Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

HERIBERT SMOLINSKY

Streit um die Exegese? Die Funktion des Schriftargumentes in der Kontroverstheologie des Hieronymus Emser

Originalbeitrag erschienen in: Rolf Decot (Hrsg.): Zum Gedenken an Joseph Lortz (1887 – 1975) : Beiträge zur Reformationsgeschichte und Ökumene. Stuttgart: Steiner, 1989, S.[358] - 375 HERIBERT SMOLINSKY

STREIT UM DIE EXEGESE? DIE FUNKTION DES SCHRIFTARGUMENTES IN DER KONTROVERSTHEOLOGIE DES HIERONYMUS EMSER1

L EINFÜHRUNG UND FRAGESTELLUNG

Die katholische Kontroverstheologie der Reformationszeit ist durch verschiede- ne Faktoren geprägt worden: Einmal schrieb man normalerweise „aus der Defensive" und war so gezwungen, sich reformatorischen Erkenntnisprozessen zu stellen, die überraschend kamen und deren Wucht man schwer etwas Überzeugendes entgegen- setzen konnte. Das Agieren aus der Defensive führte dazu, daß zu Beginn keine systematische Gesamtkonzeption entwickelt wurde, sondern diese sich erst im Laufe der Zeit entfalten konnte. Zudem verwirrte die Vielfalt der Positionen und Themen und gab Anlaß, den Reformatoren Selbstwidersprüche und haltlose Wandlungsfähig- keit vorzuwerfen, wie man es programmatisch bei Johannes Cochläus 1529 im „Septiceps Lutherus"2 findet. Gleichzeitig mußten die Kontroversisten auf diese Vielfalt eingehen. Von daher erklärt es sich, daß neben der störenden Methode, Satz- für-Satz den Gegner zu widerlegen, oft eine derartige Fülle verschiedenster Themen in einer einzigen Schrift behandelt ist, daß der Leser keinen zentral durchgehaltenen Gedankengang finden kann.3 Relativ früh erkannte die Kontroverstheologie, daß zu den wichtigsten reforma- torischen Prinzipien die Berufung auf die Schrift allein gehörte, von woher man die Kirchen- und Theologiekritik begründete. Während die Rechtfertigungslehre oft am Rande behandelt wurde, gab es daher kaum eine kontroverstheologische Arbeit, die nicht an irgendeiner Stelle über das Verhältnis von Schrift und Tradition sowie über die Autorität der Kirche in ihrer Beziehung zur Bibel in irgendeiner Weise reflektiert

1 Vortrag, gehalten am 22. Oktober 1987 im Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Die Vortragsform wurde beibehalten; Anmerkungen sind auf das Wesentliche beschränkt. 2 Johannes Cochläus, Septiceps Lutherus, ubique sibi, suis scriptis, contrarius, Leipzig 1529 (Martin Spahn, Johannes Cochläus, Berlin 1898: Schriftenverzeichnis Nr. 61, S. 351). Zu Cochläus vgl. REMIGIUS BÄUMER, Johannes Cochläus: TRE 8,140-146; DERS., Johannes Cochlae- us: Katholische Theologen der Reformationszeit 1. Hrsg. von Erwin Iserloh (KLK 44), Münster 1984, S. 73-81. 3 Vgl. JOSEPH LoRrz, Wert und Grenzen der katholischen Kontroverstheologie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts: Um Reform und . Zur Frage nach dem Wesen des „Reforma- torischen" bei . Hrsg. von August Franzen (KLK 27-28), Münster 1968, S. 9-32. Streit um die Exegese? 359 hätte. Man wies auf die Entstehung und kirchliche Rezeption des Bibelkanons oder auf dogmatische Begriffe wie Trinität und Person hin, um zu beweisen, daß die Schrift eine sie stützende Autorität brauche. Der Satz des Augustinus „Evangelio non crederem nisi me catholicae ecclesiae commoveret auctoritas" konnte sich in diesem Zusammenhang als hilfreich erweisen.' Als Beispiel sei das Enchiridion des Johannes Eck genannt, der mehrfach auf diesen Augustinustext zurückgriff. 5 Die Kirche als letzte Instanz einer authentischen Schriftauslegung mußte mit einer gewissen Not- wendigkeit postuliert werden, wenn man die beiden je verschiedenen Lehren von der Claritas Scripturae oder einer individuellen pneumatologischen Exegese ablehnte. Spätestens seit dem Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli kam es zu neuen Qualitäten der Argumentation: Katholischerseits konnte man auf das Scheitern des Sola-Scriptura-Prinzips und der Lehre von der Klarheit der Schrift hinweisen, während die Bedeutung der Vätertexte und der Tradition auch den Protestanten einleuchtender wurde.' Die reformationsgeschichtliche Forschung hat sich in einer Reihe von Einzelun- tersuchungen mit dem Stellenwert des Schriftargumentes, vor allem der grundlegen- den Beziehung zwischen Schrift, Tradition und Kirche befaßt. Zu nennen sind die Arbeiten über Johannes Dietenberger,7 Cajetan8 und Heinrichs' VIII. „Assertio

4 Augustinus, Contra Epistolam Fundamenti: CSEL 25,1,197. Zur Verwertung in der spätmittelal- terlichen Tradition vgl. HEIKO AUGUSTINUS OBERMAN, Spätscholastik und Reformation. Bd. 1: Der Herbst der mittelalterliche Theologie, Zürich 1965, S. 343f; HELMUT FELD, Die Anfänge der modernen biblischen Hermeneutik in der spätmittelalterlichen Theologie (Institut für Europäi- sche Geschichte Mainz, Vorträge Nr. 66), Wiesbaden 1977, S. 71f. Vgl. unten Anm. 33. 5 Johannes Eck, Enchiridion locorum communium. Hrsg. von Fierre Fraenkel (CCath 34), Münster 1979, Kp. 1, S. 28; Kp. 38, S. 398. 6 Vgl. FRIEDRICH BEISSER, Luthers Schriftverständnis: Martin Luther ,Reformator und Vater im Glauben. Hrsg. von PETER MANNS (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 18), Stuttgart 1985, S. 25-37; HANS-CHRISTIAN DANIEL, Luthers Ansatz der claritas scripturae in den Schriften Assertio omnium Articulorum und Grund und Ursach aller Artikel (1520/1521): Thesaurus Lutheri. Auf der Suche nach neuen Paradigmen der Luther-Forschung. Hrsg. von Tuomo MANNERMAA u.a., Helsinki 1987, S. 279-290. Zum Väterargument vgl. PIERRE FRAENKEL, Testimonia Patrum. The Function of the Patristic Argument in the Theology of Philip Melanchthon (Travaux dHumanisme et Renaissance Bd. 46), Geneve 1961. Allgemein: PONTIEN POLMAN, Die polemische Methode der ersten Gegner der Reformation (KLK 4), Münster 1931; RICHARD STAUFFER, Interpretes de la Bible (Theologie historique 57) Paris 1980; JERRY H. BENTLEY, Humanists and Holy Writ. Scholarship in the Renaissance, Princeton/New Jersey 1983 (bes. zu Erasmus); OLIVIER FATIO - PIERRE FRAENKEL (Hg.), Histoire de lex6gese au XVIe siecle, Geneve 1978. Vgl. unten Anm. 33ff. 7 Vgl. ULRICH HORST, Das Verhältnis von Heiliger Schrift und Kirche nach Johannes Dietenberger: Theologie und Philosophie 46 (1971) 223-247; Erwin Iserloh - Peter Fabisch (Hg.), Johannes Dietenberger OP, Phimostomus scripturariorum, Köln 1532 (CCath 38), Münster 1985, S. XLI- XLV; PETER FABISCH, Johannes Dietenberger: Katholische Theologen der Reformationszeit 1 (wie Anm. 2), S. 82-89. 8 Vgl. GEORGE H. TAVARD, Ecriture ou dglise? La crise de la Rdforme (Unam Sanctam 42), Paris 360 Heribert Smolinsky septem sacramentorum,"9 während die Monographien über einzelne Kontroverstheo- logen im Zusammenhang der materialen Themen den Schriftgebrauch mit je unter- schiedlicher Intensität behandeln."' Was eine Gesamtübersicht betrifft, so hat Pontien Polman 1929 bzw. 1931 eine kurze Zusammenfassung über „Die polemische Methode der ersten Gegner der Reformation" versucht und dabei auch das Schriftargument gewürdigt» Einen thematisch gezielteren Überblick bot 1959 G.H. Tavard, der Cajetan, Prierias, Eck und Cochläus untersuchte.12 Ausreichend sind diese Arbeiten nicht; sie bedeuten erste Ansätze einer noch ausstehenden zusammenfassenden Übersicht. Für die Situation ist es bezeichnend, daß 1980 auf dem Tübinger Symposion „Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit" zwar ein Vortrag über die „Argumentation mit Geschichte in frühneuzeitlichen Flugschriften" gehalten wurde, aber Vergleich- bares für die Schriftargumentation fehlte.' Im ganzen gilt noch heute, was Polman 1932 in seinem großen Werk „L`tMment historique dans la Controverse religieuse du XVIe siede" feststellte: Eine umfassende Arbeit zur Bibelverwertung in der Kontroverstheologie bleibt ein Desiderat.14

