sehweise wieder wach ruft. Das Rot leuchtet aus sich selbst heraus, es schwillt an, dehnt sich aus und nimmt uns ein. Das Fenster, welches durch den rechten Bildrand angeschnitten ist, wird durch einen weißlichen Vorhang mit sanften grünen Farbakzenten verdeckt. Dieses unscheinbare Grün bleibt der einzige Hinweis auf ein dahinter befindliches Draußen, auf etwas Natur- haftes. Ansonsten ist alles ›Drinnen‹. Die Unterredung spielt sich hier und jetzt ab – zwi- schen den Dingen, zwischen den Dingen und uns.

Die ästhetische Verwandtschaft zwischen dem ROTEN ATELIER und dem byzantinischen Kirchenraum

Im ROTEN ATELIER wird ein Ort gegenwärtig, der andersartig und faszinierend ist und im selben Moment ebenso unzweifelhaft und plausibel. In der dreidimensionalen Wirklich- keit ist ein solcher Raum kaum vorstellbar. Doch gibt es tatsächlich einen spirituellen Ort, der eine ähnliche Raumerfahrung ermöglicht. Und das ist der byzantinische Kirchenraum. Dieser zeichnet sich architektonisch vor allen Dingen durch die Kuppeln aus, welche den Innenraum oder einzelne Kompartimente des Baus baldachinartig überwölben. Diese Kuppeln werden häufig mit Mosaiken ausgekleidet. Ein Mosaik wird aus kleinen Stein- chen gebildet, die aus buntfarbigem oder transparentem Glas mit Einlagen aus Blattgold bestehen. Diese sogenannten ›Smalten‹ werden unregelmäßig in den Mörtel eingesetzt, so dass je nach Lichteinfall und Betrachterstandpunkt vielfältige Reflektionswinkel entste-

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hen. Sobald sich der Betrachter bewegt, beginnt das Mosaik kaleidoskopartig zu leuchten. Es lässt sich durch den Blick nicht ein für allemal fixieren.231

Die Raumerfahrung des Prokop in der Hagia Sophia zu Konstantinopel

Der Sprung von Matisse‘ Gemälde in einen mehrere Jahrhunderte alten überwölbten Kir- chenraum mit leuchtenden Mosaiken geschieht an dieser Stelle weder blindlings noch willfährig. Um die Ähnlichkeit zwischen dem Raumgefühl in Matisse‘ ROTEM ATELIER und einer byzantinischen Kirche greifbar zu machen, wollen wir zunächst zwei Erfah- rungsberichte heranziehen. Der erste stammt von Prokop, einem byzantinischen Histori- ker und Zeitgenossen Justinians. Im Jahr 560 beschreibt er die ästhetische Raumerfahrung in der unlängst errichteten Hagia Sophia232 von Konstantinopel [Abb. 19], welche die Hauptkirche des byzantinischen Reiches werden sollte, folgendermaßen:

»Der Tempel ist voll Licht und leuchtenden Sonnenstrahlen. Man glaubt, der Raum sei nicht von außen erhellt, sondern die Lichtquelle befinde sich im Inneren (er habe Glanz aus sich selber), so übermäßig strömt das Licht aus. Angesichts der leichten Konstruk- tion scheint die Kuppel sich nicht auf einen festen Unterbau zu stützen, sondern den Raum mit einem im Himmel hängenden Goldgrund zu bedecken. Das Schimmern des Lichts erlaubt es dem Betrachter nicht, seinen Blick auf Details ruhen zu lassen. Jedes zieht den Blick auf sich und führt ihn weiter auf ein anderes. Diese Kreisbewegung des Blicks setzt sich ins Unendliche fort, denn der Betrachter ist nie imstande, aus dem Ganzen etwas Bevorzugtes herauszunehmen. Der Geist erhebt sich zu Gott und schwebt in den Lüften; es ist gewiß, daß er nicht weit ist, sondern gerne unter jenen weilt, die er erwählt hat.«233

Um die Raumerfahrung in der Kuppelbasilika zu beschreiben, verwendet Prokop einige Begriffe, die auch bei unserer vorangegangenen Betrachtung des ROTEN ATELIERS auf- kamen. Das den ganzen Raum erfüllende Gold glänzt ebenso »aus sich selber« wie das Rot in Matisse‘ Gemälde. Das Gold und die Farben der Mosaiksteinchen erscheinen als ›Farblicht‹. Der nach oben gerichtete Blick des Betrachters folgt einer »Kreisbewegung«, er bleibt nicht stehen, haftet nicht an Details. Auch in Matisse’ ROTEM ATELIER kreiste unser Blick um und über die Dinge. Obwohl die Darstellung in den Mosaiken gegen- ständlich ist, scheint die Identifizierung der heiligen Figuren während der Betrachtung nicht im Vordergrund zu stehen. Prokop gibt in seinem Bericht die emotionale Erfahrung eines Raumes wieder, der im gleichen Moment von größtmöglicher sinnlicher Gegenwär- tigkeit und geistiger Erhabenheit ist. Ganz diesseitig bekommt er in der Hagia Sophia das Himmelsreich zu spüren.

231 Vgl.: Heinrich Theissing, Das Bildlicht in der byzantinischen Malerei, in: Die geistlichen Grundlagen der Ikone, hg. von Wolfgang Kasack, München 1989, 185 (fortan: Theissing 1989). 232 Die Hagia Sophia wurde zwischen 532 und 537 erbaut. 233 Siehe: Prokop, De aedificiis, zitiert nach Theissing 1989, 186.

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Die Raumerfahrung von Georges Duthuit im Markusdom zu Venedig

Die zweite Quelle ist bedeutend jünger und führt uns nach Venedig. Mit George Duthuit, der zugleich ein Experte auf dem Gebiet Byzanz und außerdem mit Matisse‘ Tochter Marguerite verheiratet war, treten wir in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein in den Dom von San Marco, einer spätbyzantinischen Kreuzkuppelkirche. Im Inneren scheint uns ein goldener Himmel aus leuchtenden Mosaiksteinen entgegen [Abb. 20 und 21]. Die Mosa- ike in den Kuppeln wurden vornehmlich im 13. Jahrhundert gefertigt. Die folgenden Textabschnitte entstammen dem Aufsatz Matisse and Byzantine Space, den Duthuit 1949 für die Zeitschrift Transition, verfasste, deren Herausgeber er selbst war.234

»Beim Eintreten in die Säulenhalle [von San Marco], werden wir nach den Worten des englischen Kommentators Matthew Prichard dem Zerbröckeln der klassischen Regel gewahr, ›der gemäß, sobald nur die Höhe gegeben ist, der ganze Rest folgt.‹ Hier hin- gegen: verschlagene Kreise, zögerliche Vertikalen, Pfeiler von verschiedenem Umfang, verstreute geringere Werke, heterogene Kapitelle – man wird Zeuge einer fragwürdigen Symmetrie, während die Tiefe der Kuppeln, die wie durch eine riesigen Hand von Hit- ze und Schnee modelliert erscheinen, von breiten Wellenformen durchquert werden wie die Innenfläche einer Hand. Die Galerien und Kapellen sind nur an einer Seite an- geordnet ohne einen Gedanken an eine ›regelmäßige‹ Verdoppelung zu verlieren. Denn das Licht, das auf Japsis, Porphyr und Marmor scheint, absorbiert die zu Grunde lie- gende bauliche Fassung und knetet sie zu einer neuen Struktur. Ein Haus aus fließen- den Kristallen, aus Flüssigkeiten und Flammen, wo sich auf unbestimmte Weise die Balance der Gewichte und Substanzen bewegt! [...] Ein Schmelzofen glüht noch immer unter dem Glas der Mosaike. Er drängt die Wände zurück in ihre schattigen Ecken und zerstäubt sie mit seinen Feuern. Fenster durchdringen die eine Seite, während die ande- re blind gelassen wird. [...]

Woher kommt dieser Zauber? Entspringt er dem logischen Vorsatz desjenigen, der al- les entworfen hat? Nein. Sieh dir die Bögen an. Die Kalkulation besteht hier darin, un- geheuer feinsinnig und kühn Strebung um Strebung, Schubkraft um Schubkraft zu zer- stören; ohne Abstützteile fließt zu uns dieses Lied der Himmelsgewölbe herab; aber das kalkulierende Moment täuscht. Es gibt kein vereinheitlichendes Kürzel, kein gemütli- ches Gleichgewicht. Alles ist kreuz und quer: räumliche Kurven, Bruchstellen und Abweichungen. Eine Intelligenz, die begierig danach ist Schlussfolgerungen zu ziehen, eine, welche die Erholung eines gelösten Gleichgewichts sucht, eine solche mathemati- sche Intelligenz würde verloren sein in den Modulationen dieses Meisterstücks der Ma- thematik. [...]

234 Die Zeitschrift Transition erschien von 1948 bis 1952. Der Text wurde in der 5. Ausgabe der Transition Forty-Nine gedruckt. Dem Redaktionskomitee gehörten Georges Bataille, René Char, Douglas Cooper, Max- Pol Fouchet, Stuart Gilbert, Eugène Jolas, Jean-Paul Sartre und Jean Wales an. Das Ziel der Zeitschrift war es, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegende Aspekte der französischen Kritik und der zeit- genössischen französischen Literatur in englischer Sprache bekannt zu machen. Das Projekt war mit einer enormen Übersetzungsarbeit verbunden, für die Duthuit Unterstützung von Samuel Beckett erhielt. Matisse gestaltete für mehrere Ausgaben das Deckblatt.

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Für den Byzantiner ist der Raum ein unsichtbares und komplexes Geflecht von aufei- nander einwirkenden Personen, Dingen und der Luft, von der sie durchdrungen wer- den. Wer auch immer die materielle Weite betrat, welche derart wiedererschaffen war, wurde einer übernatürlichen Welt oder, wie die Theologen es ausdrücken, eines subli- men Zustands der Natur gewahr. Der Eintretende geriet in ein Feld von Aktionen. Die Einladung zum ›ewigen Leben‹ sowie die Teilhabe am kollektiven Bewusstsein wurde ihm auf vielfältige Weise unterbreitet. [...]

Bei der Verfertigung eines Mosaiks mussten viele Faktoren berücksichtigt werden: die Dicke und das Ausmaß der Wände, die Höhe der Gewölbe und die Platzierung des Mo- saiks selbst. Es ist unmöglich, ein Mosaik vom Raum abzulösen, für den es erdacht worden war. Seine Strahlkraft sollte über die Oberfläche hinaus wirksam werden und sich im ganzen Raum ausbreiten: Vom Boden bis zum Licht, das durch die Fenster hin- einfiel, auf dass es mit dem Himmel verschmelze, in welchem sich der ganze Bau ent- faltete. [...] Die Heiligen, welche der byzantinische Künstler ›porträtierte‹, existierten kraft des Lichtes, welches in sie hineindrang und sie beinahe auflöste. Der schöne Aus- druck oder der körperliche Liebreiz kümmerten den byzantinischen Künstler nicht wie einst den griechischen. Der Raumeindruck wurde gänzlich durch den Rhythmus zwi- schen den menschlichen Figuren und den reinen glänzenden Bereichen bestimmt. Der Betrachter war keineswegs dazu aufgefordert, die Figuren eine nach der anderen lesend zu identifizieren, sondern war im Gegenteil dazu eingeladen, sich von der polychromen Orchestrierung und der rhythmischen Organisation durchdringen zu lassen. Der Raum des Bildes ist das, was wir tatsächlich einatmen. [...]

Der Gläubige wurde von seiner egoistischen Natur und seinen persönlichen Interessen gereinigt, und konnte die Harmonie mit dem heiligen Ort erlangen. Der Eintretende hatte gar keine Gelegenheit, dem aufeinander abgestimmten lyrischen Übergriff von al- len Seiten zu entkommen. Der byzantinische Kirchenraum ließ dem Betrachter kein Schlupfloch.«235

235 Siehe: Georges Duthuit, Matisse and Byzantine Space, in: Transition Forty-Nine, Nr. 5, 1949, 20-37. Die Textpassagen wurden durch die Autorin ins Deutsche übertragen und zu Gunsten des Textverständnisses präzisiert. Die Abschnitte lauten in originaler Sprache wie folgt:

»According to an English commentator, Matthew Prichard, as we enter the portico we witness the crumbling of that classical order ›where, given the height of the building, all the rest follows‹. Devious circles, hesitant verticals, pillars of different girths, scattered minor works of art, heterogeneous capitals – all observe a dubi- ous symmetry, while the depths of the domes, fashioned as if by a giant hand of heat and snow, are traversed by broad undulations, like the palm of a hand. The galleries and chapels are distributed on either side without any thought of duplication. For the light, shining on jasper, porphyry and Pentelican marble, absorbs the primal frame and kneads it into a new structure. House of fluid crystals, of liquids and of flames, where there moves indefinitely the balance of weights and substances! […] A furnace still smoulders under the glass of the mosaics; it pushes back the walls into their shadowy corners, and disperses them with its fires. Windows pierce one side, while the opposite side is left blind. […] Whence comes this charm? Is it the reasoning of the heart that has designed everything? No. Look at the arches: calculation is here, prodigious in subtlety and daring, which, destroying effort by effort, thrust by thrust, without supports pours down to us this song of the spheres; but the calculation deceives. There is no unifying paraph, no restful balance! All is intersections, is spacious curves, breaks and departures: an intelligence avid to reach a conclusion, one that seeks the repose

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George Duthuit gibt die Beschreibung der Raumerfahrung in San Marco in lyrischer Sprache wieder. Er spricht den Leser offen an und fordert ihn zum Nachvollzug auf. Das Zusammenspiel von Architektonik, Mosaiken und Licht bewegt ihn tief. Die Wirkung des Raumes schildert er als unmittelbar: Der Kirchenraum nimmt den Betrachter ein, indem er ihn sanft umfängt und in eine heitere, ihrerseits materielle Welt aus Farben und Licht versetzt. Der Raum drängt sich auf ohne penetrant zu sein, er verlockt, affiziert die Sinne. Man kann diesem Raum nicht entgehen. Die heiligen Figuren und alle anderen Gegen- stände haben an der räumlichen Gesamtstruktur teil. Sie bewohnen die Kuppeln, den irdi- schen Himmel und laden den Eintretenden dazu ein, an der feierlichen Stimmung teilzu- haben. Eine Porträtartige Identifizierung der heiligen Gestalten ist dazu nicht notwendig. Duthuit macht klar, dass die Raumerfahrung in einer byzantinischen Kirche schlechter- dings eine emotionale ist. Das Gemeinschaft stiftende Moment kann er gar nicht hoch genug schätzen, wohingegen er den mathematisch konstruierten Raum, wie er ihn im griechischen Tempelbau oder der Renaissancearchitektur verwirklicht sieht, als kühl und isolierend förmlich abtut. Eine rationale Raumerfahrung, in der architektonisches Eben- maß und eine kohärente Systematik augenfällig würden, ist nach Duthuit in San Marco nicht zu machen.

Wie aus dem Titel des Aufsatzes Matisse and Byzantine Space hervorgeht, bemüht sich Georges Duthuit seinerseits, einen Zusammenhang zwischen dem Raumgefühl der byzan- tinischen Epoche und Matisse‘ künstlerischem Werk herzustellen. Seine Perspektive ist durch die moralische und gesellschaftliche Katastrophe des unmittelbar zurückliegenden Zweiten Weltkrieges geprägt. Byzanz gilt Duthuit – ähnlich wie wir es bereits bei Matthew Stewart Prichard beobachtet haben – als eine Epoche, in der Gesellschaft und Kunst auf fruchtbare Weise miteinander verflochten waren. Die byzantinische Kunst hatte

of the solved equation, a mathematical intelligence, would be lost in the modulations of this masterpiece of mathematics. (26f.) To the Byzantine, space is the unseen, interacting extension of persons and things and the air in which they are steeped. Whoever enters the material expanse thus recreated enters a supernatural world or, as the theolo- gians put it, a superformed state of nature, and will be considered a field of action and bombarded with invita- tions to be reborn, to rejoin the collective consciousness and participate in a communion of which every work is al living example. The thickness and extent of the walls, the depth of the vault, the location of a picture, the fluid mass contained within the monument – these were so many factors, which made themselves felt while a mosaic was elaborated. It is impossible to detach it from the actual space, form the atmosphere for which it was conceived; for its powers of radiation are intended to carry it beyond the surface which supports it, throughout the whole area, from the ground to the light which pours in through the windows, so that it will merge with the sky in which the building unfolds. Beautiful expressions of physical graces no longer concern the Byzantine artist as they did the Greek, for the beings he portrays exist to a large extent by virtue of the light which bites into them and partly dissolves them. Thus the mathematical accuracy of the relationships which seem to link parts of the body to the whole is sacrificed for the sake of wide, rhythmical compositions and pure, brilliant areas. We are no longer required to read the figures one after the other, but merely invited to let ourselves be invaded by polychromatic orchestration and rhythmical organization which have to be apprehended in a single breath, so to speak, rather than gradually perceived through a painstaking building up of details: the space of a picture is the one we actually breathe in. (30) We have seen how artists, as delegates of the community, strove to replace the instinctive animal who entered a monument by an exalted ego composed of attitudes, hymns and plastic nobility, so that the believer, purged of his egoistical nature and personal interests, might attain harmony with the whole. Such an endeavour in- volved a concerted lyric assault on the incomer from ever side: Byzantine space left no loophole for a specta- tor. (30f.)«

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in der Meinung Duthuits ›Gemeinschaft stiftende‹ Wirkung. Diese Rolle habe die Kunst in der modernen Epoche jedoch jäh eingebüßt. Duthuit erweist sich als ein gehöriger Utopist, wenn er hofft, dass jenes ›gesunde‹ Verhältnis zwischen Gesellschaft und Kunst wiederherstellbar ist. Matisse fungiert in seiner Argumentation als Vorreiter einer solch ›neuen‹ ›alten‹ Kunst, wenngleich darauf hingewiesen werden muss, dass Duthuit auf Matisse‘ Werk innerhalb des Aufsatzes nur am Rande eingeht und sich ihm gegenüber durchaus kritisch ausnimmt. Eine eingehende Untersuchung dessen, was der byzantini- sche Kirchenraum und Matisse’ Bildraum in Hinblick auf ihre ästhetische Wirksamkeit miteinander gemein haben, bleibt er dem Leser schuldig. Duthuits Ausführungen sind leidenschaftlich, doch hinsichtlich Matisse’ Bildwerken erstaunlich unkonkret. Er zieht kein einziges Bildbeispiel heran. Es scheint beinahe so, als diene Matisse mit seinem Werk lediglich als ›Bestätiger‹ der bewegend dargebotenen Raumerfahrung im Dom von San Marco.

Das Himmelfahrtsmosaik im Markusdom

Wie lässt sich nun die Ähnlichkeit der räumlichen Wirkung zwischen Matisse’ ROTEM ATELIER und einem mit Mosaiken überzogenen Kirchenraum konkret fassen? Als Bei- spiel soll hier dasjenige Kuppelmosaik von San Marco herangezogen werden, welches die Vierung der Kirche überwölbt und die HIMMELFAHRT CHRISTI [Abb. 22] zeigt. Die Kup- pel erscheint architektonisch völlig ebenmäßig, keine Grate oder Rippen sind zu erken- nen. Pendentifs überführen die kreisrunde Wölbung in das Quadrat der Grundfläche. Oh- ne Auslassung ist diese Kuppel – wie auch alle anderen Gewölbeeinheiten der Kirche – mit goldenen und buntfarbigen Mosaiksteinen ausgekleidet. Alles schimmert, leuchtet, glänzt hier von oben herab. In unserer Kuppel erscheint die Himmelfahrt Christi in einer Anordnung konzentrischer Kreise. Ganz oben, am höchsten Punkt in der Mitte zeigt sich Christus in einem blauen, seinerseits runden Sternenfeld. Dieses wird von vier horizontal fliegenden Engeln getragen. Christus ist bereits im Himmel angekommen. Was sich uns hier offenbart, ist nicht die Erzählung der Himmelfahrt, sondern eine kosmische Ordnung, in der Christus den zentralen Platz eingenommen hat. Er thront ganz tatsächlich ›dort oben‹ und hat seine rechte Hand zum Segensgestus erhoben. In der Sphäre unterhalb der Engel bildet sich ein Kreis aus 15 Figuren. Er wirkt wie eine Stütze der höheren Gefilde. Wir sehen Maria, zwei weitere Engel und die zwölf Apostel, wobei ein jeder von seinem Nachbarn durch zierliche Bäumchen mit eigenartig geformten Baumkronen abgegrenzt ist. Die Heiligen gehören zusammen und doch steht ein jeder für sich. Der eine oder andere bewegt seinen Kopf oder weist mit seinen Händen in Richtung des Heilands. Wenn wir unseren Standpunkt unterhalb der Kuppel verändern und unsere Augen über das Mosaikfeld bewegen, scheint sich der Reigen der 15 Figuren in Gang zu setzen und um das Himmelsfeld zu kreisen. Eine Ebene darunter formiert sich ein weiterer Ring von Gestalten. Diese sind etwas kleiner, weiblich und nehmen zwischen sich jeweils eine rundbogige Fensteröffnung auf, durch die bei entsprechendem Stand der Sonne Licht einfällt. Es sind die personifizierten sieben Tugenden und die neun Glückseligkeiten, welche wiederum den Seligpreisungen aus der Bergpredigt des Matthäus (Mt. 5, 3-12) entsprechen.

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Die Ebene der Tugenden ist den menschlichen Betrachtern nicht nur räumlich am nächsten. Vier der sieben Tugenden, die sogenannten Kardinaltugenden Tapferkeit, Ge- rechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit, kann der Mensch selbst erwerben und durch sein Handeln verwirklichen, während er bei den drei christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung auf die Gnade Gottes angewiesen ist. In den vier Hängezwickeln platzieren sich die vier Evangelisten. Zwei von ihnen – Markus und Lukas – berichten im Neuen Testa- ment vom Ereignis der Himmelfahrt.236 Sie laden den Betrachter dazu ein, sich auf der äußersten Sphäre in den prachtvollen himmlischen Reigen zu fügen. Das, was die Vierungskuppel zur Anschauung bringt, ist eine ornamentale Ordnung der christlichen Gefolgschaft, der auch der Betrachtende zugehören kann, wenn er sich nur moralisch einwandfrei verhält. Nichts wird hier in einer naturalistischen Weise darge- stellt. Der Raum ist ein golden leuchtender Himmel, der in seiner symbolischen Trans- zendenz paradoxerweise ausschließlich sinnlich, das heißt mit den Augen, erfahren wer- den kann.

Zusammenfassung: Die Ähnlichkeit der Raumwirkung

Demgegenüber nimmt sich Matisse’ Gemälde weltlich aus. Anstelle von heiligen Figuren formieren sich im ROTEN ATELIER Bilder, Möbel und schöne Dinge auf eine wohlansehn- liche Weise. Das Gemälde hat beträchtliche Ausmaße. Es ragt 181 cm in die Höhe und misst 219 cm in der Breite. Wenn wir uns vor dem Bild befinden, dann hat das mittel- tonige, dichte Mittelrot eine ähnliche Wirkung wie das Gold des Kirchenraums. Es lässt sich nicht in Zaum halten. Es leuchtet ganz ungeachtet der Grenzen des Formats. Ähnlich wie bei der Himmelfahrt bewegt sich unser Blick im Kreis, um die Dinge und mit ihnen den Raum zu erkunden. Die Kunstdinge im ROTEN ATELIER sind wie die heilige Gefolg- schaft in der Kuppel in einer ornamentalen Kreisformation angeordnet, so dass sie unab- hängig von ihrer gegenständlichen Zweckmäßigkeit in ein rhythmisches Zusammenspiel treten können. Ebenso wie die Himmelfahrt macht Matisse’ Gemälde einen naturfernen, künstlichen Ort gegenwärtig, an dem die Regeln der dreidimensionalen, physikalischen Wirklichkeit nicht gelten.

236 Siehe: Mk 16, 19 und Lk 24, 51 und Apostelgeschichte 1, 1-11.

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C. Die Schwierigkeit des Porträts

Mit einem Interieur wie dem ROTEN ATELIER schafft Matisse einen bildlichen Raum, in dem sich die Dinge und ihr Ort wechselseitig hervorbringen. Dies gelingt ihm, indem er bei der Organisation der Bildfläche darauf verzichtet, einzelne Dinge oder Figuren in den Fokus zu rücken. Die Gegenstände treten über formale und farbliche Echos miteinander in Korrespondenz. Durch die rhythmisch-dekorative Anordnung geraten sie in einen »un- endlichen Rapport«237, der wiederum beim Betrachter eine unaufhörliche Blickbewegung in Gang setzt. Derart kann Matisse den Modus der ›passiven Aufmerksamkeit‹ aktivieren. Das Interieur, so scheint es, kommt Matisse’ Anforderungen an eine »Kunst des Gleich- gewichts, der Reinheit und der Ruhe, ohne beunruhigende und sich aufdrängende Gegen- stände« – wie es im Wort vom Lehnstuhl heißt – entgegen, weil die Bildgattung gewis- sermaßen selbst dazu anhält, einen Zusammenhang zwischen Raum und Dingen zu stif- ten. Eine andere Bildgattung, die Matisse in den Jahren der Freundschaft mit Prichard ebenso energisch zu bewältigen sucht, ist das Porträt. Man kann sagen, dass es den Erfor- dernissen des Interieurs in vielen Belangen entgegensteht. Freilich ist hier wie dort not- wendig die Relation zwischen einer räumlichen und einer figürlichen Ebene gegeben. Allerdings handelt es sich im Falle des Porträts um eine hierarchische Beziehung zu Gunsten des dargestellten Menschen. Seinem Körper, vor allem aber seinem Gesicht gilt das Hauptaugenmerk. Aus unseren bisherigen Überlegungen können wir schließen, dass dieser ›Fokus‹ für Matisse eine gehörige Schwierigkeit darstellen muss. Wie soll er dem Anspruch der Bildgattung gerecht werden, wenn seine eigene malerische Strategie gerade darauf beruht, das Bild als ein Gefüge gleichwertiger Elemente zu betrachten? Wir wer- den sehen, dass Matisse mit dem Porträt tatsächlich zu kämpfen hat. Mitunter gelingen ihm erstaunliche Bildlösungen, deren merkwürdiger Überzeugungskraft mit den her- kömmlichen Begriffskategorien des Porträts schwerlich beizukommen ist. Bevor wir die Porträts von Matisse näher betrachten, wollen wir zunächst klären, wo die Gattung ihren Ursprung hat und worin die spezifische Leistung des Porträts innerhalb der Kunstge- schichte eigentlich besteht.

