Rede von Herrn Oberbürgermeister Jürgen Roters anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel zur Erinnerung an den „Lischka-Prozess“ am 28. Mai 2010, 14 Uhr, Verwaltungsgericht, Appellhofplatz

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Frau Ministerin Müller-Piepenkötter, sehr geehrter Herr Dr. Arntz, sehr geehrte Frau Klarsfeld, sehr geehrter Herr Dr. Faßbender, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Geschichte des Nationalsozialismus (NS) war 1945 nicht zu Ende. Die Auswirkungen der Nationalsozialistischen-Diktatur blieben noch lange in der westdeutschen Gesellschaft spürbar. Und auch 65 Jahre nach Kriegsende gibt es eine lebendige Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Was uns heute selbstverständlich erscheint, war in der Nachkriegszeit jedoch hoch umstritten. Bei den politischen Eliten, in vielen Berufsgruppen und großen Teilen der Bevölkerung gab es die Neigung, die NS-Vergangenheit umzudeuten, zu verschweigen und zu vergessen. Die Inschrift, die heute vor dem Sitzungssaal 101 des Gerichtsgebäudes Appellhof enthüllt wird, erinnert daran. Die Jahrzehnte vor dem 1979 begonnenen „Lischka-Prozess“ waren in vielerlei Hinsicht eine Zeit der Versäumnisse im Umgang mit den früheren NS-Täterinnen und Tätern. Zwar sorgten die Alliierten für die Inhaftierung und Entlassung tausender NS- Funktionäre. Zwar mussten sich zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter des NS- Staates der Entnazifizierung stellen und über ihr früheres Handeln Rechenschaft ablegen. Weil der Wiederaufbau Priorität hatte und man auf „Fachleute“ nicht verzichten mochte, konnten viele NS-Beamte jedoch wieder an ihre früheren Arbeitsstellen zurückkehren.

1 Sicherlich: Einzelne Angehörige der nationalsozialistischen Polizei, der Ärzteschaft, der SS, der NSDAP oder der Wehrmacht wurden wegen der begangenen Verbrechen verurteilt. Seit den 1950er Jahren kam die Strafverfolgung von NS- Tätern jedoch weitgehend zum Erliegen. Und in Politik, Öffentlichkeit und Bevölkerung fand das „Schlussstrichdenken“ zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger.

Meine Damen und Herren, das war auch in Köln so. Während die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung um öffentliche Aufmerksamkeit oder Anerkennung kämpfen mussten, konnten frühere Vertreterinnen und Vertreter des NS-Staates ihre Karrieren fortsetzen oder bürgerliche Existenzen aufbauen. Das reichte vom einfachen Finanzbeamten bis zum früheren Sonderrichter, von mittleren Beamten der Kriminalpolizei bis zu ehemaligen Führern der wie Kurt Lischka. Er war zwar 1950 von einem französischen Militärgericht wegen seiner Mitwirkung an der Judenvernichtung verurteilt worden, entging aber der Bestrafung. Als Prokurist einer Getreidegroßhandlung lebte er lange Jahre unbehelligt in einer Stadt, in der er 1940 noch Leiter der Geheimen Staatspolizei gewesen war.

Als Kurt Lischka 1980 zusammen mit und wegen der Beteiligung an der Ermordung von Zehntausenden französischen Juden verurteilt wurde, war das eine späte Genugtuung für die Angehörigen der Opfer. Es war auch ein Zeichen für einen veränderten Umgang mit der Vergangenheit, wie er seit den 1960er Jahren spürbar wurde. In der Öffentlichkeit mehrten sich kritische Stimmen, die sich gegen „Amnesie“ und „Amnestie“ aussprachen und sich für eine konsequente Ahndung von NS-Verbrecherinnen und Verbrechern einsetzten. In Teilen der Politik gab es Bemühungen, Gesetze zu korrigieren, die NS-Verbrecher lange Zeit vor Strafe geschützt hatten. Und ein Generationswechsel in der Justiz trug dazu bei, dass sich engagierte Staatsanwälte und Richter für die Ahndung der NS- Verbrechen bereit fanden.

Meine Damen und Herren, es waren aber vor allem Betroffene, die diesen Umdenkungsprozess anstießen. Ohne Beate und und die Angehörigen der deportierten französischen Juden wäre der „Lischka-Prozess“ nicht denkbar. Sie lenkten den Blick der Presse

2 darauf, dass der Judenmord in Frankreich ungesühnt war. Sie zeigten, dass die Verantwortlichen dem Zugriff der deutschen Justiz entgangen waren, und sie gaben den Täterinnen und Tätern ein Gesicht. Während der Gerichtsverhandlung gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn waren sie nicht nur Zuhörer; sie verschafften sich auch Gehör und gaben den Opfern eine Stimme.

Für Köln war der „Lischka-Prozess“ ein wichtiges Ereignis. Er erregte in der lokalen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit und fiel in eine Zeit, in der die Stadt über eine kritischere Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit debattierte. Geschichtsinitiativen untersuchten Verfolgung und Widerstand und erinnerten an lange unbeachtete Orte des NS-Terrors. Etwa zur gleichen Zeit, als der „Lischka- Prozess“ die Justiz im Appellhofplatz beschäftigte, machten engagierte Bürgerinnen und Bürger unweit von hier die Kölner Öffentlichkeit auf das erhalten gebliebene Gestapogefängnis im EL-DE-Haus aufmerksam. Bald darauf beschloss der Rat der Stadt Köln, dort eine Gedenkstätte errichten zu lassen. Aus dem 1981 eröffneten Gedenkort ging nach einem Ratsbeschluss von 1987 schließlich das NS-Dokumentationszentrum hervor. Es setzte ein bedeutendes Zeichen für den offenen Umgang der Stadt mit ihrer Vergangenheit und leistet seitdem die wichtige Aufarbeitung der NS-Zeit. Dabei macht die Forschungs- und Bildungsarbeit des NS-Dokumentationszentrums nicht im Jahr 1945 halt, sondern nimmt seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt die Nachgeschichte des Nationalsozialismus in den Blick. Das gilt auch für den „Lischka-Prozess“: Er war bereits 2006 Thema einer vom Jugendclub „Courage“ entwickelten und im NS- Dokumentationszentrum gezeigten Ausstellung.

Auch vor dem Hintergrund des Arbeitsauftrags des NS-Dokumentationszentrums ist es mir ein besonderes Anliegen, an dieser Gedenkveranstaltung teilzunehmen und Sie, liebe Anwesende, im Namen der Stadt Köln herzlich zu begrüßen.

Meine Damen und Herren, die Inschrift, die heute vor dem Sitzungssaal 101 des Gerichtsgebäudes Appellhof enthüllt wird, ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit in der Justiz. Sie hat auch große Bedeutung für die gesamte Stadt – und das Netz der Gedenkorte, das hier inzwischen entstanden ist.

3 Ich freue mich, dass die Erinnerung an den „Lischka-Prozess“ in der Kölner Erinnerungskultur nun einen festen Platz erhält – zum Gedenken an die Opfer und uns allen zur Mahnung.

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