1963, S. 167-169: A.F. voN GUNrEN, La contribution des ,Hdbreux` ä loeuvre ex6g6tique de Cajetan: Fatio-Fraenkel (wie Anm. 6), S. 46-83; T. H.L. PARKER, Commentaries on the Epistle to the Romans, 1532-1542, Edinburgh 1986. Allgemein: JARED WICKS, Cajetan und die Anfänge der Reformation (KLK 43), Münster 1983; BARBARA HALLENSLEBEN, Communicatio. Anthropologie und Gnadenlehre bei Thomas de Vio Cajetan (RGST 123), Münster 1985; BERNHARD LOHSE, Cajetan und Luther – Zur Begegnung von Thomismus und Reformation: Kerygma und Dogma 32 (1986) 150-169; ERWIN ISERLOH - BARBARA HALLENSLEBEN, Cajetan de Vio: TRE 7,538-546. 9 Vgl. JOHANNES BEUMER, Die Opposition gegen das lutherische Schriftprinzip in der Assertio septem sacramentorum HeinrichsVIII. von England: Gregorianum 42 (1961) 97-106. 10 Z.B. für Johannes Eck: ERWIN ISERLOH, Die Eucharistie in der Darstellung des Johannes Eck (RGST 73-74), Münster 1950. Ähnliches gilt für die meisten Studien zu den katholischen Kontroverstheologen des 16. Jhdts. Der defensive Charakter dieser Schriften erschwert ihre Systematisierung. 11 POLMAN (wie Anm. 6); zuerst erschienen in der RHE 25 (1929) 471-506. 12 TAVARD (wie Anm. 8). Der englische Titel: Holy Writ or Holy Church? The Crisis of the Protestant Reformation, New York 1959. 13 JULIANE MARSCHALCK, Argumentation mit Geschichte in frühneuzeitlichen Flugschriften: Flug- schriften als Massenmedium der Reformationszeit. Hrsg. von HANS-JOACHIM KÖHLER (Spätmittel- alter und Frühe Neuzeit Bd. 13), Tübingen 1981, S. 225-241. Eine der wenigen Untersuchungen zum Schriftgebrauch bei HEINZ SCIIEIBLE, Das reformatorische Schriftverständnis in der Flug- schrift „Vom alten und nüen Gott": Kontinuität und Umbruch. Theologie und Frömmigkeit in Flugschriften und Kleinliteratur an der Wende vom 15. zum 16. Jhdt. Hrsg. von JOSEF NOLTE u.a. (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit Bd. 2), Stuttgart 1978, S. 178-188. 14 PormEN POLMAN, Lül6ment historique dans la controverse religieuse du XVIe siede, Gembloux 1932, S. IX: „Nous ne nous aretons donc pas ä 6tudier la manibre dont on se servit alors de largument scripturaire; cette 6tude pourrait faire lobjet dun travail plus dtendu et peut-Atre plus interessant que le nötre". Streit um die Exegese? 361

Wenn hier über „Streit um die Exegese? Die Funktion des Schriftargumentes in der Kontroverstheologie des Hieronymus Emser" gesprochen wird, dann gilt alles bisher Gesagte auch für ihn, wozu erschwerend sein Mangel an Systematik und begrifflich distinguierender Schärfe kommt.'5 Diese Defizite werden durch einige günstige Umstände gemildert. Das Werk Emsers zeigt Entwicklungen, die heraus- gearbeitet werden können, und es enthält Reflexionen auf hermeneutische Regeln, welche die Frage zulassen, wieweit es sich nur um einen „Streit um die Exegese" oder um tiefergreifende theologische Grundentscheidungen handelt. Aus diesen Gründen soll die Funktion des Schriftargumentes in seiner Kontroverstheologie dargestellt und dessen Bedingungen, Entwicklungen und Strukturen verdeutlicht werden.

II. VORAUSSETZUNGEN UND ELEMENTE DER ENTWICKLUNG

Als der Dresdener Hofkaplan Hieronymus Emser (1478-1527) als Zuhörer der Leipziger Disputation (1519) und Gesprächspartner Luthers mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in den folgenden literarischen Streit hineingezogen wurde, war er von seinen bisherigen Interessen und Aktivitäten her keineswegs prädestiniert, sich fundiert mit der methodisch und inhaltlich auf die Schrift zentrierten Theologie auseinanderzusetzen, die in Leipzig u.a. in der Diskussion über Mt 16, 18 und Joh. 21,15 ff erprobt wurde. 16 Die Kontakte mit Humanisten und humanistisch interessier- ten Kreisen wie Johannes Amerbach in ,'' in Straßburg, dem Erfurter Humanistenkreis, Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden in Augsburg, Willibald Pirckheimer in Nürnberg und ab 1516/17 durch Pirckheimers Vermittlung mit Erasmus von Rotterdam hatten zwar das sprachliche Interesse geweckt, wie Emsers Gedichte und seine „Musterbriefe" belegen, aber trotz des Theologiestu- diums in Basel, von dem er 1523 behauptete, er habe auch Griechisch und Hebräisch geierrita und dem in Leipzig erworbenen theologischen Baccalaureat ist nicht

15 Vgl. zu Emser: JOSEF STEINRUCK, Hieronymus Emser: TRE 9, 576-580; HERIBERT SMOLINSKY, Augustin von Alveldt und Hieronymus Emser. Eine Untersuchung zur Kontroverstheologie der frühen Reformationszeit im Herzogtum Sachsen (RGST 122), Münster 1984; DERS., Hieronymus Emser: Katholische Theologen der Reformationszeit 1 (wie Anm. 2) S. 37-46. 16 Vgl. ERNST KAHLER, Beobachtungen zum Problem von Schrift und Tradition in der Leipziger Disputation von 1519: Hören und Handeln. Festschrift Ernst Wolf. Hrsg. von HELMUT GoumrrzER - HELLMUT TRAUB, München 1962, S. 214-229; ERWIN ISERLOH, Johannes Eck, 1486-1543 (KLK 41), Münster 1981, S. 28-46. Siehe unten Anm. 21. 17 Vgl. SMOLINSKY, Alveldt und Emser 24-27. Zum Erfurter Humanistenkreis vgl. HELMAR JUNG- HANS, Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen 1985, S. 31-49. 18 Emser, Wyder den falschgenanten Ecclesiasten und warhafftigen Ertzketzer Martinum Luter, Leipzig 1523, Blatt Mij: „und mir beide gramatick kriechisch und Hebraisch, die ich vor vier und zweyntzig Jaren gehort hab". Zur Einordnung Emsers als Hagiograph vgl. JAMES MICHAEL WEISS, Hagiography by German humanists, 1483-1516: The Journal of Medieval and Renaissance Studies 15 (1985) 299-310. 362 Heribert Smolinsky