Der Ursprung des Porträts in der italienischen Renaissance

Das Individuum und sein Bildnis

Gemeinhin findet der Begriff ›Porträt‹ für all diejenigen Bildwerke Verwendung, die das menschliche Gesicht zum Thema haben. Sein deutschsprachiges Analogon ist das ›Bild- nis‹. Durch diese vage Bestimmung wird leicht der Eindruck erweckt, ›das Porträt‹ sei als künstlerische Gattung seit jeher existent gewesen. Allerdings kann ein derartig unzu- reichend charakterisierter Begriff zu keiner fruchtbaren Auseinandersetzung mit mögli-

237 Siehe: Alois Riegl, Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 1893, 308ff.

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chen Beispielen dieser Gattung führen. Gottfried Boehm hat bereits 1985 in seiner einge- henden Studie Bildnis und Individuum238 gezeigt, dass das Porträt nicht ohne die Ge- schichte des neuzeitlichen Individuums zu verstehen ist.

»Die menschliche Individualität findet ihre Bildform und benutzt sie als Spiegel, als Repräsentanten, vor allem als Medium der Erkenntnis ihrer selbst. Die Erfahrungen, die der zum Individuum gewordene Mensch mit sich und seiner Welt macht, lassen sich nicht generalisieren. Im Bildnis, das der Selbstdarlegung dient, besitzen wir jedoch eine unersetzbare Quelle für die Geschichte des Individuums. Sie verknüpft sich mit der Entwicklung der Bildgattung.«239

Die Meister der italienischen Renaissance verhelfen dem Individuum zu außergewöhnlich komplexen und ausdrucksstarken Darstellungen, die in ganz Europa ohne Vergleich sind. Jacob Burckhardt hat in seinem 1860 veröffentlichten Buch Kultur der Renaissance240 die diffusen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse beschrieben, die mit dem Struk- turwandel von Kirche und Staat einhergingen und das Aufkommen der Individualität im 14. Jahrhundert begünstigten. Die Machtlosigkeit angesichts der tyrannisch agierenden Herrscher und Päpste beförderte eine Hinwendung zu privaten Interessen:

»Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.«241

Boehm stellt heraus, dass das Wort ›Porträt‹ bzw. ›Bildnis‹ erst im 14. Jahrhundert auf die neuartige Darstellung des Menschen, »der aus sich selbst und nur aus sich selbst ver- standen werden will«242, angewendet wird. In früheren Jahrhunderten fanden allgemeine Begriffe wie eikon, imago oder effigies für die Bilder des Gesichts Gebrauch.243 Den Meistern des Mittelalters konnte es gar nicht darum gehen, individuelle Mienen zum Ausdruck zu bringen, weil sie die paradigmatische Erfahrung der Neuzeit nicht kannten. Am treffendsten lassen sich die mittelalterlichen Gesichter mit ihren unspezifischen und generalisierenden Zügen als ›Personifikationen‹, ›Allegorien‹ oder ›Verkörperungen‹

238 Gottfried Boehm, Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985 (fortan: Boehm 1985). Die Publikation ist eine ergänzende Bearbeitung der 1974 an der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Heidelberg eingereichten Habilitationsschrift mit dem Titel: Elemente der Venezianischen Bildnismalerei 1470-1530. 239 Siehe: Boehm 1985, 19f. 240 Siehe: Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (1860), Stuttgart 1976 (fort- an: Burckhardt 1976). 241 Siehe: Burckhardt 1976, 123 242 Siehe: Boehm 1985, 21. 243 Siehe: Boehm 1985, 45.

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bezeichnen. Wenn Villard de Honnecourt in seinem Bauhüttenbuch von 1240 den Begriff portraiture verwendet, dann bezieht sich dieser innerhalb des livre de portraiture auf das bildnerische Vermögen der Zeichnung im Allgemeinen. Gottfried Boehm betont, dass das Wort hierbei auf das Erfassen einer Tätigkeit zielt und noch nicht das Resultat der Zeich- nung selbst meint. Zwar impliziert das Verfahren der portraiture bei Honnecourt auch die Darstellung von Köpfen und Gesichtern, doch geht es hierbei lediglich um einen schema- tischen, planimetrischen Entwurf ohne jeden individuellen Zug.244

Tizians VIOLANTE – Eine Bildbeschreibung

Das vom lateinischen Adjektiv in-dividuus herstammende Individuum führt in seinem Namen den Anspruch auf ›Ungeteiltheit‹ – auf ›Ganzheit‹ – mit sich. Es steht für sich und bezieht sein Existenzrecht allein aus sich selbst. Es ist autonom und bedarf keiner äußeren Legitimation. Wie aber kann das Individuum im Bildnis gegenwärtig werden, wenn seine Unvergleichlichkeit und Einzigartigkeit dort auf seine Erscheinung beschränkt ist? Um dieser Frage nachzugehen, wollen wir uns exemplarisch ein Renaissance-Porträt genauer ansehen. Es handelt sich um die schöne VIOLANTE [Abb. 23] von Tizian.245

Aus dem Dunkel eines Raumes blickt eine junge Frau mit welligem, blondem Haar, das offen hinter ihren Schultern herabfällt. Ihre Augen sind dunkel, ihr Blick stark – beinahe forsch. Sie scheint Kontakt zu einem Gegenüber aufnehmen zu wollen, das links von uns steht. Sie strahlt Selbstvertrauen aus, eine innere Ruhe – ein Bei-sich-sein. Wir werden ihrer Gestalt vom Kopf bis kurz unterhalb der Brust ansichtig. Ihre Haut ist hell und zart. Ihre Wangen sind rosig und ihre Lippen weich und sinnlich geschwungen. Der weite Ausschnitt ihrer Bluse akzentuiert das üppige Dekolleté. Die Schultern fallen sanft ab, der Hals ragt schlank und aufrecht. Ihre linke Hand, die in der rechten unteren Bildecke plat- ziert ist, streift unterhalb der Brust zart über das leuchtend blaue Kleid. Aber was ist das für eine große und kräftige Hand? Wir haben es mit einer ebenso anmutigen wie ›statthaften‹ jungen Frau zu tun, die sowohl über betörende Reize verfügt als auch über einen ordentlichen Händedruck. Sie ist verlockend und sinnlich. Doch erfüllt sich ihr Wesen nicht in dieser erotischen Weiblich- keit. Diese Frau hat Haltung, sie besitzt Persönlichkeit. Das mittlere Blau des edlen Kleides harmoniert prächtig mit dem glänzenden Gelb- ton der Haare und dem rosigen Inkarnat, das in Wangen und Lippen errötet. Tizian nimmt die Primärfarben Blau, Gelb und Rot und wandelt die rohen Kontrastbeziehungen zu ei- nem zart klingenden Akkord, der sich weiträumig im Bild entfaltet: Das Blau blitzt aber- mals in den Längen des Haars auf. Ebenso tauchen gelbe und rote Nuancen in dem gol- den-braunen Textil der weiten Ärmel hervor. Schließlich blüht der feine Dreiklang aus Gelb, Violett und Rosa an einer besonders delikaten Stelle auf: in dem kleinen Stiefmüt- terchen, das im Ausschnitt ihrer Bluse steckt.

244 Vgl.: Boehm 1985, 46. 245 Das Problem der streitbaren Zuschreibung der VIOLANTE an Tizian müssen wir an dieser Stelle außer Acht lassen.

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Dieses ausbalancierte Kontrastgefüge entspricht der zarten Festigkeit, welche die junge Frau ausstrahlt. Sie ist ein völlig glaubwürdiges und ›selbst-ständiges‹ Gegenüber. Sie überzeugt uns, einem Urbild ähnlich zu sein, obwohl wir dieses nicht kennen und auch niemals zu Gesicht bekommen werden. Eine leichte Drehung nach rechts aus der Frontalstellung kommt der Lebendigkeit ihrer Erscheinung zu Gute: Derart gewinnt die Gestalt dem undefinierten Dunkel des Raumes einen Bewegungsspielraum ab. Ihr Körper kann sich plastisch entfalten. Ihr Gesicht rückt ins Dreiviertelprofil, wodurch seine eben- mäßigen Proportionen und Konturen präzise hervortreten. Stirn und Kinn sind ausgeprägt und auf einer Ebene. Die Augen mandelförmig und von feinen Brauenbögen überwölbt. In die Mundwinkel legt sich ein zarter Schatten, ebenso in die Rundung oberhalb des Kinns. Ihre Gesichtszüge wirken entspannt. Die junge Frau blickt uns offen entgegen und doch gibt sie nicht alles preis. Ihr Intimstes bleibt verborgen. Ihre geheimnisvolle Anzie- hungskraft scheint aus der Spannung zwischen den sich offenbarenden und den sich ver- bergenden Wesenszügen zu erwachsen. Die Persönlichkeit der VIOLANTE erschließt sich nicht, indem wir ihre physiognomi- schen Merkmale zur Summe addieren. Nur in einer ganzheitlichen Anschauung gewinnen wir eine Ahnung davon, wer sie ist. Obgleich ihr Aussehen im Bilde in vielerlei Hinsicht der Idealvorstellung einer typischen Schönen entspricht, geht Tizians VIOLANTE doch nicht in der Modellhaftigkeit auf. Sie ist ganz irdisch und nahbar. Ohne Zweifel ist sie eine ›Bella‹, aber vor allen Dingen ist sie ein eigenständiges Individuum.

Piero della Francesca und Raffael

Freilich ist es nicht möglich, die Bildleistung einer ganzen Epoche am Beispiel eines weiblichen Porträts darzulegen. Ein jeder Künstler findet eigene Wege, das Individuum im Bildnis gegenwärtig zu machen. Die Spannweite der Darstellungsweisen ist groß. Zuweilen hält ein scharfer Realismus Einzug, der bereits in Piero della Francescas Profil- bildnissen der BATTISTA SFORZA und des FEDERIGO DA MONTEFELTRO [Abb. 24] augen- fällig wird. Bei einem Tournier zertrümmerte die Lanze eines Gegners seine Nasenwur- zel. Außerdem verlor er bei dem Unfall sein rechtes Auge. Zwar setzt Piero die linke Seite des Grafen mit dem gesunden Auge ins Profil, doch ›schönt‹ er nichts an dessen Erscheinung. Im Gegenteil: Zwischen Nasenrücken und Stirn tritt die hässliche Einbuch- tung markant hervor. Darüber hinaus sind Falten und andere Makel der Haut deutlich zu erkennen. Das Antlitz des Frederigo gewinnt gerade hieraus die Ausstrahlung von Stolz und Macht. Ganz anders verfährt Raffael. Er schafft erstaunliche Ebenbilder, indem er den Men- schen in ein bildliches Konstrukt überführt. Durch die kompositorische Geschlossenheit gelingt es ihm, die Würde der jeweils dargestellten Person zu steigern. Sein Porträt des Grafen BALDASSARE CASTIGLIONE [Abb. 25] gegenwärtigt einen edlen Mann, dessen Milde und Großmut nicht nur aus den harmonischen Zügen des Gesichts und den beson- nen ineinander gelegten Händen sprechen, sondern auch in der dezenten bräunlich-grauen Gesamtfarbigkeit gefasst sind. Matisse ist dieses Bildnis, das sich im Louvre befindet, vertraut gewesen. Er hat es sich in frühen Jahren sehr genau angesehen. Als er sich 1904

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in Geldnöten befand, fertigte er eine kongeniale Kopie an, die sich damals im Gegensatz zu seinen eigenen Werken einfacher verkaufen ließ.246

Hier ist nicht der Raum, um uns weiter in die Porträtkunst der Renaissance zu vertiefen. Jedoch haben wir durch unsere Beschreibung von Tizians VIOLANTE wesentliche Krite- rien gewinnen können, die das individuelle Porträt auszeichnen. Und auf diese Möglich- keit des Kontrastes kommt es an, wenn wir uns nun den Bildnissen von Matisse zuwen- den.

Die Bildnisse von Matisse

Es ist nicht leicht, aus Matisse‘ bildnerischem Werk diejenigen Arbeiten herauszuson- dern, in denen er sich dezidiert mit dem Problem des Porträtierens auseinandersetzt. Der Übergang von der darstellenden Gegenwärtigung eines ›besonderen‹ Menschen zur nicht weiter spezifizierten Bildfigur ist fließend. Erschwerend kommt hinzu, dass Matisse seine Bildnisse oftmals nicht im Titel als ›Porträt‹ kennzeichnet, sondern sie nach Kleidungs- stücken, Accessoires oder dekorativen Konstellationen benennt. Seit den 20er Jahren ist eine Verstärkung dieser Tendenz zu beobachten. Uns begegnen diverse ›Dekorative Figu- ren‹, eine ›Rumänische Bluse‹, eine ›Gelbe Robe‹ und viele andere Gestalten in schönen Kleidern, Trachten und Kostümen, die in ihrer offensichtlichen Modellhaftigkeit auch etwas sonderbar Charakteristisches auszeichnet. In Matisse‘ Werk überwiegen die weiblichen Figuren, weil sie sich leichter in eine dekorative Bildordnung fügen. Männliche Figuren interessieren Matisse vornehmlich als Artisten, die sich zu einer Gruppe formieren, um gemeinsam ihrer Kunst nachzugehen – wie beispielsweise im SPIEL MIT BÄLLEN oder der MUSIK247 – zwei dekorative Tafeln, die sich im Besitz des Moskauer Sammlers Sergej Schtschukin befanden. Etwas anders ver- hält es sich bei seinen Bildnissen. Zwar sind die Darstellungen weiblicher Gesichter in der Mehrzahl, doch ist der Kontrast weniger stark ausgeprägt. Man kann sagen, dass sich Matisse in seinen männlichen Bildnissen deutlicher mit der Aufgabe des Porträtierens konfrontiert, wenn wir darunter die Gegenwärtigung eines einzigartigen Menschen ver- stehen. Man denke an die frühen Porträts seiner Künstlerfreunde ANDRÉ DERAIN [Abb. 26] und ALBERT MARQUET, an das Porträt seines Förderers MICHAEL STEIN oder die bei- den Bildnisse des Kunstsammlers AUGUST PELLERIN [Abb. 27 und 28]. Derweil wird angesichts seiner weiblichen Porträts eine Zwiespältigkeit spürbar. Matisse sieht sich vor eine doppelte Aufgabe gestellt: Er möchte das Wesen des besonderen Menschen hervor- bringen und zugleich die dekorative Bildanlage verwirklichen. Matisse gelingen einige Bildnisse, die auf erstaunliche Weise den doppelten An- spruch einlösen. Besonders offensiv sucht er die Herausforderung zwischen 1909 und 1916. Nicht zufällig entspricht dieser Zeitraum den Jahren, in denen Matisse eine intensi-

246 Vgl.: John Klein, Matisse – Portraits, Yale University Press, New Haven/London 2001, 22f. (fortan: Klein 2001). 247 Die beiden dekorativen Tafeln befanden sich einst im Besitz des russischen Sammlers Sergej Schtschukin (Moskau) und sind heute in der Eremitage in St. Petersburg zu bewundern.

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ve Freundschaft mit dem Byzanzkenner Matthew Stewart Prichard verbindet. In den Ge- sprächen zwischen den beiden Männern geht es mitunter um die besondere ästhetische Wirkungskraft der ikonischen Gesichter, wie sie etwa auf byzantinischen Münzen in Er- scheinung treten.248 Wir werden sehen, dass das ikonische Bildverständnis hilfreiche An- satzpunkte bietet, um der Eigenart von Matisse’ Porträts auf den Grund zu kommen. Zwei Bildnisse werden einer genaueren Betrachtung unterzogen: zum einen das PORTRÄT VON MADAME MATISSE [Abb. 2], zum anderen das PORTRÄT VON GRETA PROZOR [Abb. 3].

Das PORTRÄT VON MADAME MATISSE

Das Porträt, das wir uns zuerst ansehen, gibt Amélie Matisse wieder – die Ehefrau des Künstlers. Matisse vollendet das Gemälde im Sommer des Jahres 1913 und reicht es kurz darauf als seinen einzigen Beitrag im Herbstsalon ein. Vom Publikum wird es vorwie- gend positiv aufgenommen. Der Dichter und Kritiker Guillaume Apollinaire feiert es als eines von Matisse‘ großen »Meisterwerken«249. Louis Vauxcelles zeigt sich hingegen wenig beeindruckt, weil es dem Porträt seiner Auffassung nach an Lebendigkeit mang- le.250 Der Dichter André Salmon wird hinsichtlich des Bildthemas konkreter: »Seine [Ma- tisse‘] Frau in Blau trägt eine hölzerne Maske, die mit Kalk beschmiert ist. […] eine Fi- gur aus einem Albtraum«. Er fügt allerdings hinzu, dass es sich um einen »ziemlich har- monischen Albtraum« handelt.251 Matisse wiederum gibt sich selbstkritisch. Im November 1913 schreibt er an Charles Camoin, einen Freund, den er seit der gemeinsamen Zeit in der Klasse von Gustave Mo- reau kennt:

»Die Wahrheit ist, dass die Malerei eine ziemlich enttäuschende Angelegenheit ist. Es ist nur ein Zufall, dass mein Gemälde [PORTRÄT VON MADAME MATISSE] in einigen avantgardistischen Zirkeln Zuspruch findet. Aber ich bin bei Weitem noch nicht zu- frieden. Es ist erst der Anfang einer sehr aufreibenden Anstrengung.«252

Auf den ersten Blick verwundert es, dass es sich bei dieser vorwiegend in blauen und grünen Tönen gehaltenen Figur um das Porträt einer leibhaftigen Frau handeln soll, die dem Künstler darüber hinaus nächstens vertraut gewesen ist. Ihr Gesicht gibt keinen indi- viduellen Zug preis. Die Frau sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne, die von vertikalen Streben regelmäßig durchfahren wird. Der Körper ist bis unterhalb der Knie ansichtig. In ihrer Pose nimmt sie das schmale Hochformat beinahe gänzlich ein. Ihre Kopfbedeckung ist schwarz und kranzartig gebun- den. Die harte Struktur des Flechtwerks scheint sich in ihre Stirn zu drücken. Dem Antlitz von Amélie Matisse wohnt etwas Unheimliches inne: Mandelförmige schwarze Augenlö-

248 Vgl.: Labrusse 1999, 106ff. 249 Siehe: Alfred H. Barr, Matisse. His Art and His Public, New York 1933, 183. 250 Vgl.: Klein 2001, 84. 251 Zitiert nach: Jack D. Flam, Matisse: The Man and His Art – 1869-1918, Ithaca/London 1986, 372. 252 Siehe: D. Giraudy, Correspondance Henri Matisse Charles Camoin, in: Revue de l’Art, Nr. 12, 1971, 15. Ins Deutsche übertragen durch die Autorin.

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cher, halbrunde Brauen, eine gerade gezogene Nase und ein schlitzartiger Mund konstitu- ieren auf einem weiß-gräulichen Oval ein durch und durch symmetrisches Gesicht. Die steife Mimik wirkt maskenartig. Ihr Hals ist von der gleichen kalkigen Materialität. Auch ihre rechte Hand ist in jenem Grau gehalten, doch wirkt diese keineswegs fest und starr: Wie ein leerer Handschuh hängt sie entlang der Armlehne herab. Madame Matisse begegnet uns als ein ›Gebilde‹, das sich aus einem Körper und Kleidungsstücken formiert, die ebenso körperhaft wirken. Die Figur baut sich in vertika- ler Ausrichtung auf: ein dunkelblauer Rock, darüber ein kastiges Jackett in einem noch dunklerem Blau, das in seiner Öffnung eine mintfarbene Bluse freigibt. Ein schmaler orangefarbener Schal legt sich unverschlungen um ihre Schultern. Darüber ragen Hals und Kopf in leichter Schräglage. Da auf ihren Brustbereich ein Schatten fällt, gewinnen wir den Eindruck, die Dame würde sich leicht nach vorne beugen, um sich dem Betrach- ter zuzuwenden. Trotz des flachen, farbigen Anstrichs wirkt Madame Matisse ausgespro- chen plastisch – wie eine von unten nach oben modellierte Figur. Aber nicht nur die Frau, auch der Ort, an dem sie sich befindet, offenbart jene tektonische Struktur: eine dichte, sphärische Harmonie aus verschiedenen Blautönen, die sich in Flächen, Flecken und Zo- nen über- und nebeneinanderschichten. Das Bildkompartiment in der rechten unteren Ecke, über welches das Auge beim ersten Hinsehen hinwegstreift, ist merkwürdig unbe- stimmt. Ein Tumult aus schwarzen Linien, Kratzern sowie grauer, weißlicher und bräun- licher Farbe befinden sich an der Stelle, an der eigentlich die zweite Armlehne sowie Amélies linke Hand sichtbar werden müssten. Merkwürdigerweise sind sie dort trotz ihrer Unkenntlichkeit doch verortbar. Sie fehlen nicht. Matisse hat seine Frau in ein plastisches ›Flächenwesen‹ aus sorgfältig ausponde- rierten Formen und Farben verwandelt. Das Oval des Gesichts findet vielfältige Echos: Parallel nach unten verschoben taucht es in einer Linie wieder auf, die sich als schmale Kette um den Hals legt. Des Weiteren klingt es in der länglichen Rundung der übereinan- dergeschlagenen Beine an – sowie unmittelbar daneben in der Hohlform, welche die Armlehne beschreibt. Während die harschen Liniaturen, die die weibliche Gestalt umrei- ßen, den Körper schematisch auffassen, erwirken die Blau- und Grünnuancen samt ihrem Komplementär in Form des orangefarbenen Schals eine eigenartige Stimmigkeit – eine unsentimentale Melancholie. Matisse konfrontiert sich mit der Aufgabe des Porträts, indem er den Fokus, der üb- licherweise auf dem Gesicht liegt, auf die gesamte Bildfläche ausweitet. Die Persönlich- keit von Madame Matisse transponiert er in ein ganzheitliches Bildgefüge, das sich um physiognomische Ähnlichkeit nicht kümmert. Derart gelingt es ihm, den Erfordernissen einer dekorativen Bildanlage zu entsprechen.

Wie aber lässt sich die Persönlichkeit beschreiben, die im Bild in Erscheinung tritt? Of- fensiv verzichtet Matisse auf die Darstellung von Individualität. Nicht die korrekte physi- sche Erscheinung des singulären Menschen Amélie scheint ihn zu interessieren, sondern etwas, das über das Partikulare ihres Aussehens hinausgeht. Matisse unternimmt hier den Versuch, die Wesenhaftigkeit seiner Ehefrau in einer allgemeingültigen Weise zu gegen- wärtigen. Wenden wir uns noch einmal dem maskenartigen Gesicht zu. Es ist stupend: Obwohl keine Pupillen zu erkennen sind, haben wir das sichere Gefühl, dass uns Amélie Matisse mit wachen Augen entgegenblickt. Wenn sie eine Maske trägt, dann hat diese Maske nicht die Eigenschaft, ein ›echtes‹ Antlitz zu verbergen. Ihre Sicht durch die Lö-

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cher ist frei und lebendig.

Prosopon – Gesicht ist gleich Maske

Um zu klären, in welcher Weise Matisse von einem Konzept der Maske Gebrauch macht, erweist sich ein Exkurs in die antike Begriffsgeschichte als fruchtbar. Zwei gegensätzli- che Denkweisen treten dabei zu Tage: Der alte, griechische Begriff prosopon bezeichnete sowohl das ›Gesicht‹ als auch die ›Maske‹. Es war das Wort für das sichtbare Gesicht, für das, was sich dem Blick des anderen offenbart. Hans Belting trifft den Kern des griechi- schen prosopon, wenn er formuliert:

»Das Gesicht war bei den Griechen ein ›priveligiertes Medium‹, um philosophische Fragen zu stellen. Die Leichen wurden in dieser Kultur sofort den Blicken entzogen, denn sie verloren schon beim Eintritt des Todes ihr Gesicht. Kunst-Masken aber be- deckten nicht das Gesicht des Schauspielers, sondern wurden zu dessen Gesicht: Sicht und Gesicht waren untrennbar. So vermochte die Maske auch den Ausdruck des Ge- sichts nicht zu verstellen. Es sind ohnehin die Augen des echten Gesichts, mit denen sie blickt.«253

Das griechischen prosopon verbarg nichts, vielmehr zeigte es. Die Lateiner hingegen trennten Maske und Gesicht begrifflich voneinander. Persona, das vom griechischen prosopon herstammt, war das lateinische Wort für Maske. Allerdings kam es zu einer entscheidenden bedeutungsmäßigen Verschiebung. Denn die Römer verstanden die Mas- ke als Hülle, die das wahre Gesicht des Schauspielers verdeckte. Das Moment der Täu- schung und des Truges schwang im römischen Theater immer mit, wenn ein maskierter Schauspieler auf der Bühne agierte. Er spielte die Rolle eines fiktiven Anderen – er war im wahrsten Sine des Wortes ein ›Imitator‹, ein ›Nach-Ahmer‹. Davon unabhängig besa- ßen die Lateiner für das Gesicht zwei Worte: Während facies das natürliche Gesicht be- zeichnete, wurde vultus auf das mimisch bewegte Gesicht angewendet.254 Indes scheint Matisse im Porträt seiner Ehefrau die Ambivalenz des griechischen prosopon zu erproben. Er setzt nicht einfach eine anonyme Maske an die Stelle ihres ›ei- gentlichen‹ Gesichts.255 Vielmehr wird Amélies Antlitz in Folge der bildlichen Konzep-

253 Siehe: Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005, 75 (fortan: Belting 2005). 254 Vgl.:Belting 2005,75f. 255 In diesem Zusammenhang erweist es sich als fruchtbar, das zeitgenössische Theater in Paris näher in Betracht zu nehmen, das seinerseits den zeigenden Charakter der Maske wiederentdeckt und neu erprobt. Diesen Hinweis verdankt die Verfasserin Robert Kudielka: Der exzentrische Dramatiker Alfred Jarry (1873- 1907) griff auf ein Konzept der Maske im Sinne des prosopon zurück, als er seine groteske Kömöde Ubu Roi im Jahr 1896 auf die Bühne brachte. Den Charakter des derb-feisten Königs Ubu hatte Jarry in Anlehnung an seinen übergewichtigen und untauglichen Physiklehrer Professor Hébert geschaffen. Jarry sah vor, dass seine Hauptfigur eine Maske tragen sollte. In einem Artikel, der in der Zeitschrift Mercure erscheint, begründet er diese Überzeugung folgendermaßen: »Eine Maske vermittelt die ›ewige Eigenart eines Charakters‹. Mit ihnen lassen sich Variationen in der Stimmung durch wenige Grundbewegungen ausdrücken, indem man die Effek- te von Licht und Schatten voll ausnützt.« Jarry geht es um die »universale Geste«, welche das Maskenspiel seiner Meinung nach ermöglicht. Der Text sollte in einer stilisierten Weise vorgetragen werden, »als ob die Maske selbst spräche«. Siehe: Roger Shattuck, Die Belle Epoche. Kultur und Gesellschaft in Frankreich 1885-1918, München 1963, 196ff.

