genug. Finanzminister Hans Eichel, derzeit im Urlaub auf Langeoog, vergatterte des- halb vergangene Woche telefonisch die Koalitionsspitzen und die rot-grünen Steuerexperten zum Stillhalten. Zwar sym- pathisieren Eichels Ministeriale ebenfalls mit einer radikalen Reform, doch eine ver- frühte Diskussion, glauben sie, könnte alles torpedieren. In seinem Rundruf mahnte Eichel: Heizt die Debatte nicht weiter an! Zu spät. Der Streit über Strucks Modell hat sich längst zu einer Grundsatzdebatte über den künftigen Kurs der Koalition aus- geweitet. Auch der Verursacher des Dis- puts sieht nicht ein, warum er nun schwei- gen sollte – sehr zum Ärger des Finanz- ministers. Im Fraktionsvorstand raunzte Struck seinen Stellvertreter Poß an: „Ich muss euch nicht fragen, wenn ich mich zu

MELDEPRESS irgendeinem Thema äußere.“ Steuerreformer Struck: „Nicht immer sagen – das geht nicht!“ Und so scharen sich, nach anfänglichem Zögern, immer mehr Unterstützer hinter Struck. Die SPD, fordert Bremens Bürger- STEUERN meister Henning Scherf, dürfe vor dem Thema „nicht weglaufen“. Er empfiehlt ei- nen Schulterschluss mit der Union: „Ohne „Schröders Minenhund“ die wird das ganz schwierig.“ Auch der Mainzer Ministerpräsident Kurt Beck zeigt Die Gewerkschaften sind entsetzt, die Wirtschaft ist begeistert. Sympathie: „Wir brauchen auf mittlere Sicht ein einfacheres Steuersystem.“ Doch auch in der SPD wächst die Unterstützung Breite Zustimmung findet die Radikal- für die radikalen Steuerpläne von Fraktionschef Peter Struck. reform insbesondere beim SPD-Nach- wuchs. „Der Steuerdschungel er CDU-Bundestagsabgeordnete muss ein Ende haben“, findet der Gunnar Uldall galt selbst in der ei- Abgeordnete Christian Lange, 35, Dgenen Partei lange als Störfall. Mit der zu den reformfreudigen Jun- seiner Idee einer radikalen Steuerreform, gen der SPD-Bundestagsfraktion die alle Ausnahmen beseitigt und die Steu- zählt. Und die Grünen-Vordenker ersätze drastisch senkt, erntete der Finanz- Oswald Metzger und Klaus Müller experte viel Spott und Häme. bemängeln allenfalls, dass die Ein- Vergangene Woche kam für Uldall ganz sicht bei den Genossen doch sehr überraschend die Stunde der Genugtuung. spät erfolge. Müller: „Es wäre Ausgerechnet SPD-Fraktionschef Peter schön gewesen, die SPD hätte Struck griff die Idee auf. Strucks Traum: schon während der Koalitionsver- „Ein ganz einfaches System mit höchstens handlungen so gedacht.“ drei Steuersätzen: 15, 25 und 35 Prozent – Bei vielen gestandenen Sozial- und dann Schluss!“ demokraten überwiegen aber die

Die Genossen waren verschreckt, die AP alten Reflexe. Da gilt jeder Ver- Opposition ziemlich baff, nur der Steuer- Italien-Urlauber Schröder: Richtige Richtung such, die Steuersätze für Besser- revoluzzer Uldall nahm’s gelassen. Denn verdiener kräftig zu senken, als schon vor zwei Jahren hatte Struck ihm die automatische Sperre hochziehen und Verrat. Schließlich hatte , anvertraut: „Wenn wir beide zusammen sagen: Das geht nicht!“ als er mit Union und Liberalen über deren eine Steuerreform machen müssten, dann Der Pfeifenraucher erfreut sich dabei Steuerkonzept stritt, den Spitzensatz von könnten wir uns ruck, zuck einigen.