nachweisbar, daß er ernsthaft an der humanistischen, am korrekten ursprachlichen Text und ihrer in rhetorisch-gelehrter Methode praktizierten Bibelauslegung sowie deren Konsequenzen oder gar an scholastischer Theologie interessiert war. Wichtiger scheint ihm das Studium des kanonischen Rechtes gewesen zu sein, denn um 1505 erlangte er in Leipzig den akademischen Grad eines Lizentiaten, den er später gerne führte. Die auf Kirche und Theologie bezogenen Schriften, welche Emser bis 1519 verfaßte, waren Lebensviten des Meissener Bischofs , mit denen er im Auftrag Herzog Georgs des Bärtigen dessen Lieblingsprojekt, die Kanonisation des sächsi- schen Bischofs fördern sollte, womit man 1524 endlich Erfolg hatte. Dem literari- schen Genus entsprechend waren diese Schriften von geringem theologischen, aber hohem geschichtlich-legendären Wert. Das soll nicht bedeuten, man könne dem frühen Emser vorwerfen, er habe keinen Blick für die religiösen Bedürfnisse seiner Zeit gehabt. Im Gegenteil: Als Editor, eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, zeigte er Sinn für Qualität und Modernität, als er 1515 das „Enchiridion militis christiani" des Erasmus bei Valentin Schuhmann in Leipzig erscheinen ließ; einige Jahre bevor dieses kleine Büchlein mit der durch den Brief an Hans Volz erweiterten Fassung für eine kurze Zeit von 1519-1521 große Wirkung entfaltete.' 9 In der Widmung an den Propst Ernst von Schleinitz sprach Emser davon, daß hier eine „Summe der Lehre vom christlichen Leben" geboten werde.2° Bei der Untersuchung seiner Kontroverstheologie wird darauf zu achten sein, wie weit er sich diese „Summe" aneignete, in der Erasmus auf eine christolo- gisch begründete individualisierte Ethik, auf Verinnerlichung und den Primat des Unsichtbaren drängte. Im Zusammenhang unserer Fragestellung genügt es, die Leipziger Disputation kurz zu erwähnen, durch die Emser in eine erste literarische Kontroverse mit Luther verwickelt wurde. In Leipzig disputierte Johannes Eck über das Thema ,päpstlicher Primat' und sprach damit einen zentralen Punkt der römischen Ekklesiologie an. Man hat konstatiert, daß „allein an" diesem „Streit" „die welthistorische Bedeutung der ganzen Disputation" hänge.21 Was Emser literarisch aufgriff, war nicht primär die naheliegende Frage nach dem Papsttum, sondern die „herzoglich-sächsische" Per-

19 Enchiridion Erasmi Roterodami...de milite Christiano, Leipzig 1515. Weitere Drucke der Emserschen Ausgabe sind nachgewiesen bei Irmgard Bezzel, Erasmusdrucke des 16. Jhdts. in Bayerischen Bibliotheken. Ein bibliographisches Verzeichnis (Hiersemanns bibliographische Handbücher 1), Stuttgart 1979, Nr. 845. 847. 856, 858. Zum Inhalt und zur Wirkung vgl. ROBERT STUPPERICH, Das Enchiridion militis christiani des Erasmus von Rotterdam nach seiner Entste- hung, seinem Sinn und Charakter: ARG 69 (1978) 5-23; CORNELIS AUGUSTUN, Erasmus von Rotterdam. Leben – Werk – Wirkung, München 1986, S. 43; LP.oN-E. HALKIN, Erasme parmi nous, Paris 1987, S. 91-100. Zum Einfluß des Erasmus auf das Herzogtum Sachsen vgl. GÜNTHER WARTENBERG, Zum „Erasmianismus" am Dresdener Hof Georgs des Bärtigen: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis 66 (1986) 2-16. 20 Widmungsvorrede zum Enchiridion (wie Anm. 19) Blatt AA). 21 KURT-VICTOR SELGE, Die Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck: ZKG 86 (1975) 28. Streit um die Exegese? 363

spektive, welche sich auf eine mögliche Übereinstimmung Luthers mit den Hussiten richtete und jahrelang die Diskussion in Sachsen prägte. Folgerichtig lautete der Titel von Emsers erster Flugschrift „De disputatione Lipsicensi, quantum ad Boemos obiter deflexa est", die er in die Form eines öffentlichen Briefes an den Administrator der Prager Erzdiözese, den Leitmeritzer Propst Johann Zack kleidete. 22 Der Titel verrät seine Kenntnis darüber, daß zentral nicht über die Hussiten diskutiert worden war, aber gerade dieses „beiläufig" konnte für Luther gefährlich werden und ihn als hussitischen Ketzer brandmarken. So wurde die Emsersche Schrift von dem Refor- mator als raffinierter Versuch gewertet, ihn mit der Aussage, er sei nicht ein Patron der Hussiten, zum implizierten Widerruf der ganzen eigenen Lehre zu zwingen.23 Es fällt heute schwer zu entscheiden, ob Luther mit seiner Interpretation recht hatte und Emser genügend taktische Begabung für ein derartiges Vorgehen besaß. Was das Schriftargument betrifft, so spielte es unter solchen Umständen eine sekundäre Rolle und kommt nur in einer kurzen Begründung des päpstlichen Primates vor. Unter Anwendung des Schemas „Figur-Erfüllung" sieht Emser im alttestamentlichen Hohenpriester Aaron den Papst präfiguriert, aber er ist sich selbst nicht gewiß, ob dieses Argument ausreicht; daher hofft er auf bessere Belege. 24 Der Zusammenhang zwischen der Schrift und ihrer Auslegung durch die Kirchenväter sowie die hermeneutischen Prinzipien, welche später in den Mittelpunkt der Kontro- versen rücken sollten, stehen 1519 am Rande.

III. DER REFLEKTIERTE SCHRIFTGEBRAUCH BEI EMSER

Solange keine mit der Entwicklungsgeschichte verknüpfte thematische, die Argumentationsstruktur beachtende und die Wirkungsgeschichte einbeziehende Übersicht zur katholischen Kontroverstheologie des 16. Jahrhunderts vorliegt, ist es schwierig, über das wachsende Interesse an der Bibel, ihrer Auslegung und kontro- verstheologischen Funktion auf altgläubiger Seite eine allgemeine Aussage zu machen. Ein solches Interesse läßt sich für 1520 und die folgenden Jahre belegen, und zwar aus folgenden Gründen: Die literarische Produktivität Luthers, die in seinen großen Programmschriften einen Höhepunkt erreichte, fand 1520 größte Resonanz und prägte innerhalb kurzer Zeit die lesefähige Öffentlichkeit. Bildpropaganda, Flugblätter, Satiren, Pasquillen, Gestik etc. verstärkten diesen Effekt und trugen die reformatorischen Ideen in die breite Masse. Der Versuch, mit dem Rechtsmittel der Bannandrohung einzugreifen, bestätigte eher Luthers Popularität, als daß eine

22 Hrsg. von FRANZ XAVER THURNHOFER (CCath 4), Münster 1921. Vgl. SMOLINSKY, Alveldt und Emser 37f. 223-238. 23 Ad aegocerotem Emserianum M. Lutheri additio, 1519, WA 2,665. 24 Emser, De Disputatione 36. Ders., A venatione luteriana aegocerotis assertio. Hrsg. von Thurn- hofer (wie Anm. 22) 68-70. Vgl. SMOLINSKY, Alveldt und Emser 232-235. 364 Heribert Smolinsky abschwächende Wirkung zu beobachten gewesen wäre. Die Entwicklung kulminier- te in der demonstrativen Verbrennung der Bannandrohungsbulle und des Geistlichen Rechts, womit zugleich Schriften Emsers am 10. Dezember 1520 vor dem Wittenber- ger Elstertor dem Feuer übergeben wurden. Parallel zu der wachsenden Öffentlich- keit kam es zu einer inhaltlichen Radikalisierung der reformatorischen Position, wie sie dogmatisch am deutlichsten in Luthers „De Captivitate Babylonica" greifbar ist.23 Dieser Situation mußte sich die katholische Kontroverstheologie stellen. Auf der Ebene der Öffentlichkeit war von ihr eine verstärkte literarische Aktivität gefordert; auf der Ebene der Argumentation hohe Überzeugungskraft, wenn man konkurrieren wollte. Glaubt man der reformatorischen Propaganda, dann breitete sich in weiten Kreisen ein wachsendes Verlangen nach Legitimierung der katholischen Lehre und Praxis durch die Schrift aus, was Reflexionen über das Sola-Scriptura-Prinzip, die Schriftauslegung und die Tradition der Kirche notwendig provozierte.26 Es ist zu vermuten, daß in erster Linie die befürchtete Wirkung auf das „Volk" und die Sorge, es könne zu einem Aufruhr kommen, Herzog Georg von Sachsen motivierten, Hieronymus Emser um eine Widerlegung von Luthers wirksamster und populärster Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation", die im August 1520 erschienen war, zu bitten. Jedenfalls spricht Emser von dem „Obersten", mit dessen Hilfe er Luther angreifen wolle, was bei der zentralen Stellung, welche der Herzog in der Koordination der sächsischen Kontroverstheologie einnahm, ein Hinweis auf dessen Aktivität sein kann." Emser verfaßte Ende 1520/Anfang 1521 die umfangrei-