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tion ihres Wesens wie von selbst zur Maske. Dies geschieht, ohne dass sie Gefahr liefe, ihrer Persönlichkeit verlustig zu gehen. Für unsere Beobachtung ist nicht entscheidend, ob Matisse reflektiert auf das Konzept des griechischen prosopon als ›zeigende Maske‹ Bezug nimmt. Entscheidend ist, dass wir in Amélies unspezifizierten Zügen nicht einfach ein hinmontiertes Gesichtssubstitut erkennen. Das maskenartige Gesicht ist Teil eines konsequenten Transformationsprozesses ihres Wesens ins Bildnerische. Die Überzeugung, dass das griechische Gesicht für Matisse’ Bildfindung Wichtig- keit besitzt, teilen wir mit Friedrich Teja Bach. Im Zuge der von ihm kurartierten Ausstel- lung Shaping the Beginning – Modern Artists and the Ancient Eastern Mediterranean im Athener Museum kykladischer Kunst erscheint unter gleichem Titel ein Katalog.256 An- gesichts des PORTRÄTS VON MADAME MATISSE gibt Bach folgendes zu bedenken:

»African masks are often discussed as influences or sources for its face, but thorough examination shows, that it is much closer to Greek heads, such as the famous painters plaster head from Mycenae (which may have been such of a Sphinx), the head of CLEOBIS or a HEAD OF HERA found in Olympia. The almond-shaped eyes of Matisse’s portrait are reminiscent of Greek models. And the leaf crown and clearly defined fore- locks of the HEAD OF HERA, or the locks of the Mycenaean head, suggest that the smart hat and its black strips hanging down onto the forehead of Madame Matisse like curls could very well be a ›translation from the Greek‹. Such a relationship would then, of course, imply a whole new interpretation of the portrait of Madame Matisse.«257

Bemerkenswert erscheint auch Georges Batailles Essay Le Masque von 1939, der 35 Jahre später in deutscher Übersetzung anlässlich des zweiteiligen ›Antikenprojekts‹ von Peter Stein und Klaus Michael Grüber an der Schaubühne am Halleschen Ufer in das Beiheft aufgenommen wird. Zwar kommt Bataille in seiner Ausei- nandersetzung mit der Maske nicht auf das griechische prosopon zu sprechen, doch hebt er leidenschaftlich ihre Gegenwartskraft hervor. Auch Batailles Maske trügt nicht – vielmehr konfrontiert sie ihr Gegenüber mit der ängstigenden Wahrheit seiner menschlichen Endlichkeit. Er entwickelt seinen Gedanken dahin, dass die Maske eine Verkörperung des (tödlichen) Chaos und damit eine der letzten Manifestationen der dunklen und abgründigen Seite des Menschen sei, die von einem gleichermaßen beschwichtigenden wie aufklärerischen Rationalismus verdrängt wurde:

»[…] DIE MASKE IST DAS FLEISCHGEWORDENE CHAOS. Sie ist vor mir gegenwärtig wie mein Nächster, der mich mit seinem Blick mißt, hat in sich die Gestalt meines Todes angenommen: durch diese Gegenwärtigkeit ist das Chaos nicht mehr die dem Menschen fremde Natur, sondern der Mensch selber, der mit seinem Schmerz und seiner Lust belebt, was den Menschen zerstört – der Mensch, der in die Besessenheit dieses Chaos gestürzt ist, welches seine Vernichtung und seine Fäule ist, der von einem Dämon besessene Mensch, in dem sich die Absicht der Natur verkörpert, ihn sterben und verfaulen zu lassen. […] Die auf der Maske ruhende Anmaßung ist dem ruhigen Skeptizismus gewichen. Die erschlaffte Leere folgt der Inkarnation des wilden Rausches, der das tragische Geschick des Menschen erfüllt. Die kindlichen Vorstellungen machten aus jeder nächtlichen Gestalt einen erschreckenden Spiegel jenes unlösbaren Rätsels, das das sterbliche Wesen gegenüber sich selbst ist. Glücklich ist nur, wer unter der gleißenden Sonne jenen intimen Punkt totaler Finsternis weiderfindet, aus dem heraus von neuem ein Sturm losbricht. […]« Siehe: Georges Bataille, Die Maske, in: Beiheft zum ›Antikenprojekt‹ der Schaubühne am Halleschen Ufer, Berlin, Februar 1974, 80 [französische Originaltext Le Masque (1939), in: Oeuvres complètes, Band II, Paris 1970].

256 Vgl.: Friedrich Teja Bach, Shaping the Beginning Modern Artists and the Ancient Eastern Mediterranean, verfasst von Friedrich Teja Bach, Ausst. Kat., Museum of Cycladic Art Athen, Athen 2006 (fortan: Bach 2006). 257 Siehe: Bach 2006, 108.

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Bach weist in dieser kurzen Passage darauf hin, dass zwischen den Gesichtern der alten griechischen Skulpturen und den Zügen von Madame Matisse eine auffällige stilistische Nähe besteht. Diese Beobachtung stellt die landläufige Meinung der Forschung in Frage, Matisse hätte sich bei der Verfertigung seines Porträts von afrikanischen Masken ›inspi- rieren‹ lassen. In den halbrunden Augenbrauen, die in eine schmale, keilförmige Nase übergehen, hat man vor allen Dingen eine westafrikanische Fang-Maske [Abb. 29] wie- dererkennen wollen.258 Allerdings bleibt ein plausibles Maskenkonzept zumeist unartiku- liert.259 Es ist wenig befriedigend zu lesen, Matisse habe diese oder jene exotische Maske aller Wahrscheinlichkeit nach zu Gesicht bekommen, wenn sich hernach nichts weiter daraus folgern lässt, als dass der Maler den einigermaßen unbestimmten Eindruck von starker »Symmetrie und Vereinfachung«260 in das Porträt hätte einfließen lassen – als habe er seiner Frau eine solche Maske einfach aufgesetzt. Wie wir gesehen haben, trifft ein derartiges Vorgehen in keiner Weise auf die bildnerische Arbeitsweise von Matisse zu. Auch der Hinweis darauf, dass die in Kaolinweiß getünchte Fang-Maske eine ent- scheidende Rolle bei der rituellen Vergegenwärtigung der Verstorbenen spielte, kann die Deutung des Porträts allein auf keinen überzeugenden Weg bringen. Dass Matisse weder von der Technik der Montage noch von jener der Collage Ge- brauch macht, unterscheidet seine Verfahrensweise grundlegend von derjenigen der Ku- bisten. Wenn sich in Picassos Gemälden maskenartige Gesichter zeigen, wie das bei- spielsweise in seinen berühmten DEMOISELLES D’AVIGNON [Abb. 30] von 1907 der Fall ist, dann dürfen zwar diese ebenso wenig als primitiv-exotische Gesichtssubstitute miss- verstanden werden. Doch anders als Matisse geht Picasso analytisch vor, um zu einer Bildlösung zu gelangen. Auch Picassos Gemälde ein ganzheitlich organisiertes, aber der Fokus liegt deutlicher auf der Sichtbarmachung der einzelnen bildlichen Bestandteile. Die Brüchigkeit des Gesamten ist bei Picasso stark akzentuiert, wohingegen Matisse immerzu auf die Harmonie bedacht ist, welche sich aus den widerstrebigen Teilen fügt. Kehren wir noch einmal zurück zu der Beobachtung Friedrich Teja Bachs. Sein Ar- gument, sich angesichts des PORTRÄTS VON MADAME MATISSE eingehender mit den ar- chaisch-griechischen Gesichtern zu befassen, ist in der kurzen Passage ausschließlich stilistisch begründet. Doch scheint Bach zu ahnen, dass diese formale Verwandtschaft ›tiefer‹ sitzt, wenn er anheimstellt, dass ein derartiger Perspektivwechsel eine neue Deu- tung des Gemäldes erforderlich macht. Indem wir die Ambivalenz des griechischen pro- sopon für unsere Betrachtung gewinnen, haben wir diesen anderen Weg bereits einge- schlagen. Er führt zum ikonischen Bilddenken. So begegnet uns das prosopon auch in den byzantinischen Bildnisikonen wieder: Die Miene des HEILIGEN GEORGS aus dem Katharinenkloster [Abb. 31] ist lebendig, sein Blick wach und rührbar. Leider werden die heiligen Gesichter häufig mit einem ›Schematismus‹ abgetan, der ihre ästhetische Ge- genwartskraft übersieht.

258 Flam und Klein berichten, dass André Derain um 1905 eine Fang-Maske von Maurice de Vlaminck er- worben hatte. Beide gehen davon aus, dass Matisse diese Maske kannte. Heute befindet sie sich im Musée National d’Art Moderne, Centre National d’Art et de Culture Georges Pompidou in Paris. 259 Vgl.: Jack D. Flam, Matisse und die Fauvisten, in: Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhun- derts, hg. von William Rubin, München 1984, 240 (fortan: Flam 1984) und Klein 2001,85. 260 Siehe: Flam 1984, 240.

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Das prosopon ist das, was sich den Augen des anderen zeigt. Es wird gesehen und im selben Moment ist es auch selbst dazu imstande zu sehen. In Matisse‘ Gemälde erblicken wir Amélie, genauso wie sie uns erblickt. Ihr Gesicht wird zur Maske – und wird wieder zum Gesicht. Der Fokus des prosopon dehnt sich aus, auf den Körper der Figur – bis er schließlich die gesamte Anlage des Bildes erfasst, um sich hernach wieder zusammenzu- ziehen. Das Bild sieht uns als ganzes an.

Die Beziehung zwischen Maler und Modell

Wenn uns Matisse die Persönlichkeit seiner Frau vorstellt, dann verzichtet er auf alles Sentimentale und Intime. Ihr menschlicher Charakter bietet sich in der Anlage des Bildes dar. Sie bedarf weder individueller Mimik noch Gestik. Ihr Wesen ist sichtbare Äußer- lichkeit, ist bildlicher Ausdruck. Bereits in den Notizen eines Malers von 1908 hatte Ma- tisse zu bedenken gegeben:

»Der Ausdruck liegt für mich nicht in der Leidenschaft. Die etwa auf einem Gesicht er- schiene und die sich in einer heftigen Bewegung ausdrücken würde. Er liegt in der gan- zen Anlage meines Bildes.«261

Mehr als 45 Jahre später, kurz von seinem Tod, modifiziert Matisse in seiner Einführung zu dem Folioband Portraits262 die Überlegungen hinsichtlich der Beziehung zum Modell:

»Trotzdem glaube ich, daß der wesentliche Ausdruck eines Werks fast ganz davon ab- hängt, dass sich das Gefühl des Künstlers ins Werk projiziert; nach Maßgabe seiner Beziehung zum Modell und nicht nach dessen organisch genauer Wiedergabe.«263

Das Gefühl des Künstlers, welches sich aus seiner Fähigkeit speist, eine Beziehung zum Modell herzustellen und die Ausdruckskraft des Werks sind für Matisse offensichtlich Potenziale, die während des künstlerischen Schaffensprozesses ohne Energieverlust inei- nander übergehen. Wenn es Matisse‘ Anspruch ist, seine Beziehung zum Modell ins Bild zu transportieren, dann stellt sich angesichts des PORTRÄTS VON MADAME MATISSE die Frage, wie die Beziehung zu diesem, ihm sehr vertrauten Gegenüber Gestalt annimmt. Die Figur Amélies ist in harschen schwarzen Konturen gegeben, welche die Vertikale betonen. Ihr Körper zeigt keine weiblichen Rundungen – keine Brüste, keine Taille. Nichts an dieser Frau ist weich. Die bläulich-grüne Grundfarbigkeit ruft eine melancho- lisch-kühle Gestimmtheit hervor. Allein der schmale orangefarbene Schal, der sich ge- schmeidig um ihrer Schultern legt, wirkt der materialen Härte entgegen. Eine gewaltige Anstrengung wird spürbar, welche die Figur bildnerisch ›in den Griff zu bekommen‹ versucht. Die Person wird auf Abstand gehalten. Sie darf nicht zu nahe kommen. Sie neigt ihren Kopf leicht nach vorne, aber jede weitere Hinwendung zum (malenden) Be-

261 Siehe: Flam 1982, 69. 262 Henri Matisse, Portraits, Monte Carlo 1954. 263 Siehe: Flam 1982, 266.

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trachter wird unterbunden. Offensichtlich scheint es für Matisse‘ Art und Weise des Porträtierens wichtig zu sein, das Modell in einer Spannung zwischen Weichen und Nahen zur Darstellung zu bringen. Um der Persönlichkeit Amélies im Bilde nahe zu kommen, muss Matisse eine bestimmte Entfernung aufrecht erhalten. Augenscheinlich fällt ihm das nicht leicht, so wie er sie im Porträt beinahe gewaltsam zurückzwingt. Die große Vertrautheit und Intimi- tät mit dem Modell haben zur Folge, dass das Porträtieren für Matisse zu einer mühevol- len Angelegenheit wird. Man kann den Sachverhalt folgendermaßen beschreiben: Je grö- ßer die Nähe zum Modell ist, desto größer wird auch die Anstrengung ausfallen, die not- wendige Distanz im Bild herzustellen. Wenn also das, was uns Matisse‘ in seinem Porträt zeigt, als Bild gewordener Aus- druck der Beziehung zwischen dem Maler und seiner Ehefrau angeschaut werden kann, dann gewinnen wir hieraus ein weiteres Charakteristikum der Persönlichkeit von Amélie Matisse. Bei einer derartig augenscheinlichen Schinderei von Seiten des Gatten – sowohl des Bildes als auch der Gemahlin ›Herr zu werden‹ – dürfen wir Amélie eine gehörige Portion Widerständigkeit und Ausdauer zu Gute halten.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Matisse seine Ehefrau einige Male porträtiert. Die FRAU MIT HUT und der GRÜNE STRICH seien an dieser Stelle als frühe Beispiele genannt. Nach 1912 tauchte Amélie kaum mehr in den Bildern des Malers auf – eines der letzten Male vielleicht in der MUSIKSTUNDE von 1917, in der sie fortgerückt von der im Wohnzimmer versammelten Familie, im Garten auf einem Lehnstuhl sitzt und näht. Ähnlich erging es Marguerite und den beiden Söhnen, die Matisse in früheren Jahren häufiger zu Bildern veranlasst hatten. Matisse bevorzugte es fortan, mit Modellen zu arbeiten, die ihm nicht so ›nahe gingen‹. Dennoch konnte er sich auch durch die ›fremden Modelle‹ nicht des Problems entledigen, dass sich durch die intensive künstlerische Auseinandersetzung nach einer gewissen Zeit zwangsläufig wieder eine Nähe einstellte, die hinderlich werden konnte. Dann war es an der Zeit, ein neues Modell zu suchen. Matisse arbeitete sich an seinen Modellen förmlich ab. Er selbst formuliert das 1939 in den Notizen eines Malers über das Zeichnen264 folgendermaßen:

»Meine Modelle, menschliche Gestalten, sind nie bloße Statisten in einem Interieur. Sie sind das Hauptthema meiner Arbeit. Ich bin vollkommen abhängig von meinem Modell, das ich zuerst ungezwungen beobachte. Erst nachher entscheide ich mich für die Pose, die es einnehmen soll und die seinem Naturell am meisten entspricht. Wenn ich ein neues Modell nehme, errate ich die Pose, die zu ihm paßt, aus seinen unbewuß- ten Ruhehaltungen. Hernach mache ich mich zum Sklaven dieser Pose. Ich behalte die- se Mädchen oft mehrere Jahre, bis mein Interesse erschöpft ist.«265

Einige dieser wichtigen Modelle kennen wir mit Namen. So etwa Jeanne Vaderin, die uns vor allem in den fünf Plastiken ihres Kopfes aus den Jahren zwischen 1910 und 1916 gegenwärtig ist, Olga Merson um 1911, Germaine Raynal um 1914, Lorette um 1916, Henriette Darricarrère ab 1921 und ab Mitte der 30er Jahre Lydia Delectorskaya, die für

264 Henri Matisse, Notes d‘ un peintre sur son dessin, in: Le Point, Nr. 21, Juli 1939, 104-110. 265 Siehe: Flam 1982, 150.

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Matisse nicht nur ein Modell war sondern ihm auch zu einer vertrauten Assistentin wur- de. Wenn wir Fotografien dieser Modelle betrachten, müssen wir feststellen, dass es sich nicht um ›schöne‹ Frauen in einem klassischen Sinn handelte. Jede hatte einen charakte- ristischen Zug, der Matisse reizte und auch in den Werken sichtbar wurde. Während die dunkelhaarige Italienerin Lorette mit ihrem kantigen Gesicht und dem Silberblick etwas Herbes ausstrahlte, ging von Henriettes strengem, ebenmäßigem Gesicht mit der hohen Stirn eine eigentümliche Sinnlichkeit aus. An Lydia wiederum faszinierte Matisse das hellhäutige Gesicht mit den recht eng stehenden Augen und das hellblonde Haar, welches prächtig mit den Kostümen und Kleidern kontrastierte, die sich in seinem Repertoire be- fanden und mit denen er seine Modelle ausstattete.

Das PORTRÄT VON GRETA PROZOR

Das zweite Bildnis, das wir uns ansehen wollen, ist das PORTRÄT VON GRETA PROZOR [Abb. 3]. Matisse malt es in den letzten Monaten des Jahres 1916. Er wählt beinahe das- selbe schmale Hochformat wie für das Porträt seiner Gattin: 146 x 96 cm. Auch hier er- scheint die Porträtierte in sitzender Pose, auch hier wird spürbar, dass das Bild nicht in Leichtigkeit entstanden ist. Ansonsten sind die Darstellungsweisen grundverschieden. Denn Matisse setzt einen völlig anderen Charakter ins Bild. Der Künstler war mit dem Porträt zunächst nicht zufrieden und brach die Sitzungen mit dem Modell ab. Schließlich vollendete er es doch – allerdings in Abwesenheit Greta Prozors. Erst Jahre später stellte er es öffentlich aus. Matisse schätzte das Gemälde fortan hoch und behielt es zeitlebens in seinem Besitz; vermutlich weil es ihm beständig die Probleme und Möglichkeiten vor Augen hielt, die er für das Porträtieren als wesentlich erachtete.266 Greta Prozor hatte es in Paris als Schauspielerin zu einer gewissen Berühmtheit ge- bracht. Sie war die Tochter eines litauischen Diplomaten und einer Schwedin und spielte am Pariser Théâtre de l’Oeuvre in Stücken von Henrik Ibsen, die ihr Vater ins Französi- sche übersetzt hatte.267 Wahrscheinlich hat sie Matisse über ihren Ehemann, den Norwe- ger Walter Halvorsen, kennengelernt, der von 1909 bis 191ί Student in Matisse‘ Malerei- schule gewesen war und nun als Kunsthändler arbeitete.268 Auf Matisse muss diese junge Frau großen Eindruck gemacht haben, denn er porträtierte sie aus eigenem Interesse. Das geht beiläufig aus einem Brief hervor, den Greta Prozor an Matisse‘ Tochter Marguerite richtet. Marguerite, die über ausgezeichnete Kontakte in der Pariser Kunstwelt verfügte, hatte Greta offensichtlich angeboten, sie bei diesem oder jenem Theaterintendanten für ein Vorsprechen zu empfehlen.

»Liebes Fräulein, hier ist nun die Liste meiner Rollen [recite]. Ich denke, das genügt um sich ein Bild da- von zu machen, was ich kann. Es ist überaus freundlich von Ihnen, dass sie mir hierbei

266 Vgl.: Klein 2001, 169. 267 Vgl.: John Elderfield, The Drawings of Henri Matisse, London 1984, 261. 268 Vgl.: Klein 2001, 169.

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helfen und ich weiß es wirklich zu schätzen. Gestern erzählte mir mein Mann, Ihr Vater habe den Wunsch geäußert, dass ich für ihn Modell sitze. Richten sie ihm bitte aus, dass ich das sehr gern tue, wann immer er möchte.«269

Als Matisse Greta Prozor porträtiert, ist sie 31 Jahre alt.270 Schauen wir uns an, wie Matis- se hier verfährt: Auf einem gelb-ockerfarbenen Lehnstuhl, der sich in der Bildmitte befindet und des- sen Sitzfläche nach rechts ausgerichtet ist, sitzt eine ernst dreinblickende Frau in würde- volle Haltung – Greta Prozor. Von den klobigen Stöckelschuhen bis zur Spitze ihres aus- ladenden Hutes nimmt ihre Gestalt die gesamte Höhe des Formats in Anspruch. Sie trägt ein langärmliges, kobaltblaues Kleid, das bis zu den Knöcheln reicht. Der Kragen ist steif, eng und schwarz. Er ragt schräg empor. Darauf sitzt der Kopf. Eine Rohheit schwingt in den schwarzen, breiten Lineaturen mit, welche ihren Körper einzufangen suchen. Es sind – anders als bei MADAME MATISSE – fast ausschließlich schräge oder kurvige Linien. Die Schenkel und Waden zeigen schwungvolle Rundungen. Wir sehen sie trotz des langen Kleides, das offenbar durchsichtig ist. So ist es nicht weiter verwun- derlich, dass Greta ihre Beine eng übereinanderschlägt und die Hände genau über der Scham ineinanderlegt, als wolle sie nicht zu viel preisgeben. Zwei parallel gesetzte schrä- ge Konturen drängen den Oberkörper in Richtung Lehne. Auch der linke Arm muss sich dieser Schräglage fügen. Doch geschieht dies nicht ohne Widerstand. Der Hals strebt entgegen der Lehnhaltung leicht nach vorne und richtet die Figur auf. Die schwarze Zone, die wie ein Schattenumriss auf der Stuhllehne erscheint, markiert den Spielraum, der diesem geringfügigen, jedoch entscheidenden Haltungswechsel zwischen Anlehnen und Aufrichten entspricht. Greta wendet ihr Gesicht in Richtung des Betrachters, so dass es beinahe frontal an- sichtig wird; doch ihr Blick gleitet an uns vorbei ins Leere. Das Gesicht ist ovalförmig. Die Schraffuren auf der linken Seite akzentuieren scharf die Wangenpartie. Gretas Haut ist von demselben gelblichen Ocker wie der Raum, in dem sie sich befindet. Sie blickt aus großen Augen, über denen schwere Brauen lasten. Die Nase ist lang und gerade. Der breite Nasenrücken beschreibt eine der wenigen Vertikalen, die sich in Gretas Gestalt finden. Zwei schwarze schwingende Linien zeichnen den geschlossenen Mund. Die leicht nach unten gesenkten Winkel strahlen Ernsthaftigkeit aus. Doch formen diese Gesichts- züge keine individuelle Miene. Gretas strenges Antlitz hat geradezu etwas Unspezielles, Generelles an sich. Ihr Haar ist schwarz und recht kurz. Wie zwei schwere Tropfen haftet es zu beiden Seiten an ihrem Kopf. Darüber trägt sie einen weit ausladenden Hut mit einer Blume, die einem Insekt gleicht. Der Hut fasst in seiner horizontalen Ausdehnung die gesamte Breite der Figur und sitzt wie eine Waage, welche beide Seiten des Bildes im Gleichgewicht zu halten trachtet, auf Gretas Haupt. Trotz seiner Schwärze erscheint der Hut nicht schwer. Da wir vor allem seine Unterseite zu sehen bekommen, drängt sich vielmehr die Vorstellung auf, wie leicht er sich lupfen ließe. Der Hut verleiht seiner Trä-

269 Der Brief ist auf einen Donnerstag Ende des Jahres 1915 datiert und befindet sich in den Archives Matisse in Paris. Eine Übersetzung des Briefes ins Italienische findet sich in: Matisse. »La révélation m’est venue de l’Orient«, Ausst. Kat., verfasst von Rémi Labrusse u.a., Musei Capitolini Roma, Florenz 1997, 166. Der Brief wurde durch die Autorin aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt. 270 Vgl.: Klein 2001, 169 sowie: Dominique Fourcade, Greta Prozor d ’Henri Matisse, in: Cahiers du Musée National d‘ Art Moderne, Nr. 11, Juni 1983, 104.

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gerin eine würdevolle und zugleich anmutige Eleganz, welche der Strenge ihres Gesichts- ausdrucks entgegenwirkt. Die charakterliche Erscheinung Greta Prozors wäre ohne den Hut eine andere.

Der Begriff ›Charakter‹

Es ist erstaunlich, dass angesichts von Matisse‘ Bildnissen die Rede immer wieder auf den Begriff ›Charakter‹ fällt. Er scheint etwas zu treffen, das diesen Porträts eigen ist. So stellt sich die Frage, was das griechische Wort charakter seinem Ursprung nach eigent- lich bedeutet. Wir wollen uns im Folgenden an die Darlegungen des klassischen Philologen Alfred Körte halten, der die Geschichte des Wortes in der Antike eingehend untersucht und die Ergebnisse in einem Artikel zusammengetragen hat. Dieser ist 1929 in der Zeitschrift Hermes erschienen, deren Herausgeber Körte selbst war.271 Körte geht es darum aufzuzei- gen, »welche Sinneswandlungen es [das Wort] schon im Altertum durchgemacht hat, und inwiefern sich seine antike Verwendung von der modernen, besonders der im Deutschen unterscheidet.«272 Körte macht deutlich, dass das Wort charakter zuerst in einem techni- schen Zusammenhang auftaucht und angewendet wird. Das Verbum charasséin meint das Schreiben oder das Ritzen in eine Oberfläche wie Stein, Holz oder Erz aber auch das Prägen der Münze.273 Charakter ist dementsprechend das Werkzeug bzw. das Instrument, mit dem die Münze geprägt wird, der Prägestempel.274 Dann passiert etwas Überraschen- des, denn »aus dem Prägestock wird das durch ihn Hergestellte, das Gepräge.«275 Das ehemals Aktive geht ins Passive über. Körte ergänzt: »Den gleichen Übergang haben wir im Deutschen bei einem Wort fast derselben Bedeutung: der Stempel ist zunächst das Werkzeug, mit dem in Metall oder auf Papier ein Kennzeichen hergestellt wird, dann dieses Kennzeichen selbst.«276 Recht früh findet das Bild vom Gepräge auch für den Men- schen Anwendung, »aber nicht zur Bezeichnung seines seelischen Gepräges, der untilg- baren individuellen Eigenart, wie wir heute das Wort Charakter überwiegend gebrauchen. Es geht mitunter auf die körperliche Erscheinung.«277 Ebenso hat die Sprache in der grie- chischen Vorstellung des fünften Jahrhunderts eine körperliche Erscheinung. So ist mit charakter der »unvertilgbare Stempel der Mundart«, die Klangfarbe des Dialekts ebenso gemeint wie später »das Gepräge der geformten Rede, die Art sich auszudrücken, der Stil«.278 Körte betont, dass sich das Wort charakter in der klassischen Zeit niemals auf das Innere oder Innerliche des Menschen bezieht. Als Beispiel führt er Aristoteles an, der das Wort im Sinne des Gepräges in vielerlei Hinsicht gebraucht, jedoch gerade nicht in seinen ethischen Schriften oder in seiner Poetik.279 Wenn das Wort für die Beschreibung eines

271 Siehe: Alfred Körte, Charakter, in: Hermes, Nr. 64, 1929, 69-86 (fortan: Körte 1929). 272 Siehe: Körte 1929, 69. 273 Vgl.: Körte 1929, 70f. 274 Vgl.: Körte 1929,72. 275 Siehe: Körte 1929,73. 276 Siehe: Körte 1929,73. 277 Siehe: Körte 1929, 75. 278 Siehe: Körte 1929, 76. 279 Vgl.: Körte 1929, 76.