“ der Unterstützung des Kanzlers. Zwar gab 53 Prozent lange für nicht verhandelbar Struck erging es nun wie einst Uldall. Als es in den Tagen vor dem Coup keine di- erklärt.Auch Struck wetterte damals gegen sei der Fraktionschef irgendein durchge- rekte Abstimmung, doch schon vor Wo- die „Ungerechtigkeiten“ der Petersberger knallter Hinterbänkler, wurde er von den chen hatte Gerhard Schröder in kleiner Steuerreform. Das Ende der Steuerfreiheit eigenen Leuten abgemeiert. „Neoliberal“ Runde signalisiert, dass er ähnlich denke. bei den Schichtzuschlägen – für ihn da- und „absurd“ sei das Konzept, wetterte Der Vorstoß, befand denn auch Schröders mals „absolut unakzeptabel“. Strucks Stellvertreter Joachim Poß. Die Staatsminister Hans Martin Bury, „geht in Heute hält es Struck, ebenso wie die Gewerkschaften waren wieder einmal ent- die richtige Richtung“. , der Mehrheit der Ökonomen, für eine Mär, setzt. Nur Wirtschaftsverbände und Öko- Finanzexperte der Unions-Bundestags- dass ein höherer Spitzensatz automatisch nomen klatschten Beifall. fraktion, spöttelt schon: „Der Struck mu- ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit bringt. Doch es war kein Ausrutscher in der Hit- tiert zu Schröders Minenhund – so wie Tatsächlich führt das geltende Recht mit ze des Sommers, der Struck da widerfah- einst Möllemann bei Genscher.“ seinen Sonderregeln dazu, dass vor allem ren war. Der SPD-Fraktionschef steht zu Dennoch, so beharren Strucks Kritiker, Vielverdiener ihre Abgabenlast trickreich seiner Empfehlung. Und er möchte sie, komme die Debatte zur Unzeit: Renten, minimieren können. Eine radikale Reform wenn auch erst nach der nächsten Wahl, Sparpaket, Bündnis für Arbeit – all dies könne deshalb wieder ein Stück Gerech- umsetzen: „Wir können doch nicht immer strapaziere den Koalitionsfrieden schon tigkeit herstellen, glaubt Struck: „Besser

78 der spiegel 32/1999 Weniger Subventionen, Steuergeschenke ein Höchstsatz von 35 Prozent, der auch bezahlt wird, als ein theoretischer Satz von und Schlupflöcher... 53 Prozent, der nur auf dem Papier gilt.“ Der Kahlschlag würde zudem eine enor- me Vereinfachung der Steuerregeln brin- gen. „Jeder könnte seine Steuerer- Eine Auswahl wichtiger direkter Zuschüsse und steuerlicher klärung auf einer Postkarte abge- Erleichterungen, die der Staat heute gewährt: ben“, glaubt FDP-Finanzexperte Volumen in Milliarden Mark . Dazu trägt auch der Stufentarif bei. Selbst Eichels Ministeriale lobten jüngst in Ehegattensplitting 40,0 Zuweisungen an die neuen Län- einer Studie, dass sich das Modell „relativ der für betriebliche Investitionen 1,6 Degressive Abschreibung einfach darstellen“ lasse und „leicht ver- für Betriebe 12,6 Zinszuschüsse für Wohn- ständlich“ sei. Die Bundesrepublik, die sich raummodernisierung in als einzige große Industrienation an eine Kilometerpauschale und Ostdeutschland 1,4 Arbeitnehmerpauschale komplizierte „linear-progressive“ Tarif- bei 500 Mark Begrenzung 8,5 Gemeinschaftsaufgabe kurve klammere, stelle „international eine Agrarstruktur 1,3 Ausnahme“ dar. Eigenheimzulagengesetz 9,2 Trotzdem schrecken viele Politiker vor Kinderkomponente im Rahmen Absatzzuschüsse für die der Wohneigentumsförderung 1,2 der Stufenlösung