25 Vgl. WA 6,497-573; MARTIN Bnzcwr, Martin Luther. Bd. I: Sein Weg zur Reformation 1483-1521, Stuttgart 1981, S. 362-366. Zur Öffentlichkeit vgl. R.W. SCRIBNER, For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, Cambridge u.a. 1981; KÖHLER, Flugschriften als Massenmedium (wie Anm. 13); FRANZISKA CONRAD, Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft. Zur Rezeption reformatorischer Theologie im Elsaß (Veröffentli- chungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 116), Stuttgart 1984,5.49-85; RICHARD G. COM, Pamphlet woodcuts in the communication process of Reformation Germany: Pietas et societas. New Trends in Reformation Social History. Essays in Memory of Harold J. Grimm, Ann Arbor 1985, S. 103-122; RICHARD A. CRoFrs, Printing, Reform, and the Catholic Reformation in Germany (1521-1545): The Sixteenth Century Journal 16 (1985) 369-381; WOLFGANG WEBER, Bemerkungen zu Luthers praktischem Beitrag bei der Ausbreitung und Durchsetzung seiner Lehre: ZKG 97 (1986) 309-333. 26 Vgl. die Beispiele in der Anm. 25 genannten Literatur; z.B. den Holzschnitt „Die göttliche Mühle" (1520) und die Satire „Karsthans". 27 Hieronymus Emser, Wider das unchristenliche buch Martini Luters Augustiners, an den Tewt- schen Adel außgangen, Leipzig 1521. Hrsg. von Ludwig Enders. Bd. I, Halle 1980, S. 8: „mit hülff des öbersten antzugreyffen". Zu Georg von Sachsen: EncE WOLLAST, Luther und die katholischen Fürsten: Luther und die politische Welt. Hrsg. von ERWIN ISERLOH - GERHARD MÜLLER (Historische Forschungen 9), Stuttgart 1984, S. 37-63; HELMAR JUNGHANS, Georg von Sachsen: TRE 12, 385-389 (weit. Lit.). Zum Einfluß Georgs auf die Kontroverstheologie vgl. SMOLINSKY, Alveldt und Emser 311-336. Streit um die Exegese? 365 che Streitschrift „Wider das unchristenliche buch Martini Luters Augustiners an den Tewtschen Adel außgangen", der eine umfangreiche, polemisch akzentuierte litera- rische Kontroverse in Schrift und Gegenschrift folgte.28 Die glänzend geschriebene „Adelsschrift" hatte publikumswirksam Reformfor- derungen der zeitgenössischen Gravamina aufgegriffen, theologisch tiefergehend in prägnanter, biblisch fundierter Argumentation die Struktur der Römischen Kirche, ihre Autoritäts- und Rechtsansprüche und vor allem die Lehre vom Amtspriestertum infrage gestellt. Mit den Schriftstellen 1 Petr 2,9 „Ihr seid ein auserwähltes Ge- schlecht, ein königliches Priestertum", den eindrucksvollen Hinweisen auf den „geistlichen Menschen", der nach 1 Kor 2,15 alles richte, und der Schlüsselgewalt der ganzen Gemeinde (Mt 18,18) belegte Luther das allgemeine Priestertum und das Recht eines jeden Christen, die Schrift auszulegen. Die zwingende Kraft des bibli- schen Wortes sah er durch eine angemaßte Auslegungsautorität des Papstes gelähmt, die als „Mauer", mit der sich die Römer unangreifbar machten, fallen mußte." Damit waren die konkrete Auslegung bestimmter Schriftstellen und die Frage, wer letztlich autoritativ das Wort Gottes interpretieren könne, in fundamentaler Weise zur Diskussion gestellt. Es ist ein Verdienst Emsers, daß er diese Probleme erkannte und den Versuch wagte, sie zu lösen, indem er die Forderung nach einer schriftgemäßen Begründung von Theologie und Kirche methodologisch zu klären suchte. Sein Verfahren läßt sich mit wenigen Sätzen darstellen. Er hat es in die Bilder einer an der Bibel orientierten Kampfmetaphorik gefaßt: Schwert, Spieß und Degen sollten seine Rüstung sein. Dahinter steht die Vorstellung vom „Miles Christianus", die Emser von Erasmus her kannte. 3° Die erste Metapher war allerdings inkonse- quent: Im Anschluß an Eph 6,17 „Nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes" deklariert er nicht nur das „geistlich ausgelegte" Wort der Schrift als Schwert, sondern zusätzlich „die in der Schrift nicht enthaltenen ungeschriebenen Traditionen" hierzu. 3 Die zweite Metapher ist der Spieß, d.h. der Brauch und die Übung der Kirche, welche nicht in die Irre gehen kann. Die dritte ist der Degen, d.h. die Auslegung der Schrift durch den Brauch, die Kirchenväter und die

28 Die Schriften sind ediert von Ludwig Enders, Luther und Emser. Ihre Streitschriften aus dem Jahre 1521, 2 Bände, Halle 1890-1892; siehe auch WA 7,894ff. Vgl. SMOLINSKY, Alveldt und Emser 238-275. 29 Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, WA 6, 404-469. Vgl. BRECHT, Martin Luther I, 352-361. 30 Vgl. Anm. 19. Siehe auch ANDREAS WANG, Der ,Miles Christianus im 16. und 17. Jahrhundert und seine mittelalterliche Tradition (Mikrokosmos 1), Bern-Frankfurt 1975, S. 112f. 31 Emser, Wider das unchristenliche buch (wie Anm. 27) 9f. Vgl. SMOLINSKY, Alveldt und Emser 250. 366 Heribert Smolinsky

Vernunft, wobei die Rezeption durch die Kirche das entscheidende Kriterium für die Wahrheit ist.32 Emser weist der Schrift nicht nur eine eingeschränkte Funktion zu, indem er sie materialiter durch die kirchliche Tradition ergänzt, sondern qualifiziert sie in dreifa- cher Weise: 1. Gegen die „buchstäbliche" Auslegung Luthers wird die „geistliche" Auslegung gesetzt, wobei er sich auf 2 Kor 3,6 „Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig" beruft. 2. Diese Auslegung erschließt sich nur im Zusammenhang mit der Tradition, speziell mit den von der Kirche rezipierten Texten der Kirchenväter und der kirchlichen Praxis. 3. Die Autorität der vom Heiligen Geist geleiteten Kirche ist die letzte Garantie der Wahrheit. Die Auffassung Luthers, daß die Väter nur insofern von Wert sind, als sie an der Schrift gemessen werden können, und in die Schrift hineinführen, sowie daß die „Schrift mit Schrift" zu erklären sei, wird durch Emser zugunsten einer unklaren Dialektik von Väterexegese, kirchlicher Praxis und Auto- rität abgelehnt. Es war ein schwieriges Problem, das ein bis dahin in der theologischen Reflexion ungeübter Kontroversist zum Gegenstand des Streites machte. Die Scholastik kannte eine lange Tradition im Disput um das Thema Schrift, Tradition und Kirche, und Wendelin Steinbach (+ 1519), ein Schüler Gabriel Biels, hatte scharfsinnig in seinen Kommentaren zum Galater- und Hebräerbrief kurz vor der Reformation darüber reflektiert. Nach Helmut Feld kommt Steinbach zu dem Ergebnis, „daß die Gewohn- heit der Kirche eine höhere Achtung und Autorität genießt als die Schrift", was an Emser erinnern könnte; aber dahinter stand eine ausgefaltete, an Johannes Gerson orientierte Ekklesiologie, die den Begründungszusammenhang lieferte, und außer- dem war Steinbach im Unterschied zu Emser vom Literalsinn ausgegangen.33 Auch