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Menschen angewandt wird, dann zeichnet es ihn nicht als einen Einzigartigen oder Be- sonderen, sondern als jemanden, der in einer »Fülle von Einzelzügen«280 lebendig ist. Körte präzisiert schließlich den Unterschied zwischen antikem und modernem Wortge- brauch wie folgt:

»Niemals wird die Darstellung eines Individuums erstrebt, sondern stets die eines Cha- raktertypus. Das entspricht im Grunde auch dem Sinn des Wortes, denn der Stempel, den die Metallstücke in der Münze erhalten, ist niemals für ein einzelnes Exemplar be- stimmt, sondern kehrt stets auf einer größeren Reihe von Münzen wieder. [...] Man darf wohl sagen, das Individuum in seiner rätselhaften Geschlossenheit und Einmaligkeit ist den Griechen überhaupt noch nicht als Gegenstand der Forschung und als Ziel dichteri- scher Gestaltung so wichtig gewesen wie uns. Durchaus fremd ist dem griechischen Wort charakter das Willenselement, [...] das wir auch heute in der Umgangssprache einseitig betonen, wenn wir etwa sagen, ›der Mann hat Charakter‹. Fremd ist ihm auch die Möglichkeit einer Entwicklung und Ausbildung der in der angeborenen Eigenart beschlossenen Kräfte.«281

Nach Körtes Ausführung können wir nun mit Recht behaupten, dass sich der alte Begriff Charakter für die Beschreibung von Matisse‘ Porträts eignet: Weder geht es Matisse da- rum, die physiognomische Außerordentlichkeit des Modells noch dessen Gemütszustand abzubilden. Genauigkeit und Ähnlichkeit sind keine entscheidenden Gestaltungskriterien. Freilich dürfen wir nicht übersehen, dass Matisse, anders als die alten Griechen, sehr wohl wusste, was es bedeutete, ein modernes Individuum zu sein. Wenn seine Porträts jedweden individuellen Zug vermissen lassen, dann handelt es sich um eine bewusste künstlerische Entscheidung. In Bildnissen wie dem von MADAME MATISSE oder GRETA PROZOR können wir et- was Allgemeingültiges ausfindig machen – eine stabile Struktur oder eben ein ›Gepräge‹, welches das Wesen der Dargestellten gleichsam in sich aufnimmt und hervorbringt. Diese Struktur ist von dem visuellen Eindruck zu unterscheiden, den die bloße physische Er- scheinung des Modells bewirkt. Wenn sich Matisse mit einem Modell konfrontiert, kommt vielmehr die emotion (Emotion) ins Spiel – das leibhaftige Empfinden einer menschlichen Gegenwart, die er malerisch umzusetzen trachtet. In Matisse‘ Porträts geht es also um Präsenz – um eine Präsenz, die sich gleichsam ausdrückt und einprägt.

Die byzantinischen Münzen

Auch Rémi Labrusse kommt im Rahmen seiner Untersuchung von Matisse‘ Bildver- ständnis mit dem in Berührung, was ›Charakter‹ als ›Gepräge‹ oder ›Stempel‹ ursprüng- lich meint. Labrusse stößt auf einige Notizen Matthew Stewart Prichards, aus denen her- vorgeht, dass byzantinische Münzen [Abb. 32 und 33] ein großes Thema in seinen Ge-

280 Siehe: Körte 1929, 76. 281 Siehe: Körte 1929, 77 und 86.

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sprächen mit Matisse waren. Anhand der Münzen konnte Prichard beispielhaft zeigen, auf welche Weise in Byzanz Form und Funktion aufs Schönste miteinander verflochten waren. Matisse freute sich sehr, als er von Prichard einige Exemplare erhielt.282 In seinem Eintrag vom 26. März 1913 schreibt Prichard einige Aussagen von Matis- se nieder. Sie geben Aufschluss darüber, weshalb der Künstler von den byzantinischen Münzen derart fasziniert war:

»Byzantine coins have influenced me; I have had one in my mind […] in doing the pic- ture of the Rifain. We look at them and we see what is there but we cannot explain it as a composition or sculpture. If an artist is very simple he can convey his sentiments by his expression but no one can say how. Such work as this (indicating a Byzantine de- sign) means a very elevated mind in the artist. ›Ce n’est pas par la technique qu’on peut atteindre un tel art, mais seulement par un certain degree d’élévation.‹ […]«283

Matisse glaubt zu erkennen, dass die byzantinischen Münzen einen Anspruch einlösen, den er an seine eigene Malerei stellt: die vollständige Verwandlung der Empfindung des Künstlers in bildnerischen Ausdruck. Die Vernunft kann nach Matisse‘ Auffassung das Geheimnis dieser Münzen nicht ergründen. Sie lassen sich nicht als plastisches Abbild Christi oder eines Kaisers erklären. Ebenso wenig ist ihrem Wesen mit handwerklichen oder technischen Kategorien beizukommen. Was Matisse hierbei beeindruckt, ist, einen Künstler am Werk zu sehen, der einfach und ummittelbar (simple) an seine gestalterische Arbeit heranzutreten vermag. Der unverstellte Zugang des Künstlers zu seinen Empfin- dungen geht mit einer geistigen Begabung einher. Matisse spricht von einem erhabenen Geist (elevated mind) und meint damit wohl eher eine intelligente Spiritualität als eine sentimentale Esoterik. Was hier anklingt, ist die künstlerische ›Intuition‹. Diese will nicht die Realität erfassen und dingfest machen. Die byzantinischen Münzen gewinnen ihre plastische Ausstrahlung gerade durch den entschiedenen Verzicht auf jede Form von Nachahmung.284 Aus Prichards Eintrag geht ferner hervor, dass Matisse eine solche Münze gegen- wärtig hatte, als er an einem Gemälde arbeite. Zwei Bilder kommen in Frage – zum einen der STEHENDE RIFKABÜLE [Abb. 34], zum anderen der SITZENDE RIFKABÜLE. In den Bildern zeigen sich die Figuren frontal. Die beiden Muselmanen setzen sich von den schlichten Farbgründen deutlich ab. Kraftvoll und leuchtend entfalten sie ihre Gegenwart. Labrusse bezeichnet die beiden Porträts der Rifkabülen als »anonyme Porträts«, da sie »entindividualisiert« seien ohne »entpersonalisiert« zu sein.285 Labrusse schlägt eine Brü- cke zu den byzantinischen Münzen, indem er eine analoge Struktur in der ästhetischen Wirkungsweise aufdeckt: Wie es den byzantinischen Münzen gelingt, auf plastische Wei- se die Aura einer Macht zu transportieren, die über das hinausragt, was Christus oder der Kaiser als menschliches Individuum gewesen ist, so trachten auch Matisse‘ Porträts da- nach, die Gegenwart eines Menschen, die der Künstler selbst erfahren hat, in einen auto-

282 Prichard notiert am 22. Juni 1914: »[...] Matisse was delighted with four [Byzantine coins] I gave to him, especially two silver ones, for he has never seen silber ones before.« Siehe: Labrusse 1999, 280. 283 Siehe: Labrusse 1999, 280. 284 Vgl.: Labrusse 1999, 108. 285 Siehe: Labrusse 1999, 107.

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nomen bildlichen Ausdruck zu überführen.286 Erstaunlicherweise weist eine Beobachtung, die Ernst Buschor angesichts der sogenann- ten archaisch-griechischen ›Benamungsporträts‹ gemacht hat, auf ein ähnliches Verständ- nis des Menschenbildes hin wie es Labrusse für die byzantinischen Münzen und Matisse‘ Bildnisse geltend macht. In seinem Buch Bildnisstufen287 legt Buschor dar, dass es das skulpturale Benamungsporträt nicht darauf anlegt, die Individualität des durch die In- schrift benannten Menschen ansichtig zu machen, sondern vielmehr danach strebt, dessen »überzeitliches Dasein«288 zu gegenwärtigen. Als Beispiel zieht er das marmorne Brüder- paar KLEOBIS UND BITON [Abb. 7] heran, das uns aus unserer vorangehenden Beschrei- bung bereits vertraut ist.289

»Wenn griechische Männer wie Kleobis und Biton in der Blüte ihrer Jahre hinwegge- rafft wurden und in das Reich der seligen, ewig freudvollen und mächtigen Heroen eingingen, so wurde dieser Vorgang vollgiltig durch die überlebensgroßen Jünglingsfi- guren ausgedrückt, mit denen das frühe Griechentum den Inbegriff der Schönheit und Gewandtheit, der Kraft und Jugendfülle bezeichnete. Keine Einfügung modellhafter oder privatpsychologischer Züge hätte dies Bildnis steigern können. Wenn ein Krieger seine Leben für die Vaterstadt hingab; ja wenn auch nur ein Bürger aus dem Kreis der Seinigen schied, um als Jenseitiger Grab und Grabspenden von seinen unabtrennbaren Angehörigen zu empfangen; […] so schien das austauschbare Allgemeinbild des voll- kommenen Menschen den seligen Geist klarer zu bezeichnen als das mit den Mängeln des Sonderdaseins und der Vergänglichkeit behaftete. […] Das Stehen des Einen für Viele, der Einheit für die Vielheit, ist eben vor der neuen abendländischen Ichwerdung eine viel grundhaltigere, konkretere Tatsache als nachher, und der einseitig durch die neuzeitliche Geisteshaltung Erzogene kann sich nur schwer von der starken Giltigkeit eines Bildnisses überzeugen, das aus Allgemeinbild und Namensbeischrift besteht.«290

Der griechischen Vorstellung – sei sie nun archaischer oder byzantinischer Natur – war es offensichtlich fremd, die Besonderheit eines Menschen in seinem individuellen Aussehen ausfindig zu machen. Davon zeugt auch die antike Bedeutung des Begriffs charakter, wie sie Körte in seinem Aufsatz dargelegt hat. Wenn wir die Überlegungen von Buschor und Labrusse zusammenbringen, dann liegt der Akzent in der plastischen Darstellung des Menschen bzw. seines Antlitz‘ auf der Überwindung der zeitlichen Begrenzungen. So- wohl die namentlich ausgezeichneten Statuen als auch die beschrifteten Münzen waren dazu imstande, den Ewigkeitsgehalt des Menschen zum Ausdruck zu bringen. Aufgrund ihrer Währungsfunktion waren die Münzen zudem stetig im Umlauf. Das Bildnis Christi oder des jeweiligen Kaisers trat überall dort in Erscheinung, wo Handel betrieben wurde – es war örtlich nicht fixierbar.

286 Vgl.: Labrusse 1999, 108. 287 Ernst Buschor, Bildnisstufen, München 1947 (fortan: Buschor 1947). 288 Siehe: Buschor 1947, 52. 289 Wir erinnern uns, dass auch Matisse einen Abguss des KLEOBIS in Gips besessen hat. 290 Siehe: Buschor 1947, 49ff.

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›Platz nehmen‹

Kehren wir nach diesem Exkurs noch einmal zurück zu dem PORTRÄT VON GRETA PRO- ZOR: Wenn wir nun unsere Aufmerksamkeit darauf richten, wie Greta auf ihrem Lehn- stuhl ›Platz nimmt‹, bemerken wir, dass die junge Frau und der Stuhl auf eigentümliche Weise miteinander verwachsen sind. Der Stuhl fände keinen Halt, wenn niemand auf ihm zu sitzen käme. Gleichwohl bedarf Greta des Stuhls notwendig, um sich im Bild einzu- finden. Wenn man bedenkt, dass es sich bei der Frau um eine Schauspielerin handelt, dann muss man feststellen, dass sie sich in ihrer Pose erstaunlich untheatralisch gibt. Nichts Inszeniertes ist in ihrer Weise ›dazusitzen‹. Sie spielt keine Rolle. Matisse zeigt sie eher nachdenklich und zurückhaltend denn als kapriziöse Diva. Um Greta Prozor zu porträtieren, beschränkt er sich auf vier Farben, die er großzü- gig und in sichtbarem Duktus aufträgt: ein erdiges Grau, ein gelbliches Ocker, Kobaltblau und Schwarz. Das Grau nimmt die linke Seite in Beschlag. Auf Höhe des Lehnstuhls bricht es im unteren Bereich vertikal ab und weicht dem Ocker, das von rechts entgegen- drängt. Oberhalb der Lehne mischt sich das Grau hingegen mit dem Ocker, so dass es um Gretas Kopf lichter wird. Zwischen den Farben bleibt eine zarte Kontrastlinie bestehen, die diagonal nach rechts oben verläuft. In diesem Raum aus erdigen Tönen kommt der Lehnstuhl zu stehen. Allerdings können wir von vier Stuhlbeinen nur eines erkennen. Die anderen verschwinden entweder in den Längen des blauen Kleides oder in der merkwürdigen schwarzen Zone, die sich unterhalb des Stuhls auftut. Sie wirkt wie das größere Pendant zum keilförmigen, schwar- zen Kragen, weil sie in der linken Seitenkante parallel zueinander verlaufen. Diese Fläche stützt und drängt von unten in die geschwungene Sitzfläche hinein. Allerdings steht sie durch ihre horizontal verlaufende Unterkante auch in Korrespondenz mit dem Hut. Das kobaltblaue Kleid scheint im Kontrast zu den erdigen Tönen zu leuchten. Greta Prozor wirkt besonnen und ernsthaft. Die eigentümliche Unschärfe der inei- nander gelegten Hände und die unbewegten Gesichtszüge erwecken den Eindruck, dass Greta ›bei sich‹ ist. Allerdings ist ihre Persönlichkeit, wie sie im Bild in Erscheinung tritt, so noch nicht hinreichend beschrieben. Greta wird nämlich in ihrem Dasitzen nicht ›in Ruhe gelassen‹. Etwas drängt sie, ihren Körper immer wieder ein Stück weit zu verrü- cken: sich anzulehnen, sich aufzurichten, sich nach vorne zu neigen und so fort. Ein brei- ter grauer Streifen, der parallel zu der Stuhllehne verläuft, zwingt ihren Oberkörper förm- lich bis auf den Grund zurück. Ähnlich verhält es sich mit der Partie oberhalb der Schul- tern, die im Pinselgestus vom gewöhnlichen Farbauftrag der ockerfarbenen Lehne ab- weicht und als gestischer Wulst auf Gretas Schultern lastet. Ein fächerartiger Keil, der in ihrer linken Achsel sitzt, bewirkt, dass sie ihren Oberarm vom Körper fortspreizt. Ver- schiedenartige Kräfte wirken auf Greta ein und man kann spüren, dass es ihr nicht leicht fällt, sie zu parieren. So scheint es, als würde das PORTRÄT VON GRETA PROZOR vom Posieren selbst han- deln. Matisse hält die Schauspielerin nicht in einer theatralischen Pose fest; vielmehr zeigt er, wie sie auf dem Lehnstuhl Platz nimmt – wie sie sich im Bild einfindet. Im Voll- zug dieses unaufdringlichen Posierens wird ihr Wesen gegenwärtig: Ihr Ernst, ihre Wür- de, ihre Langmütigkeit, ihre Zurückgenommenheit.

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Tatsächlich hat das Posieren für das Entstehen des Porträts eine gewichtige Rolle ge- spielt. Eine späte Erinnerung Greta Prozors aus dem Jahr 1967 gewährt uns einen Ein- blick in den Ablauf einer frühen Porträtsitzung:

»Eines Tages bat mich Matisse, für ihn in seinem Pariser Atelier Modell zu sitzen. Obwohl er eine große Tafel malen wollte, begann er damit, zahlreiche Zeichnungen anzufertigen. ›Erzählen sie mir etwas‹, sagte er, und stellte mir Fragen über das Thea- ter. Ich erzählte und gestikulierte dabei wild herum. Plötzlich stoppte er mich mit einer Geste, ich hielt still und der Bleistift begann seine Arbeit ohne Unterbrechung. Als der Bleistift anhielt, war die Zeichnung fertig. Matisse machte eine Reihe bemerkenswerter Zeichnungen.«291

Aus diesen knappen Zeilen geht hervor, dass für Matisse das Entdecken einer ›natürli- chen‹ Pose von entscheidender Wichtigkeit ist: Matisse sucht nach einer Emotion, die es ihm erlaubt die besondere Gegenwart Gretas mitzuteilen – ihren ›Charakter zu zeichnen‹. Im Vollzug des Erzählens, in ihrem Hin- und Herrücken auf dem Stuhl und ihrem Gesti- kulieren gewinnt sie die eigentümliche Ausstrahlung, die der Künstler in einen bildlichen Ausdruck überführen kann.

Porträtieren und Zeichnen

Bevor Matisse auf der großen Leinwand zu malen beginnt, fertigt er also einige Zeich- nungen an. Dass das Zeichnen dem Vorgang des Porträtierens zugehört, verrät der Begriff ›Por-trät‹ selbst. Er stammt vom lateinischen Verbum per-trahere her, was im wörtlichen Sinn soviel bedeutet wie ›hervor-ziehen‹. Das Porträt ist demnach das ›Hervorgezogene‹. Es gründet auf einem tatkräftigen, ja willentlichen Akt. Auch das ›Zeichnen‹ hat diesen harten und zwingenden Zug. Wir kennen im Deutschen den Ausdruck ›eine Linie ziehen‹. Albrecht Dürer spricht vom ›Reißen‹, wenn er das ›Zeichnen‹ meint und trifft damit das Rohe des Vorgangs. Im Französischen und Italienischen bezeichnet der alte Wortstamm trahere auch das Zeichnen selbst: Im Gegensatz zu dessiner und disegnare, die eher das planende Zeichnen als Entwerfen meinen, tragen tracer und tracciare das Moment des Ziehens in sich. Treffend hat diesen Aspekt des Zeichnens Paul Valéry in seinem Buch Tanz, Zeichnung und Degas292 beschrieben. In dem Abschnitt, der mit »Voir et tracer«, im Deutschen mit »Sehen und Zeichnen« betitelt ist, formuliert Valéry:

»Es besteht ein ungeheurer Unterschied zwischen dem bloßen Sehen einer Sache und dem Sehen, während man sie zeichnet. Oder vielmehr: es sind zwei sehr verschiedene Sachen, die man sieht. Selbst aus einem unsern Augen höchst vertrauten Gegenstand wird etwas völlig anderes, sobald man sich anschickt, ihn zu zeichnen. [...] das Zeich-

291 Siehe: Matisse. »la révélation m’est venue de l’Orient«, Ausst. Kat., vefasst von Rémi Labrusse u.a., Musei Capitolini Roma, Florenz 1997, 166. Die Textpassage wurde durch die Autorin aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt. 292 Paul Valéry, Tanz, Zeichnung und Degas, Frankfurt am Main 1962 (fortan. Valéry 1962).

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nen nach einem Gegenstand erteilt dem Auge einen bestimmten, von unserem Willen genährten Befehl. Man muss also wollen, in diesem Fall, um zu sehen, und dieses ge- wollte Sehen findet im Zeichnen sein Mittel zugleich und sein Ziel.[...] Der gespannte Wille gehört wesentlich zum Zeichnen, denn das Zeichnen verlangt das Zusammenwirken einer ganzen Reihe von selbständigen Organen, die nur darauf war- ten, die Freiheit ihrer Funktionen zurückzugewinnen. Der Blick möchte umherschwei- fen; die Hand abrunden und die Tangente erreichen. Um zu jener Freiheit des Zeich- nens zu gelangen, die dem Willen des Zeichners zum Sieg verhilft, muß man mit allen diesen örtlich gebundenen Freiheiten fertigwerden. Letzten Endes eine Frage der Selbstbeherrschung.«293

Valéry stellt hier das Zeichnen als einen Vorgang der Aneignung dar, der durch den Wil- len gelenkt wird. Der Gegenstand wird durch die zeichnerische Linie ›hervorgezogen‹, auf das Papier ›gerissen‹ und derart in Besitz genommen. Es handelt sich um einen Akt, welcher dem Sehen zum Erkennen verhilft.

Matisse tut etwas anderes, wenn er zeichnet – wenn er porträtiert. In Zweifel gestellt ist dabei nicht der Vorgang des tracer, des Herauszeichnens selbst, das Valéry so eindrück- lich beschrieben hat, als vielmehr das, worauf dieses hinzielt: den Gegenstand: Nach Va- lérys Ausführung ist die Linie das Instrument, welches den realen Gegenstand in der Kontur erfasst und ihm ein Abbild in der Fläche schafft. Wir haben bereits herausgestellt, dass Matisse einen Gegenstand nicht als isoliertes Objekt betrachten mag. Seiner Auffassung nach kann ein Gegenstand sein Wesen erst in der Beziehung zu anderen Dingen und dem Raum, in dem er sich befindet, entfalten. Das gilt freilich auch für das Modell. Es existiert ausschließlich in seiner vielschichtigen Be- zogenheit. Wenn Matisse zeichnet, wird vor allem diejenige Beziehung entscheidend, die sich zwischen dem Modell und dem Künstler einstellt. Hieraus gewinnt er die Emotion, die es ihm gestattet, dem Wesen des Modells mit dem elementaren Mittel der Linie ein Äquivalent zu schaffen. Matisse selbst behauptet, dass seine Strichzeichnung »die direkte Umsetzung [seiner] Empfindung und ihr reinster Ausdruck«294 sei. In seiner Einführung für den Folioband Portraits gibt er 1954 wenige Monate vor seinem Tod Einblick in den Ablauf einer zeichnerischen Porträtsitzung. Er beschreibt auch, wie die Beziehung zwischen Künstler und Modell zustande kommt:

»Ich sehe mich einer Person gegenüber, die mich interessiert, und ich halte ihre Er- scheinung mehr oder weniger bewußt mit Bleistift oder Kohle auf dem Papier fest. Das erlaubt mir, meiner Beobachtungsgabe freien Lauf zu lassen während eines banalen Gesprächs, bei dem ich entweder selbst spreche oder ohne jeden Widerspruchsgeist zu- höre. In diesem Moment dürfte man mir keine bestimmte Frage stellen, und wäre sie so banal wie zum Beispiel: ›Wieviel Uhr ist es?‹, denn meine Träumerei, meine um das Modell kreisenden Gedanken wären unterbrochen, und das gute Ergebnis meiner Ar- beit wäre schwer gefährdet. Nach einer halben Stunde oder nach einer Stunde bin ich erstaunt, nach und nach auf

293 Valéry 1962, 62f. 294 Siehe: Flam 1982, 149.

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meinem Blatt Papier ein mehr oder weniger genaues Bild auftauchen zu sehen, das meinem Gegenüber ähnlich sieht. Dieses Bild kommt mir vor, als ob jeder Kohlestrich von einem Glas den Beschlag entfernt hätte, der mich daran gehindert hat, es zu sehen. Das ist gewöhnlich das magere Resultat einer ersten Sitzung. Es scheint mir dann gera- ten, eine Pause von einem oder zwei Tagen zwischen der ersten und der zweiten Sit- zung einzuschalten, ehe ich mit meiner Arbeit fortfahre. Während dieser Pause vollzieht sich eine gewisse geistige Gärung. Diese Gärungen sind den Eindrücken zu verdanken, die ich von meinem Gegenüber im Verlauf der ers- ten Sitzung empfangen habe, und ich rekonstruiere meine Zeichnung im Geist mit mehr Sicherheit, als nach dem ersten Kontakt. Wenn ich meinen ersten Versuch wiedersehe, kommt er mir schwach vor, ohne jede Bloßstellung. Aber hinter der Verschwommenheit dieses unsicheren Bildes ahne ich eine Konstruktion solider Linien. Sie befreit meine Phantasie, die in der folgenden Sit- zung entsprechend der Inspiration arbeitet, die entweder von dieser Konstruktion oder sogar direkt vom Modell ausgeht. Das Modell ist für mich nur noch ein bestimmtes Thema, von welchem Impulse von Linien oder Werten ausgehen, die meinen be- schränkten Horizont erweitern. Diese zweite Sitzung gleicht einer neuen Begegnung mit einer mitfühlenden Person. Das Modell muß entspannt sein und sich seinem Beobachter vertrauter fühlen. Dieser hält sich zurück hinter einem Gespräch, indem es sich nicht um besonders interessante Dinge handelt, sondern das sich im Gegenteil um unwichtige Einzelheiten dreht. Es scheint sich dann zwischen den beiden Gesprächspartnern eine von den gewechselten Worten unabhängige Beziehung herzustellen, wobei die Worte mehr und mehr an Be- deutung verlieren. Im allgemeinen erscheint im Zusammenhang mit den Eindrücken dieser Sitzung eine lineare Konstruktion. Was im Verlauf der ersten Sitzung festgestellt wurde verwischt sich, um die wichtigeren Züge hervortreten zu lassen, die lebendige Substanz des Wer- kes. Die Sitzungen folgen sich im gleichen Sinn, wahrscheinlich ohne dass die beiden Per- sönlichkeiten substantiell besser übereinander informiert wären als am ersten Tag. Es hat sich aber ein gefühlsmäßiges, gegenseitiges Aufeinandereingehen eingestellt, so daß ein jedes die Herzenswärme des andern spürt. Das Ergebnis davon ist das gemalte Porträt oder doch wenigstens die Möglichkeit, in ›Schnellzeichnungen‹ das auszudrü- cken, was ich vom Modell empfangen habe.«295