zurück. Denn sie fürch- deutsche Steinkohle 7,5 ten, dass es zu Sprüngen in der Steuerbe- Umsatzsteuerermäßigung für lastung komme: Wer nur ein paar Mark Tarifbegrenzung gewerblicher Umsätze der Zahntechniker 1,0 Einkünfte 4,9 mehr verdiene, der müsse plötzlich 25 statt Wohnungsbau-Prämiengesetz 1,0 15 Prozent zahlen. Die Kritiker verkennen Absetzbarkeit der Kirchensteuer 4,7 freilich, dass der höhere Satz nicht für das Absetzbarkeit der Beiträge gesamte Einkommen gilt – sondern nur für Sonderausgabenabzug für an Parteien 1,0 eigengenutztes Wohneigentum 4,6 jenen Teil, der die Grenze überschreitet. Dieselverbilligung Landwirtschaft 0,8 Wer also etwa über ein zu versteuerndes Steuerbefreiung der Zuschläge für Nachtarbeit u.a. 3,6 Zuschüsse an landwirtschaft- Jahreseinkommen von 30000 Mark ver- liche Unfallversicherung 0,5 fügt, zahlt auf die ersten 13000 Mark, Steuerbegünstigung für Strom das Existenzminimum, überhaupt bei bestimmten Unternehmen 3,5 Eigenkapitalhilfeprogramm zur keine Steuern. Für die nächsten 7000 Gründung selbständiger Sparerfreibetrag 3,3 Existenzen 0,4 Mark zahlt er 15 Prozent, also 1050 Mark. Jene 10000 Mark, die jenseits der Investitionszulage für Zuschüsse an den Steinkohlen- Ausrüstungen 3,0 20000-Mark-Grenze liegen, werden mit 25 bergbau zum Ausgleich von Prozent belastet, also mit 2500 Mark. Umsatzsteuerermäßigung für Kapazitätsanpassungen 0,4 Noch aber ist all dies graue Theorie. Um kulturelle u.a. Leistungen 2,5 die Debatte mit Zahlen zu unterfüttern, will Struck seine Reform nun von den Ex- perten des Finanzministeriums und der Fraktion durchrechnen lassen. Bislang gibt es allein Schätzungen der Opposition. Demnach würde das Drei-Stu- ... stattdessen niedrigere Steuern fen-Modell ein Loch von über 100 Milliar- SPITZENSTEUERSATZ den Mark in die Staatskasse reißen. Gleich- Steuertarife für Unverheiratete 55,9% zeitig ließen sich aber, wie Gunnar Uldall geltendes Recht, einschließlich Solidaritätszuschlag errechnete, rund 60 Milliarden Mark durch die „Verbreiterung der Bemessungsgrund- Reformvorschlag Struck, Uldall, FDP 50% lage“ einsammeln, wie das Streichen von Ausnahmen im Finanzdeutsch heißt. 38,7% Welchen Proteststurm solch ein Kraftakt 40% entfachen würde, muss der Regierung spä- EINGANGS- testens nach ihren ersten zaghaften STEUERSATZ Reformschritten klar sein. Schon ihr 30% 25,2% 35% Vorhaben, auf die Teilwertabschrei- SPITZENSTEUERSATZ ab 60 000 Mark bung zu verzichten oder Bewirtungs- spesen nicht mehr anzuerkennen, provo- zierte Protest – mit der Folge, dass die Re- 20% 25% bei 20000 bis 60000 Mark gierung prompt zurückschreckte. Peter Struck ist dennoch zuversichtlich, 15% EINGANGSSTEUERSATZ dass sein Versuchsballon nicht zerplatzen 10% wird: „Man kann den Ballon ja auch wieder einholen“, sagt er, „und irgend- GRUNDFREIBETRAG 13000 Mark wann wieder steigen lassen.“ Dem Kanz- 0% ler, glaubt Bremens Regierungschef Scherf, 0 20 40 60 80 100 120 Mark Mark wird das gefallen: „Der lauert auf eine ra- zu versteuerndes Jahreseinkommen in tausend Mark dikale Reform. Schröder will doch zeigen, dass er zu großen Schritten fähig ist.“ Horand Knaup, Ulrich Schäfer

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