32 Emser, Wider das unchristenliche buch (wie Anm. 27) 1Off. Vgl. Augustinus, De Trinitate IV, 6: „Contra rationem nemo sobrius, contra scripturas nemo christianus, contra ecclesiam nemo pacificus senserit" (CSEL 25,1 S. 175). Die Augustinusstelle zitiert bei Emser, Wider das unchristenliche buch 14. 33 FELD, Die Anfänge der modernen biblischen Hermeneutik (wie Anm. 4) 82. Vgl. DERS., Die theologischen Hauptthemen der Hebräerbrief-Vorlesung Wendelin Steinbachs: Augustiniana 37 (1987) 187-252, bes. 204-210; DERS., Martin Luthers und Wendelin Steinbachs Vorlesungen über den Hebräerbrief (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 62), Wiesbaden 1971, S. 127-163. Allgemein zu „Schrift – Tradition": OBERMAN, Der Herbst der mittelalterlichen Theologie (wie Anm. 4) 335-382; HERMANN SCHÜSSLER, Der Primat der Heiligen Schrift als theologisches und kanonistisches Problem im Spätmittelalter (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz Bd. 86), Wiesbaden 1977. Wichtige Beobachtungen bei Hmmil. FELD, Die Wiedergeburt des Paulinismus im europäischen Humanismus: Catholica 36 (1982) 294-327, bes. 312-316. Zum humanistischen Schriftverständnis vgl. außer der folgenden Anm. GUY BEDOUELLE, Leftvre dEtaples et lintelligence des Ecritures (Travaux dHumanisme et Renaissance 152), Genbve 1976. Interessant ist die Position Steinbachs: „Er kommt hier zu einer starken Betonung des ,sensus litteralis primarius` , der nicht unbedingt identisch ist mit dem buchstäblichen S inn sondern der von dem Heiligen Geist als Hauptautor der Schrift letztlich intendierte Sinn ist" (FELD, Die Anfänge 70). Streit um die Exegese? 367

Erasmus hatte sich in den Einleitungsschriften zum Neuen Testament, dem „Metho- dus" und der „Ratio", trotz aller Betonung der Väterexegese besser abgesichert.' Sachlich käme Emsers Position einem oft Augustinus zugeschriebenen Satz nahe, der behauptete: „Praxis ecclesiae optime interpretatur scripturas." 35 Er war in Analogie zur römischen Rechtsauslegung in den Digesten gebildet „Optima ... legum interpres consuetudo", die Gregor IX. in die Dekretalen übernommen hatte. 36 Johannes Eck hat den Satz mehrfach im „Enchiridion" zitiert. Zugleich verwies Eck bei dem Problem der Schriftauslegung auf die dabei implizierte Ekklesiologie." Die Betonung des Literalsinnes, gegen die Emser sich wehrte, könnte ebenfalls ekklesiologische Implikationen haben und, wie Rega Wood 1978 zeigte, auf eine ältere Tradition verweisen, in der die hierarchisch-autoritären Strukturen in der Kirche zurücktra- ten." Schließlich war durch Emsers Vorstoß die schwierige Frage nach der Claritas Scripturae mitberührt.39 Da die hier genannten Probleme Emser kaum präsent und von ihm zu wenig durchdacht waren, ist es nicht verwunderlich, daß Luther an dieser Stelle zugriff und auf die Schwäche der gegnerischen Argumentation hinwies. Allerdings nahm auch er nicht die Elddesiologie in den Blick, sondern die Auslegung von 2 Kor 3,6.4° Im Verlauf der Kontroversen sah Emser sich daher gezwungen, die kirchliche Tradition zu präzisieren als „die Lehre, Satzung und Ordnung der christlichen Kirche, die teils von den Aposteln, teils von den Vätern und teils von den Konzilien unter dem

34 Vgl. GERHARD B. WINKLER, Erasmus von Rotterdam und die Einleitungsschriften zum Neuen Testament (RGST 108), Münster 1974; FRIEDHELM KRÜGER, Humanistische Evangelienausle- gung. Desiderius Erasmus von Rotterdam als Ausleger der Evangelien in seinen Paraphrasen (Beiträge zur Historischen Theologie 68), Tübingen 1986, S. 80-150; AUGUSTUN, Erasmus (wie Anm. 19) 82ff. 35 Z.B. zitiert bei Ambrosius Catharinus, Apologia pro veritate catholicae et apostolicae fidei ac doctrinae adversus impia ac valde pestifera Martini Lutheri dogmata, 1520. Hrsg. von JOSEF SCHWEIZER - AUGUST FRANZEN (CCath 27), Münster 1956 S. 43: „Augustini sententia acceperimus: non solum ex dictis sanctorum, verum etiam ex factis optimam scripturarum recipi interpretatio- nem". Dort Anm. 230 weitere Nachweise. 36 Dig. I, 3,37, S. 6 (Corpus Iuris Civilis, Bd. I. Hrsg. von PAUL KRUEGER - TH. MOMMSEN, Berlin 1893); X, 1,4,8 (Friedberg II, 40). 37 Eck, Enchiridion (wie Anm. 5) Kap. 38, S. 398. Den Anmerkungen von Fraenkel verdanke ich die o.g. Hinweise. 38 REGA WOOD, Nicholas of Lyra and Lutheran Views an Ecclesiastical Office: The Journal of Ecclesiastical History 29 (1978) 451-462. Vgl. PIERRE FRAENKEL, Satis est? Schrift, Tradition, Bekenntnis: Confessio Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag 1530 und die Einheit der Kirche. Hrsg. voN ERWIN ISERLOH (RGST 118), Münster 1980, S. 296. 39 Vgl. Anm. 6. 40 Vgl. SMOLINSKY, Alveldt und Emser 262-265. Zu Luthers Auslegungsmethode vgl. SIEGFRIED RAEDER, Luther als Ausleger und Übersetzer der Heiligen Schrift: Leben und Werk Martin Luthers von 1526-1546. Hrsg. von HELMAR JUNGHANS, Göttingen 1983, Bd. 1, S. 253-278, Bd. 2, S. 800-805. 368 Heribert Smolinsky

Beistand des Heiligen Geistes aufgerichtet wurde."41 Eine Einschränkung gegenübel der ungeschützt global formulierten kirchlichen Praxis war damit vorgenommen. In einem zweiten Punkt erwies Emser der Reformationsgeschichte einen wichti- gen Dienst. Er zwang Luther, die Lehre von Geist und Buchstaben, Gesetz und Evangelium weiter zu entfalten, wobei sich der Streit in verkürzter Form auf zwei Positionen reduzierte. Für Luthers Hermeneutik bedeutet der buchstäbliche Sinn auch der geistige Sinn der Schrift, die nicht einer zusätzlichen geistigen Auslegung bedarf. In 2 Kor 3,6 ist mit dem tötenden Buchstaben das Gesetz gemeint, welches den Menschen auf seine eigene Unfähigkeit zurückwirft. Der Geist ist die lebendigma- chende Gnade Gottes, die den Menschen geschenkt und ins Herz geschrieben wird. Dagegen setzt Emser die Deutung, daß in 2 Kor 3,6 vom Buchstaben als dem äußerlichen Schriftsinn, vom Geist als dem darin verborgenen geistlichen Verstand die Rede sei. Der Geist macht als geistlicher Sinn nicht den Menschen, sondern die Schrift lebendig und bewirkt, daß sie nicht „einfältig", sondern nach den verschiede- nen Sinnen verstanden werden muß.' In einer Predigt zum Fest des heiligen Hieronymus am 30. September 1523 hat er diese Position noch einmal verdeutlicht: „Dann wiewol in einer itzlichen christli- chen predigt, der grund sein sol das heylig Evangelion und wort gottes ..., so ist es vorgebens und eim Christenmenschen nit gnug, das er die blossen wort und allein den schriftlichen synn des Evangelions höret oder selb leßet. ... das wort gottes ist nit gebunden an den buchstaben ... und stehet nit in den blossen worten, sonder in der kraft und wirckung (vgl. 2 Tim 2,9; 1 Kor 4,20) ... Derhalben so müßt jr das Evangelion nit suchen in dem buchstaben oder dem blossen text..."43 Daß diese Auffassung notwendig auf eine außerhalb der Schrift liegende Ausle- gungsinstanz hindrängte, ist evident. Damit blieb die Ekklesiologie ungesagt präsent, ohne daß Emser sie je wirklich durchdacht hätte.

IV. BIBELÜBERSETZUNG UND SCHRIFTAUSLEGUNG

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Frage nach der Funktion des Schriftargu- mentes als Streit um die Exegese erwiesen und war im Verlauf der Kontroverse zu den für das Verständnis der Bibel zentralen Fragen nach ihrer Auslegung vorgestoßen. Martin Luther schrieb 1521 zu Recht: „... laßt uns das wohl merken. Hier steht das Hauptstück der Emserschen Theologie, und auf diesem Feld wird es heißen gewon- nen oder verloren."'