Um eine allzu große Konzentration auf sein Gegenüber zu verhindern, versucht sich Ma- tisse in den Zustand einer leichten Zerstreutheit zu versetzen: Er bemüht sich, eine locke- re Ebene der Unterhaltung zu schaffen. Wir erinnern uns, dass Greta Prozor berichtete, sie sei während der Sitzungen von Matisse dazu angehalten worden, aufs Geratewohl etwas von ihrer Arbeit am Theater zu erzählen. Die ungerichtete Aufmerksamkeit wird also nicht erst in der Anlage des fertigen Bildes bzw. in seiner Betrachtung wirksam. Matisse erprobt sie bereits mit der ersten gezeichneten Linie. Ist eine vage Ähnlichkeit mit dem Modell erreicht, verordnet er sich eine Pause, um zu einer »geistigen Gärung« zu gelangen. Jetzt ist es ihm möglich, eine »lineare Konstruktion« zu erahnen, die er mit

295 Siehe: Flam 1982, 267ff.

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Hilfe seiner Phantasie und durch die wachsende Vertrautheit mit dem Modell zu stabili- sieren sucht. In diesem Gerüst nehmen nach Matisse‘ Dafürhalten die wesentlichen Züge der Person allmählich Gestalt an. Unweigerlich fühlen wir uns durch die Rede von den »soliden«, »wichtigen« und gleichermaßen »wesentlichen« Linien an die Gedanken erin- nert, die in der Auseinandersetzung mit den byzantinischen Münzen aufkamen: Die Ver- wandlung des kaiserlichen Antlitz‘ in eine lineare Struktur – in ein gleichermaßen aus- drucksvolles und dauerhaftes Gepräge hatte Matisse besonders fasziniert. Der Beschreibung des Künstlers können wir entnehmen, dass im Verlauf der Sitzun- gen ein Übergang stattfindet: Die leibhaftige Gegenwart des Modells im Hier und Jetzt geht nach und nach in die bildliche Anlage über. Zwar ist das Modell häufig bis zur Fer- tigstellung des Porträts anwesend, aber es interessiert Matisse zuletzt nur mehr als Im- pulsgeber von »Linen und Werten«. Der Weg soll offensichtlich zu einer eigenständigen ›Zeichengestalt‹ führen, die sich vom Modell völlig losgelöst hat. Aber was macht dieses zeichnerische Äquivalent aus – dieses Flächenwesen, das ›gleichviel vermag‹ wie die wirkliche Person? In einem kurzen Aufsatz mit dem Titel Genauigkeit ist nicht Wahrheit296, der 1948 anlässlich einer Retrospektive seines Werks im Philadelphia Museum of Art im Ausstellungskatalog erscheint, kommt Matisse auf das Äquivalenzverhältnis zu sprechen. Er bezieht sich auf vier Strichzeichnungen [Abb. 35], die er mit Hilfe eines Spiegels von seinem Gesicht angefertigt hat, und führt aus, weshalb sie trotz oder gerade wegen der Abweichungen vom natürlichen Vorbild glaubwürdig seine Persönlichkeit hervorbringen:

»Die vier in Frage stehenden Zeichnungen wurden alle nach dem gleichen Gegenstand gemacht. Dennoch ist jede von ihnen mit offensichtlicher Freiheit in bezug auf Linie, Umrisse und Volumen gezeichnet. Tatsächlich kann keine dieser Zeichnungen so auf eine andere gelegt werden, daß sie sich decken würden, denn alle sind in ihren Umris- sen vollkommen verschieden. Bei den vier fraglichen Zeichnungen ist der obere Teil des Gesichts jeweils ähnlich, aber der untere ganz verschieden. [...] Dennoch verraten die verschiedenen Kompositionselemente dieser Zeichnungen die gleiche Großzügig- keit in der organischen Verfassung des Dargestellten. Diese Elemente werden zwar nicht durch das gleiche Zeichen ausgedrückt, vermählen sich aber in jeder Zeichnung mit der gleichen Empfindung: die Art, weil die Nase im Gesicht wurzelt, wie das Ohr am Kopf sitzt; die Art, wie der Unterkiefer aufgehängt ist, die Art, wie die Brille auf Nase und Ohren aufliegt, der gespannte Blick, seine in allen Zeichnungen gleichblei- bende Intensität – obwohl in jeder Zeichnung der Ausdruck wieder um eine Nuance anders ist. Ganz offensichtlich beschreibt dieses Zusammenspiel von Elementen den gleichen Menschen punkto Charakter, punkto Persönlichkeit, in seiner Art die Dinge zu betrach- ten, in seiner Reaktion auf das Leben, in bezug auf die Reserve, die er sich dem Leben gegenüber vorbehält und die ihn hindert, sich unbeherrscht hinzugeben. Es ist tatsäch- lich der gleiche Mann, der immer ein aufmerksamer Beobachter des Lebens sowie sei-

296 Henri Matisse, Exactitude is not Truth, in: Henri Matisse. Retrospective, Ausst. Kat., Philadelphia Muse- um of Art, Philadelphia 1948, 33-34 bzw. Flam 1982, 209-212. Der Titel gebende Satz, L’exactitude n’est pas la vérité, den Matisse auch noch einmal am Ende des Aufsatzes wiederholt, entstammt einer Maxime von Delacroix.

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ner selbst bleibt. Offensichtlich stand also die anatomische und organische Ungenauigkeit dieser Zeich- nungen dem Ausdruck des intimen Charakters der Person nicht im Wege, sondern sie hat im Gegenteil dazu gedient, ihn in seiner wesentlichen Wahrheit auszudrücken.«297

Matisse zeichnet sein Gesicht nicht einfach entsprechend der Erscheinung im Spiegel exakt nach, sondern schaut es vielmehr als einen besonderen Ort an, den Augen, Nase, Mund und sogar die Brille in einer Interaktion konstituieren. Um den Charakter eines Menschen auszudrücken, ist nach Matisse‘ Meinung das »Zusammenspiel« der Elemente entscheidend, nicht ihre anatomisch korrekte Wiedergabe. Als isolierte Einzelteile bleiben sie ohne Leben und ohne Wahrheit. Wenn Matisse in den Spiegel blickt, dann fragt er: Wie wurzelt meine Nase im Gesicht? Wie sitzt mein Ohr am Kopf? Wie ist mein Unter- kiefer aufgehängt? Wie liegt die Brille auf meiner Nase und meinen Ohren auf? Kurz: Das Gesicht, das Matisse erblickt und zeichnet, erscheint als ›Ensemble‹, als ein lebendi- ges Gefüge der Elemente, das unendlich variieren kann. Doch bringt es in jeder Spielart immer wieder den gleichen Charakter hervor.

Kehren wir noch einmal zu unserer Ausgangsüberlegung, der Zueinandergehörigkeit von Zeichnen (tracer) und Porträtieren, zurück: Matisse beabsichtigt in keiner Weise, das jeweilige Modell als isoliertes Objekt ›herauszuzeichnen‹. Vielmehr bemüht er sich da- rum, das Gegenüber in der Fülle seiner Bezogenheiten zu erblicken und mit Hilfe der Linie in bildnerischen Ausdruck zu verwandeln.

Zwei Porträtzeichnungen Greta Prozors

Um nicht Gefahr zu laufen, Matisse zum einzigen Interpreten seiner Zeichenkunst zu machen, wollen wir zuletzt zwei Blätter [Abb. 36 und 37] betrachten, die im Vorfeld des gemalten PORTRÄTS VON GRETA PROZOR entstanden sind. Beide sind auf den Winter 1915/16 datiert.298 Die Bleistiftzeichnungen sind in etwa gleich groß und zeigen jeweils Gretas Kopf samt Schultern und Oberkörper etwa bis zur Höhe der Brust. Während das eine Blatt die Züge ihres Gesichts samt Haaren und Hut ähnlich wie auf dem Gemälde zur Darstellung bringt, blickt uns aus dem anderen eine Gestalt entgegen, die ganz und gar aus breiten Linien besteht. Abgesehen von den Pupillen, einer Haarwelle und den Lip- penkonturen gibt es keine Rundungen. Das Porträt ist fast ausschließlich aus Geraden gebaut. Wir wissen nicht, welche der beiden Zeichnungen früher entstanden ist. Wenn wir uns an Matisse‘ Beschreibung halten, sind wir zunächst geneigt, das ›abstraktere‹ Blatt [Abb. 37] für das reifere zu halten, weil seine Rede von der »Konstruktion solider Li- nien«, die erst in einer zeitlichen Distanz aus den ersten, ›naturalistischeren‹ Versuchen hervortaucht, hier besonders treffend scheint. Deutlich ist zu erkennen, dass Matisse lan- ge ›herumgewerkt‹ hat, bis er zu der endgültigen Komposition gelangt ist: Allerorten sind Spuren ausradierter Linien zu erkennen, welche den hellen Papiergrund vergrauen. Das Gesicht ist samt seiner Konturen mehrmals verrückt worden, und auch an dem merkwür-

297 Siehe: Flam 1982, 211f. 298 Vgl.: John Elderfield, The Drawings of Henri Matisse, London 1984, 261f.

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digen Übergang von der Hals- in die Schulterpartie hat Matisse vielfach Bleistift und Radiergummi eingesetzt. Zu einem früheren Zeitpunkt hat Greta auch auf diesem Blatt einen Hut getragen; das lassen zumindest die Überbleibsel der ausladenden Linien am rechten Bildrand vermuten. Wie aber tritt das Wesen Greta Prozors aus diesem Liniengerüst in Erscheinung? Kinn-, Stirn und Wangenpartie wirken trotz der eckigen Gesichtskontur genau proportio- niert. In einer langen senkrechten Linie, die auf eine kurze Schräge trifft, nimmt die Nase elegant Gestalt an. Sie wurzelt in der linken Braue, die sich streng über das Auge legt. Das Gesicht ist leicht nach rechts gedreht und neigt sich sacht nach unten. Es strahlt Ernsthaftigkeit und im gleichen Moment etwas Zerbrechliches aus. Die konvex gewölbte Haarsträhne auf der rechten Seite wirkt der hermetischen Struktur des Gesichts entgegen – lässt es weicher erscheinen. Die Art und Weise, wie Gretas Kopf auf ihrem Körper sitzt, hat nichts mit der menschlichen Anatomie gemein: Der Kopf wird mittels schräger Linien und spitzer Formationen, die einem Hals wahrlich nicht ähnlich sehen, mit dem Oberkör- per verkeilt. Umso erstaunlicher ist, dass die büstenartige Statur Greta Prozors völlig glaubwürdig wirkt. Überhaupt sind es nicht die Waagrechen und Senkrechten, welche die Konstruktion tragen. Vielmehr sind es die schrägen und geneigten Linien, die sich inei- nander verstreben und gegenseitig Halt verschaffen. Bei genauem Hinsehen wird augen- fällig, dass die meisten dieser Linien mindestens ein Pendant besitzen, das parallel zu ihnen verläuft. So korrespondiert die untere Begrenzung der Nase mit der Linie zwischen Ober- und Unterlippe sowie mit der Kinnkante. Die Schräge der Schulter klingt als Echo sowohl in der rechten Augenbraue als auch in der oberen Begrenzung des Kopfes wieder, und die linke Gesichtskante taucht ein zweites Mal in einer Linie am rechten Rand des Oberkörpers auf. Wenn wir diese Zeichnung mit dem Gemälde konfrontieren, fällt es nicht leicht, eine anschauliche Vergleichsebene zu finden. Lediglich in der Haltung des Kopfes und in der Art, wie sich die Haarwelle tropfenartig krümmt, gibt es Entsprechungen. Und doch sind sie sich auf sonderbare Weise ähnlich: Sowohl die Zeichnung als auch das Gemälde ge- genwärtigen Greta Prozor als würdevolle Frau, die milden Ernst ausstrahlt. Die Ähnlich- keit basiert also nicht auf einer physiognomischen Kongruenz, sondern auf dem Ausdruck des Charakters.

Die zweite Zeichnung, die wir besehen wollen, ist in ihrer Art ›konkreter‹ [Abb. 36]. Wie auf dem Gemälde blickt Greta aus einem leicht nach rechts gewandten Gesicht. Die Li- nien sind hier bedeutend feiner als im zuvor betrachteten Beispiel. Zwar sind auch auf diesem Blatt Spuren ausradierter Linien zu erkennen. Allerdings nehmen sie auf die Wir- kung der Zeichnung keinen großen Einfluss, weil sie das Weiß des Grundes kaum beein- trächtigen. Der Hals wurde samt Kopf ein kleines Stück nach rechts oben versetzt, die rechte Schulter hingegen ein wenig gesenkt. Der enge Kragen formt den Hals. Er zeigt noch Reste einer schlaufenartigen Verzierung. Das Gesicht scheint in seinen Zügen dem des Gemäldes verwandt. Die Nase ragt ebenso gerade zwischen den mandelförmigen Augen hervor – allerdings etwas breiter und ein wenig kürzer. Eine helle Schattierung zur linken Seite des Nasenrückens dehnt sie nach links, ihre untere Begrenzungslinie hinge- gen zieht sie nach rechts. Dichte kurze Striche formen Iris und Pupille unterschiedslos als dunkle Flecken. Gretas Blick ist deshalb nicht fixierbar. Der Abstand zwischen Nase und Mund ist recht groß geraten, doch wirken die fein geschwungenen Lippen in keiner Wei-

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se deplatziert. Das Haar gestaltet Matisse auf der rechten Seite aus dichten Linienbün- deln, während er es rechts mit wenigen Strichen an ihre Wangen schmiegt. Der Hut sitzt in kurviger Schwingung auf dem Kopf und wird auf beiden Seiten von den Formaträn- dern beschnitten. Anders als im Gemälde akzentuiert er hier nicht die Horizontale in der Art einer im Gleichgewicht befindlichen Waage. Doch auch in der Zeichnung scheint der Hut Gleichgewicht zu stiften: Seine vordere Kante variiert die Kontur von Gretas Schul- terlinie. Während sich diese zur rechten Seite hin senkt, steigt die Linie des Hutes dort auf. Außerdem markieren die beiden Linien von unten wie von oben etwa den gleichen Abstand zu den Formatgrenzen, wodurch sie wiederum die Höhe des Blattes organisie- ren. Das Porträt erwächst aus treffsicheren, solitären Linien, die sich lediglich im Dun- kel der Augen und in den Haaren flächig verdichten. Die hellen Schattierungen entlang der Nase und auf der linken Wange sind durch den sachten Auftrag einer breiten Gra- phitmiene entstanden. So verzichtet Matisse weitgehend auf die Möglichkeiten plasti- scher Modellierung: Die Zeichnung basiert auf dem feinen Kontrast zwischen den Linien und dem hevorleuchtenden Weiß des Grundes. Es gibt keine Stufungen des Graus nach Tonwerten – das heißt: keine flächigen Schraffuren unterschiedlicher Auftragsart und Dichte.

Abstraktion und Gegenständlichkeit

Während uns zuvor die größere ›Abstraktheit‹ des Liniengerüsts als Argument für die höhere Reife der ersten Zeichnung plausibel erschien, könnten wir nun mit gleicher Über- zeugungskraft die größere ›Konkretheit‹, das heißt die offensichtlichen formalen Über- einstimmungen hinsichtlich der Pose und der Physiognomie, für einen ›reiferen‹ Entwick- lungsstand der zweiten Zeichnung geltend machen. Spätestens hier wird einsichtig, dass die Frage nach der zeitlichen Rang- und Reihenfolge keinen Sinn macht. Eine Betrach- tungsweise, welche die Porträtleistung der Zeichnungen gemäß ihres Grades an Konkret- bzw. Abstraktheit beurteilt, führt in die Irre: Auch die zweite Zeichnung bietet sich als »Konstruktion solider Linien« dar, nur dass es sich in diesem Fall eben nicht um ein mas- sives Gerüst, sondern um ein feingliedriges Ensemble handelt. Die ›Vereinfachung‹ oder ›Verwesentlichung‹, die Matisse meint, ist immer eine Sache der Relation – niemals eine absolute Größe. Sie setzt voraus, dass ein Wegstück zurückgelegt wurde, eine Struktur geschaffen wurde. Vereinfachung bedeutet immer eine Klärung der jeweils vorhandenen Struktur. Und doch scheint Matisse seine Arbeit von zwei verschiedenen Seiten zu beginnen, die sich wie Pole zueinander verhalten. Einmal nimmt er seinen Ausgang beim eher ›Rea- len‹, ein anderes Mal hingegen beim eher ›Abstrakten‹. Die Modifizierung kann dann in beide Richtungen führen. Das heißt: Ein ›abstrakt‹ begonnener Versuch kann zu einem verhältnismäßig ›realen‹ Ergebnis führen und umgekehrt. Ebenso kann ein ›abstrakter‹ Ausgang auch im ›Abstrakten‹ verbleiben, wie ein ›realer‹ Ausgang auch seine endgülti- ge Gestalt im ›Realen‹ finden kann. Entscheidend ist die Feststellung, dass sich weder Matisse‘ Zeichnungen noch seine Gemälde innerhalb des Spannungsfeldes zwischen ›Re- alem‹ und ›Abstrakten‹ qualifizieren lassen. Hier herrschen keine Hierarchien. Die Ent- wicklung ist in alle Richtungen möglich.

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Darin besteht der große Unterschied zu Wassily Kandinskys Kunstverständnis, dessen Aufsatz Über die Formfrage299 wir die Metapher des Spannungsfeldes zwischen den Po- len der »großen Realistik« und der »großen Abstraktion« entlehnt haben. Kandinsky inte- ressiert sich allerdings wenig für das Geschehen innerhalb dieses Spannungsfeldes, weil er die Zeit, in welcher ein ideales Gleichgewicht zwischen dem »Reinkünstlerischen« (bzw. Abstrakten) und dem »Gegenständlichen« (bzw. Realen) herrschte, für vergangen hält.300 Da die wechselseitige Bedingtheit von Abstraktem und Realem in seinen Augen keine Gültigkeit mehr besitzt, richtet Kandinsky nun seine ganze Aufmerksamkeit auf die beiden Pole selbst. Ihrer Reinheit halber erklärt er sie zu den ranghöchsten Stufen der Malkunst. Er formuliert:

»Die erwähnte, erst keimende große Realistik ist ein Streben, aus dem Bilde das äußer- liche Künstlerische zu vertreiben und den Inhalt des Werkes durch einfache (›unkünst- lerische‹) Wiedergabe des einfachen harten Gegenstandes zu verkörpern. Die in dieser Art aufgefaßte und im Bilde fixierte äußere Hülse des Gegenstandes und das gleichzei- tige Streichen der gewohnten aufdringlichen Schönheit entblößen am sichersten den inneren Klang des Dinges. [...] Das zum Minimum gebrachte ›Künstlerische‹ muß hier als das am stärksten wirkende Abstrakte erkannt werden. Der große Gegensatz zu dieser Realistik ist die große Abstraktion, die aus dem Bestre- ben, das Gegenständliche (Reale) scheinbar ganz auszuschalten, besteht und den Inhalt des Werkes in ›unmateriellen‹ Formen zu verkörpern sucht. Das in dieser Art aufgefaß- te und im Bild fixierte abstrakte Leben der auf das Minimale reduzierten gegenständli- chen Formen und also das auffallende Vorwiegen der abstrakten Einheiten entblößt am sichersten den inneren Klang des Bildes. Und ebenso wie in der Realistik durch das Streichen des Abstrakten der innere Klang verstärkt wird, so auch in der Abstraktion wird dieser Klang durch das Streichen des Realen verstärkt. Dort war es die gewohnte äußere wohlschmeckende Schönheit, die den Dämpfer bildete. Hier ist es der gewohnte äußere unterstützende Gegenstand. [...] Das zum Minimum gebrachte ›Gegenständli- che‹ muß in der Abstraktion als das am stärksten wirkende Reale erkannt werden.«301

Während Kandinsky seinen dialektischen Blick ausschließlich auf die beiden Pole richtet, erschließt Matisse das ›Dazwischen‹ als unendliches Spielfeld seines bildnerischen Ge- staltens. Beide Künstler sind sich über die Krise, in der sich die Malerei aufgrund ihrer verlorenen Repräsentationsaufgabe befindet, im Klaren. Beide dringen in ihren Reflexio- nen zu den Grundbedingungen der Malerei vor. Die Besinnung auf die bildnerischen Mit- tel und ihre Möglichkeiten ist die Voraussetzung dafür, dass der Maler in seiner Kunst überhaupt einen Anfang machen kann. Matisse sieht keine Schwierigkeit darin, die Welt der Dinge und Figuren in seinen Bildern aufzugreifen. Die Eigenständigkeit seiner Male- rei ist in keiner Weise gefährdet, weil er die Gegenstände als bildliche Äquivalente neu

299 Wassily Kandinsky, Über die Formfrage, in: Wassily Kandinsky und Franz Marc (Hrsg.), Der Blaue Reiter (1912), München 1967, 132-182 (fortan: Kandinsky 1967). 300 Vgl.: Kandinsky 1967, 148. 301 Siehe: Kandinsky 1967, 154f.

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hervorbringt. Es geht ihm darum, die Spannweite der bildnerischen Möglichkeiten in Hinblick auf seine Emotion auszuloten. Die Abstraktion interessiert ihn nicht als absolute Größe, eher betrachtet er sie als ein selbstverständliches Element des künstlerischen Schaffensprozesses. In einem Gespräch mit André Verdet, das im Frühling 1952 stattfindet, wird deut- lich, dass Matisse den Vorgang der Abstraktion und die Bezugnahme auf eine Ebene der Gegenständlichkeit nicht voneinander trennen kann. Auf die Frage, wie er die abstrakte Kunst von heute beurteilen würde, antwortet Matisse:

»Vor allem würde ich sagen, dass es nicht eine abstrakte Kunst gibt. Jede Kunst ist an sich abstrakt, wenn sie wesentlicher Ausdruck ist und alles Anekdotische abstreift. Aber spielen wir nicht mit Worten... Ungegenständliche Kunst also... Man darf immerhin sagen, daß es die Malerei heute zwar nicht mehr nötig hat, ihren Gegenstand durch seinen physischen Aspekt auszudrücken, daß aber ein Künstler, der sein Objekt synthetisch darstellt, indem er sich gleichzeitig davon zu distanzieren scheint, die Erklärung dieses Objekts in sich tragen muß. Er muß es notwendigerweise schließlich vergessen, aber ich wiederhole, daß er tief in seinem Innern die Erinnerung an die Wirklichkeit dieses Objekts bewahren muß und an die Reaktionen, die es in ihm hervorruft. Man geht zunächst von einem Gegentand aus. Die Empfindung folgt nach. Man geht nicht von einem Nichts aus. Nichts ist umsonst. Es scheint mir, daß viele von den Malern, die man heute ›abstrakt‹ nennt, von einem Nichts ausgehen. Sie sind will- kürlich, sie haben keinen Atem mehr, keine Inspiration, keine Gefühle; sie verteidigen einen Standpunkt, den es nicht gibt; sie imitieren die Abstraktion.«302

Matisse gilt jede Zeichnung und jede Malerei als abstrakt, die sich auf ihre Mittel besinnt und auf eine nicht-mimetische Weise bildlichen Ausdruck hervorbringt. Wenngleich sei- ne Darstellung nicht ohne eine gewisse Polemik ist, trifft sie das große Problem der soge- nannten abstrakten Malerei doch sehr genau. Die mangelnde Überzeugungskraft vieler Arbeiten rührt nach Matisse‘ Ansicht daher, dass sie keinen ›Grund‹ haben. Sein Argu- ment ist, dass die Emotion des Künstlers nicht aus dem Nichts hervorgehen kann. Der Künstler ist darauf angewiesen, dass ihn etwas berührt. Und für diese Berührung ist Wirklichkeit vonnöten – sei es in der Begegnung mit einem Menschen, einem Ding oder einer Erinnerung daran. Matisse kommt es dabei nicht auf die Wiedererkennbarkeit dieses gegenständlichen Bezugs an, sondern auf die Empfindung, die sie auslöst. Deswegen ist die Bildkunst ebenso notwendig auf eine gegenständliche Ebene bezogen, wie auf ein abstraktes Instrumentarium.

Kehren wir noch einmal zu den beiden Zeichnungen Greta Prozors zurück, welche unse- ren Exkurs über das Verhältnis von Abstraktion und Gegenständlichkeit veranlasst haben. Wir versuchten, die eigentümliche Ähnlichkeit, die zwischen der leibhaftigen Greta Pro- zor und den beiden Zeichnungen besteht, zu fassen und stellten dabei fest, dass diesem Ähnlichkeitsverhältnis nicht graduell beizukommen ist. Die Zeichnungen sind nicht mehr oder weniger ähnlich. Sie treffen etwas Wesentliches oder sie treffen es nicht. Nicht ein-

302 Siehe: Flam 1982, 260.

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mal eine Fotografie Greta Prozors eignete sich als Korrektiv, um diese Ähnlichkeit zu ergründen. Wenn wir die beiden Porträtzeichnungen für ähnlich erachten, dann deshalb, weil jede auf ihre Weise ›den Charakter Greta Prozors zeichnet‹, indem sie ihm einen äquivalenten Ausdruck schafft. Matisse‘ Linie ist ein eigenmächtiges Instrument. Sie zielt nicht auf Kongruenz, sie bildet nicht ab. Als zierliche Arabeske ist sie ebenso abstrakt wie sie als grobe, konstruktiv gezogene Linie gegenstandbezogen bleibt und vice versa. Matisse baut Gretas Gesicht als lineares Ensemble. Deswegen trifft es die Sache nicht, wenn man seine Zeichnungen – obgleich sie im Zusammenhang mit dem Gemälde ent- stehen und hierfür eine gewisse Vorbereitung leisten – als ›Skizzen‹ oder ›Entwürfe‹ betrachtet. Sie sind bildnerisch ebenso konsequent und eigenständig wie die Gemälde selbst.

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Zusammenfassung: Matisse und die Kunst des Porträts

Beim Porträtieren sieht sich Matisse vor eine doppelte Aufgabe gestellt: Er möchte die besondere Persönlichkeit des Modells gegenwärtigen und zugleich eine dekorative Bild- anlage verwirklichen. In den Porträts von MADAME MATISSE und GRETA PROZOR, die wir beispielhaft untersucht haben, gelingt es Matisse, diesen doppelten Anspruch zu bewälti- gen: Seine Ehefrau verwandelt er in ein streng organisiertes Flächenwesen, das in seiner grün-blauen Farbigkeit eine melancholische Gestimmtheit evoziert. Ihr Gesicht wird zur kalkweißen Maske. Jedoch verhüllt diese nicht etwa darunter befindliche individuelle Züge, vielmehr öffnet sie das Gesicht und macht Amélie Matisse zu einem lebendigen Gegenüber: Madame Matisse sieht uns mit wachen Augen entgegen – sie erblickt uns wie wir sie erblicken. Das griechische Wort prosopon trifft dieses Phänomen genau, weil es keinen bedeutungsmäßigen Unterschied zwischen Gesicht und Maske kennt: Das pro- sopon ist das, was sich zeigt. Während der Betrachtung des Porträts wird spürbar, dass Matisse einige Anstrengung darauf verwendet, seine Frau auf Abstand zu halten – sie nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen. Wir folgerten daraus, dass eine allzu große Vertrautheit mit dem Modell den Vorgang des Porträtierens erschwert. Für Matisse ist es wichtig, eine bestimmte Distanz zum Modell aufrecht zu erhalten, um im Bildnis dessen Gegenwart hervorzubringen. Die Erfahrung von Präsenz ist offensichtlich notwendig mit der Erfahrung von Distanz verknüpft. Hierbei scheint wiederum die Dynamik des alten griechischen Bildbegriffs eikon auf: Das Hervorkommen des Bildes aus der Bewegung des Zurückweichens.

Bei dem Porträt der Schauspielerin Greta Prozor gerät die Suche nach einer charakteristi- schen Haltung selbst zum Thema des Bildes. Matisse verwickelt sein Modell in ein locke- res Gespräch und lässt sie vom Theater erzählen. Ihn interessieren die unwillkürlichen Posen, die sie während ihres lebhaften Berichtes einnimmt, nicht die dramatische Insze- nierung. Im Porträt nimmt die Prozor auf einem Lehnstuhl Platz. Dieser lädt sie allerdings nicht dazu ein, sich entspannt auszuruhen – vielmehr hält er sie zu ständigen ›Verrückun- gen‹ an. Im Vollzug dieses willkürlich-unwillkürlichen Platznehmens findet Matisse eine charakteristische Metapher für das Wesen Greta Prozors. Auch in diesem Bildnis gibt das Gesicht der Porträtierten keine individuellen Züge preis. Die Ähnlichkeit mit der leibhaf- tigen Person liegt jenseits der physiognomischen Kongruenz. So geht es Matisse in seiner Porträtkunst nicht darum, ein Individuum gemäß seiner Erscheinung abzubilden, sondern im Bilde einen Charakter zu gegenwärtigen, der über das Moment- und Affekthafte der menschlichen Erscheinung hinausgeht. Aus diesem Grund ist Matisse von den byzantini- schen Münzen fasziniert, die in ihrem linearen Gepräge nicht einfach bloß das kaiserliche Antlitz zeichnen, sondern die Macht des Herrschers in einer Weise gegenwärtigen, wel- che die Bedeutung der Einzelperson übersteigt.

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V. Epilog: Die Reise nach Russland im Herbst 1911

So werden wir immer wieder auf das ikonische bzw. byzantinische Bildverständnis zu- rückgeworfen, wenn wir versuchen, der ästhetischen Wirkungsweise von Matisse‘ Por- träts auf den Grund zu gehen. Tatsächlich hatte Matisse, bevor er die Arbeit an beiden Porträts aufnahm, Gelegenheit, einige hochklassige Ikonensammlungen zu besichtigen – und zwar während seines zweieinhalb-wöchigen Aufenthalts in Russland. Natalja Semjonowa hat es auf sich genommen, diesen in sorgfältiger Archivarbeit zu rekonstruie- ren. In der 1993 erschienenen Monographie Collecting Matisse, die sie gemeinsam mit Albert Kostenewitsch erarbeitet hat, ist dem ›Besuch in Russland im Herbst 1λ11‹ ein Kapitel gewidmet.303 Einen Überblick über den Verlauf der Reise hatte bereits Jurj Russakow 1975 in seinem Artikel für das Burlington Magazine gegeben.304 Im Folgenden stützen wir uns auf die Rechercheergebnisse der drei Autoren.

Matisse war im November 1911305 einer Einladung des Moskauer Textilfabrikanten und Sammlers Sergej Iwanowitsch Schtschukin (1854-1936) gefolgt, der neben Sarah und Michael Stein zu Matisse frühesten Förderern gehörte. Schtschukin begeisterte sich für die neue französische Malerei, die er in seiner herrschaftlichen Stadtvilla in Moskau prä- sentierte. In seiner Sammlung befanden sich neben den Arbeiten von Matisse u. a. Ge- mälde von Claude Monet, Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Pablo Picasso. An Sonnta- gen machte er sein Haus der Öffentlichkeit zugänglich: Er führte interessierte Besucher in kleinen Gruppen durch seine Sammlung.306 Zwischen 1906 und 1914 erwarb Schtschukin eine beträchtliche Anzahl der bedeutendsten Arbeiten von Matisse.307 Einige Bilder gab er eigens in Auftrag, darunter DEN TANZ, DIE MUSIK und DIE ROTE HARMONIE. Während erstere beiden an der für sie vorgesehenen Stelle im Treppenhaus angebracht wurden, war DIE ROTE HARMONIE für das mit Eichenholz vertäfelte Speisezimmer des Anwesens be- stimmt. Die anderen Gemälde von Matisse beabsichtigte Schtschukin in einem seiner Wohnräume vereint zu präsentieren. Da es ihn selbst überforderte, einen solchen Raum

303 Siehe: Natalia Semyonova, A Visit to Russia, Autumn 1911, in: Albert Kostenevich und Natalia Semyono- va, Collecting Matisse, Paris 1993, 23-36 (fortan: Kostenevich 1993). 304 Siehe: Yuri Rusakov, Matisse in Russia in the Autumn of 1911, in: The Burlington Magazine, Nr. 5, 1975, 284-291 (fortan: Rusakov 1975). 305 Bei der Rekonstruktion von Matisse’ Aufenthalt in Russland ist die zeitliche Differenz zwischen unserem heute gültigen gregorianischen Kalender und dem im vorrevolutionären Russland gültigen julianischen Ka- lender zu berücksichtigen. Matisse brach gemäß dem gregorianischen Kalender am 1. November auf. Dieser Tag entspricht dem 19. Oktober nach der julianischen Zeitrechnung. Die Zeitangaben im folgenden Text beziehen sich auf den julianischen Kalender. 306 Vgl.: Kostenevich 1993, 37. 307 Schtschukin erwarb insgesamt 37 Gemälde von Matisse. Im Zuge der Revolution wurde seine Kunst- sammlung 1918 verstaatlicht. Heute befinden sich der größte Teil jener Gemälde von Matisse in der Eremita- ge von St. Petersburg. Eine geringere Anzahl von Matisse-Gemälden ging in den Bestand des Puschkin- Museums in Moskau über. Vgl.: Kostenevich 1993, 8 und 44f.

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zu dekorieren, hielt er es für das Klügste, Matisse selbst mit der Aufgabe zu betrauen.308 Dieser war von dem Vorschlag angetan und willigte ein. Damit war die Reise nach Russ- land eine beschlossene Sache. Im Hebst 1λίθ kam Schtschukin zum ersten Mal in Matisse‘ Atelier und fühlte sich sofort von dessen Malerei angezogen.309 Er war verständig für das, worum es Matisse in seiner Kunst ging. Bei seinen Käufen ließ er sich ganz von seiner ästhetischen Überzeu- gung leiten. Sergej Schtschukin entstammte einer reichen Kaufmannsfamilie, die über die Grenzen Russlands hinaus mit Textilien Handel betrieb. Gemeinsam mit seinen Brüdern übernahm er 1883 das elterliche Unternehmen.310 So war er unter anderem für die Aus- wahl der Textilien zuständig und beaufsichtigte ein Team von Künstlern, das neue Muster und Ornamente für Stoffe entwarf. Aufgrund dieses professionellen Interesses für das Dekorative besaß Schtschukin ein feines Gespür für die Wirkung von Farben, Linien und Formen.311 Dies mag erklären, woher seine Empfänglichkeit für Matisse‘ Malerei rührte. Während seines Aufenthaltes bekommt Matisse einiges zu sehen – vorrangig in Moskau. Die Eremitage in St. Petersburg ist zu seinem großen Bedauern den Winter über geschlossen.312 In Moskau ist es vor allen Dingen Ilja Semjonowitsch Ostroukhow (1858- 1925), der Matisse mit der Kultur des alten und modernen Russlands vertraut macht. Die beiden Männer hatten sich 1910 anlässlich des Herbstsalons in Paris kennengelernt. Ost- roukhow war in den 1880ern ein erfolgreicher Landschaftsmaler. Nach seiner vorteilhaf- ten Hochzeit mit Nadezhda Botkina313, der Erbin der Botkin-Tee-Handelsfirma, gab er seine Ausstellungstätigkeit auf. Er nahm nun vielseitige kulturelle Aufgaben im öffentli- chen Leben wahr. Ostroukhow gehörte dem Ausschuss der städtischen Tretjakow Galerie an, deren Direktor er zwischen 1905 und 1913 war.314 Zudem gab er sich verstärkt seiner Sammlerleidenschaft hin. In der kleinen aber ausgewählten Kollektion befanden sich russische und europäische Arbeiten, sowohl alte Ikonen als auch moderne französische Werke. Ostroukhow sammelte ausschließlich das, was ihm aus einem künstlerischen Blickwinkel interessant erschien: Er hatte ein Faible für das Unfertige und zog Studien oftmals vollendeten Ölgemälden vor.315 Seine Ikonen waren ihm kostbar – nicht aufgrund ihres Ranges als historische Raritäten, sondern aufgrund ihrer hohen ästhetischen Quali- tät.316 Ostroukhow setzte viel daran, um Matisse einen möglichst umfassenden Einblick in die Kunst und Kultur Moskaus zu verschaffen. Sie gingen ins Bolshoi Theater, in dem die Oper Sadko von Rimskj Korsakow gespielt wurde und statteten dem berühmten Pianisten Konstantin Nikolaewitsch Igumnow (1873-1948) einen Besuch ab.317 Ostroukhow zeigte

308 Matisse entschied sich für den aufwendig verzierten, violettfarbenen Salon und ließ sich dabei nicht von den Wanddekorationen aus dem 18. Jahrhundert beeinträchtigen – er hängte die Bilder einfach darüber. Auf diese Weise entstand aus dem Interieur und den Bildern ein eindrucksvolles Gesamtkunstwerk. Vgl.: Kosten- evich 1993, 23 und 34f. 309 Vgl.: Kostenevich 1993, 7. 310 Vgl.: Kostenevich 1993, 8. 311 Vgl.: Kostenevich 1993, 11. 312 Vgl.: Kostenevich 1993, 23f. 313 Nadezhda Botkina war die Nichte der Mutter Sergej Schtschukins. Siehe Kostenevich 1993, 25. 314 Vgl.: Kostenevich 1993, 25. 315 Vgl.: Kostenevich 1993, 25. 316 Im Jahr 1918 wurde Ostroukhows Sammlung in eine Abteilung der Tretjakow Galerie umgewandelt. 1929 wurde die Sammlung aufgelöst. Vgl. hierzu: Kostenevich 1993, 25. 317 Vgl.: Kostenevich 1993, 24.

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Matisse seine private Ikonensammlung, von der Matisse begeistert war. Die sensiblen Ikonen der Nowgorodschule mit ihren hellen und lebendigen Farben waren darin beson- ders stark vertreten.318 In einem Brief vom 25. Oktober 1911 an Aleksandra Pawlowna Botkina319 beschreibt Oustroukhov Matisse’ Reaktion wie folgt:

»Du hättest sehen sollen, wie fasziniert er von den Ikonen war! Er verbrachte buch- stäblich den ganzen Abend mit ihnen zu, indem er jede einzelne genoss und bewunder- te. Und mit was für einer Gewandtheit![…] Schließlich verkündete er, dass es sich al- lein wegen dieser Ikonen lohnen würde, hierher zu reisen, sogar von einer Stadt, die noch weiter entfernt ist als Paris. Er sagte, dass er die Ikonen höher schätzen würde als die Werke Fra Beatos. […] Heute rief mich Schtschukin an, um mir zu sagen, dass Ma- tisse wegen dieser starken Eindrücke die ganze Nacht über nicht hätte schlafen kön- nen.«.320

Einige Tage später führt Ostroukhow Matisse durch die Tretjakow Galerie und berichtet Aleksandra Botkina, dass Matisse »durch das Erdgeschoss lief ohne ein besonderes Inte- resse zu offenbaren, jedoch vor Freude zu zittern begann, als er in den Ikonensaal gelang- te, wo er und ich [Ostroukhow] eineinhalb Stunden verbrachten und jede einzelne Vitrine öffneten.«321 Matisse hat Glück, mit Ostroukhow einen so versierten Kunstkundigen an seiner Seite zu haben. Er zeigte Matisse die bedeutendsten Ikonensammlungen der Stadt. Sie waren Gäste im Hause des einflussreichen Zuckerfabrikanten Pawel Iwanowitsch Khari- tonenko (1852-1914), der eine exquisite Ikonensammlung besaß, darunter hervorragende Exemplare aus der Nowgorod Schule des 15. und 16. Jahrhunderts.322 Ostroukhows Ter- minplanung vom 23. Oktober ist zu entnehmen, dass er beabsichtigte, Matisse auch die der Himmelfahrt Mariae gewidmete Kapelle im Kreml und die Sakristei des Patriarchen zu zeigen.323 Ferner hatte Matisse das Privileg, etwas zu sehen, was Besuchern nur sehr selten gezeigt wurde: die Kirchen der Altgläubigen. Weil sie die Reformen des 17. Jahr- hunderts verweigert hatten und am alten Ritus festhielten, hatten sie sich von der offiziel- len russisch-orthodoxen Kirche abgespalten. Jene Kirchen lagen meist in den Randbezir- ken Moskaus. Sie bargen hervorragende Originale von Ikonen aus dem 14. bis zum 16. Jahrhundert, die von späteren Übermalungen verschont geblieben waren.324

Matisse’ Besuch in Russland findet ein großes Echo in der russischen Presse. Die Kom- mentare sind häufig tagesaktuell und reichen von Sympathiebekundungen bis zur har-

318 Vgl.: Rusakov 1975, 286. 319 Aleksandra Pawlowna Botkina (1867-1956) war die Tochter Pawel Tretjakows und Ehefrau des bekannten Arztes und Sammlers S. S. Botkin, der seinerseits dem Vorstand der Tretjakow Galerie angehörte. Siehe: Rusakov 1975, 285. 320 Durch die Verfasserin aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Siehe: Kostenevich 1993, 24. Der Originalbrief befindet sich im Archiv der Tretjakow Galerie in Moskau. 321 Auszug aus dem Brief von Ostroukhow an Aleksandra Botkina vom 28. Oktober 1911. Durch die Verfas- serin aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Siehe: Kostenevich 1993, 26. Der Originalbrief befindet sich im Archiv der Tretjakow Galerie in Moskau. 322 Vgl.: Rusakov 1975, 286 und Kostenevich 1993, 26. 323 Vgl.: Kostenevich 1993, 24. 324 Siehe: Kostenevich 1993, 26.

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schen Ablehnung. Im Allgemeinen überwiegt eine skeptische Grundhaltung gegenüber dem europäischen Vertreter der Avantgarde.325 Eine Auswahl der aussagekräftigsten Arti- kel befindet sich in englischer Übersetzung in der Monographie von Natalja Semjonowa und Albert Kostenewitsch.326 Die Journalisten fragen Matisse, wie ihm die urbane Struk- tur Moskaus gefällt, was er von der Architektur hält – der weltlichen wie der sakralen – und welche Sehenswürdigkeiten er bereits besichtigt hat. Auch ist man neugierig, wie Matisse die russische Avantgardebewegung beurteilt. Einige Artikel unternehmen zudem den Versuch, Matisse’ Kunstauffassung zu skizzieren, wobei zu berücksichtigen ist, dass es sich nicht bei allen Interviewern um Fachkundige in ästhetischen Belangen handelt. Aufgrund von Verständnisproblemen werden einige Ansichten von Matisse leicht ver- zerrt wiedergegeben. Die Vielzahl der erscheinenden Artikel belegt, dass auf die Meinung des französischen Künstlers großes Gewicht gelegt wird. Matisse’ Einschätzung der rus- sischen Ikonenmalerei gilt das besondere Interesse der Journalisten. Seine diesbezügli- chen Aussagen werden allerorten zitiert. Sie sind äußerst knapp und zeugen in der Haupt- sache von Matisse’ großer Faszination. Anhaltspunkte zu einer weiterführenden Re- flexion über das Ikonische bieten sie nicht. Sie ähneln in ihrem Informationsgehalt den beiden oben vorgestellten Briefpassagen von Ostroukhow an Aleksandra Botkina. Bei- spielhaft wollen wir hier zwei Auszüge wiedergeben. Die Zeitung RANNIEIE UTRO [Früher Morgen] zitiert am 26. Oktober 1911 folgende Aussage von Matisse:

»Gestern habe ich eine Sammlung alter russischer Ikonen gesehen. Das ist wahrhaftig große Kunst. Ich habe mich in ihre berührende Einfachheit verliebt, die mir lieber und kostbarer ist als die Gemälde Fra Angelicos. In diesen Ikonen entfalten sich die Seelen der Künstler, welche sie hervorgebracht haben, wie mystische Blumen. Wir sollten uns eingehend mit ihnen befassen, um Kunst zu verstehen. «327

Die Zeitschrift PROTIV TECHENIYA [Gegen den Strom] tut in ihrer Novemberausgabe Matisse’ Begeisterung wie folgt kund:

»Die Ikonen sind ein höchst interessantes Beispiel primitiver Kunst. Solch ein Reich- tum an reiner Farbe, solch eine Spontaneität des Ausdrucks habe ich sonst nirgendwo gesehen. Dies ist Moskaus schönstes Erbe. Die Leute sollten hierher kommen und sie studieren, denn man sollte bei den Primitiven nach Inspiration suchen. Das Verständnis von Farbe, von Einfachheit – all das besitzen die Primitiven. Der moderne Künstler muss sein eigenes Gespür für das Gleichgewicht dazutun, um ein hohes Kunstwerk zu schaffen.«328

Matisse sagt in diesen Interviews nichts Neues, nichts, was sich aus dem bisher Dargeleg- ten nicht in logischer Konsequenz erschließen würde. Allerdings ist auffällig, dass der Künstler durch seine Wortwahl die Unmittelbarkeit der ästhetischen Erfahrung angesichts der Ikonen akzentuiert. An dieser Stelle könnten uns an Basileios von Caesarea erinnert

325 Vgl.: Rusakov 1975, 287 und 290 326 Siehe: Kostenevich 1993, 47-55: The Russian Press on Matisse’s Visit. 327 Durch die Verfasserin aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Siehe: Kostenevich 1993, 47. 328 Durch die Verfasserin aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt Siehe: Kostenevich 1993, 52.

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fühlen – an dessen Rede über die merkwürdige Schönheit des Abendsterns, der uns nicht aufgrund des richtigen Verhältnisses der Teile als schön erscheint, sondern aufgrund sei- nes unmittelbar in die Augen fallenden sanften Glanzes. Matisse beschwört die Einfach- heit der Ikonen, ihre spontane Ausdruckskraft und die kostbar-lebendige Farbgebung, auf der ihre emotionale – ja mystische Anziehungskraft beruht. Er empfiehlt jedem Künstler, sich die Ikonen genau anzusehen, um von ihnen zu lernen. Darüber hinaus ist bemer- kenswert, dass er den Begriff der ›Primitivität‹ bzw. des ›Primitiven‹ auf die Ikonenkunst anwendet. Darin bezeugt er ihnen etwas Ursprüngliches, Echtes und Unverfälschtes, was der westlich-moderne Kunstjargon bislang vornehmlich den exotischen Kunst- und Kult- objekten aus Übersee, wie beispielsweise der afrikanischen Stammeskunst, vorbehalten hatte.329 Wenn Matisse den Ikonen den Vorzug vor den hochrangigen Werken des intel- lektuellen Dominikanermönchs Fra Angelico erteilt, kommt das einer Huldigung der öst- lich-ikonischen Bildtradition gegenüber der abendländischen Kunstgeschichte gleich. Umso mehr verwundert es, dass keinerlei Korrespondenzen erhalten sind, die uns genauere Auskünfte über Matisse’ ästhetischen Erfahrungen geben. Wanda de Guébriant, die Leiterin der Archives Matisse, bestätigt, dass es in sämtlichen Briefen – seien sie von Matisse oder der jeweiligen Kontaktperson330 - keine weiterführenden Reflexionen über die Ikonen gibt. Es bleibt auch hier beim schlichten Tatsachenbefund, dass Matisse von den Ikonen fasziniert war.331

329 Vgl.: Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, hg. von William Rubin, München 1984. 330 Matisse fertigte häufig eine Kopie seiner Briefe an, so dass seine Korrespondenzen weitgehend erhalten sind. Soweit vorhanden befinden sich in den Archives Matisse in Paris. 331 Wir geben hier einen Auszug aus dem Brief von Wanda de Guébriant an die Verfasserin vom 23. August 2007 wieder:

»Dear Ms. Dillkofer,

[…] I’ve gone through the letters sent by Matisse to his wife while he was in Russia in 1λ11, and the follow- ing are the only direct or indirect mentions to this subject [die russischen Ikonen]:

Letter of 25 octobre = 7 novembre à Paris (cachet poste russe 25.10.11 – cachet poste Issy 11.11.11) Moscou, Mardi 10h. J’ai été hier en soirée chez Ostooukof, le conservateur du Musée et cousin de Stschoukine. J’y ai admiré un collection de tableaux primitifs russes de toute beauté. Ce monsieur est un de mes anciens adversaires, et il est tout à fait gentil avec moi. […]Je ne sais quand je retournerai, peut-être dans 15 jours, peut-être avant [...] Une fois que j’aurai vu les curiosités, je n’aurai plus rien à faire ici.

Letter of 26 octobre = 8 novembre à Paris (cachet poste russe 26.10.11 – cachet post Issy 12.11.11) Moscou, Mercredi matin Ce matin à 11h1/2 je vais avec Serge Ivan et Ostrooukof voir la vieille basilique…

3 novembre russe = 16 novembre Paris Moscou Jeudi Mon voyage á Moscou commence à tirer à sa fin et si je puvais je paritrais aujourd’hui, car j’ai la tête remplie de choses que j’ai vues et qui m’ont fait impression et quoique tout ne soit pas vu, j’en ai tout de même assez.

And this is it. Quite disappointing, isn’t it. Very soon after he comes back to France he goes to Marocco and there is nothing in his letters that could remind his Russian experience. Of course there are all the letters he may have sent to his friends, but unfortunately we do not have them in

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Matisse’ Aufenthalt in Russland fällt in die Zeit seiner engen Freundschaft mit Matthew Stewart Prichard. Es liegt nahe, dass sich Matisse mit dem Byzanzkenner über seine Erlebnisse in Russland austauschte. Aber auch hier sind keine Briefe oder Notizen überbracht, welche Matisse’ Begeisterung für die Ikonen infolge der Russlandreise auf ein intellektuelles Fundament stellen würden. Rémi Labrusse, der sämtliche Archivbe- stände332 in Boston und Paris nach den Gesprächsthemen zwischen den beiden Männern durchforstet hat, konnte in den Briefen und Notizen Prichards keine Hinweise darauf entdecken, dass sie sich über die russischen Ikonen verständigt haben. Woher rührt dieser eklatante Mangel an Zeugnissen einer Reflexion über das Ikoni- sche? Wie lässt sich dieses Schweigen erklären, wenn die Faszination für das östliche Bilddenken in vielfältiger Weise und unüberhörbar aus den Werken spricht? Müssen wir daraus folgern, dass das, was die artistische Intelligenz erfasst und in eine eindringliche Form zu verwandeln vermag, sich zwangsläufig der Artikulation durch Worte entzieht? Matisse hat diesen merkwürdigen Zusammenhang in seinem Essay Abschweifungen aus dem Jahr 1937 berührt. Er behauptet darin, dass das künstlerische Arbeiten selbst nicht lehrbar ist und berichtet in diesem Zusammenhang von einem Besuch im Atelier von :

»Ich hatte einmal das Glück, von Rodin Ratschläge zu empfangen wegen Zeichnungen von mir, die ein Freund ihm vorgelegt hatte. Seine Ratschläge halfen mir jedoch in kei- nem einzigen Punkt, und Rodin zeigte sich bei dieser Gelegenheit ausschließlich von seiner pedantischen Seite. Er konnte nicht anders. Denn das Beste, was die Meister ha- ben, ihre raison d’être, liegt außerhalb ihrer Reichweite. Da sie es selbst nicht verste- hen, können sie es auch nicht weitergeben.«333

Das, worauf das künstlerischen Schaffen beruht – sein ›Seinsgrund‹ –, lässt sich nach Matisse‘ Auffassung nicht verbalisieren. Er wird in den Werken spürbar und anschaubar, aber sprachlich ist er nicht zu fassen. Es scheint, als sei der künstlerische Schaffensakt eine so unmittelbare Äußerungsweise, dass bereits jeder Versuch, ihn in Worte zu fassen, eine verfälschende Distanz darstellen würde. Möglicherweise ist hier die Ursache zu fin- den, weshalb wir auf der einen Seite die Kraft des Ikonischen deutlich sehen können und auf der anderen Seite keine erklärenden Worte von Matisse hören: Weil das ikonische Bildverständnis ein tief verinnerlichtes Fundament seines künstlerischen Schaffens ist. So taucht sie am Ende wieder hervor, die paradoxale Figur des Anfangs: Die Nähe, die mit einem Mal in Ferne umschlägt, das Hervorkommen des Bildes, das erst durch ein Zurückweichen (davor) möglich wird, oder kurz: das beredte Schweigen eines Mannes und einer Frau, die sich in CONVERSATION befinden.

the Archives Matisse, as they are in the archives of his correspondents. We have succeeded in getting copies of the letters he sent to Marquet, Camoin, Manguin (partly), Sembat and Bonnard: I see nothing there about his trip in Russia or his interest in icons. […] Considering that your subject was part of Rémi Labrusse’s thesis, I am almost sure that he has been searching all the possible sources of information for this particular point. […]«

332 Vornehmlich handelt es sich um die Archives of the Isabella Stewart Gardner Museum in Boston sowie die Archives Duthuit und die Archives Matisse in Paris. 333 Siehe: Flam 1982, 143.