41 SMOLINSKY, Alveldt und Emser 260. 42 SMOLINSKY, Alveldt und Emser 265. 43 Emßers Sermon am tag des heiligen Hieronymi nechst vorschinen zu Leypßgk geprediget, Leipzig 1523, Blatt aijb. 44 Luther, Auf das überchristlich...Buch Bock Emsers...Antwort, 1521, WA 7, 628. Streit um die Exegese? 369

Die Entwicklung wurde vorangetrieben, als 1522 das Neue Testament in der Übersetzung Luthers erschien und eine veränderte Situation schuf. Jetzt war die so oft geforderte Schrift jedem Lesekundigen in einer glänzenden Übersetzung, mit Vorre- den und Glossen sowie Bildern versehen, zugänglich und vermittelte die reformato- rische Theologie im Gesamtzusammenhang des Neuen Testamentes. Herzog Georg von Sachsen erkannte die damit verbundene Gefahr und verbot den Kauf oder Verkauf des lutherischen Neuen Testamentes in einem Mandat vom 7. November 1522. Von eventuellen Besitzern verlangte er die Abgabe an die Behör- den, wobei der Kaufpreis erstattet würde. Georg begründete sein Vorgehen auf doppelte Weise: rechtlich mit dem Wormser Edikt und der päpstlichen Bannbulle; theologisch-inhaltlich mit den gefährlichen Glossen Luthers und den im Neuen Testament beigedruckten Bildern, welche den Papst verhöhnten.45 Luther antwortete 1523 auf das herzoglich-sächsische Verbot mit der grundsätz- lichen Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei" und machte daraus die prinzipielle Frage, daß man mit dem Verbot des Neuen Testamentes den wahren Glauben verbiete. 46 Für den theologisch gebildeten und persönlich frommen Herzog war das ein schwerer und gefährlicher Vorwurf, der ihn tief treffen konnte. Daran interessiert, nicht nur mit rechtlichen Maßnahmen auf die Reformation zu reagieren, sondern von und Leipzig aus eine wirksame literarische Offensive zu führen, forderte er ein Gutachten der Theologischen Fakultät Leipzig zu Luthers Übersetzung an und bewegte gleichzeitig Emser, gegen Luther zu schreiben. So erschien 1523 dessen Schrift „Auß was gründ und ursach Luthers dolmatschung uber das nawe testament dem gemeinen man billich vorbotten worden sey."47 Ein Brief Willibald Pirckheimers vom August 1523 an Emser, 48 die Schrift des Urbanus Rhegius „Ob das new testament yetzrecht verteutscht sey"49 und Georgs Drängen bewirkten, daß Emser 1527 eine eigene Edition des Neuen Testa- mentes herausgab, die im wesentlichen den Luthertext beibehielt, ihn aber an

45 Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen. Hrsg. von FELICIAN GESS. Bd. I, Leipzig 1905, Nr. 400, S. 386f. Zu Georg s.o. Anm. 27. 46 WA 11,245-281, bes. 246f. Vgl. Perhx MANNS, Luthers Zwei-Reiche und Drei-Stände-Lehre: Luther und die politische Welt (wie Anm. 27) 3-26; HEIKO AUGUSTINUS OBERMAIN, Thesen zur Zwei-Reiche-Lehre: ebd. 27-34. 47 Leipzig oJ. Das Gutachten der Fakultät bei Geß (wie Anm. 45) Nr. 426. Zu Emsers Schrift vgl. KENNETH A. STRAND, Reformation Bibles in the Crossfire. The Story of Jerome Emser, his Anti- Lutheran Critique and his Catholic Bible Version, Ann Arbor 1961, S. 35-60. 48 Briefe von, an und über Caritas Pirckheimer (Caritas-Pirckheimer-Quellensammlung 3. Heft). Hrsg. von J. PFANNER, Landshut 1966, S. 263-267. Vgl. FRArrz XAVER THURNHOFER, Willibald Pirckheimer und Hieronymus Emser: Beiträge zur Geschichte der Renaissance und Reformation. Festschrift Joseph Schlecht, München-Freising 1917, S. 346. 49 Augsburg 1524. Vgl. MAXIMILIAN LIEBMANN, Urbanus Rhegius und die Anfänge der Reformation (ROST 117), Münster 1980, S. 376. 370 Heribert Smolinsky

zentralen theologischen Punkten in den Glossen korrigierte." Die intensive Beschäf- tigung mit der Bibel dürfte der Grund dafür sein, daß Emser 1523 kurzzeitig dem Schriftargument eine neue, über die bisherige Konzeption hinausgehende und qua- litativ erweiterte Funktion zuschrieb. Was unter dieser neuen Qualität zu verstehen ist, läßt sich an zwei Beispielen verdeutlichen. Das erste betrifft die Intensivierung einer Argumentationsform, die in Ansätzen schon 1521 beobachtet werden kann, bei Emsers Kritik an der Übersetzung des Neuen Testamentes aber deutlicher hervortritt: Nicht allein der übersetzte Text und die theologische Position der Glossen werden angegriffen, sondern auch Luthers Verhalten.51 Interessanterweise nimmt Emser damit eine Argumentationsform auf, die in Luthers „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei"52 eine große Rolle gespielt hatte und um die Fragen kreiste, was aus Röm 13, 1 ff für Schlüsse zu ziehen seien. Emser nimmt keinerlei Stellung zu den differenzierten, für die Entwicklung einer Zwei-Reiche-Lehre wichtigen Gedanken in Luthers Buch, obwohl seine Formulierungen verraten, daß er es kennt. Stattdessen folgert er aus der genannten Bibelstelle „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldi- gen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes" einen absoluten Gehorsam, den der Wittenberger Refor- mator als Gebannter und Geächteter durch seine Bücher und Angriffe auf Herzog Georg von Sachsen verletzt habe. Dieser Vorwurf greift weit über das hinaus, was üblicherweise bei einem moralischen Versagen moniert würde, wie man es in dieser Zeit so gerne dem Reformator anlastete. Emser wirft Luther vor, er gefährde die gottgewollte Ordnung und Autoritätengefüge; ein Vorwurf, der im Bauernkrieg eine neue Qualität gewinnen sollte. Gleichzeitig entlarvt er dessen Verhalten als antievan- gelisch: „Wo sie Evangelisch weren, so thetten sie ouch die werck des heyligen Evangelions. Das ist, sie vorkertenn dasjhenig, so jr von got vorordnete herrschafft im besten thon und schaffen, nit tzum ergisten ... Sonder weren jr oberkeyt an allen murmel oder nachred gehorsam und gewertig, wie sie das Evangelion und die rechten Evangelischen prediger ... gelerth haben?"53

50 Das New Testament nach lawt der Christlichen kirchen bewertem text corrigirt, Dresden 1527. Zu Emsers Arbeit an der Bibel vgl. STRAND (wie Anm. 47); DERS., A Reformation Paradox. The Condemned New Testament of the Rostock Brethren of the Common Life, Ann Arbor 1960; KARL-HEINZ MUSSELECK, Untersuchungen zur Sprache katholischer Bibelübersetzungen der Reformationszeit (Studien zum Frühneuhochdeutschen 6), Heidelberg 1981, S. 23-28. 39ff. Weitere Literatur: SMOLINSKY, Alveldt und Emser 12 Anm. 55. Die Ausgabe, welche im Text der Übersetzung Luthers folgte, wurde immer wieder aufgelegt, so daß Emsers Neues Testament seine einflußreichste Arbeit sein dürfte. Seine Leistung wird von Strand herausgearbeitet. 51 Emser, Auß was grund und ursach Luthers dolmatschung uber das nawe testament dem gemeinen man billich vorbotten worden sey, Leipzig o.J. Blatt aij-dIVb. Zu einer zweiten Ausgabe vgl. STRAND (wie Anm. 47); SMOUNSKY, Alveldt und Emser 430. 52 Vgl. Anm. 46. 53 Emser, Auß was gründ aij. Streit um die Exegese? 371

Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit der außerordent- lich polemisch akzentuierten Schrift Luthers „Wider den falsch genannten geistli- chen Stand des Papstes und der Bischöfe" von 1522,54 in der er den Anspruch erhob, von Gottes, nicht der Bischöfe Gnaden Elddesiast zu Wittenberg zu sein. Emser schrieb als Entgegnung „Wyder den falschgenanten Ecclesiasten und warhafftigen Ertzketzer Martinum Luter Emßer getrawe und nawe vorwarnung mit bestendiger vorlegung auß bewerter und canonischer schrifft". Das Buch erschien 1523 in Leipzig und erlebte ein Jahr später eine weitere Auflage." Die Argumentationsform ist ähnlich wie im vorhergehenden Beispiel. Emser begründet die eigene Aktivität biblisch mit dem vierten Gebot, das ihm auftrage, die geistlichen Väter zu ehren, d.h. zu verteidigen. Er selbst sieht sich durch die Schrift bestätigt, während er Luthers Anspruch, Ekklesiast zu sein, aus der Bibel widerlegen will. Am überraschendsten ist seine Ankündigung, auf Kirchenväter und Tradition zu verzichten und nur mit der Bibel zu argumentieren: „Unnd damit Luter nit sprechen moeg, Emßer fecht alleyn mit spiessen und degen, aber das schwert greyff er nit an, bring nichtzig auff die ban dann Bepstlich recht und veterspruch, will ich in dißem buchlin müdem schwert, das ist mit dem wort gotes und bewerter canonischer schrifft wider in fechten, und spies und degen dieweyl auff eyn seyten legen. Doch mit Bedingung, das ich die heiligen canones und der alten veter ler und schrifft domit nit gentzlich ubergeben noch einichen tzweyvel ... dareyn gestalt haben will."' Die einschränkende Klausel warnt davor, bei Emser eine prinzipielle und durch- gehaltene Neueinschätzung der hermeneutischen Prinzipien und der Suffizienz der Schrift zu erwarten. An einer völlig am Text orientierten Exegese hinderte ihn sein eigenes Auslegungsprinzip, so daß er trotz des Versprechens, nur die Schrift anzufüh- ren, z.B. die Erklärung in Röm 15,20 „Dabei habe ich (scl. Paulus) darauf geachtet, das Evangelium nicht dort zu verkündigen, wo der Name Christi schon bekannt war, um nicht auf ein fremdes Fundament zu bauen" unter dem Einfluß des Gratianischen Dekretes als Beleg für das kirchenrechtliche Territorialprinzip verwandte." Trotz- dem ist die dreifache Funktion, welche das Schriftargument jetzt erhält, in der Stringenz der Durchführung und Deutlichkeit neu. Das Schriftwort hat die Aufgabe, erstens die eigene existentielle Situation zu begründen und zu erhellen. Zweitens dient es auf der lehrhaften Ebene dazu, Luthers Auslegung und Bibelübersetzung als

54 WA 10/II, 105-158. Vgl. MARTIN BREarr, Martin Luther. Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532, Stuttgart 1986, S. 89f. 55 Vgl. SMOLINSKY, Alveldt und Emser 275-289. 56 Emser, Wyder den falschgenanten Ecclesiasten, Leipzig 1523, Blatt Aij-Aijb. 57 Emser, Wyder den falschgenanten Ecclesiasten Blatt BIV-BIVb; ähnlich Gijb. GIV. Kij-Kiij. Die Stelle aus dem Gratianischen Dekret D. 80 (Friedberg I, 279-281). Emser zitiert als Schriftbe- weise Röm 13,1; Ps 77,54 (Vulgatazählung); Tit 1,5; Röm 15,20. Vgl. auch Emser, Wider das unchristenliche buch (wie Anm. 27) 6. 372 Heribert Smolinsky falsch zu erweisen. Drittens soll der reformatorische Anspruch anhand völlig aus dem Neuen Testament erarbeiteter Kriterien beurteilt werden.58 Der Schriftgebrauch in „Wyder den falschgenanten Ecclesiasten" blieb eine Ausnahme. Schon die fast parallel geschriebene Verteidigung der Kanonisation des Benno von Meissen, vor allem aber die literarische Kontroverse mit Zwingli von 1524/25 über die Messe zwangen sachlich zur historischen Argumentation." In die Kritik am Neuen Testament Luthers brachte Emser wieder die erarbeiteten Ausle- gungsprinzipien von Geist und Buchstaben ein, orientierte sich bei der Textkritik oft an der kirchlich rezipierten Vulgata und bei der inhaltlichen Analyse an der traditio- nellen Auslegung, wie es dem bei ihm gewohnten Umgang mit der Bibel entsprach.6°

IV. SCHLUSSBEMERKUNGEN

Zum Schluß soll in einigen Punkten eine Zusammenfassung, Einordnung und Weiterführung versucht werden. 1. Es zeigte sich, daß die Funktion des Schriftargumentes bei Emser im Verlauf der Kontroversen mit den Reformatoren einer Entwicklung unterliegt, die von der jeweiligen historischen Situation beeinflußt ist. Das hat seine Entsprechung in der Beobachtung, daß auch die reformatorische Theologie in den ersten Jahren immer „Ereignistheologie" war. Von einem unreflektierten Schriftgebrauch 1519 ausge- hend sah sich Emser in der Auseinandersetzung um die Programmschrift „An den christlichen Adel" gezwungen, die hermeneutische Methode zu überdenken. Die „geistliche Auslegung" setzte er der „buchstäblichen" entgegen, wobei die Väterexe- gese, vor allem aber die den Glauben konkret vollziehende Tradition und Übung der vom Heiligen Geist geleiteten Kirche der Ort sind, wo die Schrift authentisch ausgelegt wird. Damit ist die Auslegung letztlich in der Autorität der Kirche begründet. Materialiter tritt der Schrift die apostolische ungeschriebene und die kirchliche Tradition zur Seite.' Für 1523 läßt sich eine Weiterführung beobachten, indem das Schriftargument jetzt die eigene Aktivität legitimiert und das Verhalten des Gegners diskreditiert. Dem entspricht eine auch auf anderen Ebenen zu beobachtende Entwicklung der

58 Vgl. Emser, Wyder den falschgenanten Ecclesiasten Blatt Aiij: „antzeigen, das seyn ler iiit auß got, sonder dem wort gotes und seynen heiligen ewangelio, dartzu ir selber offentlich entgegen ist, und die furgestellte schrift von denen, so das volck tzu den leisten gezeyten vorfuren werden, nit auff Bapst unnd Bischoff, sonder auffLutern selber und seyne anhangende ketzerische Monch unnd pfaffenn gestympt haben." 59 Vgl. Hieronymus Emser, Schriften zur Verteidigung der Messe. Hrsg. von THEOBALD FREUDEN- BERGER (CCath 28), Münster 1959; SMOUNSKY, Alveldt und Emser 303f. Zur historischen Argumentation vgl. POLMAN, LEldment (wie Anm. 14). 60 Vgl. Anm. 50. 61 Vgl. die Literatur in Anm. 33. Streit um die Exegese? 373

Reformationsgeschichte, die mit heils- bzw. unheilsgeschichtlichen Kategorien ihren geschichtlichen Standort zu bestimmen suchte. 2. Emsers Theologie ist eine „Theologie im Streit", was ihre mangelnde Systema- tik und evidenten Schwächen teilweise erklärt. Es fehlten ihm subtile Begrifflichkeit und tiefere Analysen, wie sie z.B. Johannes Eck, Ambrosius Catharinus, Johannes Dietenberger oder Hieronymus Dungersheim in Leipzig einbrachten; 62 sie lagen ihm von seiner Interessenlage und Aktivität her bis 1519 nicht nahe. Vor allem fehlte die Einordnung in eine durchdachte Ekklesiologie. Als strukturelle Komponente seiner Kontroverstheologie lassen sich folgende Punkte nennen: a) Er ist mehr an der geschichtlichen Dimension des Glaubens als an der systematischen interessiert, was auf Einflüsse des Erasmus schließen läßt. Den Vorrang der „geistlichen Auslegung" konnte er in dessen „Enchiridion Militis Christiani" und der „Ratio seu Methodus compendio perveniendi ad veram theolo- giam" finden, dem das erasmianische Schema von „Geist und Fleisch" entsprach. In. den 20er Jahren hat Emser mehrere Schriften des Erasmus übersetzt bzw. herausge- geben, so in der Verdeutschung des Pirnaer Vikars Michael Risch dessen Johannes- paraphrase 1524 und 1526 eine eigene Teilübersetzung des „Hyperaspistes."63 Er eignete sich Teile der erasmianischen Sicht formal an, ohne die subtile Denkweise des Erasmus, dessen christologisch ausgerichtete und vom Platonismus beeinflußte Theologie wirklich zu rezipieren. Ihm fehlte der inhaltliche Interpretationsrahmen, der bei Erasmus die divergierenden Texte zur Einheit zusammenführte. Die intensive Arbeit am korrekten Text und an der Sprache, die dem Erasmus den Vorwurf eines „grammaticus" – den er sich gerne gefallen ließ – einbrachte, nahm Emser durchaus wahr, ernsthafte Konsequenzen zog er daraus nicht. So bleibt ein ambivalentes Bild. Emser drängte auf eine bis in die kleinste Einzelheit gehende wörtliche Übersetzung der Bibel, bei der jeder Buchstabe entscheidend sei, und stand bei der Beurteilung der sich auf den Geist berufenden Zwickauer Propheten auf der Seite Luthers, der die Bindung an das Wort betonte.64 Trotzdem sollte der Buchstabe nicht entscheidend