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Zusammenfassung der Arbeit

Am Anfang der Arbeit steht Henri Matisse‘ Bild LA CONVERSATION [Abb. 1]. Es handelt sich um die Darstellung eines Mannes und einer Frau in einem tiefblauen Raum, die sich vor einem Fensterausschnitt in einer sonderbaren Unterredung befinden. Die Figuren sind steif und hermetisch gegeben. Jede bleibt für sich und doch sind sie im gleichen Moment durch die kompositorische Struktur des Bildes aufeinander bezogen. Die CONVERSATION entfaltet ihre besondere ästhetische Wirksamkeit, indem sie eine Unterredung zur An- schauung bringt, die sich in ihrem Zustandekommen entzieht – und dies sowohl auf der Ebene des motivischen Gegenübers von Frau und Mann als auch auf der Ebene des bild- lichen Vollzugs durch den Betrachter, der sich ebenso in Distanz zum Bild gesetzt sieht wie die beiden Figuren zueinander. Der Versuch, die spezifische Wirksamkeit der CONVERSATION zu ergründen, ist zu- gleich der Ausgangspunkt der Arbeit selbst. Er führt uns auf die Spur der ikonischen Äs- thetik, die in der Moderne wiederentdeckt wird. Es gilt, den wechselseitigen Zusammen- hang aufzudecken, der zwischen Matisse’ Bildkunst und dem ikonischen Bildverständnis besteht. So verfolgt diese Arbeit ein doppeltes Anliegen: Zum einen sollen die begriffli- chen Grundlagen des uralten Bildverständnisses herausgearbeitet werden, welches aus dem griechischen Osten stammt, seinen begrifflichen Ursprung im Wort eikon hat und in der byzantinischen Ikonenkunst eine eigenständige Sprache und Bildgestalt entwickelte. Zum anderen wollen wir auf dem Fundament der erarbeiteten Begriffe deutlich machen, welche Entsprechungen zwischen der Ästhetik des Ikonischen und dem Bilddenken des modernen Malers Henri Matisse existieren. Die formale Konstellation der Figuren und die Konversation als Thema von Ma- tisse‘ Bild legen es nahe, es mit ikonographischen Darstellungen der Verkündigung an Maria zu konfrontieren, von der der Evangelist Lukas berichtet (Lk 1, 26-38). Im byzan- tinischen Osten wie im westlichen Abendland waren diese Bilder sehr beliebt. Auch die Verkündigung wird in Form einer Unterredung dargestellt. Der Erzengel Gabriel betritt hierbei meist von links den (Bild-)Raum, in dem Maria seine Botschaft empfängt. Indem der Engel Maria verkündet, dass sie als Jungfrau den Sohn Gottes gebären wird, ereignet sich das, wovon in dieser Szene die Rede ist: Das Wort Gottes wird Fleisch. Damit ist zugleich ein wesentliches Argument gefunden, das alttestamentarische Bilderverbot zu überwinden. Wenn nämlich Gott in seinem Sohn irdische Gestalt annimmt, wird auch dem Bild der menschlichen Figur zu neuem Recht verholfen, weil hier das Mysterium der Inkarnation analog in das Geheimnis des ›Bildwerdens‹ überführt werden kann. Auch beim Entstehungsprozess des Bildes handelt es sich um einen Vorgang von Materialisie- rung, weil sich Farben, Formen und Linien zu einer Bildgestalt figurieren. Die Darstel- lungen der Verkündigung reflektieren somit stets die Frage, was ein Bild ist. Insofern ist ihnen mit Matisse‘ CONVERSATION über das Thema der Unterredung hinaus auch das Nachdenken über das Wesen des Bildes gemein. Um der ästhetischen Wirksamkeit von Matisse’ CONVERSATION auf den Grund zu kommen, konfrontieren wir das Gemälde zum einen mit einer byzantinischen Verkündi- gungsikone aus dem Katharinenkloster (Sinai) [Abb. 4], die Ende des zwölften Jahrhun- derts in Konstantinopel entstand, zum anderen mit einem Verkündigungsfresko des Do- minikanermönchs Fra Angelico [Abb. 5], das jener Mitte des 15. Jahrhunderts für das

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Kloster San Marco in Florenz anfertigte. Die Analysen haben exemplarischen Charakter und zielen darauf, Merkmale einer östlichen bzw. westlichen Bildsprache ausfindig zu machen. Während die Ikone das Mysterium der Inkarnation als sinnlich-farbenfrohes Phänomen feierlich darbietet, verwandelt Fra Angelico das Geschehen in ein komplexes visuelles Gefüge, das auf metaphorische Weise mit einem intellektuellen, theologischen Sinnsystem korrespondiert. Der unmittelbar wirkenden Gegenwärtigkeit der Ikone steht der sich durch alle Bildebenen hindurch vermittelnde Erzählmodus des Freskos gegen- über. Matisse‘ CONVERSATION scheint in ihrer Bildlichkeit der Sinaiikone näher zu sein als dem westlichen Pendant. Sowohl in der Ikone als auch in Matisse‘ Gemälde bleiben die Figuren isoliert und werden in einer sonderbaren Spannung zwischen Weichen und Nahen gegeben. Die tragende Funktion, welche dem monochromen Grund hinsichtlich seiner räumlichen Wirkung zuteilwird, verbindet die COVERSATION mit der Sinaiikone. Das leuchtende Blau und das glänzende Gold bewirken die Erfahrung einer auf den Be- trachter zudrängenden Ferne: Einerseits erscheint der Raum unglaublich nahe, weil der monochrome Anstrich die Oberfläche des Bildes gegenwärtig macht, andererseits entfal- tet er einen Sog in eine atmosphärische Tiefe, der den Betrachter fortkatapultiert aus der ihn umgebenden Alltagswirklichkeit hinein in einen transzendenten Erfahrungsraum. Nachdem durch die Bildanalysen wesentliche Anhaltspunkte für die Charakterisie- rung einer ikonischen Bildsprache gewonnen wurden, richtet sich unser Interesse auf die Frage, worin diese Bildsprache ihren Ursprung hat, bzw. auf was für einem Denken sie gründet. Die Kunst der Ikonen ist unabdingbar mit der Geschichte des byzantinischen Reiches verwoben. Um 660 v. Chr. wurde Byzantion als griechische Koloniestadt ge- gründet. Kaiser Konstantin machte sie im Jahr 330 n. Chr. zur neuen Hauptstadt des Rö- mischen Reiches und gab ihr den Namen Konstantinopel. Das byzantinische Reich währ- te mehr als tausend Jahre und endete mit der Eroberung Konstantinopels durch die Os- manen im Jahr 1453. Entscheidend für den Fortgang unserer Überlegungen ist die Fest- stellung, dass sich die byzantinische Kunst in enger Bindung an die Kultur des antiken Griechenlands ausbildete. Maßgeblich hierfür war die griechische Sprache, die sich im Verlauf des Mittelalters nur geringfügig veränderte. Es gab keine sprachliche Barriere, welche den Byzantiner von der Welt des antiken Griechentums abschnitt. Die Epen Ho- mers, die Tragödien des Aischylos und Sophokles und auch die platonischen Dialoge gehörten zum Bildungskanon. Die Sprache der byzantinischen Kirchenväter war und blieb selbstverständlich die griechische. Die christliche Kirche des Ostens bildete sich aus, indem sie eine Synthese von hellenistischer und judäisch-christlicher Kultur vollzog. Die christliche Dogmatik schulte ihre Argumentation an der platonischen und aristoteli- schen Philosophie, die sie modifizierte und für ihre Zwecke tauglich machte. Die Byzan- tiner machten einen kreativen Gebrauch von ihrem antiken Erbe, um die Bedürfnisse der neu entstandenen Gesellschaft zu befriedigen. Die ur-griechische Art und Weise, Dinge zu denken und anzuschauen ist dabei stets gegenwärtig geblieben. Um jene spezifische griechische Denk- und Betrachtungsweise weiterhin zu erhel- len, auf der das ikonische Bildverständnis gründet, wenden wir uns der antiken, griechi- schen Sprache selbst zu. Wir folgen hierbei den Überlegungen Wolfgang Schadewaldts. Ihm zufolge ist die Sprache dasjenige Medium, welches das Denken trägt. Das Griechi- sche ist ein lebendiges Sinn- und Klanggefüge, das eigentümlich zwischen Abstraktion und Konkretion schwankt und sich deshalb als besonders taugliches »Mittel der Weltbe-

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wältigung«334 erwiesen hat. Als solches ist die griechische Sprache gleichermaßen zur Grundlage von Philosophie und Technik geworden. Inwiefern hier das Sinnhafte mit dem Sinnlichen verflochten ist, verdeutlicht Schadewaldt am Beispiel elementarer Begriffe wie dem griechischen Wort für Wissen eídenai. Es bezeugt seine Herkunft aus dem Be- reich des Sehens. Wissen meint ein ›Gesehen-Haben‹. Wissentlich kann man dem grie- chischen Verständnis nach nur dasjenige besitzen, was man auch gesehen hat. Dem Vor- gang des Sehens wohnen gleichermaßen ein aktives und ein passives Moment inne. Im Sehen bin ich tätig und ebenso werde ich auch von dem, was ich sehe affiziert. Subjekt und Objekt sind hier ›beieinander‹. Die Welt aus einer isoliert-subjektiven Perspektive zu erfahren, ist dem Griechen fremd. Im Vollzug des Sehens ist der Bezug zwischen dem Ich und der Welt bereits »überbrückt«335. Es gibt hier keinen entzweienden Subjekt-Objekt- Dualismus, von dem unser heutiges Denken und Sprechen geprägt ist. Auch bei dem griechischen Wort für Bild eikon stoßen wir auf jenes ›Beieinander- sein‹, jene eigenartige Verflechtung von subjektiver und objektiver Ebene. Das Wort leitet sich vom Stammwort eikein her, das ›zurückweichen‹ oder ›nachgeben‹ bedeutet. Dem ikonischen Bild ist eine Distanz wesentlich, aus der heraus es in Erscheinung tritt. Der Begriff denkt denjenigen mit, dem es sich zeigt, den Betrachter. Die Distanz ist fun- damental für die Wirksamkeit des Bildes, da ohne Ferne kein Bezug und damit keine Nähe entstehen können. Eikon bezeichnet jedoch nicht nur das zweidimensionale Bild, sondern meint ebenso das dreidimensionale, plastische Werk. Martin Heidegger hat die ursprüngliche Bedeutung des griechisch-östlichen Bildbegriffes eikon klar erkannt und ihn ausdrücklich von dem westlich-lateinischen Bildbegriff imago unterschieden: Wäh- rend das eikon in seinem Erscheinen eine eigene Wirklichkeit entfaltet und insofern auch Wahrheit (alétheia) hervorbringt, bleibt das imago bloßes Abbild. Von imitari abstam- mend erhält es seinen nachahmenden Charakter. Es ist Ableitung, niemals Ursprung.336 Um den ikonischen Bildbegriff greifbar zu machen, werden zwei Bildwerke einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Dabei handelt es sich einerseits um die archaische Skulptur des Jünglings Kleobis aus dem sechsten Jahrhundert v. Chr. [Abb. 7], von dem Matisse einen Abguss besaß; zum anderen um die Ikone der heiligen Katharina aus dem 13. Jahrhundert [Abb. 8], die sich im Katharinenkloster (Sinai) befindet. Dabei stellt sich heraus, dass zwischen dem archaischen Kleobis und der Ikone der heiligen Katharina eine bemerkenswerte ästhetische Verwandtschaft besteht, die vor allem die stilistische Struk- tur der Figuren betrifft: Der eine wie die andere stehen auf eine entschiedene Weise ein- fach da – gerade und aufrecht. Sie ragen. Beiden ist ein blockhafter, vertikal orientierter Umriss gemein, von dem weder Arme noch Beine abweichen. Sie tragen ihre Isolation nach außen. Dem hermetischen Charakter der abstrakten Form korrespondiert jeweils ein sinnlich-materielles Darstellungsmoment. Während die Ikone mit ihrer luziden Farbigkeit das Auge des Betrachters rührt, bietet der Jüngling Kleobis die pralle Plastizität seines Körpers dar, die in der Betrachtung regelrecht fühlbar wird. Beide Figuren bringen ihre Gegenwart aus der Spannung zwischen Distanz und Nähe hervor. Obwohl die beiden Werke in einem zeitlichen Abstand von etwa 18 Jahrhunderten und unter verschiedenen

334 Siehe: Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Tübinger Vorlesungen Band 1, Frankfurt am Main 1978, 133. 335 Siehe: Schadewaldt 1978, 163. 336 Siehe: Martin Heidegger, Sprache und Heimat (1960), in: Aus der Erfahrung des Denkens 1910-1976, Gesamtausgabe, I. Abteilung, Band 13, Frankfurt am Main 1983, 171.

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religiös-kulturellen Voraussetzungen entstanden sind, erweisen sie sich beide als Hervor- bringungen eines ikonischen Bilddenkens. Die ostkirchliche Ikone gewinnt durch die christliche Lehre eine programmatische Dimension hinzu. Im Gegensatz zu den Ikonoklasten, die das mosaische Bilderverbot und eine skeptische Haltung gegenüber der anschaubaren Welt propagieren, spricht der kap- padokische Kirchenvater Basileios von Caesarea (330-374), den wir in unserer Argumen- tation als exemplarischen Repräsentanten der ostchristlichen Theologie anführen, in sei- nen Predigten der Sinnenkraft des Auges sein Zutrauen aus. Dem Geschaffenen, sei es von Gottes- oder Menschenhand – wohnt nichts Trügerisches inne. Das unter dem Ge- sichtspunkt der Ähnlichkeit gestaltete Bild verschmilzt mit der Wirkmacht des Vorbildes. Urbild und Bild haben nach Basileios’ Dafürhalten dasselbe Vermögen zur Gegenwärti- gung. Basileios bereitet den christlichen Bildern ein Fundament, verfolgt dabei jedoch keine systematische Legitimation der Bilder. Er befähigt das bildnerische Werk zur Ei- genständigkeit. Die treibende Kraft des griechisch-orthodoxen eikon ist von Beginn an ein Zuspruch – eine Affirmation. Der innerlichen Jenseitsorientierung des aufstrebenden Christentums setzt Basileios einen immanenten Aspekt entgegen: die Herrlichkeit der Schöpfung. Sie verdient die Lobpreisung der Menschen: »Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.« (Gen 1, 31) Es gilt, die Welt zu feiern. Trotz des hartnäckig sich haltenden theologischen Misstrauens gegen alles Irdische wird die Ostkirche diese Bejahung des Diesseitigen als Grundtendenz bewahren.

Im Gegensatz zum griechischen Osten begegnet das Abendland der materiellen Welt mit Ablehnung. Der Westen hegt einen tiefen Zweifel an allem, was mit den Sinnen erfahren wird. So steht auch das Existenzrecht der Bilder immerfort in Frage. Dennoch gelingt es der abendländischen Bildkunst, sich kraftvoll zu entwickeln. Man kann es so formulieren: Die Bilder im Westen entstehen einer permanenten Anfechtung zum Trotz. Diese merk- würdige Abneigung des Westens gegenüber dem Sinnlichen ist jedoch nicht ohne den eklatanten Einschnitt zu verstehen, welchen Platons Ideenlehre in der Geschichte des Denkens darstellt. Platon ist derjenige, der eine hierarchische Struktur in die Auseinan- dersetzung mit der Wirklichkeit einführt. Die sinnliche Wahrnehmung erfährt eine stu- pende Abwertung gegenüber dem geistigen Vermögen, dem allein die Welt der Ideen zugänglich ist. Die Malerei ist Platon eine Kunst der Täuschung – sie steht im dritten Glied zur Wahrheit. Sie ist Abbild vom Abbild und damit am weitesten von der absoluten Idee entfernt. Seither ist diese hierarchische Stufung dem Blick auf die Welt eingeschrie- ben. Der lateinische Kirchenvater Augustinus (354-430) teilt Platons Zweifel an der sinn- lichen Anschauung. Sein Blick auf die Welt und die Dinge ist davon getrieben, in ihnen eine vernunftmäßige Struktur oder Zahlenmäßigkeit zu entdecken, die durch den Geist erfasst werden kann. Deutlich tritt jene Präferenz für die Aktivität des Intellekts in der augustinischen Theologie hervor. Anders als sein ostkirchlicher Gewährsmann Basileios entdeckt Augustinus in der Heiligen Schrift zuvorderst nicht die Aufforderung, sich der Schönheit der irdischen Welt gewahr zu werden, geschweige denn diese genießend zu erfahren; vielmehr richtet er seine Aufmerksamkeit auf die dort offenbarten unendlichen Wahrheiten, die nur durch eine allmählich in die Tiefe vordringende Exegese im Geist erschaut werden können. Augustinus kehrt seinen Blick fort von den äußeren Dingen hinein ins Innere der Seele, welche allein der Ort des wahren Glaubens ist. Diese augusti-

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nische Wendung zur ›geistigen Innigkeit‹ ist zugleich eine Wendung zur Transzendenz: Erst in einer jenseitigen Welt findet das christliche Heilsgeschehen in Form des ewigen Lebens Vollendung. Diese Akzentverschiebung vom Diesseitigen auf das Jenseitige wird für die Entfaltung des westlichen Christentums weithin prägend sein. Wenn Augustinus von Bildern spricht, verwendet er zumeist das lateinische Wort imago. Es ist der Bildbegriff, der für die Geschichte des Abendlandes maßgeblich sein wird. Imago ist zwar die gängige Übersetzung des griechischen eikon, doch hat es bedeu- tungsmäßig andere Wurzeln. Heidegger hat darauf hingewiesen, dass imago dem De- ponenz imitari verwandt ist, welches ›nachahmen‹ bedeutet. Der Akzent liegt auf der Nachbildung und hebt insofern die mittelbare Rolle des Bildes bzw. seine Verhältnismä- ßigkeit in Hinsicht auf ein Original hervor. Damit steht es im Gegensatz zum griechi- schen Verständnis vom Bild, welches ein unmittelbares Vermögen zur Gegenwärtigung für sich in Anspruch nimmt. Platon und Augustinus, die wir in unserer Darlegung als Urheber des abendländischen Bilddenkens vorstellen, schätzen das Bild aus Gründen der Geistesferne gering. Der Maler ist am weitesten von der Wahrheit entfernt, weil er sich in seinem Schaffen nicht an den Ideen, sondern an der sinnlichen Erscheinung der Dinge orientiert. Diese skeptisch-idealistische Linie stößt im lateinischen Westen auf die pragmatisch orientierte Denk- und Lebenskultur der Römer. Was dem ersten Anschein nach nicht zusammenpassen mag, wird im Lauf der Geschichte durch geschickte Umdeutungen pas- sig gemacht. So holt Seneca (1-65) die platonische Idee in die diesseitige Welt: Er inter- pretiert sie als natürliches Modell, auf welches sich ein Künstler als Vorbild seiner Ge- staltung beziehen darf, ja sogar muss. Und auch Plinius der Ältere (23-79) entdeckt in seiner Naturalis Historiae die ursprüngliche Aufgabe der Malerei darin, durch Abbildung eine Erinnerung an etwas nicht Anwesendes zu schaffen. Am Beispiel des Schattenumris- ses macht er deutlich, dass der Linie gegenüber der Farbe die größere Bedeutung beizu- messen ist: Sie kann den Gegenstand als Kontur ergreifen und ist damit für die Re- präsentationsleistung der Bildkunst entscheidend. Im weiteren geschichtlichen Verlauf wird die abendländische Bildkunst ihre Aufga- be in der Wiedergabe der Welt finden und festigen. Das Bild erlangt keine Eigenständig- keit; vielmehr gewinnt es seine Kraft aus der Relation zum wirklichen Vorbild, das als Bezugsgröße ausschlaggebend bleibt. Anders als das eikon, welches die Gegenwart des Abwesenden durch eine gestaltete Äquivalenz hervorbringt, setzt das lateinische Bild den Akzent auf die Abwesenheit. Die Richtungstendenz ist hier genau umgekehrt: Es geht beim imago nicht um die unmittelbare Gegenwart der Darstellung bzw. des Dargestellten als vielmehr um die ›Repräsentation‹ derselben. Diese Akzentverlagerung stellt einen feinen aber entscheidenden Unterschied zwischen dem griechisch-östlichen und dem lateinisch-westlichen Bild dar. Als exemplarische Vertreter des abendländischen Kunstverständnisses stellen wir Leonardo da Vinci (1452-1519) und Pietro Perugino (1448-1523) vor, die in ihrer Kunst auf völlig verschiedene Weise den Erfordernissen der Repräsentation nachkommen. Le- onardo gebraucht die Bildkunst als Mittel zur Visualisierung von Kräften und Energien, die er in der Natur entdeckt [Abb. 12 und 13]. Die Tätigkeit des Malers vergleicht er mit der eines aufmerksamen Spiegels, der alle Veränderungen der Natur wiederzugeben ver- mag. Perugino hingegen stellt seine Malerei ausschließlich in den Dienst der Heiligen Geschichte. Anders als Leonardo zielt er nicht darauf ab, Kräfte sichtbar zu machen,

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vielmehr geht es ihm darum, durch die strukturelle Anlage seines Bildes die Imagina- tionskraft des Betrachter in Gang zu setzen um das christliche Heilsgeschehen vor dessen innerem Auge hervorzurufen und zum Nachvollzug zu bringen [Abb. 14]. Hierin ist auch der Grund zu erkennen, weshalb die Gesichter der heiligen Figuren einer allgemeinen Typik verhaftet bleiben. Der Betrachter soll in einer innerlichen Andacht die individuelle Ausformulierung selbst übernehmen. Giotto di Bondone (1266-1337) nimmt in unserer Betrachtung eine Schwellenpositi- on zwischen dem ikonischen und dem abendländischen Bildverständnis ein. Seine Fres- ken in der Arenakapelle zu Padua [Abb. 11] bringen Szenen aus dem Leben Jesu und dem seiner Mutter Maria zur Darstellung. Jede einzelne Begebenheit ist durch einen or- namentierten Rahmen eingefasst, der sie von der vorherigen bzw. nachfolgenden Szene trennt und zugleich mit ihr verbindet. Und auch zwischen den Freskenbändern selbst kommt es zu Korrespondenzen, die durch den Rhythmus der horizontalen und vertikalen Ornamentleisten aktiviert werden. Derart wird der ganze Innenraum durch das Fresken- programm zugleich visuell und narrativ organisiert. Für jede Szene erfindet Giotto eine spezifische kompositorische Anlage, welche als komplexes Gefüge aus Formen, Farben, Richtungstendenzen und Raumzusammenhängen337 das heilige Ereignis einprägsam zur Darstellung bringt. Giotto gelingt es, zwei wesentlichen Anforderungen zu entsprechen, die wir zum einen als charakteristisch abendländisch und ebenso als charakteristisch iko- nisch erachten: Er knüpft seine Malerei an die heilige Geschichte, die zu erzählen er als Aufgabe der Malerei betrachtet. Insofern funktioniert seine Malerei repräsentativ. Ebenso verwandelt er den narrativen Vorgang in ein bildliches Ereignis, in eine Architektur aus Farbkontrasten und figürlich-linearen Bezügen, die über eine gewaltige Kraft zur Gegen- wärtigung verfügt. Hierin ist er ganz auf der Seite des ikonischen Bildverständnisses. Das ikonische Bildverständnis wird in der Moderne wiederentdeckt. Die Situation der Krise und die Suche nach neuen Wegen in der Bildkunst schärfen die Aufmerksam- keit für die Wirkungsweise des östlichen Bildes. Matisse ist einer von den Künstlern, die besonders tief in dieses Bilddenken eintauchen. In den Notizen eines Malers von 1908 legt Matisse dar, worauf seine Malerei und sein bildnerisches Denken beruhen. Die Reflexionen zielen auf die wunden Punkte des überkommenen Kunstbetriebs und auf die Unzulänglichkeiten der etablierten Salonmale- rei. Er skizziert seinen Weg aus der Krise, auf dem die Kategorie des Ausdrucks eine entscheidende Rolle spielt. Dieser ist ihm weniger der Niederschlag eines subjektivisti- schen Gefühlsgebarens, als vielmehr die generalisierende und verdichtende Kraft der Bildanlage selbst. Zugunsten der unmittelbaren Wirksamkeit des Bildes stellt er mimeti- sche sowie narrative Intentionen hintan. Das heißt nicht, dass es keine figürlichen oder gegenständlichen Elemente gibt; es heißt nur, dass die Bedeutung des Bildes nicht in wiedererkennbaren Motiven aufgeht. Er versteht die Bilder als einen Gesamtzusammen- hang, in denen alle Bildmittel – also die Farbe wie die Linie, die Fläche wie der Punkt, das Motiv wie der Farbauftrag – eine tragende Funktion spielen. Matisse will Bilder ma- len, die dem Betrachter wie von selbst in die Augen fallen – einnehmend, doch ohne die Anstrengung einer inhaltlichen Entschlüsselung. In seinem berühmten ›Wort vom Lehn- stuhl‹ klingt Matisse’ Vorstellung von einer hohen ›dekorativen‹ Kunst an: Eine Kunst, die sich mit großem Interesse der (menschlichen) Figur zuwendet und im selben Moment

337 Vgl.: Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie – Ikonologie – Ikonik, München 1980, 8.

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gegenüber der Realität nicht nachahmend verfährt, die immanent ist und zugleich die Banalität des Faktischen übersteigt. Eine Kunst, die in die reale Welt des Alltags hinein- ragt, indem sie eine echte ästhetische Erfahrung ermöglicht. Eine Kunst schließlich, die heitere Beiläufigkeit mit spirituellem Ernst vereint. Auch die byzantinische Kunst ist eine Kunst von hohem dekorativen Rang, die dar- über hinaus über große spirituelle Kraft verfügt. Das östliche Christentum lockerte das alttestamentliche Bilderverbot, um durch die bildliche Visualisierung von Christus und den Heiligen deren gottesdienstliche Verehrung zu erleichtern. Die Darstellung der menschlichen Figur war hier ausdrücklich gewollt, solange sie der Gegenwärtigung der Heiligen Geschichte diente. Dies ist der entscheidende Unterschied zur islamischen Kunst, die jedwede Darstellung lebendiger Wesen aufs Strengste untersagte. Die islami- sche Kunst entfaltet ihre bildnerische Kraft in einer sich über Flächen spielerisch ausbrei- tenden Ornamentik – in Teppichen, Stoffen, Wand- und Bodenmosaiken, um nur einige Beispiele anzuführen. Territorial ist die byzantinische Kunst von der islamischen kaum zu scheiden. Zwischen dem achten und 13. Jahrhundert kam es mancherorts zu einem regel- rechten Schlagabtausch zwischen muslimischen und christlichen Herrschern. Die Nei- gung zum Ornamentalen gedieh folglich auf beiden Seiten und befruchtete sich gegensei- tig. Doch gelangt die byzantinische Kunst gerade durch die Einbindung der Figur in jenen ornamental durchdrungenen Bildzusammenhang zu ihrer einprägsamen Gestalt. Zu Be- ginn des 20. Jahrhunderts wird ihr von den Westeuropäern in zahlreichen Ausstellungen gehuldigt. Matisse besichtigt zwischen 1907 und 1910 einige der großen Schauen und ist tief beeindruckt von den ausgestellten Werken. Die intellektuelle Auseinandersetzung mit der byzantinischen Kunst verdankt Matisse allerdings einem Engländer namens Matthew Stewart Prichard (1865-1936), mit dem er zwischen 1909 und 1914 in enger Freundschaft verbunden ist. Prichard ist Visionär und hat eine revolutionäre Ästhetik vor Augen. Diese basiert zum einen auf der byzantinischen Kultur, zum anderen auf der Philosophie Henri Berg- sons. Mit der Originalität seiner plastischen Denkkraft erweckt Prichard die Zivilisation Byzanz zum Leben und verschränkt sie mit der Dynamik der Bergsonschen Lebensphilo- sophie. Prichards glühender Sympathie für Byzanz auf der einen entspricht seine harsche Ablehnung der klassischen, westlichen Tradition auf der anderen Seite. Während er der byzantinischen Kunst ihre besondere Gegenwartskraft und ihr Eingebundensein in die Lebenswelt des Menschen zu Gute hält, macht er der abendländischen Kunst zum Vor- wurf, dass sie auf äußerlichen Gesetzmäßigkeiten wie der Schönheit basiere und in der illusionistischen Wiedergabe einer tätig-tüchtigen Welt ihre vornehmliche Funktion fin- de. Prichard besitzt ein hervorragendes Wissen der byzantinischen Kultur – vor allen Dingen aber ist er ihr Liebhaber. Da er für die Sache brennt, erschiene ihm jeder neutrale Blick auf ihre Werke als ungebührlich. Prichard beobachtet aufmerksam, welche Erschüt- terungen den bildenden Künsten gegenwärtig widerfahren. Der Verlust ihrer einstigen Aufgabe, Werte und Konventionen zu repräsentieren, bietet in seinen Augen die großarti- ge Gelegenheit zu einer fundamentalen Erneuerung. Die Sphäre der Kunst soll wieder eine lebendige werden. Matisse ist in den Augen Prichards derjenige Künstler, dem es am ehesten gelingt, diese innovative Malerei zu verwirklichen. Die beiden Männer treffen sich im Louvre oder anlässlich von Ausstellungen, um über die unterschiedlichsten Wer- ke der Kunstgeschichte zu debattieren. Zudem kommt Prichard häufig in Matisse‘ Atelier, wo sie sich über die jüngsten Arbeiten des Künstlers verständigen. Was die beiden Män-

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ner eint, ist das Wissen um die zeitgenössische Krise der Kunst und ihr Bestreben, einen Weg aus ihr heraus zu finden. Prichard sensibilisiert Matisse für die ästhetische Wirk- samkeit der orientalischen, besonders aber der byzantinischen Kunstwerke. Er hilft ihm, seinen Horizont zu erweitern. Matisse erweist sich als gelehriger Schüler und versucht die neu gewonnenen Einblicke für seine Malerei fruchtbar zu machen. Deutlich sichtbar wird Matisse’ Auseinandersetzung mit dem byzantinischen bzw. ikonischen Bildverständnis zum einen an seiner Auffassung des Bildraumes, zum anderen an seinem Umgang mit der Bildgattung des Porträts. Hier wie da sucht er nach Möglich- keiten jenseits der abendländischen Bildkonventionen. Am Beispiel des ROTEN ATELIERS [Abb. 16] kann der Betrachter erleben, wie sich in einem menschenleeren Innenraum aus sattem Mittelrot eine Korrespondenz zwischen den in ihm befindlichen Dingen ereignet. Obwohl einzelne Raumkanten und Möbelstücke in ihren Lineaturen perspektivische Verkürzungen andeuten, basiert der Raum nicht auf dem Verfahren der Zentralperspektive. Dieses hatte Leon Battista Alberti 1435 durch sein Traktat Della pittura hoffähig gemacht: Die gemalten Dinge, Gegenstände und Figuren sollten einer einheitlichen, mathema- tischen Ordnung eingeschrieben werden, um der räumlich gesichteten Realität aufs Beste zu entsprechen. Alberti vergleicht die Malerei dabei mit einem Fenster. Der Raum öffnet sich ›vor‹ dem Auge des Betrachters und flieht nach draußen – in die Ferne. Das lineare Gerüst dieses Bildraums lässt sich allein von der Lage des zentralen Augenpunktes im Verhältnis zur Bildfläche her konstruieren. Das Lot von jenem Punkt auf die Fläche mar- kiert den sogenannten Fluchtpunkt, in dem sich alle Tiefenlinien schneiden. Die Waag- rechte durch diesen Punkt ergibt die Horizontlinie. Hierzu ist kein einziger Körper oder Gegenstand vonnöten. Der Bildraum ist an sich und funktioniert unabhängig von den Dingen – er liegt ihnen voraus. Die abendländische Malerei hat das zentralperspektivi- sche Verfahren als grandiosen Fortschritt der räumlichen Darstellung erfahren und die Konstruktion zum maßgeblichen Gestaltungsprinzip erhoben. Fortan ist dem Blick auf die ›Natur‹ das perspektivische Koordinatennetz eingeschrieben, welches die Dinge und Figuren als Gegenüberstehende – als Objekte erfasst. Maler wie Betrachter sind vor dem Gemälde ›festgestellt‹. Der Preis, welchen die perfekte Anwendung der perspektivischen Projektion fordert, ist die Bewegungslosigkeit. In Matisse‘ ROTEM ATELIER entsteht die räumliche Wirkung aus dem Zusammen- spiel von Farben, ihren Gewichtungen und Kontrastverhältnissen sowie aus den figürli- chen und linearen Bezügen der Gegenstands- und Raumkonturen. Es geht Matisse darum, durch die Malerei ein Gefühl des Raumes hervorzubringen, das die Lebendigkeit der Dinge und des Raumes zur Voraussetzung hat. Weder liegt der Raum den Dingen, noch gehen die Dinge dem Raum voraus. Das Gefühl des Künstlers bindet sie in unlösbarer Gleichzeitigkeit aneinander. Das Raumgefühl ist aber nicht in dem individuellen Erleben des Künstlers befangen. Durch die malerische Transformation, die den Intellekt in die Gestaltung miteinbezieht, wird es aufgebrochen. Es kann sich jedem Betrachter öffnen. In der dreidimensionalen Wirklichkeit gibt es einen spirituellen Ort, der eine ähnli- che Raumerfahrung ermöglicht: der byzantinische Kirchenraum. Dieser zeichnet sich architektonisch vor allen Dingen durch die Kuppeln aus, welche den Innenraum oder einzelne Kompartimente des Baus baldachinartig überwölben. Diese Kuppeln sind häufig mit Mosaiken ausgekleidet. Ein Mosaik wird aus kleinen Steinchen gebildet, die aus buntfarbigem oder transparentem Glas mit Einlagen aus Blattgold bestehen. Diese soge-

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nannten ›Smalten‹ werden unregelmäßig in den Mörtel eingesetzt, so dass je nach Licht- einfall und Betrachterstandpunkt vielfältige Reflektionswinkel entstehen. Sobald sich der Betrachter bewegt, beginnt das Mosaik kaleidoskopartig zu leuchten. Es lässt sich durch den Blick nicht fixieren. Der byzantinische Historiker Prokop beschreibt im Jahr 560 die ästhetische Raumerfahrung der unlängst errichteten Hagia Sophia von Konstantinopel und verwendet dabei erstaunlicherweise Begriffe, die auch bei unserer Betrachtung des ROTEN ATELIERS aufkamen: Das den ganzen Raum erfüllende Gold glänzt ebenso »aus sich selber« wie das Rot in Matisse‘ Gemälde. Das Gold und die Farben der Mosaikstein- chen erscheinen als ›Farblicht‹. Der nach oben gerichtete Blick des Betrachters folgt einer »Kreisbewegung«, er bleibt nicht stehen, haftet nicht an Details. Auch in Matisse’ ROTEM ATELIER kreiste unser Blick um und über die Dinge. Obwohl die Darstellung in den Mo- saiken gegenständlich ist, scheint die Identifizierung der heiligen Figuren während der Betrachtung nicht im Vordergrund zu stehen. Prokop gibt in seinem Bericht die emotio- nale Erfahrung eines Raumes wieder, der im gleichen Moment von größtmöglicher sinn- licher Gegenwärtigkeit und geistiger Erhabenheit ist. Ganz diesseitig bekommt er als Betrachter in der Hagia Sophia das Himmelsreich zu spüren. Wie die byzantinischen Kuppelmosaiken macht Matisse’ Interieur einen naturfernen, künstlichen Ort gegenwär- tig, an dem die Regeln der dreidimensionalen, physikalischen Wirklichkeit nicht gelten. Eine Bildgattung, die Matisse in den Jahren der Freundschaft mit Prichard ebenso energisch zu bewältigen sucht, ist das Porträt. Es steht den Erfordernissen des Interieurs in vielen Belangen entgegen. Zwar ist hier wie dort die Relation zwischen einer räumli- chen und einer figürlichen Ebene malerisch zu bewältigen, allerdings handelt es sich im Falle des Porträts um eine hierarchische Beziehung zu Gunsten des dargestellten Men- schen. Seinem Körper, vor allem aber seinem Gesicht gilt das Hauptaugenmerk. Das Porträt als Bildgattung entsteht erst in der Neuzeit. Gottfried Boehm hat 1985 in seiner Studie Bildnis und Individuum338 eingehend dargelegt, dass das Porträt nicht ohne die Geschichte des neuzeitlichen Individuums zu verstehen ist. Die Meister der italienischen Renaissance verhelfen dem Individuum zu außergewöhnlich komplexen und ausdrucks- starken Darstellungen, die in ganz Europa ohne Vergleich sind. Boehm weist nach, dass das Wort ›Porträt‹ bzw. ›Bildnis‹ erst im 14. Jahrhundert auf die neuartige Darstellung des Menschen, »der aus sich selbst und nur aus sich selbst verstanden werden will«339, angewendet wird. Für Matisse bedeutet dieser ›Fokus‹ auf das Gesicht eine Herausforderung, da seine eigene malerische Strategie gerade darauf beruht, das Bild als ein Gefüge gleichwertiger Elemente zu betrachten. Es gilt also, im Porträt einen doppelten Anspruch einzulösen: die besondere Persönlichkeit des Modells zu gegenwärtigen und gleichzeitig eine dekorative Bildanlage zu verwirklichen. Besonders offensiv sucht er die Herausforderung zwischen 1909 und 1916, den Jahren seiner intensiven Freundschaft mit Prichard. In den Gesprä- chen zwischen den beiden Männern geht es mitunter um die besondere ästhetische Wir- kungskraft der ikonischen Gesichter, wie sie etwa auf byzantinischen Münzen in Erschei- nung treten. Das ikonische Bildverständnis bietet hilfreiche Ansatzpunkte, um der Eigen- art von Matisse’ Porträts auf den Grund zu kommen.

338 Gottfried Boehm, Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985. 339 Siehe: Boehm 1985, 21.

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In den Porträts von MADAME MATISSE [Abb. 2] und GRETA PROZOR [Abb. 3] gelingt es Matisse, diesen doppelten Anspruch zu bewältigen: Seine Ehefrau verwandelt er in ein streng organisiertes Flächenwesen, das in seiner grün-blauen Farbigkeit eine melancholi- sche Gestimmtheit evoziert. Ihr Gesicht wird zur kalkweißen Maske. Jedoch verhüllt diese nicht etwa darunter befindliche individuelle Züge, vielmehr öffnet sie das Gesicht und macht Amélie Matisse zu einem lebendigen Gegenüber: Madame Matisse sieht uns mit wachen Augen entgegen – sie erblickt uns wie wir sie erblicken. Das griechische Wort prosopon trifft dieses Phänomen genau, weil es keinen bedeutungsmäßigen Unter- schied zwischen Gesicht und Maske kennt: Das prosopon ist das, was sich zeigt. Wäh- rend der Betrachtung des Porträts wird spürbar, dass Matisse einige Anstrengung darauf verwendet, seine Frau auf Abstand zu halten – sie nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen. Wir folgern daraus, dass eine allzu große Vertrautheit mit dem Modell den Vor- gang des Porträtierens erschwert. Für Matisse ist es wichtig, eine bestimmte Distanz zum Modell aufrecht zu erhalten, um im Bildnis dessen Gegenwart hervorzubringen. Die Er- fahrung von Präsenz ist offensichtlich notwendig mit der Erfahrung von Distanz ver- knüpft. Hierbei scheint wiederum die Dynamik des alten griechischen Bildbegriffs eikon auf: Das Hervorkommen des Bildes aus der Bewegung des Zurückweichens. Bei dem Porträt der Schauspielerin Greta Prozor gerät die Suche nach einer charak- teristischen Haltung selbst zum Thema des Bildes. Matisse verwickelt sein Modell in ein lockeres Gespräch und lässt sie vom Theater erzählen. Ihn interessieren die unwillkürli- chen Posen, die sie während ihres lebhaften Berichtes einnimmt, nicht die dramatische Inszenierung. Im Porträt nimmt die Prozor auf einem Lehnstuhl Platz. Dieser lädt sie allerdings nicht dazu ein, sich entspannt auszuruhen – vielmehr hält er sie zu ständigen ›Verrückungen‹ an. Im Vollzug dieses willkürlich-unwillkürlichen Platznehmens findet Matisse eine charakteristische Metapher für das Wesen Greta Prozors. Auch in diesem Bildnis gibt das Gesicht der Porträtierten keine individuellen Züge preis. Die Ähnlichkeit mit der leibhaftigen Person liegt jenseits der physiognomischen Kongruenz. So geht es Matisse in seiner Porträtkunst nicht darum, ein Individuum gemäß seiner Erscheinung abzubilden, sondern im Bilde einen Charakter zu gegenwärtigen, der über das Moment- und Affekthafte der menschlichen Erscheinung hinausgeht. Aus diesem Grund ist Matisse von den byzantinischen Münzen fasziniert, die in ihrem linearen Gepräge nicht einfach bloß das kaiserliche Antlitz zeichnen, sondern die Macht des Herrschers in einer Weise gegenwärtigen, welche die Bedeutung der Einzelperson übersteigt. Dass Matisse von den überindividuellen Darstellungsmöglichkeiten der ikonischen Kunst tief beeindruckt war, beweist überdies seine Reise nach Russland im Herbst 1911. Während seines zweieinhalb-wöchigen Aufenthalts als Gast seines Sammlers Sergej Schtschukin hatte er die Möglichkeit, einige hervorragende Ikonensammlungen in Mos- kau und St. Petersburg zu besichtigen. Die Artikel, die anlässlich des Besuchs des franzö- sischen Avantgardekünstlers in der russischen Presse veröffentlicht wurden, legen von Matisse’ Faszination angesichts der Ikonen Zeugnis ab. Er beschwört den »Reichtum an reiner Farbe« und die »Spontaneität des Ausdrucks«, kurz: ihr Potenzial als unverfälschte und ehrliche, »primitive Kunst«. Für Matisse bedeutet die Reise nach Russland die Wie- derentdeckung der ikonischen Ästhetik, in der er seine eigenen Anforderungen an die Malerei gleichermaßen begründet und bestätigt sieht. Er erkennt die fundamentale Kraft des östlichen Bildverständnisses und gewinnt aus ihr neue künstlerische Souveränität.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Henri Matisse, LA CONVERSATION (Winter 1908/1909 bis zum Sommer 1912), Öl auf Leinwand, 177 x 217 cm, Eremitage St. Petersburg, siehe: Elderfield 1992, 225.

Abb. 2: Henri Matisse, PORTRÄT VON MADAME MATISSE (1912), Öl auf Leinwand, 145 x 97 cm, Eremitage St. Petersburg, siehe: Elderfield 1992, 246.

Abb. 3: Henri Matisse, PORTRÄT VON GRETA PROZOR (1916), Öl auf Leinwand, 146 x 96 cm, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou Paris, siehe: Elderfield 1λλ2, 2ιί. Abb. 4: Unbekannter Meister, VERKÜNDIGUNG AN MARIA, Ende 12. Jahrhundert, Katharinenklos- ter Sinai, Tempera und Gold auf Holz, 61 x 42 cm (ohne den späteren Streifen am unteren Rand), siehe: Weitzmann 1978, 93.

Abb. 5: Fra Angelico, VERKÜNDIGUNG AN MARIA, um 1438-1450, Fresko, 230 x 297 cm, Kloster San Marco, Nordkorridor, Florenz, siehe: Fra Angelico, Ausst. Kat., Metropolitan Museum of Art New York, Yale University Press / New Haven / London 2005, 184.

Abb. 6: STERBENDER KRIEGER (Ende 6. Jahrhundert v. Chr.), Westgiebel des Aphaiatempels auf Ägina, Marmor, Länge 159 cm, Glyptothek München, siehe: John Boardman u. a., Die griechische Kunst, München 1966, 148.

Abb. 7: KLEOBIS UND BITON (etwa 580 v. Chr), aus dem Apollonheiligtum in Delphi, Inselmar- mor, Höhe: 197 m und 158 cm (ohne Plinthe) bzw. 216 cm und 218 cm (mit Plinthe), Archäologi- sches Museum Delphi, siehe bpw.: Griechische Kunst, hg. von Harald Busch und Gottfried Edel- mann, Frankfurt am Main 1967, 37.

Abb. 8: Unbekannter Meister, HEILIGE KATHARINA mit Szenen aus ihrem Leben auf dem Rahmen, 13. Jahrhundert, Farbe auf Holz, Katharinenkloster Sinai, 75,2 x 51,1 cm (mit Rahmen), siehe: John Galey, Sinai und das Katharienenkloster, Stuttgart 1979, Abbildung 70.

Abb. 9: AUGUSTUS VON PRIMAPORTA, 204 cm (hoch), um 20 vor Chr., Marmorkopie nach Bron- zevorbild, Vatikanische Museen Rom, siehe: www.wikipedia org/wikipedia/commons/e/eb/Statue-Augustus.jpg Abb. 10: Darstellung der Figurenreliefs auf dem Brustpanzer, siehe: www.roma-antiqua.de/forum/showthread.php?t=5947&page=7

Abb. 11: Giotto, FLUCHT NACH ÄGYPTEN (um 1305), Cappella degli Scrovegni, Padua, siehe: Cesare Gnudi, Giotto, Mailand 1958, 133.

Abb. 12: Leonardo da Vinci, WASSERSTRUDEL (1507-1509), Zeichnung, Windsor fol. 12660 ver- so, Royal Library Windsor, siehe: bpw. Pietro C. Marani, Leonardo. Das Werk des Malers, Mün- chen 2001, 310.

Abb. 13: Leonardo da Vinci, HEILIGER JOHANNES DER TÄUFER (1513-1516), Öl auf Holz, 69 x 57 cm, Louvre Paris, siehe: Marani 2001, 317.

Abb. 14: Pietro Perugino, PALA CHIGI, Kreuzigung mit Heiligen (1506), 400 x 289 cm, Chiesa di Sant`Agostino Siena, siehe: Vittoria Garibaldi, Perugino, Mailand 2004, 141.

Abb. 15: Jean-Honoré Fragonard, DIE SCHAUKEL (1766), Öl auf Leinwand, 81 x 65 cm, Wallace Collection London siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/JeanHonor%C3%A9_Fragonard#mediaviewer/Datei:Fragonard,_The _Swing.jpg Abb. 16: Henri Matisse, L’ATELIER ROUGE/DAS ROTE ATELIER (1911), Öl auf Leinwand, 181 x 219,1 cm, The Museum of Modern Art New York, siehe: Elderfield 1992, 219.

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Abb. 17: Innenansicht von Matisse’ Atelier in Issy-les-Moulineaux Ende des Jahres 1911, siehe: Elderfield 1992, 184. Abb. 18: Außenansicht von Matisse’ Atelier in Issy-les-Moulineaux im Jahr 1909, iehe: Elderfield 1992, 181.

Abb. 19: HAGIA SOPHIA, Istanbul, erbaut zwischen 532 und 537, Schnitt in der Längsachse, siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Hagia_Sophia#mediaviewer/Datei:Hagia-Sophia- Laengsschnitt.jpg

Abb. 20: MARKUSDOM, Venedig, Blick nach Südosten

Abb. 21: MARKUSDOM, Venedig, erbaut im elften Jahrhundert, Kircheninneres, Blick in die Ge- wölbe

Abb. 22: HIMMELFAHRT CHRISTI, Mosaik in der Vierungskuppel des Markusdoms zu Venedig, gefertigt im 13. Jahrhundert

Abb. 23: Tizian, VIOLANTE (um 1515/18), Öl auf Holz, 64,5 x 50,8 cm, Kunsthistorisches Muse- um Wien, siehe: http://www.humanitiesweb.org/human.php?s=g&p=c&a=p&ID=9758

Abb. 24: Piero della Francesca, BATTISTA SFORZA/FREDERIGO DA MONTEFELTRO (jeweils 1472- 73), Öl auf Holz, jeweils 47,5 x 33,6 cm, Galleria degli Uffizi Firenze. Auf den Rückseiten befin- den sich entsprechend der TRIUMPHZUG DER BATTISTA SFORZA bzw. der TRIUMPHZUG DES FEDERI- GO DA MONTEFELTRO siehe: The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002, Directmedia Pub- lishing GmbH

Abb. 25: Raffael, BALDASSARE CASTIGLIONE (1514-15), Öl auf Leinwand, 82 x 67 cm, Musée du Louvre Paris, siehe: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Balthazar_Castiglione,_by_Raffaello_Sanzio,_from_C2R MF.jpg

Abb. 26: Henri Matisse, PORTRÄT VON ANDRÉ DERAIN (1905), Öl auf Leinwand, 39,9 x 29 cm, Tate Gallery London, siehe: Elderfield 1992, 139

Abb. 27: Henri Matisse, PORTRÄT VON AUGUSTE PELLERIN I (1916), Öl auf Leinwand, 92,3 x 78,5 cm, Privatsammlung, siehe: Pierre Schneider, Matisse, London 2002, 331.

Abb. 28: Henri Matisse, PORTRÄT VON AUGUSTE PELLERIN II (1917), Öl auf Leinwand, 150,2 x λθ,2 cm, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou Paris, siehe: Matisse. »La révélation m’est venue de l’Orient«, Ausst. Kat., verfasst von Rémi Labrusse u.a., Musei Capitoli- ni Roma, Florenz 1997, 169.

Abb. 29: FANG-MASKE aus Gabun, bemaltes Holz, Höhe 4κ cm Musée National d’Art Moderne, Georges Pompidou in Paris Abb. 30: Pablo Picasso, LES DEMOISELLES D’AVIGNON (1907), Öl auf Leinwand, 243,9 x 233,7 cm, The Museum of Modern Art New York siehe: http: www.moma.org/explore/conservation/demoiselles/

Abb. 31: Unbekannter Meister, KOPF DES HEILIGEN GEORG, Ende 14. Jahrhundert, Gold und Tem- pera auf Holz, 36 x 28,5 cm, Katharinenkloster Sinai

Abb. 32: GOLDMÜNZE JUSTINIANS I (527-38), Konstantinopel, Durchmesser ca. 2,23 cm

Abb. 33: GOLDMÜNZE JUSTINIANS II (692-695), Rückseite mit Christuskopf, Konstantinopel, Durchmesser ca. 2 cm

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Abb. 34: Henri Matisse, STEHENDER RIFKABÜLE (1912), Öl auf Leinwand, 145 x 96,5 cm, Eremi- tage St. Petersburg, siehe: Elderfield 1992, 233.

Abb. 35: Henri Matisse, VIER SELBSTPORTRÄTS (1939), Kreide auf Papier, jeweils 37, 5 x 26,5 cm, Privatsammlung, siehe: Flam 1982, 210. Abb. 36: Henri Matisse, GRETA PROZOR ›konkreter‹ (Winter 1λ1ηή1θ), Bleistift auf Papier, ηη,η x 3ι cm, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou Paris, siehe: Matisse. Men- schen, Masken, Modelle, Ausst. Kat., hg. von und Bucerius Kunst Forum, 133. Abb. 37: Henri Matisse, GRETA PROZOR ›abstrakter‹ (Winter 1λ1ηή1θ), Bleistift auf Papier, ηη,η x 3ι cm Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou Paris, siehe: Elderfield 1992, 268.

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Abb. 1: Henri Matisse, LA CONVERSATION

Abb. 2: Henri Matisse, PORTRAIT VON MADAME MATISSE

Abb. 3: Henri Matisse; PORTRÄT VON GRETA PROZOR

Abb. 4: Unbekannter Meister, VERKÜNDIGUNG AN MARIA

Abb. 5: Fra Angelico, VERKÜNDIGUNG AN MARIA

Abb. 6: STERBENDER KRIEGER Abb. 7: KLEOBIS UND BITON

Abb. 8: Unbekannter Meister: HEILIGE KATHARINA

Abb. 9: AUGUSTUS VON PRIMAPORTA Abb. 10: Darstellung der Figurenreliefs auf dem Brustpanzer des AUGUSTUS VON PRIMAPORTA

Abb. 11: Giotto: FLUCHT NACH ÄGYPTEN

Abb. 12: Leonardo da Vinci, WASSERSTRUDEL Abb. 13: Leonardo da Vinci, HEILIGER JOHANNES D

Abb. 14: Pietro Perugino, PALA CHIGI

Abb. 15: Jean-Honoré Fragonard, DIE SCHAUKEL

Abb. 16: Henri Matisse, ROTES ATELIER

Abb. 17: Innenansicht von Matisse’ Atelier Abb. 18: Außenansicht von Matisse‘ Atelier

Abb. 19: HAGIA SOPHIA, Schnitt in der Längsachse

Abb. 20: MARKUSDOM, Blick nach Südosten

Abb. 21: MARKUSDOM, Blick in die Gewölbe

Abb. 22: MARKUSDOM/HIMMELFAHRT CHRISTI

Abb. 23: Tizian, VIOLANTE

Abb. 24: Piero della Francesca, BATTISTA SFORZA/ FREDERIGO DA MONTEFELTRO

Abb. 25: Raffael, PORTRÄT VON BALDASSARE CASTIGLIONE Abb. 26: Henri Matisse, PORTRÄT VON ANDRÉ DERAIN

Abb. 27: Henri Matisse, PORTRÄT VON AUGUSTE PELLERIN I Abb. 28: Henri Matisse, PORTRÄT VON A. PELLERIN II

Abb. 29: FANG-MASKE Abb. 30: Picasso, LES DEMOISELLES D‘AVIGNON

Abb. 31: Unbekannter Meister, KOPF DES HEILIGEN GEORG

Abb. 32: GOLDMÜNZE JUSTINIANS I (527-38) Abb. 33: GOLDMÜNZE JUSTINIANS II (692-695)

Abb. 34: Henri Matisse, STEHENDER RIFKABÜLE

Abb. 35: Henri Matisse, VIER SELBSTPORTRÄTS

Abb. 36: Henri Matisse, GRETA PROZOR ›konkreter‹ Abb. 37: Henri Matisse, GRETA PROZOR ›abstrakter‹