62 Vgl. zu Eck und Dietenberger die Anm. 5.7.10. Zu Ambrosius Catharinus vgl. ULRICH HORST, Ambrosius Catharinus OP (1484-1553): Katholische Theologen der Reformationszeit 2. Hrsg. von ERWIN ISERLOH (KLK 45), Münster 1985, S. 104-114 (weit. Lit.). Zu Dungersheim vgl. THEOBALD FREUDENBERGER (Hg.), Hieronymus Dungersheim, Schriften gegen Luther (CCath 39), Münster 1987; DERS., Hieronymus Dungersheim (1465-1540): Katholische Theologen der Reformationszeit 2, S. 38-48. 63 Paraphrasis Erasmi von Roterodam vber daz Ewangelium Joannis durch Michaeln Rischen gedeutscht, Leipzig 1524; Erasmus von Rotterdam, Schirm und schutzbuchlein der Diatriba... Ins Teutzsch gebracht durch Hieronimum Emser, Leipzig 1526. Vgl. SMOLINSKY, Alveldt und Emser 32f.45. Zu den Paraphrasen vgl. KRÜGER (wie Anm. 34). 64 Vgl. Emser, Wyder den falschgenanten Ecclesiasten Blatt HIV: „Je es seyn der selben Ketzer ouch kurtz verschiner tzeyt etzlich auß Zwickaw außgeflogen... heimlich pedigen, wie das alt und Naw testament ir crafft vorloren und das man keyner schrifft mher glouben, sonder sich an den heiligen geist halten soll... Vor wolchen schelcken ich all Christenliche hertzen getrewlichen warne. Dann es noch vil erger Ketzer seyn dann Luter." Dazu RAEDER (wie Anm. 40) I, 260. Zu Zwickau und 374 Heribert Smolinsky

sein. Damit zeigt sich, daß er dem schwierigen Problem der Auslegung nicht voll und ganz gewachsen war. b) Läßt sich bei Emser keine geschlossene Konzeption feststellen, so ist es doch möglich, einige seiner Theologie zugrundeliegende feste Strukturen des Denkens herauszupräparieren. Dazu gehört die Verteidigung der „alten Ordnung", die bei dem Lizentiaten des kanonischen Rechts seiner juristischen Denkweise entsprechen könnte. Den schon erwähnten Rechtssatz aus den Digesten „optima enim est legum interpres consuetudo"65 zitierte er m.W. nirgendwo; faktisch aber wird er auf die Schriftauslegungsprinzipien angewandt. Damit kommt eine fundamentale Schwäche seines Denkens in den Blick: Emser konnte aus der Schrift keine Kriterien gewinnen, die eine ernsthafte Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitskritik ermöglichten. Er kennt nicht das Ideal der „Ecclesia antiqua", wie es bei anderen Humanisten zu finden ist. Es fehlte ein die eigene Position innerlich formendes Prinzip, das über die formale Verteidigung der kirchlichen Strukturen, besonders des Amtes und seiner Autorität hinausginge.66 Interessanterweise läßt sich dieselbe Beobachtung bei den katholi- schen Reformentwürfen der 20er Jahre des 16. Jhdts. machen, die weithin auf die alte Rechtsordnung zurückgriffen.67 c) In der Geschichte der Exegese läßt sich Emser der Gruppe der am Text und seiner Auslegung interessierten, aber keine ernsthaften Konsequenzen daraus ziehen- den Theologen zuordnen, was für die meisten katholischen Kontroverstheologen seiner Zeit gelten dürfte.68 d) Es wäre übertrieben, ihn als den Vertreter einer typisch „sächsisch-herzogli- chen" Kontroverstheologie zu bezeichnen, die es nicht gab, aber das Interesse an der Kirche und ihrem Bezug zur Schrift war in Sachsen sehr lebendig. Im Briefwechsel der Herzogin Margarethe von Anhalt mit verschiedenen Theologen taucht er ebenso

Luther vgl. SUSAN C. KARArrr-NuNN, Martin Luther and the City of Zwickau: Pietas et societas. New Trends in Reformation Social History. Essays in Memory of Harold J. Grimm, Ann Arbor 1985, S. 151-162. Zur Übersetzung vgl. Emser, Aus was gründ Blatt aIV: „Es ist ouch von der zeyt (scl. der Vulgata) an biß auf vns nye keyner so vormessen gewest, der ein buchstaben oder wort daran vorandert het." 65 Vgl. Anm. 36. 66 Alle Bibelzitate, die Emser zur Begründung der eigenen Position heranzieht, deuten auf die Struktur von Über- und Unterordnung hin. Es fehlt eine materiale Begründung der Autorität; daran hinderte ihn die polemische Situation. 67 Vgl. HERIBERT SMOLINSKY, Die Reform der Kirche in der Sicht des Johannes Eck: Johannes Eck, im Streit der Jahrhunderte. Symposion aus Anlaß des 500sten Geburtstages. Hrsg. von ERWIN ISERLOH, Münster 1988, S. 155-173. 68 Vgl. HERIBERT SMOLINSKY, Der Humanismus an Theologischen Fakultäten des katholischen Deutschland: Der Humanismus und die oberen Fakultäten. Hrsg. von GUNDOLF KEIL - BERND MOELLER - WINFRIED TRUSEN (DFG, Mitteilung XIV der Kommission für Humanismusfor- schung), Weinheim 1987, S. 21-42; Ders., The Bible and its Exegesis in the Controversies about Reform and Reformation: Creative Biblical Exegesis. Hrsg. von B. UFFENHEIMER - HENNING GRAF REVENTLOW, Sheffield 1988, S. 115-130. Streit um die Exegese? 375 auf wie in den kontroverstheologischen Werken eines Paulus Bachmann, Simon Blick und Petrus Sylvius. 69 Herzog Georg stritt darüber in einem Briefwechsel mit seinem Schwiegersohn Philipp von Hessen.7° Überhaupt blielydas Thema „geistliche und buchstäbliche duslegung" lebendig. Der Schweizer Johannes Buchstab schrieb 1528/29 einen ganzen Traktat „Daß die Biblischen geschrifften müssen eyn geystliche ußlegung han", und im „Enchiridion" des Franziskaners Nicolaus Herborn hieß es 1529: „Außerhalb der katholischen Kirche gibt es keine lebendige und wirksame Verkündigung des Wortes, denn (?) außerhalb von ihr regiert der tötende Buchstabe und täuscht viele." 71 Mit Emser waren die Probleme sicher und offenkundig nicht gelöst, aber er hat mit dafür gesorgt, daß sie ein Stück weiterdiskutiert wurden.

69 Vgl. Simon Blick, Verderbe vnd schaden der Lande vnd leuthen, Leipzig 1524, Blatt Fij-Fijb. Zu Blick, dessen Bruder Wolfgang der eigentliche Autor dieser antilutherischen Streitschrift ist, sowie zu den anderen sächsischen Kontrovertisten und dem Briefwechsel vgl. SMOUNSKY, Alveldt und Emser 22f. 337-367.380.395. 70 Vgl. HANS WOLTER, Frühreformatorische Religionsgespräche zwischen Georg von Sachsen und Philipp von Hessen: Testimonium Veritati. Philosophische und theologische Studien zu kirchli- chen Fragen der Gegenwart, hrsg. von Hans Wolter (Frankfurter Theologische Studien 7), Frankfurt 1971, S. 315-333. 71 Herborn, Locorurn Communium adversus huius temporis haereses Enchridion 1529, Tit. 9, S. 44: „Extra ecclesiam catholicam non fit vivax et efficax verbi propagatio, quanquam extra hone occidens litera regnet multisque ünponat" (CCath 12. Hrsg. von Patricius Schlager OFM, Münster 1927). Zu Nikolaus (Ferber) von Herborn OFM vgl. S. CLASEN, Nikolaus Ferber: LThK 2IV, 77.